Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, habe ich
Ihnen einige Mitteilungen zu machen, zunächst zu Veränderungen im Ablauf der Tagesordnung für den heutigen Plenartag.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der von den Vereinten Nationen geführten
Friedensmission in Südsudan
- Drucksache 17/6449 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
({1})
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE
gemäß Anlage 5 Nummer 1 b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die dringlichen Fragen Nr. 1 und 2 auf Drucksache 17/6438
({2})
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
({4}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
- Drucksachen 17/5909, 17/6266 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Angelika Graf ({5})
Annette Groth
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Sören Bartol, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Vorrang für Verbraucherinteressen im Gentechnikrecht verankern
- Drucksache 17/6479 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa
- Drucksache 17/6480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grenzüberschreitende Bürgerrechte beim
Atomkraftwerksprojekt Temelín 3 und 4
- Drucksache 17/6481 -
b)Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({8})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Mobilität nachhaltig sichern - Elektro-
mobilität fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ute
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Nachhaltige Mobilität fördern - Elektro-
mobilität vorantreiben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Klimaschutz im Verkehr braucht wesent-
lich mehr als Elektroautos
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit grüner Elektromobilität das postfos-
sile Zeitalter im Verkehrssektor einleiten
- Drucksachen 17/3479, 17/3647, 17/2022,
17/1164, 17/6441 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Beckmeyer
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 295 zu Petitionen
- Drucksache 17/6469 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 296 zu Petitionen
- Drucksache 17/6470 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 297 zu Petitionen
- Drucksache 17/6471 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 298 zu Petitionen
- Drucksache 17/6472 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 299 zu Petitionen
- Drucksache 17/6473 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 300 zu Petitionen
- Drucksache 17/6474 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 301 zu Petitionen
- Drucksache 17/6475 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 302 zu Petitionen
- Drucksache 17/6476 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 303 zu Petitionen
- Drucksache 17/6477 -
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 304 zu Petitionen
- Drucksache 17/6478 ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Anhaltend positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt
ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck ({19}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im
Zivil- und Strafrecht
- Drucksache 17/5774 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({20})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K.
Friedhoff, Claudia Bögel, Dr. Erik Schweickert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wirtschaftsmacht Handwerk - Kein Wachstum in Deutschland ohne das Handwerk
- Drucksache 17/6457 ZP 9 - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({21}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der von den Vereinten Nationen geführten
Friedensmission im Südsudan
- Drucksachen 17/6449, 17/6511 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({22})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({23})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6512 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 12, 25 c und 53 h werden
abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des
Ablaufs.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 30. Juni 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit
und Soziales ({24}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur
Änderung steuerlicher Vorschriften ({25})
- Drucksache 17/6263 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({26})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen vorgeschlagenen Veränderungen
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
können wir das so handhaben.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola
Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik ({27})
- Drucksache 17/5451 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder,
Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr. h.c.
Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler, Dorothee Bär,
Birgitt Bender, Steffen Bilger, Elke Ferner, Ingrid
Fischbach, Dr. Maria Flachsbarth, Rudolf Henke,
Ansgar Heveling, Dr. Günter Krings, Markus
Kurth, Andrea Nahles, Wolfgang Nešković,
Dr. Stefan Ruppert, Ulla Schmidt ({28}) und
weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik
- Drucksache 17/5450 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz ({29}),
Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und
weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der
Präimplantationsdiagnostik ({30})
- Drucksache 17/5452 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({31})
- Drucksache 17/6400 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rolf Koschorrek
Dr. Marlies Volkmer
Harald Weinberg
Wir werden im Laufe dieses Tagesordnungspunktes
voraussichtlich mehrere namentliche Abstimmungen
durchführen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Die Zeit soll
im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der Unterzeichner der drei Anträge verteilt werden. Darüber hinaus möchte ich Ihnen vorschlagen, dass die Reden der
Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch im Rahmen dieses Gesamtzeitvolumens von drei Stunden nicht
berücksichtigt werden kann, in einem Umfang zu Protokoll gegeben werden können, der einer Redezeit von
Präsident Dr. Norbert Lammert
fünf Minuten entspricht. Darf ich auch dazu Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist offenkundig der Fall.
Da damit sichergestellt ist, dass jeder, der bei dieser
Debatte zu Wort kommen möchte, in jedem Falle mindestens schriftlich seine persönlichen Überlegungen und
Überzeugungen zu Protokoll bringen kann, entfällt nach
meinem Verständnis die Notwendigkeit persönlicher Erklärungen zur Abstimmung, die bei der geschilderten
Verfahrenslage eigentlich nicht mehr plausibel wären.
Können wir uns auch darauf verständigen? - Dann darf
ich mich dafür schon einmal sehr bedanken.
Nun gibt es, wie den allermeisten von Ihnen ja bestens vertraut ist, eine nicht einfache Verfahrenslage, die
sich aus dem Umstand ergibt, dass wir drei Gesetzentwürfe haben, über die im Gesetzgebungsverfahren üblicherweise der Reihe nach abgestimmt wird, und zwar
nach Maßgabe der guten Übung, dass über den weitestgehenden Antrag zuerst abgestimmt wird und dann im
Folgenden die anderen Anträge zur Abstimmung gelangen.
Es liegt in der Natur der Sache und nicht nur im ohnehin auch verständlichen Interesse der Antragsteller, dass
es über die Frage, was denn eigentlich der weitestgehende Gesetzentwurf sei, jedenfalls kein Einvernehmen
gibt. Ich stelle das ohne jeden kritischen Unterton fest
und habe deswegen darauf hingewiesen, dass ich das aus
der Sache heraus für absolut nachvollziehbar halte. Deswegen gibt es auch keinen gemeinsamen Verfahrensvorschlag der Antragsteller, was wiederum den Ältestenrat
veranlasst hat, sich mit der gebotenen Sorgfalt und
Gründlichkeit mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Wir sind im Ältestenrat nach einer langen und intensiven Befassung am Ende zu dem Vorschlag gekommen,
in Anlehnung an vergleichbare Verfahren, die wir bei
ähnlichen, aber auch bei anderen Themen in der Vergangenheit angewendet haben, über die drei Gesetzentwürfe
in einem Stimmzettelabstimmungsverfahren zu befinden, bei dem alle drei Anträge gleichzeitig zur Abstimmung stehen, natürlich verbunden mit der Möglichkeit,
keinem dieser Anträge zuzustimmen bzw. sich der
Stimme zu enthalten. Ein solches Verfahren ist möglich
und hier auch mehrfach angewendet worden, wenn wir
mit der notwendigen qualifizierten Mehrheit dafür stimmen, von der ansonsten hier üblichen Geschäftsordnung
abzuweichen.
Nun hat der Kollege Röspel aus wiederum, wie ich
finde, verständlichen Gründen den Geschäftsordnungsantrag gestellt, bei dem üblichen Verfahren zu bleiben
und über die Gesetzentwürfe in der Reihenfolge abzustimmen, die jedenfalls nach seinem Verständnis dem
Prinzip „zunächst weitestgehender Antrag, dann andere
Anträge“, entspricht.
Einvernehmen gibt es darüber, dass wir die Debatte
nicht mit einer Geschäftsordnungsdebatte eröffnen wollen, sondern dass wir nach dieser Erläuterung der denkbaren Verfahren über das Verfahren abstimmen, das
dann am Schluss der Debatte Anwendung findet, und
dass wir dann unverzüglich in die inhaltliche Diskussion
eintreten. Ich möchte mich bei allen Antragstellern bedanken, dass sie diesem Verfahren insoweit zugestimmt
haben.
Ich lasse deswegen, weil es die übliche Vorgehensweise bei Gesetzentwürfen ist, zunächst über den Geschäftsordnungsantrag abzustimmen, den der Kollege
Röspel auch im Namen anderer Antragsteller eingereicht
hat, nämlich die Gesetzentwürfe in folgender Reihenfolge zur Abstimmung zu stellen: zunächst den Gesetzentwurf der Antragsteller um die Kollegin Flach, dann
den Gesetzentwurf der Antragsteller um die Kollegin
Göring-Eckardt und schließlich den Antrag der Kolleginnen und Kollegen, die zusammen mit Herrn Röspel
einen Antrag eingebracht haben.
Über den Geschäftsordnungsantrag, in dieser Reihenfolge über die Gesetzentwürfe abstimmen zu lassen,
lasse ich nun zuerst befinden. Würde dieser Antrag eine
Mehrheit finden, würden wir so verfahren. Findet dieser
Vorschlag keine Mehrheit, lasse ich über den Vorschlag
befinden, den Ihnen der Ältestenrat gemacht hat. Einverständnis? - Dann stelle ich jetzt den Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Röspel zur Abstimmung. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um sein
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich
enthalten? - Das Zweite war eindeutig die Mehrheit. Damit ist dieser Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
Nachdem sich damit das Plenum jedenfalls insoweit
festgelegt hat, möchte ich Ihnen empfehlen, dass wir uns
dem Vorschlag des Ältestenrates anschließen, in Abweichung von der Geschäftsordnung im Wege eines Stimmzettelverfahrens über die drei Gesetzentwürfe abzustimmen. Ich mache noch einmal ausdrücklich darauf
aufmerksam, dass dies ein Verfahren ist, das die Abweichung von der Geschäftsordnung zur Voraussetzung hat.
Darüber sollte möglichst Einvernehmen bestehen. Darf
ich dieses Einvernehmen hiermit feststellen? - Das ist
der Fall. Dann haben wir uns so darauf verständigt.
Es gibt weitere Hinweise zum Abstimmungsverfahren im Anschluss an die Aussprache, aber ich mache
schon jetzt darauf aufmerksam, dass auch nach diesem
Verfahren, auf das wir uns jetzt verständigt haben, keineswegs ein Gesetzentwurf am Ende automatisch wegen
relativer Mehrheit Gesetzeskraft bekommt, sondern dass
wir vermutlich in mehreren Abstimmungsgängen am
Ende über einen Gesetzentwurf werden abstimmen müssen und können, der die relativ größte Zustimmung hier
im Deutschen Bundestag erhalten hat, der aber nur dann
Gesetzeskraft bekommt, wenn er in der Schlussabstimmung mehr Ja- als Neinstimmen erhält, sodass insofern
auch bei diesem Verfahren der Ausgang bis zu dieser
Schlussabstimmung offen bleibt, nur um an dieser Stelle
mögliche gegenteilige Spekulationen von vornherein
vermeiden zu helfen. - Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese nicht ganz einfache
Frage mit großem Einvernehmen haben regeln können.
Ich eröffne nun die Aussprache und erteile das Wort
zunächst der Kollegin Ulrike Flach.
({32})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
letzten halben Jahr hat es eine intensive und von gegenseitigem Respekt geprägte Debatte über die PID gegeben. Drei Gruppen aus allen Fraktionen haben mit Leidenschaft und mit Sachlichkeit um die Unterstützung der
Abgeordneten geworben. Anhörungen haben stattgefunden, Experten haben sich geäußert, die Medien haben die
Debatte verantwortungsbewusst begleitet. Niemand
- das will ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen - hat es
sich leicht gemacht. Das ist der Bedeutung dieser Entscheidung absolut angemessen.
Unsere Gruppe, die derzeit rund 220 Abgeordnete
zählt, fühlt sich durch das Votum der Akademien der
Wissenschaften, durch die Mehrheitsempfehlung des
Deutschen Ethikrates, durch das Memorandum der Bundesärztekammer und durch viele Zuschriften von Paaren
in schweren Konflikten bestätigt. Wir haben die Ergebnisse der Anhörung in einige Änderungsanträge umgesetzt, wir haben Definitionen geschärft und den Entwurf
rechtssicher gemacht.
Wir legen Ihnen unseren Entwurf für eine begrenzte
Zulassung der PID ans Herz, weil wir glauben, damit
Menschen mit schwerwiegenden Erberkrankungen oder
der Gefahr einer Tot- oder Fehlgeburt die Entscheidung
für ein Kind erleichtern zu können. Die Zulassung der
PID wäre kein Dammbruch; denn es geht um wenige
Hundert Fälle im Jahr. Sie würde Deutschland an die
Seite unserer europäischen Nachbarn führen, die zum
Teil seit Jahrzehnten verantwortungsvoll mit der PID
umgehen.
Die Zulassung der PID wäre verfassungskonform.
Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 6. Juli
2010 ganz deutlich gemacht, dass die PID denselben
Zweck verfolgt wie die in § 218 a geregelte Indikation
zum Schwangerschaftsabbruch. Ein Abbruch ist dann
nicht rechtswidrig, wenn er dazu dient, eine Gefahr für
das Leben oder die Beeinträchtigung der körperlichen
und seelischen Gesundheit der Schwangeren jetzt oder in
Zukunft abzuwenden.
Eine schwere Erberkrankung des Embryos, die mit
PID frühzeitig erkennbar wäre, kann ohne die PID unerkannt zu einer Abtreibung führen - mit massiver psychischer und physischer Belastung. Ein Gesetzgeber, der
eine Frau zwingt, zur Abwendung einer schweren Erbkrankheit oder aber zu einer Fehl- oder Totgeburt in eine
Abtreibung hineinzugehen - also eine weitaus gefährlichere Maßnahme, die sie dann erdulden muss, als es notwendig wäre, wenn wir die PID hätten -, wird deshalb
vor dem Verfassungsgericht scheitern.
({0})
Wenn wir die PID in engen Grenzen zulassen, bedeutet das Wissens- und Entscheidungsfreiheit für Frauen in
Notsituationen. Wir sehen keinen automatischen Anspruch auf eine PID vor, und es gibt eine ganz individuelle Entscheidung der Ethikkommission, die sich nicht
an festen Krankheitsbildern orientieren wird, sondern im
Einzelfall auch an unterschiedlichen Verlaufsformen von
Krankheiten und Chancen auf Behandelbarkeit.
Die moderne Medizin macht vieles möglich. Deshalb
ist unser Gesetzentwurf keine schiefe Einbahnstraße,
sondern ein Weg, der Anpassungen an medizinische Entwicklungen jederzeit möglich macht. Wer aber auf die
Möglichkeit frühen Wissens um Krankheiten verzichtet,
wer dieses Wissen sogar verbieten will, der setzt Frauen
und Familien einem schweren, schweren Konflikt aus,
den wir, die etwa 220 Kollegen, die diesen Antrag unterstützen, für nicht hinnehmbar halten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich zitiere die Vorsitzende der Ethik-AG des Deutschen Ärztinnenbundes:
Als Ärztinnen sehen wir uns den Frauen … verpflichtet, die ein leidvolles Schicksal haben: … die
aufgrund von Chromosomentranslokationen immer
wieder Fehlgeburten erlitten haben, die schwerstkranke Kinder pflegen oder ihre Kinder sterben sehen mussten, die sich bei weiteren Schwangerschaften bei auffälliger Pränataldiagnostik für
Schwangerschaftsabbrüche entschieden haben.
Diese Eltern wünschen sich sehnlichst ein gesundes
Kind. Sie verstehen nicht, warum sie in Deutschland keine Hilfe bekommen können.
Liebe Kollegen, für genau diese Eltern wollen wir die
PID mit unserem Gesetzentwurf ermöglichen. Wir können eine Chance eröffnen. Bitte gehen Sie mit uns heute
diesen gemeinsamen Weg.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller.
({0})
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Frau Kollegin Flach, Sie erwecken zumindest
den Eindruck, als würden wir die berechtigten Sorgen
betroffener Paare nicht ernst genug nehmen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir nehmen sie nicht nur sehr ernst; wir
nehmen auch gleichzeitig die gesamtgesellschaftlichen
Auswirkungen dieser Regelung sehr ernst.
({0})
Ich darf Johannes Rau zitieren, der einst gesagt hat:
Noch so verständliche Wünsche und Sehnsüchte
sind keine Rechte. Es gibt kein Recht auf Kinder.
Aber es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder auf liebende Eltern - und vor allem das Recht darauf, um
ihrer selbst willen auf die Welt zu kommen und geliebt zu werden.
({1})
Meine sehr geehrte Damen und Herren, wir diskutieren heute über eine Grundsatzentscheidung, die das Wertegefüge unserer Gesellschaft nachhaltig verändern
kann. Es geht um die Frage, ob ein elementares Menschenrecht, das Recht auf Leben, zur Disposition gestellt
werden soll. Es geht aber auch darum, den staatlichen
Schutzauftrag gegen die Diskriminierung von Menschen
mit Behinderungen infrage zu stellen. Ich bin der Auffassung: Wenn wir die PID genehmigen, dann werden
wir dies so einleiten.
Ein menschlicher Embryo entwickelt sich von Anfang an als Mensch, nicht zum Menschen. Deshalb bitte
ich, folgende Gründe zu bedenken:
Erstens. PID bedeutet Selektion. Unter den künstlich
hergestellten Embryonen werden die einen ausgewählt
und die anderen verworfen. Es wäre quasi eine Zeugung
auf Probe.
Zweitens. PID ist praktisch nicht eingrenzbar. Ich
sehe keine überzeugenden Vorschläge, um den Einsatz
der umstrittenen PID zu begrenzen. Eine begrenzte Zulassung ist weder an klaren Indikationen festzumachen,
noch wird sie durchzuhalten sein. Sind es Erbkrankheiten, die unweigerlich zum Tode führen, und das in der
frühen Kindheit, dann frage ich: welche? Sind es unter
Umständen spätmanifestierende Krankheiten, stellt sich
ebenfalls die Frage: welche? Oder sind es Krankheiten,
von denen wir wissen, dass Menschen trotz Vorliegen
dieser Krankheit ein glückliches, erfülltes und oft auch
sehr erfolgreiches Leben führen können? Hat es Auswirkungen auf Träger dieser Krankheiten, wenn wir sagen:
„Wir wollen nicht, dass Kinder geboren werden, die
diese Krankheiten haben“?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, würden wir in diesem Hause heute Auswahlkriterien formulieren, dann
benennen wir Grenzen zwischen lebenswert und nicht
lebenswert.
({2})
Im Übrigen gibt es ein bisschen PID genauso wenig wie
ein bisschen schwanger.
Drittens. Die Legalisierung von PID würde viele auf
den Irrweg führen, ein planbares gesundes Leben zum
Maßstab und Vorbild eines erfüllten Lebens zu machen,
statt das Leben in seiner individuellen Vielfalt mit all
seinem Auf und Ab anzunehmen. Ich möchte in keiner
Gesellschaft leben, in der sich Eltern entschuldigen müssen, wenn sie kein sogenanntes Musterbaby vorweisen
können.
({3})
Wir sind vielmehr aufgefordert, gemeinsam alles zu unternehmen, um Menschen mit Beeinträchtigungen eine
Teilhabe zu ermöglichen.
({4})
Viertens. Gerade als Patientenbeauftragter habe ich
jeden Tag mit Menschen zu tun, die selbst oder deren
Kinder sehr krank sind oder eine schwere Behinderung
haben. Aber glauben Sie mir bitte: Nie in meinem Leben
habe ich zufriedenere Menschen kennenlernen dürfen,
die fest im Leben stehen - nicht trotz der besonderen Herausforderung, sondern gerade deswegen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, genau diese
Menschen sitzen jetzt zu Hause vor ihren Fernsehern,
hören und sehen uns zu, weil wir über sie und das Lebensrecht ihrer potenziellen Kinder reden. Diese Menschen haben die Erwartung an uns, dass wir die richtige
Entscheidung fällen - für sie und nicht gegen sie.
({5})
Aus diesen Gründen bitte ich Sie: Stimmen Sie einem
PID-Verbot zu!
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben uns jetzt viele Wochen, Monate oder,
wie einige von uns, schon Jahre damit auseinandergesetzt, ob oder wie es möglich ist, für die Präimplantationsdiagnostik Grenzen zu setzen. Die unterschiedlichen Gesetzentwürfe, die uns heute vorliegen, geben
unterschiedliche Antworten darauf.
Der Gesetzentwurf, der ein Präimplantationsdiagnostikverbot vorsieht, zieht eigentlich keine Grenzen. Eine
Grenze verläuft immer zwischen zwei Positionen. Mit
dem kategorischen Verbot der Präimplantationsdiagnostik allerdings grenzt dieser Entwurf aus. Vor diesem Verbot werden die Menschen stehen, die Paare, die sich
sehnlich wünschen, Eltern zu werden, die aber vielleicht
schon mehrere Tot- oder Fehlgeburten erlitten haben und
die, wenn sie Eltern werden wollen, dieses Risiko wieder
kalkulieren müssen. Der PID-Verbotsentwurf versucht,
Leben zu schützen, das nicht geschützt werden kann aber das zulasten von Frauen und Eltern. Deswegen ist
das an dieser Stelle für mich kein richtiger Weg.
({0})
Auf der anderen Seite steht der Entwurf derer, die die
Präimplantationsdiagnostik weitgehend freigeben wollen, Frau Flach. Er wird häufig als ein Weg der beschränkten Zulassung beschrieben. Ich glaube, man
muss sich genauer anschauen, wo dort Grenzen gezogen
werden. Es gibt in diesem Entwurf zwei Fälle, für die die
Präimplantationsdiagnostik zugelassen werden soll.
Der erste Fall ist der, in dem die Eltern eine Erbkrankheit, eine Veranlagung in sich tragen, die dazu führen
kann, dass die Nachkommen eine schwerwiegende Erkrankung aufweisen. Das Kriterium für die Grenzziehung in diesem Fall ist die schwerwiegende Erbkrankheit. Aber was ist das? Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sie schaffen es nicht einmal, in Ihrem Entwurf zu definieren, was eine schwerwiegende Erbkrankheit ist. Das
heißt, Sie sind nicht in der Lage, die Grenze aufzuzeigen.
In dem zweiten Fall, der nach dem Flach-Entwurf zulässig sein soll, gibt es überhaupt keine Grenze. Der Entwurf sieht nämlich vor, dass Präimplantationsdiagnostik
zugelassen ist, um festzustellen, ob ein Embryo das Risiko einer Fehl- oder Totgeburt in sich trägt, und zwar
ohne die Vorbedingung, dass die Eltern eine Erbkrankheit haben oder eine solche bei ihnen diagnostiziert ist.
Die meisten von Ihnen mögen kein Screening zulassen
wollen, aber Sie machen es in diesem Fall.
({1})
Mit diesem Passus wird es künftig bei jeder künstlichen
Befruchtung möglich sein, eine Präimplantationsdiagnostik durchführen zu lassen, wenn sie denn dazu dient,
feststellen zu lassen, ob für den Embryo eine Wahrscheinlichkeit für eine Schädigung mit der Folge einer
Tot- oder Fehlgeburt besteht. Das ist keine Grenzziehung; das ist eine sehr weite Öffnung, die ich nicht mittragen kann.
({2})
Zieht der dritte Entwurf, der Entwurf von Röspel,
Meinhardt, Hinz, Lammert und anderen, Grenzen? Nein,
wir ziehen keine Grenzen. Aber wir verwenden eine
Grenze, die bereits existiert und die unabänderlich, unwiderruflich in dem Embryo, um den es geht, angelegt
ist. Der Embryo ist nicht mehr zu schützen, weil seine
Entwicklungsfähigkeit nicht gegeben ist: Das ist diese
starke Grenze, die wir nicht beeinflussen können, die wir
aber mit unserem Entwurf ziehen wollen.
Das Leben des Embryos kann nicht mehr geschützt
werden. Wenn das aber so ist, dann ist es umso mehr folgerichtig, dass das Leben der Frau geschützt wird. In
diesen Fällen, und nur in diesen Fällen, schlagen wir vor,
dass Präimplantationsdiagnostik zulässig ist, um nämlich einer Frau eine Tot- oder Fehlgeburt nicht zumuten
zu müssen.
({3})
Die Grenze, die wir festlegen, ist längst im Embryo angelegt, bevor die Untersuchungen der PID beginnen.
Ein Kompromiss oder ein Konsens kann ein ethischer
Wert für sich sein. Das hat Professor Dabrock in der Debatte zur Stammzellforschung einmal gesagt. Ich glaube,
er hat damit recht. Mit unserem Entwurf haben wir eine
starke ethische Position und eine starke Grenze, die wir
nicht verändern und die wir nicht festlegen können. Wir
müssen aber beobachten, wie sie zu definieren ist. Das
wird mit moderner Medizin zu schaffen sein.
Wir wollen nicht, dass darüber entschieden wird, ob
ein Leben gelebt werden darf. Aber wir akzeptieren die
Tatsache, dass in einem Embryo die Entscheidung bereits getroffen ist, dass er nicht leben kann. Ich finde, das
ist der Konsens, der wahrscheinlich von vielen unter Ihnen in diesem Hause akzeptiert werden könnte. Ich will
ausdrücklich dafür werben, den Antrag von Röspel, Hinz
und anderen zu unterstützen, damit es einen starken
Konsens gibt.
Vielen Dank.
({4})
Peter Hintze ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Röspel vermisst in unserem Gesetzentwurf eine Definition über lebenswertes Leben. Er wird
lange suchen müssen, weil wir in unserem Gesetzentwurf davon ausgehen, dass jedes Leben - ob es kurz
oder lang ist, ob es gesund oder krank ist, ob es behindert oder frei von Behinderungen ist - gleich wertvoll
und mit unverletzlicher Würde ausgestattet ist.
({0})
Wer einmal Gelegenheit hatte, mit Eltern zu sprechen,
die eine schwere erbliche Vorbelastung als Verhängnis
über sich spürten, der weiß um den tiefen Ernst ihrer Entscheidung, der weiß, dass sie ihre Kinder lieben und dass
sie unter dem Gedanken leiden, dass sie ein ganz schlimmes Los auf ihr Kind übertragen könnten. Die Art und
Weise, wie wir ihnen mit Angstworten begegnen - von
Dammbruch bis zum Designerbaby - macht diese Eltern
fassungslos. Damit schießen wir meilenweit an der Lebenswirklichkeit und an ihrer Gewissenssituation vorbei.
({1})
Die Frage an den freiheitlichen Rechtsstaat - wir
müssen heute als Gesetzgeber entscheiden - lautet: Wie
gehen wir mit Menschen in einer solch schweren Notlage um, die sich für PID entscheiden? Unterwerfen wir
sie per Strafrecht einer rigiden Moral, oder nehmen wir
sie als selbstbestimmte, verantwortlich handelnde Menschen wahr, die ihren Kindern schwerste Belastungen ersparen wollen? Was sagen wir einer Frau, die erleben
musste, wie ihr erstes Kind blind, taub und starr wird
und dann in ihren Armen qualvoll erstickt? Diese Frau
hat jetzt Angst davor, dass sie das noch einmal miterleben muss. Sollen wir ihr sagen: „Das ist dein Schicksal;
das hast du anzunehmen; da steht das Strafrecht vor“,
oder sind wir nicht zur Hilfe aufgefordert? Der Kollege
Zöller hat eben gesagt, wir müssen nach den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen fragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Ärzteschaft hat an uns
mit überwältigender Mehrheit appelliert, in diesem Fall
zu sagen: Ja, hier sind wir zur Hilfe aufgefordert.
({2})
Ich finde auch das Schicksalsverständnis derjenigen,
die für ein Totalverbot sind, schwer nachvollziehbar. Zivilisation bedeutet Emanzipation von der Natur. Wenn
uns eine schwere Krankheit überkommt, dann versuchen
wir doch auch, durch Operation oder medizinische Hilfe
zu helfen, uns aus den Zwängen der Natur zu befreien.
Das ist die Vernunft, die uns Gott gegeben hat und die
wir mithilfe der Medizin nutzen. Dass das sehr verantwortungsvoll geschieht, beweist doch die Medizingeschichte. Schauen wir nach Skandinavien. Dort gibt es
seit zwei Jahrzehnten die PID, und der Umgang mit Behinderten dort ist sehr achtungsvoll, und ihre Inklusion,
ihre Integration, ihre Annahme, hat zugenommen. Ich
finde, es ist einer der schlimmsten und gefährlichsten
Vorwürfe in der Debatte, zu behaupten,
({3})
die Menschen, die sich dafür einsetzen, die PID für diese
Notlagen zuzulassen, teilten nicht die Achtung, die Sensibilität, das Gefühl und den Wert für die behinderten
Menschen um uns gleichermaßen.
({4})
Es wird viel über Maßstäbe gesprochen. Ja, ich finde
es wichtig, dass wir uns an den grundlegenden Verfassungs- und Moralprinzipien orientieren. Meine Sorge ist,
dass wir diese Maßstäbe verlieren, wenn wir eine befruchtete Eizelle - in der Tat der biologische Beginn des
menschlichen Lebens - in der Petrischale höher gewichten als eine Frau in einer schweren Konfliktsituation.
Die Menschen können von uns als Gesetzgeber erwarten, dass unsere Rechtsordnung stimmig bleibt. Unsere
Rechtsordnung erlaubt die Verwendung von Mitteln, die
dazu führen, dass hunderttausendfach befruchtete Eizellen abgehen, sie erlaubt die Pille danach, sie erlaubt die
Untersuchung des Embryos im Mutterleib und eine Abtreibung bis zur Geburt, wenn die Gesundheit der Mutter
in Gefahr ist.
Das alles können wir ja moralisch verwerfen, aber in
einem Staat, in dem das zugelassen ist, in dem unter diesen Voraussetzungen die Abtreibung zugelassen ist, die
Vermeidung von Abtreibung zu verbieten, fände ich
rechtlich unhaltbar und moralisch verwerflich.
({5})
Viele Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen wehren sich entschieden dagegen, moralisch in Anspruch genommen zu werden gegen Menschen, die sich
in einer solchen Notlage befinden, wie das in der Diskussion leider häufig passiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht eine Ethik der
Strafe, sondern eine Ethik des Helfens macht unsere Gesellschaft menschlicher. Deswegen bitte ich Sie um Unterstützung für unseren Gesetzentwurf.
({6})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dorothee Bär.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass jeder von uns, der sich mit diesem Thema
über viele Wochen und Monate beschäftigt hat, auch in
der Argumentation der anderen durchaus Nachdenkenswertes gefunden hat. Nach Abwägung alIer Argumente,
die ich in Gesprächen mit Ärzten, Betroffenen und anderen gehört und die ich gelesen habe, muss ich sagen,
dass für mich nur ein ganz klares Nein zur PID möglich
ist. Warum?
Ohne Zweifel geht es hier um das große Leid der Betroffenen. Dennoch müssen wir uns auch die Frage stellen, wer für die ungeborenen Kinder spricht. Während
meiner zweiten Schwangerschaft habe ich mir besonders
oft Gedanken darüber gemacht, ob alles gut geht. All
diejenigen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, wissen, dass man in dieser Zeit besonders sensibel ist, sich
viele Gedanken macht und wohlmeinende Ratschläge erhält. Oft sind es nur Kleinigkeiten, und es ist gar nicht
böse gemeint. Ich will Ihnen ein Bespiel nennen. Wenn
man schon eine Tochter hat, wird einem von manchem
gesagt: Hoffentlich wird es jetzt ein Sohn. - Wenn es
wieder eine Tochter ist, sagen einem Wohlmeinende:
Vielleicht klappt es dann beim nächsten Mal. - Das mag
ja alles ganz nett und witzig gemeint sein, ist es aber gerade für werdende Mütter nicht.
Das ist jetzt nur das Oberflächliche, über das man noch
hinwegschauen kann. Viel schlimmer wird es dann natürlich, wenn es tiefer geht, wenn gefragt wird: Hast du denn
im Vorfeld alles Menschenmögliche getan, um ein gesundes Baby auf die Welt zu bringen? Es lastet ein ganz besonderer Druck auf den Schwangeren. Ich möchte nicht,
dass wir als Gesetzgeber suggerieren, dass wir jeder Frau
bzw. jedem Paar qua Gesetz das Recht auf ein gesundes
Kind ermöglichen können. Das können wir nicht. Wir
sind nicht Gott. Bei uns leben 1,5 Millionen Menschen
mit schweren Behinderungen, nur rund 10 Prozent der
Behinderungen sind genetisch bedingt. Wir können Behinderungen also nicht ausschließen.
Ich möchte noch eine persönliche Geschichte erzählen: Zum Ende meiner ersten Schwangerschaft vor fünf
Jahren wurde ich immer nervöser. Am Tag X wollte ich
meiner Hebamme das Versprechen abringen, dass alles
gut gehen wird. Ich wollte das einfach vorher noch einmal hören. Ich habe erwartet, dass sie sagt, es werde alles gut. Sie sagte dann aber: Das kann ich dir jetzt nicht
versprechen. Ein bisschen Gottvertrauen gehört auch
noch dazu. - Selbst wenn eine Schwangerschaft sozusagen perfekt verläuft und die Schwangere regelmäßig untersucht wurde, können wir nicht garantieren, dass es
während der Entbindung nicht doch noch zu Schäden
kommt. Das ist für mich ein Argument, zu sagen: Wir
haben es nicht zu 100 Prozent in der Hand.
Die Beurteilung, was lebenswertes Leben überhaupt
ausmacht, beinhaltet auch die Entscheidung darüber,
welche Behinderung noch angemessen ist und welcher
Embryo nicht aussortiert werden muss. Daher ist es nicht
unredlich, von Dammbruch zu reden. Wenn Sie mit Ärzten unter vier Augen sprechen, dann sagen diese Ihnen,
dass alles, was medizinisch möglich ist, selbstverständlich irgendwann einmal als medizinisch notwendig eingestuft werden wird. Das ist einer der Punkte, die mir
Angst machen. Auch eine Ethikkommission wird nicht
umhinkommen, sich auf einen ganz bestimmten Katalog
zu verständigen. Einen anderen Weg wird die Kommission nicht gehen können.
Frauen ab 30 Jahren, die zur sogenannten Risikogruppe zählen, stehen unter Druck. So müssen sie sich
zum Beispiel rechtfertigen, warum sie keine Fruchtwasseruntersuchung haben durchführen lassen. Es ist alltäglich, dass zu diesen Frauen gesagt wird: Wir haben die
Risiken schon minimieren können. Es geht jetzt nur
noch bei circa 1 Prozent der Fälle schief. Es muss daher
doch eigentlich jeder Frau wert sein, eine solche Fruchtwasseruntersuchung durchführen zu lassen. - So fängt es
an. Peu à peu wird sich die Situation dann dahin gehend
ändern, dass zum Beispiel die Fruchtwasseruntersuchung nicht mehr nur eine Möglichkeit ist, sondern zur
Notwendigkeit wird.
Wer sagt, dass heute unheilbare Krankheiten im Jahr
2021 oder im Jahr 2031 immer noch unheilbar sind? Es
muss diesbezüglich noch mehr Forschung betrieben werden. Denn wir wollen Krankheiten heilen. Wir wollen
nicht vorher aussortieren. Wir sagen, dass es sich in jedem Fall um ein lebenswertes Leben handeln wird.
Ein letzter Satz: Wir glauben, in einem Land zu leben,
in dem alles planbar ist. Wir leben in einem Land, in
dem das Prinzip Baukasten eigentlich ein gutes Geschäftsmodell ist. Wir haben die individualisierte Küche,
das auf das persönliche Bedürfnis zugeschnittene Auto
und die Kleidung nach Maß. Ich appelliere an Sie, gegen
die PID zu stimmen und einfach zu akzeptieren, dass
nicht alles in unserer Macht steht.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Die Entscheidung, die jede Kollegin und jeder
Kollege hier heute für sich treffen muss, ist weiß Gott
keine leichte. Es gilt, eine Entscheidung zu treffen, bei
der man sich selbst immer wieder vergewissern muss,
dass man die moralischen Maßstäbe, die einem wichtig
sind, nicht verletzt. Es gilt außerdem, eine Entscheidung
zu treffen, die die rechtlichen und ethischen Grundlagen
unserer Gesellschaft nicht infrage stellt.
Ich möchte an dieser Stelle bekennen, dass es mir
sehr, sehr lange nicht leichtgefallen ist, eine eindeutige
Antwort auf die Frage der PID zu geben. Gerade deshalb
möchte ich Ihnen kurz einige der Beweggründe für
meine Entscheidung skizzieren.
Als überzeugter Christ sehe ich mich in der Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Leben, gegenüber
den Eltern, gegenüber den Frauen, die Sehnsucht nach
einem gesunden Kind haben und die leiden. Wir alle haben zahlreiche Anschreiben von betroffenen Eltern erhalten, in denen sie uns die großen Belastungen schildern, die mit einer künstlichen Befruchtung einhergehen.
Deswegen ist es Aufgabe dieses Hohen Hauses, eine
Brücke zu bauen zwischen einer Ethik des Lebens und
einer Ethik des Helfens. Beides gehört zusammen, und
beides muss heute Gegenstand unserer Beratungen sein.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die zutiefst
menschliche Komponente in unserem Antrag ist der
Umgang mit der Situation, wenn eine Frau vor dem Dilemma steht, sich einen Embryo einpflanzen zu lassen,
dessen Entwicklung möglicherweise mit einer Totgeburt
endet. Bei dieser Frage geht es nicht um Selektion oder
um den Lebenswert, sondern es geht um Lebensfähigkeit. Diese Frage nach Lebensfähigkeit muss dieses
Hohe Haus hier und heute beantworten.
