Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur Fortsetzung unserer Haushalts-
beratungen - Tagesordnungspunkt 1 -:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2012 ({0})
- Drucksache 17/6600 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015
- Drucksache 17/6601 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Für die heutige Aussprache haben wir gestern insgesamt eine Redezeit von acht Stunden beschlossen.
Ich hatte gestern bereits auf eine Änderung im Ablauf
der Behandlung der Einzelpläne aufmerksam gemacht.
Die Fraktionen haben vereinbart, jetzt den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes und anschließend den Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes zu beraten. Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes, Einzelplan 05, auf.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Dr. Guido Westerwelle.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag ist
nicht nur ein Tag, an dem wir uns hier in Berlin mit der
Außenpolitik und mit Europa und mit der Generaldebatte befassen werden, sondern am heutigen Tage wird
auch, wie wir alle wissen, in Karlsruhe eines der Fundamente der deutschen Außenpolitik, auch eines der Fundamente unserer Staatsräson verhandelt werden, und es
wird ein Urteil zu Europa verkündet werden.
Deswegen will ich hier vorab sagen: Die Konstanten
der deutschen Außenpolitik sind bereits in der Präambel
des Grundgesetzes aufgeschrieben worden, nämlich dem
Frieden in der Welt in einem geeinten Europa zu dienen.
In einem geeinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen! Deutsche Außenpolitik hat ein klares Fundament
- das ist die Europäische Union -, und deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Beides sind auch die Konstanten der Außenpolitik dieser Bundesregierung.
({0})
Wir alle spüren, dass es nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa Debatten über Europa, über
die Zukunft Europas gibt. Ich glaube, dass Europa gerade in Zeiten, wo es gefordert ist, wo es auch herausgefordert wird, Freunde braucht, die sich klar zu Europa
und zur Zukunft Europas bekennen. Die Frage ist allerdings: Wie soll Europa nach dieser Krise aussehen? Die
europäische Integration war immer auch eine Abfolge
von europäischen Krisen, aus denen politische Konsequenzen gezogen worden sind. Immer ist ein Integrationsschritt auch durch Herausforderungen in Europa getan worden. Es ist nie anders gewesen.
Meine Damen und Herren, das ist die entscheidende
Weggabelung, vor der wir derzeit stehen. Werden wir
diese Krise in Europa, diese Schuldenkrise in Europa mit
mehr Europa oder mit weniger Europa beantworten?
Werden wir denen nachgeben, die in ganz Europa auf
eine Renationalisierung der Politik setzen, oder werden
wir Europa stärken, indem wir die Fehler der Vergangenheit korrigieren? Es war ein Fehler der Vergangenheit,
dass im Jahre 2004 das Schuldenmachen in ganz Europa
leichter gemacht worden ist. Dass Sie als rot-grüne Bundesregierung damals den Stabilitätspakt aufgeweicht
haben, das war der größte historische Fehler in der
Redetext
Nachkriegsgeschichte. Dass Sie ihn im Jahre 2011 wiederholen wollen, ist in Wahrheit unerträglich.
({1})
Sie haben mit dieser Haltung die Axt an die Wurzel
Europas gelegt. Das wird mittlerweile sogar von denen
als eine Fehlentscheidung zugegeben, die damals Verantwortung getragen haben. Meine Damen und Herren,
dass Sie im Jahre 2004 geglaubt haben, das Schuldenmachen müsse erleichtert werden, wenn man ein guter
Europäer sein will, ist das eine. Dass Sie uns aber genau
dieses gescheiterte Rezept in diesem Jahr für die Zukunft
wieder empfehlen, nämlich das Schuldenmachen zu erleichtern, ist das andere. Diesen historischen Fehler zu
wiederholen, das wäre unverzeihlich. Deswegen wird
die Bundesregierung diesen Weg nicht gehen. Wir wollen keine Schuldenunion in Europa, wir wollen eine Stabilitätsunion in Europa. Das ist unser Kompass.
({2})
Ich erinnere mich noch sehr genau an die erste Debatte, die wir hier über das Thema Griechenland und die
Notwendigkeit der Hilfspakete geführt haben. Ich weiß
noch, dass Sie sich damals hier hingestellt und gesagt
haben: Ihr habt Griechenland nicht schnell genug geholfen; weil ihr zu lange und zu garstig die Hand auf eure
Kasse gehalten habt, ist Griechenland überhaupt erst in
diese Schwierigkeiten gekommen. - Mittlerweile sehen
Sie, wie falsch Sie auch vor anderthalb Jahren gelegen
haben; denn inzwischen ist man in ganz Europa der
Überzeugung, dass man einer Schuldenkrise nicht mit
neuen Schulden begegnen kann. Nur die deutsche Opposition hat es nicht begriffen,
({3})
weil Sie nur eines können: Schulden machen. Das ist
Ihre Antwort für Europa, und das ist ein Fehler.
({4})
Als wir vor etwas mehr als einem Jahr begonnen haben, auch in anderen europäischen Hauptstädten darauf
zu dringen, zu einer soliden Haushaltspolitik zurückzukehren,
({5})
die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Budgets zu
kürzen, da war das aus Ihrer Sicht eine Politik, die die
Konjunktur gefährdet. Heute sieht man, was die Konjunktur und die Wirtschaft wirklich gefährdet, nämlich
zu viel Schulden in zu kurzer Zeit. Das ist verantwortungslose Politik, und deswegen war es richtig, dass die
Bundesregierung den Staaten in Europa Hilfe angeboten
hat, die in Not und Schwierigkeiten sind. Aber ebenso
richtig ist es, dass wir verlangen und auch erwarten dürfen, dass jedes Land in Schwierigkeiten die eigenen
Hausaufgaben bei den Reformen erledigt.
({6})
Eine Schuldenkrise kann man nicht mit immer neuen
Schulden bekämpfen,
({7})
sondern eine Schuldenkrise bekämpft man nur, indem
man die Wettbewerbsfähigkeit erhöht; denn eine Währung ist nur so stark, wie die Volkswirtschaften stark
sind, die dahinter stehen.
({8})
Meine Damen und Herren, es ist ein enormer Erfolg,
dass wir es gegen den Willen der Opposition geschafft
haben, dass mehr und mehr Staaten in Europa Schuldenbremsen in ihre nationalen Verfassungen aufnehmen
wollen. Ich erinnere mich, welche Haltung Sie zu Beginn unserer Regierungszeit hatten: Uferloses Schuldenmachen, das war Ihr Rezept.
({9})
Sie haben erklärt, weniger Schulden machen und Haushaltskürzungen, das sei gefährlich für die Wirtschaft und
für die Arbeitsplätze.
({10})
Ich kann nur eines sagen: Es ist ein Glücksfall, dass die
Bundesregierung diesen Einflüsterungen der Opposition
nicht gefolgt ist.
({11})
Dass wir vor allen anderen auf solide Haushaltspolitik
gesetzt haben,
({12})
das war eine gute Entscheidung. Ausdrücklich danke ich
dafür auch denen in der Regierung, die dem Koalitionspartner angehören. Ich freue mich, dass wir diesen Weg
gemeinsam gegangen sind. Solide Haushaltspolitik ist
die Antwort auf die Schuldenkrise.
({13})
- Bei allem Respekt: Die Zwischenrufe von SPD und
Grünen kann man ja noch hinnehmen. Aber wenn Sie,
meine Damen und Herren von der Linkspartei, dazwischenrufen,
({14})
möchte ich eines sagen: In der Debatte gestern habe ich
Ihnen, Frau Kollegin Lötzsch, zugehört. In jeder Sitzung
des Auswärtigen Ausschusses, an der ich teilnehme, machen Sie uns Vorhaltungen in Bezug auf die deutsche
Außenpolitik, die angeblich mangelnde Werteorientierung und die Menschenrechte.
({15})
Ich will Ihnen mit Blick auf den Rest der heutigen Debatte eines dazu sagen: Wer an Fidel Castro Liebesbriefe
schreibt,
({16})
soll uns in der Außenpolitik nichts, aber auch gar nichts
erzählen.
({17})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lötzsch?
Aber bitte, gerne.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus den
hinteren Reihen kommt der Zwischenruf „Austausch
von Liebesbriefen!“. Das wird jetzt sicher nicht geschehen; es sind auch Zwischenbemerkungen möglich.
Darauf lege ich auch Wert, aus verschiedenen Gründen.
({0})
Herr Kollege Westerwelle, nicht nervös werden!
Nein. Ich möchte Ihnen versichern, Frau Kollegin,
dass ich in Ihrer Anwesenheit noch nie nervös war.
({0})
Lieber Herr Kollege Westerwelle, ich biete Ihnen folgendes Geschäft an:
({0})
Ich ziehe den Brief an Fidel Castro zurück, wenn Sie dafür sorgen, dass der Panzerdeal mit Saudi-Arabien zurückgezogen wird.
({1})
Ich kann Ihnen nur so viel sagen: In der deutschen
Außenpolitik wird jedenfalls nicht mit einem Unterschriftenautomaten signiert.
({0})
Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Aus dieser
Sache lassen wir Sie nicht heraus.
Meine Damen und Herren, nach Ihren Zwischenrufen
möchte ich zum Thema zurückkommen. Wie werden wir
den nächsten Integrationsschritt gehen? Das ist das Entscheidende, worum es jetzt geht. Deswegen ist es wichtig, dass wir gerade eine gemeinsame Haltung mit
Frankreich vertreten: Wir rüsten uns für die Zukunft, indem wir eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftsund Finanzpolitik mit klaren Regeln beschließen, die einer neuen Verschuldungskrise einen festen Riegel vorschiebt.
Ich habe eingangs gesagt: Die deutsche Außenpolitik
hat mit Europa nicht nur ein festes Fundament, sondern
sie hat natürlich auch, schon in der Präambel des Grundgesetzes angelegt, eine Ausrichtung hin zur Friedenspolitik. Gerade jetzt, wo sich der 11. September zum
zehnten Mal jährt, wissen wir, wie wichtig es ist, zu erkennen: Politische und diplomatische Lösungen sollten
immer da angestrebt werden, wo dieses möglich ist. Niemand kann daraus herauslesen, Deutschland oder die
Bundesregierung sei nicht bereit, international Verantwortung zu übernehmen. Wir haben in der AfghanistanPolitik gezeigt, dass wir Verantwortung übernehmen.
Damit der politische Prozess erfolgreich sein kann und
damit das Konzept gelingen kann, waren wir sogar bereit, Anfang dieser Legislaturperiode den Aufwuchs von
Truppen in Afghanistan zu beschließen. Das ist aus unserer Sicht der richtige Weg.
Gleichzeitig sagen wir: Zehn Jahre nach Beginn des
Einsatzes in Afghanistan ist es das erklärte Ziel der Bundesregierung, dass wir uns eine Abzugsperspektive
erarbeiten. Aber es soll eine Abzugsperspektive in Verantwortung sein. Deswegen werden wir auch hier den
Ratschlägen der Opposition nicht nachgeben und nicht
schon jetzt gewissermaßen ankündigen, was wir an
Rückführungen wo und in welchem Monat beschließen
werden. Das wäre eine Gefährdung der Soldaten, die
jetzt in Afghanistan im Einsatz sind.
({1})
Deswegen machen wir es nicht, auch wenn Sie es wünschen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition.
({2})
Es war ein verheerender Terrorschlag, der verheerendste wahrscheinlich, der uns in der Geschichte getroffen hat. Deswegen werden wir jetzt, zehn Jahre danach,
zum Ende dieses Jahres als Gastgeber der AfghanistanKonferenz unseren Beitrag dazu leisten, dass wir es
schaffen, den politischen Prozess der Aussöhnung und
Reintegration voranzubringen.
Dazu zählt eine entscheidende Nachricht und ein klares Signal an unsere Partner in Afghanistan selbst - übrigens auch an unsere Verbündeten -, nämlich dass wir
auch dann zu unserer Verantwortung stehen, wenn die
Kampftruppen der internationalen Gemeinschaft nicht
mehr in Afghanistan sind. Das heißt: Unsere afghanischen Partner müssen wissen, dass wir auch nach dem
Jahre 2014 unsere Verantwortung für Afghanistan nicht
vergessen. Das ist wichtig, wenn der politische Aussöhnungsprozess erfolgreich sein soll.
Der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten, aber
auch der Polizisten und der vielen zivilen Helferinnen
und Helfer in Afghanistan ist schwer und gefährlich.
Dies wurde uns in diesen Tagen wieder in schrecklicher
Weise vor Augen geführt. Das Schicksal unserer beiden
Landsleute, die seit Tagen in der Region Parwan vermisst wurden, erfüllt uns mit tiefer Trauer. Ich muss Ihnen, nachdem ich heute Nacht darüber von unseren Mitarbeitern informiert worden bin, leider sagen: Nach einer
ersten Überprüfung durch deutsche Vertreter muss ich
bedauerlicherweise bestätigen, dass es sich bei den vorgestern aufgefundenen Toten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die beiden vermissten deutschen Staatsangehörigen handelt. Ihr Tod macht uns alle
betroffen. Wir trauern mit den Angehörigen und Freunden der beiden Deutschen.
Ich möchte diese Rede auch zum Anlass nehmen, einen herzlichen Dank zum Ausdruck zu bringen für all
diejenigen, die weltweit, auch in Afghanistan - ob in
Uniform, ob nicht in Uniform -, für unser Land eintreten. Wir wissen um ihre gefährlichen Einsätze, um das,
was sie an Bedrohungen aushalten müssen, und um den
Verzicht, den ihre Familien erleiden müssen. Wir sind
dankbar dafür und versammeln uns mit Respekt hinter
den Verstorbenen und ihren Angehörigen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir spüren, dass wir weltweit eine Umbruchlage haben. Die Globalisierung, die
als ein ökonomischer Prozess begonnen hat, ist mehr
und mehr auch eine Globalisierung der Werte geworden,
der Ansichten geworden, der Rechtsstaatlichkeit geworden. Das ist eine der erfreulichsten Entwicklungen unserer Zeit.
Wir haben den Ländern Nordafrikas und der arabischen Welt eine Transformationspartnerschaft angeboten. Nachdrücklich sage ich: Das gilt nicht nur für die
Länder, die sich durch Revolution - wie in Tunesien und
Ägypten - auf den Weg gemacht haben; es gilt auch für
die anderen Länder, zum Beispiel jetzt für Libyen. Ich
will aber auch hinzufügen: Es wird nicht ausreichen, direkt zu helfen, auch beim Aufbau der Zivilgesellschaften; sondern mindestens genauso wichtig ist, dass die
Menschen, die für Demokratie eingetreten sind, auch sehen, dass es für sie eine Verbesserung der persönlichen
Lebenschancen mit sich bringt.
Wir werden in Europa noch diskutieren müssen, wenn
es zum Beispiel darum geht, dass wir unsere Märkte öffnen. Wir können nicht einfach nur sagen: Der Tourismus
kommt wieder in Gang; wir bauen die Energieinfrastruktur wieder auf. - Das wird nicht reichen. Transformationspartnerschaft heißt auch: Wer sich in dieser Region
in Richtung Demokratie auf den Weg macht, weiß, dass
wir ihn dabei wirtschaftlich unterstützen werden - durch
Investitionen, aber auch durch leichteren Marktzugang
in Europa.
({4})
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass viele
Probleme noch ungelöst sind. Ich denke an Syrien, ich
denke natürlich auch an die Lage östlich unseres Landes,
in Belarus. Auch das darf nie vergessen werden, obwohl
die Aufmerksamkeit im Moment woanders liegt.
Zum Schluss möchte ich Ihnen noch etwas sagen zu
dem, was im September vor uns liegt und auf uns zukommt, nämlich zur Frage der Nahostpolitik. Die frühzeitige Festlegung auf eine bestimmte Option in der
Frage der Anerkennung eines palästinensischen Staates
brächte weit mehr Risiken als Nutzen. Deswegen wird
die Bundesregierung das auch nicht tun. Wir werden die
Zeit bis New York nutzen, um auf alle Parteien im Sinne
unserer Leitlinien einzuwirken und einen Korridor für
eine möglichst konstruktive, in die Zukunft gerichtete
Lösung zu definieren. Das heißt:
Erstens. Die Befassung der Vereinten Nationen soll
uns dem Ziel von direkten Verhandlungen näher bringen
und nicht davon entfernen.
Zweitens. Die Art der Befassung der Vereinten Nationen sollte stets die Gefahr gewalttätiger Eskalationen
verringern und nicht erhöhen.
Drittens. Eine geschlossene Haltung der Europäischen Union ist das Ziel. Sie vergrößert auch unsere
Möglichkeiten.
Viertens. Auch die besondere Qualität unseres Verhältnisses zu Israel werden wir bei all dem, was wir tun,
stets mitbedenken; denn auch das ist Staatsräson für
Deutschland.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, ich habe vor, tatsächlich über Ihre
Außenpolitik zu sprechen.
({0})
Sie haben eben den Beweis dafür erbracht, dass Sie auch
nach zwei Jahren noch immer nicht in diesem Amt angekommen sind,
({1})
obwohl Sie den Titel tragen. Insbesondere die erste
Hälfte Ihres Auftretens war eine Zumutung für dieses
Hohe Haus.
({2})
Herr Außenminister, lange Zeit ist Ihre Außenpolitik
von einer Mehrheit der Kommentatoren als konturlos
und ohne Wirkung kritisiert worden. Das war zutreffend,
aber noch nicht besorgniserregend. Seit März dieses Jahres hat sich das geändert. Inzwischen sind Sie zur Personifizierung einer deutschen Außenpolitik von befremdender Gestalt und verhängnisvoller Wirkung geworden.
({3})
Sie haben durchgesetzt, dass sich Deutschland am
17. März im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen enthalten hat, als es um den Schutz der libyschen Zivilbevölkerung ging.
({4})
Dabei haben Sie Deutschland in einer noch nicht dagewesenen Weise gleichzeitig von so wichtigen Verbündeten wie den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien entfernt. Das von Ihnen verweigerte Ja zur
Resolution 1973 hat nachweislich dazu geführt, dass ein
bevorstehendes Massaker an der Zivilbevölkerung von
Bengasi, einer Stadt mit 700 000 Einwohnern, erst in
letzter Minute verhindert wurde.
({5})
Die Problematik dieser Entscheidung ist seither in der
deutschen Öffentlichkeit ausreichend diskutiert worden.
Auf Ihre Haltung hat das keinerlei Wirkung gehabt. Der
Begriff „Einsicht“ taucht in Ihrem Reaktionsrepertoire
offensichtlich grundsätzlich nicht auf.
Ich möchte mich deshalb auf einen anderen Punkt
konzentrieren, nämlich darauf, dass Sie in der Folge Ihrer Entscheidung die ganze deutsche Außenpolitik auf
die schiefe Bahn gebracht haben. Das fing damit an, dass
Sie am 17. März ein innenpolitisches Kalkül - den Blick
auf die Wahlen vom 27. März - zur Grundlage Ihrer Entscheidung gemacht haben. Je offensichtlicher dieses
Kalkül nicht aufging, desto rascher sind Sie auf dieser
schiefen Bahn vorangeeilt. Um dem wachsenden Rechtfertigungsdruck zu begegnen, fingen Sie an, unsere Verbündeten, die sich zu einem militärischen Vorgehen entschlossen hatten, quasi von außen zu kritisieren. Als das
auch nicht weiterhalf, präsentieren Sie einer ziemlich
sprachlosen Öffentlichkeit plötzlich eine Neuorientierung der deutschen Außenpolitik: Die Welt habe sich
verändert, es gebe neue Kraftzentren, etwa um China
und Russland, und auf diese müsse sich die deutsche Außenpolitik stärker ausrichten. In diesem Lichte erschien
die Konstellation vom 17. März - die Entfernung von
Paris, London und Washington und die Abstinenz gemeinsam mit China und Russland - plötzlich nicht mehr
als unglücklicher Umstand, sondern sie war gewollt; das
war der Beginn einer Neuorientierung der deutschen Außenpolitik. Als dann nach fünf schwierigen Monaten die
libyschen Rebellen mithilfe der NATO das GaddafiRegime endlich vertreiben konnten, haben Sie diesen
späten Erfolg nicht etwa anerkannt, sondern für Ihre
nichtmilitärische Sanktionspolitik reklamiert - eine neue
Provokation, speziell der Verbündeten, aber auch allgemein des gesunden Menschenverstandes.
Herr Westerwelle, damit haben Sie das Fass zum
Überlaufen gebracht, selbst in Ihrer eigenen Partei. Herr
Rösler zog die Reißleine und hat Sie zum Außenminister
auf Bewährung degradiert - ein echtes Novum in der
deutschen politischen Kultur;
({6})
denn plötzlich liegt die Richtlinienkompetenz für die
deutsche Außenpolitik beim FDP-Vorsitzenden und
nicht mehr im Kompetenzzentrum am Werderschen
Markt.
Wenn man sich das Ganze anschaut, muss man sagen:
Vor allen Dingen ist es ein Tiefpunkt, dass die jetzt aus
dem Hut gezauberte Reorientierung der deutschen Außenpolitik auf neue Kraftzentren der Welt Ihre Politik erklären sollte. Dieser Kurswechsel war als gar nichts anderes als eine nachträgliche Plausibilitätserklärung für
die Entscheidung des 17. März verstehbar, die im Inund Ausland eine katastrophale Diskussion zur Verlässlichkeit Deutschlands als Partner ausgelöst hat.
In welche gefährliche Ecke uns diese schiefe Bahn
geführt hat, kann man daran sehen, dass sich gleich zwei
ehemalige Bundeskanzler, Helmut Kohl und Helmut
Schmidt, veranlasst sahen, in genau dieser Situation das
Wort zu ergreifen. Diese Wortmeldungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, waren nicht beiläufig; hinter ihnen
wurde eine echte Sorge spürbar, nämlich die um den
Grundkonsens in der Außenpolitik der Bundesrepublik,
der jahrelang parteiübergreifend gegolten hat.
Deutschland, mit seiner Verantwortung für zwei Weltkriegskatastrophen im vergangenen Jahrhundert als historisches Gepäck und als stärkstes und bevölkerungsreichstes Land Europas muss bei der Selbstintegration in
die beiden großen kollektiven Systeme, nämlich in die
westliche Allianz und die Europäische Union, immer vorangehen.
({7})
Diese Selbstintegration bedeutet eine bewusste Einschränkung unserer Souveränität, bedeutet die gewollte
Unterordnung im Kollektiv mit einer starken Rolle unserer Partner und bedeutet Verzicht auf jeden Sonderweg.
Ich finde es schon erstaunlich, dass Sie hier von Konstanten deutscher Außenpolitik reden und gar nicht mer14448
ken, dass Sie in den letzten Monaten der größte Beschädiger dieser Konstanten gewesen sind.
({8})
Nur in der Befolgung dieser Prinzipien hat Deutschland
nach 1945 seinen Weg zurück in die europäische Völkerfamilie gefunden; darauf haben die beiden Bundeskanzler hingewiesen. Nur so konnte ein Vertrauen bei unseren westlichen und östlichen Nachbarn aufgebaut
werden, ohne das es nie zu einer Wiedervereinigung gekommen wäre. Nur so wird Deutschland seiner Mitverantwortung für ein starkes und handlungsfähiges Europa
gerecht.
Verlässlichkeit und Vertrauen kann man verspielen,
vertändeln durch Beliebigkeit und Unberechenbarkeit,
durch unvorbereitete Neuorientierungen der deutschen
Außenpolitik. Herr Außenminister, bitte nehmen Sie zur
Kenntnis, dass weder die deutsche noch die internationale Öffentlichkeit Ihnen zutraut, all das wieder zurechtzubiegen.
({9})
Wir haben Sie in der Sache kritisiert; aber Ihre eigenen Leute haben Sie gnadenlos in Ihrer Funktion demontiert.
({10})
Ihre liberalen Freunde waren es, die Sie zu einem Außenminister auf Abruf degradiert haben. Da schließt sich
der Kreis zum 17. März: Wieder steht ein kurzfristiges
innenpolitisches Kalkül hinter der Entscheidung Ihrer
Parteifreunde, Sie noch ein Weilchen Außenminister
sein zu lassen. Ich kann das nur als äußerst deprimierend
bezeichnen, für Sie, für das kompetente und engagierte
Amt, dem Sie vorstehen, und für Deutschlands Ansehen
in Europa und der Welt.
({11})
Es gibt nur einen logischen Schluss aus dieser verheerenden Bilanz: die Aufforderung an Sie, endlich selber
die Konsequenzen zu ziehen und nicht zu warten, bis
dies andere für Sie tun.
({12})
Dr. Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Krisenhafte Entwicklungen wie die derzeitige Finanzkrise
sollten immer Anlass zur Selbstbesinnung sein: Warum
brauchen wir Europa? Welche Konsequenzen müssen wir
daraus ziehen? Wer den rasanten Aufstieg Chinas und
seine zunehmende Macht in der Welt sieht - auch andere
Staaten wie Indien oder Brasilien werden deutlich an
Macht gewinnen, und Europa wird zugleich relativ an
Macht verlieren -, der wird sehr schnell zu dem Schluss
kommen: Es geht um nicht weniger als die Selbstbehauptung Europas.
({0})
Es geht darum, dass wir unsere Werte und unser Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell nicht nur wahren, sondern diese auch für andere Länder attraktiv sind. Es geht
um eine eigenständige Rolle Europas in der Welt, um
unsere Gestaltungsfähigkeit und unsere Gestaltungskraft. Wir brauchen in Europa Geschlossenheit, Handlungsfähigkeit und Stärke. Wir brauchen mehr Europa.
„Mehr Europa“ bedeutet beispielsweise die Gründung
einer echten europäischen Wirtschaftsregierung der
Euro-Zone. Das heißt, wir brauchen eine immer diszipliniertere Koordinierung und stärkere Harmonisierung der
Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir brauchen nicht nur
eine Schuldenbremse. Vor allem aber müssen die Länder
der Euro-Zone in die Lage versetzt werden, Verstöße eines Landes gegen die Regeln der Wirtschafts- und Währungsunion, die den Euro-Ländern insgesamt schaden,
rechtzeitig korrigieren zu können, das heißt, im Zusammenwirken mit EZB, IWF und EU-Kommission auf
wichtige Haushaltsentscheidungen und Maßnahmen zur
Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des betreffenden
Landes durchgehend und durchgreifend Einfluss nehmen zu können, wie wir es bei Griechenland getan haben. Wenn wir finanzielle Hilfe gewähren, dann muss
die Gegenleistung dafür die durchsetzbare und nachprüfbare Verpflichtung zu einer Stabilitätspolitik und zu
strukturellen Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sein.
Wir brauchen also mehr politische Union, damit Europa mit einer gestärkten Wirtschafts- und Währungsunion seine Interessen gegenüber der übrigen Welt angesichts der globalen wirtschafts- und finanzpolitischen
Herausforderungen vertreten kann.
({1})
Mit dem Vorschlag, eine Wirtschaftsregierung einzusetzen, haben die Bundeskanzlerin und der französische
Staatspräsident in gemeinsamer Verantwortung für Europa in schwieriger Zeit Führung bewiesen.
„Mehr Europa“ heißt weiterhin, Polen mittelfristig
voll in die deutsch-französische Führungsverantwortung
einzubeziehen, sodass aus dem Führungsduo ein echtes
Führungstrio wird. Voraussetzung dafür ist die Mitgliedschaft Polens in der Euro-Zone. Polen ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich ein Land von den Lasten
jahrzehntelanger sozialistischer Fehlentwicklungen befreien und zu einem starken, wettbewerbsfähigen Wirtschaftspartner entwickeln kann. Ich bin mir sicher, dass
gerade in einer größer und differenzierter gewordenen
EU Polen als Mitglied im Führungstrio in seiner Verantwortung für die gesamte Union auch mit Blick auf die
neuen östlichen Mitglieder seinen Beitrag leisten wird,
sodass divergierende Interessen besser überwunden werden können. Ich denke, ein solches Mehr an Europa liegt
ganz im Sinne größerer Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit Europas.
Es ist gut, dass Polen während seiner Präsidentschaft
die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
voranbringen will; denn auch hier brauchen wir dringend
mehr Europa. Der NATO-Einsatz in Libyen hat deutlich
gezeigt, welche gravierenden Mängel durch Sparzwänge
nicht nur bei Munition und Durchhaltefähigkeit entstanden sind.
({2})
Es wird deshalb kein Weg daran vorbeiführen, auf der
Grundlage der Gent-Initiative möglichst bald zu entscheiden, wo wir Fähigkeiten mit anderen teilen wollen,
wo wir Fähigkeiten übernational mit anderen einbringen
wollen und auf welche Fähigkeiten wir national aus Kostengründen verzichten wollen, weil andere sie verlässlich und günstiger bereitstellen.
({3})
Ohne ein solches Pooling und Sharing wird es angesichts
knapper Kassen keine eigenständige europäische Verteidigungspolitik geben, und ohne eine europäische Verteidigungspolitik wird Europa ein entscheidendes Instrument für seine Selbstbehauptung in der globalisierten
Welt fehlen. Deshalb brauchen wir auch hier mehr
Europa.
„Mehr Europa“ heißt auch, das Verhältnis zur Türkei
neu zu gestalten. Mit Kroatien wurden in den letzten
sechs Jahren die Beitrittsverhandlungen über 35 Kapitel
beendet. In derselben Zeit wurde mit der Türkei nur ein
einziges Kapitel vorläufig abgeschlossen. Die Verhandlungen drohen im Sande zu verlaufen. Das aber würde
zu einer erheblichen Entfremdung in den Beziehungen
zur Türkei führen. Das kann nicht in unserem Interesse
sein;
({4})
denn wir haben nicht nur angesichts des Umbruchs in
der arabischen Welt das Interesse, so eng wie möglich
mit der Türkei zusammenzuarbeiten.
({5})
Dem sollten wir in unseren Beziehungen zur Türkei
Rechnung tragen.
Was die Beitrittsverhandlungen betrifft, könnte deshalb zunächst ein Zwischenziel angestrebt werden, beispielsweise eine spezifische, auf die gemeinsamen Möglichkeiten und Interessen ausgerichtete Anbindung,
vergleichbar mit dem Europäischen Wirtschaftsraum.
Das 2005 vereinbarte Ziel einer möglichen Vollmitgliedschaft gilt weiterhin. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sollte die EU mit der Türkei allerdings schon
heute intensiver und institutionell so eng wie möglich
zusammenarbeiten und sie darin einbeziehen.
„Mehr Europa“ bedeutet auch, dass wir mehr denn je
ein außenpolitisch kohärentes Vorgehen der EU in unserer unmittelbaren Nachbarschaft brauchen. Die CDU/
CSU unterstützt die Bundesregierung in ihren zahlreichen Initiativen, gerade auch auf europäischer Ebene,
um den Wandel in Ägypten und Tunesien zu flankieren.
Genauso bedeutsam ist für uns die Zukunft Libyens;
denn es liegt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft.
Wir müssen auch Libyen das Angebot einer Transformationspartnerschaft machen, die die führende Rolle der
EU bei der Unterstützung des demokratischen Wandels
in Libyen gewährleistet.
Sosehr es auch gilt, nach vorne zu schauen, noch ein
Wort zur deutschen Nichtbeteiligung am militärischen
Vorgehen der NATO in Libyen: Die Bundesregierung hat
sich aufgrund der aus ihrer Sicht unabsehbaren Risiken
nicht an den militärischen Operationen der NATO beteiligt. Die Bundeskanzlerin hat aber von Beginn der Luftschläge an gesagt, dass Deutschland in diesem Konflikt
nicht neutral ist und dass wir die Ziele der Resolution
1973 vorbehaltlos unterstützen. Wir sind froh, dass sich
unsere Bedenken nicht bestätigt haben.
({6})
Die Entsendung von Bodentruppen war nicht notwendig.
Der Einsatz wurde nicht als Intervention des Westens
missverstanden, es gab keine Demonstrationen gegen
die Luftschläge und die NATO in der arabischen Welt.
({7})
Das Vorgehen der NATO war letztlich mitentscheidend
für den Fall Gaddafis.
({8})
Deshalb danken wir unseren Bündnispartnern, allen voran den USA, Frankreich und Großbritannien, die die
maßgebliche Last dieses Einsatzes getragen haben.
({9})
Den Sieg über Gaddafi und damit seine Freiheit aber hat
das libysche Volk errungen. Auch das ist ganz wichtig.
({10})
Nach dem Fall Gaddafis sind die Herausforderungen
in Libyen viel größer als in Tunesien und Ägypten:
Staatliche Strukturen müssen gänzlich neu aufgebaut
werden, und die Stämme müssen einbezogen werden.
Viel ausgeprägter als in den Nachbarländern haben sich
traditionelle Strukturen erhalten. Der Wiederaufbau
muss rasch angegangen werden. Nun gilt es zuallererst,
die Not der kriegsgeplagten libyschen Bevölkerung zu
lindern. Es ist deshalb richtig, dass die Bundesregierung
1 Milliarde Euro aus eingefrorenen Auslandsgeldern des
alten Regimes sofort freigegeben hat und die EU einen
Teil ihrer Sanktionen umgehend aufgehoben hat.
Ferner muss die Übergangsregierung nun umgehend
einen demokratischen Fahrplan vorlegen und umsetzen,
also einen Prozess der nationalen Einigung, Versöhnung
und Anstrengung einleiten, eine Verfassung erarbeiten
und zudem zu einem geeigneten zukünftigen Zeitpunkt
Parlamentswahlen durchführen. Wenn nicht Deutschland
und die EU, wer sonst könnte hier Expertise einbringen?
Deutschland wird Hilfe beim Aufbau von Strukturen
in der Bildung, im Gesundheitswesen und bei der Grenzsicherung leisten. Ebenso können bei entsprechenden
Anfragen aus Libyen zivile Missionen, etwa im Sicherheitssektor oder beim Aufbau des Justizwesens, von der
EU mit deutscher Beteiligung entsandt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beobachten mit
großer Sorge die Entwicklungen in Syrien. Präsident
Assad führt einen brutalen Unterdrückungskrieg gegen
das syrische Volk. Assad ist für uns kein Partner mehr.
Deutschland hat sich bereits auf EU-Ebene erfolgreich
für weitreichende Sanktionen gegen dieses Unterdrückungsregime eingesetzt.
({11})
Das Ölembargo der EU ist ein wichtiger Schritt. Es ist
allerdings skandalös, wenn sich die umfassende Umsetzung aufgrund bestimmter Lieferverträge eines italienischen Konzerns bis Mitte November verzögert. Die EU
muss zeigen, dass sie es mit den Sanktionen ernst meint.
({12})
Die Vorfälle an der israelisch-syrischen Grenze im
Frühjahr dieses Jahres, die jüngsten Spannungen im Sinai und der zuletzt wieder intensivere Beschuss israelischer Städte aus dem Gazastreifen mahnen, dass die historischen Veränderungen nicht zu weniger Sicherheit für
Israel führen dürfen. Gerade wegen der vielen Unwägbarkeiten in Israels Nachbarländern sind Fortschritte im
Friedensprozess notwendig, um Stabilität zu fördern und
einen positiven Impuls für die gesamte Region zu geben.
Einseitige Schritte, sei es der Gang der palästinensischen
Seite vor die UN-Generalversammlung oder der Bau von
weiteren israelischen Siedlungen, bergen nur die Gefahr
einer Verschärfung der Lage und bringen uns einer Lösung nicht näher. Die Anerkennung eines palästinensischen Staates kann nur die Folge von Verhandlungen
sein.
({13})
Hier muss die EU zu einer gemeinsamen Haltung kommen.
Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir
mehr Europa, mehr politische Integration in Europa,
mehr Handlungsfähigkeit und mehr politische Gestaltungskraft, wenn wir Subjekt und nicht Objekt der globalen Entwicklungen sein wollen.
Herzlichen Dank.
({14})
Stefan Liebich ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Guido Westerwelle hat leider den Großteil seiner Redezeit hier für eine Parteitagsrede genutzt, um seine eigenen Leute hinter sich zu versammeln. Er hat zur Außenpolitik und zum Haushalt nur sehr wenig gesagt. Dabei
gibt es hier viel, über das man diskutieren sollte; denn
beides befindet sich in einer gewaltigen Schieflage. Sie
setzen auf das Militär und kürzen die Mittel für friedenschaffende Maßnahmen. Wir finden das falsch. Ja, Herr
Westerwelle, Sie haben recht: Wir haben dem in jeder
Ausschusssitzung und in jeder Plenarsitzung widersprochen, und wir werden das weiterhin tun.
({0})
Wenn man einen Blick in den Haushalt wirft, dann
muss man feststellen, dass auf der einen Seite bei der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, dem Teil der
Außenpolitik, der der Verständigung zwischen den Menschen verschiedener Nationalitäten dient, gekürzt wurde.
Unter der Überschrift „Strukturelle Neupositionierung“
werden die Mittel für die Deutsche Welle um 2 Millionen Euro und für das Goethe-Institut um 4 Millionen
Euro gekürzt. Die Mittel für Abrüstung und Rüstungskontrolle werden gekürzt. Dabei gibt es hier weltweit genug zu tun. Auf der anderen Seite werden 170 Millionen
Euro mehr für Auslandseinsätze der Bundeswehr eingeplant; insgesamt zahlen wir dafür inzwischen mehr als
1 Milliarde Euro. Sie wollen zusätzliches Geld für den
Ausbau des NATO-Hauptquartiers und den Ausbau des
sogenannten zivilen Arms der NATO. Wozu braucht ein
Militärbündnis einen zivilen Arm? Warum wird das
Geld nicht der zivilen OSZE gegeben?
({1})
Diese Prioritätensetzung ist absurd. Hier werden wir Änderungen beantragen.
Die Haushaltsdebatte ist immer auch eine Gelegenheit für eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die
Politik in unserem Land. Diese ist im Bereich der Außenpolitik dringend erforderlich. Die Leser der Süddeutschen Zeitung haben sich im März dieses Jahres erstaunt
die Augen gerieben, als sie lesen durften, dass der ehemalige Außenminister Fischer, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, „Scham für das Versagen unserer Regierung“ und der „roten und grünen Oppositionsführer“
empfand.
({2})
Ende August teilte er via Spiegel mit, dass das Verhalten
der Bundesregierung „ein einziges Debakel, vielleicht
das größte außenpolitische Debakel seit Gründung der
Bundesrepublik“ sei.
Worin bestand die Katastrophe, die Abgeordneten
von CDU/CSU, SPD - das haben wir eben wieder bei
Herrn Erler gehört - und Bündnis 90/Die Grünen so unendlich peinlich ist und den sogenannten Parteifreunden
des Außenministers ein willkommener Anlass zu sein
scheint, ihn endlich zum Rücktritt zu drängen? Es war
die Entscheidung, einer Beteiligung an einem Bürgerkrieg nicht zuzustimmen. Es war die Entscheidung, deutsche Soldatinnen und Soldaten nicht erneut in ein militärisches Abenteuer mit offenem Ausgang zu schicken. Es
war die Entscheidung, bei einer vorhersehbaren Fehlinterpretation der Charta der Vereinten Nationen und der
Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht
mitzumachen. Natürlich sind wir alle froh, dass ein Diktator weniger im Amt ist. Aber heiligt dieses Ergebnis
jedes Mittel?
({3})
Es war nach wenigen Tagen der NATO-Bombardierung
klar, dass es um mehr geht als um den Schutz von Zivilisten, wie vom Sicherheitsrat beschlossen.
Was passiert wohl mit der Zivilbevölkerung in einem
Krieg? Herr Schockenhoff, Amnesty International hat
beiden Konfliktparteien Folter vorgeworfen. Wir wissen
gar nicht, wie viele Menschen den Truppen Gaddafis,
denen der Rebellen und den Bomben der NATO zum
Opfer gefallen sind. Die Rebellen selbst sprechen von
50 000 Toten. Dass Deutschland daran nicht beteiligt ist,
soll das größte außenpolitische Debakel seit dem Zweiten Weltkrieg sein? Da fallen mir ganz andere Beispiele
ein,
({4})
die Entscheidung des Bundestages von 1998 zum Beispiel, gänzlich ohne völkerrechtliche Legitimierung die
Weichen für eine Bombardierung von Belgrad zu stellen.
({5})
Dieser erste Kriegseinsatz in der jüngeren deutschen Geschichte war ein Tabubruch. Damals, Herr Erler, ist die
Außenpolitik auf die schiefe Bahn geraten.
({6})
Ein weiteres Beispiel ist der Afghanistan-Krieg. Nach
den unentschuldbaren Terrorangriffen auf New York und
Washington und der Ermordung Tausender stand
Deutschland an der Seite der Vereinigten Staaten. Bundespräsident Johannes Rau sagte vor 200 000 Berlinerinnen und Berlinern unter riesigem Beifall: „Hass darf uns
nicht zum Hass verführen. Hass blendet.“
({7})
Die Regierung Schröder/Fischer/Schily/Künast reagierte anders. Unter der Überschrift „Uneingeschränkte
Solidarität, das heißt auch militärischer Beistand“ führte
sie Deutschland in einen seit zehn Jahren andauernden
Krieg, in dem sich in diesem Moment über 5 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten befinden. 52 haben dort
bereits ihr Leben gelassen, mit ihnen 2 600 weitere Soldaten und mehr als 30 000 afghanische Zivilisten, und es
geht immer weiter, und das, obwohl der afghanische Präsident Karzai im März dieses Jahres die NATO gebeten
hat, die Bombardements einzustellen. Das und nicht die
Enthaltung bei der Libyen-Abstimmung ist das größte
Debakel der deutschen Außenpolitik.
({8})
Die Bundesregierung hat im UN-Sicherheitsrat anders abgestimmt als die Regierung der Vereinigten Staaten. Das darf sie. Der vom Berliner rot-roten Senat zum
Ehrenbürger ernannte Egon Bahr sagte 2003 mit Blick
auf das deutsche Nein zum zweiten Irakkrieg, dass man,
statt den USA hinterherzulaufen, selbstbewusst den eigenen Weg gehen solle. Unterschiede müssten nicht
Gegnerschaft sein. Recht hat er.
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, die
NATO hat einen militärischen Sieg gegen einen Diktator
errungen, und wir waren nicht dabei. Aus meiner Sicht
ist das kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Deutschland kann auf bessere Weise sehr viel Schlimmes verhindern und sehr viel Gutes tun.
({9})
Was machen die Gewehre von Heckler & Koch in
Gaddafis Palast? Was haben deutsche Panzer in SaudiArabien zu suchen, was deutsche Polizeiknüppel bei
Mubaraks Sicherheitskräften?
({10})
Beenden wir die deutschen Waffenexporte! Beenden wir
die Ausstattungs- und Ausbildungshilfen für Diktaturen!
Beenden wir das am besten generell! Das ist der beste
Beitrag, den Deutschland zur Schaffung einer friedlichen
Welt leisten kann.
Danke schön.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Frithjof Schmidt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Außenminister, die Hälfte der Legislaturperiode ist um, und was ist Ihre Bilanz? Die Kommentarlage im In- und Ausland ist eindeutig: Deutschland verliert in der Welt dramatisch an Ansehen. Das ist
der Kern Ihrer Bilanz, und das ist für einen deutschen
Außenminister wirklich einzigartig.
({0})
In seltener Deutlichkeit haben altgediente Staatsmänner aus unterschiedlichen Lagern die Außenpolitik Ihrer
Regierung - man muss es so sagen - vernichtend kritisiert. Deutschland gilt unter Schwarz-Gelb als schwer
berechenbar. Als Außenminister, Herr Westerwelle, sind
Sie persönlich dafür verantwortlich, die Politik unseres
Landes im Ausland zu vermitteln und zu erklären. An
dieser Aufgabe scheitern Sie.
Herr Westerwelle, Sie haben kürzlich gesagt, es reiche in der heutigen Welt nicht mehr, „alte Partnerschaften“ zu pflegen, sondern man müsse auch „die neuen
Kraftzentren der Welt ernst nehmen und neue strategische Partnerschaften aufbauen“. Das ist richtig. Unsere
Politik muss den dynamischen Veränderungen in der
Welt Rechnung tragen. Das Problem ist nur: Sie haben
das in den Zusammenhang mit der deutschen Enthaltung
im Sicherheitsrat zur Libyen-Resolution gestellt. Wie
sollen unsere Partner in Europa und den USA das denn
verstehen? Sie relativieren so die bewährten Partnerschaften der letzten Jahrzehnte
({1})
und stellen ihnen dann China, Russland und Indien gegenüber. Das ist beispielhaft für Ihr politisches Problem:
Sie wollen die wachsende Bedeutung der Schwellenländer zu Recht ansprechen, aber Sie finden dafür weder
den richtigen Ton noch die richtigen Worte noch den
richtigen Zusammenhang.
({2})
Zurück bleibt dann ein diplomatischer Scherbenhaufen nach dem anderen. Ich frage mich schon, was Sie unter einer strategischen Partnerschaft verstehen. Wir sind
überzeugt, dass eine solche Partnerschaft mehr sein
muss als schlichte machtpolitische Kooperation mit einem großen Land. Partnerschaft setzt doch eine breite
Basis von gemeinsamen Grundüberzeugungen und Positionen voraus. Deswegen sollten wir diesen Begriff nicht
inflationär verwenden, und das tun Sie.
Sie vermitteln den Eindruck, dass es Ihnen vor allem
darum geht, der deutschen Außenpolitik größtmöglichen
nationalen Spielraum zu verschaffen. Das ist der falsche
Weg. Notwendig ist eine engere Einbindung Deutschlands in die europäische Außenpolitik. Das wäre dann
auch der richtige Weg, um neue strategische Bündnisse
zu schmieden, die die Schwellenländer einbeziehen,
nicht allein, sondern im europäischen Gespann.
Aber, Herr Westerwelle, die Europapolitik ist bisher
ohnehin nicht Ihr Feld. Europa, die Europäische Union
ist für Deutschlands Zukunft von schicksalhafter Bedeutung. Die Europäische Union steht heute auf dem Spiel.
Sie muss entschieden und offensiv verteidigt werden.
Wir brauchen mehr europäische Integration. Der deutsche Außenminister sollte hierfür ein begeisterter und
entschlossener Vorkämpfer sein.
({3})
In entscheidenden Fragen, wie der Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, haben Sie Rückendeckung aus der Opposition. Aber wo sind Sie denn in
diesen Auseinandersetzungen seit über einem Jahr zu
finden? Wo stehen Sie denn? Man muss glauben, das
Auswärtige Amt hätte jegliche Zuständigkeit hierfür mit
Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag abgegeben.
({4})
Die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland
waren immer überzeugte und vor allem überzeugende
Europäer. Sie, Herr Westerwelle, brechen mit dieser Tradition: keine große Rede, keine Vision, keine Idee zu Europa. Ich will gerne zugeben: Ein Außenminister hat es
in Zeiten des Lissabon-Vertrages schwerer, als Taktgeber
der Europapolitik zu fungieren. Aber bei Ihnen frage ich
mich schon, ob Sie überhaupt noch im Orchester sitzen.
({5})
Dabei gibt es gerade bei der gemeinsamen europäischen Außenpolitik dringend zu erledigende Aufgaben.
Auf dem Westbalkan schwelen Konflikte vor sich hin.
Hier wären europäische Initiativen unbedingt erforderlich. Doch die EU ist in zentralen Punkten wie der Anerkennung des Kosovo zerstritten und handlungsunfähig.
Hier, Herr Westerwelle, könnte Deutschland eine treibende und produktive Rolle spielen. Wir würden uns
sehr freuen, wenn Sie hier einmal liefern würden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, der
Außenminister ist natürlich nicht alleine für Fehler verantwortlich. Die Probleme erwachsen aus einer grundlegenden außenpolitischen Konzeptionslosigkeit dieser
Regierung. Dafür trägt die Bundeskanzlerin mindestens
ebenso sehr die Verantwortung wie der Außenminister.
Eine weitere Bemerkung zur Libyen-Politik ist hier
nötig. Wir haben die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat damals kritisiert, weil sie ein falsches politisches
Signal an Gaddafi bedeutet hat, nicht aber die Position
der Bundesregierung, keine deutschen Truppen in den
Einsatz in den Luftraum über Libyen zu schicken. Dazu
stehe ich nach wie vor. Aber man kann sich doch freuen,
wenn der Einsatz der NATO nach vielen Schwierigkeiten und auch Überdehnungen der UN-Resolution
schließlich gut ausgeht und der brutale Diktator gestürzt
wird.
({6})
Man sollte dabei die Verdienste der NATO würdigen. Ihr
Problem war und ist doch, dass Sie das nicht ohne Nachhilfe zum Ausdruck gebracht haben. Auch hier haben
Sie nicht den richtigen Ton und die richtigen Worte gefunden. Das kann und darf sich der Chef der deutschen
Diplomatie eben nicht leisten.
({7})
Die weitere Unterstützung des arabischen Frühlings
gehört jetzt ins Zentrum deutscher und europäischer Außenpolitik. Die Solidarität mit dem syrischen Volk und
seinem mutigen Kampf gegen die Assad-Diktatur muss
hier ganz vorne stehen. Da ist es kaum zu fassen, dass
die EU erst jetzt ein Ölembargo gegen Syrien beschlossen hat. Der Diktator massakriert sein Volk, und über
Monate wird ihm nicht einmal der Ölverkaufshahn zugeDr. Frithjof Schmidt
dreht. Es ist ein Skandal, dass das Embargo erst Mitte
November wirklich greifen wird.
({8})
Wenn Italien hier blockiert, weil es Versorgungsengpässe hat, dann muss europäisch ausgeholfen werden.
Da muss es doch eine Initiative zur Lösung geben. Hier
hätte Deutschland sich entschiedener und sichtbarer einsetzen müssen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die arabischen Länder, die den ersten Schritt in die Freiheit gemacht haben,
stehen nun vor großen Herausforderungen. Europa muss
jetzt handeln. Daher muss sich die Bundesregierung intensiv für den Abbau der EU-Agrarzölle einsetzen. Auch
die derzeitige europäische Abschottungspolitik gehört
beendet. Die EU muss ihre Grenzen, ihre Arbeitsmärkte
und ihre Universitäten für Menschen aus den sich demokratisierenden Ländern Nordafrikas öffnen.
({10})
Meine Damen und Herren von der Koalition, eine abschließende Bemerkung: Im Einzelplan des Auswärtigen
Amtes haben Sie im letzten Jahr eine ganze Reihe von
Kürzungen vorgenommen, unter anderem im Bereich
der Krisenprävention und bei den humanitären Maßnahmen. Dieses Jahr nehmen Sie diese Kürzungen nun teilweise wieder zurück. Das ist gut. Aber eine Linie, eine
Konzeption ist für mich beim besten Willen nicht erkennbar. Das ist gerade in Bereichen wie der Krisenprävention, wo es um den Aufbau nachhaltiger Strukturen
geht, wirklich kontraproduktiv. Leider zeigt also selbst
der Haushalt in seinen Einzelheiten, wie unberechenbar
die Politik dieser Regierung ist.
Mit dieser Halbzeitbilanz, Herr Minister Westerwelle,
sind Sie ein Totalausfall für Ihre Koalition und leider
auch für unser Land.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Götzer für
die CDU/CSU.
({0})
- Es wäre ja gut, wenn mir das auch einer sagte.
({1})
Dann erhält jetzt der Kollege Rainer Stinner das Wort,
und der Kollege Götzer kommt einvernehmlich später an
die Reihe. - Bitte.
({2})
Herr Präsident, mein Name ist Rainer Stinner und
nicht Erwin Lindemann. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debattenbeiträge der Opposition haben ein bedenkliches Phänomen gezeigt, das man
medizinisch als retrograde Amnesie bezeichnet, nämlich
Vergesslichkeit. Sie machen die Vergesslichkeit, die Sie
in den letzten sechs Monaten an den Tag gelegt haben,
zum Zentrum Ihrer Kritik an dieser Bundesregierung.
Herr Erler, Sie haben in Ihrer Vorlesung hier die Bundesregierung sehr deutlich kritisiert und gesagt, dass die
Libyen-Entscheidung falsch gewesen sei. Herr Schmidt,
auch Sie sind leider diesem Phänomen verfallen und haben gesagt, Sie hätten damals die Entscheidung der Bundesregierung kritisiert.
Ich darf Sie einmal mit der Realität konfrontieren:
Herr Trittin hat am 18. März 2011 gesagt, Deutschland
habe gemeinsam mit Brasilien und Indien richtig reagiert, indem es sich der Stimme enthalten habe - Herr
Trittin von den Grünen.
({0})
Herr Gabriel hat am 18. März dieses Jahres gesagt - dies
war auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Herrn
Trittin; beide haben Deutschlands Enthaltung gelobt -,
er habe Verständnis für die Haltung Deutschlands bei der
Abstimmung. Wenn man wie Deutschland Sorge vor einer militärischen Eskalation habe, sei eine Enthaltung
nur folgerichtig. Herr Gabriel sagte auch:
Ich kann die Skepsis nachvollziehen, deshalb ist die
Enthaltung richtig.
Heute, sechs Monate später, stellen Sie sich hierhin,
Herr Erler und Herr Schmidt, und machen das zum Zentrum Ihrer Kritik deutscher Außenpolitik.
({1})
Meine Damen und Herren, wer soll diese beiden Parteien noch ernst nehmen, zumal die beiden großen Protagonisten der Sozialdemokratischen Partei, die Herren
Gabriel und Steinmeier, der Debatte heute vorsichtshalber ferngeblieben sind - vielleicht um nicht mit ihrer damaligen Einschätzung konfrontiert zu werden?
({2})
In diesem Zusammenhang muss ich ein Zitat des Grünen-Politikers Cohn-Bendit wiedergeben - mit Verlaub,
Herr Präsident, hoffentlich auch mit Ihrer nachträglichen
Genehmigung, wenn Sie es gehört haben -, der bezüglich der Außenpolitik der Grünen gesagt hat:
Ich spreche von Grünen-Politikern, von Jürgen
Trittin, Omid Nouripour und anderen Klugscheißern.
Herr Präsident, ich entschuldige mich für die Wortwahl.
Aber das ist die Wortwahl der Grünen gewesen.
Meine Damen und Herren, das ist die Qualität, mit
der wir hier im Deutschen Bundestag, mit der die deutsche Öffentlichkeit und mit der die Damen und Herren
links oben von der Presse von der deutschen Opposition
konfrontiert werden. Wenn Sie das berücksichtigen,
dann können Sie doch nicht im Ernst einen Anspruch darauf erheben, für Deutschland eine bessere Außen- und
Sicherheitspolitik zu gestalten. Nein, Sie haben deutlich
bewiesen, dass Sie das nicht können.
({3})
Deshalb stelle ich abschließend völlig einvernehmlich
für die beiden Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung fest: An der klaren Einbettung Deutschlands
ins westliche Bündnis und an der klaren Orientierung an
Werten und Zielen deutscher und europäischer gemeinsamer Politik lassen wir nichts deuteln, auch nicht von
inkompetenten Oppositionspolitikern.
({4})
Deutschlands Rolle in Europa und der Welt wird sich
auch in Zukunft auf der Basis dieser klaren Werteorientierung gestalten.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesaußenminister, ich finde, dass in den letzten
Wochen nicht ganz fair mit Ihnen umgegangen worden
ist. Sie haben eine Menge Pfeile auf sich gezogen und
damit offensichtlich von dem Komplettversagen der gesamten Bundesregierung abgelenkt, die nämlich auch
den außenpolitischen Herausforderungen nicht gerecht
geworden ist. Deswegen glaube ich - das ist vielleicht
ein Trost für Sie -: Das Komplettversagen der gesamten
Bundesregierung ist blamabel für die deutsche Außenpolitik.
({0})
Die schlimmen Fehler, die in den vergangenen Wochen gemacht worden sind, Herr Bundesaußenminister,
sind das eine. Große Sorgen macht mir aber, dass Sie auf
Trends, die es innerhalb der deutschen Gesellschaft gibt,
offensichtlich nicht rechtzeitig und allenfalls mit Desinteresse eingehen.
Ich würde gerne auf eine Allensbach-Umfrage eingehen, über die im Juli 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtet wurde. Ich zitiere:
Auch die Überzeugung, es sei notwendig, Deutschland in internationale Bündnisse einzubinden,
scheint allmählich zu erodieren.
Ich denke, das muss uns allen, auch dem gesamten Deutschen Bundestag, große Sorgen machen, Herr Minister.
Insofern stellt sich die Frage: Was tun Sie gegen diesen Trend? Wie erläutern Sie den Bundesbürgern, dass
es wichtig ist, sich innerhalb von Institutionen und Regeln zu bewegen, was letztlich zum Wohle Deutschlands
gehört?
Diese Herausforderungen stellen sich. An diesen Herausforderungen sind Sie aber zumindest in den letzten
zwei Jahren gescheitert. Es geht nicht um die Reden, die
Sie gegen die Renationalisierung halten; es geht vielmehr um das Handeln.
In der Europapolitik - das wird sich auch gleich in der
Generaldebatte zeigen - hat nicht nur der Bundesaußenminister, sondern die gesamte Bundesregierung versagt,
was die Rolle Europas angeht. Die Bundeskanzlerin hat
2009 den Abgeordneten im US-Kongress gesagt - einige
von uns waren seinerzeit dabei -:
Deutschland steht in dieser Welt in festen Bündnissen und Partnerschaften; deutsche Sonderwege sind
grundsätzlich keine Alternative deutscher Außenpolitik.
Diese Rede wird in Washington immer wieder gelesen, und Ihr Handeln wird daran gemessen. Was Libyen
angeht, waren wir nicht an der Seite unserer Partner. Das
ist nicht nur Ihr Versagen, sondern das Versagen der gesamten Bundesregierung.
({1})
Ich nenne ein drittes Beispiel. Die Bundeskanzlerin
hat sehr früh eine Option beiseitegeschoben, die im Hinblick auf die geplante UN-Resolution im September in
den Vereinten Nationen wichtig gewesen wäre, nämlich
den Druck auf die israelische Regierung zu erhalten, damit es wieder zu Friedensverhandlungen kommt.
({2})
Die Bundeskanzlerin schiebt diese Option beiseite. Sie
erschweren die Einigung bei den Konsultationen mit den
europäischen Außenministern am Wochenende, weil
Deutschland in dieser Frage nicht richtig gehandelt hat.
Das ist das Komplettversagen.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben in Ihrer
Rede auf Afghanistan Bezug genommen. Sie wissen,
dass die Sozialdemokratische Partei der Politik, die seinerzeit in London kreiert worden ist, bisher gefolgt ist.
Bestandteil dieser Politik war aber auch, dass Sie gesagt
haben, bis 2015 würden die Kampftruppen aus Afghanistan zurückgezogen, und wir würden im nächsten Jahr
damit beginnen. In Ihrer Rede heute hörte sich das anders an.
Sie gefährden den innenpolitischen Konsens, wenn
Sie das nicht einhalten, was Sie vor einigen Monaten im
Deutschen Bundestag gesagt haben. Daran werden wir
Sie messen.
Ich finde, das Komplettversagen der Bundesregierung
muss benannt werden. Wir haben viele verantwortliche
Minister, die der deutschen Außenpolitik in den vergangenen Monaten Schaden zugefügt haben. Ein Beispiel ist
Herr Niebel. Ich empfand es als einen Skandal, als er in
der Zeit auf die Frage, ob die Lieferung von Panzern an
Saudi Arabien mit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung übereinstimme, geantwortet hat: „Die Stabilisierung einer Region trägt durchaus dazu bei, die
Menschenrechte zu wahren …“ - Von welchen Menschenrechten in Saudi Arabien reden Sie eigentlich? Was
sollen denn dort Panzer positiv bewirken?
({3})
Das ist der eigentliche Skandal. Ich hätte mir von der
Bundeskanzlerin deutlichere Worte dazu gewünscht. Das
betrifft auch die Begründung für die Lieferung, die nachher wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist. Sie haben
gesagt, die israelische Regierung habe Sie ermutigt, die
Panzer nach Saudi Arabien zu liefern.
({4})
Weil einige mutige Kollegen aus Ihren Reihen nachgefragt haben, hat sich herausgestellt, dass das gar nicht
stimmt. Das erinnert an eine Situation, die wir schon einmal erlebt haben. Man beruft sich auf Israel zur Rechtfertigung einer politischen Handlung. Es gab schon einmal eine ähnliche Begebenheit bei der CDU/CSU,
nämlich als es um jüdische Vermächtnisse gegangen ist.
Es ist ein Skandal, dass Argumente angeführt werden,
die in der Realität keine Grundlage haben. Das zeigt das
Komplettversagen der gesamten Bundesregierung.
({5})
Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir unabhängig
von der Libyen-Entscheidung gewünscht, dass Sie deutlich gemacht hätten, wie die Haltung der Bundesregierung in den Vereinten Nationen zu der Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, ist. Sie sind im
Sicherheitsrat, und der Sicherheitsrat wird die Rolle der
Schutzverantwortung im Rahmen des Völkerrechts ausgestalten müssen. Nach der Libyen-Entscheidung stellt
sich insbesondere die Frage, welche Instrumente man
den Vereinten Nationen an die Hand gibt, um dieser
Schutzverantwortung gerecht zu werden. Die Delegation
an andere Institutionen ist offensichtlich falsch. Deshalb
müssen wir eine Diskussion anstoßen - das ist insbesondere Ihre Aufgabe -, wie mit der Schutzverantwortung
umgegangen wird und welchen Beitrag deutsche Außenpolitik in der Zukunft dazu leisten will. Diesen Grundsatzfragen widmen Sie sich überhaupt nicht. Ich hätte
mir gewünscht, dass das heute in Ihrer Rede eine Rolle
gespielt hätte.
({6})
Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Ich schätze Ihren Versuch in den letzten Monaten, die Lage auf dem
Balkan zu beruhigen und die Spannungen durch Kooperation, durch Gespräche und das Zusammenführen der
Kontrahenten zu entschärfen. Das reicht aber nicht, insbesondere dann nicht, wenn an der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien ein Mitgliedstaat der Europäischen
Union zündelt und den Chauvinismus in dieser Region
wieder aufleben lässt. Es gehört Mut dazu, dem entgegenzutreten. Das weiß ich. Aber, Herr Bundesaußenminister, ich verlange von Ihnen, den Mut aufzubringen,
mit der ungarischen Regierung darüber zu reden, welche
Bedeutung sie der Minderheitenpolitik im Rahmen der
Europäischen Union beimisst. Das gilt auch für die Medienpolitik. Das anzusprechen, gehört zu einer mutigen
deutschen Außenpolitik. Ich finde, die Bundeskanzlerin
hätte sich dazu äußern müssen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einzige Kontinuität besteht in den Widersprüchen der von Ihnen betriebenen deutschen Außenpolitik. Matthias Naß von der
Zeit hat von seinen Reisen in die verschiedenen Hauptstädte im Juli das Resümee mitgebracht: „Ratlos stehen
die Freunde vor der neuen deutschen Unberechenbarkeit.“
Herr Kollege.
Herr Bundesaußenminister, es ist nicht der Kompass,
der Ihnen fehlt; denn der Kompass ist lediglich ein Instrument. Was Ihnen fehlt, sind Einsichten, Ernsthaftigkeit und Mut. Das ist bedauerlich, aber wohl nicht mehr
zu ändern.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang
Götzer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle spüren im Moment ganz besonders, dass sich
Europa in der größten Bewährungsprobe seit Unterzeichnung der Römischen Verträge befindet. Die Bewältigung der Schuldenkrise einiger Euro-Länder bedeutet
weit mehr als das Sichern unserer gemeinsamen Währung und auch weit mehr als das Sichern unserer Wirtschafts- und Exportchancen. Es geht vor allem darum,
Europa als eine politische Gemeinschaft zu erhalten. Wir
würden einen großen Fehler begehen, wenn wir es zuließen, dass durch die Schuldenkrise ein Schaden an ebendieser Europäischen Gemeinschaft entsteht.
({0})
Europa ist zuallererst ein bedeutender Garant für Frieden. Sich für den Fortbestand eines friedlichen Europas
einzusetzen, ist eine Grundlinie deutscher Außenpolitik.
Die deutsche Außenpolitik ist eingebettet in die interna14456
tionale Staatengemeinschaft und geschieht primär in Abstimmung mit der Europäischen Union.
Dies bedeutet aber nicht, dass wir in der Schuldenkrise unbegrenzt für Euro-Staaten einstehen, die sich
nicht solidarisch verhalten. Wer Teil dieser erfolgreichen
Europäischen Gemeinschaft sein will, muss auch solidarisch gegenüber seinen Nachbarn sein. Es darf keine unbegrenzte Einstandspflicht der Euro-Länder geben. Eine
Transferunion lehnen wir deshalb ab.
({1})
Noch etwas möchte ich aus gegebenem Anlass sagen:
Wir werden keinesfalls unsere nationale Souveränität
und damit letztlich auch unsere nationale Identität aufgeben. Damit es ganz klar ist: Die CSU und insbesondere
die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag möchte keine Vereinigten Staaten von Europa.
({2})
So denkt übrigens auch die übergroße Mehrheit der
Deutschen.
Die europäischen Staaten sind Ausdruck der Vielfalt
und des kulturellen Reichtums Europas. Die Europäische Union beruht auf der Gemeinschaft gleichberechtigter und souveräner Staaten. Für uns gilt deshalb, dass
der Grundsatz der Subsidiarität das am besten geeignete
Ordnungsprinzip für die Aufgabenverteilung auf die verschiedenen Ebenen in der Europäischen Union ist. Jede
weitere Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union darf nur mit Zustimmung des Bundestages
und des Bundesrates erfolgen.
Dennoch steht es außer Frage, dass wir in Zukunft unsere Interessen in der Welt nur im europäischen Rahmen
zur Geltung bringen können. Wir wollen und wir brauchen ein Europa, das immer weiter zusammenwächst.
Die EU muss dabei eine in sich gefestigte Wertegemeinschaft innerhalb verlässlicher Grenzen sein. Deshalb
darf ihre Integrationskraft nicht überfordert werden. Das
bedeutet für die Frage der EU-Erweiterung: Mit dem
eingeleiteten Beitritt Kroatiens ist aus meiner Sicht bis
auf Weiteres die Aufnahmefähigkeit der Europäischen
Union an ihre Grenzen gelangt.
({3})
Deshalb sagen wir ein klares Nein zu einem Beitritt der
Türkei.
({4})
Der Kollege Schockenhoff hat keinen Beitritt gefordert,
und den wird es mit uns auch nicht geben.
({5})
Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld in der deutschen Außenpolitik ist nach wie vor Nordafrika. Seit
Monaten sind wir Zeugen gewaltiger Umwälzungen in
der arabischen Welt, die vor einem Jahr noch niemand
für möglich gehalten hätte. Wie sich die Lage in den einzelnen Ländern letztlich entwickeln wird, ist noch immer nicht absehbar. Gemeinsam mit den Partnern der EU
müssen und werden wir den Wandel in den Ländern
Nordafrikas zielorientiert, bedarfsgerecht und partnerschaftlich unterstützen. Der Demokratisierungsprozess
in der arabischen Welt ist nicht nur für die Menschen vor
Ort von größter Bedeutung, sondern liegt auch im deutschen und europäischen Interesse. Klar muss aber auch
sein: Finanzielle Unterstützungsleistungen der EU müssen zukünftig viel stärker als bislang von politischen und
rechtsstaatlichen Reformen abhängig gemacht werden.
Dass nun auch die Tage der Gaddafi-Herrschaft vorbei sind, ist dem mutigen Kampf der Aufständischen in
Libyen, aber auch dem militärischen Eingreifen unserer
NATO-Partner zu verdanken. Die Tatsache, dass sich
Deutschland nicht an dem militärischen Einsatz beteiligt
hat, darf nicht mit Neutralität verwechselt werden.
Bündnistreue ist und bleibt eine der obersten Maximen
der deutschen Außenpolitik.