Nicht zuletzt waren für mich in der gesamten Debatte
auch die Einschätzungen von wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Einrichtungen und Gremien
von großem Wert. Die Stellungnahmen der Leopoldina,
des Deutschen Ethikrates und des Rates der EKD haben
mich darin bestätigt, dass es ethisch vertretbar ist, die
PID unter strengsten Auflagen zuzulassen.
Unsere Gruppe hat sich sehr intensiv mit den Anhörungen beschäftigt und mit den Stellungnahmen, die im
Laufe des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens abgegeben wurden. In den Beratungen haben wir deshalb einen
Nachbesserungsbedarf erkannt und im Zuge dessen den
entsprechenden Passus im Hinblick auf die Befristung
geändert. In meinen Augen ist diese wichtige Konkretisierung unseres Antrags eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung für unser späteres Votum.
Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche
in Deutschland, Nikolaus Schneider, hat gestern noch
einmal in einer deutlichen Stellungnahme betont:
Die PID ist keine Selektion, wenn es darum geht,
Embryonen zu identifizieren, die überhaupt lebensfähig sind.
Er sagt weiter:
Ich möchte keine Haltung einnehmen, die von
Misstrauen gegenüber Medizinern und Eltern geprägt ist. Wir haben allen Grund, ihnen Vertrauen
entgegenzubringen.
Recht hat der EKD-Ratsvorsitzende.
({1})
Eltern, die eine künstliche Befruchtung durchführen
lassen, wollen ein Kind. Ärzte, die diese künstliche Befruchtung durchführen, sind weit davon entfernt, gewissenlose Wissenschaftler zu sein, die dem Wunsch hinterherrennen, Designerbabys zu erzeugen. Nein, ich bin
überzeugt, dass die Menschen in unserem Land verantwortungsbewusst mit der Möglichkeit einer PID unter
strengsten - und zwar unter allerstrengsten - Auflagen
umgehen werden.
Wir haben die Chance, mit einer derartigen Zulassung
vor allem den Müttern viel Leid zu ersparen, die Sehnsucht nach einem gesunden Kind haben, ohne dass wir
dabei rechtliche oder ethische Tabus brechen.
Lassen Sie uns diese Chance nutzen. Unser Antrag
- der Antrag der Kollegin Hinz, der Kollegen Röspel,
Lammert und mir - bietet hierfür eine ausgewogene
Grundlage. Unser Ziel ist es, den ethisch handelnden
Staat zu stärken und leidenden Eltern nicht mit Paragrafen, sondern mit Mitmenschlichkeit zu begegnen.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Carola Reimann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will meine
Rede mit einem Beispiel beginnen. Frau Professor
Bettina Schöne-Seifert, eine der Sachverständigen, hat
es uns in der Anhörung im Gesundheitsausschuss eindrücklich geschildert.
Bei dem Beispiel handelt es sich um ein Paar mit einer bekannten Veranlagung beider Eltern für eine
schwere Stoffwechselerkrankung. Beide Eltern tragen
die genetische Veränderung einmal, sodass sie beide
selbst nicht erkrankt sind. Der Zufall hat es nun gewollt,
dass diese beiden Träger sich treffen. Bei ihnen besteht
eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent, dass ihr Kind
zwei solcher genetischen Veränderungen trägt - von beiden Elternteilen - und dann mit einer schweren Stoffwechselerkrankung geboren wird, die in den ersten Lebensjahren zum Tod führen wird. Das Paar hat bereits
zwei Kinder mit dieser Krankheit zur Welt gebracht und
leider verloren.
Wenn die PID ganz verboten wird, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wie es der Gesetzentwurf der Abgeordneten Göring-Eckardt und Singhammer vorsieht, kann man
diesem Paar keine Hilfe anbieten. Ich frage: Kann man
diesem Paar, das bereits eine solche Leidensgeschichte
hinter sich hat, zumuten, dass es diese Tortur ein drittes
Mal auf sich nimmt,
({0})
oder soll dieses Paar ganz auf weitere Kinder verzichten? Das Paar, von dem in diesem Beispiel die Rede ist,
hätte auch nach dem Gesetzentwurf der Kollegen Röspel
und Hinz keine Möglichkeit zur PID. Ich frage Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Was sagen Sie diesen Betroffenen?
Wir, die Befürworter einer begrenzten Zulassung der
PID, wollen diesem Paar individuelle Hilfe anbieten.
Unser Ziel ist es, Menschen, bei denen aufgrund einer
genetischen Disposition für ihre Nachkommen das hohe
Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht
oder die eine Fehl- oder Totgeburt fürchten müssen, die
Chance zu geben, sich für ein eigenes Kind zu entscheiden.
({1})
Oft wird uns entgegnet, dass durch unsere Regelung
der Druck auf die Paare, ein gesundes Kind zu bekommen, so enorm groß würde, dass sie sich nicht mehr frei
entscheiden können. Ich frage mich aber: Was soll denn
die Schlussfolgerung aus dieser Hypothese des Rechtfertigungsdrucks sein - die Freiheit aller einzuschränken?
Auf der anderen Seite entsteht häufig der Eindruck, es
gäbe geradezu einen Zwang zur PID. Auch das - das
will ich hier betonen - ist nicht der Fall. Niemand ist
verpflichtet, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen.
Wer sich für die Möglichkeit einer PID entscheidet,
muss die belastende Prozedur einer künstlichen Befruchtung auf sich nehmen.
Es geht in unserem Entwurf auch nicht um intelligente Kinder mit einer bestimmten Augenfarbe. Wer die
Prozedur einer PID auf sich nimmt, tut das nicht, um ein
Baby mit blauen Augen zu bekommen. Das ist medizinisch gar nicht möglich, und auf die Belastungen der
künstlichen Befruchtung habe ich hingewiesen. Es ist
geradezu absurd, anzunehmen, dass sich Frauen dieser
Belastung freiwillig aussetzen, nur um ein bestimmtes
Merkmal ihres Kindes auswählen zu können.
({2})
Den betroffenen Paaren eine solche Motivation zu unterstellen, halte ich für eine Form der Verleumdung. Sie
wird der Konfliktsituation dieser Paare in keiner Weise
gerecht. Kein Paar und auch keine Frau entscheidet sich
leichtfertig für eine PID.
({3})
Kolleginnen und Kollegen, eine Zulassung der PID in
Grenzen bedeutet auch keinesfalls eine Garantie auf ein
gesundes Kind. Wir wollen den betroffenen Paaren aber
die Möglichkeit eröffnen, ein Kind zu bekommen, das
überhaupt eine Chance auf Leben hat. PID bedeutet für
die Betroffenen vor allem eine Hoffnung, und diese wollen wir ihnen nicht nehmen. Die Betroffenen sollen nicht
einfach ihr Leid hinnehmen müssen. Wir ertragen auch
anderes Leid nicht einfach, sondern behandeln und therapieren es. Warum sollte das für Paare mit einer solchen
genetischen Risikokonstellation anders sein?
({4})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Gesetzgeber nicht das Recht haben, den betroffenen Paaren
diese medizinische Möglichkeit zu versagen. Deshalb
schlagen wir eine begrenzte Zulassung der PID vor - mit
einer Einzelfallentscheidung durch eine Ethikkommission und einer ausführlichen Beratung und nur in zugelassenen Zentren.
Wir, die wir für eine Zulassung in engen Grenzen
werben, sind davon überzeugt, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit der PID möglich ist. Wir wollen Paaren, wie ich sie eingangs beschrieben habe, Hilfe anbieten. Ich finde, wir sollten diesen Paaren, die einen so
langen Leidensweg hinter sich haben, Vertrauen entgegenbringen, statt ihnen durch ein Verbot jede Hoffnung
auf ein eigenes Kind zu nehmen.
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, im Interesse
der betroffenen Menschen für unseren Gesetzentwurf zu
stimmen.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Harald Terpe ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist verständlich, dass sich Eltern gesunde Kinder ohne
eine Erbkrankheit wünschen, ihnen Leid ersparen möchten. Dieser Wunsch wird immer wieder als der zentrale
Grund angeführt, die PID auch in Deutschland zuzulassen, häufig ohne zu hinterfragen, ob sich die Verheißung
erfüllt. So verständlich dieser Wunsch ist: Taugt er auch
als alleiniger Maßstab unserer heutigen Entscheidung?
Um es anders auszudrücken: Heiligt der Zweck die Mittel?
Die Zulassung der PID im Sinne von Frau Flach und
anderen bedeutet für mich mindestens eine Relativierung
von Normen unseres Grundgesetzes. Sie steht im Widerspruch zum Gendiagnostik- und Embryonenschutzgesetz. Es bedarf also schwerwiegender Argumente, um einen derartigen Grundwerteumsturz zu rechtfertigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich einige Argumente aus ethischer und medizinischer Sicht
wägen. Das von Befürwortern der PID-Zulassung immer
wieder vorgetragene Argument, die PID könne Erkrankungen und Behinderungen vermeiden, führt in die Irre.
Wohl aber soll die PID zur Vermeidung von Menschen
mit bestimmten Behinderungen und Erkrankungen genutzt werden, also zur Vermeidung bestimmter Menschen an sich. Das wäre ein Paradigmenwechsel, eine
andere Dimension. Auslese würde dann aus meiner Sicht
zur gesetzlich-gesellschaftlichen Norm.
Darüber hinaus bestünde die Gefahr, einen Menschen
verstärkt auf seine Erkrankung zu reduzieren. Bei der
Entscheidung, ob ein Kind gewünscht ist oder nicht,
drohte die Erkrankung oder Behinderung zum ausschlaggebenden Maßstab zu werden. Dabei geriete vollkommen außer Acht, dass ein Mensch mehr ist als seine
genetischen Anlagen, dass er neben einer Erkrankung
viele andere Eigenschaften und Talente besitzt, die sein
Leben für ihn lebenswert machen.
({0})
Nimmt man den vorgeschlagenen Anwendungsbereich der PID als Grundlage, wären Menschen wie Gottlieb Planck, der Vater unseres Bürgerlichen Gesetzbuches, oder der Schauspieler Richard Burton
vermutlich ebenso wenig geboren worden wie die Musiker Paganini und Rachmaninow. Denken wir bei unserer
Entscheidung daran!
Die Möglichkeiten, Erbkrankheiten medizinisch zu
behandeln, entwickeln sich ständig fort. Für die meisten
Erkrankungen stehen in westeuropäischen Ländern mittlerweile gute Therapie- und Hilfsangebote zur Verfügung, sodass viele der Betroffenen zumindest das Erwachsenenalter erreichen. Bei mehr und mehr
Erkrankungen unterscheidet sich die Lebenserwartung
nicht mehr von der gesunder Menschen. Es stimmt einfach nicht, dass die PID im Sinne von Frau Flach und anderen nur in aussichtslosen und mit viel Leid verbundenen Fällen angewandt werden soll.
Aber ließe sich nicht die Zahl leidvoller, bei einigen
Frauen im Rahmen von natürlichen Schwangerschaften
gehäuft auftretender Fehl- und Totgeburten reduzieren,
wie Kollege Hintze und auch Frau Flach mit Verve argumentieren? Das schon, nur mit dem Nachteil, dass die
für die PID notwendige künstliche Befruchtung zwar die
Frau der Tortur einer hormonellen Stimulation aussetzt
und sich die Chance auf ein gesundes Kind womöglich
deutlich verringert; das ist in einer Ausarbeitung des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nachzulesen.
Auch im Hinblick auf die meisten Erbleiden dürfte
sich die Chance auf ein gesundes Kind eher verringern,
würden sich die Paare für eine PID entscheiden. Das ist
ein Fakt, der von der Flach-Gruppe offenbar verschleiert
wird. Das liegt darin begründet, dass von einer Erbkrankheit bedrohte Kinder zumeist auf natürlichem Weg
gezeugt, die Frauen also spontan schwanger werden.
Ich will nochmals betonen: In der heutigen Debatte
geht es nicht um unfruchtbare Paare, sondern um Frauen,
die sich wegen der PID einer quälenden, schlimmstenfalls lebensbedrohlichen, in mehr als 80 Prozent der
Fälle erfolglosen künstlichen Befruchtung unterziehen
müssten.
Wie ist es aber mit dem Argument der Spätabtreibung? Die Vorstellung, durch die PID Spätabbrüche zu
verhindern, geht fehl. Viele der Störungen, die Anlass
für einen Spätabbruch sein können, werden mittels der
PID überhaupt nicht diagnostiziert. PID und Pränataldiagnostik stehen also nicht in einem Entweder-oder13880
Verhältnis, sondern addieren sich. Es gibt bislang keinen
wissenschaftlichen Beleg dafür, dass durch die PID die
Raten von Spätabbrüchen und Fehlgeburten signifikant
gesenkt werden konnten.
({1})
Meine Abwägung zeigt, dass es sehr gute rationale
Gründe gibt, die Zulassung der PID abzulehnen. Dazu
möchte ich auch Sie ermutigen. Die Gründe stützen sich,
wie gezeigt, auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Den
noch Unentschlossenen kann ich nur empfehlen, sich
diesen Erkenntnissen nicht zu verschließen, damit wir
die betroffenen Paare nicht einer Behandlung aussetzen,
die ihr Leid zumeist nicht mildert, unsere Gesellschaft
aber in schwere ethische Konflikte stößt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Martina Bunge ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Problematik der Präimplantationsdiagnostik beschäftige ich mich seit zehn Jahren intensiv. Das sind immer
stark berührende, ja, auch quälende Momente. Deshalb
bin ich froh, dass der Bundesgerichtshof uns im letzten
Jahr aufgefordert hat, für rechtliche Klarheit zu sorgen.
Ich bin Unterzeichnerin des Gesetzentwurfs von Frau
Flach, Herrn Hintze und anderen, nach dem eine begrenzte Anwendung der PID erlaubt sein soll. Wie bin
ich zu dieser Entscheidung gekommen? Fast genau heute
vor zehn Jahren, im Zusammenhang mit einer der ersten
Anwendungen der PID in Großbritannien, ist dieses
neue Ergebnis wissenschaftlicher, medizinischer Forschung auch in der breiten Öffentlichkeit in Deutschland
bekannt geworden. Ich war damals Sozial- und Gesundheitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Schon
eine Woche nach dem PID-Bericht hatte ich drei einschneidende Erlebnisse, die mein Denken seither beeinflussen.
Sofort meldete sich der Weihbischof, der mir sehr
wohlwollend gegenübersteht, seit mein Staatssekretär
und ich nach dem Papstbrief zum Verbot des Schwangerschaftsabbruchs eine Gesetzesvariante schufen, die es
ermöglicht, dass die Schwangerenberatung für Frauen
katholischen Glaubens weiterhin gefördert wird. Nach
Bekanntwerden der PID-Anwendung in Großbritannien
appellierte Seine Exzellenz an mich, alles dafür zu tun,
dass dieser Eingriff in die Menschwerdung nicht auch in
Deutschland gestattet wird.
Am nächsten Tag empfing ich die Spitze des gerade
gegründeten Integrationsförderrates, der in Mecklenburg-Vorpommern alle gesetzgeberischen Initiativen daraufhin überprüft, ob die Belange von Menschen mit Behinderung ausreichend berücksichtigt wurden. In diesem
Gespräch kamen wir natürlich auf die Angst zu sprechen, dass die PID einen Einstieg in das Sortieren in lebenswertes und -unwertes Leben bedeuten könnte und
sich Eltern bald mit dem Vorwurf konfrontiert sehen
würden, ob ihr behindertes Kind überhaupt hätte sein
müssen. Aber einhellig war die Meinung nicht. Die Vertreterin der chronisch Kranken warf schüchtern ein, ob
man denn darin nicht auch eine Chance sehen sollte,
schwerste Erkrankungen zu vermeiden.
Am nächsten Tag saß in meinem Wahlkreisbüro eine
junge Frau mit ihrem Mann vor mir. Sie erzählten mir
von ihren schrecklichen Erlebnissen bei den Versuchen,
ein Kind zu bekommen. Die beiden hatten genetische
Dispositionen, die es bisher nicht zuließen, dass die Frau
die kleinen Wesen, die sich schon mehrmals in ihr entwickelt hatten, austragen konnte. Alle bisherigen Schwangerschaften endeten frühzeitig, weil der Fötus starb. Sie
fragten mich, wann es die neue Methode aus Großbritannien auch bei uns in Deutschland gebe, weil sie darin
eine Chance sahen. Ihr Arzt bestätigte, dass sie damit
vielleicht eine Chance hätten.
Jahr für Jahr hatte ich ähnliche Begegnungen. Es
wurde die Angst vor dem Designerbaby geäußert, Details über neue Forschungsergebnisse wurden klarer, und
ethische, moralische und juristische Fragen wurden gewälzt.
Ich frage mich seither und Sie alle heute: Ist es verantwortbar, die PID strikt abzulehnen, weil nach christlichem Glauben bereits mit der befruchteten Eizelle der
Schutz des ungeborenen Lebens beginnt? Was ist denn
mit der Auffassung meines damaligen Staatssekretärs,
der Jude war und die PID für verantwortbar hielt, weil
sich nach jüdischem Glauben ein Mensch erst entwickeln kann, wenn der Körper der Frau die Eizelle aufgenommen hat? Das ist eine Auffassung, die ich als Atheistin teile.
Darf ich mit meiner Entscheidung nur eine Auffassung tolerieren und die andere nicht? Ich meine, das geht
nicht.
({0})
Wie ist verantwortbar, starke Gefühle unterschiedlich zu
behandeln, beispielsweise die Ängste von Menschen mit
Behinderungen, dass die Normalität ihres Andersseins
infrage gestellt wird? Insofern müsste die Ablehnung der
PID respektiert werden. Damit würde aber zugleich die
Verzweiflung der jungen Frauen und deren Partner, die
sich überhaupt ein Kind oder ein Kind ohne schwerste
Beeinträchtigungen wünschen, nicht respektiert werden.
Ich meine, das geht nicht.
({1})
Schließlich: Was ist von der Argumentation zu halten,
dass eine begrenzte Zulassung ein Dammbruch wäre und
sie über kurz oder lang zum Designerbaby führen
würde? Ich denke, Eigenschaften und Aussehen sind
nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen genetisch nicht auswählbar. Das wird auch in naher Zukunft
nicht möglich sein.
Ja, wir brauchen eine würdige Debatte und eine verantwortungsvolle Entscheidung. Wir brauchen aber auch
so weit wie möglich eine Ausgewogenheit in der Beachtung von Interessen und Betroffenheit. Deshalb habe ich
mich für die begrenzte Zulassung der PID entschieden.
Die Einzelfallentscheidung zur PID wird meines Erachtens allen dargelegten Perspektiven am ehesten gerecht.
Die Einzelfallentscheidung ist individuell und konkret
und richtet sich nicht nach einem Katalog.
({2})
Was die nahe Zukunft betrifft, habe ich Vertrauen,
dass auch spätere Politikerinnen und Politiker ebenso
verantwortungsvoll wie wir heute entscheiden werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen,
eine wahrlich schwierige Güterabwägung. Die Befürworter der PID tragen gewiss gewichtige Argumente
vor. Ich kann mich ihnen trotzdem nicht anschließen;
denn würden wir ihnen folgen, also PID zulassen, nähmen wir einen fundamentalen Paradigmenwechsel vor.
Denn um der Hilfe bei individuellem Leid willen, um
der Erfüllung des Wunsches nach einem eigenen, möglichst gesunden Kind willen veränderten wir ein Allgemeines höchst folgenreich: Wir ermöglichten Selektion,
wir ermöglichten eine Qualitätsüberprüfung menschlichen Lebens.
({0})
Ich will meine Entscheidung gegen die PID in sieben
Punkten begründen.
Erstens. Die Garantie der Menschenwürde bedeutet,
dass jeder Mensch Subjekt aus sich heraus ist, Zweck in
sich selbst im Sinne Immanuel Kants. Diese Menschenwürde gilt von Anfang an. Naturwissenschaftlich herrscht
heute Einvernehmen darüber, dass mit der Kernverschmelzung das vollständige individuelle menschliche
Genom entstanden ist, aus dem ein vollständiger menschlicher Organismus, ein neugeborenes Individuum, hervorgehen kann. Der Schutz der Menschenwürde muss
also hier, zu diesem Zeitpunkt, beginnen.
({1})
Zweitens. Aus dem Gebot der Menschenwürde ergibt
sich das Verbot der Instrumentalisierung, der Verzweckung eines Menschen. Bei der PID aber geschieht genau dies. Embryonen werden als Sachen behandelt, sie
werden nicht um ihrer selbst willen gezeugt, sondern
zum Zweck ihrer Auswahl. Ihr Sein, ihre Entwicklung
werden von bestimmten genetischen Dispositionen und
Merkmalen abhängig gemacht.
Drittens. Menschenwürde ist mit dem Recht auf Leben verknüpft. PID zielt aber auf Auswahl, ist also unweigerlich auf eine qualitative Selektion mit anschließender Beendigung menschlichen Lebens ausgerichtet.
Die Notwendigkeit der Auswahl wird noch dadurch verschärft, dass zur Durchführung der PID mehr Embryonen gebraucht werden, als eingepflanzt werden können.
Reproduktive Freiheit - wie das genannt worden ist rechtfertigt aber auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit einen solchen Eingriff in das Lebensrecht nicht.
({2})
Viertens. Nach meiner Überzeugung sind die Konfliktlagen bei PID und beim Schwangerschaftskonflikt
nicht vergleichbar.
({3})
Bei der PND wird nicht prinzipiell ein Ergebnis vorweggenommen. Es geht im Konfliktfall um die Abwägung
zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und dem
Recht der Schwangeren auf Leben und physische wie
psychische Unversehrtheit. Bei der PID aber wird von
vornherein eine Entscheidung zwischen verschiedenen,
geeigneten oder ungeeigneten, Embryonen getroffen.
({4})
Fünftens. Eine Zulassung der PID würde genau den
Selektionsgedanken in die deutsche Rechtsordnung wieder einführen, dem der Gesetzgeber mit der Ablehnung
der embryopathischen Indikation,
({5})
also der Erlaubnis, menschliches Leben aufgrund unerwünschter Eigenschaften zu verwerfen, bei der Reform
des § 218 ausdrücklich widersprochen hat.
({6})
Sechstens. Wer behauptet, PND und PID liefen dann,
wenn ein krankes oder behindertes Kind zu erwarten sei,
letztlich auf dasselbe, auf eine Tötung des Embryos, hinaus, unterstellt genau den Automatismus, den der Gesetzgeber mit der Abschaffung der embryopathischen Indikation verhindern wollte. Rechtsmissbrauch aber darf
vernünftigerweise nicht als Argument herhalten.
({7})
Die missbräuchliche Praxis einer Inanspruchnahme der
PND, die sogenannte Schwangerschaft auf Probe, sollte
nicht zu einem Argument für die PID, für eine Zeugung
auf Probe, gemacht werden.
Siebtens. Es ist nicht Alarmismus oder ein angstbesetzter Blick auf den wissenschaftlichen Fortschritt,
wenn man die Möglichkeiten der Begrenzung der PID
für äußerst fraglich hält. Dank der Weiterentwicklung
der Untersuchungsmethoden lässt sich mit aller Wahrscheinlichkeit die Erhebung von sogenannten Nebenbefunden nicht verhindern. Wenn man PID erlaubt, werden
eben auch das Screening auf chromosomale Fehler oder
das Genetic Screening möglich.
Zum Schluss. Selbst nach Auffassung ihrer Befürworter handelt es sich bei der PID um eine Methode, die so
problematisch ist, dass sie nur in seltenen Fällen eingesetzt werden sollte. Ist unsere ganze Aufregung also unangemessen? Sollten wir nicht diese wenigen Ausnahmen zulassen? Ich meine, nicht. Bei der Entscheidung
über die PID geht es heute um sehr grundsätzliche Fragen: um die Frage nach der Bedingtheit oder Unbedingtheit des Kinderwunsches, die Frage nach unserem Begriff von Menschenwürde und für wen und ab wann
diese gilt, die Frage nach der Qualitätsüberprüfung beginnenden menschlichen Lebens und der ihr folgenden
Möglichkeit zur Selektion.
Es geht nicht um eine Ethik der Strafe, sondern um
eine Ethik der Menschenwürde.
({8})
PID verhindert möglicherweise in einzelnen Fällen Leid,
aber sie verhindert in jedem Fall das Lebensrecht von
gezeugtem menschlichen Leben.
({9})
Wir sollten das nicht tun. Bitte unterstützen Sie den Gesetzentwurf zum Verbot der PID!
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je länger
ich mich mit der PID in all ihren Facetten beschäftigt
habe, umso klarer ist für mich geworden: Wir können
und wir dürfen unsere Entscheidung nicht über die
Köpfe derjenigen hinweg treffen, die an erster Stelle
Verantwortung für ein möglicherweise schwerkrankes
oder todgeweihtes Kind zu tragen haben. Es sind die Eltern und ganz besonders die Mütter, deren Wunsch und
Urteil wir nicht übergehen dürfen, was aber im Ergebnis
der Gesetzentwurf des Kollegen Singhammer und anderer tut.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der begrenzten
Zulassung der PID nach unserem Gesetzentwurf geht es
nicht um ein vermeintliches Recht auf ein durch und
durch gesundes Kind. Ein solches Recht, einen solchen
Anspruch gibt es nicht, und wir versprechen ihn auch
nicht in unserem Gesetzentwurf.
Herr Kollege Meinhardt, ich gebe Ihnen recht: Es
geht nicht um ein Werturteil gegen sogenanntes lebensunwertes Leben, und es geht auch nicht um eine sogenannte Selektion, nicht nur in Ihrem Gesetzentwurf
nicht, sondern auch in unserem Gesetzentwurf nicht.
({1})
Herr Kollege Thierse, ich widerspreche Ihnen vehement,
wenn Sie diese Begriffe im Zusammenhang mit unserer
Debatte verwenden.
({2})
Alleine schon wegen der Assoziationen mit diesen Begriffen, die in die dunkelste Vergangenheit Deutschlands
führen, finde ich, verbietet es sich,
({3})
den Frauen zu unterstellen, ihnen gehe es um Selektion
oder um die Ablehnung lebensunwerten Lebens.
({4})
Es geht auch nicht um die Hybris, Gott oder dem
Schicksal in die Parade fahren und ein perfektes Kind
züchten zu wollen. Der Landesbischof der evangelischen
Kirche in Bayern - so las ich es in der Presse - hat den
Betroffenen in einer Predigt vorgeworfen, sie würden die
PID beanspruchen, um sich „am Leid vorbeizumogeln“.
Den betroffenen Vätern und Müttern einen solchen Vorwurf zu machen, finde ich nicht richtig.
({5})
All diese Debatten haben ihre Berechtigung. Aber sie
haben nichts mit den Frauen zu tun, die nach mehreren
Tot- oder Fehlgeburten in Verzweiflung leben, weil sie
Angst vor weiteren Schwangerschaften haben, sich aber
eigene Kinder wünschen. Sie haben nichts mit den Eltern
zu tun, die in sich die Veranlagung zu schweren, unheilbaren Erbkrankheiten tragen, die Kinder schon qualvoll
haben sterben sehen oder die liebevoll Verantwortung für
erkrankte Kinder tragen und so erschöpft sind, dass sie
ein solches Leid nicht noch einmal erleben können. Die
Eltern, die Väter und die Mütter, die wir bei unserer heutigen Entscheidung nicht übergehen dürfen, sind solche,
die zum Beispiel die Anlage zur Erbkrankheit Morbus
Krabbe in sich tragen, welche sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihre Kinder übertragen. Wenn diese Krankheit bei Babys ausbricht, werden sie nach wenigen Monaten blind, taub und steif und sterben unausweichlich.
Die moderne Medizin hat die In-vitro-Fertilisation ermöglicht; so sind inzwischen Hunderttausende von Kindern geboren worden. Damit ist auch die Pflicht der Gesellschaft und des Parlaments entstanden, extrakorporale
Embryonen als beginnendes menschliches Leben zu
schützen. Aber dieser Schutz ist in jeder nur denkbaren
Variante nur mit den Frauen, den zukünftigen Schwangeren und Müttern, gemeinsam möglich.
({6})
Bei der In-vitro-Fertilisation ist eine Einpflanzung der
extrakorporal erzeugten Embryos gegen den Willen der
Frauen nicht möglich. Eine etwaige zwangsbewehrte
Verpflichtung hierzu wäre krass verfassungswidrig und
unmenschlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen es den
Betroffenen auch mit unserem Vorschlag nicht leicht.
Schon die In-vitro-Fertilisation ist langwierig, schmerzhaft und ungewiss; die Erlangung von weiblichen Eizellen ist kein Spaziergang. Danach verlangen wir eine
Pflichtberatung über alle psychosozialen und medizinischen Aspekte. Die Frauen haben eine Bringschuld, die
besondere Situation, in der sie sich befinden, darzulegen
und glaubhaft zu machen. Es findet eine Begutachtung
durch eine Ethikkommission statt. All das führt nicht mit
Garantie zum Erfolg. Es erhöht nur die Chance auf ein
lebensfähiges und gesundes Kind.
Wir finden, dass die betroffenen Frauen diese Chance
verdienen und dass sie in Selbstbestimmung einen Anspruch auf die medizinische Dienstleistung einer PID haben. Deshalb bitte ich Sie, unserem Gesetzentwurf nach
Abwägung aller Argumente Ihre Zustimmung zu geben.
Danke schön.
({7})
Maria Michalk ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Menschen knüpfen an jede medizinische Entwicklung
Hoffnungen. Wir möchten weniger Leid; wir möchten
gesund werden; wir möchten weniger Schmerzen haben.
Es ist tatsächlich so, dass sich ähnliche Hoffnungen auch
an die PID knüpfen, die an Embryonen ab dem fünften
Tag nach der Befruchtung außerhalb des Mutterleibes
stattfindet. Nur diejenigen werden eingepflanzt bzw.
transferiert, die gesund sind. Wir bewerten also.
Aber müssen wir uns in diesem Fall nicht vorher fragen, wohin uns die Hoffnungen in Bezug auf die PIDMöglichkeiten führen, wenn in der Gesellschaft nicht die
Frage beantwortet ist, ob es uns Menschen erlaubt ist, in
vitro hergestellten Embryonen weniger Schutz zukommen zu lassen als den Embryonen im Mutterleib? Damit
wende ich mich besonders an Herrn Montag. Diese
Frage haben Sie nicht beantwortet.
Wo bleibt unsere ethisch-moralische Verantwortung,
wenn in diesem frühen Stadium mit drei Embryonen alles unternommen wird, um ein gesundes Kind auf die
Welt zu bringen, und die anderen Embryonen verworfen
werden? Was geschieht mit ihnen? Wie fühlt sich die
Mutter - die auch diese Embryonen, die nicht leben dürfen, haben -, die weiß, dass diese Kinder nicht leben
durften?
Nach welchen Kriterien wird eigentlich aussortiert?
Ich habe heute noch kein vernünftiges, unser Menschsein aufnehmendes Argument gehört. Wer legt diese Kriterien fest? Was sind schwerwiegende genetische Schäden, von denen hier immer gesprochen wird?
Bei einer natürlichen Empfängnis stellen sich diese
Fragen in diesem Entwicklungsstadium tatsächlich
nicht. Was beide Arten der Empfängnis verbindet, ist die
Würde, die allen von Anfang an zukommt - allen; jedem
von ihnen. Das steht auch in unserem Grundgesetz. Die
Prognose, ob ein Kind gesund zur Welt kommt oder mit
einer Behinderung oder einer Veranlagung zu einer
Krankheit geboren wird, ist an dieser Stelle - an dieser
Stelle - unerheblich. Es geht immer um die gleiche
menschliche Würde.
({0})
Welches Gesicht soll unsere Gesellschaft in Zukunft
haben? Auch diese Frage müssen wir uns in diesem
Kontext stellen. Wollen wir nur schöne, junge, gesunde
Menschen - keine blinden, keine körperbehinderten,
keine geistig behinderten Kinder?
({1})
Was für eine Armut!
Viele Zuschriften belegen, dass sich Menschen mit
Behinderungen sorgen und den emotionalen Spagat
kaum ertragen können - auf der einen Seite die Freude
darüber, dass sie eine Mutter und einen Vater haben, die
sie gezeugt und geboren haben, und auf der anderen
Seite die Sorge vor in der Zukunft drohender Diskriminierung, weil künftig vielleicht die Geburt eines behinderten Kindes mit dem Satz belegt wird, der leider heute
schon gelegentlich zu hören ist: Na, das musste ja nun
wirklich nicht sein.
Wir müssen diese Gefühle ernst nehmen. Wir alle in
der Gesellschaft sind gut beraten, den bei manchen - ich
habe das jetzt auch in der Debatte ein bisschen gespürt vorhandenen Hochmut abzulegen, der darin besteht, dass
wir alles können, alles wissen und alles dürfen.
Deshalb sage ich Ihnen, Kollegin Flach und Kollege
Hintze: Sie möchten mit Ihrem Antrag, wie Sie wiederholt hier und in der Öffentlichkeit betont haben, vor allen Dingen dafür sorgen, dass Frauen das Schicksal erspart bleibt, Totgeburten oder Fehlgeburten zu haben. In
der Tat ist das eine schwierige Lebenssituation. Ich weiß
es aus eigener Erfahrung. Darauf will ich an dieser Stelle
hinweisen. Unser erstes Kind war totgeboren. Hätte es
damals die PID gegeben, hätte ich es nie in der Hand gehalten. Es gab auch drei Fehlgeburten. Ich kann nachvollziehen, wie es Paaren geht, die sich unbedingt ein
gesundes Kind wünschen und den Druck kaum noch
aushalten. Erst als der Druck aus meinem Kopf war und
ich alle klugen Ratschläge abgelegt hatte, kamen drei gesunde Kinder.
Und auch das müssen wir uns verinnerlichen: Die Natur lässt sich nicht vergewaltigen. Das ist meine Aussage
an dieser Stelle. Ich finde, es ist ein großer Reichtum,
auch solche Lebenserfahrungen machen zu müssen, zu
dürfen. Auch das haben viele Paare geschrieben, die sich
in den letzten Wochen an dieser Diskussion beteiligt haben.
Ich glaube, wir müssen viel mehr das Natürliche unseres Menschseins und unseres Menschwerdens bewahren und dürfen nicht alles unter dem Aspekt der 100-prozentigen Sicherheit verkünsteln und abstrahieren und
damit die Frauen und ihre Partner durch lauter Untersu13884
chungsmöglichkeiten, die immer besser werden, verunsichern und unter eine enorme psychische und physische
Dauerbelastung setzen.
Noch ein letzter Aspekt. Bei der Novellierung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes wurde die embryopathische Indikation bewusst abgeschafft. Viele, die
heute hier sind, waren damals dabei. Wir wollten die
Diskriminierung behinderten Lebens ein für alle Mal
verhindern. Mit der Zulassung der PID - so, wie sie
heute hier vorgestellt worden ist - würde dieses Auswahlkriterium wieder eingeführt werden. Wollen wir das
wirklich? Krankheit und Behinderung gehören zu unserer menschlichen Existenz wie die Auflösung von Moll
in Dur in der Musik.
Frau Kollegin.
Deshalb bitte ich Sie sehr, sich zu entschließen, dem
Antrag auf Verbot der PID zuzustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine
Aschenberg-Dugnus.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedes Mitglied des Hohen Hauses, das sich in die Debatte
eingebracht hat, sich noch einbringen wird oder heute
auch einfach nur abstimmen wird, muss eine Abwägung
zwischen verschiedenen Rechtsgütern vornehmen. Diese
Abwägung fällt höchst unterschiedlich aus, und das ist
auch gut so.
Es ist eine Abwägung zwischen den eigenen Prinzipien und der konkreten Situation der betroffenen Frauen.
Es ist eine Abwägung zwischen Empathie und Verantwortung für die betroffenen Paare und dem nötigen Respekt vor ungeborenem Leben. Bei dieser Abwägung,
was richtig und was falsch ist, macht es sich keiner von
uns leicht. Aber: Wir müssen das Leiden der betroffenen
Frauen ernst nehmen. Wir dürfen nicht auf dem eigenen
Standpunkt beharren und an den eigenen abstrakten
Prinzipien festhalten.
Das Leiden einer Frau, deren erstes Kind im fünften
Lebensjahr verstirbt, die einen ersten Abbruch nach einer Pränataldiagnostik und zwei Jahre später einen weiteren Abbruch nach einer Pränataldiagnostik verkraften
musste, ist ganz konkret.
({0})
Deshalb plädiere ich dafür, diesen Frauen auch ganz
konkret zu helfen.
Für diese Hilfeleistung müssen wir einen rechtlichen
Rahmen bieten. Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen Flach, Hintze und anderer bietet genau den richtigen
Rechtsrahmen, in dem die notwendige Hilfe geleistet
werden kann. Als Gesetzgeber sind wir geradezu dazu
verpflichtet, die Nutzung medizinischer Technologien zu
ermöglichen, wenn dies ganz konkret zur Linderung von
Leid beiträgt.
Wir sollten die Chancen der PID nutzen, statt die vermeintlichen ethischen Risiken in den Vordergrund zu
stellen. In allen Ländern, in denen die PID erlaubt ist,
wird mit dieser Methode - und zwar schon seit 20 Jahren - sehr verantwortungsvoll umgegangen.
({1})
Lassen Sie mich bitte noch einmal auf den Kernpunkt
dieser Debatte hinweisen, auf den Wertewiderspruch
zwischen einer Zulassung der Pränataldiagnostik mit anschließendem Schwangerschaftsabbruch und einem Verbot der PID; denn eine PND, also eine Pränataldiagnostik, mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch wird
in unserer Gesellschaft rechtlich und ethisch toleriert. Es
wäre normativ höchst widersprüchlich, bei entsprechender genetischer Belastung der Familie als Alternative zur
PID eine PND durchführen zu lassen und einen Spätabbruch zu akzeptieren. Das darf man keiner Frau, darf
man keinem Paar zumuten.
({2})
In der Leopoldina-Stellungnahme vom Januar 2011
heißt es sehr treffend - ich zitiere wörtlich -:
Auf Grund gleichgelagerter Konfliktsituationen für
die Frau sollte unter einschränkenden und definierten Bedingungen eine PID gesetzlich zugelassen
und die damit verbundenen Folgen für den Embryo
vom Gesetzgeber der PND … und dem Schwangerschaftsabbruch … gleichgestellt werden.
Klarstellen möchte ich auch: PID schafft keine gesunden Kinder, was heute schon häufiger behauptet wurde.
Das trifft nicht zu. PID ermöglicht Kinder, die von einer
bestimmen schweren genetischen Erkrankung nicht betroffen sein werden; das sollten wir hier noch einmal
ganz klar sagen.
Um auszuschließen, dass auch das dritte Kind einer
Frau, wie ich es eben geschildert habe, lebensunfähig zur
Welt kommt, um auszuschließen, dass es zum wiederholten Male zu einer Totgeburt kommt, um auszuschließen, dass diese Frau eine erneute Spätabtreibung erleiden muss, wollen wir, und zwar ausschließlich für die
eben genannten Fälle, die PID ermöglichen.
Eine Zulassung der PID ist eben nicht, wie es heute
mehrfach behauptet wurde, die brachiale Brechstange,
mit der wir für Selektion und Designerbabys Tür und Tor
öffnen. PID ist auch kein Eingriff in die Schöpfung. PID
ist der Ausdruck der Ethik des Helfens. Dafür bitte ich
Sie heute um Ihre Unterstützung, um Unterstützung für
den Antrag Flach/Hintze und anderer.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit dem BGH-Urteil vor ungefähr einem Jahr machen wir uns hier im Haus sehr intensiv, ernsthaft und
manchmal auch auf etwas emotionale Weise Gedanken
über die Präimplantationsdiagnostik. Heute werden wir
entscheiden: ohne Fraktionsbindung, jede und jeder nur
nach seinem oder ihrem Gewissen. Ich respektiere absolut die Gewissensentscheidung derjenigen, die hier zu einem anderen Schluss gekommen sind als ich. Aber ich
möchte doch einige offene Fragen aufwerfen, die Sie
sich vielleicht nicht so gestellt haben, und bitte Sie, darüber nachzudenken.
Zuerst einmal bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen:
Jeder hier im Haus hat Verständnis für den Wunsch von
Menschen, die von einer Erbkrankheit betroffen sind,
nach einer glücklichen Schwangerschaft und nach Geburt eines gesunden Kindes. Niemand hier möchte Menschen in Not allein lassen. Aber wir müssen uns ganz
nüchtern fragen, ob das, was wir hier gesetzgeberisch
tun, nicht doch weitreichendere Folgen hat, Folgen, die
wir so nicht beabsichtigen.
Ich weiß aus vielen Diskussionen und Gesprächen mit
Mitgliedern meiner Fraktion, dass es ganz unterschiedliche Motive gibt, dem Gesetzentwurf der Gruppe Flach/
Hintze zuzustimmen. Es gibt diejenigen, die eine möglichst uneingeschränkte Freigabe der PID wollen. Andere wollen nur in ganz eingeschränkten Situationen wenigen Paaren helfen und glauben, dass sie das mit
diesem Gesetzentwurf am besten können.
Nun lassen sich diese ganz unterschiedlichen Sichtweisen ausgesprochen schwer in einem Gesetzentwurf
zusammenbringen. Deswegen hat er einige Unschärfen,
die für mich viele Fragen offenlassen. Ein Beispiel ist
der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung. Befürchten nicht auch Sie, dass dieser Begriff zu einer Ausweitung geradezu einlädt? Was „schwerwiegend“ ist, empfindet doch jeder Mensch anders.
Ich habe hier zum Beispiel den Eintrag einer jungen
Frau aus einem Kinderwunschportal im Internet. Sie
möchte gerne schwanger werden, ihre Ärztin sieht dafür
trotz ihrer chronischen Erkrankung kein Hindernis. Die
Frau beschreibt nun recht plastisch, wie ihr Partner sie
bedrängt, eine PID durchführen zu lassen. Ich zitiere:
Schließlich will er gesunde Kinder haben und nicht, dass
sie mal so leiden müssen wie ich. - Die junge Frau allerdings meint: So schlimm ist mein Fall doch gar nicht.
Meine Mutter und ich reden uns über dieses Thema in
Rage, jedes Mal, weil wir es zum Teil auch unfair finden. Mein Vater und mein Freund sind der Meinung, solche vorbelasteten Frauen sollten gar nicht erst Kinder
bekommen. - Sie empfindet das Anliegen ihres Freundes, obwohl sie Verständnis dafür hat, auch als Infragestellung ihrer eigenen Person und fragt dann etwas zynisch: Wie kommt eine Frau mit definitiv nicht
einwandfreien Genen überhaupt auf die Idee, eigens gezeugte Kinder zur Welt zu bringen? - Sie durchlebt also
das, was wir in der Begründung unseres Antrags etwas
abstrakt als „sozialen Druck“ beschreiben. Diesem
Druck würden nach einer Zulassung, auch wenn sie begrenzt ist, noch viel mehr Frauen ausgesetzt. Können Sie
diese Befürchtung verstehen?
Was schwerwiegende Krankheiten sind, das bestimmen dann auch nicht die Frauen selbst, sondern Ethikkommissionen und im Zweifelsfall wieder Gerichte.
Auch Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen und daher meiner Ansicht nach gar nicht als Belastung für die Eltern gewertet werden können, sind nicht
ausgeschlossen. Entspricht das wirklich Ihren Vorstellungen?
Mit einem Änderungsantrag wurde dann der ohnehin
unscharfe Begriff „hohe Wahrscheinlichkeit“ durch den
noch unschärferen Begriff des „hohen Risikos“ ersetzt
und damit die Zielgruppe erheblich erweitert. Ich frage
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ist das wirklich in
Ihrem Sinne?
So geht es leider weiter. Auch im Gesundheitsausschuss konnten wir nicht klären, welche Form der PID
mit diesem Antrag eigentlich zugelassen werden soll: die
bisher übliche Blastomerenbiopsie oder, wie der Kollege
Hintze in der Anhörung meinte, nur die Untersuchung
von Blastozysten, also von nicht mehr voll entwicklungsfähigen Zellen. Wissen Sie aber, dass das ein als
experimentell bezeichnetes Verfahren ist, das bisher
weltweit erst äußerst selten durchgeführt wurde? Ich
habe da als Gesundheitspolitikerin ganz massive Bauchschmerzen. Können Sie das nachvollziehen?
Ich bitte Sie darum, noch einmal ganz ernsthaft zu
überprüfen: Wollen Sie, dass die PID auch bei spätmanifestierenden Erkrankungen angewandt werden darf?
Welches gesellschaftspolitische Signal wollen wir heute
aussenden an die junge Frau, von der ich gerade erzählt
habe, und an die vielen Paare, bei denen ein Partner
chronisch krank oder behindert ist? Was antworten Sie,
wenn Sie eine Ärztin fragt, welches Verfahren sie denn
nun anwenden darf? Wenn Sie sich nicht ganz sicher
sind, wie Sie diese Fragen beantworten würden, dann
möchte ich Sie bitten, Ihr Stimmverhalten noch einmal
zu überdenken. Wenn Sie eine klare Grenze ziehen wollen, dann bitte ich Sie: Stimmen Sie mit mir und der
Gruppe Göring-Eckardt für ein eindeutiges Verbot der
Präimplantationsdiagnostik.
Danke.
({0})
Karin Evers-Meyer ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
stimmen heute über eine Frage ab, mit der sich sowohl der
Deutsche Ethikrat als auch die Akademie der Wissenschaften eingehend beschäftigt haben. Ihre Arbeit ist anerkannt, und das Ergebnis dieser Arbeit ist klar und eindeutig. Diese Fachgremien empfehlen uns, dass wir die
PID unter bestimmten strengen Voraussetzungen zulassen sollen, nämlich dann, wenn Eltern aufgrund ihrer genetischen Disposition damit rechnen müssen, ein schwerbehindertes Kind zur Welt zu bringen.
Wir stimmen heute aber nicht als berufene Vertreter
dieser Gremien ab, sondern als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die nur ihrem Gewissen verpflichtet
sind. Wir stimmen ab als Menschen, jeder von uns mit
seinen eigenen Erfahrungen und den daraus resultierenden Weltbildern. Deswegen ist es gut, dass wir in dieser
Frage sehr respektvoll mit der Position des jeweils anderen umgehen. Das ist auch der Respekt, den Eltern, die
diese Diskussion betrifft, von uns erwarten, und das
wirklich zu Recht.
Ich persönlich spreche in dieser Debatte nicht als jemand, der Theologie, Ethik oder Medizin studiert hat,
sondern als jemand, der selbst Mutter eines schwerbehinderten Kindes war und sich als Behindertenbeauftragte einige Jahre sehr intensiv mit der Situation behinderter Menschen und ihrer Angehörigen in diesem Land
beschäftigt hat. Als dieser Jemand will ich Ihnen sagen:
Ich hätte, wenn ich von der schweren Behinderung meines Sohnes bereits zu einem frühen Zeitpunkt gewusst
hätte, ohne jeden Zweifel mein Kind zur Welt gebracht,
und ich würde es auch - weiß Gott - wieder tun. Ich
weiß, dass die größte denkbare Mehrheit der Eltern behinderter Kinder genauso denkt. Deswegen sollten wir
zuallererst Vertrauen in uns selbst und in alle die haben,
die Eltern sind oder Eltern werden wollen;
({0})
denn auch das ist eine Form von Respekt, die man von
uns erwartet. Das ist heute meine zentrale Botschaft an
alle Eltern, die in einer solchen Situation sind: Wir vertrauen euch. Lasst euch nicht verunsichern. Freut euch
auf eure Kinder. Sie werden euer Leben und die Gesellschaft bereichern, völlig unabhängig davon, ob das Kind
eine Behinderung hat.
Wir, die Politik, müssen dafür sorgen, dass diesen Eltern und ihren Kindern alle erdenkliche Unterstützung
und Wertschätzung zuteil werden. Das ist aus meiner
Sicht die vorrangigste Aufgabe. Aber - das gehört leider
zu der bisher nicht ausgesprochenen Wahrheit - in unseren täglichen politischen Entscheidungen erfüllen wir
diese Aufgabe nur unzureichend. Gerade in Deutschland
tut man sich sehr schwer damit.
Das Leben mit einem schwerbehinderten Kind - das
ist hier vielfach gesagt worden - kann mit unsagbaren
Belastungen verbunden sein, die Eltern und Familien an
den Rand ihrer seelischen und physischen Kräfte führen.
Das beginnt mit dem alltäglichen Bemühen um einen
Platz in dem Kindergarten oder in der Schule, den oder
die auch das Nachbarkind besucht. Es geht weiter mit
dem ewigen Bittstellen bei Behörden und Krankenkassen und dem Werben um Verständnis im Familien- und
Freundeskreis, wobei die alltägliche Diskriminierung
nicht zu vergessen ist. Es endet schließlich da, wo wir
zusehen müssen, wie das Kind leidet, und man nichts für
das Kind tun kann, außer da zu sein und stark zu sein,
auch wenn man sich selber dabei kaum über Wasser halten kann.
Alle in diesem Hohen Hause, die sich heute für ein
Verbot der PID entscheiden, haben meinen vollen Respekt. Das meine ich sehr ernst. Aber ich will Ihnen auch
ganz deutlich sagen: Wenn Sie den Eltern, die aufgrund
ihrer genetischen Disposition befürchten müssen, dass
sie ein schwerbehindertes Kind zur Welt bringen, die
medizinische Möglichkeit per Gesetz nehmen wollen, zu
einem Zeitpunkt, an dem Zellen in einem Reagenzglas
liegen, diesen unvorstellbaren Belastungen aus dem Weg
zu gehen, dann müssen Sie noch viel mehr tun, als diese
Gesellschaft heute bereit ist für behinderte Menschen
und ihre Angehörigen zu tun.
({1})
Das sehe ich heute leider nicht. Ich sehe, dass wir
über Moral und Ethik diskutieren und gleichzeitig immer
noch mehr als 80 Prozent aller behinderten Kinder in
Förderschulen, Werkstätten und stationäre Einrichtungen
schicken. Ich verweise in diesem Zusammenhang sehr
bewusst auf eine bei uns parallel stattfindende Debatte,
nämlich auf die Debatte um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Damit bietet sich quasi zeitgleich zu der Diskussion über ein Verbot der PID die
Chance, eine klare Botschaft an alle Eltern mit einer genetischen Vorbelastung zu senden. Die Botschaft muss
klar und unmissverständlich sein: Wir werden alles dafür
tun, dass ihre Kinder mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können, unabhängig von den
Kosten; denn wir sind der Überzeugung, dass Moral
keine Frage der Kosten sein darf.
({2})
Diese eindeutige Botschaft vermisse ich bisher. Ich halte
es aber für geboten, dass wir in unserer Debatte über die
PID auch die Situation einfließen lassen, in der sich Tausende von Eltern behinderter Kinder in diesem Land befinden und in der sich diejenigen befinden, die Angst vor
der Geburt eines schwerbehinderten Kindes haben. Ich
glaube, erst dann, wenn wir dazu bereit sind, führen wir
eine ehrliche Debatte über die ethisch-moralische Vertretbarkeit der Präimplantationsdiagnostik.
Ich werde mich heute für den Gesetzentwurf der Kollegen Hintze, Reimann, Sitte und Montag entscheiden,
weil ich Eltern Mut machen will, sich für ein behindertes
Kind zu entscheiden. Aber ich will sie nicht dazu zwingen. Dazu habe ich - das ist meine ganz persönliche
Sicht - kein Recht. Ich will den Betroffenen, die sich ohnehin in einer schwierigen Situation befinden, keine gesetzliche Regelung vorschreiben, sondern ihnen mein
Vertrauen entgegenbringen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Pascal Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
individuelle Schicksal von Menschen, die an einer genetischen Disposition für schwere Krankheiten leiden, die
sich sehnlichst ein leibliches, ein gesundes oder ein Kind
wünschen, das voraussichtlich eine hohe Lebenserwartung haben wird, und die diesen Wunsch nicht erfüllt bekommen, rührt uns alle an. Es macht uns betroffen, und es
ist gut, dass hier alle - ich betone: alle - bereit sind, zu
helfen, wo sie können. Aber dieses individuelle Schicksal
von Menschen und diese Absicht, dieser Wille, zu helfen,
die Ethik des Helfens darf nicht verdecken, vor welcher
folgenschweren Entscheidung wir heute auch stehen. Es
geht um die Frage, inwieweit die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik nicht vielleicht eine fundamentale
Abkehr von der Grundidee, vom Prinzip der Menschenund Grundrechte bedeutet.
Diese Rechte gelten nach unserem bisherigen Verständnis unveräußerlich, sie gelten unteilbar, und sie gelten universell. Wenn wir zulassen, dass der Gesetzgeber
sich selbst oder ein Gremium, ein Expertengremium
oder eine Ethikkommission, dazu ermächtigt, Wertungsentscheidungen vorzunehmen, nämlich darüber, welches
Leben mehr oder weniger zu achten und zu schützen ist,
für welches menschliche Leben diese Bedingungen gelten und für welches menschliche Leben jene, für welche
Menschen die Grundrechte bedingungslos gelten und für
welche Menschen die Grundrechte unter Bedingungen
gelten - und das alles aufgrund von im Menschen selbst
angelegten genetischen Dispositionen, Alters- oder Entwicklungsstufen -, dann gelten die Menschen- und
Grundrechte nicht mehr unveräußerlich, sondern dann
sind sie abhängig von Bedingungen und von Willensentscheidungen anderer.
({0})
Wenn wir zulassen, dass die Grundrechte, das Recht
auf Leben und das Recht auf eine individuelle Entwicklung, abhängig sind vom Entwicklungsstand oder vom
Gesundheitszustand, von Wertungsentscheidungen der
Gesetzgeber, der Ethikkommission oder anderer Gremien, dann geben wir diesen Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Menschen- und Grundrechte auf.
({1})
Wir dürfen die Geltung der Grundrechte nicht und niemals an Bedingungen knüpfen. Niemals darf die Anerkennung von Grundrechten durch Gesundheit oder bestimmte Entwicklungsstufen begründet sein. Niemand
darf sie einem Menschen aufgrund solcher Fragen absprechen.
Lieber Peter Hintze, es ist richtig: Zivilisation bedeutet Emanzipation der Menschen von der Natur. Aber ich
halte es für die zivilisatorische Errungenschaft schlechthin, dass die Idee unveräußerlicher Menschenrechte
Wirklichkeit geworden ist. Sie schützt den Einzelnen vor
dem Zugriff, dem Willen der Mehrheit absolut.
({2})
Zwischen der Nichtzulassung der Präimplantationsdiagnostik und den geltenden Regeln des Schwangerschaftsabbruchs besteht nach meiner Ansicht kein Widerspruch. Beim Schwangerschaftsabbruch ist eine konkrete
Konfliktlage zweier gleicher Grundrechtsträger - werdendes Kind einerseits und Mutter andererseits - vorausgesetzt. Bei der Präimplantationsdiagnostik geht es hingegen darum, dass vorab Bedingungen formuliert werden
- sei es schriftlich oder auch nur in den Köpfen von Mitgliedern von Ethikkommissionen -, unter denen die
Grund- und Menschenrechte des Einzelnen umfänglich
oder eben eingeschränkt oder in anderer Weise gelten sollen.
({3})
Damit gelten die Grund- und Menschenrechte nicht
mehr unbedingt, damit sind sie nicht mehr unveräußerlich, sondern an Bedingungen geknüpft.
Ich glaube, dass es genau das ist, was unser Grundgesetz ausschließen will, wenn es formuliert:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
„Unantastbar“ bedeutet: Sie gilt absolut und darf nicht
an Bedingungen und Zwecke geknüpft sein.
({4})
Die Unveräußerlichkeit, die Unantastbarkeit der Grundrechte des Einzelnen darf auch nicht gegen gute Zwecke
oder Absichten, gegen eine Ethik des Heilens abgewogen
werden. Diesen Grundsatz haben wir zum Beispiel bei
der Frage des Folterverbots immer verteidigt. Dieses Verbot erhalten wir auch dann aufrecht, wenn höchste Gefahr
in Verzug ist. Wir sollten diesen Grundsatz auch an diesem Tage in der Frage der Präimplantationsdiagnostik gemeinsam verteidigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Mutter von drei Kindern kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als den Tod des eigenen Kindes, eine Totgeburt, einen frühen Kindstod oder auch die Pflege des
eigenen Kindes bis zu dessen Tod. Allein der Gedanke
ist grausam. Ein totes Kind ist eine Lebenskatastrophe,
die niemals heilt. Auch scheinbar „normale“ Fehlgebur13888
Katherina Reiche ({0})
ten bedürfen oft einer langen Zeit der Aufarbeitung und
der Trauer. Auch diese ist oftmals nie wirklich zu Ende.
Wie sieht die Rechtssituation in Deutschland derzeit
aus? Die juristische Diskussion über die PID in Deutschland kreist im Wesentlichen um die Frage, ob die PID
mit dem 1990 verabschiedeten Embryonenschutzgesetz
vereinbar ist. In seiner Urteilsbegründung aus dem Jahre
1975 zum Schwangerschaftsabbruch formulierte das
Bundesverfassungsgericht:
Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines
menschlichen Individuums besteht nach gesicherter
biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls
vom 14. Tage nach der … Nidation … an …
Von dieser Position ist das Bundesverfassungsgericht nie
abgerückt, auch nicht in seinem Urteil von 1993. Das
Bundesverfassungsgericht unterscheidet also konsequent
zwischen der befruchteten Eizelle in der Petrischale und
einem Fötus, einem Embryo, im Mutterleib. Deswegen
wurden konsequenterweise Nidationshemmer zugelassen, die die Einnistung der befruchteten Eizelle verhindern.
Abtreibungen sind - das wurde mehrfach gesagt - bis
zur zwölften Schwangerschaftswoche möglich. Man
darf auch Kinder im Mutterleib auf vielerlei Krankheiten
untersuchen. Selbst Spätabtreibungen sind möglich,
wenn ein schwerer Konflikt für die Mutter zu vermuten
ist. Was bei der natürlichen Befruchtung erlaubt ist, soll
nun bei der künstlichen Befruchtung verboten werden?
Die PID dient ja gerade der Herbeiführung einer
Schwangerschaft.
Die bestehende Rechtsunsicherheit und die Wertungswidersprüche wurden durch ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs am 6. Juli des vergangenen Jahres beseitigt. Der Bundesgerichtshof hat darin ganz klar gesagt,
dass Embryonen in Deutschland vor dem Einsetzen in die
Gebärmutter untersucht werden dürfen. Wie kam es zu
diesem Urteil? Dies ist ein bis dahin, wie ich finde, einmaliger Vorgang. Ein Mediziner aus Berlin hat erblich
vorbelasteten Paaren, also werdenden Eltern in schwersten Konfliktsituationen, geholfen. Er hat die untersuchten
Embryonen eingepflanzt und sich danach selbst angezeigt. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Arzt
zeigt sich selbst an, um Hilfe für seine Patientinnen und
Rechtssicherheit zu erwirken, vielleicht sogar zu erzwingen.
Was würde nun ein Verbot bedeuten? Frauen würden
per Gesetz gezwungen, vorhersehbare Fehlgeburten oder
Spätabtreibungen zu erleiden. Sie müssten neun Monate
mit der Gewissheit leben, ihr möglicherweise nicht lebensfähiges Kind sterben zu sehen. Ja, es ist richtig: Es
gibt kein Recht auf ein Kind, und es gibt auch kein Recht
auf ein gesundes Kind. Aber es gibt den verständlichen
Wunsch danach. All die düsteren Bilder von der schiefen
Ebene, von Selektion, gar von moderner Eugenik finde
ich maßlos übertrieben. Die Suggestion, die damit verbunden ist, ist empirisch haltlos und vor allem zutiefst
ungerecht gegenüber den Ärzten und den Paaren.
({1})
Die PID ist in Großbritannien seit 1992 zugelassen. Pro
Jahr sind ungefähr 200 Fälle zu verzeichnen. Kein einziger Fall war Präzedenzfall für den nächstfolgenden Fall.
Es ging immer um Einzelfallentscheidungen. In Belgien
ist dies ähnlich.
Die Unterstützer dieses Antrages, also auch ich,
möchten Paaren in schweren Konfliktsituationen helfen.
Bisher mussten sich betroffene Paare entscheiden, ob sie
Totgeburten oder den späteren Tod des Kindes in Kauf
nehmen oder eben auf ein Kind verzichten. Die PID eröffnet nun die Möglichkeit, Ja zu einem Kind zu sagen.
Die PID brauchen Paare, die ein hohes Risiko haben,
ein genetisch schwer geschädigtes Kind auf die Welt zu
bringen. Aber das wissen die Paare in der Regel vorher
nicht; das wissen nur ganz wenige vorher. Diejenigen,
die dann aber in die Spezialkliniken fahren, eben oft
nach Belgien oder nach Großbritannien, haben schwere
Schicksale durchlitten und meist auch schon den Tod eines Kindes verkraften müssen.
Als ich in Amerika studiert habe, habe ich bei einer
Gastfamilie gelebt, bei der die Mutter in den 50er- und
60er-Jahren sieben Kinder auf die Welt gebracht hat:
sechs Jungen und ein Mädchen. Fünf Jungen sind an
Duchenne-Muskeldystrophie gestorben. Das Mädchen,
mittlerweile eine erwachsene Frau, hat sich in Amerika
für die PID entschieden, weil sie für sich persönlich ausschloss, den Leidensweg ihrer Mutter zu gehen. Sie hat
fünf Brüder begraben, sie wollte nicht noch ihren eigenen Sohn begraben.
Wenn ein PID-Verbot käme, dürften Frauen schwanger werden, könnten Fehlgeburten erleiden, so viele sie
in der Lage wären zu ertragen; aber sie hätten keinen
Ausweg, sie hätten nur das Ausland. Ich möchte Sie bitten, zu helfen. Ich glaube, wir sind als Gesetzgeber aufgerufen, zu helfen, die Situation für diese Paare zu verbessern. Die PID ist ein Weg, Ja zum Leben zu sagen.
Für betroffene Paare wäre unser Gesetzentwurf ein gewaltiger Fortschritt.
({2})
Volker Kauder ist nun der nächste Redner.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Deutsche
Bundestag hat heute eine schwierige Entscheidung zu
treffen, eine Entscheidung, der alle Kolleginnen und
Kollegen persönliche Erfahrungen, aber auch mindestens wochen- bzw. monatelange Diskussionen zugrunde
legen. Ich weiß, dass sich jeder Gedanken gemacht hat
und für seine Entscheidung gute Gründe in Anspruch
nehmen kann. Aber wir entscheiden heute nicht nur über
eine Abwägung von gut oder weniger gut, sondern wir
entscheiden heute über einen zentralen Grundsatz. Es
geht nicht um eine Ethik des Helfens; denn es ist selbstverständlich, dass wir helfen, wo wir helfen können.
Heute geht es darum, dass sich die Ethik des Lebens
durchsetzt.
({0})
Es ist unstrittig, dass mit der Verschmelzung von Eiund Samenzelle etwas ganz Neues entsteht, ein qualitativer Sprung, der sich in der weiteren Entwicklung nicht
wiederholt. Deswegen sagte Wolfgang Böckenförde in
der Anhörung: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt der Prozess des Lebens, der sich fortsetzt bis hin zum Tod. Die Würde des Menschen, sagt
Böckenförde, umfasst diesen gesamten Prozess. Wer die
Würde des Menschen nur auf eine bestimmte Phase des
Prozesses festlegen will, macht die Menschenwürde
nicht mehr zu dem allumfassenden Grundsatz, wie er in
unserer Verfassung steht.
({1})
Welcher Prozess soll noch zur Würde des Menschen gehören? Wann soll er beginnen - ist dies nun Definitionssache -, und wann hört der Prozess, der dem Würdeschutz des Grundgesetzes unterliegt, eigentlich auf? Ich
glaube schon, dass es darum geht, klarzumachen, dass
wir mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle den
Lebensprozess in Gang gesetzt haben, zu dem es keinen
qualitativen Sprung mehr gibt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist geradezu dramatisch, wenn formuliert wird: Der Beginn
menschlichen Lebens hängt davon ab, ob irgendwann
einmal implantiert wird. Was soll denn werden, wenn es
sich eines Tages nicht mehr um einen 8-Zeller, 16-Zeller
oder 32-Zeller handelt - das gelingt ja schon -, sondern
um ein 30 Tage altes Wesen? Wollen wir die Antwort auf
die Frage, ob jemand Mensch ist oder nicht, von der
menschlichen Entscheidung abhängig machen, ob implantiert wird oder nicht? Das wäre ein schwerer Anschlag auf die Würde des Menschen.
({2})
Es geht tatsächlich, wie Kollege Thierse gesagt hat,
um einen Paradigmenwechsel. Es geht darum, ob wir akzeptieren, dass ein Mensch entstanden ist, oder ob wir
nur einen selektiven Blick auf das werfen, was die einen
als Zellverbindung bezeichnen. Wolfgang Thierse hat
völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass eine neue
grundsätzliche gesetzliche Wertung vorgenommen werden könnte. Es könnte eine Umwertung dessen vorgenommen werden, was bisher in diesem Deutschen Bundestag gültig war, nämlich dass niemand wegen seiner
genetischen Vorbedingung bzw. seiner genetischen Prädisposition vom Leben ausgeschlossen wird.
1995 haben wir festgelegt, dass es keine Abtreibung
aufgrund eines genetischen Schadens des Embryos geben darf.
({3})
Es darf nur eine Abtreibung geben, wenn die Mutter erhebliche gesundheitliche Probleme hat. Jetzt findet, wie
viele sagen, ein Wertungswiderspruch statt, da wir uns
auf einer Ebene bewegen. Es geht darum, dass abgetrieben werden darf, auch wenn kein genetischer Schaden
vorliegt, dass aber Leben nicht zugelassen werden darf
wegen eines genetischen Schadens. Dies ist eine dramatische Umwertung, vor der ich warne, da sie brutale
Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Deshalb sage
ich: Es geht heute um die Ethik des Lebens. Deshalb
bitte ich Sie, für ein Verbot der PID zu stimmen.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Steffen Bockhahn.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um es ganz offen zu sagen: Keiner der drei vorliegenden Gesetzentwürfe gefällt mir wirklich; denn ich
- das sage ich ganz offen - bin für eine Freigabe der
PID. Es wird aber heute eine pragmatische Entscheidung
für den weitestgehenden Entwurf der Gruppe Flach,
Hintze, Reimann, Sitte und weitere Abgeordnete geben.
Ich maße mir an, zu wissen, was es heißt, sich bewusst für oder gegen den Abbruch einer Schwangerschaft zu entscheiden. Das heißt nämlich manchmal, sich
vorher schon bewusst für eine Schwangerschaft entschieden zu haben. Es ist doch in hohem Maße verantwortlich, wenn man als Mutter und als Vater entscheidet,
dass das eigene Kind kein schweres Leid ertragen soll.
Ich finde das verantwortlich.
Herr Kollege Kauder, ich habe Ihnen genau zugehört.
Ich denke, wir alle wollen nicht unterstellen, dass sich
jemand nicht bewusst über das, was er tut, Gedanken
macht. Sie haben aber die Frage aufgeworfen, ob die einen die Würde des Menschen respektieren und die anderen nicht. Ich glaube, diese Frage stellt sich hier heute so
nicht.
({0})
Der Weg zu einer PID-Behandlung ist äußerst anstrengend. Er ist auch nach dem Gesetzentwurf, für den
ich spreche, ein sehr schmaler Weg. Wenn man sich anschaut, was die Paare und insbesondere die Frauen
durchleiden müssen, bevor es zur PID kommt, dann
weiß man, dass das kein Sonntagsspaziergang ist, dann
weiß man, dass es sich um eine bewusste Entscheidung
handelt. Die Frau wird über Wochen mit massiven Dosen an Hormonen vollgepumpt. Das ist kein Spaß in einer Beziehung. Es ist mit großem Leid verbunden, erst
einmal dahin zu kommen. Die Entnahme der Eizellen,
die Befruchtung außerhalb des Körpers der Mutter und
das Warten darauf, ob die Befruchtung überhaupt erfolg13890
reich war, bedeuten höchsten emotionalen Stress für die
werdenden Eltern bzw. für die, die Eltern werden wollen. Niemand wird sich diese Entscheidung leicht machen. Natürlich ist die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein ganz wesentlicher Vorgang. Mindestens
genauso wichtig aber ist die Einnistung der befruchteten
Eizelle in die Gebärmutter der Frau.
({1})
Das ist der Zeitpunkt, zu dem die Interaktion zwischen
Mutter und Kind beginnt, und damit ist es ein mindestens genauso wertvoller Moment.
Ziel ist doch nicht, das Leben von Menschen in wertvoll oder nicht wertvoll einzuteilen. Aber was wollen Sie
Eltern und vor allen Dingen Müttern zumuten, die zum
wiederholten Mal schwanger werden und gegebenenfalls
eine Schwangerschaft in dem Wissen oder Unwissen
austragen müssen, dass es im Laufe der Schwangerschaft erneut zu großem Leid, zu vielen Schmerzen oder
zum Tod des Kindes kommen kann?
Ich war Zivildienstleistender in einer Kindertagesstätte und habe dort für ein ganzes Jahr eine individuelle
Schwerstbehindertenbetreuung übernommen. Ich weiß,
dass auch schwerstbehinderte Kinder lachen und glücklich sein können. Ich weiß aber auch, dass ich als Vater
ein solches Schicksal nur schwer ertragen könnte und
dass ich meine Schwierigkeiten hätte, Ja zu einem Kind
zu sagen, von dem ich weiß, dass es sehr großes Leid ertragen muss. Sie können mir vorwerfen, dass ich das so
sehe und dass ich bewusst Nein zu menschlichem Leben
sagen würde - zu eigenen Nachfolgern, zu eigenen Kindern. Es ist aber eine sehr bewusste Entscheidung.
Herr Zöller hat in seiner Rede ein Zitat von Johannes
Rau bemüht, und auch von vielen anderen habe ich das
Argument gehört, dass es natürlich kein Recht auf ein
Kind und schon gar nicht auf ein gesundes Kind gibt. Ich
muss Ihnen aber ganz ehrlich sagen, auch aus eigenem
Erleben: Ich empfinde solche Bemerkungen als sehr verletzend, weil sie einem das Recht auf das, was man sich
vielleicht am meisten wünscht, absprechen. Das finde
ich nicht in Ordnung; das muss ich Ihnen so deutlich sagen.
({2})
Ich kenne sehr viele ungewollt kinderlose Paare, auch
solche, die wegen genetischer Probleme kinderlos sind.
Bei vielen dieser Frauen kam es zu Schwangerschaften,
die zum Teil erfolglos verlaufen sind oder bei denen die
Kinder kurz nach der Geburt gestorben sind.
Meine Damen und Herren, ich selbst bin jetzt seit fast
zwei Jahren der glücklichste Vater der Welt, auch ohne
die PID. Ich möchte, dass alle Eltern, denen geholfen
werden kann, ihren Wunsch nach einem Kind zu erfüllen, dieses Glück, das ich jetzt mit meiner Frau teilen
kann, ebenfalls erleben können - und sei es durch die
PID.
({3})
Die nächste Rednerin ist Silvia Schmidt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! PID ist ein Thema, das ein hohes
Maß an Aufmerksamkeit verdient; denn es geht um eine
ethische Grundentscheidung, es geht um gesellschaftliche Werte und um Menschenwürde. Der Deutsche
Bundestag kommt dieser schwierigen, aber notwendigen
Aufgabe nach. Er hat in den zurückliegenden Debatten
gezeigt, dass das Thema trotz unterschiedlichster Auffassungen würdevoll behandelt wird.
Als Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion ist es mir wichtig, dass die Debatte um die UN-Behindertenrechtskonvention ebenso geführt wird. Denn
sie ist eine Menschenrechtskonvention und damit ein
wichtiger Grundpfeiler für unseren Umgang mit Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft.
({0})
Frauen und Familien, die bereits ein Kind mit Behinderung haben, werden oft mit einem großen gesellschaftlichen Druck konfrontiert. Sie müssen sich angesichts
der technischen Möglichkeiten der PID und der PND die
Frage gefallen lassen, warum sie dieses Leid in Kauf
nehmen, warum sie sich für ein schweres, mühevolles
Leben mit einem behinderten Kind entscheiden. Aussagen wie „Das muss doch nicht sein“ und „Heute ist doch
schon alles möglich“ gehören bei diesen Familien zum
Alltag. Für sie entsteht so der moralische Druck, sich
Verfahren zu unterziehen, wenn ein genetisches Risiko
bekannt ist. Das zeigt sich mir immer wieder in meinen
Gesprächen. Frauen und Familien haben Angst vor gesellschaftlicher Bewertung, Missachtung oder Ablehnung und nicht vor dem behinderten Kind. Sie fürchten,
alleingelassen zu werden.
Sicher, ein Kind mit Behinderung braucht intensivere
Betreuung und Unterstützung über längere Zeit. Derzeit
leisten die Frauen diese Aufgabe fast allein. Für das normale Leben zu Hause in einer Familie gibt es noch keine
ausreichende Unterstützung. Eine berufstätige junge Unternehmerin wie Frau Ahrend mit ihrem schwerstmehrfachbehinderten 17-jährigen Sohn möchte ein normales
Leben führen. Wenn sie aber um Unterstützung bittet,
gibt es nur den Vorschlag, ihren Sohn in ein Heim zu
bringen. Sie wünscht sich Familienassistenz, um genauso in der Familie leben zu können wie wir alle auch.