Wir werden an der Seite der Bündnispartner bei dem
politischen Übergang Libyens in Richtung Demokratie
und Rechtsstaat aktiv mitwirken. Außerdem werden wir
Libyen beim Wiederaufbau der Wirtschaft und Infrastruktur unterstützen, und wir werden medizinische
Hilfe leisten. Sollte es eine Anfrage der Bündnispartner
geben, wird auch die Beteiligung der Bundeswehr an einer möglichen UNO-Friedensmission in Libyen konstruktiv geprüft werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genauso wie in
den letzten Jahrzehnten wird die deutsche Außenpolitik
auch in Zukunft wertorientiert und interessengeleitet
sein. Neben einer aktiven Europapolitik bleibt die Bündnisorientierung eine wichtige Säule deutscher Außenpolitik. Deutschland steht zum Bündnis, Herr Kollege
Erler, und wird auch in Zukunft seinen Beitrag leisten.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, Frau Merkel, Sie haben bisher noch keine
Griechen gerettet, sondern nur die Besitzer griechischer
Schuldverschreibungen. Das ist die Wahrheit.
({0})
Sie haben nicht die Spareinlagen der kleinen Leute bei
uns gerettet, sondern Josef Ackermann, der Sie berät und
den Sie Geburtstag im Kanzleramt feiern lassen. Der
Ackermann/Merkel-Kurs zwingt die südeuropäischen
Konjunkturen in die Knie und auf die Knie. Aber wenn
Griechenland und Spanien fallen, wenn Sie die EuroZone nicht halten können, dann können Sie auch unsere
Exportkonzerne einsargen.
Meine Damen und Herren, während Deutschlands
Bürger morgen wieder für Ackermann und die Finanzhaie mit gut 253 Milliarden Euro bürgen sollen, schließen in Kommunen Schwimmbäder und Kulturzentren.
Überall wird städtische Daseinsvorsorge in dieser Not zu
Cashflow gemacht, in die Privatisierung getrieben. „Privare“ ist Lateinisch und heißt „rauben“. Aber die Gemeinden sind unser Zuhause und kein Fraß für Finanzhaie.
({1})
Statt Schuldverschreibungen, meine Damen und Herren, brauchen wir Nachfrage in den Verbrauchertaschen.
Städte und Gemeinden müssen wieder kaufkräftig werden. So müssen auch Löhne und Renten steigen. Das ist
das Antikrisenkonzept, das Ihnen neuerdings sogar konservative Ökonomen vorrechnen.
Was glauben Sie denn, warum Frank Schirrmacher,
Herausgeber der größten konservativen Zeitung in
Deutschland, der FAZ, vor drei Wochen schrieb; er
fürchte, die Linken hätten recht?
({2})
Deutsche Billiglohnjobs sind der Motor immer tiefer
in die Krise hinein. Solange in Deutschland als einzigem
und größtem EU-Land die Reallöhne weiter derart sinken - in den vergangen zehn Jahren um 4,5 Prozent und die Exportüberschüsse steigen, solange die Länder
Süd- und Osteuropas sich weiter verschulden müssen,
weil deutsche Lohnpresser diese Märkte immer schneller
mit Produkten aus immer billigerer Arbeit, hergestellt in
höchster Produktivität, überschwemmen, wird die Krise
immer schlimmer.
War da nicht mal die Rede von einer Finanztransaktionsteuer? War da nicht mal was mit der Krisenbeteiligung privater Gläubiger und Großzocker? Das wurde
auf die freiwillige Basis abgeschoben, so als ob man den
Marder im Blutrausch bitten könnte, sich selbst die
Maulsperre einzuziehen.
({3})
War da nicht mal was mit der Erhöhung der Risikodeckung der Großzocker, was selbst der Internationale
Währungsfonds erst vergangene Woche gefordert hat?
Die Deutsche Bank hat hartes Eigenkapital von 30 Milliarden Euro bei einer Bilanzsumme von 2 000 Milliarden Euro. So sieht die nächste Zeitbombe aus.
Das Bundesverfassungsgericht soll ja wohl alle Beschwerden zurückgewiesen haben. Aber beim Bundesverfassungsgericht haben wir gelernt, genauestens in die
Auflagen hineinzuschauen. Ich greife dem nicht vor,
wenn ich sage: Wer eine umfassende parlamentarische
Kontrolle der EFSF, der anderen Pakete ablehnt und
sagt, diese sei nicht möglich, weil die Finanzmärkte immer schnellere Entscheidungen forderten, der ist ein
Gegner unserer Verfassung.
({4})
Wer beim Änderungsgesetz die parlamentarische Mitwirkung beschneidet, zwingt auch die Linke, erneut nach
Karlsruhe zu gehen. Und auch dies wird nicht erfolglos
bleiben.
Als ich letzte Woche ein Deutschlandfunk-Zitat von
Ihnen, Frau Merkel, auf den Nachdenkseiten von
Albrecht Müller gelesen habe, habe ich erst gedacht, da
muss der Albrecht Müller einer Stimmparodistin auf den
Leim gegangen sein. Ich zitiere einmal mit Genehmigung des Präsidenten:
Wer leben ja in einer Demokratie,
- danke schön und das ist eine parlamentarische Demokratie,
- auch hier: danke schön für die Belehrung und deshalb ist das Budgetrecht ein Kernrecht des
Parlaments,
- auch für diese tolle Erkenntnis danke ich und insofern werden wir Wege finden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird,
- und das lassen Sie sich jetzt bitte ganz langsam auf
dem Hirn zergehen dass sie trotzdem auch marktkonform ist.
Ich wiederhole: Die parlamentarische Mitbestimmung so
gestalten, dass sie marktkonform ist.
Frau Merkel, es gibt hier in diesem Deutschen Bundestag - da muss ich auch Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen in Schutz nehmen - noch ausreichend
Kolleginnen und Kollegen, die gar nicht daran denken,
sich hier marktkonform zu verhalten, sondern sich vielmehr demokratisch verhalten
({5})
- das werden Sie von der FDP wahrscheinlich nie begreifen -, weil es noch Millionen Dinge und Menschen
auf dieser Welt gibt, die wir nicht den Märkten unterordnen dürfen.
({6})
Die wie ein Gottesurteil beschworenen bzw. wie ein
Olymp angebeteten Finanzmärkte bestehen in Wahrheit
aus fünf Großbanken und drei Ratingagenturen. Und
dann gehören noch dem Hauptaktionär der Deutschen
Bank, Blackrock, zwei von den drei größten Ratingagenturen. Blackrock ist also das Verbindungsglied zwischen
Deutscher Bank und den Ratingagenturen. So sind die
sogenannten Finanzmärkte aufgestellt, denen Sie parlamentarische Entscheidungen unterordnen wollen. Mit
diesen fünf Großbanken und diesen drei Ratingagenturen gehen Kolleginnen und Kollegen, gehen Demokratinnen und Demokraten in diesem Land nicht konform.
Sie gehen nach Karlsruhe, sie gehen auf die Straße. Wir
werden diese Bankenmacht brechen müssen, wenn uns
unsere Demokratie, wenn uns unser Parlament, wenn
uns unser Leben lieb ist.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zweifelsohne leben wir in einer politischen Zeitenwende. Europa steht nicht an einem Scheideweg, sondern Europa steht an einem Entscheideweg:
Ja zu mehr Europa oder Ja zu weniger Europa? Kollege
Schockenhoff hat diese Frage für die CDU/CSU-Fraktion schon beantwortet: Ja zu mehr Europa.
Haushalterisch bzw. vom Einsatz der Finanzmittel her
gesehen war die Finanz- und Wirtschaftskrise wohl eine
Art Jahrhunderthochwasser. Die Bewältigung der Staatsschuldenkrise kommt einem Tsunami gleich. Einige kritische Vorhersagen von Sachverständigen vor Einführung des Euro sind jetzt eingetreten. Auch derzeit gibt es
wieder Sachverständige und Experten, die Entwicklungsszenarien aufzeigen und alternative Handlungsansätze zu den von den Euro-Staaten installierten Rettungsschirmen vortragen. Die Vorschläge reichen von
einer neuen europäischen Verfassung, also vom Staatenbund zum Bundesstaat, über ein Kerneuropa, also Aufspaltung in einen Nord- und in einen Süd-Euro, bis zu einem Schuldenschnitt und einem Austritt aus der
Währungsunion.
Manchen Experten scheinen die Gipfelbeschlüsse
zwar realpolitisch sinnvoll, aber ökonomisch manchmal
zweifelhaft, Beispiel Griechenland-Paket. Mit einem erweiterten EFSF sollen Staatsdefizite finanziert und Zeit
für Strukturreformen gekauft werden. Wurde diese Zeit
bisher genutzt? Wurde tatsächlich gerettet? So lautet
auch das Fazit eines Ökonomen des Bundesverbandes
der mittelständischen Wirtschaft: Sicher ist nur, dass
volkswirtschaftliche Realitäten langfristig immer stärker
sind als realpolitisches Wunschdenken. - Diese Diskrepanz, die es zwischen diesen beiden Punkten immer wieder gibt, hat den Akzeptanzschwund und den Vertrauensverlust der Bürger gegenüber Europa verstärkt.
Vorbei ist die Euphorie über ein freizügiges Europa, über
Reisen ohne Grenzkontrollen.
Zu selbstverständlich ist auch der Frieden geworden,
der Gott sei Dank schon 60 Jahre in Europa herrscht.
Angesichts der Zukunftsängste spielt das bei den Bürgern leider keine große Rolle mehr. So manche Richtlinie aus der Europäischen Union und so manche Standards - wir können die Stichpunkte ja nennen:
Glühbirnenverbot oder Krümmungsgrad der Gurke; Sie
alle wissen, dass es viele ähnliche Dinge gibt - haben die
Bürger als Schikane der europäischen Bürokratie empfunden. Der Umgang mit der Staatsschuldenkrise kommt
bei vielen noch hinzu. Dabei ist europäische Integration
nicht auf Gedeih und Verderb mit einer Währungsunion
verbunden, wie erfolgreiche europäische Länder ohne
den Euro beweisen. Aber der Bürger trennt hier kaum.
Mancher hat uns die Einführung des Euro, der oft immer
noch sarkastisch „Teuro“ genannt wird, nie verziehen
und misst uns deshalb besonders streng an den damaligen Versprechungen.
Was haben wir dem entgegenzuhalten? Systematische
Regelbrüche und kaum wirksames Kontrollieren und
Sanktionieren. Oftmals werden Euro-Skeptiker oder
Euro-Kritiker als Feinde der europäischen Idee hingestellt. Von Bundespräsident Wulff oder Bundesbankpräsident Weidmann kann man das ganz sicher nicht sagen.
Auch mein persönlicher Standpunkt ist zwar immer
Euro-kritisch, richtet sich aber nie gegen die europäische
Integration. Ich möchte ein Europa, das mehr ist als eine
Freihandelszone, das aber nicht eine Vergemeinschaftung der Schulden und schon gar nicht Euro-Bonds unterstützt;
({0})
denn diese nehmen den letzten wirtschaftlichen Anreiz
für solides Haushalten. Ich möchte auch erst dann eine
Wirtschafts-, Währungs-, Fiskal- und Sozialunion und
das damit verbundene Abtreten nationaler Souveränitätsrechte, wenn sich die EU durch das Einhalten ihrer eigenen Verträge und Vereinbarungen dafür würdig erwiesen
hat. Diesen Beweis ist die Gemeinschaft bisher noch
schuldig geblieben.
Deshalb ist es richtig, einen kritischen Blick auf die
Europäische Union zu behalten, die starke Mitwirkung
des Deutschen Bundestages - auch ohne ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts, das übrigens soeben alle
Klagen und Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen
hat - bei allen europäischen Entscheidungen einzufordern und realpolitische Entscheidungen zu treffen, die in
Verantwortung für künftige Generationen ökonomisch
vernünftig und vertretbar sind. Es gibt immer einen Anfang für das Bessere. Um mit Wolfgang Schäuble zu
sprechen: Europa muss man richtig machen.
Danke.
({1})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst gestatten Sie mir, dass ich
den Berichterstattern aller Fraktionen und insbesondere
den Mitarbeitern des Haushaltsreferats des Auswärtigen
Amtes für die konstruktive, verlässliche und offene Zusammenarbeit in den letzten zwei Jahren danke. Diese
offene Zusammenarbeit, die vor allem von Kontinuität
und Verlässlichkeit geprägt war, ist etwas, was man leider, sehr geehrter Herr Minister - der zurzeit auf Wanderschaft ist -, von Ihnen nicht sagen kann.
Gewichtige Persönlichkeiten wie zum Beispiel der
Altbundeskanzler Helmut Kohl, der 16 Jahre zusammen
mit zwei Ihrer Parteikollegen den außenpolitischen Kurs
der Bundesrepublik vorgegeben hat, bringt es auf den
Punkt: Der Bundesregierung fehlt der außenpolitische
Kompass. Das haben Sie, Herr Außenminister, leider gerade wieder bestätigt. Denn die Rede, die der Bundesaußenminister hier heute zu seinem eigenen Haushalt gehalten hat, war alles andere als eine Rede über den
Haushalt des Auswärtigen Amtes oder eine Bilanz der
deutschen Außenpolitik. Vielmehr war es eine Bewerbungsrede als Parteivorsitzender.
({0})
80 Prozent der Rede waren Partei- und Finanzpolitik,
und höchstens 20 Prozent waren Außenpolitik. Das
zeigt: Sie empfinden die Debatte über Ihren eigenen Etat
als unwichtig. Das scheint Ihrer Ansicht nach, Herr
Minister, etwas für die kleinen Leute, die die Dollars und
Euros zusammenkramen, zu sein; aber es eignet sich
nicht zur Beratung in diesem Hohen Hause.
Und das bestätigt sich im Übrigen sehr deutlich, wenn
wir auf die Entwicklung des Etats des Auswärtigen Amtes blicken. Sie fahren mit Ihrem Etat einen ungeheuerlichen Schlingerkurs, Herr Minister. Darüber ist heute
noch nicht gesprochen worden. Schauen wir uns einmal
die entsprechenden Zahlen an:
Im Haushalt des Jahres 2010 gab es ein Plus von
166 Millionen Euro; das sind 5,2 Prozent mehr. In 2011
gab es ein Minus von 91 Millionen Euro; das entspricht
2,8 Prozent weniger. In 2012 soll es wieder ein Plus von
203 Millionen Euro geben; das sind 6,5 Prozent. In der
Vorausschau ist laut der Finanzplanung für das Jahr 2013
wieder mit einem Minus von 180 Millionen Euro zu
rechnen, also 5,4 Prozent weniger. Mit einem solchen
Zickzackkurs kann man keine planbare und solide Außenpolitik machen. Verlässlichkeit - das müssen wir Ihnen, Herr Außenminister, sagen - sieht anders aus. Sie
muss man auch an den Haushaltszahlen ablesen können.
({1})
Ich komme zurück zum Haushaltsentwurf 2012. Die
sozialdemokratische Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass
der Etat um 203 Millionen Euro steigen soll; das sind
6,5 Prozent mehr. Dies war nach dem Kahlschlag im
letzten Jahr auch dringend notwendig. Gravierende Fehlentwicklungen, die es im vergangenen Jahr gegeben hat,
werden mit diesem Haushaltsentwurf wieder korrigiert.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen: Sie erfüllen damit die zentralen Forderungen der
SPD aus dem letzten Jahr. Dies ist ein schönes Ergebnis.
So stehen für Maßnahmen zur Sicherung von Frieden
und Stabilität einschließlich humanitärer Hilfsmaßnahmen 83 Millionen Euro mehr zur Verfügung als im vergangenen Jahr.
Konkret sind für die zivile Krisenprävention und die
Friedenserhaltung 32 Prozent mehr geplant. Für humanitäre Hilfe im Ausland sind 28 Prozent mehr Mittel veranschlagt als bisher. Die Mittel für Maßnahmen zur
Demokratisierungshilfe und für die Förderung der Menschenrechte werden um 18 Prozent erhöht. Das sind
wichtige Veränderungen.
Beim Stichwort Nordafrika möchte ich noch auf einen
wichtigen Punkt zu sprechen kommen, der mir sehr am
Herzen liegt. Der Titel „Transformationspartnerschaften
Nordafrika/Naher Osten“ zur Unterstützung des demokratischen Wandels in der Region wird für das Jahr 2012
und für das Jahr 2013 jeweils mit 50 Millionen Euro ausgestattet. Ich konnte mich selbst überzeugen, welch
wichtige Beiträge unsere Mittlerorganisationen, die Stiftungen und die NGOs zum Aufbau der Zivilgesellschaft
und zur Förderung des demokratischen Wandels in
Ägypten leisten.
Zu Beginn der Umbrüche in der arabischen Welt habe
ich zusammen mit Günter Gloser die schnelle Entsendung von Sozialreferenten in diese Region gefordert. Ich
freue mich heute, dass der Minister diese Idee aufgegriffen hat und dass in Kürze zumindest der erste Sozialreferent nach Kairo entsandt wird. Denn aus meiner Sicht
kommt es nicht nur darauf an, Maschinen, Autos und
Anlagen zu verkaufen. Zu einer werteorientierten Außenpolitik gehört vielmehr auch, dass sozialpolitische
Werte weitergegeben werden. Dazu brauchen wir Menschen, die diese Prozesse vor Ort flankieren.
({2})
Trotz dieser positiven Aspekte muss gesagt werden,
dass der Haushalt nach wie vor eine Reihe von altbekannten Problemen und Fragen aufwirft:
Erstens. Die zusätzlichen ODA-anrechenbaren Sondermittel in Höhe von 140 Millionen Euro stehen nur für
das Jahr 2012 zur Verfügung. Ich frage mich, wie es danach weitergehen soll. Von dem Auf und Ab und dem
Zickzackkurs habe ich bereits gesprochen.
Zweitens. Für den Stabilitätspakt Afghanistan müssen
auch in diesem Jahr wieder 90 Millionen Euro allein aus
dem Etat des Außenministeriums aufgebracht werden.
Wir wissen - und stehen ganz klar dazu -, dass der
Rückzug noch in diesem Jahr beginnen muss. Dieser militärische Rückzug wird zusätzliche zivile Aktivitäten
nach sich ziehen. Sie, Herr Minister, werden die Frage
beantworten müssen, wo die Finanzierung dieser Aktivitäten vorgesehen ist
({3})
und welche Vorkehrungen getroffen werden, dass sie in
ausreichendem Maße sichergestellt ist.
({4})
Drittens. Für das prestigeträchtige Sonderprogramm
der Bundesregierung im Bereich Forschung und Bildung
stehen 12 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese Mittel
sind allgemein etatisiert. Aber im Haushalt des Auswärtigen werden ganz erhebliche Teile davon zweckentfremdet, um Haushaltslöcher zu stopfen. Das ist nicht in
Ordnung, und das zeigt: Dieser Haushalt ist nach wie vor
unterfinanziert; auch wenn insgesamt gesehen 2012 ein
deutlicher Aufwuchs zu verzeichnen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das vergangene Jahr hat es insgesamt überdeutlich gezeigt: Entwicklungen wie die internationale Finanzkrise oder Ereignisse mit epochalem Charakter wie die Umbrüche in
der arabischen Welt stellen gerade das Auswärtige Amt
vor außerordentliche Herausforderungen. Das Auswärtige Amt sieht sich in einer stark wachsenden Verantwortung.
Gerade deshalb sind Verlässlichkeit und finanzielle
Planbarkeit gefragter denn je. Deshalb muss Schluss sein
mit dem Zickzackkurs. Die deutsche Außenpolitik
braucht endlich wieder einen Kompass, an dem sie sich
orientiert und der Verlässlichkeit von Deutschland aus in
die Welt ausstrahlt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Debatte ist viel von Skandalen geredet
worden. Nicht die Libyen-Entscheidung war ein Skandal. Ich unterstreiche sie ganz ausdrücklich.
Ein Skandal - wie wir in dieser Woche nachlesen
konnten - war die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer,
Deutschland mit seiner Bundeswehr nach Afghanistan
zu schicken, und zwar gegen den erklärten Willen der
Vereinigten Staaten von Amerika. Sie haben sich aufgedrängt. Heute müssen wir die Suppe auslöffeln, und wir
werden das verantwortungsvoll tun. Es lohnt sich wirklich, einmal all das nachzulesen, was damals vor sich gegangen ist.
({0})
Außenpolitik ist auch Menschenrechtspolitik. Bei all
dem, was sich heute im nordafrikanischen Raum an begrüßenswerten Revolutionen tut, muss sich aber erst
noch erweisen, wie und in welcher Qualität am Ende den
Menschenrechten zur Durchsetzung verholfen wird. Ich
glaube, mancher wird sich später angesichts dessen, was
dabei herauskommt, noch die Augen reiben.
({1})
Die Einhaltung von Menschenrechten ist für alle Länder ein ethisches Fundament für eine demokratische,
kulturelle und sogar für eine wirtschaftliche Entwicklung. Es ist Teil auch deutscher Außenpolitik. Das intensive Engagement der deutschen Bundesregierung und
dieses Parlaments für Menschenrechte ist ein wesentlicher Teil einer wertegeleiteten Außenpolitik.
Zu den brennenden und wirklich zutiefst bewegenden
und verstörenden Fragen gehört der Umgang mit dem
beständig anschwellenden Strom von Vertriebenen und
Flüchtlingen weltweit. Hier kann man erkennen, dass
Außenpolitik und Innenpolitik intensiv miteinander verzahnt sind. Der jährlich erscheinende Flüchtlingsbericht
der Vereinten Nationen zeigt, dass die Zahl der Flüchtlinge weltweit Ende 2010 über 43 Millionen Menschen
beträgt.
Insgesamt setzt sich damit eine seit 2005 sehr beunruhigende Entwicklung fort. Wir müssen leider erkennen:
Auch im Jahr des 60-jährigen Bestehens der Genfer
Flüchtlingskonvention ist diese Frage nach wie vor
brandaktuell. Aber jeder, der glaubt, dass dieses weltweite Flüchtlingselend - und jedes einzelne Schicksal
kann einem das Herz im Leibe herumdrehen - in Europa
oder in Deutschland behoben werden könne oder auch
nur zu lindern wäre, der irrt ganz fundamental.
Wer auch immer fordert, allen Mühseligen und Beladenen dieser Welt hier in Deutschland ein Bleiberecht zu
geben, der vergeht sich am Ende an unserer Demokratie
und kippt Wasser auf die Mühlen der Antidemokraten
hier im Lande. Wir können nur den tatsächlich Verfolgten Asyl gewähren. Für Wirtschaftsflüchtlinge und Bürgerkriegsvertriebene reichen unsere Möglichkeiten ganz
einfach nicht aus.
({2})
Die in den 90er-Jahren mühsam vereinbarte Asylrechtsänderung hat ihren tiefen Sinn und ihre Berechtigung bis zum heutigen Tag, wenn uns unsere Demokratie am Herzen liegt und wir nicht rechtsradikalen Kräften
den Boden bereiten wollen. Es reicht nicht aus, ein guter
Mensch zu sein und zu fordern, unser Asylrecht aufzuweichen. Diese guten Menschen öffnen nämlich sehenden Auges den Menschenhändlern dieser Welt Tür und
Tor und stärken antidemokratische Kräfte.
({3})
Zudem wird heutzutage mit Menschenhandel mehr Geld
verdient als mit Drogenhandel.
Unweigerlich stellt sich natürlich die Frage: Wie können wir helfen und unterstützen? Das muss vor Ort
geschehen; das macht die Bundesregierung. Durch Außenpolitik kombiniert mit Entwicklungspolitik und Fördermaßnahmen kann man erreichen, dass dort vor Ort
die Not gelindert wird. Es muss im Rahmen unserer bescheidenen deutschen Möglichkeiten machbar sein, vor
Ort zugunsten der Flüchtlinge und Vertriebenen zu handeln. Jedes Lager, das aufgelöst werden kann, ist ein
Plus für die Menschen, die in diesen Lagern ihre Zuflucht gefunden haben und dahinvegetieren.
({4})
In Deutschland lassen sich diese Probleme nicht lösen.
Vor diesem Hintergrund danke ich der Bundesregierung ausdrücklich, dass ihre Außenpolitik immer mit
Menschenrechtspolitik verknüpft ist.
Danke schön.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Ruprecht Polenz von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Haushaltsdebatte bietet traditionell die Möglichkeit einer
Generalaussprache, auch einer Standortbestimmung. Ich
denke, dass kein Ereignis in den letzten zehn Jahren die
außenpolitische Situation auf der Welt so stark beeinflusst und verändert hat wie der 11. September 2001. Wir
erinnern uns jetzt daran, zehn Jahre, nachdem die Anschläge auf das World Trade Center und auf das Pentagon in Washington eine unglaubliche Sprengkraft entwickelt haben. Die Anschläge selbst und die Reaktionen
darauf haben die letzten zehn Jahre weltweit geprägt.
Wir haben heute in einigen Beiträgen wieder über
Afghanistan gesprochen. Ich darf daran erinnern: Wenn
die Taliban seinerzeit Bin Laden ausgeliefert hätten
- das war das Begehren der internationalen Gemeinschaft -, wäre die ganze Entwicklung, auch in Afghanistan, anders verlaufen. Wir kennen die Geschichte, wir
kennen die Opfer, an die wir heute noch einmal erinnert
haben, auch die Kosten. Wir sind jetzt, nach zehn Jahren,
dabei, uns langsam militärisch aus Afghanistan herauszulösen. Ich halte dabei die Leitlinie „Übergabe in Verantwortung“ für richtig. Herr Mützenich, deshalb kann
man keine Kalenderdaten angeben. Man muss es als einen Prozess mit materiellen Kriterien verstehen; denn
sonst wäre es in der Tat verantwortungslos.
Der Außenminister hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass nach dem Ende des militärischen Engagements mit
Kampftruppen weiteres Engagement und weitere Hilfe
für Afghanistan nötig sein werden. Das Ganze wird aber
- da sollten wir uns nichts vormachen - nur funktionieren, wenn zwei politische Prozesse, die noch nicht vollendet sind, zum Erfolg führen: zum einen der Prozess in
Afghanistan selbst, also die Verständigung der verschiedenen Kräfte innerhalb des Landes, zukünftig in Frieden
miteinander auszukommen, zum anderen der regionale
Prozess, sodass die Nachbarn Afghanistan nicht länger
als ihr Hinterland, als ihr Spielfeld für Machtprojektionen und Furcht voreinander missbrauchen.
Wir haben uns hier viel vorgenommen. Deutschland
wird in wenigen Wochen Gastgeber einer weiteren großen Afghanistan-Konferenz sein, wo genau hierfür
wichtige Impulse gesetzt werden sollen. Ich wünsche Ihnen, Herr Außenminister, viel Erfolg bei dieser wichtigen Konferenz. Ich weiß, wie sorgfältig Sie und das
Auswärtige Amt diese Konferenz gegenwärtig vorbereiten.
Der 11. September hat auch zum Irakkrieg geführt.
Infolge des Irakkrieges kam es zu Machtverschiebungen
in der Region mit einer unerwünschten Nebenfolge,
nämlich der Stärkung des Iran. Weil wir lange nicht
mehr darüber gesprochen haben, möchte ich heute daran
erinnern, dass sich nicht nur die Menschenrechtslage in
diesem Land immer weiter verschlechtert hat, sondern
dass auch die Bedrohung, die von dem ungebremsten
Nuklearprogramm und der ungebremsten ballistischen
Raketenrüstung ausgeht, nach wie vor nicht gebannt ist.
Deutschland nimmt zusammen mit den Ländern im Sicherheitsrat nach der Formel „E 3 plus 3“ eine wichtige
Funktion wahr. Ich wünsche der Bundesregierung Erfolg, dass man doch noch zu einer Lösung kommt, die
die Iraner davon überzeugt, dass der Besitz von Nuklearwaffen, auch von der Kapazität her, nicht ihrer Sicherheit dient und die Region in einen nuklearen Rüstungswettlauf stürzen kann.
Die wichtigste Konsequenz aus den Ereignissen des
11. September ist aus meiner Sicht die weltweite Verdunkelung des Islambildes. Das ging bis in unsere eigenen Debatten hinein, wie die schrecklichen Diskussionen auf dem traurigen Höhepunkt der Sarrazin-Debatte
gezeigt haben. Das Miteinander mit den Muslimen ist
durch die Verdunkelung des Islambildes vergiftet.
Ich möchte die heutige Debatte zum Anlass nehmen,
darauf hinzuweisen, dass wir uns nicht von den falschen
Analysen Huntingtons, der schon 1993 über den „Kampf
der Kulturen“ geschrieben hat, den Blick auf den arabischen Frühling trüben lassen dürfen.
({0})
Die Menschen in Arabien sind für Freiheit, Arbeit und
Würde und gegen autoritäre Machthaber und ungerechte
Herrschaft auf die Straße gegangen. Bin Laden hat gesagt, wir können ungerechte Herrschaft nur durch Gewalt loswerden. Deswegen ist der Erfolg der arabischen
Freiheitsbewegung die größte Niederlage für Bin Laden.
({1})
Deshalb ist es so wichtig, dass diese Bewegung zum Erfolg führt. Das hat auch unmittelbare Bedeutung für die
Auseinandersetzung, die wir unter der Überschrift
„Kampf gegen den Terrorismus“ geführt haben.
Wir haben im Sicherheitsrat immer wieder Anlauf genommen, um beim Thema Syrien voranzukommen. Dafür möchte ich der Bundesregierung danken. Leider ist
ein weiteres Vorgehen an der Haltung Chinas und Russlands gescheitert, aber auch Indien und andere Länder
wollten bisher noch nicht einsehen, dass der internationale Druck auf Syrien zunehmen muss. Ich hoffe, dass
von dieser Debatte und der weiteren Politik der Bundesregierung Signale ausgehen, die dazu führen, dass auch
die Syrer ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen
können. Dann hätten wir einen wichtigen Schritt getan.
Wir werden am Ende der Woche debattieren, welche
Chancen es gibt, dass der Prozess zwischen Israelis und
Palästinensern vielleicht doch noch vorankommt. Die
Bundesregierung treibt das aktiv voran. Ich bedanke
mich dafür. Die Generalaussprache hat gezeigt: Deutschland in einem geeinten Europa für den Frieden in der
Welt - das ist die richtige Leitlinie für die deutsche Außenpolitik.
({2})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzelplan 04.
Als erster Redner hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Frau Bundeskanzlerin, bei aller Schärfe der Auseinandersetzung gehört es Gott sei Dank immer noch zur
politischen Kultur unseres Landes, dass wir uns jenseits
der Rolle und jenseits der Funktion, die wir im politischen Betrieb innehaben, achten und respektieren. In der
vergangenen Woche hat uns die Nachricht vom Tod Ihres Vaters erreicht. Das ist ein tiefer Einschnitt. Ich
möchte Ihnen im Namen der gesamten Bundestagsfraktion unser tiefes Mitgefühl aussprechen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Dennoch: Es ist Haushaltswoche, und Demokratie - das wissen Sie alle - verlangt
nun einmal den Wettstreit zwischen Regierung und Opposition. Es ist Aufgabe der Opposition, die Regierung
zu kontrollieren, Fehler und Versagen aufzuzeigen und
Finger in Wunden zu legen. Sie können erwarten, dass
wir das mit Ernsthaftigkeit tun. Nur eines geht nicht, verehrter Herr Finanzminister, verehrter Herr Schäuble: Sie
können sich nicht wie gestern hier an das Rednerpult begeben und sagen: Seht her! Alles prima! Toller Haushalt!
Wir haben die Arbeitslosigkeit reduziert! Wir haben den
Staatshaushalt wieder ins Gleichgewicht gebracht!
({1})
Klatschen Sie nicht zu früh. - Wen meinen Sie eigentlich mit „wir“, Herr Finanzminister?
({2})
- Schön, dass Sie an dieser Stelle auch klatschen.
Glauben Sie eigentlich ernsthaft, dass Ihr seit zwei
Jahren anhaltendes tägliches Koalitionschaos auch nur
im Geringsten einen Beitrag dazu geleistet hat?
({3})
Wenn die Konjunktur gut läuft und die Steuereinnahmen
wieder fließen, dann nicht wegen dieser Regierung, sondern trotz dieser Regierung. Das wissen alle in diesem
Lande.
({4})
- Das gefällt Ihnen jetzt nicht ganz so gut. Das weiß ich.
({5})
Wenn das alles so toll ist, wie Herr Schäuble das gestern gesagt hat - Herr Fricke hat das mit seinem halbstarken Auftritt von dieser Stelle aus auch noch unterstützt -,
({6})
warum steht die Koalition dann so da?
({7})
Wenn das alles so toll ist und Sie alle miteinander so
tolle Hechte sind, warum werden dann nicht schon
längst die Sockel für Ihre Denkmäler gebaut?
({8})
Baustellen sehe ich viele, nur keine, bei denen es um
Heldenverehrung geht. Das kann ich Ihnen schon jetzt
sagen.
({9})
Verehrt worden sind Sie allenfalls für das, was Sie vor
der Wahl versprochen haben, aber nicht für das, was Sie
getan haben. Sie haben massenhaft Enttäuschung hinterlassen. Die Leute trauen Ihnen nichts mehr zu. Sie trauen
Ihnen so, wie Sie jetzt dastehen, noch nicht einmal zu,
dass Sie so bis 2013 weiterstolpern. Nicht einmal das,
meine Damen und Herren!
({10})
Herr Schäuble, ganz ernsthaft: Sie persönlich verbiegen sich doch ein bisschen,
({11})
wenn Sie auf die gemeinsamen Leistungen dieser Koalition hinweisen. Ich will Ihren persönlichen Beitrag in
den vergangenen Jahren überhaupt nicht bestreiten, aber
was bitte ist denn der Beitrag Ihres Koalitionspartners?
({12})
Wo war die FDP in der Krise nach der Pleite von
Lehman Brothers? Was hat die FDP zur Überwindung
der Krise getan? Sie mögen vielleicht, da Sie sich in der
Koalition befinden, ein bisschen nachsichtiger sein, Herr
Schäuble. Ich hingegen habe nichts vergessen. Hier saßen sie alle, Herr Brüderle, Herr Westerwelle und der
ganze Rest der FDP, und haben gegen alles gestimmt,
was uns aus dieser Krise herausgeführt hat.
({13})
Wenn eine Partei keinen Grund hat, stolz zu sein auf
diese wirtschaftliche Lage und diesen Haushalt, dann ist
das die FDP.
({14})
Die ganze Wahrheit ist - auch das kann ich Ihnen an
dem heutigen Tage nicht ersparen -: Wenn es Deutschland heute besser geht als den meisten unserer europäischen Nachbarn - das weiß inzwischen jeder außerhalb
der Regierungsfraktionen -, dann - sagen Sie es ruhig;
Sie wissen es doch auch -, weil wir unsere Hausaufgaben lange vor den anderen gemacht haben und weil wir
einen sozialdemokratischen Kanzler hatten, der gesagt
hat: Erst das Land und dann die Partei.
({15})
Ich gönne es Ihnen allen ja, weil es dem Land guttut. In
Wahrheit ernten Sie aber die Früchte dessen, was Sie nie
gesät haben. So ist es doch.
({16})
Herr Schäuble, ein Zweites zu Ihrer Rede von gestern:
Ich stelle - das wissen Sie - Ihre europapolitische Haltung nicht infrage. Ich füge ausdrücklich hinzu: Das unterscheidet Sie wohltuend von vielen anderen in den Regierungsfraktionen. Ich muss Ihnen aber auch sagen: Ich
bin erstaunt, mit welchem Selbstbewusstsein Sie hier
vortragen, was in der Europapolitik angeblich richtig
und was angeblich falsch ist. Herr Schäuble, wenn eines
in der ganzen Republik aufgefallen ist, dann, dass diese
Regierung vieles hat, nur keine gemeinsame Linie in der
Europapolitik. Die hat sie nun wirklich nicht.
({17})
Vermutlich ist das der tiefere Grund dafür, dass Sie,
Herr Schäuble, sagen - das haben Sie auch gestern gesagt -: Bloß nichts überstürzen. Sie werben hier für eine
Politik der kleinen Schritte. Was wir erleben, ist aber
keine Politik der kleinen Schritte. Das ist eine Politik des
periodischen Dementis. Das ist Ihre Europapolitik.
({18})
Ich werfe Ihnen gar nicht vor, dass Sie immer mit
sechs Monaten Verzögerung auf die Linie gehen, die wir
in diesem Parlament vertreten haben.
({19})
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen eine kleine Erinnerungshilfe geben: Vor gut einem Jahr hieß Ihre Botschaft: Keinen Cent für Griechenland. - Daraus wurden
Milliarden Euro.
({20})
Dann hieß Ihre Botschaft: Der Rettungsschirm wird nie
gebraucht. - Dann kamen Irland und Portugal. Dann war
die Wirtschaftsregierung Teufelszeug. - Seit dem letzten
Treffen von Frau Merkel mit Herrn Sarkozy gilt das Gegenteil.
An das Tollste sei ebenfalls erinnert: An der Forderung nach der Besteuerung von Finanzmärkten haben
Sie noch vor gut einem Jahr in diesem Haus mögliche
gemeinsame Mehrheiten scheitern lassen. Heute sind Sie
unserer Meinung, nur die FDP fällt Ihnen in bewährter
Form in den Rücken. Das ist die Wahrheit.
({21})
Ich weiß nicht, ob Sie es selbst merken, aber keine Ihrer Botschaften hat länger als sechs Monate gehalten.
Das ist der tiefere Grund für den Verlust von Glaubwürdigkeit. Gestern sagten Sie mit scheinbar ganz großer
Klarheit: Mit uns gibt es keine Euro-Bonds. Sie dürfen
sich am Ende nicht wundern, wenn dies in der Öffentlichkeit geradezu als die Ankündigung von gemeinsamen Anleihen verstanden wird.
({22})
Herr Schäuble, ich sage in aller Fairness: Diese kommen; zum Beispiel mit dem Gesetz, das Sie selbst in diesem Deutschen Bundestag über den EFSF vorlegen. Es
eröffnet die Möglichkeit, dass eine europäische Einrichtung - nicht die EZB - Anleihen auf dem Sekundärmarkt
ankauft. Was ist das anderes als genau solche gemeinsame Anleihen?
({23})
Herr Schäuble, ich sage es noch einmal: Dass dies
dort steht, werfe ich Ihnen nicht vor. Ich glaube auch,
dass ein solches Instrument gebraucht wird. Dass Sie
aber gestern von diesem Pult aus noch einmal so tun, als
seien Sie der letzte aufrechte Kämpfer gegen eine gemeinschaftliche Haftung, ist Ausdruck der Unwahrhaftigkeit, über die ich rede.
({24})
Ich verstehe die Not, die man als Regierung manchmal hat, wenn es darum geht, die eigenen Leute bei der
Stange zu halten. Herr Schäuble, ich bin mir aber ganz
sicher, dass Sie wissen, dass Sie den Menschen etwas
vormachen, wenn Sie - wie gestern noch einmal - gemeinsame Anleihen völlig tabuisieren und Euro-Bonds
in jeglicher Form ausschließen. Auch dies sei an dieser
Stelle gesagt: Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit sagen,
wenn Sie - wie gestern hier - die Behauptung aufstellen,
die SPD sei für die unkonditionierte Einführung dieses
Instruments. Ich gebe Ihnen gern noch einmal meine Interviews dazu. Ich sage Ihnen: Das geht nur dann, wenn
Durchgriffsmöglichkeiten auf das Ausgabeverhalten jener Staaten bestehen, die Hilfe in Anspruch nehmen. Lesen Sie das bitte im Spiegel nach.
({25})
Sind Sie Spiegel-Leser? - Ich vermute: ja. Herr
Westerwelle, lesen Sie es bitte nach.
({26})
- Das ist vielleicht Ihre Alternative. Ich würde nicht die
Bundeswehr schicken, aber ich würde vielleicht auf vertragliche Anpassungen setzen.
({27})
Das sagt Ihr Finanzminister auch.
Herr Schäuble, ich verstehe Ihre Rede von gestern
hier in diesem Parlament, jedenfalls den Teil, der an die
Opposition gerichtet war, überhaupt nicht. Natürlich ist
es auch einem Finanzminister nicht verboten, den politischen Gegner zu beschimpfen, wie Sie das getan haben.
Die Frage, die ich Ihnen stelle, ist nur: Ist das am Ende
wirklich klug? Ich habe angenommen, dass Ihr Bemühen
hier im Bundestag darauf gerichtet sei, eine möglichst
breite Mehrheit unter den Fraktionen zu finden. Wenn es
Ihnen darum geht und wenn es Ihnen um Europa geht,
dann müssten Sie hier in diesem Parlament eigentlich
anders auftreten, dann müssten Sie um Zustimmung
werben. Ob das besser gelingt, wenn Sie diejenigen, die
Ihnen für die EFSF Unterstützung signalisiert haben,
auch noch vor den Kopf stoßen, das mag Ihr Geheimnis
bleiben. Sie werden im Zweifel wissen, was Sie tun. Ich
sage Ihnen nur: Die Rede, die Sie gestern hier gehalten
haben, hätten Sie im eigenen Koalitionsausschuss halten
sollen. Da sind Belehrungen notwendig, hier nicht!
({28})
So weit zu der gestrigen Einbringung.
Nun ist es natürlich verführerisch, in dieser Haushaltswoche noch einmal die ganze Bilanz dieser Regierung - vom Hoteliersprivileg über Guttenberg bis zum
Skandal des Beitragsstopps für die Arbeitgeber bei der
Krankenversicherung - anzuführen. Aber ich will mich
nicht lange damit aufhalten. Das sind Fehlleistungen am
Stück dieser Bundesregierung. Würde ich damit beginnen, käme ich zu nichts anderem mehr. Ich habe es von
diesem Pult aus auch schon mehrfach getan. Das Urteil
der Öffentlichkeit steht längst fest. Ich ahne, was Ihnen
am meisten wehtut - Sie wissen es -: Keine Bundesregierung hat jemals eine so katastrophale Halbzeitbilanz abgeliefert wie Sie. Sie haben es zigfach in den
Zeitungen gelesen: Das ist die schlechteste Regierung
seit Jahrzehnten.
({29})
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
({30})
Deshalb verzichte ich auf diese Aufzählung; ich erspare es Ihnen ja. Ich mache etwas ganz anderes. Mir
geht es jetzt gar nicht darum, Ihr Handeln noch einmal
im Einzelnen in Erinnerung zu rufen, auszuleuchten und
zu bewerten. Je länger ich Sie alle, die Regierungsfraktionen und die Regierung, miteinander werkeln sehe,
desto mehr wird mir klar, dass nur eines noch schlimmer
ist als Ihr Handeln,
({31})
und das ist Ihr Nichthandeln. - Herr Kauder, dass Ihre
Fraktion so viel Kauderwelsch redet, wundert mich
nicht.
Wir befinden uns mitten in der tiefsten Existenzkrise
der Europäischen Union, wir leiden an den Folgewirkungen einer Finanzkrise, die 2008 begonnen hat und nicht
zu Ende ist. Das alles verlangt Tatkraft der Regierung.
Aber Sie sitzen auf Ihren Händen und streiten, im Kern
ja nicht einmal mit der Opposition, sondern untereinander; das war bis vorgestern Abend und bei der Probeabstimmung ganz offenbar.
Ich erinnere mich an vergleichbare Debatten, die wir
im letzten Jahr hier zweimal geführt haben. Herr Kauder,
auch da haben Sie sich zu Wort gemeldet. Sie haben gesagt, es provoziere, wenn ich hier sage, dass das Nichthandeln gefährlich ist und dass man die EZB in eine Situation bringt, handeln zu müssen, weil Regierungen
nicht handeln. Das haben Sie damals gesagt. Schauen
Sie sich einmal heute das Ergebnis an!
({32})
Anleihen im Wert von weit über 120 Milliarden hat die
EZB aufgekauft. Warum? Weil politische Entscheidungen der Regierungen, auch der deutschen Regierung,
fehlten, weil Mut fehlte und es keine Führung gab. Das
ist das Problem, in dem wir uns befinden.
({33})
Vor einem Jahr haben Sie noch so getan, als sei es
Ausdruck von besonderer Klugheit oder gar Strategie.
Ich sage Ihnen: Aus meiner Sicht gab es wahrscheinlich
auch wegen des Ausfalls der Regierungen gar keine Alternative für die EZB. Aber eines bleibt am Ende sicher:
Das, was im letzten Jahr durch die Politik der EZB geschehen ist, ist der Aufbau von gemeinsamen Risiken
und gemeinsamer Haftung. Das ist durch Nichthandeln
geschehen. Wir werden als Deutscher Bundestag nicht
einmal die Möglichkeit haben, dazu irgendetwas zu sagen oder in einem Ausschuss Entscheidendes dazu zu
beraten. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({34})
Damit bin ich nur bei dem Punkt, dass Nichthandeln
etwas kostet. Nichthandeln hat aber vor allen Dingen eiDr. Frank-Walter Steinmeier
nen politischen Preis, und dieser politische Preis ist Vertrauen. Diesen Preis zahlt nicht nur eine Regierung in
Agonie; deshalb dürfen Sie auch nicht allein darüber
verfügen. Was hier vielmehr bedroht ist, das ist das Vertrauen in Demokratie, wenn eine Regierung seit einem
Jahr so orientierungslos herumstolpert. Es darf Sie nicht
wundern, dass 74 Prozent der Deutschen die Politik
- nicht nur die Regierung, sondern die Politik - nur noch
als Getriebene der Märkte sehen. Drei Viertel der Deutschen trauen weder Regierung noch Parlament, also der
Politik insgesamt, zu, über die Geschicke unseres Landes wirklich zu befinden.
({35})
Das ist der alarmierende Befund, meine Damen und Herren. Über den müssen wir hier in diesem Hause reden,
über nichts anderes.
({36})
Ich sage Ihnen voraus: Das hat Konsequenzen für Regierungspolitik. Wenn es uns nicht gelingt, wieder Regeln an die Stelle von Regellosigkeit zu setzen,
({37})
wenn es uns nicht gelingt, Vernunft und Verantwortung
wieder zu Maßstäben in der Politik zu machen, dann
bleiben die Leute bei den Wahlen zu Hause, und das geht
an die Grundfesten der Demokratie. Das dürfen wir nicht
zulassen, alle miteinander, unabhängig davon, ob wir einer Regierungsfraktion oder der Opposition angehören.
({38})
Wie behauptet sich Politik gegen Märkte, die jedes
Maß, jede Mitte verloren haben? Das Recht muss doch
wohl den Markt regeln und nicht umgekehrt.
({39})
Da gibt es einige bei Ihnen, die von Freiheit sprechen,
aber nicht sagen, dass ohne Regeln die Freiheit für die
meisten vor die Hunde geht. Das ist doch das Problem.
({40})
Ich habe das so verstanden: Um diese Ordnung der
Freiheit geht es auch im heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darum geht es auch bei den Beteiligungsrechten des Parlaments im Hinblick auf die EFSF.
Weil das eine Kernfrage ist, die das Selbstverständnis
dieses Hauses berührt, erwarten wir von Ihnen, Herr
Kauder und Herr Brüderle, dass Sie gemeinsam mit uns,
mit den Oppositionsfraktionen, nach Lösungen suchen,
die von einer breiten Mehrheit in diesem Hause getragen
werden können.
({41})
Das ist eine Bringschuld der Regierungsfraktionen,
keine Holschuld der Opposition.
({42})
Die Zeitenwende, in der wir sind, dürfte auch an Ihnen nicht ganz vorbeigegangen sein. Früher haben Sie
sich über Attac und manch anderen Globalisierungsgegner aufgeregt. Nervös, mindestens nachdenklich müsste
Sie doch machen, wenn Menschen wie Jürgen Heraeus
oder Franz Fehrenbach die Politik auffordern - am letzten Wochenende geschehen -: Legt doch endlich mal
diese wild gewordenen Finanzmärkte an die Kette!
({43})
Zu denken geben müsste Ihnen auch, wenn Vermögende
in ganz Europa plötzlich dazu aufrufen: Besteuert uns!
Ich weiß nicht, ob Sie es merken, Herr Kauder: Außer
Ihnen gibt es in ganz Europa keine einzige Regierung,
die trotz Verschuldung in dieser Situation noch Steuersenkungen verspricht. Das gibt es in Europa nicht!
({44})
Die Grundfrage nach dem Verhältnis von Politik und
Märkten, bei der ich bin, und die Selbstzweifel, die es
diesbezüglich offensichtlich auch im bürgerlichen Lager
gibt, sind das, was Frank Schirrmacher bei seinem jüngsten Aufsatz in der FAZ umgetrieben hat. Ich erwarte ja
gar nicht von Ihnen, dass Sie sagen:
({45})
Die Linke hat immer recht. - Das würde ja nicht einmal
ich sagen. Aber es sollte Ihnen doch zu denken geben,
wenn Schirrmacher zu dem Ergebnis kommt, dass der
Zusammenbruch der Marktideologie nicht nur die FDP,
sondern auch die CDU zu leeren Hüllen gemacht hat und
dass diese naive Marktgläubigkeit dazu geführt hat, dass
Sie Ihr Wertegerüst schon lange vor der Finanzkrise abgegeben und entleert haben. Da nützt Ihnen auch die Berufung auf die Großväter der sozialen Marktwirtschaft,
auf Walter Eucken oder Müller-Armack, nichts. Das ist
alles Geschichte, meine Damen und Herren. Aber das ist
nicht Ihre Orientierung in der Gegenwart. Das ist Ihr
Problem.
({46})
Dieses seit Herbst 2008 fortgesetzte Marktversagen,
das wir erleben, bedeutet den Komplettverlust Ihres politischen Koordinatensystems. Die Wirklichkeit hat sich in
diesen drei Jahren radikal verändert. In dieser neuen und
veränderten Wirklichkeit finden Sie sich ganz offenbar
nicht mehr zurecht. Sie irren von Raum zu Raum wie in
einem schlechten Science-Fiction-Film, aber Sie finden
nicht in die Realität zurück. Das ist der Punkt.
({47})
Das, was sich verändert, findet auch außerhalb unserer Grenzen statt. Die Gewichte, die Achsen verschieben
sich. All das habe ich auch hier im Deutschen Bundestag
schon beschrieben. Weil das so ist und weil auch ein großes und reiches Land wie Deutschland allein in dieser
Welt nicht mehr zurechtkommt, verstehe ich nicht, dass
Sie zwischen europäischen Lippenbekenntnissen auf der
einen Seite und europaskeptischen Stammtischparolen
auf der anderen Seite hin- und herschwanken.
({48})
Letzte Woche war bei uns Jacques Delors zu Gast. Er
ist keiner derjenigen, die sagen: Früher war alles richtig,
und wir haben alles besser gemacht. - Aber eines hat er
interessanterweise schon gesagt: Das, was wir gegenwärtig erleben, ist nicht die erste Krise der Europäischen
Union. Nach dem Zusammenbruch des Systems von
Bretton Woods waren wir in einer ähnlichen Situation.
Damals haben sich Helmut Schmidt und Valéry Giscard
d’Estaing zusammengesetzt und haben die Voraussetzungen für ein neues Währungssystem in Europa
geschaffen. Als Helmut Kohl und andere für eine gemeinsame Währung, für den Euro, kämpften, war die
Mehrheit der Europäer noch dagegen. Ich sage damit
nur: Europa braucht, um voranzukommen, diese Art von
Mut und Ideen. Dieser Regierung fehlt es an beidem.
Das ist der Punkt.
({49})
Die FTD gehörte nicht immer zu meiner Lieblingslektüre. Ich kann mich daran erinnern, dass sie 2009 für
Sie Wahlkampf gemacht hat. In dieser Woche habe ich
erstaunliche Wandlungen zur Kenntnis genommen: nicht
nur, dass in dieser Zeitung massenhaft von der Enttäuschung über diese Regierung zu lesen war, sondern auch,
dass sie sich, was die europapolitischen Positionen angeht, weitgehend an unserer Seite befindet. Sie sagt: Wir
brauchen eine klare Orientierung, um aus dieser Krise
herauszukommen. Wir brauchen eine Roadmap für eine
Währungsunion, die diesen Namen wirklich verdient. Das ist richtig, weil wir in den vergangenen Krisen nur
auf diese Weise Resignation und Stillstand immer wieder überwunden haben. Der Befund für heute ist: Das
europäische Schiff treibt orientierungslos herum. Alle
Welt wartet auf Berlin. Aus Berlin kommen dröhnendes
Schweigen und Streit in der Koalition. Das wird nicht
reichen.
({50})
Dröhnendes Schweigen auch bei der Regulierung der
Finanzmärkte. Herr Kauder, ich sage es einmal positiv:
Wir in der Großen Koalition waren uns über einen Satz
einig: kein Produkt, kein Akteur, kein Finanzplatz ohne
Aufsicht! Das haben wir damals gesagt. Die Frage ist ja
nur: Was ist daraus geworden? Herr Schäuble, was ist
aus der ehrgeizigen Agenda von Pittsburgh geworden?
Wann gab es die letzte deutsche Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte? Warum hören wir nichts davon?
Wo ist die Liste mit den Hochrisikoprodukten, die vom
Markt müssen? Wo ist der Vorschlag zur Einhegung der
unersättlichen Hedgefonds?
Warum unternehmen Sie nichts gegen den Hochfrequenzhandel, der sich in der Börsenpraxis durchfrisst?
Schon jetzt macht dieser Handel 40 Prozent des Umsatzes an der Frankfurter Börse aus. Verantwortungslose
Logarithmen entscheiden in Zehntelsekunden über Milliardenanlagen, aber kein lebendiger Mensch trägt mehr
Verantwortung. Was lassen wir da mit uns machen? Warum lassen wir das laufen? Sie sonnen sich da im Verweis auf das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen.
Aber es passiert darüber hinaus nichts.
Verehrter Herr Schäuble, das ist nicht die Wahrnehmung der Verantwortung, die Sie haben. Wir müssen zurück zu Regeln auf den Finanzmärkten - und die gibt es
nach wie vor nicht.
({51})
Stattdessen handeln Sie mit der Schweiz ein Abkommen aus, von dem jedenfalls ich glaube, dass es jedes
Rechtsempfinden eines Steuerzahlers mit Füßen tritt.
({52})
Frankreich hat schon erklärt, dass es zu solchem Ablasshandel nicht bereit ist - die Vereinigten Staaten
ebenso. Die USA haben der Schweiz gerade ein Ultimatum gestellt. Aber wir segnen das offenbar alles ab und
verzichten, wie ich gehört habe, sogar vertraglich auf das
Recht, anonymen Hinweisen nachzugehen. Und die
Schweizer Banken reiben sich die Hände.
Herr Schäuble, ich weiß nicht, ob Sie sich einmal die
Presseerklärung der Schweizerischen Bankiervereinigung angeschaut haben. Dort heißt es mit Blick auf das
Abkommen mit Deutschland: Der Finanzplatz Schweiz
hat mit dem Abkommen einen Meilenstein in seiner
Wachstumsstrategie 2015 gesetzt. Die derzeitige wirtschaftliche und regulatorische Entwicklung lassen für
die Finanzbranche auf eine anspruchsvolle Zukunft
schließen. - Was „anspruchsvolle Zukunft“ heißt, steht
auch noch in dieser Presseerklärung: Man wolle jetzt
„neue margenträchtige Produkte im Bereich Hedge
Funds oder Private Equity aus der Schweiz“ anbieten.
Das ist das Ergebnis dieses Abkommens.
Herr Schäuble, Sie können diesen Weg gerne gehen.
Aber ich sage Ihnen voraus: Die Mehrheit von Bundestag und Bundesrat werden Sie dabei nicht an Ihrer Seite
haben.
({53})
Aber auch das passt am Ende alles ins Bild. Wir haben uns ja monatelang auch in diesem Haus über die
Frage der Gläubigerhaftung bzw. Gläubigerbeteiligung
gestritten, also über den Beitrag, den Banken bei der
Entschuldung von Notlagenstaaten zu leisten haben.
Und Sie lassen sich von Herrn Ackermann und dem
Bankenverband einen Vorschlag zur Gläubigerhaftung
aufschwatzen, der am Ende doch nichts als reiner Etikettenschwindel ist.
Wenn Sie die Wirtschaftspresse gelesen haben, wissen Sie: 30 Prozent Wertberichtigung waren bei den
Banken lange eingepreist. Sie treffen jetzt eine gemeinsame Vereinbarung der europäischen Staaten, nach der
es nur 20 Prozent werden. Besser hätte das Geschäft für
die Banken gar nicht sein können.
({54})
Ich sage Ihnen: Das kann und darf nicht das letzte Wort
gewesen sein. Sonst verstehe ich die Welt nicht mehr.
({55})
Das ist alles schon schwer genug auszuhalten. Aber
wenn sich alle diejenigen, die für dieses Desaster auch
noch mitverantwortlich sind, jetzt hinstellen und nach
dem Motto „Haltet den Dieb!“ auf den verschwenderischen Staat schimpfen, dann fehlt mir jede Gelassenheit.
Die Wahrheit ist doch eine ganz andere. Zuerst hat der
Staat die Banken gerettet, und jetzt schwingen sich die
Finanzmärkte zum Richter über die Staaten auf. 2008
hatten wir unter Peer Steinbrück gesamtstaatlich schon
einen ausgeglichenen Haushalt. Ohne den Bankenrettungsschirm säßen viele dieser Besserwisser in Nadelstreifen heute auf der Straße, meine Damen und Herren.
({56})
Mir geht es überhaupt nicht um Banker-Bashing. Es
gibt viele gute Leute darunter. Aber ein wenig Innehalten, ein wenig Nachdenklichkeit - ({57})
- Herr Fricke, die Antwort, nur auf die Landesbanken zu
verweisen, ist zu einfach. Natürlich sind sie auch ein
Problem; das gebe ich zu.
({58})
Aber was ich über die Banker sage, gönne ich auch Ihnen: Ein bisschen Innehalten, ein bisschen Nachdenklichkeit und manchmal ein bisschen Demut - das dürfte
nicht zu viel verlangt sein.
({59})
Es sollte erst recht nicht von denjenigen zu viel verlangt
sein, die sich in den letzten Jahrzehnten als Heerscharen
von Chefvolkswirten, Finanzmarktexperten und Anlageberatern getummelt haben und denen nur eines gemeinsam ist, nämlich dass sie sich alle geirrt haben und nichts
wussten, als es darauf angekommen ist.
({60})
Es gibt viel zu tun. Das ist von einer Regierung anzupacken, auch von dieser. Wenn sie das nicht tut, dann sei
die Konsequenz klar bezeichnet: Wer das verweigert und
hier keine entschiedene Politik macht, der bereitet die
größte sozialpolitische Umverteilung seit Jahrzehnten
vor. Dann werden dem Steuerzahler weiterhin Lasten
aufgebürdet und diejenigen geschont, die sich in den
letzten Jahren bereichert haben. Das geht so nicht. Das
treibt die Menschen in die Wahlenthaltung.
Was mit dem Hotelprivileg begann, das setzt sich mit
der Schonung der Gläubigerbanken bei Ihnen fort. Es
geht aber nicht um den täglichen kleinkarierten parteipolitischen Streit. Richten Sie den Blick auf die europäische Nachbarschaft! Wenn Sie das nicht anpacken und
hier nichts tun, dann hantieren Sie mit sozialpolitischem
Sprengstoff. Das sollte Ihnen bewusst sein.
({61})
Meine Damen und Herren, wer auch immer nach Ihnen regiert, übernimmt ein schweres Erbe. Ich kann
nicht verstehen, dass in dieser Situation, in der wir zu
Recht über Verschuldung diskutieren, nicht auch auf das
eigene Land geschaut wird. Ich verstehe nicht und kann
nicht billigen, dass in einer Situation, in der wir noch
nicht entscheidend von unserem Schuldenstand herunterkommen, weiterhin gegenüber der Öffentlichkeit,
nein, gegenüber der eigenen Klientel mit Sperenzchen
wie Steuersenkungen gearbeitet wird.
({62})
Es bleibt dabei: Sie haben keine klare Sicht auf eine
komplett veränderte Wirklichkeit. Sie finden sich nicht
darin zurecht. Sie haben auch keine Sprache dafür. Es
heißt immer noch: „Steuern runter!“, „Mehr Netto vom
Brutto“ und „Markt statt Staat“. Sie haben immer noch
die falsche Sprache. Sie haben das falsche Programm,
und Sie haben das falsche Personal.
Sie sind aus der Zeit gefallen. Sie haben den Kontakt
zur Wirklichkeit verloren. Für Deutschland ist jeder Monat, den dieses Drama früher zu Ende geht, ein Gewinn.
Herzlichen Dank.
({63})
Das Wort hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Steinmeier, nach Ihrer
Rede ist es dringend Zeit, die Dinge wieder ein bisschen
zu ordnen.
({0})
Ihre Rede war konfus. Anders kann ich das nicht beschreiben. Wir arbeiten daran, Deutschland nach vorn zu
bringen. Das ist unsere Aufgabe,
({1})
und darüber werden wir jetzt sprechen.
({2})
Seit mehr als drei Jahren bestimmt die internationale
Finanz- und Wirtschaftskrise täglich die Schlagzeilen.
Sie beeinflusst die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt
nicht nur bei uns, sondern weltweit. Sie beeinflusst den
Alltag der Menschen, und sie beeinflusst natürlich auch
die Arbeit von Regierung und Parlament.
Was mit einer Bankenkrise begann, setzte sich in einer Krise der realen Wirtschaft fort. Diese wurde durch
Konjunkturprogramme abgefedert. Heute haben wir eine
verstärkte Verschuldung der Staaten. Das genau ist das
Umfeld, in dem die christlich-liberale Bundesregierung
innerhalb von zwei Jahren ein Arbeitsprogramm bewältigt hat, von dem man mit Fug und Recht sagen kann:
Das hätte bei anderen für mehr als eine Legislaturperiode gereicht.
({3})
Wir können heute sagen: Deutschland geht es im
Sommer des Jahres 2011 gut. Das ist Grund zur Freude.
({4})
Wenn wir uns die wirtschaftliche Lage anschauen, dann
stellen wir fest: 2009 Wirtschaftseinbruch von 5,1 Prozent, letztes Jahr Rekordwachstum von 3,7 Prozent.
Auch in diesem Jahr werden wir ein gutes Wachstum haben. Wir haben das Vorkrisenniveau wieder erreicht schneller, als wir dachten. Bei allen Warnsignalen bezüglich der Weltwirtschaft können wir sagen: Wir sehen
keine Anzeichen für eine Rezession. Das, was wichtig
ist, auch für Europa, ist: Deutschland ist wieder die
Wachstumslokomotive in der Europäischen Union. Auch
darauf können wir stolz sein. Wir leisten damit unseren
Beitrag.
({5})
Was viel wichtiger ist, als dass es nur der Wirtschaft
gut geht, ist, dass es den Menschen besser geht. Wir
konnten den Aufschwung so gestalten, dass er den Menschen zugutekommt. Die Zahl der Arbeitslosen liegt stabil unter 3 Millionen. Nun muss man nicht nachkarten,
aber man wird es wenigstens sagen dürfen, dass mein
geschätzter Vorgänger versprochen hat, die Zahl der Arbeitslosen auf 3 Millionen zu senken, er aber mit 5 Millionen Arbeitslosen aus dem Amt geschieden ist, wohingegen die christlich-liberale Koalition die Zahl der
Arbeitslosen auf unter 3 Millionen senken konnte. Das
ist die Wahrheit.
({6})
41 Millionen Menschen in Deutschland haben Arbeit.
Der Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Jobs in
den vergangenen zwei Jahren beträgt rund 1 Million.
Wir haben in verschiedenen Regionen Vollbeschäftigung. Ich sage Ihnen: Wir geben uns mit der Zahl von
unter 3 Millionen Arbeitslosen nicht zufrieden, wir wollen Arbeit für alle. Dass wir die Jugendarbeitslosigkeit
halbieren konnten, ist ein Beispiel dafür, was man schaffen kann. Daran werden wir weiter arbeiten.
({7})
Wir haben bei der Krisenbewältigung - der Beitrag
der Großen Koalition dazu soll gar nicht geschmälert
werden - eines gesehen, was für uns alle, die wir hier sitzen, eine unglaublich gute Botschaft ist: Politik kann gestalten, Politik kann abfedern, Politik kann etwas bewegen.
({8})
Das genau ist soziale Marktwirtschaft: Es ist uns gelungen, für Menschen Brücken zu bauen und Leitplanken einzuziehen, um die Dinge zu ordnen.
({9})
Ich sage ganz klar: Das, was uns bei der realen Wirtschaft gelungen ist, ist uns bei der internationalen
Finanzwirtschaft noch nicht gelungen. Deshalb ist die
Beunruhigung der Menschen auch verständlich. Sie sagen: Es gibt etwas, das durch politisches Handeln nicht
ausreichend gezähmt ist. Es gibt international nicht die
Leitplanken, die wir von der erfolgreichen sozialen
Marktwirtschaft in Deutschland kennen. - Deshalb muss
daran gearbeitet werden.
({10})
Es ist einiges erreicht worden. Wir sind national
vorangegangen. Wolfgang Schäuble hat gemeinsam mit
der ganzen Bundesregierung ein Gesetz zur Restrukturierung der Banken eingebracht; wir haben es verabschiedet. Ähnliches muss auch weltweit kommen. Es
gibt immer noch das Problem - das wird beim G-20Gipfel wieder ein Thema sein -, wie wir die Banken, die
so groß sind, dass sie bei einem Zusammenbruch einen
riesigen Schaden anrichten, so restrukturieren können,
dass kein Schaden für die internationale Öffentlichkeit
entsteht.
({11})
Wir haben die Bankenabgabe eingeführt, damit in Zukunft nicht der Steuerzahler zahlen muss. Wir haben in
Europa verschiedene Regelungen eingeführt, die ich
nicht alle aufzählen will. Dass wir bis heute keine europäische Richtlinie zum Derivatehandel haben, ist ein
Manko. Deutschland macht Druck, und das werden wir
auch weiterhin tun.
({12})
Aber zur Wahrheit gehört auch: Finanzmärkte arbeiten
international. Deutschland ist dabei eine wichtige
Stimme; die bringen wir ein. Aber allein können wir es
nicht entscheiden, und deshalb sind wir froh über jeden,
der mit uns gemeinsam Druck macht.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vor der
Bundestagswahl gesagt: Deutschland soll stärker aus der
Krise herauskommen, als es hineingegangen ist. Wir
können heute sagen: Wir haben unser zentrales Wahlversprechen gehalten.
({14})
Deutschland geht es so gut wie lange nicht. Jetzt, in besseren Zeiten, geht es darum, die Fundamente zu stärken.
Das zentrale Thema ist die Haushaltskonsolidierung. Da
gab es gestern hier ein bisschen Geschrei. Wir hatten im
Jahre 2010 die Furcht - weil wir die Krise auch mithilfe
von Steuergeldern bewältigt haben -, ein Defizit von
86 Milliarden Euro zu haben. Wir können froh sein, dass
es in diesem Jahr 30 Milliarden Euro sein werden und
dass es im nächsten Jahr 27 Milliarden Euro sein sollen.
Das heißt, wir sind auf einem guten Weg.
Es war richtig, die Schuldenbremse einzuführen. Wir
können in diesem Jahr die Defizitkriterien wieder einhalten. 1,5 Prozent gesamtstaatliches Defizit, das ist ein gutes Ergebnis, auch für Europa. Aber wir dürfen uns
nichts in die Tasche lügen: Mit 83 Prozent gesamtstaatlicher Verschuldung haben wir noch einen weiten Weg vor
uns, um die 60-Prozent-Grenze der Maastricht-Verträge
wieder zu erreichen. Da ist die vielleicht nicht so beachtete, aber trotzdem wichtige Aussage, dass wir mit
80,5 Prozent jetzt die Trendumkehr von 83 Prozent erreichen werden, mindestens so wichtig wie das temporäre gesamtstaatliche Defizit. Denn es geht darum - das
ist das eigentliche Thema -: Wie können Staaten die akkumulierte Verschuldung über Jahrzehnte wieder abbauen?