({1})
Nicht der Sohn ist das Problem, sondern die Gesellschaft
nimmt diese Situation noch nicht ausreichend wahr. Darauf müssen wir reagieren.
Menschen und besonders Kinder mit Behinderungen,
auch mit Schwerstmehrfachbehinderungen, sind das
Wertvollste in unserer Gesellschaft; denn sie befähigen
uns zur sozialen Kompetenz.
Silvia Schmidt ({2})
({3})
Es ist verständlich, dass Eltern ihrem Kind einen Leidensweg ersparen wollen. Aber wer definiert Leid? Wie
sieht die tatsächliche Lebensrealität von Menschen mit
Behinderungen aus? Menschen mit Behinderungen haben eine grundsätzlich andere Wahrnehmung ihrer Behinderung. Sie wollen kein Mitleid. Viele sind glücklich
in ihrer Lebenssituation. Sie fordern Anerkennung, Akzeptanz, ein Recht auf Glück, Liebe, Freundschaft und
gleichberechtigte Teilhabe, also auf ein ganz normales
Leben.
Ulla Schmidt hat das Richtige gesagt: Bei der PID
steht die Selektion am Anfang. Der Wunsch, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, setzt voraus, dass dem Leben, das nicht die entsprechenden Eigenschaften hat, das
Recht genommen wird, sich weiterzuentwickeln. - Ich
stimme ihr voll zu. Ich frage Sie auch: Was ist mit den
behinderten Frauen, die einen Kinderwunsch haben?
Bringen wir ihnen kein Vertrauen entgegen? Ihnen wird
es in aller Regel ausgeredet, ein Kind zu bekommen. Ihnen wird in erster Linie gesagt, sie sollten sich sterilisieren lassen. Warum wird der einen Familie alles ermöglicht, um ein Kind zu bekommen, und der anderen
Familie dieser Wunsch abgeschlagen? Messen wir in unserer Gesellschaft hier mit zweierlei Maß?
Der bekannte Schauspieler und Philosoph Dr. Peter
Radtke hat in der Anhörung berichtet, welche Signalwirkung von der PID ausgeht. Die PID suggeriert, dass angeborene Behinderungen nicht da sein müssten; man
könnte sie ja verhindern. Somit teilt sie die Menschen
mit Behinderung in zwei Gruppen ein: die Gruppe derer,
die im Laufe ihres Lebens eine Behinderung erfahren,
und die Gruppe derer, die von Geburt an eine Behinderung haben. Letztere müsste es dann nach dem Stand der
Technik und Wissenschaft gar nicht mehr geben. Damit
fühlen sich diese Menschen abgewertet.
Er hat noch eine andere Angst, und die ist sehr real.
Die UN-Behindertenrechtskonvention darf in der öffentlichen Wahrnehmung nicht hinter der PID-Debatte zurücktreten.
({4})
Sie ist nämlich der Ausgangspunkt eines Menschenbildes, nach dem Behinderung ein Teil der gesellschaftlichen Vielfalt und in jeder Hinsicht gleichberechtigt ist,
vor und nach der Geburt.
Vielleicht bin ich egoistisch, weil ich den Kinderwunsch der betroffenen Familien zwar verstehen, aber
nicht unterstützen kann. Ich bin egoistisch, weil meine
Freunde mit Behinderung für mich eine große Bereicherung sind, weil ich Thomas mit dem Down-Syndrom,
der nicht anders, nicht besser und nicht schlechter ist als
wir alle, nicht missen möchte, ebenso wenig wie die
kleine Sidney May, die am 17. Juni 2011 geboren ist und
am 24. Juni 2011 gestorben ist. Sie wird morgen zu
Grabe getragen. Ihre Mutter hat jeden Moment, jede Sekunde des Lebens mit ihr genossen, und sie ist dankbar
dafür. Sie sagt, sie hat so viel Liebe im Herzen für Kinder, dass sie durchaus bereit ist und sich wünscht, diese
Liebe auch Kindern zu geben, die nicht ihre eigenen
sind.
({5})
Der Kollege Dr. Erik Schweickert hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe mir lange überlegt, welchen Antrag ich unterstützen werde, und bin nach reiflicher Überlegung zu
dem Entschluss gekommen, dass ich für den Antrag der
Kolleginnen Flach, Reimann und anderer stimmen
werde. Ich habe mir auch lange überlegt, ob ich heute
hier dazu sprechen soll, aber ich glaube, ich bin es meiner Familie aufgrund vieler Gespräche und Erfahrungen,
die ich in sehr schweren Stunden gesammelt habe, schuldig.
Ich bin seit zwei Jahren und zwei Monaten stolzer Vater einer Tochter. Ich bin wirklich froh darüber, dass ich
das Glück hatte, eine Tochter zu haben - das stand sehr
lange auf der Kippe - und auch meine Frau noch haben
zu dürfen. Wenn man sich in solch einer Situation befindet und nicht nur einen Tag, sondern eine längere Zeit
auf der Kinderintensivstation verbringt, kommt man mit
Menschen zusammen, die nicht so viel Glück haben wie
man selbst. Man steht vor dem Brutkasten und unterhält
sich. Man hat beim Kangarooing das Frühgeborene auf
dem Bauch und unterhält sich. Wenn man die Geschichten dieser Familien hört, dann weiß man, dass es sich bei
diesen Familien ganz sicherlich nicht um diejenigen handelt, die draußen auf Demos oftmals als Menschen bezeichnet werden, die sich ein Designerkind oder so etwas wünschen. Es sind Familien, die teilweise schon ein
behindertes Kind haben. Es sind Familien, die teilweise
eine Schwangerschaft hinter sich haben, bei der es - so
war es auch bei uns - wirklich auf der Kippe stand, ob
Mutter und Kind überleben. Es sind Familien, die schon
ein behindertes Kind aufgezogen haben; sie wissen, was
das bedeutet, und können gut einschätzen, dass auch hier
Leben und Freude beisammen sein können.
Wir sagen immer: Jeder Mensch ist individuell. Ich
glaube, nach solch einer Erfahrung ist jeder Mensch individuell fähig, zu entscheiden, ob er die Belastung, die
mit der Geburt eines behinderten Kindes, einer Totgeburt oder einem schwierigen Schwangerschaftsverlauf
verbunden ist, noch einmal auf sich nehmen kann.
({0})
Wenn man mit diesen Paaren zusammensitzt, dann
kommt die Diskussion auf, in der es heißt: In Belgien
hätten wir Möglichkeiten gehabt. - Ich sehe nicht ein,
dass ich - damals war ich noch nicht im Deutschen Bundestag - diesen Paaren die Hilfe nun verweigern soll.
Wenn man solche Geschichten erlebt hat, dann kann
man mit großer Überzeugung sagen, dass hier sehr ver13892
antwortungsvoll gehandelt wird. Wir machen ein Gesetz
für wenige Hundert Menschen, nicht für die Allgemeinheit. Ich werde diesem Gesetz deshalb zustimmen, weil
es - anders, als es oftmals dargestellt wird - keine unbeschränkte Zulassung der PID, sondern eine Zulassung
nur in ganz speziellen Fällen vorsieht. Jedes Paar, das
eine entsprechende genetische Disposition hat, wird sich
sehr wohl überlegen, ob es ein zweites Kind bekommen
möchte oder nicht, weil Gefahren bestehen, die abgewogen werden müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, aus diesem Grund kann ich nur an Sie appellieren: Verwehren wir diesen Paaren die notwendige Hilfe
bitte nicht! Ich bin mir angesichts meiner Erfahrungen
sicher, dass die betroffenen Eltern sehr wohl wissen, was
sie tun; das ist alles andere als eine einfache Entscheidung.
({1})
Birgitt Bender hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schweickert, Sie sprechen von der Verweigerung von Hilfe, wenn man die PID nicht zulasse. Der
Kollege Hintze hat heute Morgen gefragt, ob „wir nicht
zur Hilfe aufgefordert“ seien und deshalb die PID ermöglichen sollten.
Auch ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. In
meiner Stuttgarter Heimat gibt es eine Beratungsstelle,
die Paaren im Schwangerschaftskonflikt nach Pränataldiagnostik beisteht. Die Beraterin hat von einem Paar
berichtet, dem aufgrund einer erblichen Belastung geraten wurde, im Ausland eine PID vorzunehmen. Das hat
es getan. Es hat kein Kind. Aufgrund der Hormonstimulation hat die Frau einen Eierstock verloren. Der zweite
ist schwer beschädigt, sodass die Wahrscheinlichkeit,
auf natürlichem Wege ein Kind zu bekommen, auf beinahe null gesunken ist. Die Frau ist völlig fertig und bereut, dass sie sich diesem Verfahren ausgesetzt hat.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr
Hintze, ist das Hilfeversprechen, mit dem man suggeriert, man könne Paaren ein gesundes Kind sozusagen
liefern, nichts anderes als der Wunschtraum von Technokraten. Die Lebenswirklichkeit sieht anders aus.
({0})
Es ist doch so: Ein Paar, dem gesagt wird, dass es mit
einer 25-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind bekommt, hat eine immerhin 75-prozentige
Chance, ein gesundes Kind zu bekommen. Mit der PID
sinkt die Wahrscheinlichkeit, überhaupt ein Kind zu bekommen, auf unter 20 Prozent.
({1})
Hinzu kommen das Risiko schwerwiegender Gesundheitsschäden - bis hin zum Tod - und das Trauma, wenn
es dann doch wieder nicht geklappt hat; oder das Kind,
das geboren wird, ist aus anderem Grund krank.
Herr Hintze, Sie haben gesagt, die Emanzipation von
der Natur sei angesagt. Als Mitglied einer ökologischen
Partei finde ich das ohnehin befremdlich. Ich möchte Sie
aber auch daran erinnern, dass die Emanzipation von der
Natur ein alter sozialistischer Wunschtraum ist.
({2})
Ich wundere mich, dass große Teile der Union auf diesem Weg unterwegs sind.
({3})
Vielleicht wollen Sie das einmal überprüfen.
Nicht jedes Argument, das in den letzten Wochen in
den Debatten gefallen ist, ist reif für das philosophische
Kolloquium. Ich finde aber, auch solche Argumente gehören hierher. Mir ist in den letzten Wochen mehrmals
die Frage gestellt worden, wie ich in folgendem Fall
handeln würde: Das Krankenhaus brennt, und ich kann
nur einen Menschen retten. Entscheide ich mich für die
Petrischale oder für ein lebendiges Kind? Damit soll
wohl gesagt werden, es könne eine Verantwortung für
die 16-Zeller in der Petrischale nicht geben. Das sehe ich
anders. Ich will Ihnen sagen, warum: weil diese Embryonen nicht durch Sex in die Petrischale gekommen sind
und weil sie da auch nicht aus irgendeinem großen Teich
hingeschwommen sind, wie man Kindern früher den Akt
der Zeugung zu erklären versucht hat, sondern weil diese
Embryonen in einer Arztpraxis nach Hormonstimulation
und operativer Eientnahme erzeugt worden sind, und
zwar in größerer Zahl.
({4})
Man braucht nämlich mindestens acht dafür. Diese Embryonen sind zu einem einzigen Zweck erzeugt worden,
nämlich um ein Auswahlangebot zu schaffen,
({5})
damit man die Auswahl zwischen gesunden und solchen,
die wahrscheinlich krank oder behindert sein werden,
hat.
Frau Flach, nach Ihrem Gesetzentwurf soll es sogar
möglich sein, dass ein Embryo aussortiert wird, der nur
eine Anlage für eine Behinderung in sich trägt, aber selber die Chance hätte, zu einem gesunden Kind zu werden. Dazu muss ich Ihnen sagen: Eine solche Auswahl
unterscheidet sich grundsätzlich von einer Abtreibung;
denn da findet eine Abwägung statt.
({6})
Bei der PID wird nur aussortiert,
({7})
und das ist ein Verfahren, mit dem ich mich nicht abfinden kann. Da sehe ich die gesellschaftliche Verantwortung, das nicht zu ermöglichen.
Frau Flach, Herr Hintze und all die anderen, die diesen Gesetzentwurf unterstützen, wenn man genau hinschaut, merkt man, dass Sie ein bestimmtes Unbehagen
treibt. Sie reden zwar von der Freiheit der Paare und sagen, dass man ihnen diese Möglichkeit nicht nehmen
sollte. Sie trauen dieser Freiheit aber nicht; denn Sie
schalten eine Ethikkommission dazwischen. Sie werden
Ihre Gründe dafür haben.
({8})
Sie trauen sich auch nicht, zu sagen, dass dieses Verfahren die Auswahl zwischen mindestens acht Embryonen
bedeutet, dass man die Dreierregel des Embryonenschutzgesetzes ändern muss. Diese Dreierregel haben
wir geschaffen, um die Entstehung überzähliger Embryonen, die man dann vernichten würde, zu verhindern.
({9})
Warum schreiben Sie das nicht ins Gesetz? Weil Sie wissen, dass da viele Fragen entstehen. Eine Frage lautet:
Was passiert mit überschüssigen Embryonen? Die sollen
offenbar vernichtet werden. Man mag das für richtig halten.
Ich will aber noch eine andere Frage aufwerfen. Frau
Flach, Sie waren einmal forschungspolitische Sprecherin
Ihrer Fraktion und kennen doch die Community. Glauben Sie wirklich, dass es, wenn es Embryonen gibt, die
den Stempel „Du bist doch sowieso krank und wirst deswegen nicht implantiert“ tragen, nicht ein Interesse der
Forscher geben wird? Glauben Sie nicht, dass die dann
sagen werden: „Oh, da könnten wir doch mit embryonalem Material wunderbar forschen; denn die Embryonen
werden sowieso nie gebraucht“? Welche Art von Debatten werden wir dann hier führen?
({10})
Falls Ihr Gesetzentwurf - was ich nicht hoffe - die
Mehrheit bekommt, dann, glaube ich, werden wir Debatten haben, die wir alle nicht wollen. Deswegen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie, für ein Verbot
der PID zu stimmen.
({11})
Sören Bartol hat das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In meiner Heimatstadt Marburg hat sich - ausgehend von Institutionen wie zum Beispiel der Blindenstudienanstalt oder der Bundesvereinigung Lebenshilfe eine Kultur etabliert, in der Menschen mit verschiedensten Behinderungen immer mitgedacht werden und in der
Behinderte schon seit vielen Jahren ganz selbstverständlich mitgestalten, und das ziemlich erfolgreich. Nicht zuletzt diese Tatsache hat dafür gesorgt, dass Politik für
Menschen mit Behinderungen einen besonderen Stellenwert für mich hat. Deshalb ist es mir wichtig, gleich am
Anfang meiner Rede klarzustellen: Menschen mit Behinderungen müssen ihre eigene Existenz nicht rechtfertigen,
({0})
und Eltern müssen sich nicht dafür rechtfertigen, dass sie
ein behindertes Kind haben. Vielmehr müssen die Bedingungen für behinderte Menschen in allen Bereichen
der Gesellschaft immer weiter verbessert werden.
({1})
Dazu hat sich Deutschland auch mit dem Beitritt zur
UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Der Stellenwert von Menschen mit Behinderungen in einer Gesellschaft hängt deshalb nicht von einer begrenzten Zulassung oder dem Verbot der Präimplantationsdiagnostik
ab. Ausschlaggebend ist, wie gut es der Gesellschaft gelingt, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und Vorurteile endgültig zu
beseitigen. Dies ist eine immerwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Anfang des Jahres lud ich in Marburg zu einem nichtöffentlichen Gespräch über die Präimplantationsdiagnostik ein. Es war bekannt, dass ich zu einer begrenzten
Zulassung der PID tendiere. Ich war auf Anwürfe von
verschiedenster Seite gefasst und erwartete eine Diskussion, in der jeder seine Maximalposition vertreten
würde. Doch es kam anders. Es wurde ein besonnener
und sehr konstruktiver Dialog. Natürlich blieben unterschiedliche Bewertungen. Große Übereinstimmung gab
es aber bei der Einschätzung, dass die Ermöglichung der
PID in eng begrenztem Rahmen nicht zu einer Entwertung behinderten Lebens führen würde. Diese Einschätzung von so verschiedenen Experten und Interessenvertretern hat mich damals in meiner Entscheidung bestärkt.
Auch ich sehe es als staatliche und gesellschaftliche
Verpflichtung an, Leben zu schützen. Dazu gehört, dass
mit Embryos nur im Rahmen strenger gesetzlicher Maßgaben umgegangen werden darf. Dazu gehört aber insbesondere auch geborenes Leben. Dies schließt den
Schutz von Frauen vor schwersten körperlichen und seelischen Belastungen und Gefahren im Hinblick auf eine
Schwangerschaft mit ein, ebenso die Vermeidung von
Spätabbrüchen, die oftmals bereits selbstständig lebensfähige Embryos betreffen.
Die PID grundsätzlich zu untersagen, hieße, sich der
Not betroffener Paare zu verschließen. Ich möchte, dass
sich auch Menschen, deren Nachkommen mit hoher
Wahrscheinlichkeit unter einer schwerwiegenden Erbkrankheit leiden werden, für ein Kind entscheiden können. Ich möchte auch, dass diesen Eltern die schreckliche Erfahrung von Fehl- und Totgeburten so weit wie
möglich erspart bleibt. Eine PID kann überhaupt nur bei
künstlichen Befruchtungen in Betracht gezogen werden.
Das kann nicht oft genug betont werden. Wir reden hier
nicht über ein mögliches Standardverfahren bei jeder
Schwangerschaft.
({2})
Künstliche Befruchtungen - liebe Kollegin Bender, darauf haben Sie hingewiesen - sind körperlich und mental
sehr belastend. Wir müssen Frauen, die eine solche
Bürde auf sich nehmen und für deren Kind dann auch
noch eine reale Gefahr besteht, an einer schweren, nicht
behandelbaren Erbkrankheit zu leiden, die Möglichkeit
eröffnen, unter enggesetzten Voraussetzungen eine PID
durchführen zu lassen.
Eine Entscheidung über die Präimplantationsdiagnostik bedeutet Abwägung. Auf der einen Seite stehen der
Schutz von ungeborenem Leben und die Stellung von
Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft, also
prinzipielle ethisch-moralische, aber auch religiöse Bedenken. Auf der anderen Seite geht es um den Wunsch
von Paaren nach Kindern, um die Selbstbestimmung der
Frau und um die Vermeidung von seelischem und körperlichem Leid. Deshalb wäre eine starre Entscheidung
für oder wider PID nicht angemessen.
Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen Flach,
Hintze, Reimann und vieler anderer Kolleginnen und
Kollegen hier im Haus, den auch ich unterstütze, sieht
ein PID-Verbot vor, von dem es wenige Ausnahmen geben soll, Ausnahmen in sehr engem Rahmen, nach positivem Bescheid einer Ethikkommission für jeden Einzelfall und nach einer eingehenden Beratung der Frauen
bzw. der Paare. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Ansatz der richtige ist und dem komplizierten Sachverhalt,
über den wir hier heute reden, gerecht wird. Deshalb
werde ich diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über
das Bild vom Menschen, das unser gesellschaftliches
Zusammenleben prägt. Dies ist ein philosophisches
Thema, für manche ist es ein theologisches; aber wir
treffen am Ende eine politische Entscheidung.
Welche Erwartungen würden denn geweckt, wenn
auch nur der Anschein entstünde, man könne die Geburt
eines gesunden Kindes garantieren? Es gibt keine perfekten Menschen; niemand von uns ist das.
({0})
Das, was hier als „medizinischer Fortschritt“ daherkommt, ist geeignet, Illusionen zu nähren, dass eines Tages doch so etwas wie „ewige Gesundheit“, „ewige
Schönheit“, womöglich gar „ewiges Leben“ herstellbar
sein könnte.
Ich verstehe jeden Kinderwunsch; jede und jeder, die
hier sprach, betonte das. Aber - das sagte ich bereits in
der ersten Lesung - es gibt kein Recht auf ein Kind, erst
recht nicht auf ein makelloses Kind; allenfalls - das ist
hier weniger betont worden - gibt es den Anspruch auf
Elternschaft. Deshalb wiederhole ich: Adoptionen sind
alles andere als zweite Wahl. Ich wiederhole das hier
deshalb, weil mich viele Menschen genau in dieser Aussage bestärkten. Das ist die Alternative, nicht die VorAuswahl im Reagenzglas!
({1})
Wir brauchen gar nicht weit in die Zukunft zu blicken
und auch nicht über die Ausbreitung illusionärer
Wunschvorstellungen zu spekulieren. Ich möchte Ihnen,
meine Damen und Herren PID-Befürworterinnen und
-Befürworter, eine ganz irdische Frage stellen: Wir wollen Sie allen Ernstes verhindern, dass in gar nicht allzu
ferner Zeit, zum Beispiel unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, auch nichtbelastete Paare während der künstlichen Befruchtung eine PID für ihre Embryonen erstreiten?
({2})
Weiter: Wie wollen Sie verhindern, dass, weil die Zelle
schon untersucht, also zerstört, worden ist, nicht auch
gleich einmal nach anderen Erbanlagen geschaut wird,
beispielsweise nach spätmanifestierenden? Wie wollen
Sie allen Ernstes verhindern, dass aus dem Kinderwunsch bald auch Wunschkinder mit speziell geplanten
Eigenschaften werden?
({3})
Die Versuchung ist jedenfalls groß, sowohl bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch bei Ärztinnen und Ärzten als auch bei Klinikbetreiberinnen und
Klinikbetreibern und nicht zuletzt bei potenziellen Eltern. Wenn es uns um das Menschenbild geht, muss ich
daran erinnern, welche Schritte logischerweise folgen,
wenn wir heute kein deutliches „Halt!“ setzen.
Ein weiterer Punkt, auf den ich häufig angesprochen
wurde, war die Aussage, dass jede Debatte über Präimplantationsdiagnostik die Frage nach dem Wert oder
eben auch Unwert menschlichen Lebens stellt, ob wir es
wollen oder nicht. Lassen Sie uns also bitte eine Entscheidung treffen, die niemandes Leben abwertet.
({4})
Besondere Beachtung, sei es in Form von Zustimmung, sei es in Form von Ablehnung, fand meine Aussage, dass ich Dutzende von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters kenne, die angesichts der aktuellen
Debatte und der damit verbundenen Erwartungen nichts
anderes denken können als: Hätte diese Möglichkeit
schon vor meiner Geburt existiert, gäbe es mich nicht. Sie, diese Menschen, nehmen die PID und übrigens auch
die Auswirkungen der Pränataldiagnostik sehr persönlich. Sie haben schlicht Angst, per Gesetz als „nicht nötig“, als „vermeidbar“ zu erscheinen.
Zustimmung kam von denen, die in genau dieser Lage
sind. Sie hatten das Gefühl, dass ihre Lebensinteressen
gegen den Wunsch einiger Paare nach einem genetisch
eigenen Kind, nach einem genetisch eigenen, gesunden
Kind ausgespielt werden. Die Ablehnung bestand darin,
dass man mir unfaire Stimmungsmache vorwarf, weil
ich Emotionen heraufbeschwört hätte. Ja, dazu bekenne
ich mich: Diese Debatte ist hochemotional.
({5})
Heute werden wir abstimmen. Auch diejenigen von
Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen, die sich bisher
nicht festlegten, werden sich entscheiden. Ich versuche,
Sie von der Richtigkeit eines vollständigen PID-Verbots
zu überzeugen. Deshalb wiederhole ich: Niemand bestreitet, dass ein Leben mit schweren Beeinträchtigungen weder sonderlich wünschens- noch gar erstrebenswert ist. Wer aber ein solches Leben führt, für die- oder
denjenigen gibt es nichts Wichtigeres. Es ist nämlich das
einzige Leben. Es hat gute und weniger gute Tage, traurige und weniger traurige Momente, Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse. Aber: Es ist das Leben.
({6})
Ich möchte zwei weitere Argumentationslinien infrage stellen, über die eine mehr oder weniger begrenzte
Zulassung der PID befürwortet wird. Da hören wir erstens das Argument, sie sei nur eine kleine Ergänzung des
ohnehin seit Jahren bestehenden Reproduktionsrechts.
Zweitens sagt man, die PID sei in vielen anderen Ländern gang und gäbe; wir würden also nur den PID-Tourismus derjenigen, die es sich leisten können, organisieren. Ich bitte Sie: Wieso müssen wir einen Weg
weitergehen, von dem wir wissen - zumindest ahnen wir
es -, dass er ein Irrweg ist? Mag sein, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Kraft aufbringen, gemeinsam umzukehren; aber innehalten können wir.
({7})
Wir können unsere ethischen Maßstäbe offensiv vertreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen:
liebe noch suchende Kolleginnen und Kollegen, spätestens seit der UN-Behindertenrechtskonvention wissen
wir und wollen wir, dass Menschen mit Behinderungen
Teil der Menschheit, Teil unseres gesamten Wirs sind.
Sie gehören dazu. Wir wissen, dass noch große Anstrengungen erforderlich sind, ihnen gleiche Teilhabe und
freie Persönlichkeitsentfaltung zu verschaffen. Es ist viel
besser, diese Bedingungen zu schaffen, als vergeblich zu
versuchen, Menschen, die anders sind, zu verhindern.
Vielen Dank.
({8})
Michael Kretschmer hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gespräche zum Thema PID verlaufen anders als diejenigen,
bei denen es um die embryonale Stammzellforschung
oder ähnliche ethische Themen geht. Man merkt ganz
schnell, dass es viele Betroffene gibt. Viele Leute kennen in ihrer Familie oder bei ihren Freunden Fälle von
künstlicher Befruchtung. Man ist erstaunt darüber, wie
viele Personen, die man kennt und von denen man es
nicht gedacht hätte, ins Ausland gehen - nach Tschechien fahren, nach Österreich reisen, nach Barcelona
fliegen -, um dort eine künstliche Befruchtung oder PID
vornehmen zu lassen. Das zeigt, dass wir viel weiter
sind, als wir es uns vielleicht eingestehen wollen.
Ich habe mich entschieden, für eine begrenzte Zulassung einzutreten, weil wir eine widerspruchsfreie, eine
konsistente Lösung brauchen. Wir haben eben nicht ein
weißes Blatt vor uns und können nicht neu entscheiden.
Vielmehr wurden in diesem Bereich in der Vergangenheit sowohl hier als auch vor Gericht viele ethische Entscheidungen getroffen, die mittlerweile gesellschaftlich
akzeptiert sind.
Es gibt Pränataldiagnostik; es gibt die PolkörperchenUntersuchung; es gibt die Spirale. Meine Damen und
Herren, es gibt viel zu viele Abtreibungen, nämlich
110 400 pro Jahr. Ich halte das für einen ganz dramatischen Wert, über den es sich zu reden lohnt. Über
110 000 Abtreibungen muss es in einem aufgeklärten
Land wie Deutschland nicht geben.
({0})
Außerdem gibt es die künstliche Befruchtung. Ohne
die künstliche Befruchtung würden wir über PID überhaupt nicht sprechen. Sie ist aber gewollt. Es gibt Bundesländer, die sogar stolz darauf sind, dass sie noch den
vierten, fünften oder sechsten Versuch finanziell unterstützen, wenn die Krankenkassen schon nicht mehr bezahlen.
Wenn man an diesem Punkt ist, muss man sich dieser
Sache auch stellen und kann nicht sagen: Nein, ich will
damit nichts zu tun haben; ich will über diese Frage
nicht reden. Schließlich kann der Arzt bei der Untersuchung sehen, ob eine befruchtete Eizelle lebensfähig ist
oder nicht. Man kann doch nicht sehenden Auges die Eltern, insbesondere die Mütter, in die Situation bringen,
dass sie am Ende das dramatische Erlebnis einer Totgeburt erleiden oder zu entscheiden haben, eine Abtreibung vornehmen zu müssen, wenn man es vorher anders
klären kann.
Zugegebenermaßen geht es um eine geringe Anzahl
von Fällen, vielleicht um wenige Hundert. Das sind aber
dramatische Fälle. Diesen Menschen muss man zu helfen versuchen. Das steht für mich außer Frage.
({1})
Es ist kein weißes Blatt. Man muss die vorhandenen
Dinge zur Kenntnis nehmen und auf diesen Entscheidungen aufbauen.
Deswegen haben wir uns für eine Lösung ausgesprochen, die klar auf schwere bzw. schwerste erbliche Vorerkrankungen begrenzt ist. Das entspricht dem, was der
Bundesgerichtshof jetzt entschieden hat. Die PID ist in
solchen Fällen zulässig. Deswegen wäre es meines Erachtens gut, sie heute auch vom Verfahren her zu klären.
Wir haben gesagt: Diese Behandlung soll nur an wenigen Zentren vorgenommen werden; vorher soll eine
Ethikkommission entscheiden. Ich halte es für richtig,
dass in dieser Situation tatsächlich nur unter klaren Kriterien eine Behandlung vorgenommen wird und dass
Ärzte sowie Theologen noch einmal die Möglichkeit haben, zu beraten und am Ende entweder „Nein, wir raten
davon ab“ oder „Ja, wenn die Mutter das möchte, soll es
so sein“ zu sagen.
Meine Damen und Herren, in der Tat sind die Situation und die Geschichten, die wir erzählt bekommen, in
einem solchen Maße dramatisch und anrührend, dass
man sich nicht einfach wegducken kann, ohne darüber
zu reden.
Diese Debatte war sehr sachlich und von gegenseitiger Rücksichtnahme und Akzeptanz geprägt. In den letzten Wortmeldungen gab es allerdings einen Zungenschlag, der mir überhaupt nicht gefällt. Ich finde, dass
wir ihn auch nicht hineinbringen sollten. Wir dürfen unsere Wissenschaft nicht in den Verdacht bringen, dass sie
leichtfertig oder unethisch vorgeht.
({2})
Es sind dieselben Wissenschaftler, von denen wir uns in
schwersten Fällen - wenn wir selbst erkranken oder
wenn es um die Medizin im Allgemeinen geht - Hilfe
erwarten, die wir jetzt hier so leichtfertig in den Verdacht
setzen.
Nein, die deutsche Wissenschaft hat klare Regeln.
Wir können froh darüber sein, dass wir die Leopoldina,
die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den Wissenschaftsrat und unsere Wissenschaftsorganisationen haben, die uns mit Rat zur Verfügung stehen, und wir sollten hier nicht leichtfertig irgendwelche Verdächtigungen
aussprechen. Sie sind unbegründet. Wir können froh
sein, dass wir die deutsche Wissenschaft haben.
Danke.
({3})
Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist nicht leicht und vielleicht sogar unmöglich, hier irgendeinen intellektuellen Schachzug, irgendeine sprachliche Raffinesse aufzubieten, die Sie
überraschen und überzeugen könnte, nachdem so viele
Argumente ausgetauscht wurden. Ich stehe hier, um mit
aller Eindringlichkeit dafür zu werben, dass Sie die PID
nicht zulassen. Es geht bei der PID auch um das, was Voraussetzung dafür ist, dass menschliches Leben entsteht.
Einem Leben, das entstanden ist, wird womöglich das
Lebensrecht nicht zugestanden, weil es einen Test nicht
bestanden hat, weil es Standards nicht erfüllt.
Wir könnten hier die medizinische Dimension beleuchten: Wie wahrscheinlich ist das? Wie hoch ist die
Baby-take-Home-Rate? Was muten sich die Frauen zu?
Ich muss sagen: Das sind für mich nicht die entscheidenden Argumente. Ich maße mir nicht an, für eine Frau die
Entscheidung zu treffen, welcher Leidensdruck höher
ist. Ist es der Leidensdruck, diese Prozeduren durchzuführen bzw. über sich ergehen zu lassen, oder ist es der
Leidensdruck, sich den Kinderwunsch nicht erfüllen zu
können? Darin sehe ich nicht die Aufgabe des Staates.
Ich könnte mich als Juristin hier hinstellen und sagen:
Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 entschieden,
dass mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle die
Sache entschieden ist. Das würde dem Konflikt, um den
es geht, und der Situation der Eltern nicht gerecht.
Aber was ist dann entscheidend? Keiner von uns
kommt heute an der Frage vorbei, wann menschliches
Leben beginnt. Wir, die wir heute hier entscheiden müssen, kommen nicht daran vorbei, und auch die Eltern und
Mediziner kommen nicht daran vorbei, wenn sie das
dann im konkreten Fall beantworten müssen.
Hat ein Mensch schon in diesem frühen Entwicklungsstadium mit wenigen Zellen die gleiche Würde und
das gleiche Lebensrecht wie der geborene Mensch, der
gesunde Mensch, der kranke Mensch, der alte Mensch?
Das ist die Kernfrage. Wer sie verneint, der kann überhaupt keine Einwände gegen PID haben, und zwar im
umfassenden Sinne nicht. Wer sich einmal auf den
Standpunkt stellt, dass Lebensrecht und Menschenwürde
erst zu einem späteren Zeitpunkt entstehen - welcher das
sein soll, hat mir noch keiner überzeugend dargelegt -,
der braucht dem Auswahlrecht der Eltern im Prinzip
überhaupt keine Schranken zu setzen.
({0})
Ich weiß: Den Befürwortern der PID geht es heute
nicht darum, Schrankenlosigkeit zu etablieren. Sie wollen nicht die Wunschbabys mit vorbestimmtem Geschlecht, vorbestimmter Haarfarbe und maßgeschneiderten Eigenschaften. Sie haben Familien im Blick, denen
man wirklich helfen möchte. Wenn man das konsequent
zu Ende denkt, dann erkennt man: Es gibt keinen Grund,
die Auswahl auf bestimmte, definierte Krankheiten zu
begrenzen.
({1})
Wenn dem Embryo in diesem Stadium das Lebensrecht
aberkannt wird, dann brauchen wir auch keine Ethikkommission.
({2})
Das ist der Grund, weshalb sich die restriktive Linie,
die hier aufgezeigt wird, nicht halten lassen wird. Das,
was ich hier von den Kollegen in der Debatte gehört
habe, bestärkt mich sehr in meinen Befürchtungen, dass
das nur der erste Schritt hin zur völligen Freigabe ist.
({3})
Ich finde in der Entwicklung des Babys keine Stufe,
von der man sagen könnte: Hier, an dieser Stelle, ändert
sich etwas so gravierend, dass man vorher noch nicht
von einem Menschen spricht, ab einem bestimmten Zeitpunkt aber schon. Im Embryo, auch in diesem Stadium,
ist schon alles da; alles ist auf Entwicklung angelegt auf eine Entwicklung hin zu dem Menschen, dem wir
später womöglich begegnen, den wir womöglich sehen.
Das sagt mir nicht nur mein Verstand, das sagen mir
auch Herz und Bauch, und das war auch mein Empfinden in den ersten Tagen meiner Schwangerschaften. Das
ist kein Zellhaufen. Das ist ein Mensch, eine Person, ein
Du, das sich auf den Weg ins Leben gemacht hat.
({4})
Ich habe ganz viel Sympathie für den Wunsch von Eltern nach einem Kind. Ich kann natürlich verstehen, dass
sie sich für dieses Kind Gesundheit und eine gute Entwicklung wünschen. Aber das kann die PID nicht leisten.
Sie sorgt nicht dafür, dass nur ein gesundes Kind gezeugt
wird. Sie erhöht noch nicht einmal die Wahrscheinlichkeit. PID sorgt nicht dafür, dass von vornherein kein Leben mit irgendwelchen von der Medizin, der Gesellschaft
oder der Politik definierten Defiziten entsteht, sondern sie
ermöglicht nur, dass dieses Leben in einem möglichst frühen Stadium aussortiert wird.
({5})
PID ist kein Ansatz für eine Heilung. Sie führt nicht
dazu, dass ein geliebtes, konkretes Kind zum Beispiel
die Krankheit Mukoviszidose nicht hat; vielmehr hätten
die Eltern ein anderes Kind. Das Kind mit der Normabweichung, mit der Krankheit, hätten sie verworfen und
niemals kennengelernt. Das ist der ganze Unterschied.
Um ein gesundes Kind zu haben, wird die Herstellung
weiterer überzähliger Embryonen in Kauf genommen,
denen dann kein Lebensrecht zugestanden wird. Oft
wird die Freude über das gesunde Kind nicht auf Dauer
vergessen machen können, dass auf seinem Weg ins Leben einmaliges menschliches Leben zurückgelassen
wurde. Wie kann man mit diesem Wissen glücklich und
beruhigt leben? Wie kann das Kind, das das Rennen gemacht hat, mit dem Druck leben, dass es diese Auswahlentscheidung und sein Lebensrecht auf Kosten der anderen rechtfertigen muss?
({6})
Wie kann eigentlich ein behindertes Kind damit leben, zu wissen, dass die Eltern beim nächsten Mal die
PID in Anspruch genommen haben, weil sie eine solche
Krankheit nicht noch einmal erleben wollten? Wie wollen wir als Gesellschaft damit leben, dass wir den Anpassungsdruck an vorgegebene Normen und Standards
erhöhen, indem wir ein Verfahren etablieren, mit dem
man möglichst früh Menschen mit Abweichungen aussortieren kann? Ich meine, dieser Preis ist zu hoch.