Es war richtig, dass wir im vergangenen Jahr ein Zukunftspaket für den mittelfristigen Finanzplanungszeitraum mit 80 Milliarden Euro Einsparungen aufgelegt haben. Das war nicht leicht. Darüber gab es auch
Diskussionen; aber es war richtig. Wir haben gezeigt:
Sparen geht, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Es ist
richtig und gut, dass wir die Schuldenbremse einhalten.
({15})
Nun ist es so - das mag für Sie ärgerlich sein -, dass
Sie im Bund nicht an der Regierung beteiligt sind. Aber
Sie könnten Ihren nationalen Beitrag zur Zukunft
Deutschlands dort leisten, wo Sie Verantwortung tragen.
Was ist denn da mit Schuldenabbau? Nordrhein-Westfalen: verfassungswidriger Haushalt, einmal beklagt,
einmal für unrichtig erklärt; sofort folgt der nächste verfassungswidrige Haushalt.
({16})
Rheinland-Pfalz: In der Regierungszeit von Herrn Beck
sind zwei Drittel der Gesamtschulden angehäuft worden,
und es ist überhaupt nicht abzusehen, wie dieses Land
jemals die Schuldenbremse erreichen will.
({17})
In Baden-Württemberg war das erste Regierungshandeln
von Grün-Rot, 180 neue Stellen im Staatsapparat zu
schaffen. Von Berlin und Bremen, rot-rot und rot-grün
regiert, möchte ich überhaupt nicht sprechen.
({18})
Ich sage: Machen Sie doch dort, wo Sie Verantwortung
tragen, erst einmal Ihre Hausaufgaben, und dann kommen Sie zurück. Das wäre die richtige Arbeitsreihenfolge.
({19})
Meine Damen und Herren, in normalen Zeiten würde
ich jetzt darüber sprechen, wie wir die Fundamente der
Zukunft bauen, wie wir Wachstum fördern, in Bildung
und Forschung investieren, den Zusammenhalt unseres
Landes stärken. Ich würde über maßvolle Steuerentlastungen sprechen, weil es der Steuergerechtigkeit entspricht, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
am Wachstum über mehr Erwerbslohn beteiligt werden.
Ich würde über unser Energiekonzept sprechen, darüber,
wie wir das durchsetzen - mit einem Monitoring -,
({20})
über Forschung und Bildung, wofür wir so viel ausgeben
wie keine Bundesregierung jemals zuvor.
({21})
Ich würde über die Pflegereform sprechen, die wir in den
nächsten Monaten auf den Weg bringen, über die Demografiestrategie, die die Antwort auf die Fragen des veränderten Altersaufbaus - das große nationale Problem gibt, über die Reform der Bundeswehr und darüber, wie
wir die Kommunen entlastet haben, indem wir die
Grundsicherung übernehmen.
Wir leben aber nicht in normalen Zeiten. Deshalb
sage ich: Wir stehen vor Herausforderungen, die man getrost historisch nennen kann. Ich will nicht sagen, ob es
die schwerste oder eine der schweren Herausforderungen Europas ist; aber wir können sagen: Deutschland
geht es gut. Wir wissen jedoch: Deutschland kann auf
Dauer nicht erfolgreich sein, wenn es nicht auch Europa
gut geht.
({22})
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind zentraler
Teil der Europäischen Union. Deutschlands Zukunft ist
untrennbar mit der Zukunft Europas verbunden. Nach
Jahrhunderten langer Kriege war die europäische Einigung Garant und Schrittmacher für eine dauerhafte Aussöhnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass
dies erfolgreich gelungen ist, war alles andere als selbstverständlich. Auf dieser Grundlage konnte der Wiederauf14470
bau eines zerstörten Kontinents gelingen, auch mithilfe
des Marshallplans der Amerikaner in einer ganz schwierigen Situation. Auf dieser Grundlage konnte transatlantische Partnerschaft entstehen. Auf dieser Grundlage
konnten die Völker Europas nie da gewesenen Wohlstand erwirtschaften. Auf dieser Grundlage konnte die
Wiedervereinigung Deutschlands sowie die Einigung
Europas stattfinden.
Daraus ergibt sich unsere heutige Verpflichtung gegenüber den Gründervätern unseres Landes und dieses
Europas; das sage ich auch sehr persönlich. Die Gründerväter haben mit ganzer Kraft, mit Mut, mit Ideen und
mit vielen Risiken Europa gebaut.
({23})
Sie haben es nicht nur für sich getan, sondern vor allen
Dingen für zukünftige Generationen. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es an uns, im 21. Jahrhundert
diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben, unseren Kindern und Enkeln ein intaktes Europa zu übergeben, und
zwar nicht in einer Welt, wie es 1950 war, von 2,5 Milliarden Einwohnern, in der die Dominanz Europas und
der Vereinigten Staaten von Amerika schon durch die
Bevölkerung viel klarer war, sondern in einer Welt von
7 Milliarden Einwohnern mit einer Vernetzung der Wirtschaft, wie wir sie nie gekannt haben, und, durch die
7 Milliarden Einwohner, mit einem Verbrauch und Gebrauch von natürlichen Ressourcen, wie es an vielen
Stellen eine Überstrapazierung dieser Welt ist.
Seit bald zehn Jahren können die Menschen in Berlin
und Paris, in Rom und Lissabon mit einer gemeinsamen
Währung bezahlen. Das ist der Euro. Die Geschichte
sagt uns: Länder, die eine gemeinsame Währung haben,
führen nie Krieg gegeneinander. Deshalb ist der Euro
viel, viel mehr als nur eine Währung.
({24})
Der Euro ist der Garant eines einigen Europas, oder anders gesagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa.
({25})
Weil ein Europa der Demokratie und der Freiheit unsere
Heimat ist, darf der Euro nicht scheitern, und er wird
nicht scheitern.
({26})
Aber wenn ich auf der einen Seite von einer der
schwersten Krisen Europas spreche und gleichzeitig von
unserem unbedingten deutschen Interesse an einem starken Europa, dann ergibt sich doch daraus die zentrale
Aufgabe dieser Legislaturperiode. Die zentrale Aufgabe
dieser Legislaturperiode heißt: So wie Deutschland stärker aus der Krise herausgekommen ist, als es hineingegangen ist, muss jetzt auch Europa stärker aus der Krise
herauskommen, als es hineingegangen ist.
({27})
Vor zehn Jahren haben wir eine stabile Währung versprochen. Das Versprechen ist gehalten. Die Inflationsrate ist in diesen zehn Jahren geringer als in den letzten
zehn Jahren der D-Mark. Eine christlich-liberale Koalition, damals unter der Führung von Helmut Kohl, HansDietrich Genscher und Theo Waigel, hat unter Mühen
und in kontroversen Diskussionen in Europa den Stabilitäts- und Wachstumspakt durchgesetzt. Es ist eine traurige Ironie, dass ausgerechnet eine deutsche Regierung,
Rot-Grün unter Führung von Herrn Schröder, dann diesen Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht hat.
({28})
Es war auch Rot-Grün - es ist einfach so; wir waren ja
nicht froh, dass wir da in der Opposition waren -, die wider besseres Wissen Griechenland in den Euro-Raum
aufgenommen haben.
({29})
Ich würde das alles nicht sagen, wenn Sie aus Ihren
Fehlern lernen würden, aber - das ist das Schlimmste Sie tun es nicht. Analysieren Sie doch einmal die heutige
Krise: Was ist das Hauptproblem in der gegenwärtigen
Krise? Ich kann ja nur Antworten finden, wenn ich wenigstens die Analyse vernünftig mache. Die hohe Verschuldung einzelner Länder ist das Hauptproblem der
heutigen Krise, die wir im Euro-Raum haben. Diese Verschuldung ist nicht nur in den Zeiten entstanden, als wir
die Konjunkturprogramme gegen die internationale
Finanz- und Wirtschaftskrise aufgelegt haben, sondern
diese Verschuldung ist das Ergebnis davon, dass Jahrzehnte eine falsche Philosophie verfolgt wurde. Diese
Philosophie wurde im Übrigen auch von der ersten Großen Koalition Ende der 60er-Jahre verfolgt. Da hat das
alles in Deutschland begonnen. Da hieß es: Hauptsache
Wachstum, egal was es kostet, im Zweifelsfall auch
Schulden, und anschließend in guten Zeiten nichts zurückzahlen. Mit dem Ergebnis von jahrzehntelangem
Schuldenaufbau müssen wir uns heute herumschlagen.
({30})
Wir sind da ja in feiner Gesellschaft: Wir sind damit
in Europa nicht alleine, wir sind damit mit den Vereinigten Staaten nicht alleine, wir sind damit mit Japan nicht
alleine. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt: Diese
Krise, wenn sie nicht zu einer großen Krise der westlichen Welt werden soll,
({31})
kann mit einem Weiter-so nicht bekämpft werden. Ein
grundsätzliches Umdenken ist nötig. Wir müssen nachhaltig wirtschaften und nicht mehr auf Kosten zukünftiger Generationen.
({32})
Das muss jetzt zur Erkenntnis aller 17 Staaten werden,
die durch eine gemeinsame Währung verbunden sind;
denn auf der einen Seite sind wir durch die gemeinsame
Währung untrennbar miteinander verbunden, und auf
der anderen Seite - das ist die Rechtssituation - hat jedes
einzelne dieser 17 Länder die Haushaltshoheit, kann also
seinen Haushalt auf Basis nationaler Entscheidungen
aufstellen.
({33})
Genau das entspricht im Kern dem, wenn gesagt wird:
Wir haben keine politische Union. Mit dieser Frage müssen wir uns auseinandersetzen, und in dieser Situation
müssen wir die richtigen Antworten finden.
Was sagen jetzt die Sozialdemokraten und die Grünen?
({34})
Die Sozialdemokraten und die Grünen sagen: Wir brauchen in dieser Situation Euro-Bonds. Wenn ich aber nun
genau die Situation habe, dass ich auf den Haushalt eines
einzelnen Mitgliedstaats des Euro-Raums keinen Einfluss habe, kann es doch nicht angehen - das ist aber Ihre
Antwort -, dass ich die Schulden in einen Topf werfe
und den einzigen Indikator, den ich in diesem Währungssystem noch habe, nämlich die Zinssätze, vergemeinschafte.
({35}) Dr. Frank-Walter Steinmeier ({36}): Reden Sie
mal in Ihre Richtung!)
Das ist mit Sicherheit die falsche Antwort, und das zeigt,
dass Sie Ihre Fehler fortsetzen.
({37})
Nun lese ich heute in der Zeitung von dem einen und
höre hier im Bundestag von dem anderen, dass Sie, auch
angesichts des Bundesverfassungsgerichtsurteils, jetzt
eine Umdefinition der Euro-Bonds vornehmen wollen.
Bei Ihnen ist das jetzt nur noch ein Instrument, das für
Krisenländer gemeinschaftlich, vielleicht im EFSF, verwaltet wird. Dann sagen Sie das aber auch.
({38})
Euro-Bonds sind ja definiert - bis heute war das auch
nach Ihrem Verständnis so; das ist auch überall außerhalb der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands im Deutschen Bundestag nach wie vor so als Vergemeinschaftung der Schulden und Einführung
eines einheitlichen Zinssatzes für alle.
({39})
Das ist die falsche Antwort.
({40})
Deshalb werden wir diesen Weg nicht mitgehen.
({41})
Vielmehr geht es darum, dass wir uns auf die Haushaltsführung jedes einzelnen Mitgliedstaates verlassen können.
Euro-Bonds sind der Weg in die Schuldenunion. Wir
brauchen eine Stabilitätsunion. Daran arbeitet die christlich-liberale Koalition.
({42})
Keine Generation kann sich ihre Aufgabe aussuchen.
Unsere Gründerväter mussten ein zerstörtes Deutschland
aufbauen und die Erbfeindschaft mit Frankreich überwinden. Unsere Aufgabe ist es nun, den Weg aufzuzeigen, wie eine Stabilitätsunion erreicht werden kann.
({43})
Hierbei gibt es eine Grundüberzeugung, die die christlich-liberale Koalition leitet. Sie lautet: Wir brauchen
Solidarität und Eigenverantwortung, Eigenverantwortung und Solidarität.
({44})
Nicht derjenige, der sofort hilft und jeder Hilfsanfrage
sofort nachgibt, hat recht, sondern derjenige, der den
Weg zur Stabilitätsunion aufzeigt.
({45})
Da hat das Bundesverfassungsgericht uns heute Morgen,
soweit ich das in der knappen Zeit überblicken konnte,
absolut bestätigt.
({46})
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Eigenverantwortung und Solidarität in einer transparenten, durchschaubaren Art und Weise, natürlich mit absoluter Mitbestimmung des Parlaments. Das ist genau der Weg, den
wir gegangen sind.
({47})
Der dauert manchmal etwas länger und ist zuweilen etwas komplizierter, aber es ist der richtige Weg.
Sie können doch sehen, was wir in den letzten anderthalb Jahren erreicht haben. Wir können nicht zufrieden
sein mit den neuesten Meldungen aus Griechenland.
Griechenland muss Strukturreformen durchführen. Es
muss transparente Strukturen in seinem Land schaffen,
und es muss natürlich - das wird auch immer gesagt investieren. Geld ist vorhanden in Europa. Griechenland
hat 70 Prozent der Mittel seiner Strukturfonds und Kohäsionsfonds gar nicht abgerufen. Auch für Portugal steht
noch Geld zur Verfügung.
({48})
Es geht um Strukturen, mit denen man Wachstum generieren kann, und die sind nicht ausreichend vorhanden.
Sie sagen immer, dass das Polemik gegen irgendwelche Länder sei. Meine Damen und Herren, so wie wir
uns hier auseinandersetzen, so muss das auch in einem
Europa mit einer Währung stattfinden. Alle Probleme
unter den Tisch zu kehren und von Solidarität zu reden,
wird uns nicht zu einer Stabilitätsunion bringen. Das ist
die Wahrheit.
({49})
Deshalb war es richtig, dass wir durchgesetzt haben,
dass es Hilfen nur unter strengen Auflagen gibt. Das ist
das erste Prinzip, das wir durchgesetzt haben.
({50})
Wir haben zweitens durchgesetzt, dass neben der Bewältigung der Krise endlich auch die Ursachen angegangen
werden. Deshalb haben wir mehr Wachstum und mehr
Wettbewerbsfähigkeit im neuen Stabilitäts- und Wachstumspakt niedergelegt. Wir haben ihn nicht aufgeweicht,
sondern verstärkt. Ich hoffe, dass die letzten Einigungen
mit dem Europäischen Parlament erfolgen. Da geht es
nicht nur um das temporäre Defizit, sondern es wird in
Zukunft auch um die Gesamtverschuldung und die makroökonomische Leistungskraft eines Landes gehen.
Das sind genau die Kriterien.
Wir haben mit dem französischen Präsidenten alles
ausgelotet, was unter der jetzigen Vertragssituation an
verbindlichen Absprachen möglich ist.
({51})
Da habe ich eine Bitte an den Deutschen Bundestag:
Wenn wir unseren Haushalt nach Europa schicken und
im Rahmen des Europäischen Semesters Kommentare
der Europäischen Kommission mit Blick auf die Erfüllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts für jedes einzelne Mitgliedsland abgegeben werden, müssen sich
auch alle anderen Euro-Staaten verpflichten, diese Kommentare zu befolgen, damit sicher ist, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt erfüllt wird.
({52})
Wir haben gesagt: Wir wollen, dass alle Länder, ähnlich wie wir es in Deutschland gemacht haben - da waren wir Vorreiter -, eine Schuldenbremse in ihre Verfassung aufnehmen.
({53})
Wir haben dabei unerwartete Fortschritte erzielt. Frankreich denkt darüber nach, Spanien hat es gemacht, Portugal ist offen, und Italien macht es jetzt auch. Mit der
Aussage „Das geht alles nicht“ kann man natürlich keine
neuen Wege beschreiten. Auch das ist ein Beitrag zur
Stabilitätsunion.
({54})
Wir haben drittens durchgesetzt, dass Lehren aus der
Krise gezogen werden, nämlich mit dem Euro-Plus-Pakt
und der verstärkten institutionellen Zusammenarbeit in
der Euro-Zone. Wir haben im vorigen Jahr gesagt, es
müsse eine Wirtschaftsregierung der 27 geben. Die
Wahrheit ist: Wir müssen in der Euro-Zone enger zusammenarbeiten, ohne andere zu verstoßen. Aber wir müssen das vor allen Dingen so schaffen, dass es verbindlich
wird. Es hat keinen Sinn, wenn man nur Daten austauscht. Vielmehr muss eine Verbindlichkeit entstehen,
und daran muss gearbeitet werden. Nur so kann Europa
stärker aus der Krise herauskommen, als es hineingegangen ist.
Es zeigt sich aber in einer unglaublichen Schärfe, dass
die Probleme eines Landes - und sei es eines Landes wie
Griechenland, das nur 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der gesamten Euro-Zone hat - die ganze Währung
in Gefahr bringen können. Im Lissabon-Vertrag gibt es
keinen Mechanismus,
({55})
um diejenigen zur Einhaltung des Stabilitäts- und
Wachstumspakts zu zwingen, die das nicht können oder
nicht wollen. Deshalb sage ich auch: Wenn wir Europa
weiterdenken und wenn wir mehr zukunftsfähiges und
starkes Europa wollen, dann dürfen auch Vertragsänderungen kein Tabu sein, um ein Mehr an Verbindlichkeit
dafür zu erreichen.
({56})
Es gehört zu den Paradoxien, dass die Nichteinhaltung
jeder Richtlinie, beispielsweise aus Bereichen wie Wirtschaft oder Umwelt, zu einer Verurteilung durch den
Europäischen Gerichtshof führt, aber ausgerechnet die
Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
vom Europäischen Gerichtshof gerade nicht verfolgt
werden darf. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind
für ein solches starkes Europa, weil wir eine Stabilitätsunion wollen.
Wir werden Risiken eingehen müssen.
({57})
Das wird kein einfacher Weg sein. Wir brauchen mehr
Europa; aber wir müssen es vernünftig und richtig machen. Wir müssen den Menschen auch ganz klar sagen:
Die heutigen Probleme wie die übermäßige Verschuldung sind in Jahrzehnten aufgewachsen. Diese lassen
sich nicht mit Schlagwörtern wie Euro-Bonds oder Umschuldung mit einem Paukenschlag einfach wegwischen,
und alles wird wieder gut. Nein, das wird ein langer und
schwieriger, aber für die Zukunft richtiger Weg in eine
zukunftsfähige Europäische Union. Diesen Weg wollen
wir gemeinsam gehen.
({58})
In Europa leben 500 Millionen Menschen. Wir wissen: Die Welt wandelt sich. Sie wandelt sich nicht nur im
wirtschaftlichen Bereich. Dort haben wir eine Situation,
in der keiner mehr sozusagen aus sich selbst heraus alleine stark sein kann. Das ist die Botschaft. Schauen Sie
auf die Schweiz. Sie hat gestern den Wechselkurs ihrer
Währung faktisch an den Euro gekoppelt; denn die
Stärke der Schweiz wird zu ihrer eigenen Schwäche,
wenn sie sich nicht in das gesamte globale Gefüge einordnet. Das ist die Lehre. Deshalb ist der Euro richtig.
({59})
Die Weltwirtschaft ist wie ein feingesponnenes Netz.
Wer da an irgendeiner Stelle irgendeinen Faden kappt,
der kann das ganze Netz zum Einreißen bringen. Deshalb müssen all diejenigen, die jetzt mit EFSF, ESM und
alldem nicht einverstanden sind, eines wissen: Wir haben keine theoretische Diskussion am Reißbrett darüber,
wie wir uns eine politische Union vorstellen,
({60})
sondern wir haben eine Situation, in der es darum geht,
eine eng verwobene Weltwirtschaft auf einen vernünftigen Pfad der Stabilität zu führen. Deshalb muss jeder unserer Schritte kontrolliert sein.
({61})
- Nein, Herr Gabriel, ich halte hier eine Rede vor allen
Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
({62})
- Wenn Sie mir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit noch
einmal schenken würden.
({63})
Die Art und Weise, wie Sie über Umschuldung im europäischen Raum sprechen - unkontrolliert und ohne jede
Basis dafür -, ist genauso verantwortungslos wie Äußerungen über Euro-Bonds. Auch das gehört zur Wahrheit.
({64})
Wir glauben, dass die Staaten die Fähigkeit erlernen
müssen - genauso wie es bei den Banken der Fall war -,
mit Insolvenzproblemen umzugehen.
({65})
Deshalb haben wir uns für die Schaffung des permanenten Rettungsschirms eingesetzt.
({66})
Aber wir können nicht Schlagwörter in die Welt setzen
({67})
und uns anschließend wundern, dass wir damit die gesamte Finanzwelt verunsichert haben. Das reicht für Oppositionsarbeit, aber nicht zum Regieren.
({68})
Das verstehe ich unter einem kontrollierten Prozess.
({69})
Wie gesagt: Die Welt wandelt sich, und sie wandelt
sich nicht nur im ökonomischen Bereich. Wir haben
auch gesehen, dass die Freiheit weiter auf ihrem Siegeszug ist - in diesem Jahr im arabischen Raum. Der Bundesaußenminister hat über die Verantwortung, die
Deutschland in diesem Zusammenhang übernimmt, gesprochen.
({70})
- Genau. - Wir werden sehr entschieden von Ägypten
über Tunesien bis Libyen und Syrien unserer Verantwortung gerecht werden.
({71})
Das werden sehr lange Prozesse sein. Dabei wird es auf
einen langen Atem ankommen, um den jungen Menschen in diesen Ländern Hoffnung zu geben und Ausbildungspakte zu schließen. All das ist auf dem Weg, und
all das stärkt die Demokratie.
({72})
In vier Tagen jährt sich der 11. September. Auch das
wird uns noch einmal daran erinnern, wie sich die Bedrohungslage zum Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit
völlig verändert hat. Weil der islamistische Terrorismus
eine völlig neue, asymmetrische Bedrohung ist, in der
Menschen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, ist es so
wichtig, dass wir stabile Staaten bauen helfen.
Das ist unsere Aufgabe in Afghanistan. Im Dezember
wird in Bonn die Afghanistan-Konferenz stattfinden, auf
der wir über die Zukunft diskutieren. Wir haben erlebt:
Der Kampf gegen den Terrorismus ist nicht einfach. Es
ist nicht so einfach, ein stabiles Afghanistan aufzubauen.
Es war Anfang der 90er-Jahre nicht so einfach, ein stabi14474
les Somalia aufzubauen. Es ist nicht so einfach, die Piraterie zu bekämpfen.
({73})
Wir haben den Sieg über den Kalten Krieg errungen - da
können Sie lachen -; aber wir haben es noch nicht geschafft, die asymmetrischen Bedrohungen in vollem
Umfang in den Griff zu bekommen. Die Antwort der
Bundesregierung ist: Es wird nicht allein militärisch gelingen - die militärische Option kann nicht ausgeschlossen werden -, sondern es bedarf immer eines vernetzten
Vorgehens, einer vernetzten Sicherheitskonzeption, um
Frieden und Stabilität auf der Welt zu erreichen.
({74})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten hat es so
viele Krisen und Großereignisse in so kurzer Abfolge
gegeben,
({75})
wie wir das in den vergangenen Jahren erlebt haben. Selten gibt es die eine Antwort, die eine Lösung, auch wenn
uns das so viele Experten jeden Tag vorgaukeln wollen.
Aber immer gibt es eine Aufforderung, der insbesondere
die Regierung nachzukommen hat: entschlossen wie besonnen den richtigen Weg für unser Land zu finden,
({76})
stets das Ganze im Blick und für das Gemeinwohl mit
genau dieser Richtschnur.
Die christlich-liberale Koalition will ein Deutschland,
das wirtschaftlich stark ist, das auf seine Menschen setzt,
das seine soziale Verantwortung kennt, das international
an der Spitze steht und das Verantwortung für Europa
und die Welt übernimmt - ein Deutschland also, das
menschlich und erfolgreich ist.
({77})
Dafür arbeiten wir, und das mit aller Kraft.
Herzlichen Dank.
({78})
Das Wort hat nun der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von Union und FDP, ich bedanke mich für Ihren langen Begrüßungsbeifall. Abgesehen davon glaube ich, Frau Bundeskanzlerin: Mit dieser
Rede haben Sie Ihre Fraktion nicht gerettet. Dazu war
sie zu oberflächlich und ist auf den Kern der Probleme
überhaupt nicht eingegangen.
({0})
Frau Bundeskanzlerin, ich hatte gehofft, dass Sie
nichts zu Berlin sagen. Aber Sie haben etwas zu Berlin
und der Verschuldung gesagt. Deshalb muss ich Ihnen
eines ganz klar sagen: Die Verschuldung Berlins ist nun
wirklich von Eberhard Diepgen und Klaus Landowsky
von der Union verursacht worden.
({1})
Ich sage einmal: SPD und Linke haben diesen Karren
aus dem Dreck gezogen. Das ist die Wahrheit.
({2})
Dass Berlin jetzt sogar eine Hauptstadt und Metropole
ist, liegt nur an den Linken.
({3})
Ich komme zu einer Rede des Bundespräsidenten,
die er am 24. August 2011 gehalten hat. An diesem
24. August hat er gesagt:
Politik muss ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Sie muss sich endlich davon lösen, hektisch
auf jeden Kursrutsch an den Börsen zu reagieren.
Sie muss sich nicht abhängig fühlen und darf sich
nicht am Nasenring durch die Manege führen lassen, von Banken, von Ratingagenturen …
Eine härtere Kritik eines Bundespräsidenten an einer Regierung und einer Koalition habe ich selten gehört.
({4})
Sie gehen überhaupt nicht darauf ein.
({5})
Der Bundespräsident erklärt damit, dass die Demokratie gefährdet ist. Das sagt übrigens ein Bundespräsident erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland seit 1949. Ich sage Ihnen: Die Demokratie
ist nicht nur gefährdet; wir haben es wirklich mit Zerstörung zu tun. Der frühere Kanzler Kohl hat eine vernichtende Kritik an der Kanzlerin und ihrer Koalition geübt.
Er hat gesagt, es gebe keinen Kompass, also keine
Orientierung, keine Grundwerte, keine Grundüberzeugungen. Verstehen Sie, ich muss immer Ihre Leute zitieren, weil Sie uns nicht glauben; aber wahr ist es trotzdem.
({6})
Wir haben es in Wirklichkeit mit etwas anderem zu
tun, Frau Bundeskanzlerin - ich bitte Sie, das einmal zur
Kenntnis zu nehmen -: Wir haben es mit einer Systemkrise zu tun, mit einer Diktatur der Finanzmärkte. Die
großen privaten Banken, Fonds, Versicherungen und
Hedgefonds machen vor nichts Halt, reißen alle noch beDr. Gregor Gysi
stehenden Dämme nieder und brechen sämtliche Tabus.
Sie haben nicht die Kraft und den Mut, endlich etwas dagegen zu tun. Das ist aber dringend erforderlich.
({7})
Dabei geht es nicht nur um Länder wie Griechenland,
Portugal, Spanien oder Irland; es geht um die Kernländer
des Kapitalismus. Auch die USA, Frankreich und Italien
werden angegriffen. Private amerikanische Ratingagenturen, die von großen Banken abhängig sind, stuften die
USA herunter. Ich bitte Sie! Das macht denen gar nichts
mehr aus; so mächtig sind sie inzwischen geworden. Seit
Jahren höre ich von Ihnen: „Wir brauchen eine öffentlich-rechtliche Ratingagentur in Europa.“ Wo ist sie
denn? Es wird höchste Zeit, sie zu schaffen.
({8})
Es sind nicht die Linken, sondern die Finanzmärkte,
die den Kapitalismus von innen heraus zerstören. Die
Ratingagenturen stürzen inzwischen sogar Regierungen, wie in Irland und Portugal. Niemand regt sich darüber auf. Früher gab es einmal ein Wahlrecht der Bevölkerung; heute läuft das völlig anders ab. Wir haben
es - auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen - mit
einer Krise der Demokratien weltweit zu tun, weil wir
von den Finanzmärkten diktatorisch beherrscht werden.
Nun waren Sie, Frau Merkel, bei Herrn Sarkozy in
Paris. - Frau Merkel, hören Sie mir einmal einen Moment zu; ich möchte eine Erklärung haben. Sie haben
dort mit Herrn Sarkozy ein Papier zur zweiten Griechenland-Hilfe verabschiedet. Dann höre ich in der heuteSendung im ZDF, dass dieses Papier wortwörtlich, bis
zum letzten Komma, von einem Papier des internationalen Bankenverbandes abgeschrieben ist, dessen Präsident zufällig Josef Ackermann heißt, also genau wie der
Chef der Deutschen Bank. Ich finde, das ist der Gipfel.
Dafür müssen Sie nicht nach Paris fahren; Sie können
auch am Telefon klären, dass Sie ein Papier nur abschreiben.
({9})
Ich finde, das offenbart die Abhängigkeit. Wir kennen
das - es begleitet uns seit Jahren -: Bei der ersten
Finanzkrise wurde auf Wunsch der Banken ein Rettungspaket im Umfang von 480 Milliarden Euro beschlossen.
({10})
Was haben Sie, Herr Rösler - Sie waren dafür verantwortlich -, bei der Gesundheitsreform gemacht? Sie haben die Wünsche der Pharmaindustrie und der privaten
Krankenversicherungen umgesetzt. Bei der Atomenergie
- wir wissen es - waren es die vier Energiekonzerne, die
sich durchgesetzt haben. Sie zeigen unserer Bevölkerung, dass nicht Sie die Macht haben, sondern andere darüber entscheiden. Das ist wirklich eine Gefährdung der
Demokratie. Bekommen Sie das endlich einmal mit!
({11})
Ich glaube, dass Sie es bei den Banken, Fonds, Versicherungen und Hedgefonds maßlos überzogen haben.
Deshalb sind wir jetzt in einer Krise. Wenn Sie mir nicht
glauben, zitiere ich jetzt einmal ein paar andere Leute,
also Erzkonservative, Neoliberale, keine Linken. Nehmen wir einmal Charles Moore, britischer Erzkonservativer, Thatcherist, der einzige offizielle Autor einer Biografie von Maggie Thatcher. Er schreibt im Telegraph
vom 22. Juli 2011:
Die Reichen dieser Welt haben ein globales System
organisiert, das … allein ihnen nützt. Die vielen
Anderen haben zu arbeiten, um die Reichen noch
reicher zu machen.
Das sagt Moore, nicht Gregor Gysi. Moore würdigt
plötzlich die Linken und sagt: Die haben recht. Manche
haben gedacht, er meint die Labour Party. Daraufhin hat
er sich geäußert: Nein, er meine auch nicht die neoliberalen Linken wie Blair, Schröder oder Fischer, die die
ganze Deregulierung in den letzten Jahren organisiert
haben,
({12})
sondern er meine die wirkliche Linke.
Der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher,
schreibt einen Artikel für das Feuilleton mit der Überschrift „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht
hat“. Warum schreibt er das? Er schreibt das, weil es
plausibel ist. Das ganze politische System nutzt nur den
Reichen und schadet den anderen.
Paul Kirchhof, ehemaliger Verfassungsrichter und
einst bei Ihnen, Frau Merkel, hochgeschätzter Steuerexperte, beklagte die nahezu vollständige Abhängigkeit
der Politik von den privaten Finanzmärkten. Zur Griechenland-Krise bemerkt er, dass nicht Solidarität mit den
Griechen herrsche, sondern ausschließlich mit den Banken. Das schreibt Herr Kirchhof. Er sieht die Demokratie
ebenfalls gefährdet.
Selbst Wirtschaftswissenschaftler wie Professor
Straubhaar, die die Märkte bisher vergötterten, schreiben: Das Marktversagen scheint die Regel zu sein. Er
muss seine ganze wissenschaftliche Theorie umstellen.
George Soros, Multimilliardär, Spekulant, König der
Hedgefonds - er befindet sich absolut auf der Gegenseite -, schreibt: Der Kapitalismus ist offenkundig nicht
zu Reformen fähig und wird deshalb scheitern wie der
Staatssozialismus. Das schreibt Soros.
Warum denken Sie nicht darüber nach, was Sie verändern müssten, wenn Sie wirklich in die Geschichte eingreifen wollen? Die Milliardäre und Superreichen treten
jeden Tag im Rundfunk und im Fernsehen auf und sagen: Wir möchten gerne endlich einmal Steuern zahlen.
({13})
Frau Merkel und Herr Rösler, Sie sagen: Ja, wir streichen gern das Elterngeld von Hartz-IV-Empfangenden
- das haben wir ja schon gemacht -, aber von euch Vermögenden und Millionären wollen wir nicht einmal einen halben Cent. Wissen Sie, warum die Reichen das rufen? Sie rufen das nicht, weil sie plötzlich alle
solidarisch und altruistisch geworden sind und nachts
wegen der Armen auf der Erde nicht mehr schlafen kön14476
nen - davon mag es eine Handvoll geben, das will ich
nicht ausschließen -, sondern sie rufen das, weil sie eines begriffen haben: Es geht um ihre Existenz. Es geht
um eine Systemfrage. Diese konservative Regierung ist
nicht klug genug, das zu begreifen.
({14})
Wenn Sie schlau wären, würden Sie zur Erhaltung der
Struktur den Spitzensteuersatz erhöhen und die Vermögensteuer wieder einführen. Sie hätten nicht einmal Widerstand von den Vermögensmillionären und -milliardären zu erwarten, aber Sie machen es nicht, weil Sie in
Ihrer kleinkarierten Ideologie hängen und nicht begreifen, welche Fragen auf der Erde und in Europa anstehen.
({15})
Wenn Sie mir das nicht glauben, dann nenne ich Ihnen zwei Zahlen. Die Staatsverschuldung in der EuroZone liegt bei 10 Billionen Euro. Die Millionäre der
Euro-Zone haben ein Vermögen in Höhe von 10 Billionen Dollar. Erklären Sie das einmal den Menschen. In
Deutschland haben wir eine Staatsverschuldung in
Höhe von 2 Billionen Euro. Die Reichsten der Bevölkerung - das sind 10 Prozent - besitzen ein Vermögen in
Höhe von 3 Billionen Euro. 1 Billion Euro mehr. Erklären Sie den Menschen, warum Sie sagen: Wir wollen
von ihnen keinen halben Cent, keine Steuern, nicht einmal einen Euro. Nichts wollen Sie von den Reichen haben. So können Sie keine gerechten Verhältnisse herstellen. Die Verursacher müssen endlich für die Krise
bezahlen, nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und die Arbeitslosen.
({16})
Es stellt sich noch eine andere Frage. Ich will versuchen, es Ihnen von der Union und der FDP ganz langsam
zu erklären. Wie mache ich das bloß? Der Euro gilt von
Griechenland bis Deutschland, das heißt, wir haben eine
Binnenwährung. 1998 haben wir im Bundestag darüber
diskutiert. Es gab wie immer vier oberschlaue Fraktionen: SPD, Union, FDP und Grüne,
({17})
die sagten, alle Voraussetzungen für die Einführung des
Euro liegen vor. Die Einzigen, die davor gewarnt haben,
waren wir. Aber Sie haben uns oberschlau mitgeteilt, Sie
wüssten alles besser, und alle unsere Warnungen seien
falsch. Lesen Sie die Reden von damals. Sie werden sich
einigermaßen schämen, wenn Sie das nachlesen.
({18})
Alles, was wir an Gefahren beschrieben haben, ist eingetroffen. Damals haben Sie immer vom Export nach Spanien und nach Portugal geredet. Ich habe in meiner Rede
darauf hingewiesen: Wenn man eine Binnenwährung
hat, dann hat man einen Binnenmarkt, und dann gibt es
keinen Export mehr. Sie haben das bis heute nicht verstanden.
({19})
Wir exportieren nicht nach Griechenland, auch nicht
nach Spanien, Irland oder Portugal.
({20})
- Herr Kauder, hören Sie einmal zu! Vielleicht verstehen
Sie es dann ja auch. Wir haben einen Binnenmarkt mit
einer Binnenwährung. Wenn Sie in diesem Zusammenhang von Export sprechen, müssten Sie auch sagen:
Bayern exportiert nach Schleswig-Holstein. Sie haben es
nicht begriffen.
({21})
Ihr System sieht folgendermaßen aus: Bayern soll erst
Schleswig-Holstein ruinieren. Wenn das gelungen ist,
bauen die Schleswig-Holstein finanziell gesehen wieder
auf, und dann ruinieren die es erneut. Erklären Sie den
Leuten einmal den Sinn davon. Wenn wir einen Euro haben, dann haben wir eine Binnenwährung, und zwar von
Griechenland bis Deutschland, und damit haben Export
und Ihr Gebaren nicht zu tun.
({22})
Warum ist Deutschland in Sachen Export aber so erfolgreich? Aus einem Grund: Weil Sie die Löhne gesenkt haben, weil Sie die Renten gesenkt haben,
({23})
weil Sie die Sozialleistungen gesenkt haben, und zwar
ganz erheblich. In den letzten zehn Jahren - das ist übrigens auch ein Verdienst von SPD und Grünen - sind die
Reallöhne um 4,5 Prozent, die Realrenten um 8,5 Prozent und die Sozialleistungen um 5 Prozent gesenkt worden.
({24})
Das Ergebnis war, dass der Export billiger wurde. Deshalb können wir so viel nach Spanien, Portugal etc. exportieren.
({25})
- Natürlich. Sie haben keine Ahnung. Wenn Sie das
noch nicht begriffen haben, müssen Sie das erste Semester Volkswirtschaft belegen.
({26})
Noch einmal langsam. Dann passiert Folgendes,
meine Damen und Herren von der FDP: Nachdem wir
die Länder dadurch ruiniert haben, dass sie weniger verkaufen und nichts nach Deutschland exportieren konnten, kommen Sie und sagen: Wir müssen Geld hinschicken. - Verstehen Sie, dass die Bevölkerung das nicht
begreift? Was wir stärken müssen - das haben Sie nie
begriffen - ist die Binnenwirtschaft. Aus Gründen der
sozialen Gerechtigkeit, aber auch aus ökonomischen
Gründen brauchen wir endlich höhere Löhne, höhere
Renten und höhere Sozialleistungen. Wir brauchen das,
damit wir nicht abhängig sind vom Export, damit wir unsere eigene Wirtschaft im Lande stärken.
({27})
Ich kann Ihnen ganz klar sagen, was uns die Reichtumspflege in den letzten Jahren kostete: 300 Milliarden
Euro. Und was haben wir in den letzten drei Jahren real
für die Bankenkrise ausgegeben? 300 Milliarden Euro.
Das erklären Sie einmal den Leuten. Sie beantragen,
dass die Toilette in einer Schule repariert wird, und Sie
sagen: Kein Geld. - Aber für diese Dinge ist immer genügend Geld vorhanden. Das ist nicht nachvollziehbar.
In Brüssel ging es um zwei Dinge: Erstens. Wer bezahlt die Kosten? Das zweite Thema waren die EuroBonds. Nun haben die Banken gesagt, dass sie freiwillig
auf 21 Prozent des Wertes ihrer Griechenland-Anleihen
etc. verzichten wollen. Das klingt schon fast edel. Nun
hat Ihr Wirtschaftsweiser Herr Bofinger aber ausgerechnet, dass sie auf gar nichts verzichten. Die Banken haben
die Laufzeit der Anleihen so deutlich verlängert, dass sie
am Ende sogar ein Geschäft machen. Darauf kann man
sich bei den Banken immer verlassen.
Außerdem erwähnen die Banken nicht, dass die Europäische Zentralbank - das ist eine Bank, die allen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der Euro-Zone gehört,
vornehmlich den deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern - Kredite für 1,25 Prozent an Banken vergibt
und diese Banken Griechenland Geld für 11 oder mehr
Prozent geben. Das ist abenteuerlich. Die Banken machen Geld mit einer Überweisung, ohne irgendetwas
herzustellen, weder einen Stuhl noch einen Tisch. Nichts
ist hergestellt worden. Das sind reine Spekulationsgewinne, die uns später um die Ohren fliegen werden.
({28})
Nun zu den Euro-Bonds. Ich würde gerne auf die
Aussagen der Kanzlerin und der FDP zu sprechen kommen. Sie von der FDP lehnen Euro-Bonds ab. Wenn ich
Sie richtig verstanden habe, dann hat die FDP den Mut
von 40 Jahren zusammengenommen und gesagt: Wenn
die Kanzlerin Euro-Bonds einführen sollte, verlassen wir
die Regierung. Ich habe Sie richtig verstanden? - Gut.
Jetzt muss ich Ihnen Folgendes sagen: Wir haben die
Euro-Bonds.
({29})
Ich werde es Ihnen ganz kurz belegen - passen Sie auf -:
Euro-Bonds heißt, dass man gemeinsam für die Schulden haftet. Dass das vertragswidrig ist, ist etwas ganz anderes. Ich sage nur, dass wir sie haben. Warum? Weil die
Europäische Zentralbank, die all unseren Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern gehört, Staatsschulden von Griechenland, Portugal, Irland, Italien und Spanien aufgekauft hat, und zwar im Wert von 129 Milliarden Euro.
Den privaten deutschen Banken und Versicherungen hat
sie ein Drittel dieser Staatsschulden abgekauft. Meine
erste Frage ist: Wer hat das eigentlich der Europäischen
Zentralbank genehmigt?
({30})
Es war doch klar, dass das nichts mehr wert ist. Ist das
nicht ein eindeutiger Fall von Untreue? Der zweite Punkt
ist: Jetzt haften wir gemeinsam dafür. Das bekommen
Sie gar nicht weg. Die Lidl-Kassiererin, Herr
Ackermann, wir alle haften für diese Staatsschulden;
denn sie gehören jetzt der Europäischen Zentralbank.
Damit haben wir indirekt die Euro-Bonds eingeführt.
Jetzt gibt es nur noch zwei Möglichkeiten für Sie von
der FDP: Entweder Sie treten heute aus der Regierung
aus, weil Sie ja gesagt haben, dass Sie das in diesem Fall
machen würden, oder Sie hören mit Ihrem Geschwätz
auf. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht; das will ich
ganz klar sagen.
({31})
Nun soll morgen eine Debatte zum Rettungsfonds
stattfinden, und zwar dergestalt, dass dieser auf 780 Milliarden Euro erhöht werden soll. Sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland
bitte, dass sie nicht mehr für Schulden in Höhe von
123 Milliarden Euro haften, sondern dann für Schulden
in Höhe 211 Milliarden Euro. Das sind 88 Milliarden
Euro mehr. Das ist doch wohl nicht nichts. Sie können
nicht ernsthaft behaupten, dass Sie damit rechnen, dass
das Geld nicht in Anspruch genommen wird. Ich sagte es
schon: In den letzten drei Jahren wurden bereits 300 Milliarden Euro in Anspruch genommen.
Warum können Sie darauf nicht hoffen? - Sie können
nicht darauf hoffen, weil Sie einen völlig falschen Weg
gehen, und zu dem komme ich noch. Was muss jetzt also
geschehen? - Die Linke wird Ihnen jetzt erklären, was
Sie eigentlich zu tun hätten.
({32})
- Wissen Sie, ein bisschen nervt mich das auch, denn Sie
hören so selten. Langsam hören Sie aber. Sie hören immer verspätet.
Das Erste, was passieren muss, ist dies: Die Banken
müssen auf ihre eigentlichen Funktionen zurückgeführt
werden. Sie sind Dienstleistungsunternehmen für Unternehmen und für Privatpersonen und nichts anderes. Wir
brauchen keine Leerverkäufe, wir brauchen keine
Hedgefonds. Sie müssen das endlich regulieren. Haben
Sie einmal den Mut, sich Ackermann gegenüberzustellen und zu sagen: Schluss, wir machen das jetzt anders.
Wir sind die demokratisch gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter.
({33})
Wir müssen die großen privaten Banken dezentralisieren
und öffentlich-rechtlich gestalten. Ich weiß, dass Sie sagen: Die Landesbanken haben auch nicht funktioniert.
({34})
Das stimmt, und die Landesbanken, die pleitegingen,
waren alles Banken aus CDU-regierten Ländern. Davon
einmal abgesehen kann ich Ihnen den Fehler nennen. Sie
sind pleitegegangen, weil man den Landesbanken gesagt
hat: Ihr müsst spekulieren wie die großen privaten Banken. - Daran sind sie zugrundegegangen. Erst regulieren, dann öffentlich-rechtliche Institutionen schaffen.
({35})
Die Sparkassen sind nicht unser Problem. Ganz im
Gegenteil, in Brüssel hat man immer über die Sparkassen gemeckert. Jetzt sagt man dort kein Wort mehr, weil
die Sparkassen in der Krise tapfer und gut standen; eben
weil sie öffentlich-rechtlich waren und nicht weltweit
spekuliert haben.
({36})
Wir brauchen in der Euro-Zone eine Bank für öffentliche Anleihen, die zu günstigen Zinsen Kredite an Staaten vergibt. Dort können dann auch die Euro-Bonds,
über die ich gesprochen habe, gehalten werden. EuroBonds würden den Euro natürlich stabilisieren. Sie können keine Binnenwährung einführen. Wir haben dagegen
gestimmt. Sie wollten die Binnenwährung von Griechenland bis Deutschland. Nun haben wir sie, jetzt müssen wir sie auch retten, aber nicht dadurch, dass wir das
- wie Sie - nicht zur Kenntnis nehmen, sondern dadurch,
dass wir ernst nehmen, dass es sich um eine Binnenwährung handelt.
({37})
Die ganze Welt steht vor einer tiefen Rezession. Die
Börsen spielen verrückt, und Ihr einziges Rezept ist Sparen. Was machen Sie mit Griechenland? - Was machen
Sie mit den anderen Ländern? - Sie fordern Lohnkürzungen und die Kürzungen von Renten und Sozialleistungen sowie eine Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Das ist all das, was Sie in Deutschland schon eingeführt
haben. Sie fordern die Streichung von Investitionen und
Billigverkäufe von öffentlichem Tafelsilber. Das ist Ihr
Rezept. Sagen Sie mir einmal, wie Griechenland auf
diese Art und Weise Steuern einnehmen soll. Sie führen
dort alles zurück. Die Griechen dürfen nichts mehr investieren.
Sie setzen dadurch all das Geld in den Sand. Das ist
albern. Wir hätten nach dem Zweiten Weltkrieg lernen
müssen. Der Marshallplan war richtig. Man muss aufbauen, dann fließen auch wieder Steuereinnahmen. Es
gilt also: Hoch mit den Löhnen, hoch mit den Renten,
hoch mit den Sozialleistungen, mehr Investitionen.
({38})
Das ist das Rezept für Griechenland und für Deutschland.
({39})
Frau Bundeskanzlerin, wenn ich etwas zu entscheiden
gehabt hätte, dann hätte ich den Griechen auch Bedingungen gesetzt. Das muss man auch. Wenn man denen
Geld gibt, dann darf man das. Ich hätte aber ganz andere
Bedingungen gesetzt. Ich hätte erstens gesagt: Ab jetzt
erhalte ich von euch immer richtige Zahlen. Das darf
man verlangen.
({40})
Zweitens hätte ich gesagt: Die tägliche Steuerhinterziehung ist wirksam zu bekämpfen. Wenn wir uns hierfür
ein System ausgedacht haben, dann können wir es auch
in Deutschland einführen.
({41})
Dann hätte ich gesagt - das ist mir jetzt ganz wichtig -:
Vom Bruttoinlandsprodukt, von der wirtschaftlichen
Leistung her hat Griechenland den größten Anteil an
Ausgaben für Rüstung. Die Griechen geben 2,8 Prozent
ihrer Wirtschaftsleistung für Rüstung aus. In Deutschland liegt dieser Anteil bei 1,3 Prozent. Auch Frankreich
und Großbritannien liegen in diesem Bereich. Frau Bundeskanzlerin, warum haben Sie von Griechenland nicht
verlangt, die Rüstungsausgaben sofort zu halbieren? Das
wäre wichtig gewesen.
({42})
Ich glaube, den Grund zu kennen. Deutschland ist der
drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Wir verkaufen unsere Waffen nach Griechenland und, wie wir wissen,
nicht nur nach Griechenland.
Die 2 000 reichsten Familien Griechenlands besitzen
80 Prozent des Vermögens in Griechenland. Ich bitte Sie,
das ist noch überzogener als in Deutschland. 2 000 Familien, also weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung,
besitzen 80 Prozent des Vermögens. Ich hätte die Bedingung gestellt, für diese 2 000 Familien eine drastische
Vermögensteuer einzuführen. Das machen Sie aber
nicht.
({43})
Ich habe schon gesagt, was mit den Löhnen, Renten
und Sozialleistungen passieren muss. Außerdem brauchen wir eine Finanztransaktionsteuer. Nun sagen auch
Sie und Sarkozy das. Aber wir brauchen kein Gerede,
wir brauchen endlich diese Steuer. Führen Sie sie zumindest in Deutschland ein; Schritt für Schritt werden wir
sie in ganz Europa bekommen.
({44})
Anders kann man Spekulationen nicht bekämpfen.
Wir brauchen auch die europäische Vermögensteuer;
über die sprach ich bereits. Übrigens ist interessant:
Sarkozy beginnt, es zu begreifen. Berlusconi - er ist sowieso ein völlig eigener Typ - hat sie wieder gestrichen.
Jetzt gibt es einen Generalstreik in Italien. Dies ist in
Deutschland leider verboten; ein Generalstreik sollte
auch in Deutschland erlaubt werden.
({45})
Wieso dürfen wir eigentlich weniger als die Italienerinnen und Italiener? Davon einmal abgesehen, wir haben
nun die Reaktion, dass Sie das einfach ablehnen. Sie begreifen nicht, dass Sie mit einer Vermögensteuer sogar
das System retten können, das Sie so lieben. Das ist
nicht nachvollziehbar. Wir brauchen auch Investitionen
in Infrastruktur, Umwelt und Bildung.
Nun komme ich zu einem anderen Thema: Libyen. Es
stört mich ungeheuer, wie selbstverständlich auch von
SPD und Grünen nach Bomben gerufen wird.
({46})
- Ja, ist es falsch? Sie haben immer gesagt: Im Sicherheitsrat hätte man der Bombardierung Libyens zustimmen müssen. Ihre Theorie lautet doch: Bomben verjagen
Gaddafi und helfen den Demokratie- und Freiheitskämpfern. Ich sage Ihnen: Das ist die größte Differenz zwischen den Linken und Ihnen. Wir akzeptieren Krieg als
Mittel der Politik auf gar keinen Fall.
({47})
Hier unterscheiden wir uns diametral.
Ich möchte Ihnen das auch begründen. Ich bin jetzt in
der Situation, Außenminister Westerwelle verteidigen zu
müssen, was ihm wahrscheinlich gar nicht recht ist.
({48})
- Trotzdem sage ich es; da müssen Sie durch, Herr
Westerwelle. - Ihre Stimmenthaltung war zwar nicht
völlig richtig - ein Nein im Sicherheitsrat wäre besser
gewesen -,
({49})
aber auf jeden Fall war die Stimmenthaltung viel besser
als das Ja, das SPD, Grüne und in Wirklichkeit auch
CDU/CSU und immer mehr Teile der FDP verlangt haben. Warum ist es denn so falsch? Wir haben so viele
Diktatoren auf der Welt. Wollen Sie die alle wegbomben? Was ist Ihr Maßstab? Erklären Sie das einmal der
Bevölkerung.
Jetzt höre ich: Für 83 Millionen Euro hat die Regierung Waffenlieferungen an Gaddafi genehmigt, und
dann bombt sie ihn weg. Der amerikanische, der britische und auch der deutsche Geheimdienst haben mit
Gaddafi zusammengearbeitet. Deutsche Polizisten haben
dort in ihrer Freizeit ausgebildet. Das alles wurde mit
Gaddafi gemacht. Eines Tages ändern Sie plötzlich Ihre
Meinung und sagen: Er ist ein Schurke, und jetzt: Wir
bomben ihn weg. Das ist nicht nachvollziehbar. Das ist
verlogen. Das ist nicht glaubwürdig. Das ist das Entscheidende.
({50})
Jetzt hören wir, dass Gaddafi sogar G-36-Sturmgewehre hatte; deren Export ist nie erlaubt worden. Ich
frage die Bundeskanzlerin: Wie sind die dahin gekommen? Herr Kauder, wenn Sie das nicht wissen, dann haben Sie keine Kontrolle über den Export von Rüstungsgütern. Das ist unverantwortlich.
({51})
Ich möchte wissen, wer wann wohin Waffen verkauft.
Nun bleibe ich einmal bei der Theorie der Grünen und
der SPD, dass das den Demokratie- und Freiheitsbewegungen hilft und den Diktatoren schadet. Erklären Sie
mir zwei Sachen: Warum haben Sie noch nie Bomben
auf Bahrain gefordert, und warum haben Sie noch nie
Bomben auf Syrien gefordert?
({52})
Ich kann es Ihnen sagen: In Bahrain ist der größte amerikanische Stützpunkt, in Bahrain sind die Saudi-Araber
einmarschiert, an die Sie alle zusammen Waffen für
700 Millionen Euro verkauft haben, und die Saudi-Araber schießen auf die Freiheits- und Demokratiedemonstranten. Deshalb kommen Sie gar nicht auf die Idee,
dort zu bombardieren.
({53})
Bei Syrien gibt es auch eine einfache Begründung. Syrien hat nur ein bisschen Erdöl, und Libyen hat ganz
viel. Ich sage Ihnen - und das kotzt mich wirklich an -:
Seit Tausenden Jahren stecken hinter Kriegen - das sieht
man, wenn man genau hinschaut - immer ökonomische
Interessen.
({54})
Lassen Sie sich da nicht mit hineinziehen, wie Sie es in
den letzten Jahren ständig gemacht haben.
({55})
An Saudi-Arabien verkaufen wir jetzt auch noch
200 Panzer. Eines darf ich noch sagen: Al-Qaida - das
ist nun wirklich eine Terrorausbildungsorganisation wird ausschließlich von Saudi-Arabien finanziert. Die
besten Beziehungen der US-Regierung und der deutschen Regierung bestehen zu Saudi-Arabien. Es ist völlig unglaubwürdig, zu sagen, dass man für Demokratie
bombt, wenn man mit den Terroristen und den Diktatoren zusammenarbeitet. Das geht nicht auf. Das sage ich
hier ganz klar.
({56})
Sie haben gesagt, Sie hätten die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft. Es gibt immer den Streit, dass Union
und FDP meinen, es liege an ihnen, und SPD und Grüne
meinen, es liege an ihnen. Ich kann Sie beruhigen: Sie
alle haben Ihren Anteil daran, und zwar, weil in Wirklichkeit die Vollzeitbeschäftigungsplätze in den letzten
zehn Jahren um 1,8 Millionen abgebaut wurden. Die
Zahl der Geringverdiener und der prekär Beschäftigten
hat zugenommen. Darauf sind Sie auch noch stolz. Sie
auf der einen Seite sagen immer, es sei Ihr Werk, und Sie
auf der anderen Seite sagen, es sei Ihr Werk. Es ist leider
Ihr gemeinsames Werk. Aber Geringverdiener und prekär Beschäftigte sind nicht die Lösung für unser Land.
Wir brauchen wieder Vollzeitjobs.
({57})
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagten, Sie seien stolz,
dass die Jugendarbeitslosigkeit halbiert wurde. Sie kommen aus Mecklenburg-Vorpommern, ich war gerade
dort. 75 Prozent der Menschen bis 25 Jahre, die eine Beschäftigung haben, sind Geringverdienerinnen und Geringverdiener. Das ist doch keine Lösung. Das ist ein zunehmendes Problem.
({58})
Was glauben Sie, wie sauer die sind? Leider gehen manche dazu über, die NPD zu wählen, was wir alle nicht
wollen. Also müssen wir diese Probleme so schnell wie
möglich lösen, und zwar im Bildungsbereich genauso
wie auf dem Arbeitsmarkt.
({59})
Lassen Sie mich noch sagen, dass wir ein anderes
System im Gesundheitswesen brauchen. Der Beitragssatz, den die Arbeitgeber für die Krankenversicherung
zahlen müssen, beträgt 7,3 Prozent. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen schon allein deshalb mehr,
nämlich 8,2 Prozent, weil Sie, SPD und Grüne, die paritätische Finanzierung aufgegeben haben. Rechnet man
2 Prozent für Praxisgebühr und Arzneien und noch bis
zu 2 Prozent für höhere Versicherungsbeiträge hinzu,
sind wir bei 12,2 Prozent.
Wir schlagen Ihnen etwas anderes vor: Jede Bürgerin
und jeder Bürger zahlt vom gesamten Einkommen einen
Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung. Eine private Versicherung kann man zusätzlich abschließen, aber
nicht für die eigentliche Versorgung. Wir schlagen vor,
dass wir alle in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen, auch Ackermann, auch alle Bundestagsabgeordneten. Wenn wir das machten, hätten wir einen Beitragssatz von nur 5,25 Prozent für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und von 5,25 Prozent für die Unternehmen. Wir senkten für die Unternehmen - ich bitte alle
Unternehmerinnen und Unternehmer, das zu bedenken,
wenn sie wählen - den Beitragssatz zur Krankenversicherung von 7,3 Prozent auf 5,25 Prozent. In einer Studie wurde nachgewiesen, dass all dies ginge. Warum gehen Sie diese Schritte nicht? Warum gehen Sie den
umgekehrten Weg und belasten nur Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer?
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
({0})
Ich muss zum Ende kommen? Herr Thierse, das tut
mir sehr leid. Ich hätte Ihnen gern noch die Rente erklärt; das muss ich dann beim nächsten Mal machen.
({0})
Die Steuer hätte ich Ihnen auch gerne noch erklärt; auch
das muss ich beim nächsten Mal machen.
({1})
Eines sage ich Ihnen zum Schluss: Ihre Regierung,
Frau Bundeskanzlerin, ist am Ende. Sie laufen den Banken nur noch hinterher. Sie haben nicht die Kraft, die
Diktatur der großen privaten Banken, Fonds, Versicherungen und Hedgefonds, also des Finanzmarktes, zu brechen, um Frieden, soziale Gerechtigkeit, ökologische
Umgestaltung und Demokratie zu erkämpfen, was wir
dringend brauchen. Ich sage Ihnen auch: Es gibt nur
noch eine politische Partei, die diese Krise meistern
kann;
({2})
es tut mir leid, Ihnen das so klar und eindeutig sagen zu
müssen. Das ist die Partei, die bei allen diesbezüglichen
Analysen immer richtig lag, was Sie nur viel zu langsam
begreifen.
({3})
Es ist die Partei, die Sie alle besonders mögen, nämlich
Die Linke.
({4})
Das Wort hat nun Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
ich glaube, Sie hatten von früher noch die Melodie im
Kopf: „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht.“
({0})
Dieser Haushalt ist ein Stabilitätshaushalt; solide
Haushalte sind eine Vorsorge gegen Inflation. Dieser
Haushalt ist ein Zukunftshaushalt; wir klotzen bei Bildung und Innovation. Dieser Haushalt ist ein Wirtschaftswachstumshaushalt; wir verstetigen die Wachstumschancen. Herr Steinmeier hat sich, als er hier war,
als Schwarzmaler betätigt; da war viel Voodoo, wenig
Ökonomie.
Auch ich verfolge die Entwicklung der Börsen und
der Frühindikatoren und führe viele Gespräche. Wir kritisieren oft das Quartalsdenken. Wir sollten auch in der
Politik in längeren Linien denken, nach klaren Prinzipien handeln. Dann verheddern wir uns auch weniger.
Deutschland kann auch in diesem Jahr stärker wachsen
als sein Potenzial; bis zu 3 Prozent ist die Erwartung.
Wir steuern auf eine Erwerbstätigenzahl von 41 Millionen zu. So viele Erwerbstätige gab es in Deutschland
noch nie.
({1})
Das soll die Opposition einmal zur Kenntnis nehmen.
Sie reden Deutschland herunter. Das ist falsch. Das ist
schlecht. Das ist unverantwortlich.
({2})
Deutschland steht gerade in dieser Zeit in einer besonderen Verantwortung. Wir sind mit anderen Wachstumszentren in den Schwellenländern China, Indien,
Brasilien und Russland ein Faktor, der ein Stück Stabilität in die Entwicklung hineinbringt. Entscheidend war
beim Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaftsentwicklung auch der gewerblich-industrielle Sektor. Deshalb
werden wir keine Deindustrialisierung in Deutschland
zulassen.
({3})
Die Realwirtschaft muss im Vordergrund stehen. Für
sie müssen wir weiterhin die richtigen Voraussetzungen
schaffen. Die Finanzwirtschaft hat eine dienende Funktion. Der scheidende Vorsitzende der Deutschen Bank
hat recht: Wir müssen weg von einer Seifenschaumökonomie, hin zu einer klaren realwirtschaftlichen Orientierung. Deutschland ist der Stabilitätsanker in Europa und
in der Welt. Wir können uns nicht von der Welt abkoppeln. Aber Deutschland ist gut aufgestellt.
Die Lieblingsworte der Opposition lauten „auf
Pump“. Ich will Ihnen deutlich sagen: Die größte Pumpstation sitzt in den Reihen der Sozialdemokraten. Der
Genosse Pump war Peer Steinbrück mit 86 Milliarden
Euro Schulden.
({4})
Das war ein Rekordwert. Wir haben diese Summe auf
ein Drittel reduziert. Wir werden im nächsten Jahr bei
der Nettokreditaufnahme unter 30 Milliarden Euro bleiben. In der Oppositionsbaracke ein Wünsch-dir-was-Papier zu schreiben, ist das eine. Es konkret umzusetzen,
ist das andere. Das machen wir.
({5})
Da Herr Gabriel immer „Verfassungsbruch“ schreit,
wenn er denn hier ist, empfehle ich ihm, nach Nordrhein-Westfalen zu schauen. Der Bund bringt seine
Kasse in Ordnung und hilft Ihnen sogar bei der WestLB, dieser Ausgeburt sozialdemokratischer Fehlentwicklungen.
({6})
Wie rot-grüne Haushaltspolitik aussieht, kann man bei
Frau Kraft sehen und in Gerichtsurteilen nachlesen. Sie
fordern eine Entschuldungspolitik, wir machen sie. Sie
gehen weiter voll in die Schulden hinein, wir machen genau das Gegenteil.
({7})
Wie sehen denn Ihre Vorschläge aus? Sie schlagen
weitere Steuererhöhungen und utopisch hohe Mindestlöhne vor. Ihre Vorschläge sind ein Rezessionsprogramm. Sie behaupten allen Ernstes, ein Mindestlohn
von 8,50 Euro saniere die Sozialkassen. Das ist eine
Konkurrenz zu Herrn Gysi, der 10 Euro fordert.
({8})
Das ist offensichtlich ein Wettbewerb: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Sozi im ganzen
Land?
({9})
Aber die Realität sieht anders aus. Dort, wo Sie regieren, werden Schulden gemacht, dass es kracht. Rot-Grün
steht für Big Government. In Baden-Württemberg haben
Sie die Einführung einer neuen Schuldenobergrenze verschoben. Sie wollen erst 2020 auf eine Nullverschuldung
kommen. Sie schaffen dort ein neues Ministerium. In
Rheinland-Pfalz haben Sie als Erstes zwei weitere
Ministerien geschaffen. Statt zu sparen, blähen Sie auf.
Das nennen Sie dann Abbau von Schulden. Das ist das
genaue Gegenteil.
({10})
In Bremen bekommt ein ausscheidender Senator von den
Grünen eine staatliche Luxusrente. Rot-Grün macht sich
fett am Staat.
Wir als christlich-liberale Koalition arbeiten solide.
Wir achten Vorgaben der Schuldenbremse. Wir setzen
sie schneller um, als wir das selbst ursprünglich für möglich gehalten haben. Wir machen den schlanken Staat.
Wir erarbeiten uns Spielräume. Wir wollen auch ein
Stück Entlastung schaffen.
Ich bin gespannt, wie die Sozialdemokraten mit ihren
Vorfeldgewerkschaftern dem Bandarbeiter bei VW und
der Krankenschwester erklären wollen, dass sie durch
die kalte Progression netto weniger in den Lohntüten haben. Das wird ein interessantes Thema werden.
({11})
Hier geht es auch um einen Beitrag zur Stabilisierung
der Binnennachfrage und um vernünftige Tarifabschlüsse.
Auch bei den Sozialabgaben gibt es Entlastungspotenzial. Eine Absenkung um mindestens 0,8 Prozentpunkte müsste 2013 möglich sein. Damit kann man rund
Hunderttausend Arbeitsplätze schaffen, wenn wir entsprechende Kräfte finden. Unser Problem ist heute vielfach ein Mangel an Fachkräften.
Deshalb haben wir den nationalen Ausbildungspakt
geändert. Statt Lehrstellenmangel haben wir heute vielfach schon einen Lehrlingsmangel zu beklagen. Deshalb
müssen wir die Ausbildungsreife stärken. Wir brauchen
auch eine Zuwanderung in Qualität.
({12})
Deshalb rollen wir denjenigen, die Qualitäten haben, bei
uns einen roten Teppich - bei Ihrem Schreien keinen roten, sondern besser einen blau-gelben oder notfalls einen
schwarzen Teppich - aus.
({13})
Wir mobilisieren die Potenziale. Wir müssen auch die
Anreize für ältere Arbeitnehmer verstärken. So erhöhen
wir etwa die Hinzuverdienstgrenze für Rentner.
Auch der Bundesagentur für Arbeit haben wir Beine
gemacht. Es kann doch nicht richtig sein, dass die Bundesagentur bei 5 Millionen Arbeitslosen 90 000 Beschäftigte und bei unter 3 Millionen Arbeitslosen 120 000 Beschäftigte hat. Hier muss Qualität vor Quantität, mehr
Vermittlung und weniger Verwaltung die Zielrichtung
der Ausgestaltung sein.
({14})
Die Grünen faseln dann von einem gespaltenen Arbeitsmarkt. Ja, diese Spaltpilze haben Sie gepflanzt. Die
1-Euro-Jobs waren ein grün-rotes Projekt. Sie haben
Hunderttausenden Menschen ein Stigma gegeben. Wir
machen aus rot-grünen 1-Euro-Jobs schwarz-gelbe Dauerjobs - das ist der Unterschied -,
({15})
weil richtige Arbeit etwas mit Menschenwürde, mit Teilhabe und mit dem Selbstwertgefühl von Menschen zu
tun hat.
Ich sage hier auch klar: Ich bekenne mich zum
Wachstum. Ich finde Wachstum gut. Ich finde Wachstum
toll.
({16})
- Wir haben ja Wachstum, wenn Sie es noch nicht bemerkt haben. - Ohne Wachstum gibt es keinen weiteren
Wohlstand. Ohne Wachstum gibt es keine Jobs.
(Dr. Diether Dehm ({17}): Lesen Sie
das Handelsblatt!
Das rufe ich insbesondere den Grünen zu. Sie wollen uns
Stagnation und Nullwachstum als Lebensqualität verkaufen. Das ist totaler Quatsch.
({18})
Die Natur zeigt: Was nicht wächst, stirbt. - Frau Roth,
Sie müssen einmal Pflanzen betrachten. Dann sehen Sie
die Realität.
({19})
Wahrscheinlich werden Sie uns demnächst noch ausgebrannte Autowracks als Wellnessoasen verkaufen
wollen. Ich finde es sehr bemerkenswert, was die Möchtegernbürgermeisterin Renate Künast zum Thema „brennende Autos“ öffentlich geäußert hat. Sie findet es unanständig, diese Straftat im Wahlkampf zu thematisieren.
Das gilt vielleicht für einige ihrer Sympathisanten an der
Basis. Da erklärt ein Parteifreund der Grünen, die Brandanschläge seien ein Konjunkturprogramm der besonderen Art. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Als Konjunkturprogramm der besonderen Art
bezeichnet sie der innenpolitische Sprecher der Grünen
in Berlin. Das spricht Bände über Ihre Einstellung zur
Gewalt.
({20})
Und Sie plakatieren: Renate arbeitet. - Wo arbeitet denn
Renate: im Bund, im Land? Sie wollen doch gar nicht arbeiten. Sie wollen nur den Sessel im Roten Rathaus.
({21})
Das erinnert mich sehr an Herrn Gysi, kurzzeitig
Wirtschafts- und Frauensenator in Berlin. Gestalten und
verwalten ist etwas anderes, als im Ledersessel zu sitzen.
Lieber Herr Kollege Gysi, das hatten Sie sich so schön
ausgemalt: Sie setzen als Parteivorsitzende zwei Marionetten hin. Gewollt haben Sie wahrscheinlich eine Art
Augsburger Puppenkiste. Bekommen haben Sie eine Rocky Horror Picture Show. Da wird Castro gratuliert; da
wird der Mauerbau verharmlost. Der männliche Vorsitzende steht für Hummer, die weibliche Vorsitzende für
Sichel. So viel Unvernunft hat selbst der Sozialismus
nicht verdient.
({22})
Meine Damen und Herren, die Welt ändert sich rasant. In unserer Nachbarschaft, in Nordafrika und im Nahen Osten, weht der Wind des Wandels. Menschen sind
bereit, für Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechte ihr Leben zu riskieren. Bemerkenswert ist für
mich: Während der Proteste gegen die Despoten wurden
keine amerikanischen oder israelischen Flaggen verbrannt. Der arabische Frühling zeigt: Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind universal. Die
westlichen Demokratien müssen Verantwortung übernehmen. Aus dem arabischen Frühling darf keine Eiszeit
werden. Die Freiheitsbewegungen in unserer Nachbarschaft eröffnen eine große Chance für ein friedliches Zusammenleben.
Es kann aber auch zu Komplikationen kommen, etwa
im Verhältnis von Israel zu Ägypten. Für uns ist das
Existenzrecht Israels Staatsräson; darüber gibt es nichts
zu diskutieren. Das ist wohl begründet.
({23})
Dabei stehen wir historisch wohlbegründet in einer besonderen Verantwortung. Wenn ich aber aus der dritten
oder vierten Reihe der Opposition gute Ratschläge etwa
zu Palästina vernehme, kann ich nur sagen: Diese Themen eignen sich nicht für pressepolitische Kurzschlusshandlungen. Der mögliche Frieden in Nahost darf nicht
in parteipolitischem Klein-Klein aufs Spiel gesetzt werden. Wir sind froh, dass es den Libyern gelungen ist, das
Gaddafi-Regime zu stürzen. Dazu hat auch der internationale Militäreinsatz beigetragen. Wir haben Respekt
für das, was unsere Partner zur Erfüllung der UN-Resolution geleistet haben. Die Bundesregierung wird das libysche Volk bei der anstehenden schwierigen Transformation tatkräftig unterstützen. Deutschland gibt die
gesperrten Gaddafi-Milliarden frei. Deutschland hilft
mit Know-how, Technik und Experten.
Dann kommt Joschka Fischer, das grüne MichelinMännchen aus dem noblen Grunewald, und erklärt uns
die Welt.
({24})
Jener Joschka Fischer, der gegen die Wiedervereinigung
Deutschlands war, der so gerne den Kapitalismus überwinden wollte
({25})
und sich heute als gut bezahlter Lobbyist durch die Berliner Salons schiebt, hat so oft danebengelegen, dass er
lieber schweigen sollte.
({26})
Der Platz Deutschlands in dieser Welt, die sich rasant
verändert, ist Europa. Deutschland muss den europäischen Weg gehen. Auch das ist Staatsräson. Isolation
und eine singuläre Position Deutschlands wären fatal.
Das sind wir auch unseren Kindern und Enkelkindern
schuldig: eine klare europäische Perspektive. Die Jugend
will Europa gestalten. Wir spüren ihre Unruhe, ob in
Spanien oder in anderen europäischen Ländern. Von außen sieht Europa zum Teil sehr alt aus. Ja, wir wollen
Europa, und wir brauchen Europa, aber wir müssen es
richtig machen. Europa muss eine klare Konstruktion
haben: eine Stabilitätsgemeinschaft. Ein Übertünchen
reicht nicht aus; es muss richtig konstruiert werden.
Die Schuldenkrise zwingt uns zu mehr Koordinierung. Leider wurde der Stabilitätspakt zerrissen, zuerst
von Deutschland unter Grün-Rot und von Frankreich.
68-mal wurde gegen den Stabilitätspakt verstoßen; nie
gab es eine Sanktion. Damit ist er leider zerrissen.
({27})
Deshalb müssen wir einen neuen Stabilitätspakt schaffen. Der ESM ist dabei ein zentraler Punkt. Das Verhalten Griechenlands ist nicht in Ordnung. Griechenland
muss sich an die Vereinbarungen halten. Ohne Leistung
keine Gegenleistung! So einfach ist das.
({28})
Ich wundere mich aber über manche Äußerung der
Opposition. Das gilt vor allem für die SPD. Zuerst hat
die SPD überhaupt keine Meinung zu Griechenland. Sie
haben sich damals kraftvoll enthalten, wahrscheinlich
weil es Sigmar Gabriel, der Sirtaki-Siggi, so wollte.
({29})
Wo waren Herr Steinmeier, der auch jetzt nicht anwesend ist, und Herr Steinbrück, als es damals um die Entscheidung ging? Wo war denn die politische Führungsverantwortung der SPD, als die Entscheidung anstand?
Nein, damals haben Sie sich in die Furche gelegt und
weggeduckt. Sie konnten weder Ja noch Nein sagen. Sie
hatten keine Meinung in einer solch wichtigen Frage.
Das spricht nicht für Führungsstärke und Regierungsfähigkeit.
({30})
Damals war von Ihnen weit und breit nichts zu sehen.
Heute haben Sie mindestens zwei Meinungen. Ihr
Kanzlerkandidat in spe darf für die Galerie über Schuldenschnitte schwadronieren. Ihr Kanzlerkandidat a. D.
wollte bislang Euro-Bonds. Er hat aber heute einen
leichten Rückzieher gemacht. Meine Damen und Herren,
Euro-Bonds sind der falsche Weg. Das ist Zinssozialismus, weil sie die Mechanismen des Zinses außer Kraft
setzen.
({31})
Herr Steinmeier sollte das auch Herrn Steinbrück und
Herrn Gabriel sagen. Dass er heute im Plenum einen
Rückzieher gemacht hat, hat seinen Grund: weil ihm das
Verfassungsgericht eine schallende Ohrfeige erteilt und
klare Aussagen zu diesem Thema getroffen hat.
({32})
Euro-Bonds sind ökonomisch, politisch und rechtlich ein
Holzweg. Das müssen Sie einsehen. Sie sind wieder einmal auf dem falschen Pfad.
({33})
Es war falsch von Ihnen, den Stabilitätspakt zu zerreißen. Auf dem falschen Trip sind Sie wieder mit den
Euro-Bonds; denn das ist kein Mechanismus, der in einem solchen Konstrukt, wie Europa es ist, wirkt. Sie haben Ihre Skepsis doch schon eingeräumt. Ich mache mir
manchmal die Freude und lese Ihre Papiere. In der sogenannten Roadmap der SPD zur Rettung der Währungsunion heißt es über Euro-Bonds wörtlich:
Missbrauch lässt sich … durch ein effektives gemeinsames europäisches Haushaltsregelwerk abstellen.
Selbst Sie haben die Gefahr des Missbrauchs erkannt
und in Ihrem Papier davor gewarnt. Sie haben aber aus
populistischen Gründen von Euro-Bonds geschwafelt,
obwohl diese keine Lösung darstellen.
({34})
Diejenigen, die den Stabilitätspakt beerdigt haben, flüchten erneut in Illusionen. Was hat der Weltökonom
Joschka Fischer dazu gesagt? Ich zitiere wörtlich
Joschka Fischer, den großen Ökonomen und hochbezahlten Lobbyisten vieler Konzerne:
Wir sind besonders froh über die wirtschaftlichen
Erfolge Griechenlands und die Anstrengungen, die
unternommen werden, sowie über die Fähigkeit
Griechenlands, dem Euro beizutreten.
So war Ihre Einschätzung. Auch sie war falsch. Sie haben den Grundstein für die Fehlentwicklung gelegt. Sie
sollten sich hier nicht vom Acker machen und herauswinden.
({35})
Ja, wir brauchen einen Stabilitätspakt II, und zwar mit
scharfen Regeln, damit er wirkt. Die Europäische Zentralbank kann nicht auf längere Zeit mit dem Aufkauf
von Anleihen fortfahren. Der Bundespräsident hat deutliche Worte der Kritik gefunden. Man kann ihnen etwas
abgewinnen; man kann seine Meinung teilen. Es ist
falsch, in der EZB, die eigentlich Geldpolitik machen
soll und in der jeder Staat eine Stimme hat, über Maßnahmen, die weitreichende finanzielle Konsequenzen
haben, zu entscheiden. Das ist Finanzpolitik, keine Geldpolitik. Deshalb ist es richtig, dass vom Sondergipfel der
Europäischen Union andere Strukturen auf den Weg gebracht werden, sodass sogenannte Sekundärmarktaufkäufe nur unter strengen Auflagen möglich sind. Hier
hat Deutschland ein höheres Stimmengewicht. Unser
Stimmengewicht beträgt etwa 30 Prozent. Wir haben die
Beteiligung privater Gläubiger durchgesetzt. Ein weiteres Stichwort ist die Insolvenzklausel für Staatsanleihen.
Der Kernpunkt ist die Wettbewerbsfähigkeit. Die Fehlentwicklungen der Strukturen sind der Grund für die europäische Misere. Man hat zu lange die Augen verschlossen. Das ist jetzt schlagartig klar geworden: Die
Strukturen müssen verändert werden. Deutschland als
Motor der europäischen Entwicklung darf nicht geschwächt werden, sondern die Schwächeren müssen gestärkt werden, damit sie mithalten können und Europa
insgesamt stärker wird.
({36})
Bei der Schuldenbremse ist eine glasklare Beteiligung
des Parlaments erforderlich. Auch hierzu hat das Bundesverfassungsgericht eine klare Aussage getroffen.
Das europäische Zeitalter ist vorbei. Zwei Drittel des
weltweiten Wirtschaftswachstums werden in den
Schwellenländern erzielt, in China, Indien, Brasilien,
Russland und anderen Ländern. In wenigen Jahren, im
Jahre 2040, werden die Vereinigten Staaten von Amerika
und die Europäische Union weniger als 7 Prozent der
Weltbevölkerung stellen. Es ist höchste Zeit, dass wir
Europa richtig gestalten und die Probleme anpacken, damit wir gemeinsam Zukunftsperspektiven entwickeln
können. Aber sich vor den Problemen wegzuducken, zu
kneifen und Pseudolösungen anzubieten,
({37})
wie Sie es aus politischer Opportunität machen, ist
falsch. Kehren Sie zurück zur Seriosität! Dann finden
Sie auch wieder mehr Zustimmung in den eigenen Reihen.
({38})
- Glauben Sie ja nicht, dass Ihr Zwischenhoch von
Dauer sein wird! Frau Roth, wo haben Sie in der Halbzeit gestanden? Das Wasser stand Ihnen über dem Kopf.
Selbst die Gummistiefel haben Ihnen nichts genutzt.
Wir lassen uns nicht beirren. Die christlich-liberale
Koalition setzt ihre Politik konsequent fort. Am Schluss
werden wir die Bestätigung finden. Ich sehe beste Chancen, dass wir in zwei Jahren erneut einen Wählerauftrag
bekommen.
({39})
Das Wort hat nun Jürgen Trittin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie stehen in der Mitte Ihrer zweiten
Amtszeit, und da ist es angemessen, Bilanz zu ziehen.
Ich will Ihnen durchaus zustimmen: Deutschland geht es
gut. - Der Bundesregierung geht es schlecht.
({0})
Dieser Feststellung muss man einmal nachgehen: Was
könnte das eine mit dem anderen zu tun haben? Beim
Bilanzziehen will ich mich nicht lange mit dem Problem
der FDP aufhalten.
({1})
Das ist ein Problem mit abnehmender Tendenz. Sie, Herr
Brüderle, haben hier belegt, warum FDP künftig nur
noch mit „Fast Drei Prozent“ übersetzt wird. Fast 3 Prozent, das ist auch die Prognose für Berlin.
({2})
Frau Merkel, Sie haben darauf verwiesen, was sich alles in den diversen Bundesländern bewegt. Schauen wir
uns doch einmal die Akzeptanz der Schwarz-Gelben in
den Bundesländern an: In Nordrhein-Westfalen haben
Sie die Mehrheit verloren. In Hamburg hat sich die CDU
bei Wahlen quasi halbiert. Das hat es historisch noch nie
gegeben. Sie sind in Baden-Württemberg nach 53 Jahren
- Sie haben da länger regiert als Gesine Lötzschs Freund
Fidel Castro in Kuba - in die Opposition geschickt worden.
({3})
Sie sind in Bremen als dritte Kraft hinter den Grünen gelandet. Auch dieser Tage sind Sie in Mecklenburg-Vorpommern bitter abgestraft worden. Sie müssen jetzt darum betteln, vor der Linkspartei den Vorzug zu erhalten.
Sie werden ihn bekommen; da bin ich ziemlich sicher.
Anders gesagt: Sie haben in den beiden Jahren, in denen Sie regiert haben, Hunderttausende von Wählerinnen und Wähler verloren. Wenn man das übersetzt: Sie
regieren in den Ländern heute 30 Millionen Deutsche
weniger als zu dem Zeitpunkt, an dem Sie in die Verantwortung gewählt worden sind.
({4})
Meine Damen und Herren, man kann fast Mitleid mit Ihnen haben. Sie haben ja alles versucht: Sie haben der
CDU in Hamburg eine Modernisierungskur bei den Grünen verordnet. - Sie haben sich halbiert. Sie haben als
Reaktion darauf gesagt: Okay, wir setzen auf die Reinkarnation von Franz Josef Strauß und bedienen den
rechten Rand mit Stefan Mappus. - Sie haben die Mitte
der Gesellschaft und damit die Mehrheit in BadenWürttemberg verloren. Sie haben in Bremen gesagt: Wir
tun gar nichts; wir verstecken uns. Das Ergebnis ist: dritter Platz.
Wissen Sie, was Sie haben? Sie haben den Volksparteibazillus. Fragen Sie einmal Sigmar Gabriel, was das
ist; die Genossen haben diesen Bazillus schon länger.
Das, was diesen Bazillus gefährlich macht, ist, dass die
alte Stärke der Volksparteien heute zu ihrem Problem
wird: die inhaltliche Breite. Niemand weiß mehr, wofür
die CDU in Wirklichkeit steht. Die CDU unter Helmut
Kohl, das war Atom, Bundeswehr und Gymnasium.
({5})
Sie, die CDU von heute, die Merkel-CDU, wollen die
Hauptschule abschaffen, Sie haben die Wehrpflicht ausgesetzt, und Sie schalten auf einen Schlag die Hälfte der
deutschen Atomkraftwerke ab.
({6})
Was ist passiert? Viele Menschen sagen sich: Da kann
man doch gleich die Grünen wählen.
({7})
Das hat zum Beispiel die Tochter des CDU-Bürgermeisters im Eichsfeld getan. Sie kandidiert jetzt auf einer
Liste der Grünen. Im Bayerischen Wald treten ganze
CSU-Ortsvereine zu uns über.
({8})
Das ist wahrlich eine neue Integrationsaufgabe, die wir
zu bewältigen haben.
({9})
Jede dieser Entscheidungen war richtig - das will ich
Ihnen gerne bescheinigen -: Aussetzen der Wehrpflicht,
Rückkehr zum Atomausstieg, Abschied von der Hauptschule. Aber Sie haben es nicht geschafft, irgendeine dieser richtigen Entscheidungen mit Ihrer Partei, mit Ihrer
Wählerschaft zu diskutieren. Jede dieser richtigen Entscheidungen hätte eines Parteitages bedurft, und da - in
der politischen Führung Ihrer Partei - haben Sie versagt.
({10})
Das gilt auch, wenn es um die Grundwerte der CDU
geht. Ich denke an zwei wesentliche Punkte, mit denen
die Union immer identifiziert worden ist: die soziale
Marktwirtschaft und Europa. Auch hier weiß niemand
mehr, wofür die Union tatsächlich steht.
Der Kern der sozialen Marktwirtschaft besteht doch
aus zwei Versprechen: das Versprechen des sozialen
Aufstiegs - das ist die freiheitliche Botschaft; jeder kann
es schaffen - und das des sozialen Ausgleichs. Diese
Botschaft lautet: Die, die es nicht schaffen, werden nicht
fallen gelassen.
({11})
Schauen wir uns diese beiden Versprechen an; messen
wir sie an der Wirklichkeit in diesem Land. Chancen
zum sozialen Aufstieg gibt es immer weniger. Diese Gesellschaft ist immer weniger durchlässig geworden. Ein
Sechstel aller Kinder lebt in Bedarfsgemeinschaften
nach Hartz IV. In Berlin ist es jedes vierte Kind. Diese
Armut wird vererbt, weil unsere Schulen Armut nicht
überwinden, sondern nur noch ein Stück soziale Selektion erbringen können. Kaum eines der betreffenden
Kinder wird eine Chance auf einen höheren Bildungsabschluss oder gar auf einen Universitätsabschluss haben.
Dann kommt Ihre Frau von der Leyen und erfindet ein
bürokratisches Bildungspaket, das kaum einem Kind
hilft.
({12})
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Es ist schön, dass
die Arbeitslosenzahlen zurückgehen.
({13})
- Ja, es ist sehr schön. Ich freue mich darüber. Vielleicht
bin ich da anders gestrickt als Sie.
Schauen wir uns aber die Realität in den Gemeinden,
bei den Arbeitsagenturen an. Gehen die Ausgaben eigentlich in gleichem Maße zurück? Bei den Langzeitarbeitslosen ist das nicht der Fall. Was muss ich ferner
feststellen? 1,4 Millionen Menschen, die jetzt wieder in
Arbeit sind - noch einmal: ich begrüße das -, sind darauf
angewiesen, dass ihr Gehalt aufgestockt wird, sie also
weiter ALG II beziehen. Was machen Sie in einer Situation, in der Sie den Haushalt konsolidieren wollen? Sie
setzen die Praxis fort und subventionieren ausbeuterische Arbeitsverhältnisse mit Steuergeldern. Sie sind gegen einen Mindestlohn.
({14})
Ich will Ihnen ein Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern nennen. Bei einer Diskussion über den Mindestlohn im Wahlkampf sagt der FDP-Kandidat, man dürfe
doch nicht für einen Mindestlohn sein. Wörtlich fährt er
fort: „Dann müssen die Hoteliers an der Ostsee die
Löhne ja komplett selber zahlen.“ Meine Damen und
Herren, hier offenbart sich doch ein Abgrund von sozialer Verwahrlosung. Wo leben wir denn, dass es als normal empfunden wird, dass der Staat die Löhne bezuschusst?
({15})
Oder nehmen wir den sozialen Ausgleich als Beispiel.
Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Wir haben
2 Billionen Euro Staatsschulden, aber wir haben auch
5 Billionen Euro Privatvermögen. Das ist schön. Das
Problem ist: Das Vermögen ist sehr ungleich verteilt. Die
obersten 10 Prozent besitzen weit mehr als die Hälfte.
Die unteren 30 Prozent haben fast nichts oder Schulden.
Jeder zwölfte Haushalt ist überschuldet. Das sind
3,4 Millionen Menschen in diesem Land. Diese Ungleichverteilung, dieses Zerreißen der Gesellschaft
nimmt zu. 2007, vor der Krise, gab es 830 000 Millionärinnen und Millionäre in Deutschland. Nach der Krise
sind es 910 000. In keinem Land der Welt hat es eine
vergleichbare Entwicklung geben.
In dieser Situation reden wir zum Beispiel darüber,
wie die Mittel für den Rettungsfonds aufgebracht werden sollen. Es ist die Partei Ludwig Erhards, die sich einer Vermögensabgabe verweigert, einer Vermögensabgabe, die nach eben jenem Modell des Lastenausgleichs
erhoben werden soll, mit dem Ludwig Erhard nach dem
Zweiten Weltkrieg dieses Land regiert hat. Sie wollen
keinen sozialen Ausgleich. Da Sie ihn nicht wollen: Hören Sie auf, zu behaupten, Sie seien die Partei der sozialen Marktwirtschaft! Davon sind Sie heute meilenweit
entfernt. Sie wollen keinen sozialen Ausgleich.
({16})
Wenn Sie es ernst meinten, dann hätten Sie beispielsweise die Abgeltungsteuer schon lange abschaffen müssen; denn sie begünstigt leistungslose Gewinne aus spekulativen Geschäften. Dafür muss man weniger Steuern
zahlen als jeder Handwerker; denn die Abgeltungsteuer
ist niedriger als die durchschnittlichen Unternehmensteuern. Hören Sie doch auf, die Realwirtschaft steuerlich zu diskriminieren, und schaffen Sie diese Kopfgeburt von Peer Steinbrück, den Sie sonst gerne
beschimpfen, endlich ab!
({17})
Ich sage Ihnen: Ich möchte keinen allumfassenden
Staat. Der Staat soll seine Leistungen solide und verlässlich erbringen. Er soll für gute Schulen, verlässliche Kinderbetreuung sorgen. Menschen müssen von ihrer Arbeit
leben können. Wir brauchen sichere Straßen; dazu
gehört ein Fehlen von Schlaglöchern, und dazu gehört
übrigens auch, dass auf Straßen noch Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte zu sehen sind
({18})
und man sich nicht ausschließlich auf die Videoüberwachung verlässt. Das soll solide finanziert werden.
Sie machen in der jetzigen Situation Folgendes:
Durch konjunkturell bedingt gute Steuereinnahmen
- Frau Merkel, Sie haben es hier noch einmal wiederholt denken Sie unverzüglich wieder darüber nach, wie Sie
die Steuern für Besserverdienende senken können, während Sie gleichzeitig die Nettokreditaufnahme bei
27 Milliarden Euro belassen wollen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Fragen Sie die doch einmal! Ein Großteil
von denen
({19})
will das gar nicht. Schauen Sie sich Martin Kind,
Michael Otto an! Sie und viele andere sagen: Nein, wir
wollen mehr Steuern zahlen, damit diese Gesellschaft
von ihrem Schuldenstand herunterkommt und damit unsere Kinder nicht mit einem überschuldeten Staat leben
müssen. Was ist die Antwort aus Ihrer Koalition? Die
FDP sagt: Dann sollen die doch spenden. Meine Damen
und Herren, ich weiß ja, dass Sie sich mit Spenden und
Sponsoring
({20})
bestens auskennen. Aber zu der Vorstellung eines gesponserten Staates kann ich nur sagen: Das ist nun wirklich das Allerletzte, was wir in diesem Land gebrauchen
können.
({21})
Ich sage auch nie wieder, dass Sie die Partei der Besserverdienenden sind,
({22})
weil man damit Martin Kind und Michael Otto unrecht
tut. Diese Menschen wissen, dass von einer soliden
Finanzierung des Staates, an der sich die Starken stärker
beteiligen als die Schwachen, der Zusammenhalt dieser
Gesellschaft abhängt. Deren Interessenvertreter sind Sie
aber schon lange nicht mehr in diesem Lande.
({23})
Herr Brüderle ist ja in seiner Partnerschaft mit Herrn
Rösler noch nicht so lange Fraktionsvorsitzender.
({24})
Doch schauen wir uns einmal deren wirtschaftspolitische
Leistung an: Das Einzige, was ihnen eingefallen ist, ist,
zu erklären, dass sie endlich einmal liefern wollten. Ja,
was haben sie geliefert? Die Forderung nach SteuersenJürgen Trittin
kungen. Das ist ungefähr so schmackhaft wie eine in der
Mikrowelle aufgewärmte Pizza. Schauen Sie sich ihren
Beitrag zur Energiewende an: gleich null. Ihr Beitrag
zum Entflechtungsgesetz: Es gibt jetzt nach zwei Jahren
schon ein Eckpunktepapier. Neues Insolvenzrecht: Fehlanzeige.
({25})
Die Bilanz von Herrn Rösler und Herrn Brüderle, die
Bilanz der FDP in der Wirtschaftspolitik ist katastrophal.
({26})
Wenn die Oppositions- und Koalitionsfraktionen mit
der Bundeskanzlerin darüber diskutieren, wie es mit
Europa weitergehen soll, und 90 Minuten eine angeregte
Diskussion darüber führen, ob wir Euro-Bonds oder eine
Vertragsänderung brauchen,
({27})
wie wir die Beteiligungsrechte des Parlamentes ausgestalten, beteiligen sich alle daran, außer dem Minister,
der in der Bundesregierung für den Binnenmarkt federführend zuständig ist.
({28})
90 Minuten dröhnendes Schweigen von Herrn Rösler.
Selbst Klaus Ernst hatte mehr zu sagen, meine Damen
und Herren. Deswegen sollte es bald vorbei sein mit der
Regierungsbeteiligung der FDP.
({29})
Frau Bundeskanzlerin, bezüglich Europa haben Sie ja
eben eine Rede gehalten, die stark in die eigenen Reihen
gerichtet war.
({30})
Aber Sie können es deswegen nicht kommunizieren,
weil Sie in vielerlei Hinsicht an Glaubwürdigkeit verloren haben. Das hat einmal damit zu tun, dass Sie das
Notwendige bis heute immer erst zu spät getan haben. Es
hat dann auch damit zu tun, dass es für Sie immer mindestens zwei Lösungen gibt - Sie haben ja vorhin gesagt,
es gebe nicht die eine Lösung -, die sich dann garantiert
widersprechen.
({31})
Sie haben behauptet, Griechenland sei ein Einzelfall.
In Wirklichkeit kamen dann Hilfen für weitere Länder.
Sie haben gesagt, man müsse möglichst hohe Zinsen
nehmen. Inzwischen mussten Sie die Zinsen zurücknehmen, weil die hohen Zinszahlungen der Krisenländer die
Krise verlängert und verschärft haben. Sie haben gesagt,
wir bräuchten keinen dauerhaften Stabilisierungsmechanismus. Sie haben Ihren Finanzminister zurückgepfiffen,
als er einen europäischen Währungsfonds gefordert hat.
Und was geschieht nun? Wir werden morgen in erster
Lesung genau darüber sprechen in diesem Hause.
({32})
Das tun wir vor dem Hintergrund eines guten Urteils
des Bundesverfassungsgerichts. Es ist ein gutes Urteil
für Europa und auch und gerade für die Rechte dieses
Hohen Hauses. Für Europa ist es ein gutes Urteil, weil es
den Weg dafür freimacht, diese Krise europäisch zu lösen. Für den Bundestag ist es ein gutes Urteil, weil es
klarstellt, dass das Haushaltsrecht des Deutschen Bundestages nicht infrage gestellt werden darf.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthält
eine kritische Anmerkung zur Rolle des Haushaltsausschusses. Ich kann Ihnen eines sagen, Herr Brüderle: Sie
hätten diese kritische Anmerkung vermeiden können,
wenn Sie bei der Verabschiedung des EFSF auf uns gehört hätten und genau die Forderung, die jetzt auch in
dem Urteil enthalten ist, nämlich Entscheidung über die
Bereitstellung von Geldern durch den Deutschen Bundestag, aufgenommen hätten. Dann hätten Sie jetzt nicht
erneut nachbessern müssen. Das ist die Lage.
({33})
Frau Merkel, Sie haben da ein Glaubwürdigkeitsproblem, auch weil Ihre Rede nicht klar ist.
({34})
Sie haben zum Schüren antieuropäischer Vorurteile in
Deutschland und in Ihren eigenen Reihen selber beigetragen. Oder wozu sonst sollte das dumme Gerede dienen, dass die Griechen früher in den Ruhestand gingen
als die Deutschen, was gar nicht wahr ist? Jetzt sagen
Sie: Das war alles nicht so gemeint; dieses Europa ist
und bleibt unsere Zukunft. - Ja, das ist richtig. Aber
wenn Sie vorher nicht etwas anderes gesagt hätten, dann
hätte Ihnen der eine oder andere in Ihren Reihen das
auch abgenommen.
({35})
Oder nehmen wir das Beispiel einer europäischen
Wirtschaftsregierung. Sie haben gesagt, wir bräuchten
diese Wirtschaftsregierung, obwohl Sie anfangs immer
dagegen gewesen sind. Nun wollen Sie diese Wirtschaftsregierung beim Rat ansiedeln
({36})
und damit genau dem Mechanismus der Kungelei zwischen den Regierungschefs aussetzen. Ich sage Ihnen:
Damit werden Sie die Europamüdigkeit und Europaskepsis in diesem Lande weiter befördern.
({37})
Eine europäische Wirtschaftsregierung muss so gestaltet sein, dass sie nicht in abgeschlossenen Hinterzimmern agiert. Sie muss die nationalen Parlamente und das
Europaparlament beteiligen und die Fähigkeiten der
Europäischen Kommission einbeziehen. Sie muss darauf
abzielen, dass wir in Europa gemeinsame Unternehmensteuerbandbreiten, gemeinsame soziale, ökologische und
finanzwirtschaftliche Standards sowie endlich eine vernünftige Regulierung der Finanzmärkte erreichen. Das
ist etwas, wofür Menschen in diesem Lande streiten werden.
({38})
Wir wollen dieses Europa. Ob Sie es wollen, wissen
Sie nicht. Sie wissen nicht einmal, ob Sie eine eigene
Mehrheit haben. Ich sage Ihnen auch: Deutschland hat
die schwächste Regierung seit Jahrzehnten. Wann hat es
das je gegeben, dass eine Regierung zur Mitte der Legislaturperiode fast alles - bis auf die Mövenpick-Subvention - zurücknehmen musste?
({39})
Aber es ist schlimmer. Diese Regierung hat durch ihr
Handeln das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft
schwer beschädigt. Sie hat das Vertrauen vieler Menschen in die demokratischen Institutionen gefährdet. So
ist aus einer Traumkoalition eine Albtraumkoalition für
Deutschland geworden. Die Mehrheit schwindet, die
Kanzlerindämmerung ist unübersehbar. Ich glaube, es
wird Zeit für einen neuen Morgen.
({40})
Volker Kauder hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In dieser Woche beginnen wir die Beratungen über
den Entwurf des Bundeshaushaltes 2012. Wir beginnen
die Beratungen darüber, wie wir die Grundlagen dafür
legen können, dass es in diesem Land auch in den nächsten Jahren gut weitergeht. Kaum jemand aus der Opposition hat darüber gesprochen.
({0})
Ich glaube, man hat deswegen nicht darüber gesprochen,
weil man nur Gutes hätte sagen können, und das wollte
man nicht. Das ist der wahre Grund für Ihr Verhalten.
({1})
Die Bedeutung des Bundeshaushaltes 2012 und der
mittelfristigen Finanzplanung für die nächsten Jahre
kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir alle
erleben aktuell schwierige Diskussionen in Europa. Ich
muss es an dieser Stelle einmal klar und deutlich sagen:
Wir haben keine Krise Europas, wir haben auch keine
Euro-Krise, sondern wir haben ein Schuldendilemma in
Europa.
({2})
Dafür, dass es so gekommen ist, tragen Leute Verantwortung, die vor der Großen Koalition und vor dieser
christlich-liberalen Koalition an Regierungen beteiligt
waren. Es ist schon eigenartig, sich hier hinzustellen und
zu sagen, dass von einigen Leuten Kritik am Zustand
Europas geübt wird - Herr Kollege Oppermann, Sie sind
einer von denen -, aber gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass die schärfste Kritik von all denjenigen, die
sich in diesen Tagen geäußert haben, an die eigene
Adresse geht. Rot-Grün hat ganz massiv dazu beigetragen, dass wir in Europa jetzt in dieser Krise sind.
({3})
Immer wenn es darauf angekommen ist, die richtigen
Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, hat die SPD
die falschen Entscheidungen getroffen.
({4})
Als es damals darum ging, den Euro einzuführen, haben
Sie den Euro kritisiert.
Der Euro ist eine Erfolgsgeschichte. Gestern Abend
hat die Wirtschaft noch einmal deutlich gemacht, dass
ein Teil des Erfolges und ein Teil des Wohlstandes in
Deutschland natürlich dem Euro zu verdanken sind. Für
unsere exportorientierte Wirtschaft war der Euro ein Segen. Sie waren damals dagegen. Kaum waren Sie an der
Regierung, haben Sie dafür gesorgt, dass das entscheidende Rückgrat des Euro, nämlich der Stabilitätspakt,
aufgelöst worden ist nach dem Motto: Wir haben in dieser Regierung einen Haufen Arbeitslose produziert, und
jetzt müssen wir Schulden machen, um wieder voranzukommen. - Beides war ein großer Fehler. Dafür steht
Rot-Grün.
({5})
Herr Steinmeier, deswegen habe ich vorhin gerufen:
Gott sei Dank sind diejenigen, die solche Ergebnisse abgeliefert haben, in dieser schwierigen Zeit nicht an der
Regierung.
({6})
Sie haben immer die falschen Rezepte. Jetzt zu sagen:
„Wir retten Europa, indem wir Euro-Bonds und vieles
andere auf den Weg bringen“, ist doch nur die Fortsetzung dieser falschen Politik.
({7})
Sie wollen die Schulden vergemeinschaften, und das
führt die Staaten, die diese Schulden gemacht haben,
eben nicht auf den richtigen Weg. Wir müssen vielmehr
sagen: Wir helfen im Interesse des Euro. Aber dafür
müssen auch Anstrengungen unternommen werden.
Geld ohne Gegenleistung hat noch nie zur Besserung geführt.
({8})
Deswegen werden wir dies nicht machen.
Heute ist - ja, so kann man es sagen - ein guter Tag
für Europa. Mit diesem Haushaltsentwurf 2012 zeigen
wir, dass wir den Weg konsequent weitergehen. Gestern
hat sich Herr Kollege Steinbrück aufgeregt, als die
Wahrheit darüber gesagt worden ist, welch hohe Neuverschuldung geplant war,
({9})
und als festgestellt worden ist, dass wir jetzt auf dem
Weg der Konsolidierung sind. Ich habe gedacht, es darf
nicht wahr sein. Jetzt kommt die Mentalität Ihrer Partei
zum Ausdruck.
Die Grünen sitzen im gleichen Boot.
({10})
In Baden-Württemberg war man auf dem Kurs der Konsolidierung. Die neue grün-rote Regierung bringt folgenden Merksatz heraus: Wir müssen zunächst etwas mehr
Schulden machen, um dann sparen zu können. - Einen
größeren Unsinn habe ich in meinem ganzen Leben noch
nicht gehört: Wir müssen erst mehr Schulden machen,
bis wir sparen können.
({11})
Ähnliches wird von Frau Kraft formuliert; von Rheinland-Pfalz haben wir schon gesprochen. Da kann ich nur
sagen: Das sind genau die falschen Wege. Wir müssen
den Haushalt konsolidieren; und das machen wir auch.
Damit sind wir Vorbild. Die Schuldenbremse wird eingehalten. Sie muss jetzt in Europa umgesetzt werden.
Wir müssen in dieser schwierigen Zeit auch eine Antwort darauf geben, wie es in Europa weitergeht. Europa
war bisher vor allem in der Vorstellung meiner Generation eine Antwort auf die Geschichte: Nie wieder Krieg;
Frieden in Europa. Und wenn Europa nicht mehr erreicht
hätte als „Nie wieder Krieg“, wäre dies schon eine großartige Leistung.
({12})
Dies haben wir erreicht. Dies ist vor allem das Ergebnis
der Europapolitik, wie sie unter Kanzlerinnen und Kanzlern der unionsgeführten Regierungen gemacht worden
ist.
Es reicht aber nicht mehr aus, Europa ausschließlich
als Antwort auf die Geschichte zu verstehen. Vielmehr
muss Europa jetzt eine Basis für Wohlstand und Entwicklung sein. Europa muss sich verstehen als der Wettbewerber, weil die Zentren der Entwicklung nicht mehr
nur in Europa liegen, sondern auch in Asien.
Europa muss den jungen Menschen sagen: Wir werden, nachdem wir den Frieden gesichert haben, jetzt
auch den Beitrag zu Wohlstand für eure Generation leisten. Dazu sind wir in Deutschland wieder Vorbild. Es
kann uns nicht ruhen lassen, wenn wir gute Ergebnisse
vorweisen - junge Menschen haben bei uns Chancen;
die Jugendarbeitslosigkeit ist wirklich toll zurückgegangen -, aber zugleich sehen, dass das in anderen Ländern
Europas anders ist.
Deswegen: Wenn Europa eine Zukunftsperspektive
für die junge Generation in ganz Europa sein soll, dann
müssen die Staaten, in denen die Jugendarbeitslosigkeit
bei 30 Prozent und höher liegt, wirklich Ernst machen.
Weniger Schulden und nicht ständig weitere Schulden
machen, das bedeutet eine gute Zukunft für die junge
Generation.
({13})
Das muss nun auf den Weg gebracht werden. Dazu
brauchen wir in Europa neue Formen. Es kann doch
nicht sein, dass sich Europa um den letzten Grashalm eines Naturschutzgebietes bei mir auf der Schwäbischen
Alb kümmert, aber für die wirklich großen Herausforderungen keine Antwort hat. Deswegen muss Europa sich
weniger um solche kleinen Dinge kümmern, dafür mehr
um die großen Herausforderungen.
({14})
Deswegen ist der Weg der Bundeskanzlerin und der
Bundesregierung völlig richtig, wenn es dort heißt: Wir
brauchen eine stärkere Koordinierung in der Wirtschaft
und im Finanzbereich. Europa muss erkennen, dass es
wirklich darauf ankommt, in diesen Bereichen bestimmte
Dinge zu ändern.
Es ist zu Recht gesagt worden, dass wir nicht nur bei
den Banken, sondern auch bei den Finanzmärkten,
Hedgefonds und anderem zu Regulierungen kommen
müssen. Wir haben einen ersten Schritt dahin unternommen. Als Wolfgang Schäuble Leerverkäufe verboten hat,
gab es ein großes Gelächter und ein Geschrei, das führe
zu nichts. Heute haben es andere nachgemacht.
Wir haben die Banken mit der Bankenabgabe dazu
gebracht, dass sie Vorsorge treffen müssen für den Fall,
dass es wieder Schwierigkeiten gibt. Das heißt, wir haben das, was national zu machen war, gemacht. Wir haben dafür gesorgt, dass bei den Rettungsschirmen, die
wir aufgespannt haben, eine Beteiligung Privater stattfindet. Aber mir müssen jetzt auch dafür sorgen - dafür
wirbt die Bundesregierung wirklich nachhaltig und intensiv, mit dem ganzen Einfluss Deutschlands -, dass
wir die Märkte in größerem Umfang beteiligen. Da muss
sich Europa einen Ruck geben, und zwar das Europa
der 27. Ich sage es ganz bewusst in die Richtung Großbritanniens: Es muss aufhören, dass Interessen eines einzelnen Landes Vorrang vor den Interessen der europäischen Gemeinschaft haben sollen.
({15})
Die Zukunft Europas verlangt, dass wir das Interesse Europas mehr im Blick haben als nationale Dinge.
({16})
Wir in Deutschland gehen da gut voran.
Herr Steinmeier, es ist recht, wenn Sie sagen: Wir helfen da mit. - Das ist in Ordnung. Aber es zeugt nicht von
politischer Klugheit, in der Regierungszeit von RotGrün, in der auch Sie im Kanzleramt Verantwortung getragen haben, zunächst einmal die Finanzmärkte zu entfesseln
({17})
und dann von uns zu verlangen, sie wieder einzufangen.
({18})
Sie haben dafür gesorgt - ({19})
- Ich kann doch beweisen, was Sie da alles gemacht haben,
({20})
was Herr Eichel alles formuliert hat, was von Ihrem
Bundeskanzler unter dem Titel „Deutschland AG“ formuliert worden ist.
({21})
Sie haben einen großen Unsinn gemacht; wir sind gerade
dabei, das wieder einzusammeln. Das ist die Situation,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({22})
Heute ist ein guter Tag für Europa, auch weil das
Bundesverfassungsgericht eine kluge Entscheidung getroffen hat. Ich kenne zwar noch nicht das ganze Urteil,
aber der Kernsatz heißt: Die Klagen werden abgewiesen.
Was mit den Rettungsschirmen und Stabilitätsprogrammen auf den Weg gebracht worden ist, entspricht der
Verfassung.
Herr Steinmeier, Sie brauchen sich hier wirklich nicht
hinzustellen und zu sagen: Wir wollen eine stärkere Beteiligung des Bundestages. - Sie wissen doch ganz genau, dass ich Ihnen bei der letzten Besprechung, bei der
es um die Frage ging, wie wir am Donnerstag mit dem
weiteren Paket umgehen, klipp und klar gesagt habe: Es
gibt eine starke Beteiligung des Deutschen Bundestages.
Ich habe ausdrücklich gesagt - Sie haben es sogar bestätigt; deswegen habe ich Ihre Einlassung hier nicht verstanden -,
({23})
dass wir die Regelung zur Beteiligung des Deutschen
Bundestages natürlich auf eine breite Basis stellen wollen. Bereits heute Nachmittag finden die ersten Gespräche zwischen den Koalitionsfraktionen und den Fraktionen der Opposition darüber statt, wie wir das ausgestalten können. Wir sind uns im Großen und Ganzen
einig. Ich bin außerordentlich froh, dass wir von den Koalitionsfraktionen mit dem Vorschlag, den wir vorlegen,
weit über das hinausgehen, was das Bundesverfassungsgericht heute entschieden hat.
Wir brauchten heute keine Belehrung.
({24})
- Ja, nun einmal langsam! - Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Der Haushaltsausschuss muss um Genehmigung gefragt werden.
({25})
Wir legen einen Entwurf vor, in dem es heißt: Die grundsätzlichen Fragen muss der Deutsche Bundestag entscheiden. Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, entscheiden, was passiert.
({26})
Wenn es darum geht, wie die konkreten Dinge ausformuliert werden, dann ist der Haushaltsausschuss zuständig.
Ich finde, das ist eine starke Position.
Ich muss Ihnen sagen: Ich habe es wirklich nicht verstanden, dass in den Reihen der Opposition immer formuliert worden ist: Der Bundesfinanzminister und die
Bundesregierung haben ein Gesetz vorgelegt, in dem zur
Parlamentsbeteiligung gar nichts gesagt wird. - Dazu
kann ich Ihnen sagen: Wir haben den Bundesfinanzminister und die Bundesregierung sogar darum gebeten,
dazu nichts zu sagen. Wir als Parlament, zumindest wir
in den Koalitionsfraktionen, sagen: Wir sind selbstbewusst genug, um die Regelung zur Beteiligung des deutschen Parlaments ohne einen Regierungsentwurf zu finden. Das machen wir schon selber, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({27})
Sie sind herzlich eingeladen, sich heute und in den
nächsten Tagen daran zu beteiligen.
Wenn ich mir den Haushalt anschaue, dann stelle ich
fest, dass wir die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass die Entwicklungen wirklich gut weitergehen.
Wir wissen, dass noch einiges zu tun ist, aber ganz entscheidend ist doch - davon ist heute schon gesprochen
worden, auch von der Bundeskanzlerin -, dass wir in
diesem Land alle beieinander bleiben.
({28})
Was wir erreicht haben, nämlich dass wir stärker aus der
Wirtschaftskrise herausgekommen sind, als wir hineingegangen sind, war eine große Gemeinschaftsleistung.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben durch
Verzicht auf Lohn, Weihnachtsgeld und vieles andere ihren Beitrag geleistet. Es war vor allem ein großer Beitrag
der mittelständischen Wirtschaft, die die Menschen nicht
in die Arbeitslosigkeit geschickt hat, auch mit Unterstützung der Politik. Es ist die richtige Politik gemacht worVolker Kauder
den. Es war eine große Gemeinschaftsleistung, die zu
dem schönen Ergebnis geführt hat.
Es ist doch toll, dass es in Deutschland aufwärtsgeht.
Diejenigen, die dazu einen bedeutenden und wichtigen
Beitrag geleistet haben, nämlich die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die jeden Morgen aufstehen und zur
Arbeit gehen und sich um ihre Familien kümmern, sollen daher ihren Anteil an Wachstum und Wohlstand in
unserem Land haben.
({29})
Deshalb geht es nicht um die von Ihnen geführte Diskussion über eine Steuerreform. Wir, FDP und CDU/CSU,
sind diejenigen, die sehr genau wissen, was soziale
Marktwirtschaft heißt, was vor allem „sozial“ heißt.
({30})
Während unserer Regierungszeiten sind die bedeutendsten Sozialgesetze in unserem Land gemacht worden, und
nicht in der Regierungszeit von Rot-Grün.
({31})
Selbstverständlich ist es richtig, dass wir denjenigen,
die in Not geraten sind und sich nicht selbst helfen können, durch unsere sozialen Leistungen helfen. Aber es
kann nicht sein, dass wir jedes Jahr Hartz-IV-Leistungen
an Inflation und Kostensteigerungen anpassen, aber diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen, von einer solchen Anpassung nichts haben.
({32})
Deswegen ist die Korrektur der kalten Progression eine
Frage der Gerechtigkeit und keine Frage der Steuersenkung.
({33})
Jeder trägt dort Verantwortung, wo er steht. Ich bin
sehr gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen - Sie stellen die Regierung in Baden-Württemberg ({34})
und von der SPD, ob Sie bereit sind, im Bundesrat zu sagen: Ja, wir stimmen dafür, dass die Hartz-IV-Sätze erhöht werden, aber wir sind dagegen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei steigender Progression
entlastet werden. - Ich bin gespannt, ob Sie die Politik
gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bundesrat durchsetzen wollen, so wie Sie das angekündigt
haben.
({35})
Wir werden dafür sorgen, dass Sie sich der Verantwortung stellen.
({36})
Wir wissen sehr wohl, dass wir in Europa noch
schwierige Aufgaben zu bewältigen haben. Wir wissen,
dass Europa unsere Zukunftsperspektive ist. Wir wissen
auch, dass wir ohne ein starkes und handlungsfähiges
Europa im Wettbewerb mit anderen Regionen in der
Welt nicht bestehen können. Es ist ein bemerkenswerter
Vorgang - ich bin an der Schweizer Grenze groß geworden, mein Wahlkreis liegt nicht weit davon entfernt -,
dass ein Land wie die Schweiz, das alles tun will, um
bloß nicht nach Europa zu kommen, jetzt auf einmal den
Franken an den Euro bindet, weil man gemerkt hat: Auf
sich allein gestellt, das führt nicht in eine gute Zukunft.
({37})
Das Beispiel Schweiz sollte uns zeigen, wie glücklich
und gut die Entscheidung war, die wir damals für den
Euro getroffen haben. Aber damals haben wir einen zentralen Schritt nicht gehen können. Eine gemeinsame
Währung muss mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und
Finanzpolitik einhergehen.
Dieses Thema ist vor allem in der Finanz- und Wirtschaftskrise zum Tragen gekommen. Deswegen ist es
richtig, wenn die Bundeskanzlerin sagt: Wir müssen
nicht nur zu jeder kleinen Frage, die da kommen mag,
Richtlinien aus Europa erhalten, sondern wir brauchen
vor allem klare Vorgaben mit entsprechenden Kontrollund Sanktionsmechanismen für diejenigen, die sich
nicht an die Haushaltsdisziplin halten. - Ich erinnere
noch gut, wie diese Haushaltsdisziplin zerstört worden
ist. Gerhard Schröder hat damals gesagt: Wir brauchen
uns an die Stabilitätsmechanismen nicht zu halten; da
haut man in Europa einmal auf den Tisch, und dann ist
wieder Ruhe im Karton. - Genau damit wurden die Voraussetzungen für die Probleme geschaffen, die wir
heute haben.
({38})
Deswegen brauchen wir ordentliche Mechanismen.
Im Augenblick müssen wir mit dem arbeiten, was uns in
der konkreten Rechtssituation zur Verfügung steht. Das
ist eine ganze Menge. Wir müssen vor allem eine klare
Botschaft vermitteln. Ich bitte Sie, das mitzutragen und
nicht falsche Dinge in die Welt zu setzen.
({39})
Ich sage es Ihnen noch einmal: Ihre Botschaft, dass unabhängig davon, wie gewirtschaftet wird, eine Finanzie14492
rung zu einem bestimmten Zinssatz auf Dauer möglich
sein soll, ist die falsche Botschaft. Nur dadurch, dass wir
unterschiedliche Zinssätze haben, wird den betreffenden
Ländern klar, dass sie handeln müssen. Glauben Sie, Italien und Griechenland hätten die ganzen Maßnahmen
eingeleitet, wenn sie nicht so unter Druck gestanden hätten? Zu Ihrer Forderung nach Euro-Bonds und Umschuldung sagen sie: Das ist eine super Geschichte. Wir schulden um. Einer zahlt, und wir sind die Hälfte der
Schulden los. - So stellen wir uns nicht die Zukunft Europas vor.
({40})
Wir brauchen ein Europa der Disziplin, ein Europa
der Verantwortung.
({41})
Das ist ein Europa, in dem junge Leute eine Perspektive
haben. Auf diesem Weg werden wir in den Koalitionsfraktionen weitergehen. Ich lade Sie ein, mitzumachen.
({42})
Der Kollege Thomas Oppermann hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Kauder hat eben so viele falsche Sachen in die
Welt gesetzt, dass meine Redezeit von wenigen Minuten
gar nicht ausreicht, um das wieder aus der Welt zu schaffen.
({0})
Einige Punkte müssen wir aber richtigstellen, Herr
Kauder.
Erstens. Sie haben die Hand gehoben für den Haushalt 2010
({1})
mit einer Nettokreditaufnahme von 80 Milliarden Euro.
({2})
Das war die höchste Schuldenaufnahme in der deutschen
Geschichte. Dafür trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung. Sie sind die Schuldenkönige von Deutschland.
({3})
Zweitens: die Lockerung der Stabilitätskriterien. Das
hat in der Tat stattgefunden. Die Stabilitätskriterien sahen - Stichwort „Balance“ - zunächst eine Neuverschuldung von strikt 3 Prozent vor.
({4})
- Höchstens 3 Prozent. - Dann wurde das geändert in
„close to balance“.
({5})
Das allerdings ist genau die Blaupause für die Schuldenbremse, die heute in unserer Verfassung steht.
({6})
Die Idee dieser Schuldenbremse ist, dass man in guten
Zeiten Geld einnimmt und zurückhält, damit man in
schlechten Zeiten kreditfinanziert dagegenhalten kann.
Das ist die Idee.
({7})
Jetzt zu einer anderen Frage: Herr Brüderle, wo waren
denn die Helden der FDP, als im Deutschen Bundestag
über die Schuldenbremse abgestimmt wurde? Wo waren
Sie da? Sie haben der Schuldenbremse nicht zugestimmt.
({8})
Ich will Ihnen genau sagen, warum Sie nicht zugestimmt
haben: Sie hatten Angst, dass die Schuldenbremse Sie
daran hindert, Ihrer Klientel mit auf Pump finanzierten
Geschenken zu helfen.
({9})
Eine der wohltuendsten Wirkungen dieser Schuldenbremse ist, dass dadurch diese Klientelgeschenke unterbunden werden.
({10})
Herr Kauder, wir haben noch einen Punkt zu besprechen. Was haben Sie denn 2010 gemacht, als der erste
schwarz-gelbe Haushalt kam? Wenn die Stabilitätskriterien von Rot-Grün zu Unrecht gelockert worden waren,
dann wäre in dieser Zeit die beste Gelegenheit gewesen,
das zu korrigieren und wieder zu den alten Stabilitätskriterien zurückzukehren. Stattdessen haben Sie das Defizitkriterium gerissen. Sie haben eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 80 Milliarden Euro beschlossen.
({11})
Das haben Sie nicht gemacht, um eine Krise abzuwenden. Das haben Sie gemacht, um die Klientelgeschenke
für Unternehmenserben und Hotelketten zu finanzieren.
({12})
Das ist eine einzige Heuchelei. Sie selbst haben bei der
ersten Gelegenheit die neuen Stabilitätskriterien genutzt
und Ihre eigene Argumentation verraten. - So viel dazu.
Herr Oppermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, am Ende können wir noch diskutieren. Ich habe
nur noch wenige Minuten Redezeit.
Der Bundespräsident - wenn ich damit anfangen darf ({0})
hat vor wenigen Tagen festgestellt: Dies ist nach dem
Herbst der Entscheidungen der Sommer der Ernüchterungen. Wer diese diplomatische Sprache des Präsidenten in die Alltagssprache übersetzt, der kommt zu der
Feststellung, dass er sagen will: Diese Bundesregierung
steht nach zwei Jahren mit leeren Händen da. Selbst das,
was Sie gemacht haben, ist fast ausnahmslos das Gegenteil von dem, was Sie vorher versprochen haben.
({1})
Wer an die Versprechungen dieser Bundesregierung geglaubt hat, ist bitter enttäuscht worden. Die CDU hat
versprochen, die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten. Jetzt
ist die Wehrpflicht abgeschafft. Sie haben eine Steuersenkung von 24 Milliarden Euro versprochen. Davon ist
noch nichts zu sehen.
({2})
Sie haben versprochen, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu verlängern. Dies haben Sie zunächst umgesetzt, dann haben Sie die Umsetzung jedoch wieder
zurückgenommen. Sie haben das dreigliedrige Schulsystem hochgehalten, und heute wollen Sie nichts mehr davon wissen. Es gelten nur noch Abitur und Oberschule.
In der Euro-Krise haben Sie die meisten Haken geschlagen.
Es gibt aber einen roten Faden in diesem ganzen Prozess. Sie haben nämlich immer genau das gemacht, was
Sie vorher definitiv ausgeschlossen hatten, und immer
genau die Entscheidungen getroffen, die Sie vorher definitiv ausgeschlossen hatten. Das ist der rote Faden, der
sich durch diese Regierung zieht.
({3})
Noch nie gab es so viel Zickzack in der deutschen
Politik. Noch nie sind so viele verwirrende Positionswechsel vorgenommen worden. Ihre eigenen Leute wissen nicht mehr, wo Sie stehen. Deshalb sagen wir: Diese
Bundesregierung ist die schlechteste Bundesregierung in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Dabei will ich Ihnen gar nicht den guten Willen absprechen. Natürlich haben Sie den guten Willen, dieses
Land ordentlich zu regieren. Ihr Problem ist: Sie können
es nicht.
({5})
Nicht einmal in den Bereichen, die eine bürgerliche Koalition eigentlich in der Kinderstube gelernt haben
müsste, können Sie es. Sie missachten die Werte, die unserer Verfassung zugrunde liegen. Ein Beispiel ist der
Respekt vor den Leistungen anderer. Sie missachten die
Zuständigkeit des Parlaments und des Deutschen Bundestages. Sie haben das ein Dutzend Mal gemacht.
({6})
Sie missachten auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Drei Monate nach Ablauf der vom Gericht gesetzten Frist haben wir immer noch kein verfassungskonformes Wahlrecht. Das muss man sich einmal
vorstellen.
({7})
Nicht irgendwo in einer Parallelgesellschaft, sondern
mitten im Staat, mitten im Staatsorganisationsrecht
schaffen Sie einen rechtsfreien Raum. Es ist so unerträglich, dass wir in dieser Republik kein anwendbares
Wahlrecht haben, dass ich nur sagen kann: Mit Ihnen ist
wirklich kaum noch Staat zu machen.
({8})
Trotzdem werden wir uns zusammensetzen und über
die Beteiligung des Parlaments an der EFSF reden. Das
Bundesverfassungsgericht ist sehr schonend mit der Regierungsseite umgegangen.
({9})
Bisher hatte der Haushaltsausschuss kein Zustimmungsrecht, sondern es gab ein Benehmen. Jetzt gibt es harte
Rechte. Wir werden diese Rechte umsetzen.
({10})
- Herr Fricke, wir werden aber auch darauf achten, dass
den Hardlinern in der FDP, die diese Gelegenheit nutzen
wollen, um die parlamentarische Beteiligung zu instrumentalisieren, damit die EFSF Sand ins Getriebe bekommt, das Handwerk gelegt wird.
({11})
Das sind Leute, denen es nicht um mehr Demokratie in
Deutschland geht, sondern um mehr Handlungsunfähigkeit in Europa. Das werden wir nicht zulassen.
({12})
In der FDP haben sich einige Politikstrategen schon
längst aufgemacht, um klammheimlich einen Fluchtweg
aus der schwarz-gelben Koalition zu basteln.
({13})
Dieser Fluchtweg ist eine klare Position gegen den Euro
und gegen Europa, damit Sie sich am Ende mit Populismus noch einmal über die 5-Prozent-Hürde hieven können. Das ist im Augenblick zu befürchten; das muss uns
Sorge machen. Ich kann nur sagen: Spätestens dann,
wenn Sie diesen Weg gehen, meine Damen und Herren
von der FDP, wird sich ein großer Europäer und großer
Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, angewidert von
der Politik Ihrer Partei abwenden.
Sie, Herr Westerwelle, müssten eigentlich das Erbe
von Hans-Dietrich Genscher verwalten.
({14})
Ich finde, dass Ihnen das - ganz milde formuliert - nicht
gut gelingt. Wir sagen Ihnen ganz offen, mit offenem Visier: Wir glauben nicht, dass Sie Deutschland im Ausland gut vertreten. Wir glauben nicht, dass Sie ein guter
Außenminister sind, der die Interessen und das Ansehen
dieses Landes mehrt. Wir sagen das ganz offen und nicht
hinter vorgehaltener Hand oder in anonymen Interviews
wie manch einer in der FDP. Ich weiß nicht, auf wen in
der FDP Sie sich noch verlassen können. Auf uns können Sie sich verlassen.
({15})
Wir werden Ihr entschiedener Gegner bleiben, Herr
Westerwelle. Ich füge hinzu: Wer Freunde wie Philipp
Rösler hat, braucht eigentlich gar keine Gegner.
({16})
Wenn die Bundeskanzlerin einmal mit etwas Positivem im Gepäck von den Euro-Verhandlungen zurückgekommen ist, zum Beispiel mit dem Vorschlag einer Wirtschaftsregierung oder der Finanzmarktbesteuerung, dann
waren es die Leute von der FDP, die sofort K.-o.-Kriterien formuliert haben. Ich wundere mich, dass die Union
mit diesem Koalitionspartner, der konstruktive Ansätze
zur Regulierung von Finanzmärkten immer wieder
schon im Ansatz zerstört, weiter zusammen regieren
will.
({17})
Dann noch zur Steuersenkung. Das ist das große Projekt, das noch vor uns liegt. 24 Milliarden Euro haben
Sie versprochen. Jetzt, sagt Herr Kauder, sollen es vielleicht noch 7 Milliarden Euro werden. Was für ein aberwitziges Projekt!
({18})
Inmitten der größten internationalen Schuldenkrise sollen jetzt noch mehr Kredite aufgenommen werden, damit die Steuern gesenkt werden können.
({19})
Was ist das für ein aberwitziges Projekt?
Ich kann nur sagen: Das Versprechen, die Steuern zu
senken, ist bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen aufrechterhalten worden. Danach hat die Kanzlerin es abgeräumt; das war natürlich eine klare Wählertäuschung.
Dann hat sie gesagt: Haushaltskonsolidierung hat Vorrang. Als die FDP ganz tief in der Krise war, hieß es wieder, man mache es als Antrittsgeschenk für den neuen
FDP-Vorsitzenden Rösler. Herr Rösler hat den Fehler
gemacht, auf die Zusage der Kanzlerin zu vertrauen. Natürlich wurde es dann sofort von den Ministerpräsidenten der Bundesländer abgeräumt; denn die Ministerpräsidenten haben einen Amtseid geschworen.
({20})
Herr Kollege.
Ich komme gleich zum Schluss. - Dieser Amtseid
verpflichtet sie, Schaden von ihren Ländern abzuwenden.
Herr Kollege!
Eine Steuersenkung, die Sie über zusätzliche Kredite
finanzieren müssen, würde dieses Land beschädigen.
Ich fasse zusammen.
({0})
Die Redezeit ist weit überschritten.
Ich komme zum Ende. - Diese Politik ist ein Armutszeugnis. Diese Bundesregierung ist menschlich und politisch ausgebrannt.
({0})
Sie hat keine Perspektive. Sie haben zwei Jahre lang
keine Probleme gelöst, und wir können nicht erwarten,
dass Sie das in den nächsten zwei Jahren tun werden. Ich
sage Ihnen: Mit Ihnen geht es weiter bergab. Für das
Land ist das nicht gut, aber für den Regierungswechsel,
der dann ansteht, ist es die richtige Voraussetzung.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollege Oppermann,
wir sind ohne Weiteres bereit, jede kritische Auseinandersetzung zu führen, aber nicht mit Unwahrheiten. Das
ist einfach unter Ihrem Niveau, oder Sie haben die Zahlen einfach vergessen. Die 80 Milliarden Euro Neuverschuldung, von denen Sie geredet haben, standen im
Haushaltsplan von Peer Steinbrück im Jahre 2010.
({0})
Was ist tatsächlich eingetreten? Wir hatten eine Neuverschuldung von 44 Milliarden Euro.
({1})
Sie war also beinahe halb so hoch. Im Jahre 2011 werden
wir statt 71 Milliarden Euro Neuverschuldung wahrscheinlich nur noch eine Neuverschuldung von 30 Milliarden Euro zu verzeichnen haben. Wir haben uns selbst
nicht vorstellen können, dass wir den Turnaround so
schnell hinbekommen. Wir freuen uns darüber.
({2})
Auch Sie sollten sich darüber freuen - denn das ist für
die Bundesrepublik Deutschland ein tolles Ergebnis -,
anstatt hier mit falschen Zahlen zu agieren.
({3})
Im Übrigen: Die Steuersenkungen in Höhe von
24 Milliarden Euro, die Sie da wieder erfunden haben,
stammen noch aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz. In diesem Rahmen sind Steuerentlastungen von
24 Milliarden Euro beschlossen worden. Jetzt haben wir
überhaupt keine Zahl festgelegt
({4})
und gesagt: Wir werden uns nach der Steuerschätzung
auf eine vernünftige Größenordnung einigen. So war
das.
Ich will noch etwas zur Situation des Euro und zu einigen anderen Punkten sagen. Ich habe im letzten Jahr,
als die EFSF eingeführt wurde, hier im Bundestag nicht
zugestimmt, und zwar deshalb, weil ich kein Vertrauen
hatte, dass die Regelungen, die entwickelt worden waren, tatsächlich zurück zur Stabilitätsunion führen. Ich
war mir nicht sicher, ob nicht doch eine Transferunion
entsteht, in der die Haftung vergemeinschaftet wird und
zum Schluss diejenigen, die die Ausgaben und Schulden
gar nicht zu verantworten haben, die Zeche zu zahlen haben. Das wäre der falsche Weg gewesen.
({5})
- Das Thema, das Sie ansprechen wollen, ist erledigt.
Ich will jetzt bei diesem Thema bleiben.
({6})
- Meine Zahlen sind richtig.
({7})
Ich habe sie mir gerade von den Haushältern bestätigen
lassen.
({8})
Unter Mitwirkung der FDP haben wir, auch in verschiedenen Entschließungsanträgen im Bundestag, darauf
gedrungen, dass die Mittel, die im Rahmen der EFSF bereitgestellt werden, an strikte Bedingungen und harte Auflagen gebunden sind und die einzelnen Länder gezwungen werden, eine Entschuldungspolitik zu betreiben und
ihre Schuldenpolitik einzustellen. Nun zeigt sich, gerade
in den letzten Wochen und Monaten, dass diese Politik erfolgreich ist. Das müssen auch Sie erkennen.
Schauen Sie sich doch an, was passiert: Gestern hat
Italien vorgeschlagen, eine Schuldenbremse einzuführen; dort will man die Entschuldungspolitik erweitern,
die Mehrwertsteuer erhöhen und andere Maßnahmen
durchführen. Spanien hat bereits eine Schuldenbremse
eingeführt. Sarkozy sagt, er will in Frankreich eine
Schuldenbremse einführen. In Irland ist man schon viel
weiter. Dort gehen die Zinsen für die Finanzierung des
Staates bereits zurück. Die Märkte vertrauen Irland wieder. Portugal ist in einem umfassenden Umstrukturierungsprozess begriffen. In Wirklichkeit ist unser Kernproblem nur noch - aber immerhin - Griechenland. Wir
sagen: Wenn Griechenland die Bedingungen nicht einhält, kann die Finanzierung nicht auf diese Weise fortgesetzt werden.
({9})
Da müssen wir konsequent sein. Wenn wir uns anders
verhalten würden, dann würden die anderen Staaten sagen: Wenn die Griechen das machen können, dann können wir das auch machen. Dann geben wir wieder viel
Geld aus, und zum Schluss müssen die Deutschen zahlen. - Nein, das geht nicht.
Dem will ich Ihre Vorschläge bezüglich der EuroBonds gegenüberstellen. Haben Sie Ihren Wählern und
Mitgliedern überhaupt erklärt, was Euro-Bonds sind?
Das ist ja nur ein Schlagwort. Das versteht doch keiner.
Euro-Bonds bedeuten, dass eine gesamtstaatliche Haftung ausgesprochen wird. Es wird Geld zur Verfügung
gestellt, für das alle Staaten haften. Aber die Schuldner
können auf den Staat zurückgreifen, der finanziell am
stabilsten ist. Das heißt auf Deutsch gesagt: Sie fordern,
dass die deutschen Steuerzahler für die Schulden der
ganzen Währungsunion haften.
({10})
Das ist doch eine abenteuerliche Vorstellung. Schauen Sie
sich einmal die Dimension der Schulden an. Jedes Land
kann immer zuerst auf die Deutschen zurückgreifen.
({11})
Wir müssen das dann finanziell verkraften.
Das ist eine abenteuerliche Vorstellung. Ich glaube,
Sie wissen selbst nicht, was Sie da beschlossen haben.
({12})
Wenn Sie es wissen, dann gehen Sie nach Hause und tun
Sie Buße, denn so einen Unsinn kann man doch bei klarem Verstand nicht beschließen.
({13})
Für die deutschen Steuerzahler und für die deutsche
Finanzpolitik ist das ein unzumutbarer Vorschlag. Heute
hat das Verfassungsgericht bestätigt, dass dies verfassungsrechtlich nicht zulässig ist. So verstehe ich jedenfalls die Pressemeldung des Verfassungsgerichts.
Ich sage Ihnen: Sie sind auf dem falschen Weg, und
Sie haben das Ganze eingeleitet. Eichel hat damals Griechenland aufgenommen und Griechenland für seine mutigen Konsolidierungsaufgaben bewundert. Alle Zahlen
waren erstunken und erlogen, nichts hat gestimmt. Das
wussten fast alle, nur Eichel nicht. Dann haben Schröder
und Fischer den Stabilitätspakt aufgeweicht. Nur deswegen sind wir überhaupt in diese problematische Situation
gekommen.
({14})
Ich sage Ihnen: Für diese Art der Stabilitätspolitik, die
dazu führt, dass jeder für seine Ausgaben verantwortlich
bleibt - auch das wurde übrigens vom Verfassungsgericht bestätigt -, ist die FDP zentral mitverantwortlich.