({7})
Wir wollen nicht schauen, welche Fähigkeiten fehlen
und daran ein Verdikt knüpfen, mit dem das Lebensrecht
abgesprochen wird. Wir wollen nicht so tun, als hätte
nicht jeder von uns irgendwo eine Macke. Wir wollen
das in den Mittelpunkt stellen, was jeder mitbringt. Nach
meiner Überzeugung entspricht nur das der Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
meine, wir haben hier eine sehr ernsthafte Debatte geführt. Ich wünsche mir sehr, dass wir am Ende dieser
ernsthaften Debatte ein Ergebnis bekommen, mit dem
wir alle leben können.
Im Sommer des vergangenen Jahres hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass nach dem heute noch geltenden Recht die Präimplantationsdiagnostik zulässig
ist. Wir wollen heute darüber entscheiden, in welcher
Weise wir die Nutzung der Präimplantationsdiagnostik
einschränken oder ob wir sie gänzlich verbieten.
Wir alle haben sicherlich Briefe von Paaren bekommen, die Überträger ein schweren Erbkrankheit sind und
die Leid erfahren haben, die einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen haben, die kranke Kinder haben
sterben sehen, die sich nach einer Pränataldiagnostik
entschieden haben, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Ich meine, wir müssen darüber entscheiden,
wie wir mit diesem Thema umgehen. Wir müssen dies in
Konsistenz mit der aktuellen Gesetzgebung entscheiden.
Ein Vorredner hatte darauf hingewiesen, dass jedes
Jahr über 100 000 Schwangerschaftsabbrüchen etwa
650 000 Geburten gegenüberstehen. Schon 1999 hatte
die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz
festgestellt:
Es wäre ein Wertungswiderspruch, den Paaren, bei
denen das Risiko der Übertragung eines Gendefekts
festgestellt wurde, die Präimplantationsdiagnostik
aus Rechtsgründen zu verwehren und dann diesen
Paaren gleichwohl die Durchführung der Pränataldiagnostik zu erlauben, die im Fall einer festgestellten Indikationslage zum Schwangerschaftsabbruch
führen kann.
Wir haben hier auch gehört: Die „Pille danach“ ist
rechtmäßig, die Spirale, die die Einnistung des Embryos
verhindert, ebenfalls.
Eine befruchtete Eizelle ist der Beginn menschlichen
Lebens. Aber wir wissen auch: Nicht jede befruchtete
Eizelle wächst zum Menschen heran. Nur etwa 30 Prozent der Eizellen - das haben wir in den Anhörungen gehört - nisten sich ein, wachsen zu einem menschlichen
Leben heran, 70 Prozent sterben ab, und wir können
diese Embryonen in keiner Weise schützen.
Das heißt für uns: Die befruchtete Eizelle braucht die
Einnistung in die Gebärmutter. Sie braucht die Mutter.
Der menschliche Embryo ist nicht autonom lebensfähig.
Wir können dem menschlichen Embryo Rechte nicht autonom zuweisen, weil er ohne Mutter nicht lebensfähig
ist.
({0})
Nur mit der Mutter können wir den Embryo schützen.
Paare, bei denen einer oder beide Partner Überträger
einer schweren Erbkrankheit sind, wissen in sehr vielen
Fällen um die in ihren Familien vorhandene Erbkrankheit. Ich habe in Marburg studiert, und dort gab es zu
meiner Studienzeit bereits eine Beratungsstelle für Paare
mit genetischer Belastung - lange bevor es irgendwelche
Genomuntersuchungen des Menschen gegeben hat -,
weil man aus Stammbaumuntersuchungen wusste, dass
Menschen Überträger genetischer Krankheiten sind.
Paare mit einer solchen genetischen Belastung stehen
schon im Konflikt, wenn sie sich ein gesundes Kind
wünschen. Sie können dem Konflikt nur dann ausweichen, wenn sie von vornherein auf eigene Kinder verzichten. Dies halte ich für nicht angemessen. Ich meine:
Es gibt ein Recht darauf, sich ein gesundes Kind zu wünschen.
({1})
Wir als Gesellschaft haben auch die Pflicht, diesen
Menschen die Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts zu eröffnen.
({2})
Angesichts der emotionalen Not von Paaren mit einer
erblichen Belastung, die sich eigene Kinder wünschen,
sollten wir für die Anwendung der PID einen rechtlichen
Rahmen schaffen. Ich habe mich entschieden, den Gesetzentwurf von Frau Flach, Herrn Hintze und Frau
Reimann zu unterstützen, weil ich meine, dass dieser
Gesetzentwurf am ehesten gewährleistet, dass solche
Paare entsprechende Möglichkeiten bekommen.
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass die Eingrenzung
der Zulassung der PID schwierig ist. Aber eine solche
Schwierigkeit kann doch für uns als Gesetzgeber keine
Begründung dafür sein, ein vollständiges Verbot auszusprechen.
({3})
Wir haben sehr viele gesetzliche Vorlagen, bei denen
eine Abwägung zu erfolgen hat, und wir drücken uns davor nicht. Es ist richtig, dass wir bei jeder PID eine Einzelfallentscheidung vorsehen. Nur so können wir unserer
Verantwortung gegenüber menschlichem Leben gerecht
werden. Ich möchte, dass die angesprochenen Paare die
inzwischen entwickelten medizinischen Möglichkeiten
erhalten, damit sie gesunde Kinder bekommen können.
Ich bin mir bewusst, dass dies nur auf wenige Paare zutrifft. Ich bin mir auch bewusst, dass wir keine Garantie
geben. Niemand hier hat von einem Versprechen, niemand hat von einer Garantie gesprochen.
Ich meine, wir können Vertrauen in den verantwortungsvollen Umgang von Eltern und Ärzten mit der PID
haben. Wir sehen die Erfahrungen aus dem benachbarten
Ausland. Ich meine, dies bestärkt uns darin, dass wir
Vertrauen haben können. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf der Kollegen Flach,
Hintze und Reimann.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
({4})
Jetzt hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ja, wir haben eine schwere, eine sehr schwere Entscheidung vor uns. Ganz wenige in diesem Haus werden von
Anfang an genau gewusst haben, wie es richtig ist. Wir
haben keine Entscheidung vor uns, die nur ganz wenige
Paare, die nur ganz wenige Eltern, die nur ganz wenige
Kinder betrifft, sondern wir haben eine Entscheidung
vor uns, in der es um unsere Gesellschaft als Ganzes
geht.
({0})
Da stehen zwei Menschen vor uns: Der eine hat eine
Behinderung, und die andere nicht. Niemand käme auf
die Idee, zu der einen zu sagen: „Wie schön, dass du auf
der Welt bist“, und zu dem anderen: Dich hätte es lieber
nicht geben sollen. - Wir haben ein untrügliches Gespür
dafür, dass das nicht sein darf.
Heute entscheiden wir über Verbot oder Zulassung
der PID. Wenn wir sie zulassen, machen wir genau das,
nur dass wir dem Menschen nicht direkt gegenüberstehen, sondern mit Blick in die Petrischale entscheiden.
Nein, es ist dann noch kein für uns erkennbarer Mensch,
der uns etwa anlächeln könnte. Aber in ihm ist alles angelegt, was ihn oder sie zum Menschen machen wird,
und zwar so unterschiedlich, wie er oder sie ist. Es geht
nicht um den Streit, wann das Leben beginnt; es geht um
diese Unterschiedlichkeit und um die Frage: Wollen wir
sie in unserer Gesellschaft zulassen, ja oder nein?
({1})
Mich beunruhigt das Argument, das in der Diskussion
immer wieder zu hören war, die PID erspare eine belastende Abtreibung zu einem späteren Zeitpunkt der
Schwangerschaft; es sei besser, die Embryos vorher auszusortieren. Es scheint also nicht nur selbstverständlich
zu sein, dass in unserem Land Spätabtreibungen wegen
Behinderung stattfinden sollen, was ethisch höchst fragwürdig ist; entscheidend ist, dass wir als Gesetzgeber
auch noch annehmen, wir müssten eine gesetzeswidrige
Haltung zustimmungsfähig finden. Als Gesetzgeber sollten wir das definitiv nicht tun, meine Damen und Herren.
({2})
Was ist eigentlich mit dem Selbstbestimmungsrecht
der Frau, um das es heute immer wieder ging? Was meinen wir, wenn wir heute von Selbstbestimmungsrecht reden? Welche Frau kann sich unter den Bedingungen, die
der Gesetzentwurf Flach/Hintze vorsieht und die andere
schon vorgesehen haben, heute noch ohne gesellschaftlichen Druck, ohne familiäre Ansprüche, ohne Ansprüche
des Freundeskreises und ohne Druck der Ärzteschaft
entscheiden?
Die Pränataldiagnostik, die ursprünglich nur für ganz
wenige Ausnahmefälle gedacht war, ist zu einer Regeluntersuchung geworden und wird mit entsprechendem
Druck „angeboten“; man muss das schon in Anführungszeichen setzen. Damit ist das Selbstbestimmungsrecht
alles andere als gewährleistet.
({3})
Es sind wieder die Frauen, die das alles auf sich nehmen sollen. Es sind die Frauen, die die Belastungen, die
durch die künstliche Befruchtung entstehen, auf sich
nehmen sollen. Es sind im Wesentlichen auch wieder die
Frauen, die letztendlich zu entscheiden haben.
Die Befürworter der PID legen großen Wert darauf,
dass sie eigentlich verboten bleibe und nur in ganz engen
Grenzen zugelassen werde. Wie belastbar ist diese Grenzziehung? Ich sage Ihnen: Die Grenzen werden nicht erst
in Zukunft erweitert werden; die Erweiterung ist in diesem Gesetzentwurf schon angelegt.
({4})
Denn erstens sind die schwerwiegenden Erkrankungen
nicht definiert. Zweitens soll es um Erkrankungen gehen, die häufig erst dann auftreten, wenn man 40 Jahre
oder älter ist. Brustkrebs gehört zu diesen Erkrankungen.
Das wollen wir aussortieren. Das wollen wir verhindern.
Dem wollen wir nicht zum Leben verhelfen. Ich kann es
nicht verstehen. Diese Ausweitung der Grenzziehung
gibt es bereits heute in dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf.
({5})
Es wurde immer wieder argumentiert, es gebe die
Spirale, die „Pille danach“ etc. Bei diesen Verhütungsmethoden geht es doch mitnichten darum, auszusortieren, welches Leben wir wollen und welches Leben wir
nicht wollen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und
der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert ({6})
Hier geht es eindeutig um etwas anderes. Wir sollten solche Vergleiche nicht anstellen.
Sie haben auch gesagt, dass es keine Liste geben
werde; eine Ethikkommission werde in Einzelfällen entscheiden. Was glauben Sie, was mit den Einzelfällen
passiert, über die entschieden worden ist? Selbstverständlich werden sie öffentlich; es wird faktisch eine
Liste geben, auf der Menschen nachsehen können, ob
sie, die mit einer Behinderung leben, aussortiert worden
wären. Dass es keine Liste gibt, ist ein Pro-forma-Argument, das dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf definitiv nicht entspricht.
({7})
Dass Sie nicht wagen, deutlich zu machen, dass man
mehr als drei Embryonen benötigt, wie es in der Anhörung unter anderem von Herrn Hintze gesagt worden ist,
und was mit den Embryonen, die dann verworfen werden, geschehen soll, halte ich für unzulässig. Sie versuchen, zu verwischen. Sie versuchen, mit unklaren Argumenten deutlich zu machen, Sie würden nur für eine
kleine Gruppe entscheiden. In Wirklichkeit ist in diesem
Gesetz schon mehr als ein Dammbruch angelegt.
({8})
Zum Schluss: Die Nebenbefunde, die es bei dieser
Untersuchung geben wird - das Downsyndrom gehört
dazu -, werden nicht verschwiegen werden können; sie
werden gesagt werden, und wir werden erleben - das
gibt es heute schon -, dass empfohlen wird, dass ein
Kind mit Behinderung eben gar nicht erst zur Welt kommen soll.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht auf einer Insel. Wir diskutieren nicht für einige wenige Paare. Wir
reden über eine Gesellschaft, in der jeder seinen Platz
haben soll: die Mutter, die ohne Druck entscheidet, das
Kind, das mit oder ohne Behinderung in unserer Gesellschaft lebt. Ja, es geht um Hilfe, es geht um die Gewährung von Unterstützung, aber eben nicht darum, Leben
überhaupt zu verhindern oder zu verhindern, dass unterschiedliche Menschen auf die Welt kommen. Manche sagen, das sei religiös. Ich finde, das ist zuerst einmal einfach menschlich.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Rede von Frau Göring-Eckardt hat
den Punkt getroffen. Im Prinzip geht es doch darum:
Kann der Embryo schon als Mensch gesehen werden,
muss er gar als Mensch gesehen werden, oder ist er etwas anderes?
Ich halte die Position, dass der Embryo schon ein
Mensch ist, für eine religiöse Position, die ich persönlich
nicht teile.
({0})
Sie darf auch nicht Grundlage für unsere Gesetzgebung
sein. Wenn man die Position, der Embryo sei schon ein
Mensch, zu Ende denkt, dann stellt der Einsatz der Spirale zwar keine Selektion dar, aber im Prinzip die Abtötung eines Menschen; denn der Mensch „Embryo“
würde durch die Spirale getötet. Wenn man den Embryo
schon als Menschen versteht, dann müsste man im Übrigen auch die In-vitro-Fertilisation in Gänze verbieten;
denn damit produziert man Menschen, die man dann
sterben lässt. Das ist eine Position, die völlig unhaltbar
ist, wenn man sie zu Ende denkt.
({1})
Ich respektiere diese Position als eine religiöse Position,
aber sie kann nicht Grundlage unserer Gesetzgebung
sein.
Weiterhin wird hier gesagt, PID sei der Beginn der
Selektion von Menschen. Das ist nicht richtig. Wenn
man den Embryo nicht einsetzt, dann ist das die Selektion eines Embryos, aber nicht die Selektion eines Menschen. Aber wenn man denselben Embryo einsetzt, um
ihn als Kind spät abzutreiben, meine sehr verehrten Damen und Herren, dann ist das die Selektion eines Menschen, und das ist, wenn möglich, immer abzulehnen.
Das ist oft auch eine Verzweiflungstat, und damit
nicht immer illegal, wie Wolfgang Thierse angedeutet
hat - Schwangerschaft auf Probe -; viele der betroffenen
Frauen sind nämlich verzweifelt, und ihre seelische Gesundheit ist gefährdet; von daher ist der Eingriff in diesem Fall legal.
({2})
Er ist aber dennoch, wann immer möglich, zu vermeiden. Daher vertrete ich die Position: Wenn es mit der
PID möglich ist, die Zahl von Spätabtreibungen auch nur
zu reduzieren, dann ist das aller Ehren wert.
({3})
Das ist ein menschliches Anliegen. Das ist ein Fortschritt. Das ist eine Hilfestellung.
Es ist auch kein Dammbruch. Der Dammbruch ist im
Prinzip längst dort erfolgt, wo die PND missbraucht
wird. Solche Fälle - Wolfgang Thierse, das ist völlig
richtig - gibt es. Diesen Dammbruch dürfen wir nicht
hinnehmen. Es gibt legale Fälle, es gibt aber auch illegale Fälle. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie dies
genauer zu prüfen ist.
Ich sprach heute Morgen mit einem befreundeten Psychiater, der Gutachten zu der Frage zu formulieren hat,
aus welchen Gründen nach der PND die Spätabtreibung
erfolgt: Ist die seelische Gesundheit tatsächlich gefährdet, oder handelt es sich im Prinzip um Selektion? Selbst dieser Gutachter kann die Antwort nicht geben.
Oft wissen die Frauen selbst die Antwort nicht. Daher
gilt es, die PND zu vermeiden, wo immer wir können.
Es gibt hier bei der Entstehung des Menschen auch einen qualitativen Unterschied. Herr Kauder, Sie haben
gesagt, nach dem Embryo gebe es bei der Entstehung
des Menschen
({4})
- nach der Verschmelzung - keinen qualitativen Unterschied. Es gibt diesen qualitativen Unterschied, den wir
rechtlich immer gewürdigt haben: Es ist die Einnistung.
({5})
Denn ohne die Einnistung ist der Embryo nicht lebensfähig.
({6})
Die Wissenschaft belegt ganz eindeutig - das wird sich
auch nie ändern -: Nur der nach der Verschmelzung eingenistete Embryo ist lebensfähig. Wenn es diesen Unterschied nicht gäbe, hätten wir hier ganz andere Rechtsfolgen zu beachten.
Ich will noch auf das Argument von Herrn Seifert eingehen - ich halte dies für sehr wichtig -, dass wir hier
mit einer Diskriminierung beginnen würden. Die Diskriminierung von behinderten Menschen wäre unerträglich.
Das gilt für unser Land in ganz besonderer Weise. Unsere Geschichte verpflichtet uns, dass wir dieses Argument besonders ernst nehmen. Ich persönlich glaube,
dass wir mehr tun müssen, um Diskriminierung zu vermeiden. Die Menschlichkeit im Umgang mit behinderten Menschen zeigt sich in der Art und Weise, wie wir
ihre Teilhabe organisieren. Die Menschlichkeit zeigt sich
nicht darin, wie viele behinderte Menschen wir in der
Gesellschaft haben, sondern wie wir mit ihnen umgehen.
({7})
Ich bitte daher Folgendes zu beachten - dies ist meine
letzte Bemerkung; denn ich habe die Redezeit schon
überschritten -: Wir, die wir uns für die PID einsetzen,
haben genau die gleiche Position zu behinderten Menschen wie Sie. Wir möchten, dass sich die Lebensbedingungen für behinderte Menschen verbessern. Das gilt
übrigens auch für die Mütter. Herr Zöller, bitte unterstellen Sie den Müttern, die sich für die PID entscheiden,
nicht, sie würden ihre Kinder weniger lieben. Das
stimmt nicht.
({8})
- Sie haben gesagt, die Kinder hätten ein Recht auf
Liebe. Sie haben damit angedeutet, dass die Eltern, die
sich für die PID entscheiden, ihre Kinder nicht lieben.
({9})
Gerade die Eltern, die ihre Kinder lieben, leiden am
stärksten unter der Behinderung und an dem zum Teil
qualvollen Tod ihrer Kinder, den sie miterleben müssen,
wenn es zu diesen Krankheiten kommt.
Die PID ist, wie Herr Hintze gesagt hat, eine Hilfestellung und ein Baustein zur Humanisierung unserer
Gesellschaft.
Vielen Dank.
({10})
Jens Spahn hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lauterbach, es ist selten so deutlich geworden wie in dieser Debatte - das zeigen Ihre Formulierungen -, dass Sie als Unterstützer des Antrages auf Freigabe der PID einem Embryo im Grunde genommen das
Menschsein absprechen. Das bestärkt mich in meiner
Überzeugung, warum ich Probleme mit den Gesetzentwürfen habe, mit denen die PID möglich gemacht werden soll.
Herr Kollege Hintze, Frau Kollegin Flach und Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die diesen Gesetzentwurf unterstützen, ich bin beeindruckt, mit welcher
Überzeugung Sie hier Ihre Positionen vortragen: frei von
Zweifeln und mit dem Anspruch, das ethisch Richtige zu
tun. Ich allerdings habe viele Zweifel und viele offene
Fragen. Mir bereitet die Eindeutigkeit, mit der Sie Ihre
Position hier vertreten, große Sorge, ob alle Fragen ausreichend beachtet werden, insbesondere die Fragen, die
Ihr eigener Gesetzentwurf aufwirft.
Bis heute, bis zu dieser Debatte, weigern Sie sich
- mich irritiert schon, dass Sie damit in der Diskussion
immer durchkommen -, klar zu definieren, bei welchen
Erkrankungen PID möglich sein soll und bei welchen
nicht.
({0})
Sie verhalten sich zu dieser Frage nicht.
({1})
Sie verhalten sich nicht dazu, dass die Sorge besteht,
dass die PID Schritt für Schritt ausgeweitet wird, und
dass die Entscheidungen der Ethikkommission, da es
keine klare Definition gibt, dazu führen, dass nach und
nach eine Liste entsteht.
Sie verhalten sich nicht dazu, dass es zwischen Pränataldiagnostik und PID einen Unterschied gibt, was die
spätmanifestierenden Krankheiten angeht.
Sie verhalten sich nicht dazu, dass die Zentrenbildung
an sich wahrscheinlich schon eine Ausweitung bedeutet,
weil jedes Zentrum eine Daseinsberechtigung braucht.
({2})
Zu alldem sagen Sie nichts. Das lässt Zweifel aufkommen, und diese Zweifel lassen mich Nein zu Ihrem
Antrag sagen.
({3})
Auch eine weitere Frage beantworten Sie nicht wirklich: Was passiert mit den überschüssigen Embryonen?
Es heißt dann immer - mir tut allein der Begriff weh -,
sie würden verworfen. Verworfen! Sie brauchen mehr
als drei - das ist in der Anhörung sehr deutlich geworden; das ist Ihnen ja auch bewusst -, nämlich sieben,
acht Embryonen für die PID. Da bleiben welche übrig.
Ich finde, dass Sie diese Frage, was passiert mit denen,
die übrig bleiben, die das Potenzial menschlichen Lebens, ein Kind zu werden, in sich tragen, schon beantworten müssen. Einfach nur in den Gefrierschrank - das
wird als Antwort auf Dauer nicht reichen. Denn da stellen sich ganz andere Fragen, und auch dazu müssen Sie
etwas sagen. Da können Sie die Dinge nicht einfach so
offen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ich habe auch Zweifel, wenn es um die Frage geht:
Was passiert eigentlich mit den weiteren Erkenntnissen,
die gewonnen werden? Die moderne Diagnostik, DNAChips und anderes machen es möglich, dass wahrscheinlich nicht nur auf die eine Erbkrankheit hin untersucht
wird, sondern dass es viele weitere Informationen gibt.
Die Frage ist schon: Wie ist denn mit diesen Informationen umzugehen? Dürfen die vorenthalten werden? Müssen sie, wenn sie da sind, nicht auch mit einbezogen
werden in die Entscheidung, die dann da getroffen wird?
Angesichts dessen, was moderne Technik wahrscheinlich noch möglich machen wird, ist das eine Frage, die
man zu Beginn einer solchen Entwicklung gleich mit beachten und mitdiskutieren muss, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Frau Göring-Eckardt und andere haben das ja
gerade noch einmal deutlich gemacht.
Sie haben die „Ethik des Helfens“ angesprochen, Herr
Kollege Hintze. Das suggeriert das Versprechen, dass
dank PID auf jeden Fall ein Kind zur Welt kommt und
dass ein gesundes Kind zur Welt kommt. Dieses Versprechen kann PID nicht geben. Das wissen Sie. Deswegen,
finde ich, ist der Begriff „Ethik des Helfens“ an dieser
Stelle schwierig.
({5})
Ich habe auch Zweifel in Bezug auf das, was in der
Folge passiert. „Dammbruch“ ist mit Sicherheit der falsche Begriff. Ich habe eher die Sorge, dass das eine langsam anschwellende Flut wird, jeden Tag verschieben
sich da ein bisschen die Rahmenbedingungen.
Es ist übrigens absurd, zu sagen, beim Schwangerschaftsabbruch und bei der PND, also bei der Pränataldiagnostik, hätten wir schon eine solche Entwicklung. Es
käme doch gar nicht mehr - das wurde sogar in der Anhörung von Sachverständigen gesagt - nur auf die Abwägung zwischen der Situation der Mutter und dem
Recht des Kindes an, sondern es wäre im Grunde eine
Entscheidung nach Diagnostik dann für das Kind oder
gegen das Kind. Das ist rechtswidrig. Aber es wurde so
in der Anhörung gesagt.
Es ist doch absurd, aus der Rechtswidrigkeit eines Zustandes, den wir heute haben, der sich eben Schritt für
Schritt durch eine Türöffnung entwickelt hat, abzuleiten,
dass man eine andere Tür öffnen könne, wobei man die
Sorge haben muss, dass sich genau das Gleiche entwickelt.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube nicht,
dass ich alles weiß, schon gar nicht in diesen Fragen;
vielmehr habe ich Zweifel, große Zweifel. Ich glaube,
wenn man in einer solchen Frage Zweifel hat - diese
Entscheidung ist nicht so revidierbar wie vielleicht Entscheidungen in der Energiepolitik oder bei anderen Dingen; diese Entscheidung weist in eine Richtung und wird
unumkehrbar sein -, dann muss man sich, glaube ich, im
Zweifel für ein Verbot entscheiden.
Es mag sein, dass ich in drei Jahren, in fünf Jahren, in
zehn Jahren klüger bin, es mag sein, dass wir diese
Zweifel, die ich habe, und die Fragen, die ich aufgeworfen habe, zu einem späteren Zeitpunkt so ausräumen
bzw. beantworten können, dass da keine Zweifel mehr
sind. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir im
Zweifel in einer solchen Frage die Entscheidung für das
Leben treffen müssen. Deswegen bitte ich insbesondere
die Kolleginnen und Kollegen, die sich noch nicht entschlossen haben, die unentschlossen sind, die zweifeln,
sich für das Verbot zu entscheiden, weil sie eben diese
Zweifel haben und weil man im Zweifel eine solch
grundlegende Entscheidung nicht treffen sollte.
({7})
Kerstin Müller hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier
wurde von manchen gesagt, es gehe um Kinder, um die
Selektion solcher Kinder, die lebenswert seien, und solchen, die das nicht seien, weil sie behindert sind. Ich
sage: Das ist nicht richtig, und das wird auch nicht richtiger, wenn man es hier wiederholt.
({0})
Es geht bei der Frage, ob der Gesetzgeber die PID
verbieten oder begrenzt zulassen soll, nicht um die Selektion von Menschen oder behinderten Lebens. Es geht
um den Schutz und die Achtung einer befruchteten Eizelle in der Petrischale. Genauer gesagt geht es um ihren
Schutz bis zur Einpflanzung in den weiblichen Körper.
({1})
Schon hier beginnen meines Erachtens die Widersprüchlichkeiten der Position derjenigen, die ein Totalverbot
der PID in Deutschland fordern. Den absoluten Schutz,
den hier viele von Ihnen für den in vitro gezeugten Embryo fordern, gewähren die meisten der Unterstützer
dem auf natürliche Weise gezeugten Embryo im Mutterleib seit langem nicht mehr. Warum, frage ich Sie, soll
dieses beginnende Leben, also die befruchtete Eizelle,
vor der Einnistung im Körper der Frau schützenswerter
sein als das bereits fortgeschrittene Leben im Bauch der
Frau? Das ist es nicht, und das kann es nicht sein.
({2})
Das wissen die meisten von Ihnen sehr genau. Auch
der BGH hat das sehr deutlich gemacht. Die Schutzwürdigkeit des sogenannten werdenden Lebens steigt, je älKerstin Müller ({3})
ter der Embryo wird, und nicht umgekehrt. Das muss in
einem Rechtsstaat so sein. Ihre Positionen sind dahin gehend weiter sehr widersprüchlich. Darauf geben Sie
auch heute keine Antwort.
Noch widersprüchlicher wird es - das wurde hier bereits angesprochen -, wenn man bedenkt, dass den
Frauen, die ohne oder mit In-vitro-Fertilisation bzw. mit
oder ohne PID schwanger werden, ab dem 35. Lebensjahr die Pränataldiagnostik zur Verfügung steht. Sie wissen: Werden bei dieser schwere Erbschädigungen oder
mögliche Behinderungen festgestellt, kann die Frau entscheiden, die Schwangerschaft abzubrechen, wenn sie in
einer möglichen Behinderung eine für sie schwerwiegende seelische und körperliche Belastung für ihr künftiges Leben sieht; so steht es auch im Gesetz. Bei der
PND wird also geprüft, was bei der PID schon hätte geprüft werden können. Es kann doch nicht sein, dass das
eine - die Erbschädigung der befruchteten Eizelle schützenswerter ist als das werdende Leben ab dem fünften Monat. Auch darauf geben Sie hier keine Antwort.
({4})
Woher nehmen Sie das Recht, zu beurteilen, dass die
eine Entscheidung moralisch unangreifbar ist, die andere
- die der verantwortlich entscheidenden Eltern - aber
nicht? Der geltenden Rechtsordnung kann man diese Bewertung jedenfalls definitiv nicht entnehmen.
Ich sage Ihnen hier sehr offen: Wegen dieser Ungereimtheiten in Ihrer Argumentation bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es, jedenfalls bei manchen, in dieser Debatte um die PID auch um ein Nachhutgefecht zu
der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch geht. Ich
will das hier sehr offen ansprechen.
({5})
Ich will es begründen: Sie können nicht verhindern, dass
sich eine Frau nach einer Amniozentese für den Abbruch
entscheidet, weil sie sich den Belastungen nicht gewachsen fühlt. Sie können ihr das Leben aber möglichst
schwer machen. Wenn sie sich schon gegen die Austragung möglicherweise schwerbehinderten Lebens entscheidet, dann soll sie mit dem Leid des Schwangerschaftsabbruchs zahlen.
({6})
Jerzy Montag hat doch hier den Landesbischof der Evangelischen Kirche in Bayern zitiert, der genau von diesem
„Leid“ der Frauen spricht. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass die Mehrheit von Ihnen diese Auffassung teilt.
Es gibt Paare, die in der Angst leben, ihr Kind könnte
mit einer schrecklichen Erbkrankheit geboren werden
und, wie etwa bei Morbus Krabbe, nach den ersten fünf
Monaten qualvoll vor ihren Augen sterben. Diese Paare
können sich heute für eine künstliche Befruchtung und
die PND entscheiden. Aber sie müssen ins Ausland fahren - nach Belgien zum Beispiel -, um das machen zu
können. Was macht das für einen Sinn? Wenn es nicht
darum geht, diesen Paaren das Leben schwer zu machen,
stellt sich für mich zumindest die Frage: Was ist denn
dann Ihre konkrete Empfehlung? Was bieten Sie diesen
Paaren denn an?
Im Rahmen der Debatten zum § 218 StGB - ich erinnere mich gut daran - wurde den Frauen immer wieder
unterstellt, sie würden keine verantwortliche Entscheidung treffen oder treffen können. Man hat von wenigen
Fehlentscheidungen auf die Mehrheit geschlossen.
Schauen wir uns den Konflikt hier noch einmal an: Glauben Sie wirklich, dass es eine leichte Entscheidung ist,
sich für den mühsamen und schmerzhaften Weg - das ist
hier mehrmals gesagt worden - der künstlichen Befruchtung, die nur mit 15-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu
einer Schwangerschaft führt, zu entscheiden? Die Paare
entscheiden doch nicht leichtfertig, dass die geschädigte
Eizelle nicht eingenistet werden soll. Sie machen es sich
mit ihrer Entscheidung schwer. Sie stecken da in einem
schlimmen Konflikt.
({7})
Man darf ihnen auch nicht unterstellen - das kam ja in
dem einen oder anderen Interview zum Ausdruck -, dass
der Wunsch nach einem Designerkind dahinterstecke.
Ich finde das paternalistisch und infam. Darum geht es
diesen Paaren, über die wir hier sprechen, sicher nicht.
({8})
Ich glaube: Wer es sich mit der künstlichen Befruchtung
bereits so schwer gemacht hat, der trifft auch im Hinblick auf die PID und deren Folgen eine gewissenhafte
und sorgfältige Entscheidung.
Der Entwurf, den wir vorgelegt haben, antwortet auf
diese Widersprüche und verfängt sich nicht darin. Er geht
von den betroffenen Paaren aus, die eine verantwortliche
Entscheidung treffen, und gibt ihnen dabei - etwa durch
die vorgesehene Beratung - Hilfestellung.
Ich bitte diejenigen von Ihnen, die sich noch nicht
entschieden haben: Bedenken Sie Ihre Entscheidung.
Trauen Sie den Paaren eine verantwortliche Entscheidung zu. Unterstützen Sie unseren Entwurf, der diesen
vielleicht 200 Paaren in Deutschland die Möglichkeit zu
einer informierten Entscheidung geben will. Um nicht
mehr und nicht weniger geht es heute.
Vielen Dank.
({9})
Andrea Nahles hat das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe einen unerfüllten Kinderwunsch
gehabt: Jahrelang hatte ich zunächst Hoffnung. Dann
hatte ich jahrelang wenig Hoffnung. Das Schwierigste,
das ich in meinem ganzen Leben bisher zu meistern
hatte, war - gegen Ende 30 -, die Hoffnung loszulassen,
dass es mir vielleicht vergönnt sein könnte, doch noch
ein eigenes Kind zu haben.
Deswegen möchte ich stellvertretend für alle, die sich
für ein Verbot der PID aussprechen - das tue nämlich
auch ich -, festhalten, dass die Unterstellung, wir könnten die Schwierigkeiten für die betroffenen Ehepaare
nicht nachvollziehen oder wüssten nicht darum, nicht
wahr ist. Es geht schlicht und ergreifend um etwas anderes: Es geht um den Respekt vor dem Leben von Anfang
an.
({0})
Im Übrigen geht es darum, dass die Würde des Menschen in dem Moment beginnt, in dem Ei- und Samenzelle verschmelzen. Und es gibt nur einen, der den
Schutz für diesen Embryo gewährleisten kann: Das ist
der Staat, das sind wir. Die einzelnen Paare oder Ehepaare können das nicht.
({1})
Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, welche Aufgabe wir
heute haben. Wir haben nämlich die Aufgabe, darüber zu
entscheiden, auf welchem ethischen Fundament wir eine
solch weitgehende Entscheidung treffen.
Den Dammbruch, Frau Flach, mache ich nicht daran
fest, um wie viele Fälle es geht. Ob es 200 oder 2 000
sind, spielt für mich überhaupt keine Rolle. Es stellt vielmehr einen Dammbruch dar, wenn ein Embryo, bevor er
eingepflanzt wird, eine genetische Qualitätskontrolle
durchlaufen muss, aus dem Embryo also nicht so, wie er
ist, ein Kind aus sich selbst heraus geboren wird.
({2})
Das ist der Dammbruch. Es ist mir dabei völlig egal, wie
viele Fälle das sind.
Die Schutzverpflichtung des Staates, lieber Karl
Lauterbach, beginnt übrigens sehr früh, und zwar genau
da, wo ich sie markiert habe. Ganz offenbar sind eine
Masse von Gesetzesänderungen geplant. Wenn man
nämlich das ernst nimmt, was Karl Lauterbach und andere vorgetragen haben, dann müsste man eine ganze
Reihe anderer Gesetze dementsprechend ändern. Wollen
wir das wirklich?
({3})
Dann muss man das hier offen sagen.
Im Rahmen dieser Debatte ist häufig die Rede von einer „begrenzten“ Erlaubnis. Das klingt für die Unentschlossenen nach „nicht so ganz“ oder „nicht ganz so
schlimm“. Ich habe eine Freundin, die heißt Birgit. Sie
hat zwei Kinder. Das erste Kind wurde mit einer Hasenscharte geboren. Bei der Geburt des zweiten Kindes lautete ihre erste Frage im Kreißsaal natürlich: Ist das Kind
gesund? Die Ärztin sagte ihr: Nein, wieder Hasenscharte. - Meine Freundin fing an zu weinen, weil sie
weiß, wie viele Operationen das bedeutet, wie viel Arbeit und Mühe damit verbunden sind und weil sie sich
natürlich ein gesundes Kind gewünscht hätte. Das ist
doch klar. Da sagt diese junge Ärztin so im Vorbeigehen
von einem Patienten zum anderen: Haben Sie sich denn
nicht genetisch beraten lassen? Ich meine, dass deswegen das, was hier als Selbstverwirklichung bzw. als Freiheit der Entscheidung und Wahlmöglichkeit verkauft
wird, ungewollt ganz schnell zum Zwang werden kann.
Ich glaube Ihnen, Frau Flach, dass Sie keine Designerbabys wollen. Ich glaube allen, die diesen Antrag unterstützen, dass sie das nicht wollen. Aber ich glaube nicht,
dass die Grenzen, die Sie aufgezeigt haben, Grenzen
sind, sondern ich glaube, dass es eine neue Praxis, eine
neue Realität geben wird und dass die Frage: „Haben Sie
sich denn nicht genetisch beraten lassen?“, eine Standardfrage in Deutschland wird, wenn wir heute diesen
Dammbruch begehen. Deswegen stimmen Sie bitte für
ein Verbot der PID.
({4})
Gabriele Molitor hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen hier heute Morgen eine sehr ernsthafte und
wichtige Debatte. Ich möchte an dieser Stelle nicht über
Motivlagen urteilen. Ich möchte diejenigen gewinnen,
die sich noch nicht entschieden haben, indem ich sie teilhaben lasse an dem Weg, wie ich meine Entscheidung
getroffen habe.