Die Bundeskanzlerin ist bei den Verhandlungen gerade
in diesem Jahr vorausgegangen und hat diesen Weg beschritten. Ohne die FDP wäre dieser Weg aber nie beschritten worden - das ist meine Überzeugung - und mit
Ihnen schon gar nicht, wenn Sie an koalitionspolitische
Vorstellungen denken.
In der Haushaltskonsolidierung ist es ähnlich. Wir, die
FDP, garantieren die Konsolidierung des Haushaltes,
und zwar ohne Steuererhöhungen. Mit Ihnen geht es nur
mit Steuererhöhungen.
({15})
Sie überbieten sich gegenseitig mit Steuererhöhungsvorschlägen. Das Allertollste ist der neueste Vorschlag der
SPD, den Spitzensatz bei der Einkommensteuer auf
49 Prozent anzuheben. Sie erwecken den Eindruck, dass
das nur ein paar Multimillionäre zahlen müssten.
({16})
Ich sage Ihnen: Die Multimillionäre haben ihre Vermögen sowieso so gestaltet, dass Sie gar nicht daran herankommen. Wen treffen Sie damit?
({17})
80 Prozent der deutschen Unternehmen, des Mittelstandes. Den Personengesellschaften, die die große Mehrheit
der Arbeitnehmer beschäftigen,
({18})
haben wir den Wiederaufschwung zu verdanken. Sie haben dafür gesorgt, dass wir heute viel mehr Arbeitsplätze
haben als noch vor Jahren, als Sie regiert haben, und sie
würden dann dafür bestraft, dass sie ihre Gewinne für Investitionen nutzen, für Forschung und Entwicklung, also
in die Zukunft investieren. Bei dem Geld, das dann an
den Staat gehen würde, wüsste kein Mensch, was dann
damit geschehen würde.
Auch diese Politik, Haushaltskonsolidierung ohne
Steuererhöhung, gibt es nur mit der FDP. Wenn es uns
dann noch gelingt, zum Jahresende die kalte Progression
abzubauen, dann ist das mehr als recht und billig, denn
die Arbeitnehmer haben das verdient. Dies steht in Ihrem Wahlprogramm. Ich möchte einmal sehen, ob Sie
sich dagegen entscheiden werden.
Das Gleiche gilt für den Arbeitsmarkt. Wir haben
große Erfolge auf dem Arbeitsmarkt, was sozialpolitisch
das Wichtigste ist.
In der Gesundheitspolitik haben wir ein trostloses
Erbe übernommen. Das erwartete Defizit der gesetzlichen Krankenversicherungen lag bei 11 Milliarden Euro.
Das war das Erbe von Ulla Schmidt.
({19})
Philipp Rösler und Daniel Bahr haben die Wende eingeleitet und für eine Reserve von 2 Milliarden Euro bei den
gesetzlichen Krankenversicherungen gesorgt.
({20})
- Frau Schmidt, schön, dass Sie da sind. Dann können
Sie sich das anhören. - Jetzt haben die gesetzlichen
Krankenversicherungen eine Reserve von 2 Milliarden
Euro. Wodurch? Durch Senkung der Arzneimittelkosten
({21})
und durch Herstellung eines Wettbewerbs zwischen den
Krankenkassen. Das schafft Effizienzgewinne, und
durch diese Effizienzgewinne werden die Kosten
gesenkt. Deswegen ist wichtig: Auch in der Gesundheitspolitik muss man auf Eigenverantwortung und
Wettbewerb setzen. Dann kommen wir zu besseren Ergebnissen. Das ist nicht unsozial.
({22})
Diese Politik bekommen Sie nur mit Beteiligung der
FDP. Das will ich hier sagen, weil manche glauben, sie
könnten schon locker über uns hinweggehen. Keine
Sorge, wir haben schon viele schwierige Zeiten überstanden und finden immer wieder heraus, und zwar geläutert,
({23})
stärker und intelligenter. Sie hingegen ruhen sich auf Ihren momentanen Wahlerfolgen aus. Am Ende werden
Sie bei der Bundestagswahl aber wieder die ersten Verlierer sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({24})
Gerda Hasselfeldt hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Haushaltsdebatten, so sagt man, sind die Stunde der Opposition. Da hat sie die Möglichkeit, Alternativen vorzulegen, Visionen zu entwickeln. Diese Chance, diese Gelegenheit haben Sie heute aber nicht genutzt. Das ist
eindeutig.
({0})
Diese Debatte findet in Zeiten großer Turbulenzen an
den internationalen Finanzmärkten statt. Sie findet in einer Zeit der Verunsicherung der Menschen in der EuroZone statt. Gerade in dieser schwierigen Zeit setzt dieser
Haushalt notwendige und richtige Akzente, und zwar in
zweierlei Hinsicht:
Zum Ersten wird deutlich, dass Schuldenabbau einerseits und Wirtschaftswachstum andererseits keine Gegensätze sind, sondern zusammengehören und dass beides möglich ist, ja sogar das eine die Voraussetzung für
das andere ist:
({1})
Schuldenabbau und positive wirtschaftliche Entwicklung - das zeigt dieser Haushalt, das zeigt die Politik
dieser Regierung.
Zum Zweiten wird deutlich: Das, was Deutschland
kann, muss auch Europa können. Da sind wir noch nicht
ganz so weit. Aber wir setzen hier Zeichen. Wir sind
Vorreiter im Schuldenabbau, in einer stabilen Finanzund Haushaltspolitik. Wir sind Vorreiter im Bereich des
Wachstums. Diese Rolle müssen wir auch in Zukunft
wahrnehmen.
Ich möchte der Bundeskanzlerin ganz herzlich für
diese Arbeit danken; denn all das ist nicht von alleine
gekommen. Volker Kauder hat es angesprochen. Es ist
eine riesige Gemeinschaftsleistung, dass wir heute besser aus der Krise herausgekommen sind, als uns das in
allen Prognosen vorhergesagt worden ist. Dass wir besser dastehen als vor der Krise, war und ist nicht selbstverständlich, sondern liegt an einer riesigen Gemeinschaftsleistung der Menschen im Land, der Wirtschaft,
der Arbeitnehmer, aber auch der verantwortlichen Regierung.
({2})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich denke,
dass wir gut daran tun, die Sorgen der Menschen ernst zu
nehmen. Ich nehme sie sehr ernst. Zur Wahrheit gehört
aber auch: Die Entscheidung für die gemeinsame europäische Währung war richtig.
({3})
Nicht nur die Grundsatzentscheidung, sondern auch die
Entscheidung über die entsprechenden Bedingungen und
Stabilitätskriterien war wichtig und richtig.
Heute können wir in Bezug auf diese gemeinsame
Währung feststellen: Der Euro ist stabiler, als die D-Mark
es war. Wir haben im Durchschnitt eine niedrigere Inflationsrate, als wir sie bei der D-Mark hatten. Der Euro hat
die Menschen und die Wirtschaft zusammengeführt. Er
hat insbesondere in Deutschland zu Wohlstand und zu
mehr Wachstum geführt, weil wir durch den hohen Exportanteil besondere Vorteile davon haben. Ohne diese
gemeinsame Währung wären wir aus der Wirtschaftsund Finanzkrise nicht so herausgekommen, wie wir herausgekommen sind.
({4})
Eines gilt ebenfalls: Wenn sich alle an die vereinbarten Regeln gehalten hätten, dann hätten wir die heutigen
Probleme nicht. Das muss man auch nachvollziehen und
sich fragen: Wo haben wir denn Probleme? Warum haben wir diese Probleme?
Es ist heute schon mehrfach angesprochen worden;
ich glaube aber, dass man das gar nicht oft genug betonen kann: Der erste große Fehler war die Aufnahme
Griechenlands in den Euro.
({5})
Wir haben davor gewarnt. Wir haben uns dagegen ausgesprochen, weil die Schwierigkeiten schon damals ersichtlich waren. Sie haben leichtfertig zugestimmt. Wider besseres Wissen haben Sie zugestimmt. - Das war
der erste Sündenfall.
({6})
Als zweiter Sündenfall kam das Aufweichen der Kriterien hinzu, weil Sie selbst nämlich nicht willens und in
der Lage waren, sie einzuhalten. Sie hatten nicht die
Kraft, die Stabilitätskriterien im eigenen Land zu erfüllen.
({7})
- Sie hatten damals nicht die Kraft dazu. Sie haben dadurch, dass Sie die Kriterien aufgeweicht haben, dazu
beigetragen, auch andere zum Schuldenmachen einzuladen.
({8})
Da helfen auch alle Vergleiche mit der Schuldenbremse auf nationaler Ebene nichts, die vorhin angesprochen wurden. Denn auf europäischer Ebene haben wir
mit der nicht einheitlichen Finanz- und Haushaltspolitik
eine völlig andere Grundlage als auf nationaler Ebene.
({9})
Sie waren damals die Brandstifter und möchten heute
der Biedermann sein. So einfach geht das nicht.
({10})
Beides waren Fehleinscheidungen von historischer
Bedeutung, deren Konsequenzen wir heute alle miteinander zu tragen haben. Wer solche Fehlentscheidungen trifft, der sollte sich, denke ich, mit Vorwürfen an
andere sehr zurückhalten.
({11})
Was wir in dieser schwierigen Lage brauchen, ist erstens ein konsequenter Schuldenabbau. Wir sind hierbei
auf einem sehr guten Weg - das ist mehrfach angesprochen worden - mit der deutlichen Senkung der Nettokreditaufnahme und der Verschuldung insgesamt.
({12})
Wir sind auf einem guten Weg, und zwar auf einem wesentlich besseren Weg, als es in vielen europäischen
Ländern der Fall ist.
({13})
Zweitens brauchen wir eine stabilitätsorientierte Politik in jedem der Euro-Länder. Drittens brauchen wir
wettbewerbsfähige Strukturen in ganz Europa.
Die von Ihnen vorgeschlagenen Euro-Bonds sind dagegen ein völlig falscher Weg. Sie vereinheitlichen damit die Zinshöhe. Die Länder, die gut wirtschaften und
eine hohe Bonität haben, würden dann einen höheren
Zinssatz zu bezahlen haben. Das hätte entsprechende
Auswirkungen auf die Haushalte und damit auf die Steuerzahler.
Diejenigen, die schon jetzt schludrig arbeiten und
nicht konsolidieren und sparen wollen, hätten durch
niedrigere Zinsen noch einen Vorteil. Das wäre praktisch
eine Einladung zu weniger Konsolidierung, zu weniger
Anstrengungen und zu weiterem Schuldenmachen. Das
können wir nicht mitmachen.
({14})
Der Druck, sich stabilitätskonform zu verhalten, Einsparungen vorzunehmen und Strukturreformen durchzuführen, würde dadurch wegfallen. Wir brauchen keine
Schuldenunion, sondern eine Stabilitätsunion.
({15})
Deshalb sind auch alle vorgesehenen Hilfsprogramme
und Maßnahmen mit strikten Auflagen verbunden. Solidarität in Form von Leistungen und Hilfen kann es nur
dann geben, wenn entsprechende Anstrengungen unternommen werden, wobei die Anstrengungen und die Einhaltung der Auflagen auch überprüft werden müssen.
Bei Nichteinhaltung müssen entsprechende Konsequenzen drohen. Ich denke, dass wir damit auf einem guten
Weg sind.
Zu bewerkstelligen bleibt noch die Parlamentsbeteiligung. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken,
die schon eine hervorragende Vorarbeit geleistet und
sich die Mühe gemacht haben, die einzelnen Schritte genau durchzudeklinieren, sodass wir die Parlamentsbeteiligung mit den Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen abstimmen können und dann hoffentlich
mit einer breiten Mehrheit im Parlament zu einem guten
Ergebnis kommen werden.
Wir müssen aber noch weitergehen und dafür Vorsorge treffen, dass stabilitätsorientierte Politik, Schuldenabbau und die Schaffung von wettbewerbsfähigen
Strukturen in den einzelnen Ländern im Rahmen ihrer
Souveränität praktiziert und Krisen bereits im Vorfeld
verhindert werden. Die Vorschläge, die die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene mit dem französischen
Staatspräsidenten eingebracht hat, sind meines Erachtens
der richtige Weg. Es geht um die Verankerung von
Schuldenbremsen auch in anderen europäischen Ländern
und um die intensivere Koordinierung der Wirtschaftsund Finanzpolitik auf europäischer Ebene. Man sollte
nicht zuerst daran denken, ob man eine Vertragsänderung braucht oder nicht. Meines Erachtens steht diese
Frage am Ende der Diskussion. Wir müssen alles dafür
tun, um zu mehr Stabilität in Europa und zu einem stabilitätsorientierten Politikverständnis in allen europäischen
Ländern zu kommen.
({16})
Diese Bemühungen tragen in einigen Ländern, zum
Beispiel in Spanien, Früchte. Das sollte uns ermuntern,
auf diesem Weg weiterzugehen. Diesen Weg sollten wir
konkretisieren. Am Ende muss dann die Frage beantwortet werden, welche vertraglichen und rechtlichen Regelungen zu treffen sind.
Dass Deutschland in dieser Beziehung eine große
Verantwortung hat, sieht und spürt jeder. Diese Verantwortung nehmen wir wahr. Diese Verantwortung ist deshalb so groß, weil wir beispielgebend sind; denn wir sind
zugleich Stabilitätsanker und Wachstumslokomotive.
Beide Aspekte werden in Deutschland gelebt. Die Bemühungen, diese beiden Aspekte miteinander zu verbinden, sind nicht nur in Deutschland, sondern auch europaweit erkennbar. Wir sind bei der Schuldenbremse
Vorbild, wir sind für viele Länder Vorbild bei den Strukturreformen. Die Schuldenbremse ist nicht nur aktuell
wichtig; sie bringt vielmehr zum Ausdruck, was das
Markenzeichen dieser Regierung seit Jahren ist: Es ist
das Bemühen um Generationengerechtigkeit, das Bemühen um Nachhaltigkeit, und zwar nicht nur in der Umweltpolitik und in der Sozialpolitik, sondern auch in der
Finanzpolitik. Das ist das Markenzeichen dieser Regierung.
({17})
Diese Verantwortung gilt es wahrzunehmen. Deshalb
ist uns dies so wichtig.
Das kommt im Haushalt zum Ausdruck - Rückführung der Neuverschuldung -, aber auch im Ergebnis unserer Politik. Das zeigt die wirtschaftliche Entwicklung,
insbesondere die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen.
Das wurde im Laufe der Debatte schon mehrfach angesprochen. Nachdem wir 5 Millionen Arbeitslose zu Beginn unserer Regierungszeit übernommen haben, sind
wir jetzt bei unter 3 Millionen. Die Prognosen waren
ganz anders. Das kann man nicht einfach als Selbstverständlichkeit abtun. Jetzt haben wir wieder finanzielle
Spielräume und können das Geld, das sonst für Arbeitslosigkeit ausgegeben werden müsste, sinnvoller verwenden. Die Beiträge konnten gesenkt werden, und jetzt
können wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf
die wesentlichen Personenkreise konzentrieren. Das alles ist nur möglich, weil die wirtschaftliche Entwicklung
und insbesondere die Arbeitsmarktentwicklung so gut
ist. Der Schwerpunkt Bildung und Forschung wurde angesprochen. Auch das ist etwas, was mit Zukunftsgestaltung zu tun hat.
In dieser Situation kommt jetzt die SPD mit Vorschlägen aus der Mottenkiste. Sie hat all die Forderungen aus
der Mottenkiste geholt, die sie schon früher aufgestellt
hat: Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, Erhöhung der
Einkommensteuer. Das hatten wir schon alles. Das alles
ist Gift für die Konjunktur, Gift für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, Gift für die Beschäftigung der
Menschen im Land.
({18})
Ihnen fällt zur Haushaltskonsolidierung offensichtlich
nichts anderes ein, als das Geld von den Steuerzahlern
abzukassieren.
({19})
Das ist Ihre Philosophie. Unsere Philosophie war und ist
schon immer eine andere.
Wenn die wirtschaftliche Entwicklung sich gebessert
hat und wir wieder Spielräume haben, dann sollen alle
davon profitieren, auch diejenigen, die täglich zur Arbeit
gehen und Geld verdienen. Es darf nicht sein, dass bei
Lohnerhöhungen überproportional hohe Abgaben fällig
werden. Diese sogenannte kalte Progression abzubauen,
ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit und nichts anderes.
({20})
Angesichts unserer Einkommensteuerverteilung auf
der Ebene von Bund, Ländern und Gemeinden muss ich
schon sagen: Das Gebot der sozialen Gerechtigkeit verbietet eine Diskussion darüber, ob etwas zwar für den
Bund wichtig ist, für die Länder und die Kommunen
aber nicht. Es müssen schon alle mitmachen; Länder und
Kommunen tragen wie wir, der Bund, Verantwortung für
die arbeitenden Menschen.
({21})
Ihre Rezepte waren schon damals falsch, und sie sind
heute wieder falsch. Unser Ansatz, Schulden abzubauen,
Wachstum zu fördern und die Betroffenheit der Menschen nicht aus den Augen zu verlieren, war erfolgreich.
Auf diesem Weg werden wir weitergehen und unsere Arbeit fortsetzen.
Ich danke Ihnen.
({22})
Das Wort für die Bundesregierung hat der Staatsminister Bernd Neumann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Haushaltsberatungen werden traditionell zum Anlass genommen, Bilanz zu ziehen. Für die Kulturpolitik der
Bundesregierung in den letzten fast sechs Jahren - sie
wurde zuerst von Union und SPD und dann von FDP
und Union verantwortet - darf man feststellen: Sie wird
selbst von Außenstehenden, zum Beispiel vom Deutschen Kulturrat, als sehr erfolgreich, ja, als Erfolgsgeschichte angesehen. Dazu haben Sie, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, entscheidend beigetragen. Dafür sage ich Danke.
Natürlich gab und gibt es im Kulturausschuss in Einzelfällen immer auch unterschiedliche Meinungen - diese
werden von den Oppositionsrednern möglicherweise
gleich vorgetragen -; aber im Großen und Ganzen haben
wir für die Kultur immer an einem Strang gezogen. Das
bekommt der Kultur sehr gut, und das wird von den Kulturschaffenden und ihrer Community sehr anerkannt.
Ein Eckpfeiler unserer Kulturpolitik ist die uneingeschränkte Verlässlichkeit gerade im finanziellen Bereich,
und dies in Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrise. Wer
sich in unserem Land umschaut und die Schlagzeilen
über dramatische Kürzungen im Bereich der Kultur in
zahlreichen Kommunen und auch in den Bundesländern
verfolgt, wer die dramatischen Kürzungen bei den Kulturetats aller unserer europäischen Nachbarländer - mit
Ausnahme Frankreichs - zur Kenntnis nimmt, kommt zu
dem Ergebnis: Unsere Kulturpolitik ist Gold wert oder
geldwert. Seit 2005 wurde der Kulturhaushalt des Bundes stetig erhöht. Zum Erhalt kulturellen Erbes wurden
zusätzlich 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Der Ihnen vorliegende Entwurf für 2012 sieht einen erneuten, wenn auch kleinen Anstieg vor.
({0})
Zusätzlich werden jetzt 100 Millionen Euro aus dem
Konjunkturpaket II für die Sanierung der kulturellen Infrastruktur ausgegeben. In dieser Dimension hat es das
noch nie gegeben. Im ganzen Land sind es allein 80 Projekte des Bundes, zum Beispiel die Sanierung des Bauhauses Dessau, der Burg Eltz in Rheinland-Pfalz oder
auch des Deutschen Literaturarchivs Marbach. In Berlin
konnte ich in diesen Tagen drei Einrichtungen des Bundes, die mit einem Volumen von über 30 Millionen Euro
saniert wurden, wiedereröffnen. So strahlen im neuen
Glanz das Theater der Berliner Festspiele, der MartinGropius-Bau und die Akademie der Künste am Hansea14500
tenweg. Hier werden wir in vorbildlicher Weise der Mitverantwortung des Bundes für die kulturelle Repräsentation in der Hauptstadt gerecht.
({1})
Mit diesem außerordentlichen finanziellen Engagement bekennt sich die Bundesregierung zu der besonderen Rolle der Kultur für unsere Gesellschaft und zu ihrer
Verantwortung als europäische Kulturnation.
Es ist eben die Kultur, die unser Wertefundament bildet. Es sind die Künste, die uns zum Reflektieren und
Besinnen ermuntern, die ganz wesentlich die Basis unseres Gemeinwesens bilden. Darüber hinaus ist Kultur
mittlerweile ein nicht zu übersehender Standortfaktor. Es
ist kein weicher mehr, sondern wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung ein harter.
Lassen Sie mich aus dem vorliegenden Haushaltsentwurf wegen der Kürze der Zeit nur wenige Punkte stichwortartig hervorheben.
Kulturelle Bildung. Auch im Haushaltsjahr 2012 intensiviert der BKM seine Aktivitäten zur kulturellen Bildung. Wir haben erneut eine beträchtliche Erhöhung vorgesehen.
({2})
Besonders im Blick sind bundesweit modellhafte Projekte, die diejenigen erreichen sollen, die bisher kaum
mit Kultureinrichtungen in Kontakt gekommen sind.
({3})
Reformationsjubiläum. Das Bundeskabinett hat mir in
diesem Jahr die Aufgabe übertragen, die Aktivitäten der
Bundesregierung zu koordinieren, da es sich hier im
Kern um eine kulturpolitische Aufgabe handelt. Wir haben bereits in diesem Jahr bedeutsame Veranstaltungen
finanzieren und gemeinsam mit den Ländern authentische Orte der Reformation sanieren können. Das soll
sich im kommenden Jahr fortsetzen und hat - wie Sie
wissen - seinen Höhepunkt im Jahre 2017, dem Jubiläumsjahr der Reformation. Dann werden wir seitens des
Bundes mindestens 30 Millionen Euro dazu beigetragen
haben.
({4})
Aufarbeitung der SED-Diktatur. Meine Damen und
Herren, wir haben vor kurzem der Opfer des Mauerbaus
gedacht. Es macht traurig und wütend zugleich, dass
heute immer noch Menschen - auch mit politischer Verantwortung - das System der DDR verharmlosen. Ohne
Zweifel war die DDR ein Unrechtsstaat, der die fundamentalen Bürgerrechte verweigerte, Andersdenkende
bespitzelte, verfolgte und inhaftierte. Uns ist es wichtig,
dass dies der jungen Generation vermittelt wird. Daher
beteiligt sich der Bund an vielen Stellen, die authentisch
sind im Hinblick auf die Repression und Unterdrückung
durch den SED-Staat.
({5})
Wir werden mit dem Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße einen neuen authentischen Ort einrichten. Die
Eröffnung der Dauerausstellung „Grenzerfahrungen.
Alltag der deutschen Teilung“ wird die Bundeskanzlerin
in der nächsten Woche vornehmen.
Denkmalschutz. Meine Damen und Herren, das Jahr
2011 ist ein gutes Jahr für den Denkmalschutz. Mit dem
Sonderprogramm von 15 Millionen Euro, durch den
Haushaltsausschuss initiiert und bewilligt, konnte zur
Restaurierung von rund 100 Denkmälern beigetragen
werden. Darunter sind Kirchen, Schlösser, Gärten, aber
auch Industriedenkmäler. Wir wollen diese Maßnahmen
fortsetzen, weil sie zu den erfolgreichsten flächendeckenden Maßnahmen im Bereich der Sanierung von
Denkmälern zählen.
({6})
Zur Medienpolitik abschließend zwei kurze Punkte.
Deutsche Welle. Wir werden den von den Verantwortlichen des Senders geplanten Reform- und Umstrukturierungskurs uneingeschränkt unterstützen. Die Deutsche
Welle ist unsere mediale Visitenkarte weltweit. Sie ist
ein unverzichtbarer kompetenter Botschafter Deutschlands. Deshalb haben wir - im Gegensatz zu der Regierung von Rot-Grün unter Schröder - in den zurückliegenden Jahren, seit 2005, die Deutsche Welle von der
Erwirtschaftung der globalen Minderausgabe, die alle
Ressorts erbringen müssen, ausgenommen. Wir haben
den Haushaltsansatz sogar um einige Millionen erhöht.
Die Deutsche Welle wird im nächsten Jahr einen Beitrag zur Gesamtkonsolidierung des Haushalts von 2 Millionen Euro leisten. Das ist weniger als 1 Prozent. Wir
überlassen der Deutschen Welle die finanziellen Mittel
- diese sind weitaus höher -, die sie durch die Reform an
Synergieeffekten erreicht. Das heißt, die Deutsche Welle
wird damit indirekt gestärkt. Wir hoffen, dass sie ihr Programm weiter qualifizieren kann.
({7})
Der andere Punkt betrifft den Film. Der Film gehört
nun zu den besonderen Erfolgsgeschichten unserer Medienpolitik. Wir haben Deutschland wieder zu einem interessanten Standort für Filmproduktionen gemacht. Wer
das genauer belegt haben will, möge sich einmal die Planung großer, auch internationaler Produktionen für
dieses und nächstes Jahr vom Studio Babelsberg zeigen
lassen. Der Deutsche Filmförderfonds, den wir 2007 gemeinsam in der Großen Koalition eingerichtet haben, hat
geradezu zu einem Boom in der deutschen Filmwirtschaft
geführt. Dies führt letztlich auch zur Qualifizierung weiterer Filme, die sich zunehmend international besser verkaufen und mehr internationale Preise erhalten.
Abschließend mein herzliches Dankeschön an die
Mitglieder des Haushaltsausschusses. Sie alle haben immer wieder notwendige zusätzliche Mittel zur Verfügung
gestellt und damit an der erfolgreichen Kulturpolitik entscheidenden Anteil.
({8})
Bleiben Sie bitte auch in Zukunft der Kultur gewogen!
({9})
Siegmund Ehrmann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsminister Neumann! Ich
will gerne bestätigen, dass das Klima der Zusammenarbeit in der Kultur- und Medienpolitik sehr kollegial ist
und in weiten Teilen auch auf Konsens ausgelegt ist.
Gleichwohl lese ich gerade aus dem Haushaltsentwurf
2012 eine deutliche Differenz heraus: Ich erkenne nicht,
dass hier tatsächlich ernsthaft kulturpolitischer Gestaltungsanspruch Raum greift.
({0})
Ich will das auch kurz begründen.
Wenn man nämlich genauer hinsieht, Kollege
Börnsen, dann stellt man fest, dass ein Volumen von
etwa 60 Millionen Euro durch neue Titel in den Haushalt
des BKM gelangt ist. Hierbei handelt es sich einerseits
um die Verlagerung von Verantwortlichkeiten aus anderen Ministerien: Dabei geht es um die Dienststelle für
die Benachrichtigung der Angehörigen von Gefallenen
der ehemaligen Wehrmacht und den Internationalen
Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen. Andererseits gibt es auch eine unter dem Gesichtspunkt der
Haushaltsklarheit durchaus sinnvolle Sache, nämlich
dass das Deutsche Historische Museum Miete bezahlen
muss.
Dieses Volumen von 60 Millionen Euro muss nun gegenfinanziert werden. Ich lese aus dem Entwurf, dass
23 Millionen Euro durch das Auslaufen von Projekten
finanziert werden sollen. Das ist absolut nachvollziehbar. Das gilt aber - das ist mein erstes Thema - schon
nicht mehr dafür, dass ein Klassiker aufgegriffen und der
Etat der Bundeskulturstiftung wieder gekürzt wird, also
der höhere Ansatz, den wir letztes Jahr gemeinsam erstritten haben, wieder auf den alten Stand zurückgeführt
wird. Die Bundeskulturstiftung ist nämlich ein klassisches Instrument der Kulturförderung, um dezentral in
der Fläche gute Projekte anzuschieben. Zum anderen besteht bei der Bundeskulturstiftung eine relativ starke
Mittelbindung, da mehrjährige Verpflichtungen eingegangen wurden. Kürzt man das Volumen, sind Ad-hocProjekte kleinerer Art, insbesondere auch über die
Fonds, gefährdet.
Ein zweites Thema möchte ich ansprechen, nämlich
den kulturellen Denkmalschutz. Das ist in der Tat ein
tolles Projekt. Da haben Sie viel umgesetzt. Dass Sie das
weiterführen wollen, wie Sie angekündigt haben, spiegelt sich im vorliegenden Haushaltsentwurf allerdings
nicht wider. Im Gegenteil, die Mittel sind eingesammelt
worden, um die in den Aufgabenbereich des BKM verlagerten Einrichtungen gegenzufinanzieren.
({1})
Drittes Thema: Wir haben über die Deutsche Welle
- Sie sprachen sie an - hier eine interessante Debatte geführt. Der Reformprozess ist anspruchsvoll und mächtig.
Es ist aber schon eine subtile Form der Unterstützung,
durch Mittelkürzungen die Arbeit dieser Institution zu
fördern. Dabei haben wir gemeinsam beschlossen und
verabredet, dass wir während des Umbauprozesses für
die Deutsche Welle eine ausgewogene und auskömmliche Finanzierung,
({2})
nicht zwingend eine Aufstockung, aber auf keinen Fall
eine Reduzierung des Etats, ermöglichen wollen.
Dieses Stichwort gibt mir Anlass, den Blick auch einmal auf die auswärtige Kulturpolitik zu werfen. Sie gehört zwar nicht zum Kernbereich, aber ich hätte mir sehr
wohl eine deutliche Stellungnahme des Kulturstaatsministers und der Koalitionsfraktionen gewünscht, als es
um das Thema Goethe-Institute ging. Der Etat wird um
etwa 4,8 Millionen Euro zurückgefahren.
Etwas, was mich - ich will es emotional ausdrücken erzürnt, ist, dass die Mittel für „Kulturwärts“, ein tolles
Projekt, das junge Leute im Kontext des Freiwilligen Sozialen Jahres international zu Kulturarbeit befähigen
soll, deutlich gekürzt worden sind. Auch hier vermisse
ich die mahnende Stimme des Kulturstaatsministers bzw.
der Koalitionsfraktionen.
({3})
Lassen Sie mich noch zwei Punkte ansprechen, die
ich als Herausforderung begreife:
Der Bereich des Gedenkens und Erinnerns ist aus
zwingenden und guten Gründen ein sehr wichtiges
Thema, dem wir uns entsprechend widmen. Das Gedenkstättenkonzept wird immer weiter fortgeschrieben.
Wir werden auch durch bürgerschaftliche Initiativen mit
Situationen und Inhalten konfrontiert, die noch nicht angemessen mit dem Appell „Erinnern für die Zukunft“
verbunden präsentiert und gewürdigt werden. Das
jüngste Projekt, mit dem wir uns auseinandersetzen, ist
T4. Über die Else-Lasker-Schüler-Stiftung sind alle
Fraktionen auf das Zentrum für verfolgte Künste aufmerksam gemacht worden,
({4})
das besondere Biografien würdigt. Durch bürgerschaftliches Engagement ist im Bergischen Land auf beeindruckende Art und Weise eine Sammlung geschaffen worden. Ich glaube, dass dieses Thema ein blinder Fleck im
nationalen Gedenkstättenkonzept ist. Es wäre ein guter
Stil, wenn wir im Bund gemeinsam, möglichst über alle
Fraktionen hinweg, die örtlichen Akteure im Bergischen
Land und das Land Nordrhein-Westfalen bei einer angemesseneren Präsentation dieses wichtigen Gedenksegmentes unterstützten.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will jetzt
nur noch ganz kurz auf die Bayreuther Festspiele und
den Bericht des Bundesrechnungshofes eingehen. Das
Thema ist derzeit, glaube ich, auch Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen. Nicht nur deshalb wäre es
wichtig, dass wir uns noch einmal intensiv mit der Praxis
der Kartenvergabe auseinandersetzen. Wir haben das im
Kulturausschuss erörtert. Der Staatsminister hat das seinerzeit sehr zeitnah vorgetragen und bewertet. Es gab
die Verabredung, das in den zuständigen Gremien anzusprechen. Mich würde sehr interessieren, was dabei herausgekommen ist und auf welche Initiative hin das
Engagement des Bundes dort greift; denn die Subventionierung von Fördervereinsmitgliedern kann nicht zwingend unsere Aufgabe sein.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir in den Beratungen des Ausschusses für Kultur
und Medien bei den verschiedenen Punkten einen breiten parlamentarischen Konsens erringen können.
({6})
Reiner Deutschmann hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns den Gesamthaushalt von 306 Milliarden Euro anschauen, so wirkt
der Kulturetat mit 1 Milliarde Euro auf den ersten Blick
etwas bescheiden. Dennoch ist die Beratung über diesen
verhältnismäßig kleinen Haushaltsposten ein wichtiges
Ereignis in der Kulturpolitik unseres Landes. Denn ohne
den Kulturetat des Bundes sähe die Kulturlandschaft in
Deutschland deutlich ärmer aus.
({0})
Obwohl die Zuständigkeit bei den Ländern und Kommunen liegt, ist der Etat des Staatsministers für Kultur und
Medien - wohlgemerkt möglich gemacht durch das Parlament - einer der Garanten für die vielfältigen Kulturangebote in unserem Land.
({1})
So setzt die christlich-liberale Koalition mit dem heute
zu beratenden Haushalt ihre Politik der soliden und berechenbaren Kulturfinanzierung fort.
So wie im Koalitionsvertrag beschlossen, werden die
Bereiche Bildung, Forschung und Kultur weiter besonders gefördert und auch in Zeiten des Sparens bei den
Kürzungen ausgenommen. Ich denke, diese Verlässlichkeit der christlich-liberalen Koalition weiß jeder, der mit
Kultur zu tun hat, zu schätzen.
({2})
Es geht uns um das kulturelle Selbstverständnis der
Kulturnation Deutschland. Wir machen es nicht wie Italien und setzen die Axt an. Wir machen es auch nicht wie
die Niederlande, die mal eben 20 Prozent kürzen wollen
und wo Kultur laut Frankfurter Rundschau vom 17. August 2011 gern als „linkes Hobby“ oder als Freizeitbeschäftigung einiger Alt-68er bezeichnet wird. Wir machen es auch nicht wie Großbritannien, wo der Etat des
Arts Council sogar um 30 Prozent gekürzt wird.
Es ist uns gelungen, die Planansätze für den Haushalt
2012 des BKM stabil zu halten, obwohl die Zeiten der
Haushaltskonsolidierung noch lange nicht vorbei sind.
Haushaltskonsolidierung hat für die christlich-liberale
Koalition absolute Priorität. Daran werden wir auch in
den nächsten Jahren festhalten.
({3})
Trotzdem kann die Koalition einige Aufwüchse im
Kulturhaushalt 2012 vermelden. So stellen wir der Deutschen Nationalbibliothek für die Forschung im Bereich
digitaler Bibliotheken und digitaler Publikationen zusätzlich 370 000 Euro zur Verfügung. Ich hoffe, dass wir
die Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung noch
weiter verstärken können. Hierzu hat die christlich-liberale Koalition bereits vor der Sommerpause einen Antrag eingebracht.
Auch der Deutsche Museumsbund erhält zusätzliche
Mittel. Mit dieser Projektförderung können weitere Serviceangebote zur Verfügung gestellt werden. Museen
sind Schnittstellen unserer Gesellschaft. Sie wirken integrativ und überwinden Sprach- und Kulturgrenzen. Auch
dieses Geld ist gut angelegt.
Einen großen Schwerpunkt unserer Arbeit bildet natürlich die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Die dazugehörenden Stiftungen und Gedenkstätten werden weiter
verlässlich durch den Bundeskulturhaushalt gefördert.
So wird zum Beispiel die Stasi-Opfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen derzeit saniert und ausgebaut.
Angesichts der dringend notwendigen Aufarbeitung der
SED-Diktatur und des sich vergrößernden zeitlichen Abstandes zum Zusammenbruch der DDR und zum Mauerfall 1989 sind diese Maßnahmen dringend erforderlich.
({4})
Schließlich beugt ein Besuch in Hohenschönhausen sowie in anderen Gedenkstätten der Idealisierung und Verklärung der DDR am besten vor.
({5})
Dieser Haushaltsentwurf ist ausgewogen und stellt
eine gute Entscheidungsgrundlage dar. Die genannten
Aspekte sind nur ein kleiner Teil dessen, was unsere
Kulturpolitik ausmacht.
Es gibt aber auch Bereiche, denen wir noch mehr
Aufmerksamkeit zukommen lassen müssen. So gehört
zum Beispiel die freie Theaterszene inzwischen zum festen und nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der
Kultur unseres Landes. Aber auch die soziale Lage vieReiner Deutschmann
ler Künstlerinnen und Künstler zeigt Handlungsfelder
auf, insbesondere bei den Tänzerinnen und Tänzern.
Auch das erst vorhin erwähnte Zentrum für verfolgte
Künste halte ich für ein hochinteressantes Projekt. Ich
habe mir letzte Woche drei Stunden Zeit genommen, um
es mir anzuschauen. Ich denke, es wird im Ausschuss ein
Thema sein.
Ich freue mich auf die Beratungen zum Haushalt. Die
Erfahrungen aus der Vergangenheit stimmen mich zuversichtlich, dass der Deutsche Bundestag auch weiterhin alles in seiner Entscheidungskompetenz Stehende für
die Kultur tun wird.
Vielen Dank.
({6})
Agnes Krumwiede hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Zustand schwarz-gelber Politik steht unter dem
Motto „rasender Stillstand“ - auch im Bereich Kultur.
Noch immer ist der Kulturstaatsminister keinen entscheidenden Schritt weiter, was die Verbesserung der sozialen Lage von Kulturschaffenden betrifft.
({0})
Eine Künstlerförderung, die sich hauptsächlich in der
Vergabe von Preisen erschöpft, ist nicht nachhaltig. In
einigen Bereichen des Kulturbetriebs brauchen wir endlich Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen.
({1})
Kulturpolitik muss mehr können als ein Geldautomat.
Es genügt nicht, nach Gutsherrenart willkürlich Mittel
zu verteilen und das mit dem undefinierten Begriff „gesamtstaatliche Bedeutung“ zu begründen. Warum sind
einige Festspiele und Institutionen von größerer gesamtstaatlicher Bedeutung als andere? Wir brauchen hier
endlich ein transparentes und faires Verfahren.
({2})
Kulturpolitik darf nicht allein über Förderwürdigkeit
von Kunst und Kultur entscheiden. Es bedarf eines unabhängigen Expertengremiums zur Mitberatung. Nach
dem Geldsegen ist die kulturpolitische Arbeit noch lange
nicht beendet. Wenn der Bund fördert, übernimmt er
auch Verantwortung für die Verwendung der Mittel.
Als ich vor einem Jahr die Finanzierung der Bayreuther Festspiele infrage gestellt habe, löste meine Kritik bei einigen Empörung aus. Mittlerweile hat auch der
Bundesrechnungshof die ausufernden Kartenkontingente
kritisiert. Solange nur ein Bruchteil der Karten für die
Allgemeinheit verfügbar ist, profitiert von den WagnerFestspielen nur eine Elite.
({3})
Herr Neumann, wir fordern Sie auf, den Empfehlungen
des Bundesrechnungshofes zu folgen und auf eine deutliche Reduzierung der Kartenkontingente hinzuwirken.
({4})
Steuergelder verfehlen ihren Zweck, wenn das Liveerlebnis von Kulturevents nur einem etablierten Stammpublikum überlassen bleibt.
Viele Menschen empfinden heute klassische Konzerte,
Oper oder Theater als elitär. Es ist unsere Aufgabe, dieser wachsenden Entfremdung entgegenzuwirken. Deshalb muss Kulturpolitik Rahmenbedingungen setzen, die
verhindern, dass nur eine Elite Zugang erhält.
({5})
Mit Zugang meine ich nicht nur eine Karte für die Bayreuther Festspiele. Es geht um eine Stärkung und Aufwertung kultureller Bildung, um eine Überwindung der
erzkonservativen Einteilung in Hoch- und Subkultur. Jugendkultur ist genauso viel wert wie Klassik. Das muss
sich auch in der Förderpraxis widerspiegeln.
({6})
Denn nur dann, Herr Neumann, erreichen Sie auch die
Kinder und Jugendlichen, von denen Sie vorher gesprochen haben.
({7})
Auch bei der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist rasender Stillstand angesagt. Als Kulturstaatsminister und als Vorsitzender des Stiftungsrates tragen
Sie, Herr Neumann, doppelte Verantwortung.
({8})
Es ist untragbar, dass die Revisionisten Tölg und Saenger
als stellvertretende Mitglieder immer noch Teil des Stiftungsrates sind.
({9})
Sie tolerieren das und nehmen dafür in Kauf, dass der
Zentralrat der Juden aus Protest bis heute seinen Sitz ruhen lässt.
({10})
Mit Ihrem Einverständnis wurde der Vertreter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma nicht wieder in den
Wissenschaftlichen Beirat berufen.
({11})
Herr Neumann, wenn Mitglieder der Stiftung als Ausdruck ihres Protestes ihren Sitz ruhen lassen, darf das
von Ihnen nicht als Rechtfertigung missbraucht werden,
diese Mitglieder auszuschließen.
({12})
Jede Fehlentscheidung und Missstimmung innerhalb der
Stiftung ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer des Nationalsozialismus. Deshalb fordern wir umgehend einen
Neustart der Stiftung.
Wir begrüßen, dass auch im Kulturhaushalt 2012 der
Erhalt der KZ-Gedenkstätten in Deutschland gesichert
ist. Dass sich das Auswärtige Amt dagegen nicht für den
Erhalt der KZ-Gedenkorte in Polen einsetzt, ist mehr als
beschämend.
({13})
Die ehemaligen Konzentrationslager Sobibor, Majdanek und Treblinka befinden sich im Zustand substanzieller Auflösung. Diese Tatorte nationalsozialistischer Verbrechen müssen erhalten bleiben - als Mahnmal gegen
das Vergessen, als Friedhöfe für die Hinterbliebenen.
Herr Westerwelle, es ist zynisch, sich auf Formalismus wie die „fehlende Problemanzeige von polnischer
Seite“ zu berufen. Wir fordern Sie auf, Polen ein Angebot zur Teilfinanzierung der Gedenkorte zu machen.
({14})
Zeigen Sie Gespür für unsere historische Verantwortung, und bewahren Sie uns vor der Peinlichkeit, die Erinnerungsstätten deutscher Schuld in Polen verfallen zu
lassen. Es kann doch nicht wahr sein, dass Erinnerungskultur für Schwarz-Gelb darin besteht, von der Opposition an ihre Aufgaben erinnert zu werden.
({15})
Unser System verursacht, dass wir von allem den
Preis kennen, aber nicht den Wert. Der Wert von Kultur
ist oft höher als ihr Preis. Meistens geht es in der Kulturpolitik nicht um große Summen. Grüne Kulturpolitik
will, dass Mittel auch dort ankommen, wo nicht alle hinsehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. An dieser
Stelle noch gute Besserung an unsere Kollegin Luc
Jochimsen von der Partei Die Linke.
({16})
Damit verlassen wir den Bereich des Bundeskanzleramtes und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Thomas de Maizière.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele von uns waren in den letzten Wochen unterwegs in den Standorten, in den Kasernen, in den Einsatzgebieten - und haben mit den Soldaten gesprochen. Das gilt
auch für mich. Es waren gute und offene Gespräche.
Mir wurde dabei deutlich: Die Bundeswehr besteht
aus hochmotivierten, von ihren Aufgaben überzeugten
Soldaten und zivilen Mitarbeitern. Sie leisten ihren
Dienst mit großem Engagement. Wir alle können uns auf
sie verlassen, und wir können stolz auf sie sein.
({0})
Es kommen aber auch berechtigte Fragen auf; die
werden wir gleich diskutieren. Wie ist es mit der Ausgestaltung ihres Dienstes in Zukunft? Wie ist es mit der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Wann fallen die
insbesondere sie betreffenden Entscheidungen? Und immer wieder: Wie ist es mit der einsatzgerechten Ausrüstung und Ausstattung? Eine Antwort auf all diese Fragen
ist die Neuausrichtung der Bundeswehr.
Deutschland benötigt einsatzbereite und einsatzfähige
Streitkräfte, die in Qualität von Ausstattung und Ausbildung dem internationalen Stellenwert und Gewicht unseres Landes entsprechen. Dabei dürfen sich die Streitkräfte und die Öffentlichkeit nicht statisch auf jetzt
aktuelle Einsatzszenarien festlegen. Afghanistan kann,
muss aber keineswegs Vorbild für künftige Einsätze
sein. Nur ein breites militärisches Fähigkeitsprofil bietet
verschiedene Optionen, um den Anforderungen von
heute und morgen gerecht zu werden.
Das heißt keineswegs, dass zwangsläufig mehr deutsche Soldaten in Auslandseinsätze entsandt werden. Ich
sage gerade auch angesichts der aktuellen Debatten ganz
offen: Wir werden stets souverän entscheiden, woran wir
uns beteiligen und woran nicht. Dabei ist unsere Bündnisverpflichtung ein entscheidender Maßstab. Ich füge
hinzu: Im Zweifel ist sie der entscheidende Maßstab.
({1})
Wir werden ebenso in Übereinstimmung mit unseren
Partnern entscheiden, laufende Einsätze zurückzufahren,
sofern entsprechende Rahmenbedingungen gegeben
sind.
Wir müssen in der Lage sein, verantwortbare und verlässliche Entscheidungen zu treffen. Dies setzt sicherheitspolitischen Handlungsspielraum voraus, der nicht
zuletzt von einer hochwertigen Bundeswehr abhängt.
Das, was man will, muss man auch können; was man
nicht kann, sollte man auch nicht wollen.
Wie Sie wissen, habe ich im Mai grundlegende Entscheidungen zu Personalumfängen im Ministerium und
im nachgeordneten Bereich getroffen; darüber haben wir
anlässlich einer Regierungserklärung diskutiert. Wir arbeiten jetzt mit Hochdruck an den Einzelheiten: an den
künftigen Strukturen, den Folgerungen für den Personalumbau und damit auch für die Stationierung und die notwendigen Begleitmaßnahmen.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
Natürlich stelle ich genauso wie andere eine gewisse
Ungeduld fest. Dafür habe ich zuallererst Verständnis.
Aber es bleibt dabei: Die Entscheidungen müssen gut
vorbereitet und durchdacht sein; sie müssen sich aufeinander beziehen. Deswegen fallen die Entscheidungen
nach und nach im Herbst. Spätestens bis zur zweiten und
dritten Lesung des Haushaltes sind alle Entscheidungen
gefallen, die Stationierungsentscheidungen in der letzten
Oktoberwoche.
Eine der einschneidendsten Veränderungen in der Geschichte der Bundeswehr haben wir bereits umgesetzt:
Seit Juli dieses Jahres ist die Bundeswehr eine reine
Freiwilligenarmee. Diese Entscheidung war - ich füge
hinzu: leider - richtig. Die Zeit für die Vorbereitung auf
den neuen freiwilligen Wehrdienst war knapp. Die ersten
Freiwilligen sind da. Die Zahlen sind etwas besser als
befürchtet. Ja, es gehen auch einige weg, aber das ist alles noch nicht besorgniserregend. Über den Erfolg dieses
Konzepts entscheiden nicht der Juli 2011 und nicht der
Oktober 2011, sondern erst die nächsten Jahre. Deswegen sollten wir - das ist eine herzliche Bitte an die Opposition - das Modell des freiwilligen Wehrdienstes
nicht kaputtreden, sondern alles dafür tun, dass er ein Erfolg wird.
({2})
Ich möchte in diesem Zusammenhang darum bitten,
nicht von einer „Berufsarmee“ zu sprechen. Es wird jetzt
oft gesagt: „Aus der Wehrpflichtarmee ist eine Berufsarmee geworden.“ Das ist falsch. Es ist eine Freiwilligenarmee. Warum? Weil das Verhältnis von Berufs- zu
Zeitsoldaten jetzt ungefähr 1 zu 2,5 beträgt. Das heißt,
wir haben mehr als doppelt so viele Zeitsoldaten wie Berufssoldaten. Ich finde, das sollte so bleiben. Deswegen
ist „Freiwilligenarmee“ die richtige Bezeichnung, nicht
„Berufsarmee“.
({3})
Nun haben wir im Mai diskutiert. Ich erinnere mich
an Wortbeiträge der Opposition, in denen gesagt wurde:
„Ja, Herr Minister, das hört sich alles ganz gut an; allerdings fehlt die Finanzierungsgrundlage. Ohne Finanzierungsgrundlage ist alles heiße Luft.“ Ich habe dann wiederum gesagt: „Die Kritik hört sich richtig an; aber wir
werden bei der Beratung des Haushalts darüber diskutieren, nicht jetzt. Dafür bitte ich um Verständnis.“ Das hat
Sie geärgert, aber so sind die Spielregeln.
({4})
Insofern freue ich mich, Ihnen heute die finanziellen
Grundlagen vortragen zu können.
Der von der Bundesregierung am 6. Juli beschlossene
Entwurf des Verteidigungshaushalts umfasst mit rund
31,7 Milliarden Euro eine durchaus stattliche Summe.
Die gesamtstaatliche Herausforderung, die gegenwärtige
Finanzkrise zu bewältigen und die Schuldenlast künftiger Generationen zu mindern, zwingt uns wie alle anderen Politikfelder auch, Prioritäten zu setzen. Das ist nicht
nur für die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion - über die wir heute diskutiert haben - von Bedeutung, sondern auch von sicherheitspolitischer Bedeutung. Im gleichen Duktus wie wir diskutieren unsere
Kollegen in Großbritannien, in Frankreich und sogar in
den USA.
Entscheidend ist im Übrigen nicht die Entwicklung
des kommenden Jahres, sondern die Entwicklung der
nächsten Jahre. Ich will Ihnen kurz ein paar Zahlen vortragen. Nach der bisherigen Finanzplanung - ich glaube,
es war die 44. - wäre der Verteidigungshaushalt in den
nächsten Jahren kontinuierlich abgesunken und hätte im
Jahre 2015 einen Umfang von 27,6 Milliarden Euro erreicht. Merken Sie sich bitte diese Zahl. Demgegenüber
sind nach der jetzt beschlossenen Finanzplanung die
Verteidigungsausgaben in diesem Zeitraum um annähernd 8,6 Milliarden Euro höher. Davon fließen zwar
- damit wir seriös bleiben - 3,5 Milliarden Euro an die
BImA, das ist wahr, aber es verbleibt gleichwohl ein
Substanzgewinn und damit ein solides Fundament für
die Finanzierung unserer Bundeswehr. Gleichzeitig leisten wir mit einer moderat sinkenden Finanzlinie durchaus unseren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Zielgröße bei der Finanzplanung für das Jahr 2015 sind nicht
mehr 27,65 Milliarden Euro, sondern 30,4 Milliarden
Euro. Ich finde, das ist eine gute Nachricht für die Bundeswehr und die Sicherheit unseres Landes.
({5})
Das ist aber noch nicht alles. Ich bin dem Finanzminister Wolfgang Schäuble und meinen Kollegen im
Kabinett sehr dankbar, dass wir noch etwas Weiteres beschlossen haben, nämlich die Ausgaben für das zivile
Überhangpersonal. Das klingt jetzt sehr technisch: Damit sind die Menschen gemeint, die uns wegen des Personalabbaus auch bei der Zivilverwaltung - von jetzt
rund 76 000 auf 55 000 Stellen - verlassen müssen.
Diese Ausgaben in Höhe von 1 Milliarde Euro werden
künftig außerhalb des Verteidigungshaushaltes veranschlagt. Jedenfalls bitten wir das Hohe Haus um Zustimmung. Das bedeutet, dass wir praktisch, zusätzlich zu
den Zahlen, die ich eben genannt habe, jedes Jahr 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung haben. Das ist eine noch
bessere Nachricht für die Bundeswehr und die Sicherheit
unseres Landes. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Das
führt im Jahre 2012 zu einer Erhöhung des immer Not
leidenden Etats für Materialerhaltung der Bundeswehr
um 200 Millionen Euro.
Bei der Neuausrichtung der Bundeswehr geht es nicht
nur darum, Personal abzubauen, es geht auch nicht nur
um die Gewinnung neuen Personals. Wir müssen uns genauso um diejenigen kümmern, die bleiben, mit denen
wir die Zukunft bauen wollen, die Beförderungschancen
brauchen und nicht das Gefühl haben sollen - wie
manchmal vielleicht der Eindruck entsteht -, wir würden
uns besonders um die kümmern, die kommen sollen, und
um die, die gehen sollen. Unser Hauptanliegen gilt natürlich denen, die bleiben. Im Rahmen eines Reformbegleitprogramms werden deshalb Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes erarbeitet. Der
Regierungsentwurf zum Haushalt 2012 sieht hierfür bereits im Vorgriff einen Betrag von rund 200 Millionen
Euro vor.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
Entscheidend für den Erfolg jeder Armee ist neben
den Menschen die Ausrüstung. Das wissen wir. Es ist
kein Geheimnis, dass die Beschaffungsprozesse bei uns
erheblich verbessert werden müssen. Ich habe an anderer
Stelle ausführlich darüber gesprochen. Die Verfahren
dauern zu lange, Verzögerungen und Verschiebungen begründen Bindungen für Material, das unter Umständen
gar nicht mehr oder nicht mehr im vorgesehenen Umfang benötigt wird. Das führt dazu, dass uns zwar
23 Prozent des Haushaltes für Investitionen zur Verfügung stehen, aber nur auf dem Papier. Fast alles ist durch
Bestellungen, die in der Vergangenheit getätigt wurden,
gebunden. Das ist kein Vorwurf; Bestellungen dauern
lange. Aber für die Zukunft ist es eine schlechte Nachricht.
Ich habe deswegen die Erarbeitung eines Konzepts in
Auftrag gegeben, wie wir mit Blick auf das neue Fähigkeitsprofil der Bundeswehr Spielräume zurückgewinnen
können. Das heißt, wir werden die geplanten Rüstungsbeschaffungen unabhängig von der Frage, ob sie vertraglich gebunden sind oder nicht, priorisieren. Dann werde
ich Vertreter der Rüstungsindustrie einladen und mit ihnen Folgendes besprechen: Es gibt zwei Varianten. Die
eine Variante ist: Wir bezahlen, was bestellt ist, und stellen die Dinge, die wir nicht mehr brauchen, auf den Hof;
dann können wir nichts Neues bestellen. Die andere Variante ist: Wir passen die Planungen an; die Mittel, die
dadurch frei werden, können wir für neue Bestellungen
nutzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns auf den
zweiten Weg verständigen können.
Ein Wort zur Stationierung. Ich weiß, dass dieses
Thema viele von Ihnen betrifft. Ich bin im Augenblick
einer der gefragtesten Gesprächspartner der Kolleginnen
und Kollegen im Deutschen Bundestag. Ich freue mich,
wenn Kollegen zu mir kommen und sagen: Bei mir ist
kein Standort mehr; mit mir können Sie ganz entspannt
reden.
({6})
Ich möchte Folgendes sagen: Wir machen das nicht aus
Jux und Tollerei. Wir machen das auch nicht unter dem
Aspekt der Beliebtheit. Es spielt auch keine Rolle, wer
am lautesten schreit. Wir machen das nach Kriterien.
Wir machen das nach fachlichen Überlegungen. Wir machen das ganz transparent. Wir hoffen, dass am Ende jeder versteht: Diese Entscheidungen sind schmerzlich,
aber nötig.
Es bleibt dabei - das muss ich leider auch den Vertretern der Länder und Kommunen sagen -: Das, was wir
tun, basiert auf einer Bundesentscheidung. Wir treffen
die Entscheidung nach fachlichen Überlegungen. Die
Verteilung von Bundeswehrstandorten ist kein Strukturprogramm für die Länder. Ich weiß, dass das strukturelle
Auswirkungen hat, dass so etwas in Überlegungen einfließt, aber das erkenntnisleitende Motiv kann nicht die
Strukturpolitik für Länder und Kommunen sein, so leid
mir das tut.
({7})
Ich bitte Sie um Unterstützung bei den Beratungen zu
diesem Haushalt und auf dem schwierigen Weg der Neuausrichtung, auf dem wir uns befinden. Ich biete, wie bereits im Mai, auch der Opposition eine entsprechende
Zusammenarbeit an. Wir brauchen eine Bundeswehr, die
unserem Schutz und unserer Sicherheit dient, eine Bundeswehr, die zwar knapp, aber trotzdem solide finanziert
ist, eine Bundeswehr, die fest in unserer Gesellschaft
verankert und auch in Zukunft einsatzbereit ist.
Vielen Dank.
({8})
Rainer Arnold hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Bundesregierung hat nicht abgewirtschaftet. Nein,
das wäre gar nicht möglich. Sie hat vom ersten Tag an
nicht Tritt gefasst.
({0})
Sie sucht nach ihrem Markenkern. Ihr Markenkern ist
Chaos, Streit und Gewurstel. Das ist die Situation.
({1})
Das ist schlecht für unser Land und schlecht für die
deutsche Sicherheitspolitik. Das ist schlecht für die Bundeswehr. Fehlentscheidungen und Versäumnisse treffen
bei der Bundeswehr insbesondere Menschen, die keinen
alltäglichen Beruf ausüben, die, wenn es notwendig ist,
ihre Gesundheit und ihr Leben für deutsche Sicherheitsinteressen riskieren. Deshalb habe ich viel Verständnis
dafür, wenn Soldaten und Zivilbeschäftigte besonders
empfindlich reagieren, wenn sogenannte Reformen
nichts anderes sind als die Durchsetzung von Spardiktaten zulasten der Beschäftigten und der Truppe.
({2})
Wir Politiker schicken die Frauen und Männer in den
Einsatz. Deshalb haben sie einen besonderen Anspruch
darauf, dass wir verantwortlich mit ihrer Situation umgehen. In den letzten beiden Jahren haben die Koalitionsfraktionen - das gilt vor allem für die CDU/CSU-Fraktion, die immer geglaubt hat, dass die Bundeswehr ihr
Markenkern ist - im Grunde genommen alles abgenickt,
was die Bundesregierung an Falschem vorgeschlagen
hat. Der schludrige Übergang zu einem freiwilligen
Grundwehrdienst ist ein Beleg für den schändlichen Umgang der Bundesregierung mit dem Parlament. Erst in
der letzten Woche wurde wieder sichtbar, wie diese Bundesregierung das Parlament missachtet. Wir haben gemeinsam einen Antrag eingebracht, um die Einsatzversorgung der Soldaten deutlich zu verbessern. Die
Bundesregierung scherte sich aber nicht darum, sie beschloss sogar etwas anderes. Wichtige Punkte wurden
nicht aufgenommen.
Kolleginnen und Kollegen, Sie werden sich der Frage
stellen müssen, ob man bei einem Schädigungsgrad von
30 Prozent - vor allen Dingen, wenn es um psychische
Erkrankungen geht -, so stark beschädigt ist, dass man
einen Anspruch darauf hat, dass der Arbeitgeber Bundeswehr einem trotzdem eine Zukunft bietet. Wir werden Ihnen diese Frage stellen. Sie werden Gelegenheit
haben, dieser Bundesregierung endlich einmal zu widersprechen.
({3})
Die Koalition versagt bei den sicherheitspolitischen
Herausforderungen. Sie zeigt mangelndes Engagement
in der internationalen Politik, vor allen Dingen bei der
notwendigen Debatte um eine stärkere Europäisierung
der Sicherheitspolitik.
Herr Minister, Sie haben von Ihrem Vorgänger eine
Reform übernommen, die eine Reformruine war. Schon
jetzt zeigt sich: Die Bausteine, die Sie derzeit diskutieren, sind in zu geringer Anzahl vorhanden und passen
nicht zusammen. Es bleibt dabei: Die Ausstattung der
Streitkräfte nach der mittelfristigen Finanzplanung ist
unzureichend, und Sie schaffen keine Haushaltsklarheit.
Es wird versucht, über andere Haushaltstitel Personal zu
finanzieren. Noch besser ist dies: Personal geht in andere
Ressorts, und dann bekommen die Ressorts das Geld.
Das ist alles andere als Transparenz und eine präzise
Haushaltspolitik.
({4})
- Kommt noch.
Sie haben die Wehrpflicht mitten in diesem Jahr ausgesetzt. Das Geld war aber für das gesamte Jahr veranschlagt. Es gibt keine Debatte darüber, was mit diesen
Mitteln geschieht und wofür sie verwendet werden. Ich
könnte noch viele Beispiele anführen.
Das Allerschlimmste ist: Diese Finanzpolitik schlägt
inzwischen auf die Einsätze durch. Das ist einfach so.
Ich gehöre nicht zu denen, die für einfache Lösungen
plädieren. Ich weiß auch, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Aber dafür, dass die Anzahl der
Flugstunden der ohnehin wenigen Hubschrauber aufgrund des Geldes dramatisch beschnitten wird, tragen
Sie, Herr Minister, die Verantwortung. Wenn in Afghanistan Munition fehlt und wenn nicht ausreichend Nachtsichtgeräte zur Verfügung stehen, dann ist dies Ihre Verantwortung. Das ist Ihre Entscheidung.
Sie tun immer so, als wäre Sparen unabdingbar. Solange Ihre Koalition davon träumt, Steuern zu senken,
solange Sie den Hoteliers nach wie vor Steuergeschenke
gewähren,
({5})
so lange erzählen Sie den Soldaten bitte nicht, die Kürzungen in ihrem Bereich seien unabdingbar. Sie haben
andere Spielräume, Sie nutzen sie nicht.
Ich komme zum Kern der Reform. Es ist sicher angenehm, dass der Minister im Stil anders vorgeht als sein
Vorgänger. Die Ruhe und Nachdenklichkeit begrüßen
wir. Sie haben heute Ihr Angebot wiederholt, mit der Opposition zu diskutieren. Das ist richtig, und wir sind gern
bereit, die Debatten dort, wo es um straffere Organisationsstrukturen und um einen moderaten Personalaufbau
geht, konstruktiv zu begleiten.
Herr Minister, bisher haben Sie aber alle Ideen der
Opposition in den Wind geschlagen. Die vielen guten
auf dem Tisch liegenden Vorschläge darüber, wie man
den freiwilligen Wehrdienst und den Jugendfreiwilligendienst attraktiver ausgestaltet, werden nicht aufgenommen. Mit der Opposition mögen Sie so umgehen, Sie
sollten so aber nicht mit den Menschen in der Bundeswehr umgehen.
Das, was Sie diskutieren, hört sich alles schön an.
Herr Minister, wenn man sich aber in der Truppe umhört, dann stellt man fest: Die Stimmung ist im Augenblick katastrophal. Es gibt keine Aufgabenkritik, und es
gibt keine offene und transparente Debatte über Prioritäten der Sicherheitspolitik. Man gewinnt immer stärker
den Eindruck, dass Sie zwar geduldig zuhören, aber entschlossen sind, am Ende zusammen mit Ihrem Staatssekretär Ihre fiskalischen Vorgaben für die Bundeswehr
mit der Brechstange durchzusetzen.
Es geht in erster Linie um Einsparungen beim Personal. Ihre Aussage, dass man auch etwas für die vorhandenen und bleibenden Soldaten und Zivilbeschäftigten
tut, ist leider nicht richtig. Nichts ist bisher passiert. Sie
treffen schwerwiegende Entscheidungen von oben herab. Das ist so. Sie ignorieren die Bedenken der kompetenten Ratgeber und auch der legitimierten Personalvertretungen. Sie dürfen sich deshalb nicht wundern, wenn
sich innerhalb der Truppe ein Stück weit Resignation
und Ohnmacht breitmachen. Noch nie wurde eine Reform so schlecht kommuniziert, noch nie wurde eine Reform so wenig von den Soldaten mitgetragen.
Je tiefer man in die augenblickliche Debatte hineinleuchtet, desto klarer wird: Es kann nicht zusammenpassen, mit weniger Personal und weniger Geld am Ende
mehr zu leisten. Das wird nicht aufgehen; das versteht
jeder.
({6})
Natürlich haben Sie recht. Internationales Gewicht
entsteht nicht nur aus starken Streitkräften. Das ist wohl
wahr. Es gibt den Begriff der vernetzten Sicherheit.
Wenn Deutschland aber die Stärke seiner Streitkräfte so
weit zurückfährt, dass es in der internationalen Politik
eher durch kluge Ratschläge oder - wie der Außenminister - sogar durch Besserwisserei auffällt, dann hat sich
Deutschland von der sicherheitspolitischen Debatte in
der Politik abgemeldet, Herr Minister. Dies führt zu einer Schwächung Deutschlands und zu einer Schwächung
unseres Einflusses hinsichtlich der Durchsetzung unserer
Interessen. Herr Minister, dieser Grundkonsens in der
Sicherheitspolitik ist uns wichtig, zumal Sie eine Reform
machen, die Menschen betrifft, die irreversibel ist und
mit der auch die nächste Regierung leben muss. Deshalb
lassen Sie mich noch einmal sagen, über welche Punkte
wir reden sollten, wenn Sie das Angebot ernst meinen.
Wir haben unsere Vorstellungen. Dazu gehört vor
allen Dingen: Beseitigen Sie den Grundfehler, und gestehen Sie endlich ein, dass die Vorgaben des Sparens nicht
kompatibel sind mit den Anforderungen, die dieses
wichtige und große Land Deutschland an seine Streitkräfte hat. Machen Sie den Haushalt also ehrlich und
transparent.
Das Nächste ist: Korrigieren Sie den völlig überzogenen geplanten Abbau beim Zivilpersonal. Alle Streitkräfte, die die Zahl der Soldaten reduziert haben, haben
die Relation von Soldaten zu Zivilbeschäftigten zugunsten der Zivilbeschäftigten verbessert. Das ist ja auch
schlüssig: Die Soldaten müssen sich in einem solche Fall
auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und brauchen mehr
und nicht weniger Unterstützung durch zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Herr Minister, lassen Sie von
dem Vorhaben ab - Sie haben wahrscheinlich schon gemerkt, dass dieser Personalabbau so nicht funktioniert -,
einen Teil der Zivilbeschäftigten in ein anderes Ressort
auszulagern; denn dadurch, dass sie von einem anderen
Ressort finanziert werden, wird nichts gespart. Sie sollten vor allen Dingen deshalb davon ablassen: Wir haben
jetzt schon das Problem, dass der Innenminister, und
zwar egal welcher Regierung, nicht immer versteht, dass
der Soldatenberuf etwas Besonders ist und der Soldat
nicht mit anderen Beamten zu vergleichen ist. Wenn Sie
das Personalwesen an das Innenministerium übertragen,
wird diese Kluft, die zulasten der Soldaten besteht, nicht
mehr überbrückt werden können. Herr Minister, wir reden über Menschen. Das sind keine Figuren auf dem
Schachbrett, die man beliebig hin- und herschieben
kann. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie die alten Prinzipien des treu dienenden preußischen Beamten
für sehr wichtig erachten.
({7})
Diese kann man auch von Beamten auf A-15- oder B-Stellen verlangen. Aber die Wirklichkeit bei der zivilen
Wehrverwaltung ist ganz anders.
({8})
70 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verdienen zwischen 1 300 und 1 550 Euro netto. Diese Menschen kann man nicht beliebig verschieben. Man muss
ihnen ihr soziales Gefüge lassen; sie sind zum Beispiel
alleinerziehend und haben viele Dinge zu bewältigen.
({9})
Herr Minister, wir brauchen deren technische Fähigkeiten. Ohne die Zivilbeschäftigten wird kein Flieger
fliegen und kein Schiff auslaufen können. Herr Minister,
korrigieren Sie deshalb an dieser Stelle. Sonst würden
wir nur vermeintlich sparen und müssten am Ende feststellen, dass uns die zivilen Mitarbeiter fehlen und wir
der Wirtschaft deshalb weitere Aufträge geben müssen.
Das wird teurer und nicht billiger. Nehmen Sie also den
überzogenen Personalabbau zurück!
Ich komme zu der letzten Forderung, die uns besonders am Herzen liegt. Ihr Vorgänger hat sich bejubeln
lassen, als er im Dezember 2010 gesagt hat: Bereits im
Januar 2011 werden wir die ersten Attraktivitätsmaßnahmen einleiten. - Jetzt ist September. 82 Vorschläge ruhen
in der Schublade. Nichts ist passiert. Die Koalitionsfraktionen haben unser Ansinnen, einen Unterausschuss einzurichten, der sich mit der Attraktivitätssteigerung befassen, die Regierung begleiten und, wo notwendig,
drängen soll, abgelehnt. Mein Eindruck ist: Herr Minister, Sie wollen, auch wenn Sie heute davon gesprochen
haben, nicht mehr für Attraktivität tun. Ich habe genau
zugehört, und ich werde gleich sagen, was ich davon
halte.
Sie haben die 200 Millionen Euro erwähnt - ich hatte
befürchtet, dass Sie sie erwähnen werden -, aber Sie haben nichts dazu gesagt, dass von diesen 200 Millionen
Euro bereits drei Viertel, 150 Millionen Euro, dafür vervespert sind, dass Sie den Soldatinnen und Soldaten endlich ein bisschen mehr Geld für geleistete Mehrarbeit geben; das ist übrigens noch gar nicht ausreichend. Das
heißt, das Geld ist schon vervespert; damit kann man
nicht mehr viele neue Ideen entwickeln.
({10})
Eines ist klar. Wenn es nicht gelingt, ein Attraktivitätsprogramm für die Bundeswehr aufzulegen - das wird
nicht von heute auf morgen gehen, aber in Stufen -, dann
werden wir in 10, 15 Jahren eine andere Bundeswehr haben. Wir werden noch Menschen finden, aber nicht solche, die wir für die Streitkräfte in einer Demokratie als
Staatsbürger in Uniform brauchen.
Ich habe noch keine Bundesregierung erlebt, die unter
dem Strich so wenig Engagement in sicherheitspolitischen Fragen im Inneren und in der internationalen Politik gezeigt hat.
({11})
Schauen Sie doch einmal, wie es die Franzosen und die
Briten machen; die Deutschen stehen nur staunend daneben. Es gibt keine Impulse, nicht vom Außenminister,
nicht von der Kanzlerin, nicht vom Verteidigungsminister. Wie in allen anderen Politikfeldern reagiert diese
Regierung nur noch, aber sie agiert nicht mehr mit Ideen.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Dr. Jürgen Koppelin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Kollege Arnold, die Sommerpause war ja
länger. Sie haben den Haushaltsentwurf sicher schon seit
einigen Tagen in Ihrem Büro liegen. Ich hätte Ihnen
dringend geraten, den Entwurf zu lesen, statt Ihren Kasten mit den Polemikzetteln herauszuholen.
({0})
Sie haben in Ihrem Beitrag nichts dazu gesagt, was die
Sozialdemokraten wollen. Sie haben nur Polemik gestreut, was wohl auch Ihr Ziel war. Das war zumindest
mein Eindruck, weil Sie Ihre Polemik so massiv vorgetragen haben.
({1})
Sie wollten die Angehörigen der Bundeswehr verunsichern - nichts anderes. Sie wollten vieles kaputtreden.
({2})
Ich mache das an einem Beispiel deutlich. Der Minister hat gesagt - das konnten diejenigen, die sich mit Verteidigungspolitik beschäftigen, seit Wochen zur Kenntnis nehmen -: Im Herbst wird das abschließende
Konzept der Bundeswehrreform vorgestellt. Ich kann
nur sagen: Ich kenne es derzeit nicht. Natürlich hat uns
der Minister dazu bereits Allgemeines vorgetragen; aber
die Feinheiten kennen wir nicht. Wieso können die Sozialdemokraten die Reform schon jetzt beurteilen - ich
habe auch entsprechende Zeitungsartikel mitgebracht, in
denen es zum Beispiel heißt, die Bundeswehr marschiert
ins Chaos usw. -, obwohl sie das Konzept gar nicht kennen? So machen Sie Politik. Sie schaden der Bundeswehr mit dieser Form von Angriffen. Die Bundeswehr
ist eine Parlamentsarmee. Vielleicht sollte man in der
Diskussion über den Verteidigungsetat etwas anders argumentieren als bei anderen Etats.
({3})
Der größte Verteidigungsexperte, den wir seit kurzem
haben, ist der SPD-Vorsitzende Gabriel; ich werde noch
einige seiner Aussagen zitieren. Er erklärte zum Beispiel, die Reform sei unzureichend. Außerdem sagte er,
die SPD hätte vieles anders gemacht. Er sagte zwar nicht
konkret, was, nannte aber zwei Punkte. Da ich diese
zwei Punkte sehr interessant finde, möchte ich sie vortragen. Forderung Nummer eins lautete: Mehr Geld für
die Bundeswehr! Denn die Bundeswehr sei chronisch
unterfinanziert. So haben Sie sich auch heute geäußert;
dazu sage ich Ihnen gleich etwas. Zweitens hat Herr
Gabriel an der Bundeswehr-Universität in Hamburg den
Vorschlag gemacht - dazu ist heute gar nicht Stellung
genommen worden; das hätte mich allerdings sehr interessiert -, eine europäische Armee zu schaffen. Zum
Parlamentsvorbehalt und all diesen Dingen hat er sich
übrigens überhaupt nicht geäußert.
Mich würde interessieren: Erstens: Wie stehen die
Verteidigungspolitiker der SPD dazu? Zweitens: Wie
soll das alles jetzt umgesetzt werden? Ich sage Ihnen:
Die Parole des Tages heißt nicht unbedingt „Mehr
Geld!“, sondern es geht um die Frage: Wo ist das Geld,
das wir zur Verfügung gestellt haben, geblieben? In Ihren Regierungszeiten - Sie haben ja einige Verteidigungsminister gestellt - ist es bei der Bundeswehr zu
vielen Doppelstrukturen gekommen; auf einige Beispiele komme ich noch zu sprechen. Es gibt auch Aufgaben, die heute nicht mehr notwendig sind. Darüber werden wir uns in den Haushaltsberatungen unterhalten.
Daran können Sie sich dann beteiligen. Wir müssen
nämlich erst einmal überprüfen: „Wo bleibt unser
Geld?“, statt immer zu sagen: Die Bundeswehr ist unterfinanziert.
Ich nenne Ihnen Beispiele. Wir haben uns in dieser
Koalition unter anderem mit dem Rüstungsmaterial beschäftigt; zum Thema Rüstung haben Sie überhaupt
nicht Stellung genommen. Teilweise handelt es sich um
Rüstungsmaterial, das noch in rot-grüner Regierungsverantwortung bestellt wurde. Zum Teil brauchen wir es
heute gar nicht mehr, oder wir brauchen es nur noch in
geringerer Stückzahl. Wir haben die Zahl der Bestellungen des A400M reduziert; dies wird sich langfristig auswirken. Wir werden uns - darauf legen wir Freie Demokraten wert - von MEADS verabschieden.
Nun komme ich zu einem großen Reformprojekt von
Rot-Grün bzw. von Herrn Scharping in Bezug auf die
Bundeswehr: zum Bundeswehr-Fuhrpark.
({4})
Dazu haben wir gerade einen Bericht des Rechnungshofes bekommen. Das Ergebnis ist vernichtend. Das war
eines Ihrer großen Reformprojekte. Das betone ich, weil
Sie sagen, die Bundeswehr sei unterfinanziert. Sie forderten uns auch auf, an das Zivilpersonal zu denken. Das
ist allemal richtig. Das tun wir auch. Der Rechnungshof
schätzt in seinem Bericht, dass etwa 25 000 Personen
teilweise oder ganz mit Fuhrparkaufgaben beschäftigt
sind. 25 000 Personen allein beim Bundeswehr-Fuhrpark! Das muss man sich einmal vor Augen führen.
Der Rechnungshof sagt darüber hinaus: Wir brauchen
dringend eine Straffung des Fuhrparks. Dadurch könnten
Einsparungen in Milliardenhöhe erzielt werden. - Das
ist nur ein Beispiel. Aus Zeitgründen erspare ich es mir,
Herr Kollege Arnold, auf das berühmte rot-grüne Projekt
Herkules einzugehen - ein Milliardengrab. Aber Sie erzählen etwas von Unterfinanzierung. Nein, wir werden
uns alle Positionen ansehen. Ich glaube, es ist genug
Geld da. Es muss aber teilweise anders eingesetzt werden; da gebe ich Ihnen recht.
Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Ich
sagte bereits: Der große neue Verteidigungsexperte ist
der SPD-Vorsitzende Gabriel. Im Juni las ich, dass Herr
Gabriel erklärt hat, die Marine habe einen Nachholbedarf bei der materiellen Ausstattung, insbesondere bei
Schiffen. Da bin ich gespannt! Ich wundere mich, wo Sie
Schiffe bestellen wollen und welche Sie bestellen wollen.
({5})
Das würde mich sehr interessieren, vor allem, wie Sie sie
bezahlen wollen.
Ich stelle fest: 2001 hat Rot-Grün - damals war auch
ich dafür - für über 1 Milliarde Euro Korvetten bestellt.
Das war vor zehn Jahren. Diese Korvetten fahren aber
immer noch nicht, obwohl wir sie schon überwiegend
bezahlt haben.
({6})
Warum sie nicht fahren und wie damals die Bestellung
abgelaufen ist, würde mich ganz besonders interessieren.
({7})
- Kleinen Moment! - Ich sage Ihnen Folgendes: Ich
zweifle nicht an unserer Marine. Ich habe eher Zweifel
am Bundeswehrbeschaffungsamt. Auch das werden wir
uns einmal ansehen.
({8})
Es ist meine Auffassung, auch das anzugehen. Aber Sie
weigern sich, weil man dann - das mag der Kollege
Arnold nicht hören - vielleicht irgendwelchen Leuten
wehtun muss.
Ich kann Ihnen für die FDP sagen: Wir werden bei
den Haushaltsberatungen unsere Zielsetzungen im Blick
behalten; das ist ganz klar, das ist auch mit Kollegin
Hoff und anderen besprochen worden. Ich nenne sie ihnen.
Erstens - ich hoffe, da sind wir alle einer Meinung,
und ich weiß ja, in den Berichterstattergesprächen läuft
das alles sehr harmonisch -: Unsere Soldaten im Einsatz
müssen das beste Material bekommen, das notwendig ist
und das vor allem auch ihr Leben schützt. Das steht ganz
obenan.
({9})
Zweitens. Die Einsatzversorgung unserer Soldatinnen
und Soldaten muss verbessert werden.
({10})
Hier werden und wollen wir an dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung Verbesserungen vornehmen. Ich finde
- das muss mit aufgenommen werden, oder wir nehmen
es in den Haushaltsentwurf mit auf -,
({11})
dass auch die Angehörigen von Soldaten, wenn diese
ärztlich behandelt werden müssen, mit betreut werden
sollten und wir dafür die Kosten übernehmen müssen.
Das halte ich für selbstverständlich.
({12})
Drittens. Wir brauchen in allen Bereichen Planstellenverbesserungen. 6 000 Verbesserungen bei Planstellen
sind schon fest. Ich sage aber auch: Die Besoldung bei
der Bundeswehr - das müssen wir uns einmal ansehen ist teilweise so niedrig, Herr Minister - daran waren Sie
als Innenminister nicht ganz unschuldig; hoffentlich sind
Sie als Verteidigungsminister hier etwas aufgeschlossener -, dass man davon keine Familie ernähren kann.
Viertens - das ist mir persönlich immer ein Anliegen
gewesen -: Wir wollen endlich die Entschädigung - das
werden wir in diesem Haushalt umsetzen - für die Strahlenopfer der NVA und der Bundeswehr. Diese Angelegenheit werden wir mit diesem Haushalt zum Abschluss
bringen. Das halte ich für dringend erforderlich.
({13})
Fünftens. Wie auch beim Haushalt 2011 werden wir
Freie Demokraten uns intensiv mit dem Sanitätswesen
der Bundeswehr beschäftigen und, wenn notwendig,
Verbesserungen herbeiführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verteidigungsetat 2012 - damit komme ich zum Schluss - ist sicher
ein wichtiger Baustein bei der Reform der Bundeswehr.
Das ist ein großes Vorhaben. Kollege Arnold, nicht Polemik ist zurzeit gefordert, sondern sachliche und realistische Beiträge der Opposition sind gefordert. Wenn Sie
das nicht können, überlassen Sie das Ihren Kollegen.
Herzlichen Dank.
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster auf unserer
Rednerliste ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Paul Schäfer. Bitte schön, Kollege Paul Schäfer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vieles dreht sich in diesen
Tagen um den 11. September 2001. Dabei droht ein anderes Datum in Vergessenheit zu geraten, der 4. September. Am 4. September vor zwei Jahren wurde in Kunduz
durch einen deutschen Oberst der Befehl zum Bombenangriff gegeben. Über 100 getötete Zivilpersonen sind
zu beklagen. Dieses Datum sollten wir nicht ganz vergessen.
({0})
Zurück zum 11.09.
({1})
- Ich komme noch zum Haushalt. Warten Sie, Frau Kollegin! - Es ist höchst spannend, noch einmal nachzulesen, was der damalige deutsche Außenminister vor der
UNO in New York gesagt hat. Es müsse um den Dialog
der Kulturen gehen, um zivile Konfliktprävention,
Kampf gegen die Armut, gerechte Globalisierung und,
jetzt fast wörtlich, um eine Eine-Welt-Politik, die nicht
auf hegemonialen Ansprüchen, sondern auf Kooperation
und Solidarität gründe.
Paul Schäfer ({2})
Das waren die Stichworte. Alles sollte anders werden.
Es ist vieles anders geworden, aber in die falsche Richtung. Demokratien haben Schaden genommen, Despotien
wurden im Rahmen von Antiterrorkoalitionen geadelt,
zwei Kriege wurden begonnen. Damit bin ich beim
Thema.
Der hoch angesehene US-Ökonom Joseph Stiglitz hat
die Kosten der USA für die beiden Kriege im Irak und in
Afghanistan auf 2 Billionen Dollar geschätzt, also
2 000 Milliarden Dollar.
({3})
Merken Sie sich diese Zahl. Jeffrey Sachs, ein anderer
angesehener US-Ökonom, hat gesagt: Wenn wir das UNMillenniumsziel, die Halbierung der Armut bis 2015, erreichen wollen, dann müssten die öffentlichen Entwicklungsausgaben in allen Ländern jährlich um 130 Milliarden Dollar angehoben werden. Das sind die zwei Zahlen.
Sie können sich selber ausrechnen: Das 2001 eingeforderte Programm zur Beseitigung von Hunger, Armut
und Elend in der Welt hätte mit den Kriegsausgaben allemal finanziert werden können. Das hätte die Konsequenz aus dem 11. September sein müssen, nicht der törichte Krieg gegen den Terror.
({4})
Der eine Krieg im Irak hat Gewalt und Terror geradezu angefacht. Beim anderen Krieg in Afghanistan
kann man sagen: Gut, das Land ist von den Taliban befreit worden. - Aber sie sind längst wieder da. Aus anfänglich 5 000 sind inzwischen 140 000 NATO-Soldaten
geworden. Von einer Eindämmung der Gewalt kann
keine Rede sein.
Experten, zum Beispiel aus der Stiftung Wissenschaft
und Politik, zeichnen gerade in diesen Tagen ein eher
düsteres Bild, was die Zukunft des geplagten Landes angeht. Das mag man als Plädoyer dafür lesen, dass die
NATO noch viel länger im Land bleiben muss. Aber
dann hat man nicht genau hingeschaut. Wir bleiben dabei: Krieg gebiert neuen Hass und neue Kämpfer gegen
die fremden Truppen. Deshalb ist der Einsatz der NATO
ursächlicher Teil dieser Konflikteskalation.
({5})
Eine weitere Lektion lautet: Man kann den Teufel
nicht mit Beelzebub austreiben. Demokratie setzt einen
längeren Entwicklungsprozess in den betreffenden Ländern selbst voraus, der nicht mit Waffengewalt und nicht
von außen ins Werk gesetzt werden kann. Diese Lektion
müssen wir kapieren.
Viele Menschen sehen das genauso. Sie sagen trotz
hoher Akzeptanzwerte für die Bundeswehr - das ist ja
auch bemerkenswert -: Die Truppen sollten aus Afghanistan zurückgeholt werden. - Ich finde, sie haben recht.
Die Bundeswehr sollte aus Afghanistan abgezogen werden. Aber das Töten sollte nicht erst 2014 oder 2015 beendet werden, sondern jetzt.
({6})
Ich habe es an dieser Stelle schon einmal gesagt und
wiederhole es gerne - gerade weil Sie, Herr Minister, erklärt haben: Afghanistan muss nicht ein Szenario für die
Zukunft sein, könnte es aber sein -: Afghanistan ist
keine Blaupause für künftige Bundeswehreinsätze. Es
darf keine Blaupause sein.
({7})
Damit sind wir bei den Grundlagen der Bundeswehrplanung und auch bei der Frage, wie viel Geld zukünftig
für die Streitkräfte ausgegeben werden soll. Man hätte
eine genaue und schonungslose Bilanz dieser Auslandseinsätze aufstellen sollen. Das tun Sie nicht, sondern setzen den Irrweg fort, die Bundeswehr zu einer auch weltweit einsetzbaren Interventionsarmee auszubauen. Dazu
sagen wir Nein.
Sie haben das jetzt in Form der Verteidigungspolitischen Richtlinien noch einmal fundiert. Das, was darin
steht, ist ein alter Hut. Es ist fast deckungsgleich mit
dem, was 1991 darin stand.
({8})
- Fast wortgleich. - Interessanterweise tauchte dort auch
erstmals der Gedanke auf, dass die Sicherung der Handelswege und unseres Rohstoffzuganges eine sicherheitspolitische Angelegenheit sei. Damals hat man aber
noch schnell abgewiegelt und gesagt, mit der Entsendung von Soldaten habe das, bitte schön, überhaupt
nichts zu tun.
Da sind Sie inzwischen sehr viel weiter. Beim Marineeinsatz am Horn von Afrika werden ja bereits Handelswege gesichert. Diese Philosophie ist also offensichtlich schon in den Köpfen der Militärplaner
verankert und beginnt Realität zu werden.
Ich sage Ihnen eines: Die Quintessenz dieser Einsatzphilosophie - Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen
mit militärischer Gewalt - ist, die wirtschaftliche und
politische Vormachtstellung der NATO- und der EUStaaten notfalls auch mit Waffengewalt aufrechtzuerhalten. Genau das halten wir für abwegig, ja für abenteuerlich und lehnen es grundsätzlich ab.
({9})
Mit dem vorliegenden Etat soll dieser Umbau der
Bundeswehr vorangetrieben und fortgeschrieben werden. Das halten wir für grundfalsch. Wir schlagen Alternativen vor.
Erstens. Die Bundeswehr darf sich nicht mehr an
Kriegseinsätzen beteiligen. Allein damit sparen wir über
1 Milliarde Euro.
Zweitens. Die Bundeswehr sollte innerhalb eines
Jahrzehnts halbiert, also auf 125 000 Menschen reduziert
werden, und sie sollte auf die Landesverteidigung im
Bündnis zurückgeführt werden. Diese Art Risikovorsorge ist vertretbar. Ein Sicherheitsrisiko besteht eben
nicht, weil wir auf absehbare Zeit nicht militärisch bedroht sind.
Paul Schäfer ({10})
Drittens. Mit dieser Neuausrichtung, die zu den Wurzeln des Grundgesetzes zurückführt - siehe Art. 87 a -,
können zugleich milliardenschwere Beschaffungsvorhaben eingedampft bzw. gestoppt werden. Wir reden hier
beispielsweise über den Eurofighter - 22 Milliarden Euro und den Lufttransporter A400M - 9 Milliarden Euro -;
es kommen noch sehr viele andere Projekte hinzu.
Herr Minister, mit diesem Haushaltsentwurf und der
vorgelegten mittelfristigen Finanzplanung schreiben Sie
fest, dass die Rüstungsausgaben auf einem hohen
Niveau bleiben - damit aber auch, dass es aus dem
Wehretat keinen nennenswerten Beitrag zur Haushaltskonsolidierung gibt.
Trotzdem sage ich Ihnen voraus: Diese Mittel werden
nicht ausreichen, damit die Truppe die ihr von Ihnen zugedachten Aufträge auch ausführen kann. Dazu wird es
nämlich kommen. Das halte ich für keine weitsichtige
Politik. Es ist Fortsetzung des Durchwurstelns. Davon
haben die Angehörigen der Bundeswehr schon mehr als
genug gehabt.
({11})
Noch einmal: Sie sparen fast nichts. Trotz der Reduzierung um 70 000 Dienstposten bleiben die Gesamtausgaben, wenn man den mittleren Zeitraum betrachtet, bei
deutlich über 30 Milliarden Euro. Respekt!
Dabei hatten Sie anderes angekündigt. Erstens. Noch
im letzten Jahr hieß es, aufgrund der Haushaltskrise und
der knappen Finanzen sollten in den nächsten vier Jahren
8,3 Milliarden Euro eingespart werden. Das wäre gewissermaßen der Pflichtanteil von 10 Prozent gewesen. Nun
sollen es noch etwa 4,3 Milliarden Euro sein, aber in
fünf Jahren. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Diesen Betrag holen Sie ja fast allein durch die Aussetzung der
Wehrpflicht herein. Das ergibt für diesen Zeitraum nämlich eine Summe von 3,5 Milliarden Euro. Im Grunde
genommen kann von Sparen keine Rede sein.
Zweitens. Sie verschieben jetzt die Kosten und verkaufen es als großen Erfolg, Herr Minister, dass bestimmte Posten in einem anderen Einzelplan veranschlagt werden und Sie dadurch 1,5 Milliarden Euro
zusätzlich zur Verfügung hätten. Aber die Bürgerinnen
und Bürger müssen in jedem Fall dafür zahlen, ob es im
Einzelplan 14 oder im Einzelplan 60 veranschlagt ist.
({12})
Zudem wird das Ganze unkontrollierter und undurchsichtiger. Auch das halten wir für falsch.
Drittens. Wenn Sie überhaupt sparen, Herr Minister,
dann an der falschen Stelle. Wir sind ganz klar dafür,
dass beim Rüstungsetat gespart wird. Wir wollen auch
umschichten, zum Beispiel 20 Millionen Euro für den
Zivilen Friedensdienst aus dem Etat des Ministeriums
der Verteidigung. Aber wir sind nicht für Sparen zulasten der Menschen im System Bundeswehr.
Reden wir über die Soldaten auf Zeit. Hier geht es um
die Reduzierung der Dienstzeiten, um bessere Bezahlung, in der Tat, um die Optimierung des Übergangs ins
zivile Berufsleben - das bedeutet auch eine vernünftige
Ausbildung - und um eine bessere Absicherung im Alter. Das alles kostet Geld.
Nehmen wir die Zivilbeschäftigten. Sie wollen ein
Drittel der Stellen abbauen. Die von Ihnen vorgegebene
Zielzahl von 55 000 Dienstposten ist Ergebnis einer puren Computerrechnung. Das ist schon angesprochen
worden. Eine Analyse dessen, was an Dienstposten nötig
ist, gibt es nicht. Sie machen eine rein mathematische
Rechnung auf. Das wird den Menschen, die in diesem
Bereich beschäftigt sind, in keiner Weise gerecht. An
dieser Stelle sind Nachbesserungen erforderlich, um die
Wehrverwaltung als zivile Säule der Bundeswehr arbeitsfähig zu halten. Hier muss nachgebessert werden.
Vor allem aber kann es nicht angehen, dass bei der
Fürsorge geknausert und bei den Waffenbeschaffungen
geklotzt wird. Nehmen wir nur die Betroffenen bei Auslandseinsätzen; auch das ist schon erwähnt worden. Es
hat ein Jahr gedauert, bis die Regierung nun den Antrag
der eigenen Fraktionen zur Verbesserung der Einsatzversorgung umsetzen will, und das auch nur halbherzig. Das
ist die Lage. Statt den Betroffenen bereits ab einem
Schädigungsgrad von 30 Prozent Ansprüche einzuräumen - das ist schon ein erheblicher Grad -, soll die
Schwelle weiterhin bei 50 Prozent liegen.
Zu der von den Soldatinnen und Soldaten geforderten
Beschleunigung der Verfahren für die entsprechenden
Anträge findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nichts.
Das alles ist nicht gut. Wir sagen: Wir haben eine Fürsorgepflicht für die betroffenen Menschen und sollten
bereit sein, das Optimale für diese Menschen auszugeben.
Sie wollen Ende Oktober Ihre Entscheidung über die
künftigen Standorte der Bundeswehr bekannt geben,
Herr Minister. Wir sind alle sehr gespannt. Vor allem teilen wir die Sorgen vieler Menschen und kommunaler
Mandatsträger um das, was danach kommt. Was wir
nicht teilen, ist die oft gezogene Schlussfolgerung, dass
jeder Standort unbedingt erhalten bleiben müsse. Die Erfahrungen in den 90er-Jahren haben gezeigt, dass ein
solch umfangreicher Strukturwandel erfolgreich gestaltet werden kann. Aus Kasernen sind Mietwohnungen,
Hochschulgebäude und Dienstleistungszentren geworden, aus Liegenschaften Erholungsgebiete.
Das alles kann funktionieren. Aber es kann nur dann
funktionieren, wenn die Gemeinden und Regionen nicht
mit den Problemen alleingelassen werden.
({13})
Wir haben jetzt eine andere Situation als in den 90er-Jahren. Es gibt keine EU-Fördertöpfe mehr. Die Städte und
Gemeinden pfeifen auf dem letzten Loch. Deshalb brauchen wir nicht nur eine Gemeindefinanzreform, sondern
auch die Hilfe des Bundes bei diesem Strukturwandel.
Mit anderen Worten: Wir fordern Bundeshilfen und ein
Bundeskonversionsprogramm.
({14})
Paul Schäfer ({15})
Wir fordern Sie nachdrücklich auf, den Strukturwandel
mit einem solchen Bundeskonversionsprogramm positiv
mitzugestalten.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Dr. Tobias Lindner. Bitte schön, Kollege
Tobias Lindner.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unabhängig davon, wie wir als Mitglieder dieses
Hohen Hauses zu Fragen von Krieg und Frieden oder zu
einzelnen Auslandseinsätzen der Bundeswehr stehen,
sprechen wir heute über einen der größten Einzelpläne
des Bundeshaushalts. Angesichts von mehr als 30 Milliarden Euro gilt es, diese Mittel an der richtigen Stelle
und effizient einzusetzen, auch und gerade aus Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten.
({0})
Nach nunmehr über einem Jahr Vorbereitungszeit ist
noch immer nicht klar, wohin bei der Bundeswehrreform
die Reise überhaupt gehen soll. Bis heute liegen keine
Konzepte auf dem Tisch. Die Präsentation der Vorschläge des Ministeriums steht immer noch aus. Dennoch, meine Damen und Herren, debattieren wir heute
über den Haushalt des Verteidigungsministeriums, über
einen Haushalt, der morgen schon Makulatur sein kann.
Ohne schlüssiges Reformkonzept kann dieser Etatentwurf nämlich nur eine Bundeswehr widerspiegeln, wie
wir sie hoffentlich in der nahen Zukunft von ihrer Struktur her nicht mehr haben werden. Wir Grüne fordern daher ein umfassendes Moratorium, vor allem bei milliardenschweren Beschaffungs- und Forschungsprojekten.
({1})
Ohne klare, richtungsweisende Reformentscheidungen dürfen auch keine Festlegungen im Etat getroffen
werden, mit denen wir uns Handlungsalternativen verbauen würden.
Schaut man sich den Haushaltsentwurf an, so muss man
befürchten - gerade nach dem Beitrag des Ministers -,
dass aus der groß angekündigten Bundeswehrreform
nicht viel mehr als ein Reförmchen geworden ist. Von
der Ankündigung von Minister zu Guttenberg im Mai
letzten Jahres, dass der Verteidigungsetat einen Beitrag
zur Konsolidierung des Haushalts leisten muss, und dem
vollmundigen Versprechen der Regierung, bis 2014
8,3 Milliarden Euro einzusparen, sind wir inzwischen
weit entfernt. Nicht nur wurde das Sparziel gestreckt,
nein, es wurde auch halbiert. Im nächsten Jahr steigt der
Wehretat erst einmal an. Zusätzlich - das wurde schon
erwähnt - wird über 1 Milliarde Euro Personalkosten in
den Einzelplan 60 geschoben. Deutlich ist: Gespart wird
hier nicht.
({2})
Ihre Bundeswehr ist noch zu groß. Wir Grüne fordern
- übrigens basierend auf den Berechnungen des Generalinspekteurs - eine Bundeswehr mit 160 000 Soldatinnen
und Soldaten. Mit Ihrer Zielgröße von 185 000 sind Sie
einen Kompromiss eingegangen. Dieser Kompromiss
wird dem umfassenden Bedürfnis nach einer Reform unserer sicherheitspolitischen Instrumente jedoch gar nicht
gerecht. Eine Verkleinerung der Bundeswehr muss mit
einer raschen Außerdienststellung von überschüssigem
Material einhergehen. Die Mittel für Lagerhaltung und
Erhalt können andernorts besser eingesetzt werden. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das bedeutet nicht,
dass die Bundeswehr ihre Altwaffen auf dem Weltmarkt
verramschen soll. Im Gegenteil: Waffen gehören verantwortungsvoll entsorgt.
({3})
Am wichtigsten wird es aber sein, sich des Bereichs
der Beschaffung anzunehmen. Eine Bundeswehrreform
muss deutlich machen, dass tausendprozentige Goldrandlösungen weder gewollt noch zielführend sind. Wo
es geht, sind marktverfügbare Lösungen „off the shelf“
zu kaufen. Gerade im Lichte der laufenden Einsätze
bleibt uns weder Zeit noch Geld für ewig dauernde Eigenentwicklungen.
Und schließlich: Mit Millionen von Euro unterstützt
die Bundeswehr Jahr für Jahr Werbereisen der Rüstungsindustrie. Großzügig, wie sie ist, verzichtet sie größtenteils auf eine Kostenerstattung. So knapp scheint das
Geld doch nicht zu sein. Wir sprechen hier nicht über das
Aufstellen von bunten Pappschildern oder über Broschüren. Nein, es geht zum Beispiel um den millionenteuren
Einsatz von Kampfflugzeugen bei Messen wie der Aero
India. Nicht nur werden hier Steuergelder zweckentfremdet, sondern es werden Exporte in Spannungsregionen forciert. Solche Zahlungen sind in Zeiten knapper
Kassen nicht zu rechtfertigen.
({4})
Herr Minister, wir erwarten von Ihnen eine umfassende Reform, eine Reform, die nicht nur die Strukturen
der Bundeswehr an die sicherheitspolitischen Realitäten
anpasst, sondern vor allem einen Sparbeitrag leistet. Der
Einzelplan 14 bietet Möglichkeiten hierzu. Lassen Sie
die Bundeswehr nicht einfach vom Haken. Ohne Sparvorgaben fehlt nicht nur jedweder Anreiz für tiefgreifende Veränderungen, Sie tun der Bundeswehr damit
auch keinen Gefallen. Die jetzt verschleppten Einsparungen müssten Sie dann später in doppelter und dreifacher Höhe erbringen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Tobias Lindner.
Das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren.
({0})
Vizepräsident Eduard Oswald
Sie haben es geschafft, auf die Sekunde Ihre Redezeit
einzuhalten. Sie haben jetzt den Beifall des ganzen Hauses bekommen. Merken Sie sich dies. Es kann sein, dass
das nicht so oft vorkommt.
({1})
Der nächste Redner in unserer Debatte ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Ernst-Reinhard
Beck. Bitte schön, Kollege Ernst-Reinhard Beck.
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mich über die schrillen Töne sehr wundern, die ich heute vonseiten der Opposition höre.
({0})
- Sie wundern sich vielleicht nicht mehr. - Lieber Kollege Schäfer, ich schätze Sie für Ihre Arbeit im Ausschuss. Sie haben hier gesagt: 100 000 Mann; es gibt
keine Bedrohung. Sagen Sie doch ganz ehrlich, dass Sie
die Bundeswehr abschaffen wollen. Wenn das geschieht,
wird noch sehr viel mehr im Haushalt gespart. Ihre Forderung ist ohne sachliche Begründung. Sie sind auch widersprüchlich. Sie kritisieren, dass man auf der einen
Seite an der Fürsorge spart und auf der anderen Seite mit
entsprechenden Rüstungsmaßnahmen klotzt. Die SPD,
lieber Kollege Arnold, sagt, überall werde vernachlässigt.
Ich glaube, die Rede des Ministers hätte es verdient
gehabt, von Ihnen sachlich gewürdigt zu werden, in einzelnen Punkten vielleicht durchaus kritisch. Ich möchte,
an den Minister gewandt, ein herzliches Dankeschön sagen. Er hat sein Amt in einer schwierigen Phase übernommen - vielleicht haben Sie es vergessen -: Erst seit
März ist er der Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt in diesem Land. Damit ist er verantwortlich für
unsere äußere Sicherheit. Ich meine, er hat die entsprechenden Fäden, die bis dahin unter dem Stichwort „Bundeswehrreform“ etwas lose in der Luft hingen - auch das
sollte man einmal feststellen -, zu einem konstruktiven,
zukunftsfähigen Konzept zusammengebunden.
({1})
Herr Minister, wir, die CDU/CSU-Fraktion, wünschen
Ihnen für den weiteren Reformweg alles Gute.
Es ist mangelnde Transparenz angemahnt worden.
Herr Kollege Arnold, es ist aber nicht wahr, dass es an
Transparenz mangelt. Bei der Vorstellung der Verteidigungspolitischen Richtlinien kam zum Ausdruck, dass
wir die Dinge begleitet haben, mitunter auch kritisch.
Dies alles vom Tisch zu wischen, ist nicht unbedingt der
richtige Stil.
({2})
- Ja, gut. Bei Ihren Leuten spenden Sie doch auch Beifall, Herr Gehrcke.
({3})
Sie haben bemerkt, dass ich mich relativ gemäßigt ausgedrückt habe.
Herr Kollege Arnold, eines hat mich irritiert - das lasse
ich Ihnen schlicht und ergreifend nicht durchgehen -: Sie
haben hier in einer, wie ich meine, nicht anständigen
Weise die Frage der Einsatzversorgung eingebracht. Es
ist richtig: Wir sind im Verteidigungsausschuss in Wahrnehmung unserer Verantwortung - es geht darum, dass
Soldaten in gefährliche Einsätze geschickt werden - gemeinsam zu der Erkenntnis gekommen: Wir müssen die
bestmögliche Versorgung von verletzten und verwundeten Soldaten und wir müssen die bestmögliche Versorgung für Hinterbliebene von Gefallenen gewährleisten.
Außerdem müssen wir die notwendigen Anstrengungen
unternehmen, um zum Beispiel Versehrten den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.
Wir müssen auch hier einfach einmal feststellen, dass
im jetzt vorliegenden Entwurf - auch ich hätte ihn mir
früher gewünscht; das sage ich ganz offen - wesentliche
Forderungen von uns aufgegriffen sind, etwa was die
Angleichung der Versorgung von Berufs- und Zeitsoldaten, die Rückdatierung des Stichtags und eine ganze
Reihe von finanziellen Leistungen - sie sind verdoppelt
worden - angeht. Dass wir hier vielleicht noch mehr tun
können, ist doch klar. Aber all dies vom Tisch zu wischen und zu sagen: „Das ist alles nichts; auf unsere
Punkte geht man nicht ein“, halte ich für keinen guten
Stil, lieber Kollege Arnold.
({4})
Ganz konkret: Die Absenkung des Schädigungsgrades von 50 Prozent auf 30 Prozent für eine Beschäftigungsgarantie ist für jemanden, der mit diesen Dingen
nicht befasst ist, schwer nachzuvollziehen. Das ist übrigens einer der Gründe, weshalb die Ressortabstimmung
so lange gedauert hat. Einige wissen aus eigener Regierungserfahrung - Herr Erler sitzt hier vorne -, dass manche Dinge aufgrund der Ressortabstimmung nicht von
heute auf morgen zustande kommen. Das Innenministerium etwa hat mit Blick auf die Versorgung der Polizisten Einwände gegen das erhoben, was für die Soldaten
gut ist. Wenn man beim Schädigungsgrad von 50 Prozent auf 30 Prozent herunterginge, wäre dies schlichtweg mit verfassungsrechtlichen Problemen verbunden.
Der Zugang zu öffentlichen Ämtern soll nach Eignung
und fachlicher Leistung erfolgen; dies ist einer der
Grundsätze. Sobald der Erste klagt, dass ihm jemand
vorgezogen worden ist, weil er entsprechend versehrt ist,
wäre dies ein Fall für das Verfassungsgericht. Ich glaube,
wir sollten uns gut überlegen, was wir tun. Wenn wir in
diesem Haus zu einer Regelung kommen, die all dem
Rechnung trägt, dann bin ich gern bereit, mitzumachen;
Ernst-Reinhard Beck ({5})
aber wir sollten die Bedenken nicht einfach beiseiteschieben.
Ich glaube, der Minister hat zu Recht das Ziel der Reform dargestellt: Deutschland benötigt einsatzbereite,
einsatzfähige Streitkräfte, die in Qualität, Ausstattung
und Ausbildung dem internationalen Standard und dem
Gewicht unseres Landes entsprechen und - ich füge
hinzu - die in eine internationale Verantwortung, in eine
europäische Verteidigung hineinpassen, die im Grunde
in eine entsprechende multinationale, supranationale
Struktur hineinpassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht ärgern Sie
sich jetzt, dass ich anrege, über einige Dinge nachzudenken. Der eine oder andere hat es vielleicht auch schon
getan. Ich frage: Sind wir mit unserem Parlamentsbeteiligungsgesetz auch in Bezug auf die Ansprüche, die mit
einer Einsatzorientierung einerseits und mit den von uns
eingegangenen Bündnisverpflichtungen andererseits einhergehen, auf dem richtigen Weg? Ich meine, darüber
sollte man vielleicht einmal nachdenken. Wenn jetzt zum
Beispiel die Teilnahme von Soldaten in integrierten Führungsstäben der NATO eingeklagt wird, dies also im
Grunde ein Fall für das Verfassungsgericht ist, stellt sich
die Frage, ob wir bei den Einsatzkräften, die wir für eine
gemeinsame Tätigkeit in der NATO, nämlich bei
AWACS, zur Verfügung stellen, jedes Mal darüber diskutieren müssen, ob wir die Soldaten aus den Flugzeugen herausnehmen oder ob ein eigenes Mandat notwendig ist.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin
schon sehr dafür, aus den Erfahrungen mit unserer Geschichte mit der Anwendung militärischer Mittel äußerst
vorsichtig zu sein.
({6})
Wenn wir über Pooling und Sharing im Rahmen der
Bündnisfähigkeit reden, müssen wir uns auf die Zusage
der anderen absolut verlassen können, gleichzeitig aber
akzeptieren, dass man von uns verlangt, dass wir unsere
Fähigkeiten ins Bündnis einbringen und die entsprechenden parlamentarischen Voraussetzungen dafür schaffen.
Was würde eigentlich dagegensprechen, wenn wir bei
Aufgaben, die wir gemeinsam im Bündnis wahrnehmen,
den Rahmen vorher vertraglich festlegen, dies generell
mandatieren und dann sagen: „Die Sicherungen unseres
Parlamentsbeteiligungsgesetzes greifen mit dem Rückholrecht“? Sie greifen auch schon, wenn die Bundesregierung im NATO-Rat einem bestimmten Einsatz nicht
zustimmt.
({7})
- Herr Gehrcke, das wäre natürlich auch einmal eine Sache. Aber man muss doch einfach sagen, dass bestimmte
integrierte Verbände - denken Sie an die EU-BattleGroups; denken Sie an die NATO-Response-Force deshalb nicht eingesetzt worden sind, weil das Verfahren
entsprechend kompliziert ist, und dass wir deshalb zum
Teil als unsichere Kantonisten im Bündnis gelten.
Ich sage ganz offen: Ich rege an, dass wir uns dieser
Frage stellen, weil es hier letztlich um unsere Bündnisfähigkeit und um die Verlässlichkeit im Bündnis geht.
Das ist, wie ich meine, ein hohes Gut. Wir haben in Europa eine gemeinsame Verantwortung. Wir sollten uns
überlegen, ob wir hier gemeinsam eine Verbesserung erreichen können.
Zum Schluss möchte ich unseren Soldaten, den zivilen Mitarbeitern und den Soldaten im Einsatz danken.
Das Motto für die Reform heißt: Wir dienen Deutschland. - Dafür verdienen sie unsere volle Unterstützung.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten
unser Kollege Bernhard Brinkmann. Bitte schön, Kollege Bernhard Brinkmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Beck, Sie haben die Ausführungen des Kollegen Arnold
mehrfach damit kommentiert, dieser habe einfach etwas
vom Tisch gewischt.
({0})
- Wir können das ja dann gemeinsam im Protokoll nachlesen; vielleicht treffen wir uns dann wieder. Vielleicht
hat auch der eine etwas mehr recht als der andere.
Ich will einmal auf Folgendes hinweisen: Herr zu
Guttenberg war der Ankündigungsminister. Was die Ankündigungen angeht, haben wir ihm auch die 8,3 Milliarden Euro Einsparungen zu verdanken, die ab heute
Makulatur sind. Ich will durchaus zum jetzigen Minister,
Herrn de Maizière, eine Brücke schlagen. Auch viele
Punkte, die Sie, Herr Minister, hier angesprochen haben,
stellen bisher nur Ankündigungen dar und sind noch
nicht umgesetzt worden. Also ist es unsere gemeinsame
Aufgabe, an den Punkten zu arbeiten, die sich bisher nur
im Bereich der Ankündigung befinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Bundeswehr
steht mit dem angekündigten und am 18. Mai durch
Herrn Minister de Maizière präzisierten Reformvorhaben, der Neuausrichtung unserer Streitkräfte, vor der
größten Herausforderung ihrer Geschichte. Mit der politischen Entscheidung des Parlaments, die Wehrpflicht
zum 1. Juli 2011 auszusetzen und stattdessen einen Freiwilligendienst einzuführen, haben sich die Rahmenbedingungen für die Streitkräfte und auch für das zivile
Personal substanziell verändert. Diese Veränderungen
werden auch gravierende Auswirkungen auf den Verteidigungsetat haben.
Bereits in meinen Ausführungen am 24. November
2010 anlässlich der zweiten und dritten Lesung des Bun14516
Bernhard Brinkmann ({1})
deshaushalts 2011 habe ich für die SPD-Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass die angekündigten Einsparungen - damals noch von Herrn zu Guttenberg - in
Höhe von 8,3 Milliarden Euro nicht darstellbar sind. Sie
sind - das kann ich nur deutlich wiederholen - mit dem
jetzt vorgelegten Etatentwurf zum Einzelplan 14 auch
endgültig Makulatur.
Herr Minister de Maizière hat dann in seinen Ausführungen auf Veränderungen im Milliardenbereich hingewiesen. Ich will an dieser Stelle eines deutlich machen:
All die Einsparungen, die im 44. Finanzplan festgeschrieben wurden, finden sich aufgrund des Entwurfs
2012 verständlicherweise im 45. Finanzplan nicht wieder. Die Bundeswehr - das liegt auch in diesem Reformvorhaben begründet - muss natürlich bei dem anstehenden Reformprozess mitgenommen werden. Auch das
findet bis heute nur in sehr geringem Umfang und recht
selten statt.
Ich war in der parlamentarischen Sommerpause wie
viele Kolleginnen und Kollegen im Lande unterwegs
und habe mit Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen. Es ist keine
Frage, sie sind nach wie vor hoch motiviert, aber auch
stark verunsichert. Die vorgesehene Reduzierung auf
55 000 Zivilbeschäftigte, Herr Minister, kann man nicht
einfach dadurch umsetzen, dass man die Betroffenen so
hin- und herschiebt, wie es angedacht ist. Darüber müssen wir uns auch bei den künftigen Beratungen intensiv
austauschen. Man kann nämlich eine zivile Mitarbeiterin
aus der Küche oder einen zivilen Mitarbeiter aus der
Standortverwaltung nicht einfach in ein anderes Ministerium umsetzen. In welcher Größenordnung sich die Bezüge dieser Beschäftigten bewegen, hat der Kollege
Arnold ja in seinen Ausführungen sehr deutlich gemacht.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass man diese Hilfsbrücke, um mehr Luft im Etat zu bekommen - dagegen
hat die SPD überhaupt nichts einzuwenden -, nicht in
Form einer Verschiebung von bis zu 1 Milliarde Euro in
den Einzelplan 60, wie es im Entwurf steht, vollzogen
hätte. Es gibt durchaus Annahmen, die von bis zu
4 Milliarden Euro ausgehen. Was man dorthin schiebt,
kann an anderer Stelle natürlich nicht eingespart werden
oder wird weniger eingespart. Wenn Personal in andere
Ministerien verschoben wird, bleibt es letztendlich bei
den gleichen Personalausgaben. Nach dem Grundsatz
der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit wäre es
besser gewesen, wenn man für all dies eine separate
Haushaltsstelle mit dem Titel „Neuausrichtung der Bundeswehr“ im Einzelplan 14 vorgesehen hätte. Das wäre
transparent und entspräche dem Grundsatz der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.
({2})
Auch zur Frage der Attraktivität sind schon entsprechende Ausführungen gemacht worden. Ich will die
Punkte gerne wiederholen, Herr Minister: Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, neue Laufbahnen, Stärkung der
Aus- und Weiterbildung, erleichterter Übergang in Zivilberufe und, ganz generell, die Bezahlung von Soldatinnen und Soldaten. Daher wäre es, auch vor dem Hintergrund einer durchaus großen Mehrheit für diese Struktur,
für die Ende Oktober belastbare Zahlen vorliegen werden, meines Erachtens ein guter Schritt der Koalitionsfraktionen gewesen, wenn sie unserem Antrag zu dieser
Thematik und der Einrichtung eines Unterausschusses
ihre Zustimmung gegeben hätten. Sie haben das leider
abgelehnt.
Auch was die Frage der militärischen Beschaffungen
angeht - darauf habe ich ebenfalls bereits im November
hingewiesen -, muss man im Rahmen der neuen Struktur
schauen, was noch notwendig ist. Der Kollege Koppelin
hat das bereits ausgeführt. Geschlossene Verträge müssen eingehalten werden; das ist gar keine Frage. Aber
auch hier werden uns die allgemeine Entwicklung und
Preissteigerungen erreichen. Diese Punkte müssen, beginnend im Jahr 2012 und fortgesetzt in den Folgejahren, Grundlage einer soliden Haushaltsaufstellung beim
Einzelplan 14 sein.
Lieber Jürgen Koppelin, du hast in Bezug auf die
Ausführungen des Kollegen Arnold auch die Ausrüstung
der Soldatinnen und Soldaten kritisiert. An dieser Stelle
sollten wir uns einmal mit der Vergangenheit auseinandersetzen: Es war die Koalition, die bei der Beratung des
Haushalts 2010 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion handstreichartig, ohne Minister Guttenberg zu informieren,
500 Millionen Euro gestrichen hat. Deshalb muss man
bereit sein, das an dieser Stelle als Kritik hinzunehmen.
Sie haben das dann, weil Sie gemerkt haben, dass es so
nicht geht, in Form von Verpflichtungsermächtigungen
zu heilen versucht. Auch dieser Punkt gehört meines Erachtens zu einer fairen Auseinandersetzung; Sie können
nicht nur einseitige Schuldzuweisungen in Richtung
SPD-Fraktion vornehmen.
({3})
Herr Kollege Brinkmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Jürgen Koppelin?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Brinkmann, dir ist aber bekannt,
dass diese Kürzungen durchaus machbar waren, weil sie
Beschaffungsmaßnahmen betrafen, die wir in der Form
und in dem Umfang nicht mehr brauchten. Aber da du
schon solche Zahlen nennst, darf ich daran erinnern, dass
durch die Mehrwertsteuererhöhung in Höhe von 3 Prozentpunkten, die ihr in eurer Koalitionszeit vorgenommen habt, der Bundeswehr plötzlich 700 Millionen Euro
fehlten.
({0})
Lieber Kollege Koppelin, in der Frage der Mehrwertsteuererhöhung befanden wir uns in guter Gemeinschaft
mit Ihrem jetzigen Koalitionspartner. Meine Partei
wollte keine Erhöhung, die Union hat 2 Prozentpunkte
gefordert, daraus sind dann 3 Prozentpunkte geworden.
Ich habe das immer als Mengenlehre bezeichnet, weil
man auch die nicht erklären kann. Aber Sie wissen besser denn je: In einer Koalition muss man Kompromisse
machen. Auf unserem Papier war damals die Steuerfreiheit für Nachtzuschläge und Feiertagszuschläge ein
Punkt, auf dem Papier der Unionsfraktion stand die
Mehrwertsteuererhöhung, und darum ist es dazu gekommen.
Zu dem zweiten Punkt, Herr Kollege Koppelin. Bis
vor wenigen Monaten haben wir immer noch die Monstranz vor uns her getragen, dass wir 8,3 Milliarden Euro
einsparen könnten. Von Steuersenkungen will ich gar
nicht reden. Da scheinen ja auch Sie mittlerweile zu anderen Überzeugungen zu kommen, nachdem Sie die
Meinung der Bürgerinnen und Bürger dazu von Ihren
Wahlergebnissen ablesen können. Aber Sie haben Einsparungen vorgenommen, ohne Abstimmung mit dem
Minister. Ich weiß noch ganz genau, wie Herrn Minister
zu Guttenberg damals auf der Regierungsbank die Gesichtszüge entglitten sind.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Beck
hat bereits darauf hingewiesen, dass unsere Soldatinnen
und Soldaten im Land und darüber hinaus bei den Auslandseinsätzen einen gefährlichen und harten Job zu erfüllen haben. Das wird manchmal von der linken Seite
des Hauses kritisiert. Der Hinweis, die Bundeswehr abzuschaffen, kommt nicht von ungefähr. Auch da könnte
man ein bisschen Vergangenheitsbewältigung betreiben.
Ich will das nicht tun. Aber ich möchte die Gelegenheit
nutzen, den Soldatinnen und Soldaten und allen zivilen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ihren Angehörigen zu danken und ihnen ausdrücklich meinen Respekt
und meine Anerkennung auszusprechen.
({1})
Eines bedrückt mich allerdings, und das war auch bei
den Haushaltsberatungen 2010 schon Thema. Am nächsten Morgen ereilten mich dazu aus dem Ministerium
- das hat vielleicht auch etwas mit der Personalstärke zu
tun - innerhalb einer halben Stunde 35 Anrufe. Staatssekretär Schmidt weiß, worum es geht. Ich sehe auf der
Besuchertribüne viele Besucherinnen und Besucher, allerdings keinen Soldaten, keinen Bürger in Uniform.
Könnte das daran liegen, Herr Minister, dass die entsprechenden Haushaltsmittel ähnlich wie in 2010 schon
Mitte des Jahres aufgebraucht sind und deshalb niemand
im Rahmen der politischen Bildung mehr in die Hauptstadt kommen kann? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn
Sie das überprüfen ließen und mir eine schriftliche
Nachricht zukommen lassen könnten. Die Mitarbeiter
aus dem Ministerium können sich also etwaige Anrufe
morgen früh sparen. Vielen Dank im Voraus dafür.
Ich möchte mich auch für die bisher zur Verfügung
gestellten Informationsunterlagen bedanken, die für die
Beratung des Einzelplans 14 von Bedeutung sind. Ich
gehe davon aus, dass es auch in Zukunft so sein wird.
Nehmen Sie diesen Dank an das Ministerium bitte mit,
Herr Minister. Ich freue mich auf die Berichterstattergespräche und die Beratungen im Haushaltsausschuss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Elke Hoff.
Bitte schön, Frau Kollegin Elke Hoff.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Minister, ich glaube, dass Sie mit der Reform und
dem Haushaltsentwurf auf einem guten Wege sind; denn
ich vermisse substanzielle Beiträge der Opposition, die
aufzeigen, wie sie an der Stelle anders agieren will. Von
der Opposition höre ich nur: Ihr spart zu wenig. Vieles
muss noch gemacht werden. Ihr schickt zu viele Soldaten in den Einsatz. Aber ihr müsst auch den Bündnisverpflichtungen Rechnung tragen. - Dieses Durcheinander
erschwert es den Menschen, die diese Debatte verfolgen,
festzustellen, in welche Richtung die zukünftige Sicherheitspolitik, die sich auch im Einzelplan 14 niederschlägt, aus der Sicht der Opposition gehen soll.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen,
auf das einzugehen, was schon kritisch erwähnt worden
ist, nämlich auf die Nichteinsetzung eines Unterausschusses Bundeswehrstrukturreform. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, ich bin der Überzeugung, dass diese wichtige Reform jedes Mitglied im Verteidigungsausschuss gleichermaßen angeht
({1})
und dass wir alle aufgefordert sind, uns ständig in jeder
Sitzung des Verteidigungsausschusses mit diesen wesentlichen Dingen zu beschäftigen.
Zurück zur Sache. Wir haben weltweit eine Situation,
in der nicht mehr die Vorstellungen der Politik den Rahmen der Sicherheitspolitik diktieren. Wir werden zunehmend, auch bedingt durch Globalisierung und durch völlig neue Sicherheitsrisiken und Herausforderungen, dazu
aufgefordert, mit den staatlichen Instrumenten zur Sicherheitsvorsorge möglichst flexibel umzugehen. Dazu
gehört auch die Bundeswehr. Es war ein Anliegen der
Koalition, dass die Bundeswehr genau dafür ertüchtigt
wird. Wir haben in der Vergangenheit festgestellt, dass
häufig notwendige Entscheidungswege - sei es die Entsendung in einen Einsatz, seien es Beschaffungen und
die Bereitstellung von Ausrüstung und notwendigem
Material - viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir
zuallererst Folgendes erreichen wollen: flachere Hierarchien und Transparenz mit Blick auf Strukturen und Entscheidungen. Dass dies kein einfacher Weg ist, kann
man sich angesichts der Größe einer Organisation wie
der Bundeswehr sicherlich lebhaft vorstellen. Jetzt schon
von einem Chaos zu reden - diese Äußerung habe ich
vom Kollegen Bartels gehört; Kollege Arnold hat das
ebenfalls angedeutet -,
({2})
halte ich für vollkommen daneben. Wir stehen gemeinsam in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Bundeswehr
handlungsfähig ist. Wir stehen aber genauso in der
Pflicht, die Dinge nicht zu zerreden. Wir müssen gerade
in diesen Bereich Ruhe und Zuverlässigkeit bringen.
({3})
Die wesentlichen Eckpunkte, durch die eine Bundeswehrreform determiniert ist, sind neben den finanziellen
Rahmenbedingungen die demografischen und natürlich
die sicherheitspolitischen Bedingungen. Wir haben heute
Morgen in der Debatte sehr viel darüber gehört, wie
wichtig es ist - auch ich bin dieser Auffassung -, sich in
Europa in vielen elementaren Politikfeldern aufeinander
zuzubewegen. Ich nenne beispielsweise Wirtschaftspolitik, Haushaltspolitik und Finanzpolitik. Es ist nicht zuletzt eine Lehre aus der Diskussion über Libyen, dass
wir gemeinsam in Europa schnellstmöglich europäische
Sicherheits- und Verteidigungsinteressen definieren
müssen. Daraus können wir ableiten, mit welchen Fähigkeiten und Mitteln wir und die europäischen Partner der
Verantwortung gerecht werden können.
Es wird sehr viel über Bündnistreue und Bündniszuverlässigkeit geredet. Wenn ein Land mehr als
7 000 Soldatinnen und Soldaten in internationalen Einsätzen hat, kann ich beim besten Willen keine Bündnisunzuverlässigkeit feststellen. Wenn ich aber - damit
komme ich auf das Thema „Definition der gemeinsamen
europäischen Interessen“ zurück - von einem großen
Bündnispartner höre, dass in Zukunft an die Europäer,
sozusagen vor der eigenen Haustür, andere Anforderungen gestellt werden, bedeutet das einen qualitativen Unterschied innerhalb des Bündnisses. Deswegen sollten
wir gemeinsam überlegen - genauso wie wir es vor einem Auslandseinsatz machen und es die Soldaten mit
Recht einfordern -, wie wir europäische Sicherheitsinteressen definieren und wie wir diese Bereiche kompatibel
machen können, um die Sicherheit unserer Bürgerinnen
und Bürger zu gewährleisten.
({4})
Zur Demografie. Herr Minister, Sie haben eben gesagt, dass der Umbau der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee notwendig war. - Sie haben „leider“ gesagt;
ich als FDP-Vertreterin würde „Gott sei Dank“ sagen. Das hat selbstverständlich auch etwas mit der demografischen Entwicklung zu tun. An dieser Stelle möchte ich
mich für einen Gedanken starkmachen - das ist eben
schon angeklungen -: Wenn die jungen Männer und
Frauen in Zukunft zu einer Mangelware auf dem
Arbeitsmarkt werden, dann sollten wir, anstatt gegeneinander zu konkurrieren, mit der Industrie und mit der
Privatwirtschaft kooperieren. Damit könnten wir die Attraktivität der Bundeswehr für junge Männer und Frauen
erhöhen, die sich freiwillig für eine gewisse Zeit zum
Dienst an der Waffe entscheiden, aber danach eine Perspektive brauchen. So könnten wir gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Wahrscheinlich geht es Ihnen genauso wie mir. Aus
der Wirtschaft heraus wird die Frage an uns gerichtet,
wie wir für Spezialisten, die überall Mangelware sind
- in technischen Berufen, im IT-Bereich -, gemeinsam
Arbeitsbiografien aufbauen können. Jungen Männern
und Frauen fällt die Entscheidung zum Dienst an der
Waffe für ihr Vaterland leichter, wenn sie wissen, dass
sie anschließend eine vernünftige Situation auf dem Arbeitsmarkt erwartet. Herr Minister, ich kann Sie nur ermuntern, an dieser Stelle intensiv mit der mittelständischen Wirtschaft und mit der Industrie bei uns im Lande
die notwendigen Gespräche zu führen. Unsere Unterstützung haben Sie dabei.
Kollege Koppelin hat bereits einiges zum Haushalt
gesagt. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, den Mittelansatz im Verteidigungshaushalt einigermaßen stabil
zu halten. Natürlich muss auch die Bundeswehr ihren
Beitrag zum Sparen leisten. Ich glaube, man könnte es
niemandem klarmachen, wenn das nicht der Fall wäre.
Aber das muss verantwortungsvoll geschehen; es muss
nachvollziehbar sein, und es bedarf einer gewissen Zeit.
Auch hier finden wir uns als FDP-Fraktion wieder, weil
wir immer gesagt haben: Einsparen ja, aber über einen
längeren Zeitraum und in angemessener Höhe. Insofern,
Herr Minister, auch an dieser Stelle ein Kompliment von
meiner Fraktion. Sie haben in einer schwierigen Zeit das
notwendige Stehvermögen bewiesen, um Ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett, denen ich an der Stelle
ausdrücklich danke, davon zu überzeugen, dass die Fürsorge für unsere Soldatinnen und Soldaten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Insofern kann ich vonseiten der FDP diesem Haushalt nur zustimmen.
({5})
Ich glaube, dass noch ein ganz dickes Brett zu bohren
ist. Deswegen bin ich froh, Herr Minister, dass Sie in Ihren Verteidigungspolitischen Richtlinien einen Satz eingefügt haben, mit dem Sie Ihr Verständnis der deutschen
wehrtechnischen Industrie zum Ausdruck bringen, nämlich dass sie eine dienende Funktion hat. Ich würde mich
sehr freuen, wenn es uns in Zukunft gelingt, vor diesem
Hintergrund die richtigen Entscheidungen zu treffen, sodass die Industrie zwar einerseits wettbewerbsfähig ist,
andererseits aber in einer angemessenen Zeit das notwendige Material verlässlich zur Verfügung stellen
muss.
({6})
Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit
bedanken.
({7})
Vielen Dank. - Frau Kollegin, ich konnte die Zwischenfrage nicht mehr zulassen, weil die Redezeit schon
abgelaufen war. Ich glaube, Sie haben das auch so verstanden.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Omid
Nouripour. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute auf
den Tag genau vor zehn Jahren hätte niemand daran gedacht und geglaubt, dass wir, der Bundestag, einmal die
Bundeswehr nach Afghanistan schicken würden.
({0})
Vor wenigen Jahren wäre es nicht denkbar gewesen,
über einen Einsatz im Libanon oder im Sudan zu sprechen. Niemand kann heute wissen, was in 15 Jahren die
Hauptherausforderungen bei der Sicherheit unseres Landes und die Aufgaben der Bundeswehr sein werden. Wer
heute behauptet, das für die Zukunft zu wissen, ist entweder ein Hellseher oder ein Hochstapler.
Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass die Bundeswehr flexibler wird. Das geht natürlich nur dann,
wenn das Geld zusammengehalten wird. Das Geld in
diesen Zeiten der Verschuldung zusammenzuhalten, ist
natürlich alles andere als einfach. Deshalb war es völlig
richtig, dass der ehemalige Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg gesagt hat, er wolle eine große
Bundeswehrreform durchführen. Er hat dies am Anfang
fälschlicherweise ausschließlich mit dem Finanzdruck
begründet; aber der Finanzdruck ist vorhanden und wird
auch in den nächsten Jahren vorhanden sein.
Insofern war es richtig, hier heranzugehen und große
Überschriften zu produzieren. Die Strukturen müssen
tatsächlich effizienter gestaltet werden. Die Gesamtgröße der Bundeswehr ist auf den Prüfstand gestellt worden; das sollte aus unserer Sicht weiterhin getan werden.
Vor allem geht es um Veränderungen bei der Beschaffungsphilosophie, die bisher in diesem Land existiert:
Seit Jahrzehnten wird mit einem Etat, der eigentlich für
andere Zwecke da ist, Industriepolitik betrieben. All
diese Punkte sind wichtig.
Das Problem beim alten Minister war: Er hat Überschriften produziert, aber die Seiten des Buches nicht gefüllt. Das heißt, er hat Ihnen, Herr Minister, ein ziemlich
leeres Heftchen hinterlassen. Dadurch können Sie nicht
nur verwalten, sondern auch gestalten. Es ist nicht nur
schlecht, dass da noch nicht so viel gemacht worden ist,
dass die Kärrnerarbeit noch bevorsteht; denn das gibt Ihnen die Möglichkeit, tatsächlich zu gestalten. Das Problem ist: Wenn ich mir diesen Einzelplan anschaue, dann
finde ich davon nichts wieder. Ich finde in diesem Zahlenwerk keine große Bundeswehrreform, sondern ausschließlich einen kleineren Verwaltungsakt. Wir schauen
einmal, wie die Verhandlungen jetzt weitergehen werden.
Herr Minister, Sie stellen sich hin und sagen: „Die
Entscheidungen müssen verantwortbar und verlässlich
sein.“ Ich frage mich dann aber, wer eigentlich im Bundeskabinett dem 44. Finanzplan zugestimmt hat. Sie waren doch dabei. Wenn Sie ein Jahr später diesen Finanzplan nahezu komplett revidieren, dann ist die Frage:
Welche der beiden Entscheidungen war nicht „verantwortbar und verlässlich“?
({1})
Das ist wirklich ein Rätsel, das Sie bitte auflösen mögen.
Es wäre spannend und angesichts der Verlässlichkeit, die
Sie hier beanspruchen, gar nicht so falsch, wenn Sie vielleicht irgendwann einmal sagen würden, was denn eigentlich falsch war und was Sie dazu bewogen hat, diese
Entscheidung zu revidieren.
Der Finanzdruck bleibt aber bestehen. Es bleibt bisher
rätselhaft, wo das neue Geld herkommen soll. Wir sind
sehr gespannt. Aber Fakt ist: Nominell 65 000 Soldaten
weniger werden im Jahr 1 Milliarde Euro mehr kosten.
Ich weiß nicht, ob Sie der Bundeswehr damit einen Gefallen tun. Vor allem ist es auch spannend, dass ursprünglich 2011 und 2012 die entscheidenden Jahre sein
sollten; die Anschubfinanzierung sollte vor allem 2011
erfolgen. Jetzt ist alles ein bisschen hin- und hergebogen
worden, auch der Zeitplan. Das heißt, erst 2013 gibt es
einen richtigen Schluck mehr für die Bundeswehr. Komischerweise ist dann Wahlkampf. Es ist natürlich alles
andere als gut für die Truppe, dass Sie uns im Nachhinein sozusagen einen Wahlkampfetat hineinzimmern
wollen. Deshalb halte ich es nicht für angemessen, sich
hier dafür feiern zu lassen, dass weniger gespart wird;
denn das, was Sie heute nicht sparen, wird die Truppe
morgen und übermorgen doppelt und dreifach sparen
müssen; das sage ich auch in Richtung der Sozialdemokratie. Ich verstehe nicht, dass man einfach immer mehr
Geld braucht. Das wird auf lange Sicht nicht funktionieren. Noch einmal: Wir brauchen einfach andere Strukturen, eine andere Größe und - noch einmal - vor allem
eine andere Beschaffungspolitik.
Die zentrale Frage ist aber die nach der sicherheitspolitischen Ableitung. Sie haben es so gelöst, dass Sie
Verteidigungspolitische Richtlinien formuliert haben.
Sie haben bei der Verabschiedung des Präsidenten der
Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Kersten Lahl,
vor einigen Tagen gesagt, wir hätten in der Sicherheitspolitik in Deutschland keine Strategielücke. Ich teile
diese Äußerung: Ich glaube nicht, dass wir eine Strategielücke haben, denn wir haben gar keine Strategie. Ich
sehe gar keine Strategie dieser Bundesregierung. Die
Verteidigungspolitischen Richtlinien sind ein Mahnmal
für diese Strategielosigkeit.
Es gab einmal Verteidigungsminister, die die Verteidigungspolitischen Richtlinien im Bundeskabinett haben
verabschieden lassen. Sie aber haben daraus einen Verwaltungsakt gemacht. Es ist mit dem Auswärtigen Amt
nicht gesprochen worden, auch mit anderen Ressorts
nicht. Insofern gibt es keine Strategie der Bundesregierung. Es gibt nur die grundsätzlichen Gedanken, die Sie
formuliert und verschriftlicht haben. Das ist einfach
nicht ausreichend.
Strategielos ist die Bundesregierung auch, wenn es
darum geht, mit einer Stimme zu sprechen: Die Widersprüche zwischen Verteidigungsminister und Außenminister sind bekannt. Neu ist natürlich, dass sich der
Verteidigungsminister und sein eigener Staatssekretär
nun auch öffentlich widersprechen, wie wir das vor einigen Wochen erfahren durften.
Das Problem ist, dass uns Parlamentarierinnen und
Parlamentariern jetzt die Aufgabe bevorsteht, in den
nächsten Wochen alles daranzusetzen, in den Ausschussberatungen eine Bundeswehrreform zustande zu bringen, die diesen Namen auch verdient. Die Bundeskanzlerin und andere in der Bundesregierung haben immer
wieder gesagt: Es darf keine Sicherheitspolitik nach
Kassenlage geben. Das ist eine richtige Aussage. Das
Problem ist aber, dass Sie weder eine sinnvolle Sicherheitspolitik machen noch auf die Kassenlage schauen.