Darf ich als behindertenpolitische Sprecherin meiner
Fraktion für die Zulassung der PID sein?
({0})
Wie ich diese Frage für mich entschieden habe, möchte
ich Ihnen gern erläutern: Vor einigen Monaten habe ich
mit einem mir nahestehenden Arzt über die PID gesprochen. Er hat darum gebeten, Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. Der medizinische Fortschritt macht es
eben immer wieder notwendig, dass wir grundsätzliche
Fragen entscheiden, und damit dürfen wir die Medizin
nicht alleinlassen.
Die Gegner der Präimplantationsdiagnostik befürchten, dass durch die begrenzte Zulassung Dämme gebrochen werden. Das ist hier heute immer wieder angeklungen. Doch diese Argumentation geht weit über das
hinaus, was eine PID heute möglich machen kann. Für
mich hat das Eintreten für die Zulassung der PID unter
strengen Auflagen auch etwas mit Vertrauen zu tun. Ich
vertraue darauf, dass die für die Zulassung verantwortlichen Experten der Ethikkommission, die behandelnden
Ärzte, die hoffnungsvollen Paare verantwortungsvoll
und sorgsam mit diesem Diagnoseverfahren umgehen;
denn auch nach einer PID gibt es keine Gewissheit, dass
ein Kind gesund zur Welt kommt.
Lediglich knapp 5 Prozent der bei uns lebenden Menschen mit Behinderungen sind bereits mit einer Behinderung auf die Welt gekommen. 95 Prozent der Menschen
mit Handicap werden erst durch einen Unfall oder durch
eine schwere Erkrankung in diese Situation gebracht, die
ihr Leben vor neue Herausforderungen stellt.
Vielfach wird die Sorge geäußert, dass die PID Menschen mit Behinderung an den Rand der Gesellschaft
drückt. Ich sage dagegen: Jeder Einzelne - auch von den
hier Versammelten - hat es mit in der Hand, dass Menschen mit Behinderung ganz selbstverständlich zu unserer Gesellschaft gehören. Deswegen lade ich Sie alle
sehr herzlich ein, morgen bei der Debatte rund um die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in genauso großer Zahl zu erscheinen und mit uns zu diskutieren, wie die Situation von Menschen mit Behinderungen
verbessert werden kann.
({1})
Ich denke, es ist wichtig, Menschen mit Behinderung
nicht als Opfer zu betrachten oder immer nur darauf abzuheben, welchen Mangel oder welche Beeinträchtigung
sie haben. Es geht darum, sie ganz selbstverständlich
miteinzubeziehen in unser Leben, in unsere Gesellschaft,
und dafür können wir alle einen Beitrag leisten.
Ich für meinen Teil bringe es nicht über das Herz, gegenüber Paaren mit nachgewiesenen Erbschädigungen
Nein zu sagen und ihnen die Möglichkeit der PID zu
verwehren oder ihnen gar zu sagen, sie müssten gänzlich
auf Kinder verzichten, oder ihnen zu raten: Geht in europäische Nachbarländer, in denen die PID möglich ist.
Ein Hinweis ist mir wichtig: In vielen europäischen
Ländern ist die PID erlaubt; dort ist keineswegs festzustellen, dass Menschen mit Behinderung diskriminiert
werden.
({2})
Die Zulassung der PID ist für mich eine Frage der
Nächstenliebe. Aus all den genannten Gründen möchte
ich Sie bitten, den Antrag von Ulrike Flach, Peter
Hintze, Carola Reimann und anderen zu unterstützen
und die PID zuzulassen.
Vielen Dank.
({3})
Kerstin Griese hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte begründen, warum ich den Gesetzentwurf
von Flach, Hintze und Reimann unterstütze. Ich möchte
das vor zwei Hintergründen tun: zum einen vor dem
Hintergrund meines christlichen Menschenbildes, das
mich in meinen Vorstellungen von umfassender Menschenwürde leitet, zum anderen vor dem Hintergrund,
dass ich 2009 mit vielen anderen in diesem Haus, die
sich jetzt auf die drei Gesetzentwürfe verteilen, einen
Gesetzentwurf eingebracht habe, der die bessere psychosoziale Beratung bei eventueller Spätabtreibung vorsieht; für mich gibt es da einen inneren Zusammenhang.
Ich will erstens ganz ausdrücklich sagen: Der Gesetzentwurf, den ich unterstütze, sieht vor, dass die PID zwar
grundsätzlich verboten bleibt, aber in besonders schwer
wiegenden Fällen aus ethischen Gründen Ausnahmen
möglich sind. Die Perspektive der werdenden Eltern einzubeziehen, ist mir wichtig. Wir haben die Ausnahmen
klar definiert: ein hohes Risiko schwerwiegender Erbkrankheiten, Vorerfahrungen mit Totgeburten und
schwersten Behinderungen, die oft zu einem qualvollen
Tod der Kinder führen, den die Eltern miterleben müssen.
Wir haben festgesetzt, dass eine Ethikkommission über
die Anwendung der PID entscheidet. Wer sich einmal damit beschäftigt hat, was Ethikkommissionen in Krankenhäusern schon heute leisten, wenn es um den Anfang und
das Ende des Lebens geht, der weiß, wie wichtig die individuelle Beratung ist.
({0})
Ich will ausdrücklich sagen: Die Anzahl der Fälle ist
kein Argument. Es ist wichtig, zu wissen, dass es vermutlich um etwa 200 Fälle von PID im Jahr geht, also
nicht um eine hohe Zahl. Die Anzahl ist aber nicht das
Argument; wir müssen diese Frage grundsätzlich klären.
Deshalb sage ich zweitens: Als evangelische Christin
bin ich natürlich der Überzeugung, dass der Embryo
auch außerhalb des Mutterleibes schützenswert ist; aber
ich bin der festen Überzeugung - ich weiß es -, dass allein im Reagenzglas noch kein Mensch heranreift, der zu
einer eigenständigen Persönlichkeit werden kann. Erst
zusammen mit der Mutter entsteht werdendes Leben. Ja,
ein Embryo ist werdendes Leben, aber nur im Bauch der
Mutter wird es Leben.
({1})
Der evangelische Theologe Richard Schröder hat es bei
der großen Anhörung im Gesundheitsausschuss sehr gut
auf den Punkt gebracht: Geboren werden zu können, ist
eine Voraussetzung von Menschsein. - Wenn ich mir die
Stellungnahmen der Kirchen, die mir durchaus wichtig
sind, ansehe, dann erkenne ich, dass es in der evangelischen Kirche zwar keine einheitliche Haltung gibt, aber
auch bei ihr das Argument der Perspektive der Eltern
eine Rolle spielt.
Ich habe mich gefreut, einen Brief von Donum Vitae
aus Nordrhein-Westfalen zu bekommen, wo man mit der
Schwangerschaftskonfliktberatung, der Pränataldiagnostik und der Frage eines unerfüllten Kinderwunsches sehr
viel Erfahrung hat. Donum Vitae spricht sich ausdrücklich für eine begrenzte Zulassung der PID aus.
Mein drittes Argument. Ich habe es schon gesagt: Die
PID darf nur in besonderen Fällen zugelassen werden.
Ich will ausdrücklich sagen: Da geht es nicht um eine
Hasenscharte oder das Downsyndrom, sondern um
schwerste genetisch bedingte, vererbbare Krankheiten
und Behinderungen oder um Totgeburten.
({2})
Es ist doch klar: Wenn man den erblich schwer vorbelasteten Eltern die Möglichkeit der PID nicht geben
würde, würde man sie auf die Pränataldiagnostik verweisen. Dann würden sie in den Schwangerschaftskonflikt
kommen, der in § 218 StGB mit der Möglichkeit der sogenannten Spätabtreibung beschrieben ist, nämlich dann,
wenn die Mutter sagt: Ich kann das psychisch nicht ertragen; ich werde das nicht schaffen. - Wir haben uns 2009
sehr intensiv mit der Spätabtreibung beschäftigt. Ich
glaube, ich habe alle Berichte gelesen. Ich habe mit
Frauen gesprochen, die eine Spätabtreibung erlebt haben; das ist so schlimm. Wenn die Hilfe für die betroffenen Frauen und Eltern für uns im Mittelpunkt steht, dann
halte ich die PID für ethisch hinnehmbarer als eine eventuelle Spätabtreibung; ich finde, die PID ist für die
Frauen erträglicher.
({3})
Insofern ist meine Entscheidung auch frauenpolitisch
motiviert. Denn wir wissen, dass es für Frauen weniger
belastend ist und es ihnen viele traumatische Erfahrungen erspart, wenn sie den schweren Konflikt um die
Frage „Kann ich die Geburt eines schwerstbehinderten
Kindes oder sogar eine Totgeburt ertragen?“ zu einem
frühen Zeitpunkt lösen können und nicht erst später,
wenn es sie - nach allem, was wir wissen, darüber gehört
und gelesen haben - fürchterlich mitnimmt.
Ein weiterer Punkt: Die Rechtsetzung wird in ethischen Fragen immer wieder vom medizinisch Möglichen
überholt. Das gilt ganz besonders für die Pränataldiagnostik. Ich bitte aber ausdrücklich darum, dass wir die
Debatte über die Pränataldiagnostik nicht mit der PIDDebatte vermischen. Wir kritisieren sicherlich gemeinsam, dass die Pränataldiagnostik überhand genommen
hat und Druck auf Frauen ausgeübt wird. Wir müssen
endlich einmal eine Debatte darüber führen, was sich in
den letzten Jahren auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik
verändert hat. Wir müssen uns damit beschäftigen, welche Veränderungen man herbeiführen sollte, auch um
das Recht auf Nichtwissen zu verankern. Das hat aber
nichts mit dieser PID-Debatte zu tun.
({4})
Ein letzter Punkt, der mir eigentlich der wichtigste ist:
Ich finde es ganz schlimm, wenn uns unterstellt wird,
uns würde nichts an der Teilhabe von Menschen mit Behinderung liegen. Wir alle wissen, dass es weiterhin,
auch bei Anwendung von PID und PND, behinderte
Menschen geben wird. Die meisten Behinderungen entstehen bei oder nach der Geburt. Es wird niemals Leidfreiheit geben. Es wird keine Perfektion geben; das ist
auch nicht mein Menschenbild. Deshalb sollten wir dieser Idee nicht nachhängen, sondern Behinderung als Teil
unseres Lebens ansehen und anerkennen, dass behinderte Menschen zur Mitte unserer Gesellschaft gehören.
Wir sollten endlich mehr für die Inklusion behinderter
Menschen tun und nicht nur in Sonntagsreden darüber
sprechen. Das würde ihnen wirklich helfen.
({5})
In den Ländern, in denen die PID angewendet wird, gibt
es zum Teil eine bessere Inklusion behinderter Menschen.
Aus diesen Gründen habe ich mich entschlossen, den
Gesetzentwurf von Flach, Hintze, Reimann und anderen
zu unterstützen, der genau definierte, enge Regeln zur
begrenzten Zulassung der PID in Ausnahmefällen festsetzt, der Aufklärung und Beratung verpflichtend verankert und der in jedem individuellen Fall die Entscheidung einer Ethikkommission vorsieht. Das ist für mich
eine Entscheidung für das Leben. Das ist eine Entscheidung für die Hilfe für Betroffene. Für mich ist das Ethik
für das Leben.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Rudolf Henke hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Enge Grenzen, eng
umschrieben, Beratung notwendig, Ethikkommission
notwendig, eine Auswahl ganz bestimmter Zentren, in
denen das durchgeführt werden kann, ist notwendig,
kein Designerbaby - aber die Frage ist doch, Frau Flach,
Herr Hintze: Wofür öffnet Ihr Gesetzentwurf die Anwendbarkeit der PID?
({0})
Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, erlaubt
die PID auch im Falle von spätmanifestierenden Erkrankungen. Spätmanifestierende Erkrankungen treten in der
Regel erst im Erwachsenenalter auf. Sie ermöglichen ein
jahrzehntelanges gesundes Leben. Das Gendiagnostikgesetz, das wir hier mit großer Mehrheit verabschiedet
haben, verbietet solche Tests während der Schwangerschaft ausdrücklich; dieser Gesetzentwurf aber ermöglicht sie.
({1})
Dieser Entwurf, der „enge Grenzen“ vorsieht, lässt offen, was schwerwiegende Erkrankungen sind, bei denen
die PID erlaubt werden soll. Wir haben dann einen unbestimmten Rechtsbegriff. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird von Ethikkommissionen und Gerichten gefüllt
werden. Diese Auseinandersetzungen werden Leid über
die Menschen bringen, die daran beteiligt sind. Eine Suche nach immer mehr Erbanlagen, auch nach solchen, die
nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen überhaupt zu
einer Erkrankung führen oder deren Folgeerkrankungen
gut behandelbar sind, würde möglich. Damit ist die
schleichende Ausweitung der Anwendungsbereiche der
PID angelegt, wie Jens Spahn das dargestellt hat.
({2})
Ein weiterer Punkt. Vielleicht wollen viele von Ihnen
das nicht, vielleicht ist das nicht das Ziel, vielleicht geht
es Ihnen auch gar nicht darum, aber nach Text und Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs soll die PID als Reihenuntersuchung auch bei gesunden Paaren zugelassen sein.
({3})
Nach Ihrem Gesetzentwurf ist die PID „zur Feststellung
einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos …, die
mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt“ führen würde, erlaubt. Weil in Ihrem Gesetzentwurf für diese Suche keinerlei Voraussetzungen - weder
genetische Belastung der Eltern noch bereits erlittene
Fehl- oder Totgeburten - festgelegt werden, wäre die
PID damit bei nahezu jeder künstlichen Befruchtung
möglich. Das will ich nicht.
({4})
Herr Lauterbach hat von der Schwierigkeit der religiösen und naturwissenschaftlichen Analyse gesprochen. Er hat gefragt, was dieses menschliche Leben in
den ersten 14 Tagen vor der Nidation repräsentiert. Wir
würden da religiös argumentieren. Aber, Herr
Lauterbach, jede andere Position im Hinblick darauf,
wann das Menschlichsein, das Menschsein bzw. der
Charakter des Menschen hinzutritt, ist wesentlich religiöser als die naturwissenschaftliche Annahme, dass dies
mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle passiert.
Jede andere Annahme ist nur pseudonaturwissenschaftlich.
({5})
Ein Letztes. Auf den Tag genau ein Jahr nachdem
meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte, kam ein
Bruder zur Welt, der fünf Stunden gelebt hat. Ich habe
ihn nie gesehen. Ich erinnere mich an die Besuche - über
Jahrzehnte hinweg - am Grab, und ich weiß, dass dieser
Bruder eine wesentliche Rolle in unserer Familie, bei
meinem Lernen über den Zusammenhalt von Menschen
und bei meinem Lernen über die Verhältnisse der Begrenztheit menschlichen Glücks gespielt hat.
Wir sind nicht die Herren über Leben und Tod. Ich
will nicht, dass wir Menschen, weil sie eine Schädigung
aufweisen, die dafür sorgt, dass sie nach fünf Stunden tot
sind, den Weg vor die Tür unserer Gattung weisen. Genau das geschieht, wenn wir das Recht von Menschen,
weiterzuleben, an genetischen Merkmalen festmachen.
Deswegen sage ich Ihnen: Das dürfen wir heute nicht
tun. Vielleicht gelingt es, einen besseren Gesetzentwurf
zu entwickeln als den, den Sie jetzt vorgelegt haben.
Aber bis das der Fall ist, bitte ich Sie alle sehr, sehr herzlich darum: Stimmen Sie jetzt für den Gesetzentwurf,
der ein Verbot der PID vorsieht. Stimmen Sie für den
Gesetzentwurf, der den Namen „Göring-Eckardt“ trägt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Priska Hinz spricht jetzt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier im
Bundestag scheint es unversöhnliche Positionen zwischen Gegnern und Befürwortern der PID zu geben.
Deswegen möchte ich noch einmal ausdrücklich sagen:
Es gibt einen weiteren Gesetzentwurf, der ein Mittelweg
sein könnte, um zu einer gemeinsamen Mehrheit zu finden und damit Eltern zu helfen, gleichzeitig aber wirklich enge Grenzziehungen zu schaffen, damit wir Embryonen nicht nach Qualitätskriterien auswählen.
({0})
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es
möglich macht, die Überlebensfähigkeit des Embryos in
den Mittelpunkt der Entscheidung zu stellen. Es geht um
die Frage: „Kann ein Kind lebend zur Welt kommen?“
und nicht um die Frage: Ist das Kind behindert, oder hat
es aufgrund der genetischen Disposition der Eltern eine
Erbkrankheit? Alle Sachverständigen - auch die der
Gegner der PID - haben gesagt: Wenn es eine Grenzziehung gibt, die eingehalten werden kann, dann ist es
diese. Deswegen bitte ich Sie, noch einmal darüber
nachzudenken, ob es nicht möglich sein kann, zu einer
gemeinsamen Entscheidung zu kommen, um Leid von
Eltern, die wiederholt Fehl- und Totgeburten erleben, zu
lindern und trotzdem Behinderungen nicht aus unserem
Leben auszugrenzen.
({1})
Der Gesetzentwurf der Kollegin Flach und anderer
Kolleginnen und Kollegen sieht meines Erachtens keine
Begrenzung der PID vor, sondern trägt in sich schon eine
Erweiterung; das ist vorhin schon einmal erwähnt worden. Ich persönlich sage - ich war dabei, als wir über die
Frage der spätmanifestierenden Krankheiten diskutiert
haben -: Wir haben erst vor zwei Jahren ein Gendiagnostikgesetz beschlossen, in dem spätmanifestierende
Krankheiten als Untersuchungsgrund bei der PND ausgeschlossen werden. Jetzt wollen Sie einen Gesetzentwurf verabschieden, durch den eine genetische Untersuchung auf spätmanifestierende Krankheiten zugelassen
wird. Das bedeutet doch, dass wir Menschen absprechen, 30 oder 40 Jahre lang ein glückliches Leben führen
Priska Hinz ({2})
zu können, bevor eine Krankheit ausbricht. Wir alle wissen: Es gibt nicht nur Krankheiten, die aufgrund von
Erbanlagen ausbrechen, sondern jeden von uns kann
eine Krankheit treffen oder wir können als Folge eines
Unfalls behindert sein. Niemand würde uns ein glückliches Leben vor oder mit der Krankheit oder Behinderung absprechen.
({3})
Ein weiteres Problem ist das Screening, das in Ihrem
Gesetzentwurf angelegt ist. Sie tun immer so, als sei das
in Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten. Aber erstaunlicherweise haben die Sachverständigen in der Anhörung
auf genau diesen Punkt hingewiesen.
({4})
Ich finde, wenn wir eine Fachanhörung mit Sachverständigen, die noch mehr Ahnung von der Materie haben als
wir, durchführen, dann sollten wir zumindest auf die
Warnungen, die sie aussprechen, hören. Natürlich kann
es sein, dass Sie nicht wollen, dass ein Screening möglich ist, aber dann hätten Sie Ihren Gesetzentwurf an genau diesem Punkt ändern müssen.
({5})
Durch diesen Gesetzentwurf wäre bei allen künstlichen
Befruchtungen ein Screening auf Erbkrankheiten und
genetische Dispositionen zulässig.
Ein Argument möchte ich noch aufgreifen, weil es
immer wieder in der Diskussion genannt wird, nämlich
die Frage, ob durch die PID Schwangerschaftsabbrüche
vermieden werden. Abgesehen davon, dass ich nicht
glaube, dass ein Schwangerschaftskonflikt mit einer PID
zu vergleichen ist - es ist ein Unterschied, ob ich ein
Kind im Bauch trage und mich mit dem Konflikt auseinandersetzen muss, ob ich das Kind austragen kann,
oder ob es um einen Embryo geht, der extrakorporal gezeugt wurde, und ich mich frage, ob er eine genetische
Störung hat oder nicht -, wissen wir aufgrund der Zahlen
aus anderen Ländern, in denen es die PID gibt, dass die
Zahl der Schwangerschaftsabbrüche deutlich zunimmt.
({6})
Insofern ist es keine Vorwegnahme von Schwangerschaftsabbrüchen.
Meine Damen und Herren, es handelt sich um eine
schwierige Entscheidung und Abwägung zwischen vermeintlich zwei Wegen. Deswegen bitte ich darum, dass
Sie sich noch einmal überlegen, ob wir es nicht tatsächlich möglich machen können, einen medizinischen Fortschritt dafür zu nutzen, dass in einem engbegrenzten
Rahmen Eltern geholfen werden kann, die nur Tot- oder
Fehlgeburten erleben, ohne dass die Möglichkeit besteht,
Embryonen nach Qualitätskriterien auszusuchen. Wenn
Sie dieser Auffassung sind, dann stimmen Sie bitte unserem Gesetzentwurf zu. Dann hätten wir in dieser ethisch
schwierigen Frage große Einigkeit im Parlament.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat Ursula von der Leyen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe als junge Ärztin gleich nach dem Studium in der Gynäkologie und Geburtshilfe angefangen.
Ich habe damals in der Ambulanz unserer Klinik unendlich viele Gefühlslagen werdender Eltern erlebt. Ich
habe sehr viele glückliche Paare in froher Erwartung erlebt, aber auch Paare voller Angst, die sich mit einer
Diagnose überfordert fühlten. Ich habe verzweifelte
Frauen im siebten oder achten Schwangerschaftsmonat
erlebt, die keine Kindsbewegungen mehr spürten und
ahnten, dass ein früher Kindstod eingetreten ist. Ich habe
resignierte Paare erlebt, die schon Fehlgeburten erlitten
haben und wieder eine Fehlgeburt erleiden mussten. Ich
glaubte am Anfang, nach acht langen Jahren Studium
und Ausbildung vieles zu wissen. Aber die Wucht des
Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt hat
mich sehr still werden lassen. Seitdem bin ich mit dem
Urteil, was in solchen Situationen absolut richtig oder
absolut falsch ist, sehr vorsichtig geworden.
({0})
Der entscheidende Punkt ist für mich heute die Frage:
Auf wessen Schultern lastet am Ende die Verantwortung?
({1})
Lastet sie auf den Abgeordneten, die die Gesetze machen? Ja, sicher, wir stehen in der Verantwortung. Dafür
haben uns die Menschen gewählt. Deshalb macht es sich
keiner und keine in diesem Hause leicht. Aber bei aller
Sorgfalt, die wir aufwenden, und bei allem Anteil, den
wir nehmen, spüren wir die Wucht des Schicksals am
Ende nicht am eigenen Leib und an der eigenen Seele.
Es sind die Paare mit schweren erblichen Vorerkrankungen, die den Schwangerschaftskonflikt bereits erlebt haben, die eine Fehl- oder Totgeburt bereits erlebt haben,
die ein behindertes Kind bereits liebevoll pflegen, deren
gemeinsames Bangen und Hoffen nicht aufhört. Auf ihnen lastet letztendlich die Verantwortung vor Gott, die
Verantwortung vor dem ungeborenen Leben und die Verantwortung vor den eigenen Kindern, seien sie behindert
oder seien sie nichtbehindert.
({2})
Meine Damen und Herren, ich trete dafür ein, dass wir
diesen Paaren mit schwerer genetischer Vorbelastung den
gesetzlichen Freiraum geben, zu wissen. Wir sagen bisher Ja zum Wissen aufgrund ausführlicher Diagnostik in
der Schwangerschaft. Mit welchem Recht sagen wir
dann Nein zu dem früheren Wissen durch die PID vor einer Schwangerschaft? Die Erkenntnis bzw. das Ergebnis
ist ein und dasselbe. Wenn wir das frühe Wissen vor Eintritt einer Schwangerschaft zulassen, dann können wir
den Betroffenen das spätere Leid in der Schwangerschaft
und den Schwangerschaftskonflikt ersparen. Darum geht
es.
({3})
Niemand entscheidet sich leichtfertig für eine künstliche Befruchtung und eine PID. Das ist ein körperlich
und psychisch in hohem Maße belastendes und schambefangenes Verfahren. Paare, die diesen Weg gehen, haben bereits eine lange Leidensgeschichte hinter sich.
Deshalb finde ich es wichtig, die Gewissensfrage nicht
gegen die Wissensfrage auszuspielen. Natürlich werden
durch die PID die Grenzen des Wissens erweitert, aber
innerhalb der Grenzen unserer ethischen Maßstäbe. Darum geht es.
({4})
Die Entwicklung der Menschheit ist voll von Wissenserweiterung gewesen. Niemand hier im Raum
würde doch sagen, dass unsere gesamte Geschichte eine
Geschichte des Irrens und des moralischen Fehlens ist.
Wir leuchten mit der PID in einen Bereich des Lebens, in
dem wir in Deutschland - nicht andere Länder, aber wir
in Deutschland - bisher vollständig im Dunkeln tappen.
Das verändert, was wir sehen. Aber das verändert doch
nicht, wie wir es sehen. Die verantwortungsvolle Abwägung einer Frau und eines Mannes, was sie sich zutrauen
und was sie überfordert, bleibt doch bestehen.
({5})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht die
Augen bewusst davor verschließen können, wie wir den
Stand der Medizin mit Maß und Mitte nutzen können,
um diese leidgeprüften Familien zu unterstützen und ihnen zu helfen. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass
sowohl die deutsche Ärzteschaft als auch die betroffenen
Eltern mit den Möglichkeiten der PID verantwortungsvoll umgehen werden.
({6})
Zwei Jahrzehnte guter Erfahrungen im Ausland sprechen
für diesen Weg.
Zum Abschluss: Ich bin als junge Ärztin oft von Patienten in verzweifelten Situationen gefragt worden: Wie
würden Sie entscheiden, wenn Sie an meiner Stelle wären? Ich möchte diese Frage heute in diesen Raum geben
und sie an uns gemeinsam stellen: Wie würden Sie entscheiden, wenn es zu einem Verbot käme? Würden Sie
für immer auf Kinder verzichten? Würden Sie immer
wieder den Versuch einer Schwangerschaft wagen - mit
all dem Wissen, das Ihnen dann in der Schwangerschaft
zur Verfügung steht? Oder würden Sie ins Ausland gehen, wo die PID seit vielen Jahren mit hoher Verantwortung angewendet wird?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir
für die Menschen in unserem Land, in dem wir als Abgeordnete in der Verantwortung sind, gemeinsam eine Lösung mit Augenmaß finden.
({7})
Das Totalverbot geht eher von einem unmündigen Menschen aus. Wir gehen von einem mündigen Menschen
aus.
({8})
Ich bitte Sie: Trauen wir den Menschen, den Eltern etwas zu. Und vor allem: Geben wir ihrer Gewissensentscheidung Raum. Darum geht es jetzt. Deswegen bitte
ich Sie, für den Entwurf von Ulrike Flach, Peter Hintze
und Carola Reimann zu stimmen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, bitte ich um
Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Abstimmungsverfahren, wie wir es vorhin beschlossen haben.
Zur Abstimmung stehen drei Gesetzentwürfe zum
künftigen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik.
Es handelt sich um den Gesetzentwurf der Abgeordneten
Flach, Hintze, Dr. Reimann, Dr. Sitte, Montag und weiterer Abgeordneter zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik, den Gesetzentwurf der Abgeordneten
Göring-Eckardt, Volker Kauder, Kober, Singhammer,
Dr. h. c. Thierse und weiterer Abgeordneter zum Verbot
der Präimplantationsdiagnostik sowie um den Gesetzentwurf der Abgeordneten Röspel, Hinz, Meinhardt,
Dr. Lammert und weiterer Abgeordneter zur begrenzten
Zulassung der Präimplantationsdiagnostik.
Der Ausschuss für Gesundheit hat in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6400 nur empfohlen, über die Gesetzentwürfe im Plenum einen Beschluss zu fassen, selbst aber keine inhaltliche
Empfehlung abgegeben. Für die Entscheidung hier hat
der Ausschuss die Gesetzentwürfe der Gruppe Flach und
der Gruppe Röspel jeweils in einer Ausschussfassung
vorgelegt. Der Gesetzentwurf Göring-Eckardt ist unverändert geblieben.
Bei dem Stimmzettelverfahren werden zunächst die
drei Entwürfe gemeinsam zur Abstimmung gestellt. Auf
diesem Stimmzettel können Sie sich für einen der Entwürfe entscheiden oder Ihr Kreuz bei „Nein gegenüber
allen Gesetzentwürfen“ oder bei „Enthaltung gegenüber
allen Gesetzentwürfen“ machen. Es darf also nur eine
Alternative angekreuzt werden, nur ein Kreuz auf dem
Stimmzettel sein.
Die erforderliche Mehrheit für einen Entwurf ist erreicht, wenn dieser mehr Jastimmen als die konkurrie13910
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
renden Vorlagen zusammen zuzüglich der Neinstimmen
auf sich vereinen kann.
Falls kein Entwurf diese Mehrheit erhält, kommt es in
einem zweiten Abstimmungsgang zur Abstimmung über
die beiden bestplatzierten Gesetzentwürfe. Dieser würde
ebenfalls mithilfe eines Stimmzettels durchgeführt. Erhält auch im zweiten Abstimmungsgang keiner der beiden Gesetzentwürfe die erforderliche Mehrheit, müsste
anschließend über den Entwurf mit dem besseren Ergebnis mit den üblichen Stimmkarten, also namentlich, entschieden werden.
Würde dieser Gesetzentwurf nicht die Mehrheit der
abgegebenen Stimmen erhalten, wäre dieser damit in
zweiter Beratung abgelehnt, und eine dritte Beratung
würde entsprechend unseren Regelungen entfallen.
Wäre dieser erfolgreich, käme es sofort zur dritten Beratung, in der ebenfalls namentlich abgestimmt wird.
Wir kommen jetzt zum ersten Abstimmungsgang.
Die weißen Stimmzettel wurden bereits verteilt bzw.
werden noch weiter verteilt. Zunächst tragen Sie bitte Ihren Namen lesbar und einschließlich eines eventuellen
Ortszusatzes und Ihre Fraktion ein. Sie können einen der
Gesetzentwürfe ankreuzen, Sie können aber auch - ich
wiederhole das - mit Nein stimmen oder sich enthalten.
Das betrifft dann jeweils alle Gesetzentwürfe.
Ungültig sind alle Stimmzettel, die keine Namensangabe oder mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz enthalten. Nur die Abgabe eines mit Namen versehenen
Stimmzettels gilt als Nachweis der Teilnahme an der Abstimmung.
Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? Dann ist hiermit die Abstimmung eröffnet.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
wieder Platz zu nehmen.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung im Stimmzettelverfahren über drei Gesetzentwürfe bekannt: abgegebene Stimmzettel 596, ungültig
waren keine, gültig waren 596. Auf den Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/5451 - Frau Kollegin Flach und andere - entfielen 306 Stimmen.
({0})
Auf den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5450 - Frau
Kollegin Göring-Eckardt und andere - entfielen 228
Stimmen. Auf den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5452
- Kollege Röspel und andere - entfielen 58 Stimmen.
Mit Nein gegenüber allen Gesetzentwürfen hat einer
bzw. eine gestimmt, Enthaltungen gegenüber allen Ge-
setzentwürfen 3.1)
Ein Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen, wenn er mehr Jastimmen als die beiden anderen
Gesetzentwürfe zusammen zuzüglich der Neinstimmen
erhalten hat. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5451
- Frau Kollegin Flach und andere - hat im ersten Abstimmungsgang die erforderliche Mehrheit erhalten und
ist damit in zweiter Lesung angenommen.
({1})
Wir kommen somit zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf auf
Drucksache 17/5451 - Frau Kollegin Flach und andere.
Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich unterbreche die Sitzung, bis das Ergebnis vorliegt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
wieder Platz zu nehmen.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Regelung der
Präimplantationsdiagnostik der Abgeordneten Ulrike
Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte,
Jerzy Montag und weiterer Abgeordneter in dritter Beratung bekannt: abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben
gestimmt 326,
({0})
mit Nein haben gestimmt 260, Enthaltungen 8. Der Ge-
setzentwurf ist in dritter Beratung angenommen.
1) Endgültiges Ergebnis siehe Anlage 2.
Vizepräsident Eduard Oswald
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 594;
davon
ja: 326
nein: 260
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Günter Baumann
Peter Beyer
Clemens Binninger
Wolfgang Börnsen
({1})
Norbert Brackmann
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Cajus Caesar
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Ingo Gädechens
Michael Glos
Olav Gutting
Jürgen Hardt
Ursula Heinen-Esser
Robert Hochbaum
Thomas Jarzombek
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Karl A. Lamers
({5})
Andreas G. Lämmel
Ingbert Liebing
Karin Maag
Andreas Mattfeldt
Dietrich Monstadt
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({6})
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Ruprecht Polenz
Katherina Reiche ({7})
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({8})
Dr. Wolfgang Schäuble
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Dr. Ole Schröder
Detlef Seif
Bernd Siebert
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({9})
Kai Wegner
Ingo Wellenreuther
Dagmar Wöhrl
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({10})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({11})
Michael Groschek
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Hubertus Heil ({12})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({13})
Frank Hofmann ({14})
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({15})
Steffen-Claudio Lemme
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Petra Merkel ({16})
Dr. Matthias Miersch
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({17})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({18})
Bernd Scheelen
Werner Schieder ({19})
Carsten Schneider ({20})
Swen Schulz ({21})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Wolfgang Tiefensee
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({23})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({24})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({25})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Petra Müller ({26})
Burkhardt Müller-Sönksen
({27})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({28})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Vizepräsident Eduard Oswald
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({29})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({30})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Roland Claus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Petra Pau
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Sahra Wagenknecht
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({31})
Ekin Deligöz
Kai Gehring
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({32})
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Manuel Sarrazin
Dorothea Steiner
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Ernst-Reinhard Beck
({33})
Manfred Behrens ({34})
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({35})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Dr. Matthias Heider
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({36})
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Siegfried Kauder ({37})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Hartmut Koschyk
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({38})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({39})
Michaela Noll
Eduard Oswald
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({40})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({41})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({42})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({43})
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Christian Freiherr von Stetten
Stephan Stracke
Thomas Strobl ({44})
Antje Tillmann
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marcus Weinberg ({45})
Peter Weiß ({46})
Sabine Weiss ({47})
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({48})
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Sigmar Gabriel
Wolfgang Gunkel
({49})
Christel Humme
Ulrich Kelber
Daniela Kolbe ({50})
Hilde Mattheis
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Heinz Paula
Vizepräsident Eduard Oswald
Gerold Reichenbach
Michael Roth ({51})
({52})
Marianne Schieder
({53})
Ulla Schmidt ({54})
Silvia Schmidt ({55})
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Ute Vogt
Waltraud Wolff
({56})
FDP
Michael Link ({57})
Dr. Stefan Ruppert
Torsten Staffeldt
DIE LINKE
Jan van Aken
Eva Bulling-Schröter
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jutta Krellmann
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Paul Schäfer ({58})
Raju Sharma
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({59})
Cornelia Behm
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({60})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({61})
Tobias Lindner
Agnes Malczak
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Friedrich Ostendorff
Claudia Roth ({62})
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Josef Philip Winkler
Enthalten
CDU/CSU
Helmut Heiderich
Bartholomäus Kalb
Dr. Mathias Middelberg
SPD
DIE LINKE
Heidrun Bluhm
Dr. Diether Dehm
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
({63})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in unserer
Tagesordnung fortfahren, werde ich allen kurz die Mög-
lichkeit geben, sich auf den nächsten Tagesordnungs-
punkt vorzubereiten.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis e sowie Zu-
satzpunkt 4 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel,
Volker Beck ({64}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - Magna Charta des internationalen Flüchtlingsschutzes umsetzen und fortentwickeln
- Drucksache 17/6347 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({65})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - Handlungsbedarf auf nationaler und internationaler Ebene
- Drucksache 17/6095 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({66})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({67})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein offenes, rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem
- zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker
Beck ({68}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren - Konsequenzen aus der Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen
- Drucksachen 17/4679, 17/4886, 17/5362 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({69})
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Eduard Oswald
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({70}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Viola von CramonTaubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck
({71}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantieren
- Drucksachen 17/4439, 17/5361 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({72})
Josef Philip Winkler
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({73}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({74}), Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens
- Drucksachen 17/5775, 17/6383 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({75})
Hartfrid Wolff ({76})
Josef Philip Winkler
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({77}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
({78}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
- Drucksachen 17/5909, 17/6266 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Angelika Graf ({79})
Annette Groth
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommen werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Sind
Sie damit einverstanden? - Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Josef Winkler. Bitte schön, Kollege Josef Winkler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 28. Juli wird die Genfer Flüchtlingskonvention 60 Jahre alt. Ihr Ziel war und ist es, Menschen
zu schützen, die aufgrund von Verfolgung über Staatsgrenzen geflohen sind. Auch 60 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention müssen Menschen aus Angst vor politischer Unterdrückung, vor
Bedrohung durch Bürgerkriege oder vor willkürlicher
Gewalt ihre Herkunftsländer verlassen und sind auf den
Schutz der Aufnahmeländer angewiesen.