Das reicht einfach nicht.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser
Kollege Thomas Silberhorn. Bitte schön, Kollege
Thomas Silberhorn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Verteidigungshaushalt für das Jahr 2012 hat weit über
dieses Jahr hinaus Bedeutung. Denn er legt die Grundlage für eine tiefgreifende Neuausrichtung der Bundeswehr. Dem Bundesverteidigungsminister ist es gelungen,
das scheinbar Unvereinbare miteinander zu vereinen.
Einerseits leistet der Etat einen wichtigen Beitrag zur
Konsolidierung des Haushalts und zur Einhaltung der
Schuldenbremse, andererseits macht dieser Etat die Bundeswehr fit für die Zukunft. Ich möchte anführen, dass
die Truppe im kommenden Jahr zum Beispiel über
200 Millionen Euro zusätzlich für Materialerhaltung
ausgeben kann. Trotz eines kleineren Haushalts für Verteidigung gibt es keine Abstriche an den militärischen
Fähigkeiten. Entscheidend ist, dass die vorhandenen
Mittel effizient und an den Einsatzerfordernissen orientiert verwendet werden.
Dieser Etat ist ein Beleg dafür, dass die christlichliberale Koalition keine Sicherheitspolitik nach Kassenlage macht. Es war richtig, anhand der Verteidigungspolitischen Richtlinien zuerst die Koordinaten unserer
Sicherheitspolitik zu bestimmen, die Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr zu präzisieren und dann
daraus den erforderlichen Finanzbedarf zu ermitteln. Ihnen, Herr Bundesverteidigungsminister, gilt dafür unser
herzlicher Dank. Sie haben die Reformvorhaben zu einem Konzept aus einem Guss zusammengefügt. Wir
können nun die Neuausrichtung der Bundeswehr auf
eine solide und tragfähige finanzielle Grundlage stellen.
Ich muss gleichwohl etwas grundsätzlicher werden:
Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass sich die
Bundeswehr zu einer Armee im Einsatz gewandelt hat.
Das hat Konsequenzen. Deswegen ist diese tiefgreifende
Reform unserer Streitkräfte notwendig geworden. Künftig wird Deutschland eher mehr Verantwortung für die
Wahrung internationaler Sicherheit zukommen als weniger. Die westlichen Demokratien sind Inseln des Wohlstands auf diesem Globus. Auch weil es uns besser geht
als anderen, tragen wir ein höheres Maß an Mitverantwortung. Unser Wohlstand basiert auf unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie auf der Achtung und dem Schutz der
Menschenrechte. Es sind auch diese Werte, die wir vertreten, wenn wir uns unter dem Dach der Vereinten Nationen und der NATO daran beteiligen, in anderen Teilen
der Welt Sicherheit zu schaffen.
Die Landesverteidigung als Bündnisverteidigung ist
nicht unwichtig geworden. Sie wird in den Verteidigungspolitischen Richtlinien zu Recht weiterhin als erste
Aufgabe der Bundeswehr genannt. Die Beteiligung an
der internationalen Verhütung und Bewältigung von
Konflikten wird aber weiter an Bedeutung gewinnen.
Eine Truppe, die in der Lage sein muss, durchhaltefähig
weltweit im Einsatz zu sein, braucht eine andere Struktur
als die Bundeswehr der Nachkriegszeit. Diese Reform
bietet die Chance, Unzulänglichkeiten, die seit langem
erkannt sind, zu beheben und die Bundeswehr so auszurichten, dass sie ihrem Auftrag auch gerecht werden
kann.
Zu den wesentlichen Kriterien für den Erfolg der
Neuausrichtung der Bundeswehr zählt die Führungskultur der Streitkräfte. Auf diesem Feld gilt die Bundeswehr
weltweit als Vorbild. Die Grundsätze der Inneren Führung garantieren die Stellung jedes einzelnen Angehörigen der Bundeswehr als Staatsbürger in Uniform. Lassen
Sie mich das etwas ausführen, damit wir für die Öffentlichkeit nicht immer in Floskeln reden. Innere Führung
heißt: Jeder Auftrag innerhalb der Streitkräfte muss
ethisch, rechtlich und politisch legitimiert sein und soll
von jedem Befehlsempfänger in Bezug auf diese Kriterien hinterfragt werden. Die Auftragstaktik, die damit
verbunden ist, hat sich in allen vergleichenden Betrachtungen als überlegen erwiesen. Deshalb gilt es, dieses
Modell zu erhalten.
In einer Freiwilligenarmee ist es allerdings eine besondere Herausforderung, ein kongruentes Werteverständnis zwischen Streitkräften und Gesellschaft zu gewährleisten. Zu diesem Zweck ist es notwendig, einen
gesellschaftlichen Konsens über den Auftrag der Streitkräfte herzustellen. Die Fähigkeit zum Einsatz im Konflikt setzt voraus, dass das Kämpfen zum Anforderungsprofil der Soldaten gehört. Wir müssen uns darüber im
Klaren sein, dass es dabei nicht nur um SelbstverteidiThomas Silberhorn
gung geht. Entscheidend ist aber, dass der Kampf einer
strikten Wertebindung unterliegt.
Dieses Verständnis für den Dienst in der Bundeswehr
muss unsere Gesellschaft aufbringen. Die Soldaten sollen das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform leben, aber
die Gesellschaft muss es auch verstehen, damit die
Streitkräfte in ihr fest verankert bleiben. Gerade die Freiwilligenarmee erfordert, dass sich die Gesellschaft zur
Bundeswehr bekennt.
({0})
Die Bundeswehr braucht hochmotivierte Soldaten.
Der Bund steht im Wettbewerb mit anderen Arbeitgebern. Deswegen spielt die Attraktivität der Bundeswehr
eine wichtige Rolle für den Erfolg dieser Reform. CDU/
CSU und FDP diskutieren intensiv über ein ganzes Bündel von Maßnahmen, um den Dienst in den Streitkräften
attraktiver zu gestalten. Ein wichtiges Anliegen ist der
Ausbau einer elternfreundlichen Infrastruktur in der
Bundeswehr. Von der Öffnung für Seiteneinsteiger bis
zur Mitnahme von Versorgungsanwartschaften gibt es
eine breite Palette von Verbesserungsmöglichkeiten. Die
Koalitionsfraktionen arbeiten mit Nachdruck, um rasch
zu Ergebnissen zu kommen.
({1})
Mit dem Entwurf eines Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzes, mit dem die Versorgung von Geschädigten und Hinterbliebenen verbessert werden soll, hat die
christlich-liberale Koalition in der letzten Woche eine
wichtige Änderung auf den Weg gebracht. Wir werden
diesen Gesetzentwurf zeitnah verabschieden. Die Verbesserungen werden bald Realität sein. Im vorliegenden
Haushaltsentwurf ist bereits eine Erhöhung der Versorgungsausgaben um mehr als 60 Millionen Euro für 2012
fest eingeplant.
({2})
Die Frage nach den künftigen Standorten der Bundeswehr ist ausgesprochen komplex. Militärische, wirtschaftliche und personelle Aspekte sowie strukturpolitische Anliegen der Bundesländer und vieles mehr
erfordern intensive Abstimmungen. Es geht schlichtweg
nicht anders, als sich dafür die nötige Zeit zu nehmen.
Uns ist bewusst, dass gerade dieser Punkt einige Verunsicherung in der Truppe verursacht. Aber gerade weil
Standortentscheidungen Konsequenzen für die Soldaten,
die Zivilbeschäftigten und ihre Familien haben, müssen
wir mit Sorgfalt vorgehen. Der Fahrplan für die Entscheidungen steht.
Gestatten Sie mir, hier nochmals mit Nachdruck für
die Präsenz der Bundeswehr in der Fläche zu werben.
Die Verwurzelung der Truppe in der Breite unseres Landes stärkt ihr Ansehen in der Bevölkerung. Flächendeckende Präsenz ist eine Voraussetzung dafür, dass die
Bundeswehr nicht auf das oft beklagte freundliche Desinteresse stößt.
In der Europäischen Union stehen wir vor der Aufgabe, unsere Armeen besser und enger aufeinander abzustimmen. 27 nationale Armeen können unmöglich
jede für sich über alle Fähigkeiten verfügen, die die
Europäische Union heute braucht, um ihrer weltweiten
Verantwortung gerecht zu werden. Wir müssen daher die
verschiedenen Fähigkeiten der einzelnen Streitkräfte
besser miteinander vernetzen. Bei der Luftüberwachung
zum Beispiel zeigt sich, dass integrierte europäische
Verbände funktionieren, wo spezifische Fähigkeiten
sinnvollerweise gemeinsam ausgeübt werden. Wenn unsere globale Verantwortung zunimmt, die zur Verfügung
stehenden Mittel aber knapper werden, dann muss die
Koordinierung und Kooperation mit unseren europäischen Partnern ein Teil der Lösung sein.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Bundeswehr ist eine leistungsfähige Armee. Wo sie im Einsatz
ist, genießt sie höchsten Respekt für ihre Arbeit. Ich
danke unseren Soldatinnen und Soldaten sowie allen
Zivilbeschäftigten für ihren Dienst, und ich danke auch
ihren Angehörigen. Sie tun etwas für unser Land.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster und damit
letzter Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Klaus-Peter Willsch. Bitte
schön, Kollege Willsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Minister, ich mag es nicht, wenn
Menschen Steine hinterher geworfen werden. Deshalb
will ich zwei Punkte besonders herausstellen. Wir alle
wissen, dass Minister de Maizière das Amt in vorbildlicher Weise übernommen hat, nachdem es vakant war,
aber ich möchte Karl-Theodor zu Guttenberg an diesem
Tag bei der Einbringung des Haushalts ausdrücklich für
das danken, was er für unsere Bundeswehr getan hat.
({0})
Es war völlig anders, als Herr Trittin es heute ausgeführt hat. KT hat - ({1})
Karl-Theodor zu Guttenberg hat die Notwendigkeit der
Bundeswehrreform erkannt und durch Einsatz in den
Parteigremien, wie es sein muss, eine Veränderung herbeigeführt, die auf zwei Parteitagen, dem der CDU und
dem der CSU, mit breiten Mehrheitsbeschlüssen dazu
geführt hat, dass die CDU und die CSU ihre Haltung geändert haben und sich den Übergang von einer Wehrpflichtarmee zu einer Freiwilligenarmee aktiv zur Gestaltung vorgenommen haben.
Der eine oder andere wird, wenn er ehrlich zu sich
selbst ist, zugestehen - ich war mehrfach mit ihm unterwegs bei der Truppe im Einsatz -: Er hat die Lage der
Soldaten im Einsatz und das, was die Soldaten dort für
unser Land im Krieg tun, in hervorragender Weise in das
Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Für beides gebührt ihm ausdrücklicher Dank.
({2})
Leider sind auch im Jahr 2011 nicht alle Soldaten
wohlbehalten aus dem Einsatz in Afghanistan zurückgekehrt. Sieben Kameraden sind in Afghanistan gefallen. Das macht greifbar, was eine Armee im Einsatz bedeutet. Wir haben nicht nur Gefallene, sondern auch
Versehrte zu beklagen. Das ist Anlass genug, bei dieser
Gelegenheit all denen, die diesen schweren und gefährlichen Dienst für unser Land auf sich nehmen, ausdrücklich zu danken. Hierbei beziehe ich alle Kameraden ein:
die Freiwilligen und länger dienenden Zeitsoldaten und
die Berufssoldaten, die früheren Wehrdienstleistenden,
die jetzt langsam ausgephast werden, die neuen Freiwilligen und die Reservisten.
Am 15. September des letzten Jahres habe ich an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass man dem Einzelplan 14 für das Jahr 2011 seine Unwägbarkeiten angesehen hat. Im vergangenen Jahr hat sich viel getan. Wir
haben inzwischen mit Blick auf die neue Bundeswehr
und die Freiwilligenarmee viel mehr Informationen auf
dem Tisch. Wir können für das Jahr 2012 auf festerer
Grundlage planen.
Natürlich wäre es schön, wenn wir schon das Gesamttableau hätten. Der Minister hat es aber angekündigt,
und er bewegt sich damit auf der Linie des verkündeten
Zeitplans: Die Stationierungsentscheidungen stehen im
Herbst - im Oktober - an. Dann müssen wir natürlich
nachbessern. Der Hinweis darauf, dass diese vor der
zweiten und dritten Lesung erfolgen, erlaubt uns vielleicht, die Entscheidungen im Rahmen der Beratungen
an die zukünftigen Gegebenheiten anzupassen.
Der Verteidigungshaushalt muss Sparbeiträge bringen. Wenn Sie sich den Verteidigungshaushalt anschauen und die nominalen Beträge betrachten, dann
müssen Sie immer sehen, dass das Selbsterbringen der
Versorgungsleistungen und die BImA-Leistungen, also
die Kosten für die Unterbringung in bundeseigenen Liegenschaften, für die Miete zu zahlen ist, bei der Bundeswehr am stärksten zu Buche schlagen. Deshalb ist auch
ein nominales Fortschreiben eines Plafonds gleichwohl
eine Verringerung des operativen Spielraums. Es war
dringend notwendig, dass wir 1 Milliarde Euro über den
Einzelplan 60 mobilisiert haben, um dabei zu helfen, das
große Paket der Personalanpassung zu tragen.
Der Einzelplan 14 macht im Regierungsentwurf mit
31,68 Milliarden Euro 10,4 Prozent des Bundeshaushalts
aus. Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt nominal 1,18 Prozent. Nach der Rechenweise der NATO beträgt er 1,3 Prozent. Ich weise darauf hin, dass wir damit
weit unterhalb der im Rahmen der Selbstverpflichtung
als Untergrenze festgelegten 2 Prozent des BIP liegen.
Ich glaube, dass wir in Sachen Landesverteidigung und
Sicherung unserer Freiheit sehr sorgfältig vorgehen müssen. Ich rege an, dass man sich innerhalb der NATO Gedanken darüber macht, ob dieser Wert, 2,0 Prozent des
BIP, der nicht mehr von vielen erreicht wird, noch zeitgemäß ist oder nicht. Dauerhaft diesen großen Abstand
zwischen dem, was wir wirklich für Verteidigung aufbringen, und dem, zu dem wir uns innerhalb der NATO
verpflichtet haben, zu haben, halte ich nicht für einen
guten Zustand.
Wir werden uns einzelnen Problemstellungen natürlich besonders im Rahmen der Einzelplanberatungen im
Haushaltsausschuss annehmen. Ich denke, das Thema
Munition - es gibt immer wieder Berichte in den Zeitungen, dass es dort Probleme gibt - werden wir uns noch
einmal detailliert vornehmen. Ein Sonderproblem ist der
Selbsteinkauf der Truppe. Für die, die es nicht wissen,
erkläre ich es kurz: Es gibt immer wieder Klagen von
Soldaten, dass dieses oder jenes Ausrüstungsstück nicht
geeignet sei. Wenn sie dann selbst etwas beschaffen,
müssen sie erstens die Kosten selbst tragen, und zweitens können Versicherungsprobleme auftauchen, wenn
es nicht die entsprechende Sicherheitsspezifikation hat.
Diese Themen sind für den einzelnen Soldaten im Einsatz wichtig.
Beim Thema Großgeräte stellt sich erneut die Frage,
wie wir dort vorgehen. Der Minister hat angedeutet, dass
es bei den A400M eine Lösung geben wird, wobei ein
Problem dabei deutlich wird. Diese 13 A400M, die uns
auf den Hof gestellt werden, müssen wir verkaufen. So
wird das vielleicht auch in anderen Bereichen der Großgeräteausstattung sein. Wir müssen als Bundesrepublik
Deutschland dabei helfen, Wehrtechnik- und Technologieunternehmen in diesem Bereich zu erhalten, indem
wir ihnen beim Export Wege ebnen.
So weit mein kursorischer Überblick. Lassen Sie
mich zum Schluss kommen. Ich selbst habe im Rahmen
der parlamentarischen Sommerpause natürlich auch
Standorte besucht, zum Beispiel mein Sanitätskommando II in Diez, in der Nachbarschaft. Ich habe immer
wieder festgestellt, dass die Soldaten im Wesentlichen
drei Dinge von uns erwarten: Sie erwarten, dass wir und
die Bevölkerung sie sowie die Art und die Weise ihres
Dienstes wahrnehmen. Sie wünschen sich, dass das Parlament hinter ihnen steht und ihnen die Legitimation für
den Einsatz gibt, und sie wünschen, dass sie ihre Arbeit
mit ordentlicher Ausrüstung machen können. Ich bin
überzeugt: Im Miteinander für unsere Parlamentsarmee
können wir das gemeinsam erreichen. Dazu lade ich Sie
herzlich ein.
Danke sehr.
({3})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
darf Sie bitten, auf den Plätzen zu bleiben, und darf das
Wort dem Bundesminister der Verteidigung geben. Bitte
schön, Herr Kollege de Maizière.
Herr Präsident! Ich möchte keinen Debattenbeitrag
leisten, sondern dem Parlament nur mitteilen, dass der
ehemalige Verteidigungsminister Hans Apel gestorben
ist. Hans Apel war ein großer Sozialdemokrat, er war ein
bedeutender Politiker, und er war auch ein bedeutender
Verteidigungsminister. Unsere Gedanken sind bei den
Angehörigen, der Familie. Über die Trauerfeier und
Ähnliches wird zu sprechen sein. Wir werden das in angemessener Weise in Übereinstimmung mit seiner Familie tun. Mir war wichtig, die Debatte zu diesem Etat
nicht zu beenden, ohne das hier mitzuteilen.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Wir trauern mit
den Angehörigen und der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Wir werden als Parlament in geeigneter
Form die Arbeit und die Persönlichkeit eines bedeutenden Bundespolitikers, unseres Freundes Hans Apel, würdigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zum
nächsten Geschäftsbereich. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23,
auf. Ich gebe nun das Wort dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Herrn
Bundesminister Dirk Niebel. Bitte schön, Kollege Dirk
Niebel.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass auch wir zunächst
unserer Trauer über den Tod der beiden deutschen Entwicklungshelfer Ausdruck verleihen. Wir können den
Angehörigen versichern, nachdem sie 14 Tage gebangt
und gehofft haben, dass wir jetzt, in dieser schweren
Stunde, an sie denken. In diesem Zusammenhang
möchte ich auch all denjenigen, die überall in der Welt
für Deutschland ihren Dienst tun, sei es in Uniform oder
in Zivil, unseren ausdrücklichen Dank aussprechen.
In diesem Jahr wird das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 50 Jahre
alt. Es wurde vor 50 Jahren von Walter Scheel als Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründet. Der Zusatz „und Entwicklung“ kam erst in den
90er-Jahren unter Minister Spranger zustande. Wir können jetzt den dritten Rekordhaushalt in Folge in den
Bundestag einbringen. Ich möchte dafür ausdrücklich
Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel danken, die diesem
Politikfeld durch ihre ständige Unterstützung auch im
Kabinett zum notwendigen Stellenwert verholfen hat.
Ebenso danke ich Herrn Schäuble dafür, dass es trotz der
Schuldenbremse möglich war, diese Leistung zu erbringen.
({0})
Ich möchte deutlich machen, dass dieser Haushalt ein
Wirksamkeitshaushalt ist. Dieser Haushalt kann das
erste Mal in 50 Jahren auf die Umsetzung eines verbindlichen Menschenrechtskonzeptes bauen, auf eine Art
Menschenrechts-TÜV, den es die letzten 50 Jahre nicht
gegeben hat. Das zeigt, mit welcher Wertorientierung
wir an unsere Entwicklungskooperation herangehen.
Ich wundere mich allerdings manchmal über tagesaktuelle Kritik. So haben wir zum Beispiel das Volumen
der Entwicklungskooperation mit Syrien von 167 Millionen Euro auf nur noch 5 Millionen Euro gesenkt und den
Rest aufgrund der Menschenrechtsmissachtungen, zu
denen es dort kommt, völlig zu Recht eingefroren. Von
gewissen Teilen des Hauses wurde daraufhin skandalisiert, wir würden uns nicht um die Trinkwasserversorgung der Menschen und um die Betreuung von Flüchtlingen aus Irak und Palästina kümmern. Ich wundere
mich über das humanitäre Verständnis von manchen
Grünen. Ich muss sagen, Frau Koczy: Das ist mehr als
Wirtschaftsförderung. Es geht in diesem Etat auch um
die Menschen.
({1})
Wir haben es geschafft, auch mit diesem Haushalt
die Entwicklungszusammenarbeit aus der politischen
Kuschelecke herauszuholen und sie in die Mitte der Gesellschaft zu führen. Wir schaffen es, dazu beizutragen,
die Lebenschancen von Menschen zu verbessern, ohne
Hilfsbedürftigkeit zu verstetigen und vor allem ohne
eine Hilfsindustrie sich selbst befriedend immer wieder
zu füttern und zu ernähren, sondern wir arbeiten darauf
hin, möglichst viele unserer Partner möglichst bald zu
graduieren und aus der Abhängigkeit von fremden Leistungen herauszuführen.
Dennoch brauchen wir im nächsten Jahr, 2012, mit
6,33 Milliarden Euro viel Geld. Wir müssen in Deutschland immer wieder die Legitimität erwerben, dieses Geld
im Ausland auszugeben. Aber es nützt einer international vernetzten Gesellschaft wie Deutschland, diese Kooperation zu betreiben. Es gibt auch wirtschaftliche
Rückflüsse in unser Land; das darf man immer wieder
feststellen.
Wir haben es geschafft, im Vergleich zum Vorjahr
114 Millionen Euro mehr zur Verfügung zu stellen. Das
sind 560 Millionen Euro mehr, als in der Finanzplanung
vorgesehen. Dennoch reicht das alleine nicht aus, um
unsere Ziele zu erreichen. Umso wichtiger ist es, dass
wir auf die Wirkung dessen achten, was wir tun. Wir
haben unsere Vorleistung durch die Vorfeldreform erbracht, durch die Zusammenführung von GTZ, DED
und InWEnt, die größte Strukturreform in der Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik, an der drei
Vorgängerregierungen gescheitert sind.
({2})
Wir setzen diese Reform fort, indem wir in diesem Haushalt vorsehen, ein unabhängiges Evaluierungsinstitut zu
gründen, das die Möglichkeit eröffnet, die Wirkung dessen, was wir tun, wissenschaftlich nachzuweisen.
({3})
Darüber hinaus ist ein Schwerpunkt nach wie vor
Subsahara-Afrika. Afrika ist und bleibt trotz aller
Herausforderungen ein Chancenkontinent. 47,4 Prozent
aller regionalen Mittel werden in Afrika südlich der
Sahara investiert, und auch dies das erste Mal in 50 Jahren auf der Basis eines Bildungskonzepts, das Bildungsarmut ganzheitlich bekämpfen und dadurch zur Bekämpfung von Armut insgesamt beitragen soll. Wir werden
von 2009 bis 2013 zu einer Verdoppelung der Mittel für
Zusagen im Bildungsbereich in Subsahara-Afrika kommen.
({4})
2009 betrug das Startvolumen 68,5 Millionen Euro. Im
nächsten Jahr sind dafür schon 105 Millionen Euro vorgesehen. Für 2013 sind 137 Millionen Euro anvisiert.
Wir stärken weiter die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft. Dafür nehmen wir weitere 57 Millionen Euro in die Hand. Wir schaffen eine
„Servicestelle bürgerschaftliches und kommunales
Engagement“, um das große gesellschaftliche Engagement besser zu integrieren.
Wir fördern Ostafrika so, wie es sinnvoll und nötig
ist. Die Bundesregierung hat auf die Hungerkatastrophe
unmittelbar reagiert. 33,5 Millionen Euro an bilateraler
Unterstützung wurden zur Verfügung gestellt, zusätzlich
zu den multilateralen Beiträgen für die Hilfe von EU und
Weltbank. Diese werden in der innerdeutschen Diskussion gerade von den Multilateralisten, die uns immer sagen, wir sollten mehr machen, leider unter den Tisch fallen gelassen, obwohl sie eine Leistung der deutschen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und unserer Volkswirtschaft sind. Deshalb gehören sie zwingend dazu.
({5})
Nach meinem Besuch im Flüchtlingslager Dadaab
stellen wir kurz-, mittel- und langfristig bis zu 118 Millionen Euro zur Verfügung, insbesondere für die Entwicklung ländlicher Räume, um besser auf die nächste
Hungersnot, die nächste Dürrekatastrophe, die bestimmt
kommen wird, vorbereitet zu sein. Es war Bärbel
Dieckmann, die Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe, übrigens eine ehemalige SPD-Politikerin, die gesagt
hat: Die ländliche Entwicklung ist in den vergangenen
Jahren schmählich vernachlässigt worden. - Deswegen
arbeiten wir daran, die Menschen zu ertüchtigen, mit solchen Dürren besser umgehen zu können. Aber das reicht
nicht aus. Wir brauchen politische Lösungen. Aus diesem Grund unterstützen wir in Somalia die Afrikanische
Union und die IGAD, die Intergouvernementale Behörde
für Entwicklung, damit hier politische Gespräche geführt werden können.
Nothilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit in der
politischen Diskussion gegeneinander auszuspielen, ist
politische Agitation. Beides hat seinen Platz:
({6})
Nothilfe da, wo Menschen in Not sind und dringend unserer Hilfe bedürfen, wirtschaftliche Zusammenarbeit
für nachhaltige, dauerhafte Entwicklung, damit Menschen aus eigener Kraft aus dem Hilfebezug herauskommen.
Ich konnte in der letzten Woche den weltweit größten
Nationalpark eröffnen: KAZA, Kavango-Zambezi
Transfrontier Conservation Area, ein Gebiet so groß wie
Italien, in dem die Kooperation mit der Wirtschaft und
den örtlichen Kommunen im Sinne einer nachhaltigen
Entwicklung für die Zukunft zwingend notwendig ist,
um die Biodiversität in dieser Region zu schützen.
Lassen Sie mich mit Blick auf meine Redezeit einen
letzten Punkt ansprechen. Wir schaffen mit diesem
Haushalt das, was alle Fraktionen in diesem Haus immer
gewollt haben: Wir schaffen die Grundlage für die politische Steuerung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Dieser Haushalt versetzt die
Regierung, welche auch immer gerade im Amt ist, endlich wieder in die Lage, das, was politisch gewollt wird,
tatsächlich auch umzusetzen.
({7})
Ich möchte mit einem Zitat aus der Süddeutschen
Zeitung vom 17. August schließen, die bekanntermaßen
kein Zentralorgan der Freien Demokratischen Partei ist.
Dort steht geschrieben - das wird vor allem Herr Raabe
lieben -:
Als Chef im Ministerium des guten Willens spricht
Dirk Niebel unangenehme Wahrheiten aus. Damit
wird nach zwei Jahren im Amt deutlich: Niebel
wird niemals der König der Wohlmeinenden werden. Er hört auf mit der Botschaft, dass die schiere
Masse an Geld allein über die Wirkung entscheidet.
Ganz nebenbei entwickelt sich auf diese Weise ausgerechnet dieser FDP-Minister … zu einem Pluspunkt in der Bundesregierung.
({8})
Das hätte ich selbst nie gesagt, ich selbst hätte es auch
nie so schön sagen können. Aber ich hoffe, dass dieser
Haushalt mit Ihrer Hilfe ein Pluspunkt für Deutschland
und unsere Partner in der Welt wird.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Dr. Bärbel Kofler. Bitte
schön, Frau Kollegin Dr. Kofler.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Allein mit Ihrem Schlusswort, Herr Minister, haben Sie
- unbescheiden wie Sie sind - dem Ganzen die Krone
aufgesetzt.
({0})
Wenn es Ihr Markenzeichen wäre, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, dann hätten Sie diese Rede nicht
mit dem Hinweis auf den Rekordhaushalt beginnen dürfen.
({1})
364 Kollegen aller Fraktionen haben sich redlich bemüht, in den letzten Monaten Mittel und Sympathien für
die Bekämpfung der Armut und der größten Katastrophen einzuwerben, die den Planeten und sein Klima bedrohen. Aufgrund dieses Schwungs aus dem Bundestag
und dieser Unterstützung des gesamten Plenums hatte
ich erwartet, dass Sie hier mehr zur Finanzierung des
Einzelplans 23 sagen. Sie haben die Chance nicht genutzt, diese große parlamentarische Unterstützung in
Mittel für die Armutsbekämpfung umzumünzen.
({2})
Ich kann Sie nur dringend auffordern, bis zur zweiten
und dritten Lesung nachzubessern. Der Haushalt 2012
stellt die letzte Chance für die Erreichung der ODAQuote bis 2015 dar. Das wissen Sie genauso gut wie wir.
({3})
Es ist dringend nötig, mit den Zahlenspielereien aufzuhören. Sie sollten nicht - von einer von Ihnen geplanten Absenkung in der Finanzplanung ausgehend - einen
Riesenaufwuchs in diesem Jahr darstellen, sondern müssen über die Mittel reden, die wirklich für die Armutsbekämpfung sowie für die Bekämpfung der Folgen des
Klimawandels und der Katastrophen dieser Erde zur
Verfügung stehen.
({4})
Manchmal ist es hilfreich, den Haushalt und das Strategiepapier aus Ihrem Hause miteinander zu vergleichen.
Ich glaube nicht, dass es förderlich ist, wenn Sie selbst in
Ihrem Strategiepapier die Mittel zur Armutsbekämpfung
als heilige Kuh bezeichnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie am Kabinettstisch Erfolg haben werden,
wenn Sie dann Mittel für diese heilige Kuh haben möchten. Das war ein Schuss nach hinten, glaube ich.
({5})
Wir alle, die den Aufruf unterzeichnet haben, wissen,
dass diese Mittel nicht Mittel zum Selbstzweck sind.
Diese Mittel sind erforderlich für den Bereich der Notund Übergangshilfe bei Katastrophen, den Sie selbst
geschildert haben, aber selbstverständlich auch dann
notwendig, wenn es darum geht, Strukturen in Partnerländern aufzubauen, die vernünftiges, entwicklungspolitisch orientiertes Handeln überhaupt erst ermöglichen.
Sie haben bei anderen Gelegenheiten doch sogar selbst
gesprochen, dass die Länder ihre Ressourcen nutzen
müssen und man ihnen zum Beispiel helfen muss, Steuereinnahmen zu generieren, damit diese Länder selbst einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten können. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Hierfür muss etwas
getan werden. Leider steht in Ihrem Strategiepapier dazu
herzlich wenig. Aber unter drei Punkten wird das Hohelied der privaten Investitionen gesungen. Wenn ich das
in Zusammenhang mit der von Ihnen angesprochenen
Werteorientierung bzw. dem Wertekodex setze, dann
habe ich Zweifel, ob wirklich Armutsorientierung und
Armutsbekämpfung im Mittelpunkt des Ganzen stehen.
Sehen wir uns einmal die einzelnen Punkte an. Worum geht es denn? Sie haben Bildung angesprochen.
Schauen wir uns den Haushalt genau an. Der Haushalt
wächst um 114 Millionen Euro auf. Sie selbst haben auf
der Homepage des BMZ von einem dreistelligen Betrag
gesprochen, mit dem die Bildung im kommenden Jahr
unterstützt werden soll. Das ist richtig und wichtig. Bildung, insbesondere Grundbildung, ist ein Menschenrecht - da sind wir uns alle in diesem Haus wohl einig und die Voraussetzung für wirkliche Entwicklung. Wenn
Sie aber versprechen, den gesamten Aufwuchs für den
Bildungsbereich zu verwenden, und gleichzeitig ankündigen, dass es in anderen Bereichen keine Kürzungen
geben und 200 Millionen Euro der bilateralen Entwicklungsarbeit entzogen werden sollen, falls Sie sich doch
entscheiden - das wäre übrigens dringend nötig -, dem
Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose
und Malaria endlich die zugesagten Mittel zur Verfügung zu stellen, dann erklären Sie mir einmal, wie Sie
das Kunststück vollbringen wollen, die Mittel, die Sie
uns gerade für den Bildungsbereich versprochen haben,
zur Verfügung zu stellen.
({6})
Gleiches gilt für die Klimapolitik. Ich nenne einen
entscheidenden Punkt aus Ihrem Strategiepapier zur Bekämpfung von Armut als Beispiel. Es geht darum, was
in den Entwicklungsländern alles nötig wäre, um die
schon eingetretenen Folgen des Klimawandels für die
Menschen irgendwie erträglich zu gestalten und entsprechende Anpassungsstrategien zu entwickeln. Was tun
Sie? Wenn man Sie fragt, dann verweisen Sie auf etwas,
das ich als eierlegende Wollmilchsau bezeichne, nämlich
auf den tollen neuen Energie- und Klimafonds der Regierung. In diesem Jahr sind 42,5 Millionen Euro vorgesehen, die sich das BMU und das BMZ teilen sollen. Wir
alle erinnern uns, dass die Kanzlerin 2009 in Kopenhagen über 1 Milliarde Euro zugesagt hat. Es gibt aber
keine neuen Mittel, obwohl diese dringend nötig wären.
Das gesamte Geld wird mit den Mitteln für Armutsbekämpfung, mit dem Gesundheitsetat, den Gesundheitsfonds, die Bildungspolitik oder die ländliche Entwicklung verrechnet. Berechnungen von Oxfam zufolge sind
88 Prozent der Zusagen im Klimabereich umetikettierte
Mittel, zum Teil weit früher zugesagte Mittel zum Beispiel für Waldschutz und Biodiversität. In diesem Haushalt ist nichts wirklich Substanzielles vorhanden.
({7})
Das Thema Gesundheit habe ich schon angesprochen.
Ich finde es sehr traurig, dass mit fadenscheinigen Argumenten Mittel, die nötig sind, um den Ärmsten der Armen Zugang zu Medikamenten in der Aids-Bekämpfung, zu Moskitonetzen zur Malariavorbeugung und zu
Tuberkulosemedikamenten zu verschaffen, verweigert
werden. Wenn sich Deutschland aus den internationalen
Programmen zurückzieht, dann wird dadurch sicherlich
nicht die Stellung Deutschlands im Kontext internationaler Geberkonferenzen und Vereinbarungen gestärkt.
Deutschland verliert so die Möglichkeit, Einfluss auf die
Gestaltung von Programmen zu nehmen. Wenn es aber
so läuft, wie Sie angedeutet haben, dann möchte man
fast sagen: Das ist gut so.
Was den Globalen Fonds angeht, fordere ich Sie noch
einmal auf: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht,
und setzen Sie die Mittel für die Ärmsten der Armen ein!
({8})
Wenn man alle Ihre Strategiepapiere mit dem Haushalt vergleicht, dann stellt man fest: Interessanterweise
kommen Frauen nicht mehr vor. Aber insbesondere im
Bildungsbereich wurde gerade von der Zivilgesellschaft,
mit der Sie angeblich in einem guten Dialog stehen, ganz
massiv angemahnt, zu berücksichtigen, dass Frauen eine
entscheidende Rolle spielen, was Entwicklung angeht.
Nichts davon findet sich in Ihren Strategiepapieren wieder. Es gibt nur einen kurzen Satz im Zusammenhang
mit der Mikrofinanzierung, der sich auf die Rolle der
Frauen in der Welt bezieht. Ich finde, das ist deutlich zu
wenig.
({9})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Wenn ich Ihr Papier - es beschreibt Ihre politische Ausrichtung und den Weg, den Sie einschlagen
wollen - mit den Haushaltsmitteln vergleiche und bedenke, wie Sie versuchen, alles auf seine Wirksamkeit
zu überprüfen, dann muss ich sagen: Sie haben mit diesem Haushalt die Möglichkeiten, die Ihnen das Parlament geboten hat, nicht genutzt. Ich finde es wahnsinnig
schade, dass Sie die Initiative von 364 Parlamentariern
nicht aufgegriffen haben und versuchen, sich mit fadenscheinigen Argumenten aus der Verantwortung zu ziehen.
Sie müssen für die zweite und dritte Beratung deutlich mehr vorlegen. Vor allem erwarte ich, dass Sie uns
endlich erklären, wie Sie bis zum Haushalt 2015 - auch
wenn Sie gar nicht mehr so lange regieren werden - die
ODA-Quote erfüllen wollen.
Danke.
({0})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin in unserer Debatte
ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Sibylle Pfeiffer. Bitte schön, Frau Kollegin Sibylle
Pfeiffer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
mache Entwicklungspolitik für meine Enkeltochter. Sie
ist acht Jahre alt und wird mit den Folgen aller politischen Entscheidungen, die wir treffen, leben müssen.
Seien es die Beschlüsse zum Schuldenabbau, zum Klimaschutz oder zur Verbesserung des Standorts Deutschlands, wir alle müssen unsere Hausaufgaben jetzt machen, damit meine Enkeltochter und die kommenden
Generationen in Frieden, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand leben können. Dafür brauchen wir zum Beispiel
stabile demokratische Partner in der Welt, die mit uns
Handel treiben und friedlich mit uns zusammenleben.
Nichts anderes heißt es, die Herausforderungen der Globalisierung anzunehmen.
Globalisierung und Entwicklungspolitik sind zwei
Seiten einer Medaille. Unsere militärischen Einsätze liegen immer öfter in Entwicklungsländern. Da brennt es.
Da riskieren unsere Soldaten ihr Leben. Das kostet unser
Geld, weil dort die Dinge nicht in Ordnung sind. Entwicklungszusammenarbeit entscheidet darüber, wie
viele Afrikaner, Araber oder Sonstige
({0})
nach Europa einwandern wollen, wenn sie in ihrer Heimat kein Auskommen haben und ihre Familien nicht ernähren können.
({1})
- Wenn das das Einzige ist, worüber wir hier diskutieren! - Öl und andere Rohstoffe wie zum Beispiel Seltene
Erden kommen fast alle aus Entwicklungsländern und
Schwellenländern. Deutschland muss all dies importieren, und deshalb brauchen wir eine solide Entwicklung
in diesen Ländern und vor allen Dingen ein gutes Verhältnis zu ihnen. Dies ist Politik in beiderseitigem Interesse.
Wir brauchen in den Partnerländern leistungsfähige
Regierungen, die in der Lage sind, die Probleme des
Landes - ihres Landes - zu lösen. Im Ergebnis sind es
nur Schlaglichter, die zeigen, dass Entwicklungspolitik
nicht nur eine Idee von Spezialisten und Gutmenschen
ist, sondern als Instrument politischer Gestaltungsfähigkeit Deutschlands in unserem ureigenen Interesse liegt.
Das beherzigt die jetzige Bundesregierung, und sie setzt
das in dem vorgelegten Haushalt um. Trotz der Schuldenkrise, der Nachwirkungen der Wirtschafts- und
Finanzkrise und der Probleme im Euro-Raum stellen wir
einen Rekordhaushalt - Herr Minister Niebel hat es
schon erwähnt - für das BMZ auf. Ich finde, darauf können wir stolz sein, und das dürfen wir auch laut sagen.
({2})
An dieser Stelle Ihnen, Herr Minister Niebel, vielen
Dank für den Einsatz, den Sie in diesem Zusammenhang
geleistet haben.
({3})
Der Haushaltstitel des BMZ ist der siebtgrößte Titel
insgesamt und der zweitgrößte Investitionshaushalt.
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt ein Blick
zurück. 1998 hatten wir einen BMZ-Haushalt von 4 Milliarden Euro, 2010 haben wir die 6-Milliarden-EuroSchwelle zum ersten Mal überschritten. Im Jahr 2012
soll der Etat auf 6,3 Milliarden Euro wachsen. Ich finde,
das ist eine tolle Leistung, vor allem im Lichte der
schwierigen Zeiten, in denen wir heute leben.
({4})
Doch allein über die Höhe des Haushalts zu reden,
greift einfach zu kurz. Wir müssen die Entwicklungspolitik natürlich sorgfältig finanzieren. Aber ich wiederhole es immer wieder in jeder Rede: Geld ist nicht alles.
({5})
Was wir brauchen, sind Qualität und die Überprüfung
der Wirkung. Trotzdem bekennen auch wir uns nach wie
vor zu dem Ziel von 0,7 Prozent, liebe Kollegin Kofler.
Aber das von jetzt auf gleich - da sage ich Ihnen sicherlich nichts Neues - in der derzeitigen Situation aus Steuermitteln zu leisten, ist völlig illusorisch.
({6})
- Genau so ist es, Kollege Kekeritz. Die Forderung ist
alt. - Alle vorherigen Regierungen hätten die Möglichkeit gehabt - da sitzt die ehemalige Ministerin -, kontinuierlich daran zu arbeiten. Der jetzigen Regierung diese
Aufgabe von jetzt auf gleich aufzugeben, halte ich für etwas üppig.
({7})
Wir müssen jetzt versuchen, das nachzuholen, was vorher versäumt worden ist. Dass wir das gemeinsam tun
sollten, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Darin
sind wir uns, liebe Kollegin Hänsel, sogar einig.
Wir müssen versuchen, diesen Rekordhaushalt praktisch umzusetzen. Die Umsetzung besteht unter anderem
darin, dass wir dem BMZ zum ersten Mal neue Stellen
zur Verfügung stellen, nämlich 180 Stellen im Jahr 2012
und weitere im Jahr 2013. Grundsätzlich bin ich nicht
dafür, Bürokratie aufzubauen. Ich bin eigentlich ein
Gegner von Bürokratie. Aber hier machen die neuen
Stellen Sinn. Erstens erhalten die bisherigen Berater reguläre Stellen. Wer mag da widersprechen? Wir sparen
zweitens durch die erfolgreiche Fusion von GTZ,
InWEnt und DED Bürokratiekosten ein. Wir müssen zudem die Entwicklungspolitik international besser abstimmen. Das erfordert den Politikdialog mit den Menschen vor Ort, mit unseren Partnerregierungen. Das
heißt, wir brauchen drittens Fachleute der Entwicklungszusammenarbeit als Ansprechpartner in unseren Botschaften. Das ist nicht das Einzige, was wir machen.
Wir schaffen mit einem unabhängigen Evaluierungsinstitut ein wichtiges Instrument der Entwicklungszusammenarbeit. Dafür stellen wir im Haushalt sichtbar Mittel
zur Verfügung. Das Ganze ist kein Selbstzweck. Wir alle
wissen, dass die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit in der Vergangenheit viel zu wenig beleuchtet
wurde; man hätte im Nachhinein mehr tun müssen, um
ihre Wirkung festzustellen. Ich glaube, es ist wichtig, dass
wir das Evaluierungsinstitut haben. Denn auch wir müssen über die Steuergelder und deren Verwendung vor Ort
Rechenschaft ablegen. Auch im Hinblick auf die Europäische Union haben wir Nachbesserungsbedarf, was den
Umgang mit deutschen Steuergeldern angeht. Immerhin
wird ein Fünftel der Mittel der Europäischen Union von
unseren Steuerzahlern erbracht. Zurzeit laufen Konsultationsverfahren; das ist gut. Aber auch hier müssen wir auf
eine bessere Qualität achten. Ich erkenne dort noch ein
deutliches Verbesserungspotenzial.
Ich komme zum Bereich der OECD. Es ist gut, dass
wir uns dieses Jahr in Busan treffen, um einmal mehr
über die Weiterentwicklung der Paris-Deklaration und
der Accra-Agenda zu sprechen. Die Millenniumsziele
sind nach wie vor erreichbar, zumindest teilweise.
Lassen Sie mich an dieser Stelle nach der ersten
Hälfte dieser Legislaturperiode eine Zwischenbilanz ziehen: mehr Geld für die Entwicklungspolitik, gezielte
Qualitätsoffensive; Ergebnisse und Wirkungen interessieren uns. Mit diesem Paradigmenwechsel erreichen
wir mehr als mit ein paar Euro mehr im Haushalt. Auch
das möchte ich einmal anmerken.
Durch einen wesentlich unverkrampfteren Umgang
mit der Wirtschaft - es geht darum, die Wirtschaft in die
Entwicklung der Länder einzubinden - werden wir viel
Positives erreichen. Ich glaube, selbst mit Ihnen, Frau
Kollegin Kofler, bin ich einig: Ohne wirtschaftliche Entwicklung vor Ort, ohne Kooperation werden wir keine
Stabilität und Sicherheit in den Entwicklungsländern erreichen.
({8})
Dazu gehört selbstverständlich - ich hoffe, Sie wollen
mir weiterhin zuhören, Frau Kofler - gute Regierungsführung. Sie sollte das oberste Ziel sein. Für unsere Koalition ist sie in den Diskussionen mit unseren Partnern
der wichtigste Punkt.
({9})
Wir wollen nämlich, dass Entwicklungspolitik nachhaltig ist. Das bedeutet vor allen Dingen Klimaschutz, Ressourcenschutz und Biodiversität.
Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, dass wir immer wieder an die nachfolgenden Generationen zu denken haben; ich habe erneut meine Enkelin im Sinn. In
Kürze werden wir den siebenmilliardsten Erdenbürger
begrüßen können. 2050 werden auf der Erde unter Umständen - wenn die Geburtenrate nicht drastisch gesenkt
werden kann - zwischen 12,5 und 13,5 Milliarden Menschen leben. Das bedeutet, wir haben Probleme mit der
Ernährung, mit dem Klima, mit der Entwicklung der
Länder an sich. Liebe Kollegin Kofler, in diesem Zusammenhang kommt es hauptsächlich auf die Frauen an.
Ohne die Frauen ist eine Senkung der Geburtenrate nicht
zu erreichen. Sexuelle und reproduktive Gesundheit ist
eines der wichtigsten Themen der Zukunft.
({10})
Wenn es uns nicht gelingt, die Geburtenrate zu senken,
haben wir, die internationale Gemeinschaft, versagt: Die
Folgeprobleme sind nicht lösbar. Dabei geht es auch um
die Bildung, vor allen Dingen um die von Mädchen;
denn die Mädchen müssen lernen, dass sie Nein sagen
dürfen, dass man nicht der Tradition folgen muss, sieben, acht oder mehr Kinder zu haben, und dass sie mit
einer guten Bildung zum Familieneinkommen beitragen
können. All das müssen und werden wir in Zukunft anpacken.
Der vorgelegte Haushaltsentwurf ist vor diesem Hintergrund sehr gut gelungen. Man kann sicherlich an der
einen oder anderen Stelle noch nachbessern. Das machen
wir auch ganz gern: Wir justieren an denjenigen Punkten
nach, die ich gerade aufgezählt habe. Wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass der BMZ-Haushalt solide finanziert ist. Wir dürfen trotz Schuldenbremse darauf hoffen
- wir werden daran arbeiten -, dass bei der mittelfristigen Finanzplanung noch ordentlich nachgebessert wird.
Da bin ich sehr auf Ihrer Seite.
({11})
Nachbessern, das können wir; das haben wir bewiesen.
Allen Unkenrufen zum Trotz ist es uns im Haushaltsentwurf 2012 gelungen. Ich glaube, wir werden gemeinsam
Energie darauf verwenden, in diesem Sinne weiterzumachen.
Herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin für
die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Heike Hänsel.
Bitte schön, Frau Kollegin Hänsel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wer die Debatte heute im Bundestag verfolgt hat, musste feststellen, dass die große Hungerkatastrophe in Ostafrika weitgehend keine Rolle gespielt hat.
({0})
Sie ist nicht präsent in den Diskussionen. Auch im Haushalt, Herr Niebel, schlägt sich die Erfahrung mit der
Hungerkatastrophe eigentlich überhaupt nicht nieder. Sie
haben erst auf öffentlichen Druck sukzessive die Hilfen
erhöht. Es fing ganz bescheiden mit 1 Million Euro an.
Sie haben im Haushalt keine neuen Weichen gestellt, um
auf diese Katastrophe adäquat reagieren zu können. Ich
finde, das Minimum wäre zum Beispiel eine Aufstockung der Mittel für die Not- und Übergangshilfe.
({1})
Wir fordern einen Sondertitel für Ostafrika, weil es über
Jahre hinweg einer Aufbauarbeit und nicht kurzfristiger
Hilfen bedarf.
Zum Gesamtetat des Haushalts. In der Auseinandersetzung um die Erreichung der ODA-Quote möchte ich
eigentlich nicht zu einer Klein-Klein-Diskussion über
Zahlen kommen, weil wir, 364 Abgeordnete - die Kollegin Kofler hat es erwähnt -, über alle Fraktionsgrenzen
hinweg gemeinsam eine Initiative entwickelt haben, die
eine Aufstockung des Entwicklungsetats zum Ziel hat.
Ich sehe das in allererster Linie als eine ganz große
Chance und als eine einmalige Initiative an. Ich appelliere an Sie, diese Chance zu nutzen. Wir möchten Ihnen
im Kabinett den Rücken stärken. Sie sollten die Versprechen, die Sie machen, ernst nehmen. Mein Appell an Sie
lautet: Lassen Sie diese große Chance nicht ungenutzt!
({2})
Ich möchte jetzt zur politischen Auseinandersetzung
- das ist für mich das Entscheidende - über Ihren Entwicklungsansatz kommen. Sie haben vor kurzem zwei
Papiere entwickelt. Zu beiden möchte ich jetzt etwas sagen.
({3})
Als Erstes zum Menschenrechtspapier. Sie haben vorhin
den Menschenrechts-TÜV angesprochen. Dazu möchte
ich einmal flapsig sagen, Herr Niebel: Ihr TÜV als Entwicklungsminister ist schon lange abgelaufen.
({4})
Aber im Ernst, Sie haben in dem Papier folgenden Satz
geschrieben - ich zitiere -: „Menschenrechte sind Leitprinzip deutscher Entwicklungspolitik.“ Fast zeitgleich
hatte uns die Meldung erreicht, dass die Bundesregierung die Lieferung von 200 Panzern nach Saudi-Arabien
genehmigt hat. Sie haben zu dieser Panzerlieferung nach
Saudi-Arabien, ein Land, das auf Demonstranten schießen lässt und in Bahrain einmarschiert ist, der Zeit gesagt - ich zitiere -:
Die Stabilisierung einer Region trägt durchaus dazu
bei, die Menschenrechte zu wahren - vielleicht
nicht in dem Land, in dem man tätig ist, aber in den
Nachbarländern. Auch in Zeiten des Kalten Krieges
hat die militärische Abschreckung dazu beigetragen, dass der Krieg nicht stattfand.
Mit solchen Aussagen, Herr Niebel - es wäre ganz
gut, wenn Sie zuhörten -, können Sie Ihr ganzes Menschenrechtspapier in den Mülleimer werfen.
({5})
Waffenexporte sind immer tödlich, weil die Waffen früher oder später eingesetzt werden. Die Zeit der sogenannten Abschreckung im Kalten Krieg hat indirekt sehr
vielen Menschen das Leben gekostet, weil eine wahnsinnige Rüstungsspirale in Gang gesetzt und Geld für Waffen und nicht für die Armutsbekämpfung ausgegeben
wurde.
Sie sehen, dass die Kollegin Schuster von der Fraktion der FDP eine Zwischenfrage stellen will.
Aber die möchte ich jetzt nicht beantworten.
Die möchten Sie nicht beantworten. - Frau Kollegin
Schuster, Sie haben es gehört.
Die Kollegin kann am Ende meiner Rede eine Kurzintervention machen. Ich finde, die FDP sollte jetzt meinen Ausführungen zu Waffenexporten folgen.
Wir setzen uns für einen Stopp aller Rüstungsexporte
ein. In unseren Augen sind diejenigen, die Waffen liefern, und diejenigen, die das genehmigen, auch verantwortlich für Leid und Tod und müssten gegebenenfalls
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
({0})
In diesem Zusammenhang möchte ich die neue Kooperationsvereinbarung der GIZ mit der Bundeswehr
kritisieren, Herr Niebel, weil Sie dadurch die zivil-militärische Zusammenarbeit weiter ausbauen. Wir erleben
in Afghanistan, wie lebensgefährlich das ist. Wir sagen
ganz klar: Heben Sie diese Zusammenarbeit mit der
Bundeswehr auf! Für uns muss die Entwicklungszusammenarbeit zivil ausgerichtet sein. Sie darf nicht zur Absicherung von Militärinterventionen verkommen.
({1})
Jetzt möchte ich noch etwas zu Ihrem neuen entwicklungspolitischen Konzept sagen. Man liest darin viel von
deutschen Wirtschaftsinteressen, aber wenig von Armutsbekämpfung. Sie setzen darin auf noch mehr Markt,
auf noch mehr Freihandel, auf noch mehr Liberalisierung für deutsche Unternehmen und auf eine unternehmerische Entwicklungspolitik. Aber genau in diesem
Moment, wo wir die größte ökonomische Krise weltweit
erleben, wo die Marktwirtschaft abgewirtschaftet hat,
Herr Niebel,
({2})
wo sich der Kapitalismus in seiner schwersten Krise befindet, wollen Sie mit diesen Rezepten zu mehr Entwicklung im Süden beitragen?
({3})
Das ist ja absolut ein Witz. Sie lernen nichts aus den großen Krisen und erkennen gar nicht, dass wir andere Entwicklungsmodelle für die Länder des Südens brauchen.
({4})
Sie wollen mit noch mehr Spekulation, noch mehr Landverkäufen an Unternehmen, noch mehr Überschwemmung mit Produkten aus der EU weitermachen. Doch all
das sind ganz gravierende Ursachen für die Armut in
vielen Ländern des Südens.
({5})
Deshalb ist Ihr Weiter-so ein Beitrag zur Verschärfung
der Krise und nicht ein Beitrag zur Armutsbekämpfung.
({6})
Den ganzen Tag über in den Debatten mussten wir
feststellen, dass Sie nichts aus den Krisen lernen. Sie haben überhaupt keine Ahnung. Sie werden durch dieses
Entwicklungsmodell Europa in den Abgrund führen. Wir
erleben ja jetzt bei dieser Bundesregierung, dass sie gar
nichts aus der Krise gelernt hat.
({7})
Sie, Herr Niebel, sind marktgläubig. Deswegen hat
Ihre Politik keine Zukunft. Schauen Sie sich doch einmal
an, wie viele Menschen in Europa erkennen, dass es so
politisch nicht weitergehen kann!
({8})
Zu Hunderttausenden versammeln sie sich auf den Plätzen in Madrid, in Athen und anderswo. Sie sagen, dass
es so nicht mehr weitergehen kann, und fordern, die
Bankenmacht zu brechen, sich aus der Macht der
Finanzmärkte zu befreien und endlich eine andere Politik zu entwickeln.
Genau deswegen ist Ihr Entwicklungskonzept das falsche Rezept für die Länder des Südens. Wir müssen sie
mit solidarischen, gerechten Handelsstrukturen unterstützen, damit sie zu einer selbstbestimmten Entwicklung kommen können.
({9})
Davon sind wir im Moment sehr weit weg.
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen, weil Ihre
Redezeit schon lange abgelaufen ist.
({0})
Herzlichen Dank. - Ich sage Ihnen: Die Linke wird
diese Politik der Bundesregierung und dieses Weiter-so
in den Abgrund nicht hinnehmen. Wir haben andere Entwicklungsvorstellungen als Sie. Dafür werden wir auch
kämpfen, damit wir es nicht mehr erleben, dass täglich
1 Milliarde Menschen auf dieser Welt hungern.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Bevor ich den nächsten
Redner aufrufe, eine Kurzintervention von Frau Kollegin Marina Schuster aus der Fraktion der FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Nachdem Sie, Frau
Hänsel, meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben,
wähle ich dieses parlamentarische Instrument. Sie haben
uns etwas Ungeheuerliches unterstellt, nämlich dass wir
Menschenrechte nicht ernst nähmen und unser Menschenrechts-TÜV abgelaufen sei. Ihre Parteivorsitzenden schreiben einen Brief an Fidel Castro, in dem das
Wort „Menschenrechte“ kein einziges Mal erwähnt wird.
({0})
Das ist eine Verhöhnung der Opfer, die diese Diktatur
aushalten mussten.
({1})
Gleichzeitig werfen Sie uns hier vor, wir würden Menschenrechte nicht ernst nehmen. Dabei liegt jetzt zum
ersten Mal ein verbindliches Menschenrechtskonzept
vor.
Es waren unser Minister und unsere Staatssekretäre,
die die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit
Uganda eingefroren haben, als dort die Einführung der
Todesstrafe für Homosexualität drohte. Es waren unser
Minister und unsere Staatssekretäre, die in gleicher
Weise gegenüber Malawi reagiert haben, als dort die
Presse- und Meinungsfreiheit zurückgefahren worden
ist. Wir haben konditioniert. Wir haben die Menschenrechte nach vorne gestellt. Insofern würde ich Sie bitten,
Ihre Aussage zurückzunehmen.
({2})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Danke schön. - Liebe Kollegin Schuster, ich nehme
überhaupt nichts zurück.
({0})
Wenn Herr Niebel sagt, die Panzerlieferungen an SaudiArabien seien mit seinem Menschenrechtspapier vereinbar,
({1})
dann - das sage ich noch einmal - ist sein Menschenrechts-TÜV abgelaufen. Ich halte es für einen Skandal,
dass er als Entwicklungsminister Waffenexporte in dieses Land rechtfertigt und dass Sie es wagen,
({2})
eine Geburtstagskarte an Fidel Castro und die Lieferung
von 200 Panzern zu vergleichen und hier auf einer Ebene
zu nennen. Das ist schon mehr als politische Dummheit.
Das ist große Dreistigkeit. Ich kann Ihnen nur sagen:
Halten Sie sich mit Ihrer dummen und wirklich dreisten
Kritik zurück! Denn Sie betreiben weltweit Waffenlieferungen in höchstem Maße und unterstützen Angriffskriege. Wenn Sie sich vor diesem Hintergrund über eine
Geburtstagskarte aufregen, fehlt mir wirklich jede Relation. Sie könnten sich von vielen Politikern in den Ländern des Südens eine Scheibe abschneiden.
({3})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich zum Haushalt rede, ein Satz zu dem Menschenrechtsdiskurs in diesem Hause. Wir brauchen, gerade durch die Entwicklungspolitik unterstützt, eine
Menschenrechtspolitik, die Menschenrechtsverletzungen kritisiert, egal wo sie geschehen und von wem sie zu
verantworten sind, ob in Kuba, in Bahrain, in Saudi-Arabien oder begangen durch Monsanto.
({0})
Ich möchte auf das Bild zurückkommen, mit dem Sie
begonnen haben, Frau Kollegin Hänsel. Heute war im
Rahmen der Generaldebatte und auch in den Medien viel
von der Euro-Krise die Rede. Europa ist stark mit sich
selbst beschäftigt. Es wird von Rettungspaketen und
Rettungsschirmen geredet. Dabei wird leicht übersehen,
dass ein großes Rettungspaket ganz anderer Art noch immer nicht vollständig geschnürt worden ist, und zwar ein
Rettungspaket für 12,4 Millionen hungernde Menschen,
die von der dramatischen Katastrophe am Horn von
Afrika betroffen sind. Die Bilder sind aus den Medien
fast verschwunden. So entsteht der Eindruck: Alles nicht
mehr so schlimm; man hat die Lage wohl irgendwie im
Griff.
Aber weit gefehlt: Noch immer strömen Tag für Tag
1 200 Neuankömmlinge ins Flüchtlingslager Dadaab.
Das Maßnahmenbündel der Vereinten Nationen ist nach
Aussage von UN-OCHA noch immer unterfinanziert.
Noch immer fehlen 700 Millionen Euro für die Flüchtlinge.
Einige Flüchtlinge sind nicht erreichbar. Es ist ein
Skandal, dass menschenverachtende Schabab-Milizen in
einigen Regionen Somalias die notwendige humanitäre
Hilfe verhindern.
({1})
Das müsste auch den Weltsicherheitsrat beschäftigen.
Aber viele der Flüchtlinge sind erreichbar, und selbst
diese Flüchtlinge werden immer noch nicht ausreichend
mit Nahrungsmitteln, Zelten, Medikamenten und Decken versorgt, weil immer noch schlicht das Geld fehlt.
Das Geld fehlt - das ist jetzt die Verbindung zur EuroKrise -, weil viele Länder, die bei Hilfsaufrufen der Vereinten Nationen sonst immer aktiv geworden sind und
ihren Anteil gezahlt haben, diesmal sehr mit sich selbst
beschäftigt sind, sich selber in einer Krise sehen und als
Geber zum ersten Mal fast vollständig ausfallen, zum
Beispiel Italien. Selbst die Bundesregierung hat ziemlich
lange gebraucht, bis sie endlich bereit war, den Beitrag
zu leisten, der ihrer Größe, ihrer Wirtschaftskraft und der
Herausforderung entspricht;
({2})
aber besser spät als gar nicht. Wir erkennen an, dass
Deutschland jetzt, wenn auch verspätet, einen angemessenen Anteil zahlt.
({3})
Der Regierungsentwurf zum Haushalt 2012 ist, zumindest bezogen auf den Entwicklungsbereich, eine
herbe Enttäuschung. Gegenüber dem letzten Haushalt
gibt es einen kleinen Aufwuchs in Höhe von 113,6 Millionen Euro. Im Vergleich zum Eckwertepapier vom
März dieses Jahres ist null Komma nichts dazugekommen. Wenn es dabei bleiben sollte, dann können wir die
Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels bis 2015 vergessen.
({4})
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Noch immer hoffe
ich, dass der Aufruf - er wurde schon erwähnt -, den inzwischen 364 Kolleginnen und Kollegen, fast 60 Prozent
der Parlamentarier unterschrieben haben, im Haushaltsverfahren wirken wird. Denn ich fände es ein mutiges
und konsequentes Zeichen, wenn zumindest wir Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker jetzt
zusammenstünden und nicht zurückfielen in die alten
Rituale: Die einen meckern, und die anderen reden
schön. - Vielmehr sollten wir jetzt die Konsequenzen
ziehen. Es wäre ein starkes Zeichen, wenn wir den Betrag, den wir in diesem Aufruf gemeinsam gefordert haben - die ODA-Mittel sollen 2012 ressortübergreifend
um insgesamt 1,2 Milliarden Euro aufwachsen -, zumindest in unseren Anträgen im Entwicklungshilfeausschuss
gemeinsam vertreten würden.
({5})
Nur so können wir die letzte Ausfahrt von der Autobahn nutzen. Der DAC, der Entwicklungshilfeausschuss
der OECD-Staaten, hat festgestellt, dass der Haushalt
2012 der Schicksalshaushalt ist. Wenn es jetzt nicht gelingt, in die richtige Richtung zu fahren, dann wird das
0,7-Prozent-Ziel bis 2015 nicht mehr erreicht.
Es wäre doch sehr schade, wenn wir nun meinen würden, dass es angesichts von Schuldenbremse, EuroKrise, Rettungspaketen und Rettungsschirmen nicht
mehr opportun und nicht mehr vermittelbar sei, die Zusagen für die Ärmsten der Armen einzuhalten. Ich wünsche mir von uns allen viel Zivilcourage. Lassen Sie uns
gemeinsam ein Zeichen setzen, dass wir Solidarität, Gerechtigkeit und - jetzt verwende ich einen altmodischen
Begriff - Barmherzigkeit weder von der Konjunktur
noch von der Kassenlage abhängig machen!
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man hat mir eben mitgeteilt, dass aus dem Wahlkreis der
Kollegin Hänsel Gäste anwesend seien; die begrüßen wir
natürlich herzlich. Sie werden hoffentlich mitbekommen
haben, wie schwer wir es mit dieser Kollegin aus Ihrem
Wahlkreis haben. Vielleicht haben Sie das nächste Mal
eine andere Kandidatin parat.
({0})
Die Kollegin Hänsel hat hier behauptet, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit habe sich
zu Panzerlieferungen geäußert. Ich will nicht weiter
dazu Stellung nehmen. Aber ich fordere Sie, Frau Kolle14532
gin Hänsel, auf, mir die Dokumente zu geben, die zeigen, dass er diese Äußerung gemacht hat. Der Bundesminister sagt, er habe sich nie dazu geäußert.
({1})
- Sie liefern das. Dann ist es ja kein Problem.
Auch der nächste Punkt ist mir wichtig. In der Haushaltsdebatte kam immer wieder der Hinweis, die Bundesregierung oder der Bund würde die Lieferung von
Panzern nach Saudi-Arabien genehmigen. Ich habe eine
Äußerung dieser Art von der Bundesregierung bisher
nicht gehört. Eine solche kann sie auch gar nicht machen; sie wird weder Ja noch Nein sagen. Diejenigen, die
behaupten, wir würden Panzerlieferungen nach SaudiArabien genehmigen, bitte ich, uns die entsprechenden
Dokumente vorzulegen.
({2})
- Warten Sie doch einmal ab, Kollege Erler! Auch Sie
haben sich mehrfach dazu geäußert. Zeigen Sie uns die
Dokumente oder sagen Sie uns, worin Sie eine Bestätigung der Bundesregierung oder des Bundessicherheitsrates sehen. In dem Fall wären Sie klüger als ich, und ich
würde auf Sie zurückkommen. Ich sage Ihnen: Es wird
wahrscheinlich keine Lieferung geben. Nehmen Sie das
einfach zur Kenntnis. Es gibt keine Genehmigung. Das
ist meine Kenntnis. Aber die Bundesregierung wird auch
dazu nicht Stellung nehmen.
Sie sagen, es werde genehmigt. Ich sage: Es wird
nicht genehmigt. Die Bundesregierung - das wissen Sie
doch; Sie waren selber einmal Mitglied einer Bundesregierung - kann dazu nicht Stellung nehmen. Sie haben
es viel einfacher. Sie können etwas in die Luft behaupten, aber die Regierung kann nicht das Gegenteil vertreten, weil sie weder Ja noch Nein sagen darf. Ich sage Ihnen: Es wird nicht genehmigt. Nehmen Sie das einfach
zur Kenntnis!
({3})
Nun komme ich zum Etat. Da darf man schon einmal
erfreuliche Dinge herausstellen. Nach sehr vielen Jahren
- Dirk Niebel hat schon darauf hingewiesen, wann das
Ministerium gegründet wurde - kann ich feststellen,
dass es endlich eine ausgesprochen gute Zusammenarbeit zwischen dem Bundesminister des Auswärtigen
und dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt. Darauf haben wir lange gewartet. Das war
bei Rot-Grün mit Joschka Fischer nicht möglich. Selbst
als die SPD beide Ministerien hatte, war das anscheinend nicht der Fall. Endlich gibt es eine gute Zusammenarbeit.
({4})
Das wird dadurch dokumentiert, dass es abgestimmte
Konzepte zu Südamerika, zu Afrika gibt. Zu den
Menschenrechten ist schon etwas gesagt worden. Frau
Kollegin Wieczorek-Zeul, haben Sie während Ihrer elfjährigen Amtszeit auf einer Botschafterkonferenz des
Auswärtigen Amts sprechen und die tolle Politik der damaligen Bundesregierung verkaufen dürfen? Dirk
Niebel durfte es. Ich habe nur Positives über diese Konferenz im Auswärtigen Amt gehört. Dafür möchte ich
Dirk Niebel ganz herzlich danken.
({5})
Der nächste Punkt, der angesprochen wurde, war die
ODA-Quote. Auch dazu habe ich mir spontan etwas aufgeschrieben. Als diese Koalition ihre Arbeit aufnahm,
lag die Quote bei 0,36 Prozent.
({6})
Jetzt liegt sie bei 0,38 Prozent. Das ist zwar nicht herausragend. Es ist aber allemal besser als das, was wir übernommen haben - darüber darf man sich doch wohl einmal freuen -, und das bei der Haushaltssituation, die wir
hatten.
Ich kann nur sagen: In den elf Jahren, in denen die Sozialdemokraten in diesem Ministerium gesessen haben,
hätten sie all das machen können, was die verehrte Kollegin hier angekündigt hat, auch in Bezug auf die
0,7 Prozent. All diese Wohltaten hätten Sie von der SPD
in den elf Jahren tun können. Nun kommen Sie aber bitte
nicht und sagen, Sie wollten wieder in die Regierung
und gerade das Ministerium übernehmen. Diese Chance
haben Sie vertan.