Auf derzeit bis zu 50 Millionen Personen schätzt man
weltweit die Zahl der Opfer von Flucht und Vertreibung.
Die allermeisten von ihnen finden Aufnahme in Nachbarländern, die ihrerseits ebenfalls zu den ärmsten Ländern der Welt zählen. Trotz des Wandels globaler Migrationsbewegungen hat die Genfer Flüchtlingskonvention
also auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Sie ist und bleibt die Magna Charta des internationalen
Flüchtlingsschutzes.
({0})
Wir finden, ihre Bedeutung für den Schutz politisch
Verfolgter ist durch die jüngsten Ereignisse in der arabischen Welt erneut eindrücklich bestätigt worden.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ausdrücklich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen, aber auch
den vielen anderen international und national tätigen
Flüchtlingsorganisationen für ihren unermüdlichen Einsatz zu danken.
({1})
Leider finden sie in der Politik der Bundesregierung
bisher viel zu wenig Gehör.
({2})
Es wäre schön, wenn sich das wandeln könnte.
Meine Damen und Herren, aus der Genfer Flüchtlingskonvention folgt auch zwingend, dass Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewährt
werden muss. Aber wie ist die reale Situation in Europa?
Anstatt mehr legale Möglichkeiten für die sichere Einreise von Flüchtlingen zu eröffnen, errichtet Europa immer neue und höhere Hürden, zunehmend unter Einfluss
von angrenzenden Staaten, zum Beispiel im Mittelmeerraum. Da es kaum noch Möglichkeiten gibt, Europa auf
legalem und sicherem Weg zu erreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risiken ein, um Schutz in der
EU zu finden. Wenn man sich vor Augen hält, dass allein
in den letzten vier Monaten mindestens 1 650 Menschen
auf ihrer Flucht vor Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Armut im Mittelmeer ertrunken sind, muss man
festhalten: Diese Situation ist aus humanitärer Sicht unhaltbar.
({3})
Deshalb ist klar: Alle Grenzschutzmaßnahmen - grundsätzlich sind sie natürlich legitim - müssen mit internationalem Recht im Einklang stehen. Deshalb muss die
Verantwortung für Frontex-Einsätze endlich unzweideutig festgeschrieben werden. Die Bundesregierung muss
sich dazu bekennen, dass die Genfer Flüchtlingskonvention neben anderen Schutzstandards an den EU-Außengrenzen und auf hoher See Anwendung finden muss.
Diesbezügliche Anfragen, die wir gestellt haben, sind von
der Bundesregierung bisher nicht unzweideutig beantwortet worden. Das muss sich ändern.
({4})
Es muss klar sein, dass ein faires Asylverfahren tatsächlich möglich ist. Deshalb dürfen Schutzsuchende
nicht inhaftiert werden. Haft und Lagerunterbringung
sind insbesondere für die Menschen, die bereits in ihren
Herkunftsländern inhaftiert waren, verstörend und zerstörend. Stattdessen sollte man den Asylsuchenden während des Verfahrens zur Feststellung ihres Status größtmögliche Freizügigkeit im Aufnahmeland zubilligen.
Die einschneidenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die im Rahmen der sogenannten Residenzpflicht
in Deutschland zunächst für alle Schutzsuchenden gesetzlich vorgesehen sind, sind weder notwendig noch angemessen und sollten endlich abgeschafft werden.
({5})
Zu einem fairen Asylverfahren gehört zwingend der
Zugang zu Unterstützungsleistungen während der gesamten Dauer des Verfahrens; das hört sich selbstverständlich
an, ist es aber in Europa nicht überall. Unterkunft, Verpflegung und ausreichende Versorgung inklusive medizinischer Versorgung müssen gewährleistet sein. Es ist
unwürdig, dass Asylantragsteller in bestimmten EU-Mitgliedstaaten monatelang auf der Straße leben müssen,
ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen und zu medizinischer Hilfe, ohne die Möglichkeit - ganz allgemein gesagt -, grundlegende menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Das kann so nicht bleiben; das folgt schon allein
aus dem Grundsatz der Menschenwürde, der sich nicht
nach dem Aufenthaltsstatus einer Person richtet. Die
Bundesregierung muss auf der europäischen Ebene stärker als bisher intervenieren, damit diese Zustände zum
Beispiel in Griechenland und Italien nicht mehr auftreten
und endlich abgestellt werden.
({6})
Man muss aber nicht nur in andere Länder schauen;
denn - das ist richtig - auch vor der eigenen Tür ist genug zu tun. Das gilt auch für das Flüchtlingsrecht. Viele
Menschen wissen gar nicht, dass der effektive Rechtschutz, der nach den europäischen Richtlinien vorgeschrieben ist - das Einlegen von Rechtsmitteln hat im
Asylverfahren demnach aufschiebende Wirkung -, in
Deutschland nicht mehr gewährleistet ist. Das halten wir
für nicht vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und den entsprechenden Richtlinien;
der Gesetzgeber muss das korrigieren. Wir haben Ihnen
heute eine Korrektur in Form eines Antrags vorgelegt,
weil Sie offensichtlich nicht selber in der Lage sind,
diese einfache Korrektur vorzunehmen. Lesen Sie sich
diesen Antrag durch und stimmen Sie ihm zu!
({7})
Dann halten Sie das Europarecht endlich wieder ein.
({8})
Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben
verabredet, dass beim Asylrecht möglichst viel in der
Hand der Nationalstaaten bleiben soll; bei Asylfragen
solle so wenig wie möglich auf europäischer Ebene geregelt werden. Das führt zu einem schlimmen Gefälle in
der EU. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel aus dem Bereich
der Flüchtlingsanerkennung: Die Wahrscheinlichkeit,
dass einem afghanischen Flüchtling Asyl oder Abschiebungsschutz gewährt wird, liegt in den EU-Mitgliedstaaten zwischen 0 und 90 Prozent, je nachdem, in welchem
Land der Asylantrag gestellt wurde. Das, meine Damen
und Herren, kann einfach nicht gerecht sein; das kann
nicht europäisches Flüchtlingsrecht sein.
({9})
Angesichts der warmherzigen Worte der Bundeskanzlerin in Richtung der Demonstranten im Zusammenhang
mit dem arabischen Frühling sage ich: Es ist nicht allen
gegeben, an den Demos teilnehmen zu können; viele
mussten fliehen oder waren schon aus anderen Ländern
zum Beispiel nach Libyen geflüchtet. Die Flüchtlinge,
die in Libyen gestrandet sind, müssen das Land nun angesichts der dortigen Auseinandersetzungen verlassen.
Man könnte auch in diesem Zusammenhang ein konkretes Zeichen setzen, indem man sofort Flüchtlinge aus Libyen aufnimmt. Auch hierzu legen wir Ihnen heute einen
Antrag vor.
Ein letzter Punkt: Syrien. Wir legen Ihnen einen Antrag zur unverzüglichen Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens vor, über den wir namentlich abstimmen lassen wollen. Es ist unverschämt
genug, dass es so ein Abkommen mit einer Diktatur wie
Syrien überhaupt gibt.
({10})
Das Bundesinnenministerium hat zwar einen Entscheidungsstopp für das Bundesamt für Migration verhängt - es wird also weder pro noch kontra entschieden;
es wird nicht gesagt, ob die Flüchtlinge bleiben können
oder nicht -, und in einem Schreiben an die Länder
stand, dass Abschiebungen nach Syrien derzeit nicht ratsam seien, das ist aber windelweich. Das ist kein genereller Abschiebestopp, sondern nur eine Empfehlung.
Man weiß auch nicht, ob diese Zeiten als legaler Aufenthalt angerechnet werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt eine Bleiberechtsregelung gefunden wird. Deshalb
sagen wir: Es muss ein genereller Abschiebestopp her.
Die Länder sollen entsprechend angewiesen werden.
Niemand darf von deutschem Boden nach Syrien abgeschoben werden. Dieses unsägliche Rückübernahmeabkommen muss zurückgenommen werden, und zwar sofort.
({11})
Dazu hat meine Fraktion einen Antrag vorgelegt. Er ist
gerade zum 60. Jubiläum der Genfer Flüchtlingskonvention das richtige Zeichen, um zu sagen: Wir haben verstanden.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Kollege Joseph Winkler. - Als Nächster
in unserer Debatte spricht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner. Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlass für diese Anträge - 60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - ist es wert, gewürdigt zu werden. Herr Kollege
Winkler, ich würde gerne mit einer Rede, die einem Jubiläum angemessenen ist, reagieren. Ich bin sicher, dass
über all die offenen Punkte, die Sie hier kritisch angemerkt haben, an anderer Stelle noch einmal diskutiert
werden kann.
Aus Sicht der Bundesregierung ist die Genfer Flüchtlingskonvention heute unzweifelhaft bedeutsamer denn
je. Sie ist Teil der humanitären Fortschrittsgeschichte.
Sie ist ein Erfolgsmodell. Der Erfolg dieser Flüchtlingskonvention ist zum einen darauf zurückzuführen, dass
die Staaten es verstanden haben, auf neue Verfolgungssituationen mithilfe der Konvention adäquat zu reagieren.
An dieser Stelle erinnere ich an das Gesetzgebungsverfahren zum Zuwanderungsgesetz. Für den die Zeiten
überdauernden Erfolg war zum Zweiten ausschlaggebend, dass viele Signatarstaaten selbst unter schwierigsten Bedingungen großes Geschick bei der Anwendung
der Konvention bewiesen haben. Die große Herausforderung bestand darin, eine hohe Zahl von Asylanträgen
zu bewältigen und gleichzeitig dem einzelnen Verfolgungsschicksal gerecht zu werden.
Deutschland und andere Staaten haben sich dieser Herausforderung gestellt. Hier ließe sich auf viele Debatten, die in der Vergangenheit geführt wurden, verweisen.
Wir sind der Meinung, dass Deutschland diese Aufgabe
erfolgreich gemeistert hat und dass es jetzt darauf ankommt, den immensen Erfahrungsschatz, der in diesem
Zusammenhang gesammelt wurde, auch auf europäischer Ebene im Rahmen der weiteren Harmonisierung
des Asylrechts zu nutzen.
60 Jahre Genfer Konvention, das ist auch für
Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Wir sollten anlässlich dieses Datums mit Stolz auf die Leistungen verweisen, über die zwar durchaus kontrovers diskutiert wurde,
die aber einen humanitären Fortschritt darstellen. In den
Anfangsjahren suchten vor allen Dingen Menschen aus
den ehemaligen Ostblockstaaten Zuflucht in der Bundesrepublik Deutschland. Später - ab Anfang der 80er-Jahre
des vergangenen Jahrhunderts - kamen verstärkt außereuropäische Asylbewerber hinzu. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebten wir einen Massenzustrom vor
allem aus Osteuropa. Mit 438 000 Asylbewerbern erreichte er 1993 den Höchststand. Ich mache darauf aufmerksam, dass gleichzeitig auf vertriebenenrechtlicher
Basis auch ein großer Zuzug von Deutschen aus den
Staaten Mittelost- und Osteuropas nach Deutschland
stattfand.
Dies alles hat unser Asylsystem damals an den Rand
des Zusammenbruchs gebracht. Die Zugangszahlen sind
seither zwar erheblich zurückgegangen; aber gerade im
vergangenen Jahr stiegen die Asylbewerberzahlen wieder deutlich an. Nach einem zwischenzeitlichen Tiefststand von 19 000 Asylbewerbern im Jahre 2007 hatten
wir im vergangenen Jahr 41 000 Asylbewerber zu verzeichnen. Dieser Trend setzt sich weiter fort. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres kamen 21 000 Asylbewerber, was gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um
32 Prozent bedeutet.
({0})
- Herr Kollege Wiefelspütz, ich bitte um Verständnis:
Ich habe gesagt, dass diese Rede durchaus den Charakter
einer Jubiläumsrede haben soll. Ich möchte die Debatte
gern an anderer Stelle führen.
({1})
In all den Jahren haben wir tatsächlich Verfolgten
großzügig Schutz gewährt. Seit dem Inkrafttreten der
Konvention haben mehr als 385 000 Personen in
Deutschland den Flüchtlingsstatus erhalten. Viele sind
inzwischen eingebürgert. Gegenwärtig leben noch
115 000 Personen mit Flüchtlingsstatus in Deutschland.
Hinzu kommen rund 26 000 Personen mit einem humanitären - subsidiären - Schutzstatus.
Unsere gegenwärtige Schutzquote ist hoch. Durchschnittlich erhalten rund 21 Prozent der Schutzsuchenden den Flüchtlingsstatus oder humanitären Schutz.
Schutz wurde und wird jedoch nicht nur über das Asylverfahren gewährt, sondern auch durch besondere Aufnahmeaktionen oder im Wege des sogenannten vorüberParl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
gehenden Schutzes. In den 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts wurde mehreren Tausend Bootsflüchtlingen aus Indochina ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt.
Mitte der 90er-Jahre kamen über 400 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns. Wir
haben sie unbürokratisch aufgenommen und ihnen
Schutz gewährt. Um die Jahrtausendwende nahmen wir
im Rahmen einer Ad-hoc-Aktion innerhalb weniger
Tage abermals 12 000 Vertriebene aus dem Kosovo auf.
In jüngerer Zeit erhielten 2 500 irakische Christen ein
dauerhaftes Bleiberecht. Gegenwärtig bereiten wir, wie
Sie wissen, die Aufnahme von 150 Flüchtlingen aus
Malta vor.
Das sind bei weitem nicht alle Aufnahmemaßnahmen,
die Deutschland durchgeführt hat. Sie zeigen jedoch
exemplarisch unsere anhaltende Bereitschaft, Verfolgten beizustehen und ihnen Schutz zu gewähren. Nach
Angaben des UNHCR - ich glaube, an dieser Wertung
kommt niemand vorbei - gehört Deutschland damit zu
den weltweit führenden Aufnahmestaaten von Flüchtlingen.
60 Jahre Genfer Konvention sind aber auch aus einem
weiteren Grund für Deutschland zu einer besonderen
Geschichte des Erfolgs geworden. Es ist uns gelungen,
das Asylverfahren für Migranten mit asylfernen Motiven
({2})
unattraktiv zu machen. Das geschah vor allem durch
Maßnahmen, die im Rahmen der Asylrechtsreformen
Anfang der 90er-Jahre getroffen wurden.
({3})
- Herr Kollege Wiefelspütz, es geht mir um eine Gesamtschau. - Die große Zahl derjenigen, die in früheren
Jahren versuchten, über den Asylweg nach Deutschland
zu gelangen, ohne verfolgt zu sein, ist dadurch drastisch
zurückgegangen. Das geschah aber nicht zulasten der
Verfolgten. Tatsächlich kommt ein großer Teil der Asylbewerber nunmehr aus Ländern, in denen Verfolgung
verbreitet und der Schutz der Menschenrechte insgesamt
unzureichend ist. Dazu zählen Afghanistan, Iran und
Irak. Ich könnte die Anerkennungsquoten für diese Länder, die im Moment festzustellen sind, im Einzelnen aufführen.
({4})
Dies ist aus meiner Sicht eine Mahnung an diejenigen,
die leichtfertig mit dem Vorwurf agieren, restriktive Regelungen würden Verfolgten bereits den Verfahrenszugang versperren, Stichwort „Festung Europa“. Dies trifft
offenkundig so nicht zu.
({5})
Die zukünftige Asylpolitik wird nicht mehr allein auf
nationaler Ebene, sondern im Verbund mit den europäischen Partnern gestaltet. Auf EU-Ebene laufen derzeit
die Verhandlungen über ein gemeinsames europäisches
Asylsystem. Deutschland unterstützt dieses Anliegen
nachdrücklich. Die aktuellen Verhandlungen über die
Vorschläge der Kommission sind allerdings schwierig.
Die Vorschläge der Kommission sind aus Sicht Deutschlands und vieler anderer Mitgliedstaaten nicht ausgewogen, da die Interessen der Mitgliedstaaten, insbesondere
bei der Bekämpfung des Asylmissbrauchs, nicht hinreichend berücksichtigt sind.
Ziel muss es sein, einen fairen Ausgleich zwischen
den berechtigten Anliegen der Schutzsuchenden einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits zu schaffen.
Wichtig ist für uns vor allem, dass bewährte Verfahren in
den Mitgliedstaaten nicht infrage gestellt werden. Diese
Positionen werden auch von der Mehrheit der Mitgliedstaaten vertreten. Die Kommission hat dies in ihren ersten Vorschlägen zu wenig berücksichtigt. Sie wurden zurückgezogen und überarbeitet. Die neuen, Anfang Juni
2011 von der Kommission vorgelegten Vorschläge enthalten bereits Verbesserungen. Aus unserer Sicht bedarf
es aber noch erheblicher weiterer Änderungen, um zu einem erfolgreichen Abschluss zu kommen.
({6})
Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Es ist nicht akzeptabel, wenn die neuen Vorschläge Regelungen enthalten, die erfahrungsgemäß
Anreiz für einen verstärkten Zuzug von Wirtschaftsmigranten sein können. Man mag einwenden, dass das
Asylrecht heutzutage Lockerungen verträgt, zumal die
Asylbewerberzahlen ja immer noch wesentlich niedriger
sind als in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Aber Asylpolitik darf nicht allein tagesaktuellen Erfordernissen genügen, sie muss auch Eventualitäten gerecht
werden. Die Asylsysteme müssen so effizient und flexibel ausgestaltet sein, dass auch hohe Zugangszahlen angemessen bewältigt werden können.
({7})
Das gilt umso mehr, als ein gemeinsames europäisches
Asylsystem langfristig Gültigkeit haben wird. Wenn es
einmal beschlossen ist, wird es kaum mehr möglich sein,
kurzfristige Änderungen vorzunehmen.
Wir sehen gegenwärtig auch die Gefahr, dass nicht
alle Staaten mit dem gegenwärtigen Harmonisierungstempo Schritt halten können. Ich verweise auf Griechenland und das Vereinigte Königreich. Ich denke, dass es
aus diesem Grunde an der Zeit ist, auf europäischer
Ebene darauf hinzuwirken, dass diese Nachzügler aufschließen können. Andernfalls laufen wir Gefahr, uns
auf dem Gebiet des Asylrechts zu einem Europa der
zwei oder mehr Geschwindigkeiten zu entwickeln. Ich
hoffe, dass zumindest darüber Einvernehmen besteht,
dass dies unbedingt zu verhindern ist.
Ein Kernthema für Deutschland ist die EU-interne
Solidarität bei der Flüchtlingspolitik.
({8})
Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass der Asylbewerberzugang in die gesamte EU seit einigen Jahren nur
geringen Schwankungen unterliegt, während es gleichzeitig bei der Belastung einzelner Mitgliedstaaten zu
teilweise gravierenden Verschiebungen kommt.
({9})
Aus eigener Erfahrung zu Beginn der 90er-Jahre haben
wir Verständnis für Mitgliedstaaten, die einen unverhältnismäßig hohen Zustrom von Asylbewerbern haben. Wir
wissen aber auch, was Mitgliedstaaten bei hohen Asylbewerberzahlen leisten können.
Grundlage für die Verteilung von Asylbewerbern ist das
Dublin-System. Die Zuständigkeitskriterien der DublinVerordnung nehmen einen angemessenen Ausgleich
zwischen den legitimen Interessen der Beteiligten vor.
Grundsätzlich gilt das Veranlasserprinzip. Das heißt, zuständig für das Asylverfahren ist der Mitgliedstaat, der
für die Einreise des Asylbewerbers verantwortlich ist.
Herr Staatssekretär, würden Sie bitte zum Ende kommen?
({0})
Meine Damen und Herren, ich hätte jetzt gern noch
ausgeführt,
({0})
wie wir die Prognose einschätzen und welche Maßnahmen wir im Sinne der Lastenteilung innerhalb der EU
anpacken wollen.
Herrn Kollegen Wiefelspütz, Herrn Winkler und allen
anderen sage ich: Ich weiß - angesichts der Kritik, die
Sie in Ihrer Rede geäußert haben,
({1})
bzw. angesichts der Kritik, die in Ihren Anträgen zum
Ausdruck gekommen ist -, dass Sie sich möglicherweise
eine Art Schlagabtausch über Einzelregelungen gewünscht hätten.
({2})
Es werden noch Abgeordnete sprechen, die in dieser
Richtung argumentieren werden; ich will bloß darauf
aufmerksam machen.
Da haben Sie recht. Man sollte ihnen auch ihre Redezeit lassen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
({0})
Herr Präsident, wenn ich noch einen Satz sagen darf:
({0})
Mir ist es wichtig, einmal eine Gesamtdarstellung geben
zu können,
({1})
um den von Ihnen oft zu Unrecht vermittelten Eindruck,
Deutschland würde sich sperren, humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen nachzukommen, endgültig zu widerlegen.
({2})
Die Geschichte von 60 Jahren Genfer Flüchtlingskonvention zeigt, dass Deutschland einen erheblichen Beitrag geleistet hat.
Danke schön.
({3})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kollegin Daniela Kolbe für die Fraktion der Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Der Anlass
ist feierlich. Am 28. Juli 1951 trat eine UN-Sonderkonferenz zusammen und beschloss die Genfer Flüchtlingskonvention. Endlich wurden Kriterien festgelegt, wann
ein Mensch ein Flüchtling ist und welche Schutzmöglichkeiten er hat.
Wie viele Menschen betrifft diese Konvention im
Moment? Weltweit gibt es etwa 43,7 Millionen Flüchtlinge. Als Vergleich: In Deutschland leben circa 81 Millionen Menschen. Wenn man sich also die Hälfte der
Einwohner Deutschlands vor Augen führt, dann hat man
eine Vorstellung davon, wie viel Flüchtlingsleid es auf
dieser Welt gibt. 15,4 Millionen Menschen mussten ihre
Länder verlassen. In all diesen Zahlen ist Nordafrika
nicht berücksichtigt. Wir wissen, dass dort gerade Millionen von Menschen auf der Flucht sind. Viele dieser
Flüchtlinge stecken fest. Sie stecken zum Beispiel in
Flüchtlingslagern fest. Sie kommen weder vor - sie haben also keine Möglichkeit, sich irgendwo fest anzusiedeln -, noch kommen sie zurück in ihre Heimatländer.
Daniela Kolbe ({0})
Ich finde, dies ist ein guter Moment, dass wir in Europa und Deutschland reflektieren über unsere Rolle und
unsere Verantwortung in dieser ganzen Angelegenheit.
Hier gibt es viele Punkte; einige sind angesprochen worden. Wir diskutieren derzeit auch im Hinblick auf das
Asylbewerberleistungsgesetz unter anderem über Abschiebungen und die Residenzpflicht.
Ich will mich in meiner Rede auf einen Punkt konzentrieren, nämlich auf die Außengrenzen der Europäischen
Union und die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist,
dass Menschen nach Europa kommen, um hier Schutz zu
suchen und zu finden. Die übergroße Mehrheit der
Flüchtlinge findet sich in sehr armen Ländern. Gleichzeitig erleben wir in Europa eine massive Angst vor großen Flüchtlingsströmen.
({1})
António Guterres - das ist der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen - sagt dazu sehr treffend:
Ängste vor angeblichen Massenbewegungen von
Flüchtlingen in die Industrieländer sind massiv
übertrieben oder fälschlicherweise mit Fragen der
Migration verknüpft. Währenddessen tragen die übrigen ärmeren Länder die Belastungen.
({2})
Es stimmt: In Europa beobachten wir den Reflex, uns
weiter abzuschotten - mit allen Konsequenzen. Wir erleben, dass Leute in immer kleineren Booten lange Strecken fahren, dass sie sich in die Hände von Schleppern
begeben, dass viele von ihnen sterben. Eine Konsequenz
ist auch, dass Menschen, die schutzbedürftig sind, überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, nach Europa zu
kommen. Wir sind hier in der Verantwortung. Wir müssen endlich neu abwägen: zwischen dem legitimen Interesse, unsere Grenzen zu sichern, und dem Recht auf Leben, dem Recht auf Asyl und der Möglichkeit, Asyl zu
beantragen.
Eine Möglichkeit bestünde darin, legale Wege für
Schutzsuchende zu schaffen, zum Beispiel mit Resettlement-Programmen. Eine kurze Erklärung: Dabei geht es
darum, dass Menschen, die längere Zeit in Flüchtlingslagern festsitzen - um einmal eine Zahl zu nennen: alleine
in Syrien halten sich derzeit 1,1 Millionen Flüchtlinge
auf, davon sehr viele dauerhaft -, dauerhaft von Drittländern aufgenommen werden und sich dort niederlassen
dürfen.
Der UNHCR sagt, dass von den 11 Millionen Menschen, die er betreut, 7,2 Millionen länger als fünf Jahre
ihre Länder verlassen haben, ohne sich niederlassen zu
können.
Der UNHCR weist auch darauf hin, dass wir jedes
Jahr 800 000 Resettlement-Plätze bräuchten. Leider gibt
es nur weniger als 80 000, viele davon in den USA.
Was sagt die Bundesregierung? Im Zusammenhang
mit der seitens der Vereinten Nationen an Europa gestellten Bitte, mehr Resettlement-Plätze zur Verfügung zu
stellen, erklären der Staatssekretär und die Bundesregierung: Wir machen doch schon etwas. Wir nehmen nicht
nur 100 Flüchtlinge aus Malta auf; wir nehmen
150 Flüchtlinge aus Malta auf. - Ich freue mich für diese
150 Menschen, bin aber beschämt von dieser Bundesregierung und davon, dass das der Beitrag sein soll.
({3})
Als weiteren Aspekt möchte ich hier die Verantwortung für Flüchtlinge auch in der Kooperation mit Drittstaaten ansprechen. Von dieser Stelle aus wurde schon
vielfach der Deal kritisiert, den Berlusconi mit Gaddafi
geschlossen hat: Milliarden an Hilfe an das Gaddafi-Regime zu zahlen - implizit mit der Forderung, man möge
ihn mit Flüchtlingen verschonen. Und die Flüchtlinge
kamen nicht mehr. Sie sind auf dem libyschen Arbeitsmarkt oder in Lagern oder in der Wüste gelandet. Die
Verurteilung dieses Vorgehens ist einhellig, denke ich;
wenn nicht, bitte ich um Signale der Regierung.
Umso mehr bin ich persönlich beunruhigt, weil wir
seit wenigen Tagen wissen, dass offensichtlich ein Deal
der deutschen Bundesregierung mit Algerien, also einem
autoritären Regime, über Rüstungsgüter, Sicherheitstechnik und Grenzschutztechnik in Höhe von 10 Milliarden Euro zustande gekommen ist.
({4})
Das ist eine Eins mit zehn Nullen dahinter.
Bundeskanzlerin Merkel hat sich zu diesem Thema
auch geäußert. Sie wurde vorgestern in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung zitiert. Das Zitat stammt von Ende
letzten Jahres und lautet:
Solche Grenzsicherungsprojekte tragen natürlich
auch dazu bei, die Flüchtlingsströme zu unterbinden.
Das heißt: 10 Milliarden Euro für die deutsche Rüstungsindustrie und weniger Flüchtlinge - das ist ja ein
ganz toller Deal für dieses Land. Ehrlich gesagt: Ich
schäme mich wirklich für diese Bundesregierung. Was
hier gerade passiert, finde ich moralisch abgrundtief.
({5})
Die Opposition in Algerien sowie die Flüchtlinge dort
und an der Südgrenze von Algerien scheinen dieser Bundesregierung reichlich egal zu sein.
Das ist für mich ein weiterer Grund dafür, dass wir
endlich eine parlamentarische Kontrolle von Rüstungsexporten brauchen.
({6})
Ebenso brauchen wir ein moralisches Umschwenken
dieser Regierung. Eigentlich möchte man fast sagen: Wir
brauchen eine andere Regierung.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster spricht
für die Fraktion der FDP unser Kollege Hartfrid Wolff.
Bitte schön, Kollege Hartfrid Wolff.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP
freut sich, dass die Genfer Flüchtlingskonvention, zu
Zeiten einer christlich-liberalen Koalition in Deutschland geschlossen, bei Linken und Grünen diese Unterstützung findet. Es ist immer gut, wenn die Arbeit einer
christlich-liberalen Koalition auch von der Opposition
gelobt wird - besonders, wenn das Lob zu Recht erfolgt.
({0})
Wir fühlen uns einer humanitären Flüchtlingshilfe verpflichtet.
Im Hinblick auf das, was die Vorrednerin gesagt hat,
möchte ich aber auch klarstellen: Betroffenheitspolitik
hilft den Menschen nicht.
({1})
Nicht neu ist, dass wir heute Gelegenheit haben, wieder über eine Vielzahl von Anträgen zu immer den gleichen Themen der Flüchtlingspolitik aus den Reihen der
Oppositionsparteien zu sprechen.
Auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem gibt
es auch aus Sicht der Liberalen durchaus Verbesserungsbedarf. So ist jedoch beispielsweise die Abschaffung der
EU-Rückführungsrichtlinie ebenso wenig ein ernst zu
nehmender Vorschlag wie die Auflösung von Frontex.
Die Abschiebehaft ist - bei aller Notwendigkeit, sich
die Bedingungen hierzu immer wieder genau anzusehen legitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu
gewährleisten, und damit ein leider notwendiges Instrument im Rahmen des Vollzugs demokratisch zustande
gekommenen Aufenthaltsrechts.
({2})
Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie ist
kontraproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststandards für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden
sind. Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforderung nicht mehr, sondern gerade weniger Rechte für die
Betroffenen. Dieser linke Populismus schadet den
Schwächsten - gerade auch in der Migrationspolitik.
({3})
Das gilt auch für die Forderung, die Grenzschutzagentur Frontex aufzulösen, die die Abgeordneten der
Oppositionsfraktionen auf der Suche nach dem verlorenen Kommunismus erheben.
({4})
Es ist vielmehr sehr richtig, dass angesichts des gemeinsamen EU-Binnenraums die Grenzeinsätze über Frontex
koordiniert werden.
({5})
Ein rechtsstaatlicher Ausbau von Frontex erscheint mir
nicht fernliegend.
Bestimmte Vorfälle, etwa auf dem Mittelmeer, müssen natürlich rückhaltlos untersucht und rechtsstaatliche
und völkerrechtliche Unsicherheiten müssen geklärt
werden. In den letzten Jahren hat es aber schon wichtige
Verbesserungen bei Frontex gegeben - gerade im Einsatz.
Eine, wie von der Opposition gefordert, zusätzliche
Behörde, eine „europäische Koordinierungsstelle zur
menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Aufnahme von
Flüchtlingen“, hat Europa und der Welt gerade noch gefehlt. Es gibt für manche offenbar noch nicht genug Bürokratie in Brüssel.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen gehen, wie ich finde, sehr verantwortungsvoll mit
dem Thema Rückführungen um. Rückführungen werden
ausgesetzt, wenn sie nicht vertretbar sind. Das gilt für
Syrien ebenso wie für Griechenland. Das Bundesministerium des Innern hat etwa alle Überstellungen nach der
Dublin-II-Verordnung nach Griechenland ausgesetzt,
Kollege Winkler.
({6})
Hier gibt es die volle Unterstützung auch der FDP-Bundestagsfraktion. Damit wird die schwierige Situation berücksichtigt, die in Griechenland gerade für Asylbewerber besteht.
Zudem hat die Bundesregierung konkrete Hilfe etwa
für die griechischen Behörden angeboten. Dies ist zum
Beispiel hinsichtlich einer menschenwürdigeren und
schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rahmenbedingungen hierzu
({7})
ebenso wie zur Erhöhung der Grenzsicherheit tatsächlich
vor Ort vonnöten.
({8})
Hartfrid Wolff ({9})
Nicht zuletzt aufgrund der Verhältnisse in Griechenland, des Urteils des EGMR und der Verfassungsgerichtsbeschlüsse zu Dublin II muss man über das System
nachdenken und das auch bei den anstehenden Verhandlungen zum Ausdruck bringen. Eine Nachjustierung ist
aus meiner Sicht nötig. In diesem Zusammenhang plakativ von menschen- und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts zu sprechen, wie die Antragsteller, halte ich für völlig überzogen.
({10})
Meine Damen und Herren, die Menschenrechtslage in
Syrien hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch
verschärft. Die syrische Regierung kämpft gegen ihr eigenes Volk. Die Lage ist äußerst besorgniserregend,
wenn nicht noch schlimmer. Deshalb hat das Bundesinnenministerium den zuständigen Ländern dringend empfohlen, nicht nach Syrien abzuschieben. Die FDP unterstützt diese konsequente Haltung.
({11})
Mehr kann durch eine Aussetzung des Abkommens,
wie von den Grünen gefordert, aber auch nicht bewirkt
werden. Lieber Kollege Veit, das ist übrigens ein Abkommen, das damals noch von Vizekanzler Steinmeier
ausgehandelt wurde und durch das allein technisch das
Wie einer Rückführung und nicht das Ob-überhaupt geregelt wird. Die Rückführung selbst - das ist das Entscheidende - bleibt eine individuelle Entscheidung.
({12})
Wir sind uns der Verantwortung Deutschlands auf
diesem Gebiet bewusst. Menschenrechte verpflichten!
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Asyl- und Flüchtlingspolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel gestalten
({13})
und die EU-Planungen konstruktiv begleiten.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin in
unserer Debatte ist unsere Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch die
Art, wie die Debatte heute von der Koalition geführt
wird, zeigt sich schon, wie berechtigt es ist, dass wir
heute nicht nur allgemein über diese wichtige Errungenschaft der Flüchtlingspolitik, die Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch ganz konkret über ganz aktuelle
Flüchtlingsdramen reden.
Diese spielen sich, wie wir eben schon gehört haben,
vor allen Dingen in Nordafrika ab, wo Tausende schutzbedürftige Menschen weiterhin feststecken. Vor allem
das Lager im tunesischen Choucha, wo 4 000 Menschen
unter extremen Lebensbedingungen dahinvegetieren,
muss erwähnt werden. Es gab dort sogar bewaffnete Angriffe und Brandstiftungen von tunesischen Milizen und
dem Militär. Einige Flüchtlinge haben versucht, das Lager zu verlassen und über das Mittelmeer zu fliehen,
wurden dabei gestoppt und zurückverfrachtet. Nicht alle
haben diesen Ausbruch überlebt.
Die Linke fordert ganz klar, dass Flüchtlingen aus
Choucha und anderen Krisengebieten dringend geholfen
werden muss. Es bedarf einer Regelung, damit die
Flüchtlinge nach Europa geholt werden und gemäß einem aufzustellenden Schlüssel auf die EU-Staaten verteilt werden.
({0})
Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt eben nicht
nur, wer als Flüchtling zu gelten hat und welche Rechte
ein Flüchtling genießt. Sie sollte vor allem sicherstellen,
dass Flüchtlinge nicht in die Staaten zurückkehren müssen, in denen sie verfolgt werden. Das bedeutet auch,
dass niemand in einen Staat verbracht werden darf, in
dem ihm wiederum die Abschiebung in das Verfolgerland droht. Dieses Gebot der Nichtzurückweisung ist das
Herzstück der Flüchtlingskonvention. Genau dieser zentrale Bestandteil, Staatssekretär Bergner, wird durch die
Bundesrepublik und auch durch viele EU-Staaten auf
breiter Front unterlaufen.
({1})
Das sehen wir am Beispiel Nordafrika. Wir haben
neulich sogar an der griechisch-türkischen Grenze erlebt, dass griechische Grenzschützer Flüchtlinge mit
Waffengewalt in die Türkei zurückgezwungen haben.
Die Verletzung von Flüchtlingsrechten durch Abschiebung in vermeintlich sichere Drittstaaten ist in der EU
leider zu einem System geworden, wie man sagen muss.
Nach der Dublin-Verordnung müssen Asylsuchende dort
ihr Verfahren betreiben, wo sie in die EU eingereist sind.
Flüchtlingsorganisationen sprechen davon, dass die
Flüchtlinge eigentlich vom Himmel fallen müssten.
Ob sich tatsächlich alle Staaten an die Anforderungen
der Flüchtlingskonvention halten, spielt für das Innenministerium überhaupt keine Rolle. Asylsuchende können
sich in Deutschland gerichtlich nicht effektiv wehren,
wenn sie in ein anderes EU-Land zurückgeschickt werden sollen. 400 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr
von Deutschland nach Italien zurückverbracht worden,
obwohl die Bundesregierung weiß, dass dort die Flüchtlingsrechte mit Füßen getreten werden. Ähnlich ist auch
mit Griechenland verfahren worden, auch wenn die entsprechende Regelung für ein Jahr ausgesetzt ist. Das
heißt, wir müssen wirkliche Schutzmaßnahmen ergreifen, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.
Das Fehlen eines Rechtsschutzes gegen solche Abschiebemaßnahmen ist eindeutig ein Verstoß gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention. Das hat erst
kürzlich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in
einem Urteil ganz klar festgestellt. Er hat darin die Bundesregierung sehr deutlich kritisiert und sie aufgefordert,
die Rechte der Flüchtlinge endlich zu achten und umzusetzen.