({7})
Der Haushaltsentwurf des BMZ zeigt doch eindeutig,
dass es endlich einmal eine intensive Einbindung und
Stärkung aller an der Entwicklungshilfe Beteiligten gibt,
seien es die Stiftungen, die Kirchen oder die Nichtregierungsorganisationen. Ich sage auch: Ich bin stolz darauf,
dass Minister Niebel es geschafft hat, die drei Organisationen - GTZ, InWEnt und DED - mit immerhin
18 000 Mitarbeitern zusammenzuführen, wenn es auch
kein leichter Weg war. Das ist eine sehr erfreuliche Erfolgsbilanz, die der Minister vorgelegt hat.
Bei den entscheidenden Sitzungen - auch im Aufsichtsrat - haben die Arbeitnehmer zugestimmt, hat die
Gewerkschaft Verdi zugestimmt, haben die Anteilseigner zugestimmt - nur nicht die Vertreter der SPD und der
Grünen. Das bedaure ich sehr. Selbst die Arbeitnehmer
und die Gewerkschaften haben zugestimmt - nur Sie haben nicht zugestimmt.
({8})
Es wäre aber gut gewesen, auch für diese Gesellschaft.
Wir wollen mit diesem Haushalt eine Stärkung im Bereich Bildung, im Bereich der ländlichen Entwicklung
- ein ganz starker Beitrag; wir werden darauf achten,
dass wir hier noch zusätzliche Mittel bekommen -, im
Gesundheitswesen und natürlich bei der Beachtung der
Menschenrechte. Zum Gesundheitswesen sage ich noch
- und damit komme ich zum Schluss, weil meine Redezeit leider abgelaufen ist -: Herr Minister, ich finde es
vollkommen richtig, dass Sie die Mittel beim Global
Fund gestoppt haben. Es kann nicht sein, dass wir Korruption bezahlen.
({9})
Zunächst müssen die Vorfälle aufgedeckt werden, und
wenn wir dann Klarheit haben, können die Mittel freigegeben werden. Wir sagen nicht Nein zum Global Fund,
wir sagen Nein zu Korruption; denn mit Korruption helfen wir den Menschen nicht.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({10})
Der Kollege Dr. Sascha Raabe hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Koppelin, man erlebt doch
immer wieder Überraschungen im Parlament. Sie verkünden hier, dass der Bundessicherheitsrat angeblich
nicht die Lieferung von Panzern nach Saudi-Arabien genehmigen wird.
Aber das macht doch eigentlich die Haltung des Bundesentwicklungsministers noch schlimmer. Wenn selbst
diejenigen, die für das Militär im Bundessicherheitsrat
sitzen, sagen: „Nein, diese Panzerlieferungen nicht“ und
ausgerechnet der Bundesentwicklungsminister - er sitzt
nur darum im Bundessicherheitsrat, weil seine Vorgängerin, Frau Wieczorek-Zeul, durchgesetzt hat, dass endlich auch das Entwicklungsministerium vertreten ist,
damit vom Bundessicherheitsrat weniger Waffenlieferungen in Entwicklungsländer genehmigt werden - sich
für Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien ausspricht,
dann ist das ein wahrer Hohn.
({0})
- Es ist keine Spekulation, Frau Kollegin, dass Minister
Niebel sich in der Zeit für diese Panzerlieferungen ausgesprochen hat. Wenn der Minister schon Zeitungen zitiert, dann muss er auch die Interviews gegen sich gelten
lassen, die er gegeben hat, auch wenn sie ihm heute vielleicht peinlich sein sollten.
Ich glaube aber, diesem Minister ist eigentlich nichts
peinlich. Denn wenn ihm irgend etwas peinlich wäre,
dann würde er sich nicht hier hinstellen und von einem
Rekordhaushalt reden und Pressemitteilungen seines
Hauses herausgeben, nach denen in diesem Haushalt ein
Aufwuchs von 750 Millionen Euro steckt. Das ist doch
Trickserei; für so dumm kann man die Leute doch gar
nicht halten. Wenn man zunächst in einer Finanzplanung
sagt, dass man die Mittel ewig nach unten kürzt, anschließend ein wenig drauflegt und dann auf einmal bei
einem tatsächlichen Plus von nur 113 Millionen Euro so
tut, als seien das 750 Millionen Euro, dann ist das doch
billig. Das hat das Haus nicht verdient, das haben auch
die Menschen nicht verdient, und die Republik hat diesen Minister nicht verdient.
({1})
Ich frage mich auch, wie Herr Minister Niebel jemals
auf einen Aufwuchs kommen möchte, wenn er mittlerweile einer der wenigen Minister in diesem Kabinett ist,
die die Finanztransaktionsteuer immer noch ablehnen.
({2})
Das muss man einmal überlegen: Wir brauchen innovative Finanzierungsinstrumente. Die Finanztransaktionsteuer ist ein Instrument, das schon vor zehn Jahren,
2001, Ihre Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul immer wieder gefordert hat.
({3})
Dieser Vorschlag kam von Attac und von den NGOs als
ein Instrument für Entwicklung. Jetzt sind wir endlich so
weit, dass dieser Vorschlag auch von anderen gutgeheißen wird. Anstatt stolz und froh zu sein, dass die Initiative der Entwicklungspolitiker, solch eine Steuer zu generieren, endlich umgesetzt wird, sagt ausgerechnet
dieser Entwicklungsminister erst neulich im Ausschuss:
Wissen Sie, Herr Raabe, mich interessiert nicht, was die
Bundeskanzlerin sagt, ich bin gegen diese Steuer. - Das
ist einfach nur noch peinlich, Herr Minister.
({4})
Es wurde vorhin Ostafrika angesprochen. Es ist bekannt, dass Sie nicht zum Pathos neigen. Wir würden
uns sicherlich das eine oder andere Mal mehr Leidenschaft wünschen, wenn solche Katastrophen wie in
Ostafrika auftreten. Wir würden uns wünschen, dass der
Entwicklungsminister im Fernsehen, in den Medien
sichtbar ist und die Bevölkerung auf eine solche Hungerkatastrophe hinweist. Auch in Ihrer heutigen Rede, Herr
Minister, haben Sie nicht besonders viel zu dieser Katastrophe gesagt. Es geht mir gar nicht darum, dass Sie
Tränen vergießen; denn die Menschen in Ostafrika brauchen in der Tat nicht Ihre Tränen, sondern Ihr Geld und
Ihre Hilfe. Das kommt aber immer nur zögerlich, immer
nur auf Druck hin. Das ist zu wenig. Sie verweigern sich
hier. Angesichts einer solchen Hungerskatastrophe ist es
nicht in Ordnung, dass Sie im Prinzip immer nur ein paar
Kleckerbeträge bereitstellen. Da müssen wir richtig helfen, da müssen wir viel helfen. Auch das findet sich im
Haushalt leider nicht wieder.
({5})
Es ist schon einiges zu Ihrem entwicklungspolitischen
Konzept gesagt worden. Sie sind derjenige, der immer
erklärt, er mache alles neu. In der Tat taucht auf den
27 Seiten 33-mal das Wort „Innovation“ auf. Trotzdem
steht nichts Neues drin, Herr Minister. Ständig wird das
Credo „Wirtschaft! Wirtschaft! Wirtschaft!“ wiederholt.
Wir bestreiten nicht die Bedeutung der Wirtschaft; es
waren die Sozialdemokraten - auch in der Regierung -,
die mit Public-private-Partnership immer auch auf die
Bedeutung der Privatwirtschaft und der Wirtschaftsförderung hingewiesen haben.
({6})
Man darf das aber nicht im Gegensatz zur traditionellen
Entwicklungszusammenarbeit sehen, die viele Menschen vor Ort leisten.
Herr Minister, da stört mich schon der abfällige Ton,
in dem Sie über Entwicklungshelfer reden. Sie haben
sich im Spiegel-Interview über den Entwicklungshelfer
lustig gemacht, „der mit seinem selbstgestrickten
Alpaka-Pullover seit den sechziger Jahren durch die
Welt geht“.
({7})
Herr Minister, ich sage Ihnen einmal: Mir sind engagierte Entwicklungshelfer im Alpaka-Pullover immer
noch viel lieber als Entwicklungsminister, die mit der
Militärmütze durch die Gegend reisen,
({8})
oder FDP-Businessdelegationen und Yuppies, die glauben, sie könnten Afrika im Nadelstreifen entwickeln,
oder aber GIZ-Vertreter, die über das FDP-Parteibuch in
den Vorstand gekommen sind und meinen, sie müssten
in der ersten Klasse Champagner trinkend im Nadelstreifen nach Afrika fliegen.
({9})
Da lobe ich mir die Entwicklungshelfer im Alpaka-Pullover. Ich finde, es gibt keinen Grund, so abfällig über
diese Menschen zu reden.
Ebenso habe ich es als sehr stillos empfunden, dass
Sie das Ministerium, das Sie übernommen haben, gegenüber dem Spiegel als „Almosenministerium der roten
Heidi“ bezeichnet haben. Wissen Sie, es ist eine Frage
des Stils, wie man über seine Vorgängerin redet. Ich
halte es für spätpubertär, peinlich, niveau- und stillos, so
über die Vorgängerin zu reden.
({10})
Sie beleidigen mit diesen markigen Sprüchen all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium, die seit
Jahren eine verdammt gute Arbeit für die Menschen machen.
({11})
Sie müssen sich nicht von Ihnen als Mitarbeiter des „Almosenministeriums“ beschimpfen lassen, was auch immer sie für einen Pullover tragen.
({12})
Es ist unglaublich, dass Sie dann auch noch die Dreistigkeit haben, zu sagen, sie hätten aus diesem vermeintlichen „Almosenministerium“ ein Globalisierungsministerium gemacht. Wissen Sie, Herr Minister, wer wie Sie
jedes internationale Instrument ablehnt, wer beim Global
Fund die Mittel nicht freigibt,
({13})
wer multilaterale Arbeit ablehnt, wer nur auf binationale
Projekte mit deutschem Fähnchen setzt, ausgerechnet
der sollte nicht von „Globalisierungsministerium“ sprechen. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch.
Ich komme zum Schluss. - Das Einzige, was an dem
Interview stimmt: Als Replik auf die Frage, ob Sie nun
Ihr Ministerium auflösen wollten, sagen Sie, dass es das
Ministerium, das Sie abschaffen wollten, nicht mehr
gebe. Das stimmt: Das gute Globalisierungsministerium
von Heidemarie Wieczorek-Zeul gibt es wirklich nicht
mehr.
({0})
Heute gibt es nur noch ein Ministerium, das sich um die
Förderung der deutschen Außenwirtschaft kümmert, das
die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit
vorantreibt. Wir werden schon dafür sorgen, dass wir
2013 das Ministerium zurückbekommen, das wir einmal
hatten,
({1})
für die Menschen in diesem Land und auf der ganzen
Welt.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete
Niebel das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Ich möchte auf den Zwischenruf der
Kollegin Ex-Staatssekretärin eingehen. Sie kommen aus
Nordrhein-Westfalen. Sie sollten einmal nachlesen, was
in Baden-Württemberg gerade passiert ist. Der neue Vorsitzende der SPD-Fraktion sagte nämlich, die Nachbesetzung mit Sozialdemokraten, die Entlassung aller
politischen Beamten und die Neubesetzung und Doppelbesetzung der Posten im neu gebildeten Wirtschaftsund Finanzministerium seien die Kosten der Demokratie, weil man neues Personal brauche, wenn man eine andere Politik betreiben wolle. Kehren Sie vor Ihrer eigenen Haustür!
({0})
Frau Präsidentin, ich habe mich zu einer Kurzintervention zu der Rede von Herrn Kollegen Raabe gemeldet. Ich habe als Abgeordneter zur Kenntnis genommen,
dass er dem Minister Niebel vorgeworfen hat, er hätte
sich zu Panzerlieferungen geäußert. Ich will, um der
Richtigkeit Genüge zu tun, aus dem Zeit-Interview zitieren. In diesem Interview fragt Die Zeit:
Bekommt Deutschland in Nordafrika ein Problem,
weil die Bundesregierung Panzer nach Saudi-Arabien liefern will?
Antwort von Niebel - Minister in diesem Fall -:
Ich kann mich zu dem konkreten Sachverhalt nicht
äußern. Generell berücksichtigt die Bundesregierung bei derartigen Entscheidungen alle notwendigen Aspekte, also auch die politische Situation der
gesamten Region. Dort hat Deutschland einen hohen Stellenwert.
Ich glaube, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass Sie
hier schlichtweg einen falschen Sachverhalt geschildert
haben.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Raabe hat das Wort.
Herr Minister, über die Personalpolitik, die Sie am
Anfang angesprochen haben, haben wir hier schon oft
geredet. Ich glaube, da reichen die Aussagen des Personalrates. Wir wollen hier nicht weiter thematisieren, wie
Sie dort Ihre Parteifreunde mit Posten versorgen und das
auch weiterhin tun.
In dem Interview in der Zeit-Online, das mir vorliegt
({0})
- das können die Kameras hier gerne einfangen -, steht
wörtlich - wenn es falsch ist, ist es in Ordnung -:
Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hält Waffengeschäfte wie die möglichen Panzerlieferungen
an Saudi-Arabien für vereinbar mit dem Menschenrechtskonzept seines Ministeriums. „Die Stabilisierung einer Region trägt durchaus dazu bei, die
Menschenrechte zu wahren - vielleicht nicht in
dem Land, in dem man tätig ist, aber in den Nachbarländern“, sagt der FDP-Politiker der ZEIT.
Dann kommt das, was Frau Hänsel schon vorgelesen
hat:
Auch in Zeiten des Kalten Krieges habe „die militärische Abschreckung dazu beigetragen, dass der
Krieg nicht stattfand“, …
({1})
Wenn Sie das anders gemeint haben sollten, dann haben Sie es hiermit richtiggestellt. Es hätte uns gefreut,
wenn Sie das schon vorher getan hätten. Besser aber eine
späte Einsicht als keine Einsicht. Ansonsten erhoffen wir
uns von Ihnen noch weitere Einsichten, Herr Niebel. Wir
freuen uns, wenn Sie die nächsten zwei Jahre dazu nutzen, zu Einsichten zu kommen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ruck für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich nutze gern die Gelegenheit, das Zerrbild, das die Opposition von unserer Entwicklungspolitik gemalt hat, zurechtzurücken. Über den Unsinn der
Linken möchte ich gar nicht erst sprechen. Bärbel
Kofler, deine Einlassungen waren wieder die übliche
Erbsenzählerei und Wehklage.
({0})
Was der Kollege Raabe abgeliefert hat, war reine Polemik. Inhaltlich hatte er überhaupt nichts zu bieten.
({1})
Es war so schlimm, wie ich es schon lange nicht mehr
erlebt habe. Sascha Raabe, ich habe dir gestern in weiser
Voraussicht schon gesagt: Du spielst zurzeit wesentlich
besser Fußball, als du als Oppositionspolitiker redest. In einer Redezeit von sieben Minuten hast du überhaupt
keinen sachlichen Beitrag geliefert.
({2})
Ich möchte dem Minister Niebel und seinem Team
ausdrücklich eine gute Arbeit bescheinigen.
({3})
Diese Arbeit ist natürlich auch deswegen so gut, weil
er engagierte Koalitionsparlamentarier an seiner Seite
hat
({4})
und weil er sich treu an den Koalitionsvertrag hält, der
nicht zuletzt auch von der Union maßgeblich mitgestaltet wurde, und zwar Wort für Wort. Insofern handelt es
sich um eine gute Arbeit auf guter Grundlage.
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich der Haushalt
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung durch die zur Verfügung stehenden 6,33 Milliarden Euro auf Rekordhöhe befindet. Das
ist ein Zuwachs um 1,8 Prozent, während der Haushalt
insgesamt nur um 0,1 Prozent wächst. Das entspricht immerhin einer Erhöhung um 50 Prozent seit dem Amtsantritt von Bundeskanzlerin Merkel. Frau WieczorekZeul, wir beide waren uns schon früher einig, dass Ihrem
damaligen Haus nichts Besseres passieren konnte als die
Wahl von Bundeskanzlerin Merkel. Danach ging es mit
dem Entwicklungshaushalt steil bergauf.
({5})
Thilo Hoppe, natürlich sind wir auf der richtigen
Spur. Vielleicht vollzieht sich die Entwicklung nicht in
der Geschwindigkeit, die wir uns alle erhoffen, aber es
geht von Jahr zu Jahr und zum Teil mit gewaltigen
Sprüngen aufwärts.
Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass das Volumen
der Verpflichtungsermächtigungen im Bereich der TZ
und der FZ mit diesem Haushalt sprunghaft angehoben
wird.
({6})
Ich erinnere daran, dass der Aufwuchs im Bereich der
Finanziellen Zusammenarbeit zwischen 1980 und 2010
nur 25 Prozent betrug, während der Aufwuchs bei den
Mitteln für die Weltbank und die regionalen Entwicklungsbanken 230 Prozent betrug. Wir wollen mit diesem
Haushalt - das ist unsere erklärte Politik - wieder etwas
mehr bilaterale Zusammenarbeit auf Kosten der internationalen Zusammenarbeit verankern. Dafür gibt es gute
Gründe. Dazu stehen wir.
({7})
Nach dem ganzen Hickhack, nach dem ganzen Hin
und Her der letzten Jahre in Bezug auf die notwendige
Vorfeldreform möchte ich ausdrücklich sagen: Wir haben in den letzten zwei Jahren bei der Vorfeldreform einen Durchbruch erzielt. Natürlich ist das eine oder andere noch zu korrigieren und einiges noch nachzujustieren, aber die Hauptarbeit ist erfolgreich verlaufen: Es
gibt mehr Effizienz und mehr Kohärenz. Auch dazu
herzlichen Glückwunsch.
({8})
Wie lange haben wir dafür gekämpft, dass das BMZ
mehr Stellen bekommt? Das war ein Herumgurken und
Herumeiern um fünf oder zehn Stellen; ich gebe zu, dass
das auch zu meinem Leidwesen war. Jetzt haben wir
180 Stellen zusätzlich. Das ist auch ein Beitrag zur
Schaffung von mehr Transparenz. Wir alle wollten, dass
aus der sogenannten grauen Armee eine richtige Armee
wird. Es ging uns um Transparenz. Auch dazu sage ich:
Das hat das BMZ gut gemacht.
Zur Prioritätensetzung bei den Schlüsselthemen. Es
handelt sich um unsere Schlüsselthemen. Das waren übrigens einmal unsere gemeinsamen Schlüsselthemen. Es
geht um ländliche Entwicklung, Bildung, Umwelt und
Klima sowie gute Regierungsführung.
({9})
Eine große Mehrheit in diesem Parlament hat dafür gekämpft. Das wurde umgesetzt, und auch dazu stehen wir.
({10})
Wir stehen ferner dazu, dass es dieses Mal wieder einen erheblichen Mittelzuwachs bei den zivilgesellschaftlichen Trägern gibt, zum Beispiel bei den Kirchen und
den politischen Stiftungen. In Zeiten von Umbrüchen
und Transformationsprozessen sind diese Partner besonders wichtig, weil man mit ihnen flexibel und schnell reagieren kann.
Was Good Governance, also gute Regierungsführung,
und schnelleres Reagieren anbelangt, möchte ich auf
zwei Dinge eingehen, die uns alle miteinander bewegen.
Sascha, ich finde, es ist eine Verleumdung, wenn du dem
Minister unterstellst, er würde sich nicht um Afrika
kümmern. Ich habe das in den letzten Wochen ganz anders empfunden. Ich weiß nicht, ob du im Urlaub oder
sonst wo warst. Man kann dem Ministerium nun wirklich nicht vorwerfen, dass es nicht reagiert und sich nicht
engagiert hat.
({11})
Ich möchte ganz konkret von einer Reise berichten,
die ich nach Rom gemacht habe. Rom ist nicht weit entfernt; diese Reise kann auch jeder andere machen. In
Rom gibt es drei Organisationen, die sich sehr intensiv
mit den Themen Ernährung, Not- und Hungerhilfe und
langfristige Strukturpolitik beschäftigen: die FAO, der
IFAD und das Welternährungsprogramm. Ich gebe zu,
dass ich immer gefragt habe: Wofür brauchen wir drei
Organisationen? Warum können wir das nicht straffen?
Die Koordination ist und bleibt - das ist mir nach diesem
Besuch völlig klar - eine Herausforderung. Darauf müssen wir achten. Das ist und bleibt ein Dauerbrenner. Die
drei Organisationen sind aber hinsichtlich der gegenseitigen Absprache und Zusammenarbeit - auch das habe
ich begriffen - einen großen Schritt vorangekommen. In
diesen drei Organisationen gibt es unheimlich viel Engagement, zum Beispiel vonseiten unserer Ständigen Vertretung in Rom und vonseiten der mit viel Expertise ausgestatteten Mitarbeiter.
Vielleicht fehlt an der einen oder anderen Stelle tatsächlich Geld. Die Experten sagen aber im ZusammenDr. Christian Ruck
hang mit dem Horn von Afrika, dass es nicht nur immer
mehr Orte wie das Horn von Afrika geben wird, sondern
dass es sie auch schon in der Vergangenheit gegeben hat.
Bei der konsequenten und permanenten Strukturarbeit,
die darauf abzielt, die Menschen selbst in der Krise stärker zu machen, damit sie die nächsten Krisen durch andere Anbaumethoden und vieles mehr besser bewältigen, haben alle drei Organisationen in den letzten Jahren
große Erfolge erzielt. Die Folgen der verschärften Dürren und die Hungerkatastrophen in den letzten Jahren
hätten viel schlimmer ausfallen können und müssen,
wenn diese Arbeit nicht so fruchtbar gewesen wäre.
Es wurde gesagt: Man kann in Somalia aus Sicherheitsgründen nicht so agieren wie sonst. Aber die Arbeit
in der Sahelzone, in Pakistan und am Horn von Afrika,
die Schlimmeres verhindert hat, muss man tagtäglich,
kontinuierlich und dauerhaft unterfüttern, und zwar auch
dann, wenn CNN und andere nicht da sind. Es ist unsere
Aufgabe, diesen Prozess kontinuierlich und dauerhaft zu
unterfüttern.
({12})
Es war auch viel die Rede von dem neuen Präsidenten
der IFAD, einem Nigerianer. Er sagte: Wir Afrikaner
müssen uns an die eigene Brust fassen. Wir haben die
ländliche Entwicklung auch in unseren Regierungsprogrammen schmählich im Stich gelassen. Wir müssen bei
uns anfangen. - Das ist eine bemerkenswerte Aussage,
auf die wir zurückkommen sollten.
Ein weiterer Punkt ist der arabische Frühling. Ich
finde, auch hier haben das BMZ und andere in der Regierung mit den drei schnell eingerichteten Fonds zügig
reagiert.
({13})
Ich bin auch der Meinung, dass wir solche schnell wirkenden Instrumentarien öfter brauchen, weil unsere normalen Prozeduren oft zu langsam sind. Ich glaube, hier
sind wir auf einem guten Weg.
Jetzt geht es darum, dass die EU insgesamt springt. Es
gibt zum Beispiel in Nordafrika nur ganz wenige Ansatzpunkte, schnell und dauerhaft Jobs zu schaffen und
eine Wirtschaftsbelebung zu bewirken. Dies ist möglich
in der Landwirtschaft, im Tourismus und in der Energiebranche sowie in einigen wenigen anderen Feldern.
Die berufliche Bildung ist auch ganz wichtig, aber das
ist eine langfristige Angelegenheit. In den genannten Bereichen müssen wir jedoch springen. Dort muss auch die
EU springen. Gerd Müller, du weißt, wovon ich spreche,
ich meine zum Beispiel Marokko und Spanien. Das bedeutet, dass in der EU mehr Absatzchancen für nordafrikanische landwirtschaftliche Produkte zugelassen werden. Das verstehe ich unter „springen“. Hier sollte man
nicht nur die Lippen spitzen.
({14})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss auf die ODA-Quote zu sprechen kommen. Ich
bin froh, dass es so viele Kollegen aus allen Parteien
gibt, die den Aufruf im Zusammenhang mit den 0,7 Prozent unterschrieben haben. Das bedeutet Rückendeckung. Ich bekenne mich ausdrücklich zur Schuldenbremse. Es macht keinen Sinn, wenn Deutschland
schwächelt, weil wir einen Antistabilitätskurs fahren.
Das schadet jedem und nutzt niemandem. Ich möchte
aber auch darauf hinweisen, was in diesem Zusammenhang in diesen Monaten gelungen ist. Der Energie- und
Klimafonds wurde eingerichtet. Er wird aus den erweiterten Emissionszertifikaten gespeist und benötigt deswegen eine gewisse Anlaufzeit. Für sogenannte Haushaltsspezialisten ist es kein Geheimnis, dass dieser
Fonds inzwischen eine erste Ermächtigungstranche von
950 Millionen Euro hat. Damit können wir wirklich etwas anfangen.
Beachten Sie bitte die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Ich darf daran erinnern,
dass wir Entwicklungspolitiker mit der Transaktionsteuer viel weiter gekommen sind, als wir vor zwei
Jahren gedacht haben.
Ich bedanke mich bei Herrn Finanzminister Schäuble
und seinem Team, zum Beispiel bei Herrn Staatssekretär
Koschyk, auch dafür, dass wir eine exorbitante Ausweitung des Gewährleistungsrahmens
Sie können jetzt noch zehn Minuten reden, das geht
allerdings auf das Konto Ihrer Kollegen, die noch sprechen wollen.
- in der FZ von 5,7 auf 8,5 Millionen Euro zu verzeichnen haben.
Bitte denken Sie an den gesamten ODA-Zusammenhang, an den gesamten Haushalt. Dort haben wir große
Erfolge erzielt. Darauf können wir stolz sein, und diese
lassen wir uns auch von Erbsenzählern nicht madig machen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Movassat für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geht
das Sterben in Somalia wegen der Hungersnot weiter,
werden in 15 Monaten alle Kinder dort tot sein. Dies
geht aus einem Bericht der humanitären UN-Abteilung
hervor. Die Hungerkatastrophe in Ostafrika ist leider
nicht vorbei, sondern wird sich laut UNO sogar noch
verschärfen. Mehr als 12 Millionen Menschen hungern
derzeit in Ostafrika, allein das kenianische Flüchtlingslager Dadaab wird bis Jahresende auf über 500 000 Hun14538
gernde anwachsen. Auch wenn die Euro-Krise mediales
Thema Nummer eins ist: Für die internationale Gemeinschaft muss die Hungerkatastrophe Thema Nummer eins
bleiben. Menschenleben gehen vor Bankenrettung.
({0})
Ich sage Ihnen: Etwas läuft gewaltig falsch, wenn sich
Banken und Großspekulanten sicher sein können, dass
sie mit Milliarden Euro Steuergeldern immer wieder gerettet werden, aber gleichzeitig das Leid der hungernden
Menschen in Ostafrika und in vielen anderen Teilen dieser Welt für die internationale Gemeinschaft nur einen
Nebenschauplatz darstellt. Anders kann ich mir nicht erklären, dass die von der UNO geforderten 1,8 Milliarden
Euro zur Linderung der schlimmsten Not in Ostafrika
bisher von der internationalen Gemeinschaft nur zu
60 Prozent zugesagt wurden. Zum Vergleich: Für die
Rettung der Commerzbank hat die Bundesregierung im
letzten Jahr problemlos 18 Milliarden Euro aufgebracht.
Dass die Bundesregierung sich angesichts dessen unendlich lange winden musste, ihre anfänglich gerade einmal
1 Million Euro zur Bekämpfung der Hungersnot schrittweise auf 5, 14, 35, 60 bis heute 140 Millionen Euro aufzustocken, ist erbärmlich.
Entlarvend, Herr Niebel, für Ihre sogenannte Entwicklungspolitik ist Ihr neues entwicklungspolitisches
Konzept. Wessen Chancen dort geschaffen, wessen Zukunft entwickelt werden soll, kann man daran sehen, wie
oft manche Begriffe erwähnt werden oder nicht. So
taucht das Wort „Hunger“ kein einziges Mal auf, genauso wenig übrigens wie „Hungerbekämpfung“. „Armutsbekämpfung“, das Hauptziel jeder vernünftigen
Entwicklungspolitik, wird auf 27 Seiten Konzeptpapier
ganze neunmal erwähnt und dann noch mit der Ansage,
für Armutsbekämpfung seien die Entwicklungsländer
zuständig. Ich sage: Ohne Solidarität der reichen Staaten
mit den armen Staaten kann das nicht klappen.
({1})
Was ist mit der deutschen Wirtschaft als Akteur in Ihrem Papier? Sie findet über zwanzigmal Erwähnung. Es
geht Ihnen also nicht vorrangig um die Armuts- und
Hungerbekämpfung, es geht Ihnen hauptsächlich um
Wirtschaftsförderung für deutsche Unternehmen. Der
Topf dafür wird in Ihrem Haushaltsentwurf jetzt nochmals vergrößert.
Herr Niebel, Sie wollten das Ministerium vor Ihrem
Amtsantritt abschaffen. Faktisch tun Sie dies mit einer
völligen Änderung seiner Ziele. Mit Entwicklungspolitik
hat das zunehmend nichts mehr zu tun.
({2})
Aber nicht nur bei der Armutsbekämpfung ist Ihre Politik ignorant. In Ihrem Haushaltsentwurf haben Sie keine
Gelder für den Globalen Fonds gegen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose vorgesehen. Begründet wird dies
mit Korruption. Dabei sagt Kanzleramtsminister Pofalla
in einer Antwort auf ein Schreiben der Kollegin Roth etwas ganz anderes.
Kollege Movassat, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Pfeiffer?
Nein, sie soll bis zum Schluss zuhören und kann danach gern eine Kurzintervention machen.
Das entscheiden immer noch wir hier vorne.
({0})
Sie kann das gerne am Ende machen. - Ich zitiere
Kanzleramtsminister Pofalla:
Der Zwischenbericht der internationalen Expertenkommission sieht keine Anhaltspunkte für Korruption in den Strukturen des GFATM. … Damit bestehen keine Anhaltspunkte, wonach Korruption beim
GFATM selbst lebensrettende Hilfe für Bedürftige
verhindert habe.
Es gibt keine Begründung für die Streichung der Gelder;
das ist völlig verantwortungslos.
({0})
Verantwortungslosigkeit durchzieht sowieso Ihre
Politik; denn auch Sie schauen nach wie vor untätig zu,
wie Spekulanten an den Börsen die Preise für Nahrungsmittel in die Höhe treiben. Sie ergreifen keine Maßnahmen dagegen, dass auch deutsche Unternehmen am
Landraub in Afrika beteiligt sind. So wird ein Unternehmen aus Bayern in Äthiopien, wo derzeit 4,8 Millionen
Menschen hungern, auf einer Fläche von 260 000 Hektar
Agrotreibstoffpflanzen anbauen. Sie lassen es zu, dass
durch EU-Subventionen deutsche Landwirtschaftsprodukte wie Milch auf dem afrikanischen Markt künstlich
billiger sind als Produkte, die in Afrika selbst erzeugt
werden, zum Beispiel in Uganda, wo die Existenz von
600 000 Viehzüchtern dadurch derzeit gefährdet ist.
({1})
Ihre Politik beseitigt Hungersnöte nicht, sondern verschärft oder verursacht sie sogar noch. Das ist verantwortungslos.
({2})
Eine nachhaltige Hungerbekämpfung braucht eine
Politik, die in Kleinbauern und die lokale Produktion investiert. Stattdessen zwingen Sie Entwicklungsländer zu
Marktöffnungen und fördern europäische Dumpingexporte. Entwicklungspolitik muss sich für Markt- und
Handelsbedingungen einsetzen, die eine gerechte Teilhabe der Armen ermöglichen. Stattdessen erhöhen Sie
noch die Abhängigkeiten von der westlichen Produktion
und Wirtschaft. Ein umfassender Ansatz von Entwicklung, Armutsreduzierung und Ernährungssouveränität
wäre endlich nötig. Sie machen das Gegenteil: Profit für
deutsche Konzerne auf Kosten der Armen. Das werden
wir nicht mitmachen.
({3})
Kein Kind darf zu keinem Zeitpunkt auf der Welt verhungern. Das muss erstes Ziel von Entwicklungspolitik
sein. Ich befürchte, dass die schwarz-gelbe Koalition
nicht die Fähigkeit hat, diesen einfachen Grundsatz zu
verstehen. Deshalb ist hoffentlich bald Schluss mit Ihrem Trauerspiel. Das wäre das Beste, für die Menschen
hierzulande und für die Menschen im globalen Süden.
({4})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Pfeiffer
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Movassat, ich kann es fast nicht mehr hören. Es ist doch
geradezu lächerlich, einfach zu sagen, ländliche Entwicklung und wirtschaftliche Entwicklung hätten nichts
mit Armutsbekämpfung zu tun.
({0})
Durch die ländliche Entwicklung sollen die Menschen
befähigt werden, sich selber zu ernähren, selber für ihre
Familie zu sorgen, selber die notwendige Kraft aufzubringen und es ohne fremde Hilfe zu schaffen. Das ist
gezielte Armutsbekämpfung.
({1})
Was können wir Besseres tun als in den Entwicklungsländern Wirtschaftsförderung zu betreiben, um die
Menschen in kleinen und mittleren Unternehmen in
Lohn und Brot zu bringen? Was ist besser als diese Art
der Armutsbekämpfung? Gute Wirtschaftspolitik ist besser als jegliche Sozialhilfe oder sonstige staatliche Unterstützung; bitte nehmen Sie das einmal zur Kenntnis.
Alles andere sind keine Alternativen.
({2})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin Pfeiffer,
ich habe nicht gesagt, dass wirtschaftliche Entwicklung
nicht wichtig ist. Ich habe gesagt, dass Herr Niebel zunehmend Außenwirtschaftsförderung betreibt. Das ist
ein Unterschied. Es ist ein Unterschied, ob man Entwicklungspolitik macht, indem man versucht, die deutsche Wirtschaft hier zu unterstützen, oder indem man
versucht, die lokale Wirtschaft vor Ort zu unterstützen.
Genau das passiert nicht.
({0})
Nach der neuen Linie dieses Ministeriums geht es zunehmend darum, Außenwirtschaftsförderung zu betreiben. Das ist ein Irrweg der deutschen Entwicklungspolitik. Dazu habe ich hier etwas gesagt.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Hinz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als
Haushälterin werde ich zunächst einmal versuchen, diesen sogenannten Rekordhaushalt in die richtigen Relationen zu rücken. Es ist richtig, dass dem Haushalt dieses
Ministeriums im künftigen Haushaltsjahr 113 Millionen
Euro mehr zur Verfügung stehen werden. Das ist eine
Erhöhung, weil in der Finanzplanung eine Absenkung
um 300 Millionen Euro vorgesehen war. Das müssen Sie
aber im Zusammenhang mit der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels - dieses Ziel tragen Sie ja immer vor sich her sehen. 2010 hatten wir eine ODA-Quote von 0,38 Prozent. Wenn sich das Wirtschaftswachstum so fortsetzt,
wie Sie es im Bundeshaushalt insgesamt zugrunde gelegt
haben
({0})
- ich nehme an, auch in der Kabinettsentscheidung -,
dann wird diese Quote schon im nächsten Jahr sinken.
Deswegen, Frau Kollegin Pfeiffer, ist es nur ein Pfeifen
im Wald, wenn Sie sich wieder hier hinstellen und sagen: Wir wollen das 0,7-Prozent-Ziel erreichen, und wir
halten daran fest. Wenn Sie sich die Finanzplanung ansehen, stellen Sie fest, dass sogar eine Kürzung der Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit um 581 Millionen
Euro vorgesehen ist. Deswegen wird das Erreichen des
0,7-Prozent-Ziels mit dem Finanzplan, den Sie vorgelegt
haben, gar nicht funktionieren. Der Etat müsste nämlich
Priska Hinz ({1})
angesichts dessen, dass Sie in der Finanzplanung ein
wirtschaftliches Wachstum von 1,5 Prozent zugrunde legen, von jetzt etwa 10 Milliarden Euro auf circa 20 Milliarden Euro verdoppelt werden.
({2})
Wie Sie das erreichen wollen, müssen Sie mir hier in
der Haushaltsberatung bitte schön einmal erklären.
({3})
Ich glaube eher, Sie bauen darauf, dass Sie in der nächsten Regierung nicht mehr im Amt sein werden; davon
gehe ich jedenfalls fest aus.
({4})
Sie hinterlassen der künftigen Regierung einen Scherbenhaufen. Insofern wäre es wirklich wichtig, wenn wir
den entwicklungspolitischen Konsens, der von ganz vielen unterstützt wurde, als Aufbaupfad dafür nehmen, das
0,7-Prozent-Ziel gemeinsam zu erreichen.
Das ist kein Selbstzweck. Es geht nicht darum, einfach nur Geld auszugeben. Ich gebe allen recht, die sagen: Viel Geld allein bringt nichts. Aber ohne Geld kommen wir auch nicht weiter. Wir brauchen Geld für eine
Bildungsstrategie, für die Erhöhung der Grundbildung.
Wir brauchen Geld für die Anpassung an den Klimawandel. Wir brauchen Geld für die Stärkung der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern. Für all das brauchen
wir Geld.
Herr Minister, bislang jedenfalls haben Sie nicht erklären können, wie Sie Ihre Bildungsstrategie finanziell
unterfüttern wollen. Sie ist zwar sehr wichtig, aber Sie
können sie nicht unterfüttern, wenn Sie laut Finanzplanung in den nächsten Jahren wieder einen Haufen Geld
einsparen sollen. Dann werden Sie wieder aus anderen
Töpfen Geld herausnehmen, und Sie werden die anderen
Schwerpunkte, die Ihnen angeblich ach so wichtig sind,
nicht mehr setzen können. Von daher haben Sie uns hier
die Quadratur des Kreises angekündigt.
({5})
Ein Punkt, den ich noch ansprechen möchte und der
uns besonders wichtig ist, ist der Globale Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria. Sie
lassen die Finanzierung weiter im Ungewissen. Natürlich sind 200 Millionen Euro eingestellt, allerdings unter
dem Haushaltstitel der Finanziellen Zusammenarbeit.
Von daher weiß man nicht, ob das Geld dem Fonds zugutekommen wird.
Ich gebe Ihnen recht: Man muss Korruption bekämpfen, wo immer sie auftritt. Auch wir wollen nicht, dass
nur 1 Euro in falschen Kanälen versickert. Aber die Korruption wurde vom Globalen Fonds selber aufgedeckt.
Im vorgelegten Zwischenbericht werden Reformmaßnahmen angemahnt. Deswegen wäre es wichtig, wenn
Sie diese Reformmaßnahmen mit allen Kräften unterstützten, anstatt das Geld woanders zu parken
({6})
und damit den Globalen Fonds und auch die Menschen
mit gesundheitlichen Risiken im Ungewissen zu lassen,
auf welche Seite sich Deutschland stellt.
Ich glaube, das hat etwas mit ideologischen Scheuklappen zu tun; denn Sie kämpfen schon lange gegen
diesen Fonds. Wir haben keine ideologischen Scheuklappen, auch nicht im Hinblick auf die Zusammenarbeit
und Kooperation mit der Wirtschaft; ich finde es schon
erstaunlich, dass die Linke dies nun als ihr Kampffeld
betrachtet. Einen durchschlagenden Erfolg bei der Kooperation mit der Wirtschaft habe ich in Ihrer Amtszeit
bislang vermisst. Sie reden zwar immer viel davon, aber
es passiert nicht viel. Wir haben nichts gegen eine sinnvolle Kooperation, wenn sie in eine gute Strategie der
Entwicklungszusammenarbeit eingebettet ist.
Danke schön.
({7})
Der Kollege Klaus Riegert hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Trotz Finanzkrise und Euro-Krise sind für diesen
Haushalt 6,33 Milliarden Euro vorgesehen, so viel wie
noch nie zuvor. Sie können das nennen, wie Sie wollen:
Das ist ein Haushaltsansatz, der sich durchaus sehen lassen kann. Ich glaube, darüber sind wir alle uns insgeheim auch einig.
Wir treffen uns wohl auch bei der Einschätzung, dass
wir innovative Finanzierungsinstrumente brauchen. Ich
glaube nicht, dass wir auf Dauer mit Steuergeldern das
0,7-Prozent-Ziel, an dem wir Fachpolitiker ja festhalten,
erreichen können. Vielmehr werden wir uns neue Gedanken machen müssen. Es freut mich, dass im Ministerium überlegt wird, etwa ethisch orientierte Bundesschatzbriefe oder Ähnliches aufzulegen. Ich denke auch,
dass der Energie- und Klimafonds eine Chance bietet, etwas für weltweiten Klima- und Umweltschutz zu tun.
Außerdem möchte ich gerne auf ein Thema hinweisen, das von der ODA-Quote ausgeklammert ist. Schädliche Subventionen und Zollschranken, Handelshemmnisse, Schutzzölle und Exportsubventionen verhindern
eigene Einnahmen der Entwicklungsländer in doppelter
Höhe der Mittel aller Geberländer; das muss man sich
einmal vor Augen führen. Deswegen gilt: Wenn wir eine
zukunftsfähige Entwicklung haben wollen und Hilfe zur
Selbsthilfe erreichen möchten, muss die Doha-Runde
endlich erfolgreich abgeschlossen werden.
({0})
Zur Wirksamkeit der Vorfeldreform wurde schon viel
gesagt. Der Minister hat in der ihm zu Recht zugeschriebenen Bescheidenheit darauf hingewiesen, dass wir damit mehr Einfluss auf das operative Geschäft bekommen. Deswegen stelle ich fest: Die Fusion von GTZ,
DED und InWEnt ist wichtig. Damit werden Doppelstrukturen abgeschafft, und wir können perspektivisch
Einsparungen in Millionenhöhe im Haushalt abbilden.
Das unabhängige Institut für Deutsche Entwicklungsevaluierung wird in Zukunft unsere Maßnahmen in der
Entwicklungs- und wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf
ihre Wirksamkeit hin prüfen.
Die Servicestelle für bürgerschaftliches und kommunales Engagement, eine Anlaufstelle für in Deutschland
und im Ausland Engagierte, ist ebenfalls wichtig und zukunftsträchtig. An dieser Stelle sollten wir auch einmal
allen im Inland und Ausland bürgerschaftlich und ehrenamtlich Engagierten sowie den sonstigen Engagierten,
egal wie sie angezogen sind, unseren herzlichen Dank
aussprechen.
({1})
Die stärkere Unterstützung von Stiftungen, privaten
Trägern, der Wirtschaft und Kirchen sowie dieser Servicestelle spiegelt sich in einem Plus in dem entsprechenden Ansatz in diesem Haushalt wider.
Ich teile die Erkenntnis von Kollegin Sibylle Pfeiffer,
dass Entwicklung nicht nur eine Frage des Geldes ist.
Entwicklung kann man auch nicht kaufen. Man kann
nicht entwickelt werden, sondern muss sich schon selbst
entwickeln.
({2})
Der in Eritrea geborene Politikwissenschaftler Mussie
Habte bringt es in dem Beitrag „Afrika neu denken Krise und Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit“ in
Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2011
auf den Punkt. Ich zitiere:
Bei aller Diskussion über die finanziellen Mittel gilt
jedoch: Der Glaube, dass allein die Aufstockung
der Entwicklungshilfe zur Lösung der Probleme
Afrikas beitragen kann, geht in die Irre. Mit Geld
lässt sich zwar manches bewirken, aber ob dies der
richtige Weg ist, die strukturellen Probleme des
Kontinents zu bewältigen, muss ausdrücklich bezweifelt werden. … Denn zentral für die Lösung
der Probleme ist und bleibt das Engagement der
afrikanischen Staaten selbst.
({3})
Entwicklung heißt zuallererst, es selber zu machen
oder - nach einem von der Weltbank geprägten Bild vom Beifahrer- auf den Fahrersitz zu wechseln. Entwicklung muss von innen kommen. Unterstützende Entwicklungszusammenarbeit von außen bleibt dann sinnvoll und notwendig, wenn die eigenen Kräfte nicht
ausreichen.
Hilfe zur Selbsthilfe. Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit ist, Menschen die Freiheit zu geben, ohne
materielle Not selbstbestimmt und eigenverantwortlich
ihr Leben zu gestalten. In diesem Sinne wollen wir dazu
beitragen, dass die Globalisierung zu einer Chance für
alle Menschen wird.
Deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird sich
künftig vor allem auf die Sektoren Bildung, Gesundheit,
ländliche Entwicklung, gute Regierungsführung und
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren.
Leitprinzip ist dabei der Schutz der Menschenrechte.
Ich möchte mich ganz herzlich beim Ministerium für
den Haushaltsentwurf bedanken und meine, wir sollten
den Haushalt im Ausschuss angehen und diskutieren.
In diesem Sinne: Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte etwas zu dem Rekordhaushalt sagen
und dies mit einigen Zahlen unterlegen. Das Haushaltsvolumen steigt um 1,8 Prozent. Das klingt gut, ist aber
weniger als das dem Haushalt zugrunde liegende Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, wir haben ein
System zur systematischen Verfehlung der ODA-Quote.
({0})
Das ist ein großes Problem, weil das systematisch falsch
ist.
Vielleicht ist es auch für jemanden aus der FDP von
Interesse, dass die Ausgaben für Investitionen sinken,
und zwar in einer Größenordnung von 12 Prozent, während die Verwaltungskosten um mehr als 25 Prozent steigen.
({1})
Auch das ist eine interessante Entwicklung im Haushalt,
die man in den Blick nehmen darf.
Weil Deutschland das nicht nötig hat, finde ich es
auch etwas schwierig, dass als Drohgebärde der Globale
Fonds auf null gesetzt wird, wohl wissend, dass das gar
nicht durchgehalten wird. Ich glaube, dass wir uns mit
einer Drohgebärde im Haushalt keinen Gefallen tun.
Last, but not least fehlen noch die vertraulichen Erläuterungen. Ich würde das als „No-Good-Governance“
bezeichnen. Das Parlament braucht die Erläuterungen
unbedingt.
({2})
Lothar Binding ({3})
Ich möchte noch auf einige Bemerkungen von heute
eingehen. Lange vor Niebel, wenn man das so formulieren will, gab es unter einer anderen Ministerin, nämlich
Heidi Wieczorek-Zeul, gute Menschenrechtsaktionspläne mit Stufenplänen. Wenn man immer versucht, die
Vergangenheit zu verbrämen und zu verleugnen, tut man
sich selber letztlich keinen Gefallen.
Ich will es in Erinnerung rufen: Es gab schon 2002 bis
2006 und erneut 2005 bis 2010 einen Stufenplan zur
Haushaltsentwicklung. Es ist also nichts Neues, über
diese Dinge zu reden.
Man sollte den Blick vielleicht darauf richten, was
Herr Niebel gut bzw. schlecht macht. Ich will auch sagen, was er gut macht. Wir stimmen in manchen Fragen
überein. Er hat davon gesprochen, die Wirksamkeit zu
erhöhen. Wer wollte das nicht? Immer, wenn man einen
Euro in die Hand nimmt, sei es privat oder an Steuergeldern, will man ihn so wirksam wie möglich einsetzen.
Das versteht sich zwar von selbst; trotzdem ist es eine
gute Idee.
({4})
Er sagt auch: Wir wollen nicht mit großen Zahlen um
uns werfen. - Das finde ich sehr gut. Es wäre klug, sich
auch daran zu halten.
Gut fand ich auch in Teilen die Fusion von GTZ, DED
und InWEnt zur GIZ. Das ist insgesamt eine gute und
keine ganz neue Idee, um das in Erinnerung zu rufen.
Dass es einige Probleme gab, zum Beispiel mit einer Sieben-zu-eins-Konstellation von Männern gegen Frauen im
Vorstand und Beschlüssen, die jetzt umgesetzt werden
müssen und zu großen Schwierigkeiten führen, stelle ich
hintan.
Die Idee war gut, und es wurde bereits viel Gutes umgesetzt. Noch besser finde ich, dass sich der Minister zur
ODA-Quote bekennt und sie erfüllen will; denn dafür
hat er eine Mehrheit im Parlament.
Er sagt auch, um noch ein konkretes Beispiel zu nennen: Wir wollen die Landwirte vor Ort langfristig ertüchtigen. - Das ist eine gute Sache; das gilt für die Vergangenheit wie für die Zukunft. Das ist ganz klar
notwendig.
Gut finde ich auch - es hat darüber gelegentlich Missverständnisse gegeben -, dass er durch viele Reisen
Deutschland im Ausland vertritt. Ich finde nicht alles
gut, was er macht. Das Käppi wurde schon erwähnt.
Aber insgesamt finde ich die Präsenz im Ausland gut.
Ich glaube, dass man diese guten Dinge auch erwähnen
muss.
({5})
Schlecht finde ich, dass er zum Beispiel sagt - das ist
für mich eine sehr tiefgehende Aussage -: „Entwicklungszusammenarbeit ist nichts Altruistisches.“ Ich habe
es im Duden nachgeschlagen. „Altruismus“ heißt „durch
Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise“. Der Gegensatz ist Egoismus. Wenn die
Entwicklungszusammenarbeit nichts Altruistisches ist,
dann kann es im Grunde nur das Gegenteil bedeuten.
Das lehne ich strikt ab.
({6})
Das ist in gewisser Weise eine gefährliche Entwicklung,
die im Denken zutage gefördert wird. Sie ist für die
Menschen, die seit langem in ihrer Arbeit diese Richtung
einschlagen, nicht leicht zu verstehen.
Eines verwundert mich nicht, aber es erschreckt mich
ein bisschen, nämlich dass Dirk Niebel die riesige
Chance hat verstreichen lassen, dass mehr als die Hälfte
von uns allen fraktionsübergreifend sagt - das kommt
nicht allzu häufig vor -: Wir wollen für die ODA-Quote
in den nächsten vier Jahren 1,2 Milliarden Euro jährlich
mehr aufbringen. Das Einvernehmen führte dazu, dass
die SPD das nicht im Pakt für Bildung und Entschuldung
berücksichtigt hat. Wir sind nämlich davon ausgegangen, dass der Minister das in seinen Entwurf aufnimmt.
Dann hätten wir zugestimmt, und es wäre ein großer Erfolg gewesen. Dieser Punkt fehlt jetzt im Pakt der SPD,
weil wir dachten, das versteht sich von selbst.
Frank-Walter Steinmeier hat unterschrieben, und unser Parteivorsitzender Gabriel hat unterschrieben. Ich
sehe gerade, auch Herr Koschyk hat unterschrieben. Es
wäre eine Superidee, die ODA-Quote jetzt festzuklopfen. Damit würde man den Worten Taten folgen lassen.
Das wäre eine sehr gute Sache.
({7})
Die Finanzierung ist im Übrigen gar nicht so kompliziert. Die Finanztransaktionsteuer wurde schon erwähnt.
Hinzu käme der Verzicht auf Steuersenkungen. Wer sich
die leisten kann, kann sich die ODA-Quote erst recht
leisten. Auch die Konzernbesteuerung ist eine schöne
Einnahmequelle. Es gibt eine ganze Reihe von Einnahmemöglichkeiten, die wir schon im letzten Jahr vorgeschlagen haben.
Es gibt eine schleichende Peinlichkeit. Diese hängt
damit zusammen, dass der Minister inzwischen gemerkt
hat, welche enorme Kraft die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, auch die finanzielle Zusammenarbeit,
entfaltet hat. Das BMZ ist gut aufgestellt, ebenso die
durch die Fusion von GTZ, InWEnt und DED entstandene GIZ und die KfW. Die NGOs arbeiten weltweit
enorm gut. Darin arbeiten Tausende von Menschen, die
ein großes Netzwerk in der Welt aufgebaut und eine gute
Reputation erworben haben. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit steht, wenn man sie mit der anderer Länder vergleicht, an vorderster Stelle. Deshalb halte
ich es für sehr problematisch, wenn der Minister meint,
er müsse das Ministerium nur deshalb neu erfinden, weil
er einmal gesagt hat, er wolle es abschaffen. Den Widerspruch in dieser Weise auflösen zu wollen, ist ein großes
Problem. Dieser Linie werden wir keinesfalls folgen.
Ich will ein Wort zu Ostafrika sagen. Da gibt es ein
Missverständnis. Ländliche Entwicklung und die Ernährungssicherung sind langjährige Schwerpunkte der EZ.
Das waren sie in der Vergangenheit, und das sind auch
Lothar Binding ({8})
Ihre Schwerpunkte. Seit Mitte Juli gibt es in Ostafrika
- das hat jeder gesehen - eine akute Hungersnot. Die
Kanzlerin war dort und hat 1 Million Euro Hilfe zugesagt. Das war ungefähr zu der Zeit, als die Engländer
60 Millionen Euro, die sie bereitgestellt haben, für nicht
genug hielten. Damals habe ich dem Minister einen
Brief geschrieben. Aber erst vier Wochen später wurde
die Regierung aktiv, weil der Minister sagte: Wir müssen
zunächst viele grundsätzliche Dinge in Kraft setzen. Ich bin in der DLRG. Wenn in der Spree jemand ertrinkt
und ich erst ein grundsätzliches Konzept zur Verteilung
von Rettungsringen entlang der gesamten Spree in den
nächsten Jahren entwickle, hilft das dem Ertrinkenden
nicht. Ich muss schneller agieren, um den Menschen zu
helfen.
({9})
Man muss überprüfen, was für die akute Nothilfe bereitgestellt werden kann. Zahlenspiele über den Haushalt
helfen nicht weiter. Mit dieser Anregung zur Überprüfung möchte ich Sie gern in die Haushaltsdebatte entlassen.
Schönen Dank und alles Gute.
({10})
Der Kollege Volkmar Klein hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn man am Ende der Debatte zum Einzelplan
23, zum Haushaltsplan des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Argumente
Revue passieren lässt, dann gewinnt man den Eindruck,
dass aus allen Beiträgen, vor allen Dingen aus denen der
Opposition, am Ende Lob für die Arbeit des Ministeriums hervorgeht.
({0})
Wenn man einmal von den unsachlichen Beiträgen
absieht, dann besteht die Kritik darin, dass es zu wenig
Geld gibt. Man möchte also einen noch größeren Zuwachs haben.
({1})
Das ist verständlich. Wer wäre dagegen, wenn Geld für
einen guten und sinnvollen Zweck ausgegeben wird,
wenn es vorhanden ist? Insofern ist das ein erwarteter
Kritikpunkt an diesem Haushalt, der gleichwohl kräftig
wächst. Ich komme gleich zu den Zahlen. Die anderen
Kritikpunkte sind kaum sachliche Kritikpunkte, sondern
beziehen sich nur auf Formalitäten. Ich will zu drei Kritikpunkten kurz Stellung nehmen:
Für den Globalen Fonds, GFATM - er wurde mehrfach erwähnt -, stehe kein Geld zur Verfügung. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben dafür einen Haushaltstitel.
Er ist zwar mit einem Strichansatz versehen, wörtlich
heißt es aber: Mehrausgaben dürfen bis zur Höhe von
200 Millionen Euro der Einsparungen bei folgendem Titel geleistet werden … - Dort steht also Geld zur Verfügung.
({2})
Ich halte hier ein deutliches Signal für wichtig: dass
wir eine ordentliche Arbeit des Globalen Fonds erwarten
und dass wir erst bereit sind, zu zahlen, wenn die Korruptionsvorwürfe aus dem Weg geräumt sind.
({3})
Der Bericht wird meines Wissens frühestens nächste
Woche vorgelegt. Ich will erst einmal sehen, was darin
steht. Die Behauptung, für diese Zahlung sei keine Vorsorge getroffen worden, ist abwegig.
Kollege Klein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Uwe Kekeritz?
Ja, gerne.
Herr Kollege Klein, die Diskussion um die Korruptionsvorwürfe gegen den Global Fund ist jetzt bestimmt
ein halbes Jahr alt. Sie sind nie von offizieller Seite erhoben worden. Sie sind hier von Ihnen in die Runde geworfen worden. Niemand wirft dem Global Fund ernsthaft
Korruption vor. Stattgefunden hat die Korruption in den
jeweiligen Ländern. Irgendwelche Partner dort hatten die
Geschehnisse nicht unter Kontrolle. Warum geben Sie es
nicht endlich auf, diesen falschen Vorwurf aufrechtzuerhalten? Was Sie machen, ist in diesem Fall einfach unanständig.
({0})
Sie sprechen davon, dass hier 200 Millionen Euro zur
Verfügung stehen. Wenn das so ist, dann sorgen Sie doch
bitte dafür, dass im Haushalt 200 Millionen Euro veranschlagt sind. Dann ist das Ganze klar, ehrlich, transparent und offen. Im Haushalt nichts zu veranschlagen und
die entsprechende Stelle mit einem komischen Kommentar zu versehen, ist keine haushaltspolitische Maßnahme.
({1})
Erstens. Es ist für den deutschen Steuerzahler, dessen
Interessen ich vertrete, relativ egal, auf welcher Ebene
möglicherweise Geld verloren geht, ob an zentraler
Stelle oder vor Ort in den Ländern.
({0})
Zweitens. Sie können das nicht so genau wissen. Sie
haben gesagt: Da steht irgendwo etwas. Es geht aber um
einen Haushaltsvermerk - das ist nach dem deutschen
Haushaltsrecht etwas Belastbares -, und genau da ist der
Betrag vorgesehen, über den hier diskutiert wird.
Ich bleibe bei meinem Hinweis: Hier wird ein Thema,
das eigentlich nur eine Formalität ist, herangezogen, um
Kritik zu üben.
({1})
Stichwort „Somalia“: Der Kollege Binding hat eben
zu Recht an Folgendes erinnert: Früher, als die DDRGrenze entlang des Ufers der Spree direkt hinter dem
Reichstagsgebäude verlief, musste für Rettungsbemühungen erst die Zustimmung der Grenzschützer aus dem
Osten eingeholt werden. Leider ist es in Somalia so ähnlich: Man behindert die Helfer. Das ändert aber nichts an
der Tatsache, dass, auch haushalterisch, Erhebliches für
die Hilfe in Somalia und am Horn von Afrika vorgesehen ist - ich finde, zu Recht nicht mit einer separaten
Haushaltsposition.
Kollege Klein, es gibt weiteres Interesse an einer
Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Wieczorek-Zeul.
({0})
- Ach so, Entschuldigung. Das war dann ein Missverständnis.
({1})
- Gut. Dann haben wir das jetzt geklärt.
Die Kollegin Wieczorek-Zeul hat das Wort zu einer
Zwischenbemerkung.
Herr Klein, ich selbst habe damals diesen Globalen
Fonds - am Anfang stand eine Initiative von Kofi Annan mit in Gang gesetzt. Wir haben die Mittel dafür zugesagt. Übrigens hat in Heiligendamm auch die Bundeskanzlerin ihre Zusage gegeben. Dieser Globale Fonds
hat, seitdem er besteht, etwa 7 Millionen Menschenleben
gerettet. Ich muss sagen: Der dauernde Versuch, den
Globalen Fonds mit Korruption in Verbindung zu bringen - seine Betreiber selber haben diese Vorwürfe aufgegriffen und verfolgt -, ist inakzeptabel und unanständig.
Im Übrigen: Wenn man jetzt bilaterale Kleinprojekte
durchführt, um die Aidsbekämpfung voranzutreiben, wie
Sie es vorschlagen, dann geht genau da etwas verloren,
wo es gebraucht wird, nämlich bei der anständigen Koordinierung vor Ort über den Globalen Fonds. Dort werden Medikamente zur Verfügung gestellt; dort findet
Beratung statt. Das ist sinnvoller, als Einzelprojekte
durchzuführen.
Eine solche Strategie ist nicht, wie Sie es jetzt sagen,
eine formale Sache, sondern das bedeutet, dass Tausende
von Menschenleben riskiert werden, und das dürfen wir
nicht zulassen.
({0})
Diese Bemerkung ist in der Sache falsch,
({0})
weil die Würdigung der guten Arbeit des Globalen
Fonds dazu geführt hat, dass überhaupt ein solcher
Haushaltsposten im Haushalt drinsteht.
Ich habe eben versucht, deutlich zu machen, dass
dann, wenn die Vorwürfe aus dem Weg geräumt sind,
diese Zahlungen selbstverständlich möglich sind. Auf
der anderen Seite halte ich es im Interesse unserer Steuerzahler für grundanständig, diese Fragen vorher zu klären und erst dann zu zahlen. Alles andere wäre unverantwortlich und nicht im Sinne unserer Steuerzahler.
({1})
Ich komme zurück zu dem zweiten Kritikpunkt. Für
Somalia steht nicht nur Erhebliches an Haushaltsmitteln
zur Verfügung. Der Titel „Not- und Übergangshilfe“ in
unserem Haushaltsplan ist ja gerade für jeweilige Fälle
da. Ich kann mich daran erinnern, dass in den zwei Jahren meiner Mitgliedschaft in diesem Hohen Hause auch
diskutiert wurde: Brauchen wir einen separaten Titel für
Haiti? Brauchen wir einen separaten Titel für Pakistan? Ich meine, dass es viel sinnvoller und auch langfristig
flexibler ist, wenn wir einen Titel „Not- und Übergangshilfe“ haben und im Übrigen Gelder - wie im Fall Somalia ja auch - aus Mitteln des Außenministeriums und aus
unseren erheblichen Beiträgen an Weltbank und Europäische Union bereitgestellt werden.
Bei dem dritten Punkt geht es vielleicht auch eher um
Formalien. Der Kollege Raabe hat darauf hingewiesen,
man könne doch eigentlich nicht die - gegenüber der
mittelfristigen Finanzplanung - riesigen Steigerungen
des Einzelplans 23 im Haushaltsplanentwurf als Grund
für Lob heranziehen. Da hat er ja recht. Deswegen ist es
viel sinnvoller zu vergleichen: Wie sind denn die tatsächlichen Ausgaben gewesen? Was hat denn im echten
Haushaltsplan in den jeweiligen Jahren gestanden? Denn
die mittelfristige Finanzplanung hat - wie wir alle wissen - ohnehin keine Verbindlichkeit. Dann stellen wir
fest: Man kann das - das ist eben schon gesagt worden am Amtsantritt der Bundeskanzlerin Angela Merkel festmachen. Seit jenem Jahr sind die Ausgaben im Einzelplan 23 stark gestiegen. Das ist vorher nicht der Fall gewesen.
({2})
Genauso wenig hilfreich ist es, jetzt die mittelfristige
Finanzplanung für 2013 zu nehmen und schon wieder
Besorgnis zu haben: Mensch, da könnte es ja einen Einbruch geben. - Wir reden über den Einzelplan 23 für das
Haushaltsjahr 2012. Dazu will ich noch einmal festhalten: Der Gesamthaushalt stagniert. Es gibt einen minimalen Aufwuchs. Beim Einzelplan 23 hingegen gibt es
einen Zuwachs von 1,8 Prozent. Klammer auf: Wenn
man, was man eigentlich könnte, die zusätzlichen Einnahmen und die Abführungen an den IWF berücksichtigt, dann betragen die Steigerungsraten sogar 4,3 Prozent und nicht nur 1,8 Prozent.
Das ist ein Ausweis für den Bedeutungszuwachs dieses Bereichs. In den beiden Jahren, die ich überblicken
kann, sieht es so aus - damit man die Zahlen wiederfinden kann -: Von 2010 auf 2012 steigt der Anteil des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt von 1,9 Prozent auf
2,1 Prozent. Das ist einfach die mathematische Folge der
erheblich größeren Steigerungsraten. Das ist der Ausweis dafür, dass uns Verantwortung über unsere Grenzen
hinaus einfach wichtig ist. Das ist ablesbar an unseren
Zahlen im Einzelplan 23.
Man könnte noch eine ganze Menge anderer Beispiele nennen, wo darüber hinaus - so etwa durch die
Steuerbegünstigung von Spenden in dem Bereich - weitere staatliche Gelder zur Unterstützung dieser Arbeit
ausgegeben werden.
Das alles unterstreicht, wie wichtig es für uns ist,
nicht nur an die Menschen bei uns, sondern auch an die
Menschen jenseits unserer Grenzen zu denken. Die philosophische Betrachtung des Altruismus, die der Kollege
Binding angestellt hat, kann ich nicht so ganz teilen;
denn wenn wir anderen helfen, ohne selber darunter zu
leiden, wenn wir vielleicht noch selbst etwas davon haben, dann tut das doch dem Wert unserer Hilfe keinen
Abbruch.
({3})
Insofern würde ich uns alle darum bitten, die Zeit der
Haushaltsberatungen in den nächsten Wochen zu nutzen,
gemeinsam darüber nachzudenken, wie man vielleicht
die Wirksamkeit des eingesetzten Steuergeldes noch
steigern kann. Da gibt es, glaube ich, noch ein paar Möglichkeiten, die in den zuständigen Ausschüssen beraten
werden können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Bevor ich der Kollegin Kopp das Wort zu einer Kurzintervention gebe, möchte ich vorsorglich darauf hinweisen, dass es natürlich möglich ist, in den Debatten
sowohl Zwischenfragen zu stellen als auch Zwischenbemerkungen zu machen. Nach unserer Geschäftsordnung
sind beide kurz und präzise zu halten. Gleichzeitig muss
es natürlich dem Redner möglich sein, zu antworten.
Dazu bleiben wir üblicherweise nach einer Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung wenigstens einen kleinen Moment stehen.
Da ich vorhin allerdings nicht wusste, welcher Natur
die Meldung war, habe ich dem Redner jetzt einfach ein
wenig mehr Redezeit eingeräumt, damit er auf die Zwischenbemerkung antworten konnte.
({0})
Ab morgen sollten wir es wieder in der alten Form machen. Kurzinterventionen werden dann nach dem Beitrag gehalten.
Kollegin Kopp, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich nehme Bezug
auf die Kurzintervention von Frau Kollegin WieczorekZeul zum Thema GFATM.
({0})
Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dass niemand hier seitens des Ministeriums oder auch der Redner den Global Fund selbst der Korruption bezichtigt
hat. Es ging vielmehr darum, dass man bei Stichproben
herausgefunden hat, dass es bezüglich Geldern, die in
bestimmten Ländern verausgabt werden, Korruptionsvorwürfe gibt. Diese muss man natürlich dringend aufklären.
Statt aber jetzt einfach aufzurechnen, wie viele Menschenleben gerettet und wie viele nicht gerettet wurden,
bitte ich Sie, zu bedenken, dass es auch nicht dazu beiträgt, dass Leben gerettet werden, wenn Gelder, die dafür bestimmt sind, nicht bei den Menschen ankommen.
Ihre Ausführungen waren wirklich polemisch. Ich finde,
wir sollten sachlich bleiben.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir als Ministerium alles tun, was wir tun können,
({1})
und ich als Abgeordnete alles tue, was ich tun kann, damit die Gelder dorthin gelangen, wohin sie gehören, und
den Menschen zugutekommen.
Den entsprechenden Bericht werden wir ja am
15. September bekommen. Als Abgeordnete sage ich
aber noch einmal ausdrücklich, dass es mir wichtig ist,
darauf hinzuweisen, dass wir dafür neue Instrumente
brauchen, und dass wir prüfen müssen, was falsch läuft.
Das ist im Sinne der Menschen, die betroffen sind.
({2})
Jetzt haben wir ein Problem, weil nach unserer Geschäftsordnung nun wiederum Frau Wieczorek-Zeul
nicht antworten kann, weil mir die Kurzintervention
während der Rede des Kollegen aus der Unionsfraktion
gemeldet worden ist und sie sich auf diese Rede hätte
beziehen müssen.
({0})
- Wir schließen das jetzt ab. Ich denke, darauf einigen
wir uns jetzt einfach. Kollegin Wieczorek-Zeul, Sie sind
ja in der Debatte zu Wort gekommen. Damit lösen wir
das Ganze auf.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
mir nicht vor.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 8. September
2011, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.