({2})
Ich kann mich meinem Kollegen Winkler nur anschließen: Man muss den Flüchtlingsinitiativen danken,
die immer wachsam sind, den Finger auf die Wunde legen und deutlich machen, wie skandalös die Flüchtlingspolitik ist.
Änderungen im Asylverfahren werden auch vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen regelmäßig angemahnt. Er kritisiert beispielsweise die Behandlung von Asylanträgen an Flughäfen, wo es nur
Schnellverfahren gibt, in denen nicht gründlich geprüft
wird, wodurch natürlich schnelle Ablehnungen produziert werden. Auch die Praxis, anerkannte Flüchtlinge
hier in Deutschland mit sogenannten Widerrufsverfahren
zu überziehen, um ihnen ihren Status wieder abzuerkennen, wird vom UNHCR kritisiert. In den letzten elf Jahren wurde 70 000 Menschen ihr Status aberkannt. Im
letzten Jahr waren es 15 000 Menschen, die mit einem
solchen Verfahren überzogen wurden.
Sie bewirken damit extreme Verhältnisse, vor allem
eine völlig unnötige Verunsicherung der Betroffenen. Ich
meine, dass dieser bürokratische Wahn, den es übrigens
nur in Deutschland und in sonst keinem anderen EUStaat gibt, endlich beendet werden muss. Es kann einfach nicht sein, wie hier Flüchtlinge behandelt werden.
({3})
Diejenigen, die es geschafft haben, nach Deutschland
zu kommen, sind immerhin in die Festung Europa vorgedrungen. Viele Flüchtlinge schaffen es aber überhaupt
nicht hierher; denn die EU schottet sich immer weiter ab.
Sie liefert den EU-Anrainerstaaten, wie wir schon gehört
haben, Waffen und Technologie, damit sie die Flüchtlinge an ihren Grenzen festhalten. Übrigens war auch
Gaddafi ein Nutznießer dieser Vorverlagerung der
Flüchtlingsabwehr, ebenso wie andere Diktatoren in dieser Region. Zusätzlich kreuzen die Schiffe europäischer
Grenzschützer vor den Küsten Nordafrikas, um schon
die Abfahrt nach Europa zu verhindern. Wir haben schon
gehört, dass bei der Abkürzung von Wegen immer mehr
Menschen ertrinken. Das ist ein menschenrechtlicher
Skandal.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist zu einem
Symbol für diese Abschottungspolitik geworden. Die
Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat schon 2009 festgestellt, Frontex produziere „ein bedrohliches Schutzvakuum … auf hoher See und an den europäischen Außengrenzen“. Menschen- und Flüchtlingsrechte gelten bei
Frontex-Einsätzen nichts. Erst auf massiven Druck von
Menschenrechtsgruppen wurden die Leitlinien für Frontex-Einsätze geändert. Es wurde zwar gesagt, dass man
das Gebot der Nichtzurückweisung beachten wolle; aber
die konkrete Umsetzung bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, und hier gibt es große Fehlentwicklungen.
Der Frontex-Einsatz an der griechisch-türkischen
Landgrenze von Oktober 2010 bis März 2011, den ich
schon angesprochen habe, war durch massive Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Darüber haben
sogar die Bundespolizisten berichtet. Trotzdem wurde
dieser Einsatz von der Bundesregierung nicht abgebrochen. In den Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union vom Juni lässt sich ablesen, wo die Prioritäten für Frontex liegen. Demnach soll die Effizienz bei
Grenzsicherungen gesteigert werden. Von einem effizienten Flüchtlingsschutz ist nicht die Rede. Das wäre
aber unserer Meinung nach unbedingt notwendig.
({4})
Eines ist doch klar: Diese Abschottungspolitik führt
direkt zum Tod von vielen Menschen. Allein in diesem
Jahr - das haben wir heute schon gehört - waren es über
1 600 bei dem Versuch, nach Europa zu kommen; die
Dunkelziffer kennen wir nicht. Darunter waren etliche
Flüchtlinge aus den afrikanischen Staaten, insbesondere
aus krisen- und kriegsgeschüttelten Ländern wie Somalia, Sudan und Eritrea, die in Libyen festgehalten oder
sogar ins Gefängnis gebracht wurden, wie eine Delegation des Innenausschusses selbst sehen konnte. Es ist
wirklich ein Skandal, dass solchen Regimen Geld gegeben wird, damit Flüchtlinge nicht nach Europa kommen.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Anträgen
der Grünen sagen. Die Linke ist der Meinung, dass diese
Abschiebungs- bzw. Rückführungsabkommen gekündigt
werden müssen. Sie dürfen erst gar nicht mit Ländern
zustande kommen, die systematisch Menschenrechtsverletzungen betreiben. Deswegen werden wir uns bei diesem Antrag enthalten. Außerdem ist es hauptsächlich ein
Prüfantrag. Was Syrien angeht, sind wir der Meinung,
dass dieser Antrag nicht weit genug geht, wenn man nur
prüft. Von der Aussetzung für ein Jahr haben wir gehört.
Wir sind der Meinung, dass nicht zu prüfen ist, sondern
dass Entscheidungen für ein Bleiberecht von Menschen,
die schon viele Jahre hier leben, getroffen werden müssen, und dass diejenigen, die jetzt kommen, ein Asylverfahren durchlaufen können. Man darf die Situation nicht
einfach aussitzen und die Menschen in Flüchtlingssammelunterkünften belassen, obwohl sie eigentlich ein
Asylrecht in Deutschland hätten.
Schönen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Michael
Frieser.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! 60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - der
Herr Staatssekretär hat versucht, das in Erinnerung zu
rufen -, das hat eine Bedeutung für dieses Land in seiner
Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hat auch für
das Europa dieser Stunde eine Bedeutung. Diese
60 Jahre der Geschichte wurden hier als Plattform genutzt, was gutes demokratisches Recht ist und demokratischer Ordnung entspricht; aber leider Gottes müssen
wir heute sehen, dass der 60. Jahrestag der Genfer
Flüchtlingskonvention als Aufhänger missbraucht wird,
um eine Reihe von Anträgen, die wir schon sehr oft in
diesem Hause diskutiert haben, erneut auf die Tagesordnung zu bringen.
({0})
Unverdrossen wird auch immer wieder gerne der Versuch unternommen, ein Bild von der Bundesrepublik als
einen Staat zu zeichnen, der unzuverlässig ist, gegen jegliche Form von Menschenrechten handelt und sich unmenschlich gegen jede Art von Flüchtlingen stellt. Liebe
Kollegen, bitte hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, als könnte man in irgendeiner Weise allen Flüchtlingen und Verfolgten dieser Welt Genüge tun. Das wird
nicht funktionieren. Wir müssen nach wie vor den Einzelfall im Blick behalten.
({1})
Wer zu uns kommt und nach den Grundsätzen der
Genfer Flüchtlingskonvention in seinem Land tatsächlich von Folter oder Tod bedroht ist, hat nicht nur ein
verbrieftes, sondern ein reales und auch praktisch umgesetztes Recht, hierzubleiben. Genau darum soll es gehen.
Wenn Sie diese Regeln nicht aufrechterhalten wollen,
dann wollen Sie einen anderen Staat. Dann bitte ich aber,
das auch zu sagen; denn damit setzen Sie in gewisser
Weise unsere Rechtsordnung aufs Spiel. Es geht darum,
dass wir denjenigen, die hierherkommen, eine Perspektive bieten müssen, wenn sie in ihrem Land tatsächlich
verfolgt sind. Bei anderen, die weniger schutzbedürftig
sind, können wir versuchen, helfend einzuwirken, was
diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen tun. Wir können aber nicht jedes Leid dieser
Welt heilen.
Wenn Sie diejenigen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention als schutzbedürftig und verfolgt gelten
und Flüchtlinge sind, mit jedem anderen gleichsetzen,
der hierherkommen kann, aus welchen Gründen auch
immer, dann verhalten Sie sich meines Erachtens wirklich inhuman.
({2})
Diese Unterscheidung führt dazu, dass Sie jegliche Bemühungen in diesem Land, die auch zur Integration beitragen, ad absurdum führen, weil dann letzten Endes denen, die es wirklich nötig haben, nicht mehr geholfen
werden kann.
({3})
Deshalb glaube ich, dass man den Einzelfall im Blick
behalten muss.
Von Griechenland war schon die Rede. Vielen herzlichen Dank, aber dieser Antrag ist, wie so oft, obsolet.
Was Dublin II angeht, macht die Bundesregierung von
ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch und führt Asylverfahren hier durch.
Zum Thema Syrien haben wir in den 80er-Jahren
schon einmal Bilder der Gewalt gegen das eigene Volk
gesehen. Wir erleben die Wiederholung der Geschichte,
dass erneut ein sozialistisches Baath-Regime nicht davor
zurückschreckt, die eigene Bevölkerung nicht nur zu
drangsalieren, sondern auch über den Haufen zu schießen. Heute erfährt die Welt davon. Früher konnte noch
verschleiert werden, dass mit Panzern ganze Viertel
plattgemacht wurden. Heute aber kann per Twitter, mit
Fotos oder Filmen die Welt davon erfahren.
({4})
Was passiert dadurch? Wir ändern unsere Verfahren.
Herr Kollege Wolff hat darauf hingewiesen, dass das
BAMF aufgefordert ist und bleibt, bei Rückführungen in
jedem Einzelfall auf eine Prüfung zu achten. Deswegen
ist doch das Rückführungsabkommen, das - darauf haben Sie hingewiesen - unter der rot-grünen Mehrheit
verhandelt wurde, weder falsch noch obsolet.
({5})
Ich will es nicht zum Lob ausarten lassen. Aber dass
man mit Ländern Rückführungsabkommen aushandelt,
ist notwendig, damit wir in der Lage sind, denen, die
hierbleiben müssen, zu helfen.
({6})
Insofern stelle ich fest: Wir sind nach wie vor auch in
diesem Fall in der Lage, Rückführungen durchzuführen.
Das ist aber nach einer Einzelfallprüfung zu entscheiden.
Wir haben das BAMF mit der Kompetenz ausgestattet,
eine Einzelfallprüfung durchzuführen, wenn sich die Situation vor Ort ändert. Es ist keine Befassung des Deutschen Bundestages nötig, wenn das BAMF selbst eine
Rückführung aussetzen kann.
Ich komme daher im Ergebnis dazu, dass das Durchsetzen der Rückführung von Ausreisepflichtigen notwendig ist, um die Funktionsfähigkeit dieses Staates zu
erhalten. Es ist notwendig, dass wir Zuwanderung steuern. Wenn Sie alle Grenzen fallen lassen wollen, dann
verheißen Sie Menschen eine Perspektive. Sie geben
Menschen ein Versprechen, das Sie am Ende des Tages
nicht halten können. Wenn man das will, ist das ein politischer Auftrag, zu dem wir als Koalitionsfraktionen nur
sagen können: Wir sind anderer Auffassung.
({7})
Bezogen auf die Einhaltung von Menschenrechtsstandards in der Rückführungspolitik bedarf die Bundesregierung keiner Belehrung. Ich glaube auch nicht, dass es
richtig ist, den Eindruck zu erwecken, Sie würden anders
verfahren.
({8})
Ich glaube im Ergebnis, dass „60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention“ keine Plattform dafür sein sollte, alle
Grenzen fallen zu lassen
({9})
und diesen Rechtsstaat vor eine Herausforderung zu stellen, deren Folgen Sie meines Erachtens nicht im Griff
haben können.
Wichtig bleibt für uns der Inhalt dieser Flüchtlingskonvention.
({10})
Menschen, die wirklich mit Verfolgung oder Tod bedroht sind, sollen bei uns einen Hafen finden. Alles andere ist unter dem Mäntelchen von Gutmenschentum lediglich eine andere politische Auffassung, die ich nicht
teile.
({11})
Nächster Redner in unserer Debatte ist der Kollege
Rüdiger Veit für die Fraktion der Sozialdemokraten.
Bitte schön, Kollege Veit.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines kann ich an dieser Debatte nicht verstehen. Die Grünen haben verdienstvollerweise einen Antrag mit dem
Titel „60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention“ vorgelegt. Die anderen führen an, gern darüber zu sprechen,
haben aber etwas dagegen, dass alle anderen Anträge zu
dem Thema hier beraten werden. Das passt für meine
Begriffe relativ schlecht zusammen. Wir alle sollten einmal sagen: Es ist ein Verdienst von Bündnis 90/Die Grünen, den Antrag gestellt zu haben,
({0})
sodass wir hier überhaupt zu dem Thema kommen. Dieser Antrag ist, nebenbei bemerkt, auch in all seinen Formulierungen so ausgezeichnet, dass er aus meiner Sicht
nur einen einzigen Fehler hat, wenn ich das jetzt ein wenig scherzhaft sagen darf: dass er nicht von mir oder von
uns stammt.
({1})
Es gibt einen Antrag von den Grünen - liebe Kolleginnen und Kollegen, das sage ich, damit das am Schluss
nicht zu kurz kommt -, dem wir nicht zustimmen werden. Das ist der Antrag betreffend die libyschen Flüchtlinge. Das hängt damit zusammen, dass aus unserer Sicht
Italien ein Drama der Überbelastung inszeniert, was keiner europäischen Solidarität bedarf, um das nur stichwortartig schon einmal zu sagen.
Wir werden auch den Anträgen der Linken nicht zustimmen können, aber nicht deswegen, weil uns der Antragsteller nicht passt, sondern deswegen, weil wir inhaltlich andere Positionen haben.
Es sind schon Zahlen genannt worden. Es schadet
aber nichts, wenn man das wiederholt; denn Wiederholung ist bekanntlich ein wichtiges Prinzip in der Pädagogik.
({2})
Es gibt 47 Millionen Flüchtlinge - Daniela Kolbe hat
das gesagt -, davon 15 Millionen in Drittstaaten, also
nicht Binnenvertriebene. Es gibt im Übrigen - kaum jemand denkt daran - sogar 6,6 Millionen Staatenlose auf
dieser Welt, die überhaupt nicht wissen, wohin. Von daher ist das Anliegen, das mit der Genfer Flüchtlingskonvention verfolgt wird, unbestreitbar aktuell.
Es sollte gerade in Deutschland besonders aktuell
sein, weil es dazu eine historische Verpflichtung besonderer Art gibt, über die hier noch niemand geredet hat.
Deswegen will ich das kurz andeuten. Es war im Jahre
1938, als die USA versucht haben, zugunsten der aus
Deutschland vertriebenen Juden so etwas Ähnliches wie
eine Schutzkonvention auf den Weg zu bringen - damals
vergeblich. Als 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention
formuliert und später signiert wurde, galt sie zunächst
einmal im Wesentlichen der Bewältigung der Kriegsfolgen, der Flüchtlingsströme, die durch den Krieg ausgelöst worden waren. Es war der Krieg, den wir Deutsche
ausgelöst haben. Insofern müssten wir mit ganz besonderer Sensibilität, aber auch mit ganz besonderem Engagement an den Einsatz dieses völkerrechtlichen Instrumentes gehen, wenn wir das auf die heutige Zeit zu
spiegeln versuchen. Da mache ich schon auch Defizite
aus.
Wenn ich das einmal an die Adresse der FDP sagen
darf: Zu rot-grünen Zeiten, aber auch noch zu Zeiten der
Großen Koalition haben Sie sich in der Rolle gefallen,
ausländer- und flüchtlingspolitisch am besten noch die
Linkspartei zu überholen; jedenfalls haben Sie Rot-Grün
ständig gescholten, viel zu wenig zu tun, viel zu spät und
viel zu halbherzig tätig zu werden. Wenn Sie heute sagen
- zwei Jahre sind anscheinend eine sehr lange Zeit in
dieser Koalition -, dass Sie die Ausländer- und Flüchtlingspolitik dieser Bundesregierung weiterhin konstruktiv begleiten wollen, dann ist das - Entschuldigung, lieRüdiger Veit
ber Kollege Wolff - in meinen Augen eher eine herbe
Bedrohung.
({3})
Denn das, was Sie einmal an Inhalten vertreten haben,
haben Sie bei Ihrer Liebesheirat, die heute eher eine
Zwangsheirat zu sein scheint, sozusagen an der Garderobe abgegeben.
({4})
Wir haben mehrere Beispiele dafür: Die Bleiberechtsregelung ist unzureichend, die Opfer von Zwangsheirat
sind nicht ausreichend geschützt usw. Diese Punkte kann
ich jetzt allerdings nicht weiter ausführen.
Ich will zum Kernpunkt dessen kommen, was uns
heute wichtig sein muss. Das ist die Frage, wie wir in
Europa mit Flüchtlingen umgehen. Herr Staatssekretär
Bergner, trotz der Zahlenbilanz, die Sie aufzumachen
versucht haben, muss man sagen: In den letzten fünf Jahren hat Europa 2,3 Flüchtlinge pro 1 000 Einwohner aufgenommen. Angesichts der Gesamtzahl der Bedrohten,
Bedrängten und Heimatlosen in der Welt ist dies eine
sehr geringe Größenordnung. Wir treten daher ganz entschieden dafür ein, dort, wo die Not am größten ist - also
in den Herkunftsländern, aber auch in den Ländern, in
die die Menschen als Erstes geflohen sind -, zu helfen.
({5})
Wir brauchen ein Resettlement-Programm. Der UNHCR
hat angesichts der Situation in Tunesien und Ägypten
gesagt, dass mindestens 8 000 Resettlement-Plätze zur
Unterbringung derjenigen, die Flüchtlinge im Sinne der
GFK sind, gebraucht werden. Aber es gibt nur 800 davon. Vor diesem Hintergrund wird die europäische Verantwortung deutlich. Wir dürfen uns nicht an dem Beispiel Italien orientieren, wo gesagt wird: Wenn es uns
nicht mehr mit der Hilfe von Gaddafi gelingt, die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer zu uns flüchten wollen, in
Libyen zu halten, dann wollen wir sie gerne ohne Überprüfung weiterreichen. Am Ende würden wir sogar aus
der EU austreten. - Auch Äußerungen des bayerischen
Innenministers Herrmann, man müsse angesichts dieser
Massenbewegung wieder zu Grenzkontrollen zurückkehren, sind nicht unbedingt hilfreich.
Wenn wir ein Resettlement-Programm wollen, dann
müssen wir über andere Größenordnungen reden.
({6})
Der Bundesregierung muss, notfalls vom Parlament,
eine klare Vorgabe gemacht werden, damit sie auf EUEbene entsprechend auftritt. Es reicht nicht, zu sagen,
dass auf freiwilliger Basis und von Fall zu Fall über ein
paar Hundert Plätze entschieden wird.
Ich will hierzu eine Zahl nennen; dafür habe ich einen
unverdächtigen Zeugen. Als wir darüber diskutiert haben, wie viele Flüchtlinge aus dem Irak, die zwischenzeitlich in Jordanien und Syrien Zuflucht gefunden hatten, in Deutschland aufgenommen werden sollten, hat
der damalige Bundesinnenminister Schäuble auf Befragung im Menschenrechtsausschuss gesagt, er könne sich
durchaus eine kleine fünfstellige Zahl vorstellen. Dies
wären also mindestens 10 000. Weil das allein für die
Flüchtlinge aus dem Irak gilt und weil wir einen entsprechenden Gesamtansatz für die europäische Verantwortungsteilung brauchen - ich rede nicht von der Lastenteilung hinsichtlich der Flüchtlinge, die direkt
hierherkommen; das ist ein anderes Thema -, müssen
wir über ganz andere Größenordnungen reden. Wir müssen zu einer Binnenverteilung in der EU gelangen, die
sich beispielsweise an der Wirtschaftskraft und an der
Einwohnerzahl orientiert.
Zur FDP komme ich angesichts meiner fortgeschrittenen Redezeit nicht mehr. Ich würde dem Kollegen Wolff
sehr gerne noch die Thesen der FDP in Niedersachsen
überreichen; ich werde sie ihm nachher geben.
({7})
Als letzten Punkt möchte ich noch ein Zitat nennen:
Oberstes Gebot einer jeden Flüchtlingspolitik muss
der Schutz der Verfolgten sein. Und der Schutz vor
Verfolgung muss großzügig gewährt werden. Damit
beziehe ich mich vor allem auf den Kreis der
Schutzberechtigten. Ich halte es für unangemessen,
bei der Definition des Verfolgungsbegriffs kleinlich
zu sein.
Sie dürfen dreimal raten, wer das gesagt hat.
({8})
- Das war nicht Otto Schily. Dieses Zitat ist jüngeren
Datums. Es war der jetzige Innenminister Friedrich am
20. Juni 2011.
({9})
Das Problem ist, dass der Rest der Rede nicht so gut war.
Sie wollten zu Ihrem letzten Punkt kommen.
Sie sollten Ihren eigenen Innenminister beim Wort
nehmen und seiner grundsätzlich begrüßenswerten Auffassung Taten folgen lassen. Darüber würde ich mich
freuen.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Serkan Tören. Bitte schön, Kollege Tören.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Veit, weil Sie uns direkt angesprochen haben, will
ich sagen: Ich wundere mich manchmal sehr über Ihr Erinnerungsvermögen
({0})
und wiederhole, was mein Kollege Hartfrid Wolff gesagt
hat: Das deutsch-syrische Rücknahmeübereinkommen
ist von Ihrem damaligen Außenminister ausgehandelt
worden.
({1})
Dann haben Sie noch das Bleiberecht erwähnt. Sie haben
es in elf Jahren nicht hinbekommen, für die betroffenen
Menschen etwas Vernünftiges zu regeln. Wir haben eine
Regelung insbesondere für Jugendliche gefunden, die
hier zur Schule gehen und integriert sind. Darauf können
wir in dieser christlich-liberalen Koalition stolz sein.
({2})
Überhaupt nicht erwähnt haben Sie natürlich - ganz klar die Lockerung der Residenzpflicht. Sie haben eben einmal darüber hinweggesehen und es nicht erwähnt, weil
es Ihnen ebenfalls nicht passt.
Für die FDP ist klar: Der Staat hat das Recht und auch
die Pflicht, Zuwanderung mit den ihm hierfür zur Verfügung stehenden Mitteln zu regulieren und zu kontrollieren. Gleichwohl stehen wir auch für eine humanitäre Zuwanderungspolitik auf der Grundlage des internationalen
Flüchtlingsrechts, das bedeutet natürlich auch: für ein
rechtsstaatliches und gerechtes Asylsystem.
So ähnlich lautet auch der Titel eines Antrags der Linken, den wir hier unter anderem debattieren, nur dass der
Titel hier völliger Etikettenschwindel ist.
({3})
Sie fordern unter diesem Deckmantel etwa die Abschaffung der Rückführungsrichtlinie, die Abschaffung der
Abschiebehaft oder auch die Komplettauflösung von
Frontex.
({4})
Sie hätten Ihren Antrag schlichtweg „Abschaffung aller
Grenzen“ oder „Freizügigkeit für alle zu jeder Zeit und
überall“ nennen sollen. Das wäre ehrlicher gewesen.
({5})
Allein schon die Forderung nach Abschaffung der Rückführungsrichtlinie ist absurd und läuft dem Titel zuwider.
Die Rückführungsrichtlinie setzt im Bereich der Rückführung doch endlich Mindeststandards in den Mitgliedstaaten. Das ist eine Verbesserung; das gab es bisher
nicht. Entgegen unser aller Wunsch sind die Standards
im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik leider nicht
immer auf einem einheitlich hohen Niveau in der EU.
Ich begrüße übrigens an dieser Stelle auch die Pläne
der Kommission, Frontex zu stärken. Allerdings darf
sich diese Stärkung nicht nur auf die quantitative Erweiterung von Mitteln und Personal beziehen. Ich halte es
für dringend geboten, die Schulung und Ausbildung von
Frontex-Mitarbeitern weiter voranzutreiben und insgesamt für mehr Transparenz zu sorgen. Das muss Hand in
Hand gehen.
Die Europäische Union geht mit Unterstützung der
Bundesregierung hier den Weg, der tatsächlich zu einem
gerechteren und effizienteren Asylsystem führen wird.
Bis 2012 soll ein gemeinsames Asylsystem entstehen.
Das ist ein zugegebenermaßen straffer Zeitplan; aber
wenn es um vernünftige und gemeinsame Standards für
Flüchtlinge in der gesamten EU geht, dürfen wir ruhig
sportliches Engagement zeigen.
Trotz der aktuellen Entwicklung in Nordafrika und
der zeitweise gestiegenen Zahl an Flüchtlingen in der
EU gilt: Die Gesamtzahl der Asylanträge in der EU ist
über die letzten Jahre relativ konstant geblieben. Die Anträge in den einzelnen Mitgliedstaaten variieren jedoch
stark. Beispielsweise in Deutschland ist die Zahl der
Asylanträge deutlich gestiegen. In der Zeit von Januar
bis Mai 2011 haben insgesamt 17 369 Personen in
Deutschland Asyl beantragt. Gegenüber dem Vergleichszeitraum im Vorjahr bedeutet dies eine Erhöhung um
36,6 Prozent. In Österreich beispielsweise ist die Zahl
der Anträge 2010 um 30 Prozent gesunken. Im Übrigen
ist Deutschland laut UNHCR das Industrieland, in dem
die meisten Flüchtlinge leben, nämlich rund 600 000.
Eines ist klar: Wir haben in Europa ein Verteilungsproblem. Ich würde mir hierzu zeitnah Vorschläge von
der Kommission wünschen, wie ein nachhaltiges, verantwortungsvolles, effizientes und missbrauchssicheres
Verteilungssystem aussehen kann.
({6})
Ein solches System würde nicht unbedingt eine Mehrbelastung für Deutschland darstellen; denn - hier kann ich
unserem Innenminister nur zustimmen - Asylpolitik ist
keine Tagespolitik. Wer die EU als einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erhalten will, wer
dem Schutzbedarf der Flüchtlinge und Vertriebenen im
nächsten Jahrzehnt gerecht werden will, der muss sich
mit der Dynamik der Migrationsströme und der Mobilität von Menschen auseinandersetzen.
({7})
Migration ist nicht statisch. Politische Konflikte, Ressourcenknappheit und Umweltfragen werden zunehmend Einfluss auf Wanderungsbewegungen auch nach
Europa haben.
Wir dürfen aber auch die andere Seite der Medaille
nicht vergessen, nämlich die Heimatländer der Flüchtlinge. Ein Großteil der Menschen bleibt heimatverbunden, lebt unter schwierigsten Bedingungen und in extremer Armut im Ausland. Viele dieser Menschen wollen
ihre Familie und ihr Land nicht verlassen. Aus diesem
und vielen anderen guten Gründen gilt es vor Ort für
eine Verbesserung der politischen, gesellschaftlichen,
ökologischen und ökonomischen Verhältnisse zu sorgen.
Menschen brauchen Perspektive.
({8})
Dies ist eine wichtige Zukunftsaufgabe, der wir uns mit
viel Engagement und Einsatz widmen müssen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Nächster Redner in unserer Debatte ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Christoph Strässer. Bitte schön, Kollege Christoph
Strässer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meinen Redebeitrag zum Thema „60 Jahre Genfer
Flüchtlingskonvention“ möchte ich mit einem Zitat des
Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
aus diesem Jahr beginnen. Herr Guterres hat anlässlich
der Feierlichkeiten Folgendes gesagt - ich glaube, das
trifft den Kern -:
Alles hinter sich zu lassen, was einem lieb und
teuer war, bedeutet, sich in einer unsicheren Zukunft wiederzufinden, in einer fremden Umgebung.
Stellen Sie sich vor, welchen Mut es erfordert, mit
der Aussicht fertigzuwerden, Monate, Jahre, womöglich ein ganzes Leben im Exil verbringen zu
müssen.
Herr Guterres ist kein Gutmensch. Er kennt die Realitäten in dieser Welt. In diesem Zitat beschreibt er exakt
das Schicksal von Menschen, die auf der Flucht sind.
Diese Menschen sind keine Last, sondern wollen ein Leben in Würde leben, so wie wir es für uns reklamieren.
Das wünschen wir auch allen anderen Menschen.
({0})
Einige der Bemerkungen aus den vorangegangenen
Redebeiträgen möchte ich gern aufgreifen; denn ich
denke - das sage ich in aller Offenheit -, dass es sich
hier um unterschiedliche Menschenbilder handelt. Es
geht um unterschiedliche Einschätzungen dahin gehend,
was Staaten aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention,
des, wie ich finde, richtungweisenden Werkes des Völkerflüchtlingsrechts, tun können und müssen. Wir sagen
immer - das ist nicht nur die Auffassung der Sozialdemokratie -: Das ist die Magna Charta des Völkerflüchtlingsrechts. Daran haben wir uns zu halten und zu orientieren. Da gibt es aus meiner Sicht keine Ausnahmen
und keine Ausflüchte.
({1})
Lassen Sie mich nur einige Begriffe aufgreifen. Herr
Bergner, Sie haben den Begriff der Lastenverteilung in
die Debatte eingebracht. Ich finde, wenn wir über
Flüchtlinge reden, ist es falsch, von Lasten zu sprechen.
({2})
Ich empfinde Flüchtlinge nicht als Lasten, sondern als
Menschen, die auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben sind.
({3})
Wenn man wirklich über Lastenverteilung reden sollte
und wollte, dann müsste man sich doch einmal anschauen, wo welche Lasten zu finden sind. Es wurden
bereits viele Zahlen genannt. Ich nenne immer folgendes
Beispiel: In Deutschland gibt es knapp 600 000 registrierte Flüchtlinge. Sie machen weniger als 1 Prozent der
Bevölkerung aus. Im Tschad, dem Nachbarland des Sudan und dem viertärmsten Land der Welt, leben dagegen
seit mehr als zehn Jahren 2 Millionen Flüchtlinge. Wenn
wir in Deutschland von Lasten reden, dann ist das gegenüber den Ländern, die eine solch hohe Verantwortung tragen, purer Zynismus.
({4})
Ich möchte noch eine weitere Bemerkung machen.
Wir alle haben gedacht, die Bundesregierung befände
sich auf einem guten Weg, als sie sich zu einem Moratorium für die Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland bereit erklärt hat. In der gerade stattgefundenen
Anhörung im Menschenrechtsausschuss haben wir alle
erst einmal gesagt: Oh prima! Was ist das denn? - Die
Botschaft, die dahinter steht, war unserer Einschätzung
zufolge aber ganz klar: Es handelte sich nicht um die
Einsicht, dass das bisherige Verfahren, die Menschen
dorthin zurückzuführen, wo sie kein Asylverfahren genießen können, falsch ist. Es handelte sich vielmehr um
schiere Furcht vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache.
({5})
Nach acht einstweiligen Anordnungen gegen die
Bundesregierung hatte man Angst, dass es zu einer endgültigen Entscheidung kommt, die die Rückführung der
Flüchtlinge nach Griechenland nach der Dublin-II-Verordnung grundsätzlich verbietet. Das war der eigentliche
Hintergrund.
({6})
Ich möchte noch eine Bemerkung zu einer Gruppe
machen, die hier heute noch keine Rolle gespielt hat, die
aber aus meiner Sicht als besonders schutzbedürftig anzusehen ist: die Kinder. Ich glaube, der ganze Deutsche
Bundestag hat ein Stück weit gefeiert, als es zur Rücknahme der Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskon13928
vention kam. Eines haben wir in diesem Zusammenhang
aber nicht geregelt - ich weiß, dass es dazu unterschiedliche Auffassungen gibt -: Es kann und darf nicht sein,
dass nach der Kinderrechtskonvention in Deutschland
für Kinder ein anderes Recht gilt, als nach der Kinderrechtskonvention vorgesehen. Auch Kinder in Deutschland müssen nach dem Asylrecht bis zu ihrem 18. Geburtstag als Kinder gelten.
({7})
Deshalb meine eindringliche Bitte an dieses Haus und an
diese Bundesregierung: Ergreifen Sie endlich die Initiative für Anpassungen im Bundesrecht, insbesondere im
Asylverfahrensrecht. Stellen wir die Kinder den Kindern
in anderen Regionen der Welt gleich, und geben wir ihnen die gleichen Chancen und Möglichkeiten.
({8})
Ich komme zu einem letzten Punkt, der aus meiner
Sicht am Schluss dieser Debatte eine Rolle spielen
sollte. Wir haben auf Einladung des UNHCR im Dezember dieses Jahres eine Ministerkonferenz über die Fortentwicklung der Genfer Flüchtlingskonvention.
Ich hoffe und wünsche - wir werden das hier im Hohen Hause begleiten -, dass von dieser Initiative der
Bundesregierung eine deutliche Verbesserung des
Flüchtlingsrechts in Deutschland und in Europa ausgeht.
Die „Festung Europa“ kann nicht die Zukunft eines fortschrittsgerichteten Asylverfahrens sein. Wir brauchen
wieder ein menschliches und würdiges Asylverfahrensrecht. Darum bitten wir Sie, und dafür bekommen Sie
unsere Unterstützung.
Danke schön.
({9})
Vielen Dank. - Letzter Redner in dieser Debatte ist
für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Dr. Egon Jüttner.
Wir sollten ihm noch die notwendige Aufmerksamkeit
schenken.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! In den Reden zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2011 wurde immer wieder auf die Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention hingewiesen. Wenn wir heute daran
erinnern, dass vor 60 Jahren, am 28. Juni 1951, die Genfer Flüchtlingskonvention auf einer UN-Sonderkonferenz in Genf verabschiedet worden ist, so erinnern wir
an einen Akt, der den Übergang vom staatlichen Gnadenakt hin zum individuellen Schutzanspruch, zum
rechtlich einklagbaren Anspruch auf Abschiebeschutz,
vollzogen hat.
In der Praxis bedeutet dies, dass Menschen, die wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden, ein persönliches Schutzrecht zugebilligt wird. Zunächst bezog
sich dieses Schutzrecht auf Personen, die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten waren,
zu Flüchtlingen wurden. Diese zeitliche Beschränkung
und die Einschränkung auf europäische Flüchtlinge wurden im Protokoll von 1967 richtigerweise aufgehoben.
Immerhin sind weit über 140 Staaten sowohl der Konvention als auch dem Protokoll beigetreten. Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem erheblichen Flüchtlingsstrom konfrontiert war, gehörte zu den
ersten sechs Unterzeichnern der Konvention.
Auch heute, 60 Jahre nach der Unterzeichnung, ist die
Genfer Flüchtlingskonvention eines der wichtigsten Dokumente für den internationalen Flüchtlingsschutz. Die
Konvention ist geprägt von einem humanitären Geist,
der auch in Zukunft oberstes Gebot einer jeden Flüchtlingspolitik sein sollte. Sie legt genau fest, welchen
rechtlichen Schutz Betroffene von den Unterzeichnerstaaten erhalten sollten, aber auch, welche Pflichten einem Flüchtling dem Gastland gegenüber auferlegt werden.
Die Konvention definiert genau, wer im rechtlichen
Sinne als Flüchtling anerkannt werden soll, nämlich: wer
in seinem Heimatland verfolgt wird, wer seine Heimat
vorübergehend oder auf Dauer verlassen und in einem
anderen Land Schutz beantragen muss. Mit der Genfer
Flüchtlingskonvention wurde die erste völkerrechtlich
verbindliche Regelung zum Umgang mit Flüchtlingen
getroffen.
Wir erleben in vielen Ländern politische Unterdrückung, Gewalt sowie die Verfolgung Andersdenkender
und religiöser Minderheiten. Hauptflüchtlingsländer
sind zurzeit Angola, Myanmar, Uganda, Kolumbien,
Aserbaidschan und Sudan. Die Situation im Sudan ist
vor der offiziellen Unabhängigkeitserklärung des Südsudan am 9. Juli dieses Jahres sehr angespannt. Nordsudans Präsident Baschir hat gedroht, Abtrünnige in der
Provinz Süd-Kordofan, die Teil des Nordsudans ist, deren Bürger sich aber mehrheitlich dem Süden zugehörig
fühlen, umbringen zu lassen. Hier droht ein erneuter
Völkermord, verbunden mit einem großen Flüchtlingsstrom.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, UNHCR, geht von weltweit 15,3 Millionen Flüchtlingen aus, die gezwungen sind, in anderen Ländern als
ihren Heimatländern zu leben. Hinzu kommen rund
27 Millionen Menschen, die innerhalb ihrer jeweiligen
Heimatländer als Binnenflüchtlinge in fremden Regionen leben. Die Zahl der Asylbewerber wird weltweit mit
knapp 1 Million Menschen beziffert. Das sind Zahlen,
hinter denen sehr viele Einzelschicksale stehen - Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, was ihnen
lieb und teuer war, die sich nach nichts mehr sehnen als
nach einem menschenwürdigen, sicheren Leben. Sie, die
meist alles verloren haben, müssen mit einem unglaublichen Mut durchs Leben gehen. Sie sind auf andere angeDr. Egon Jüttner
wiesen, um ihre Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung und Unterkünften zu sichern.
Nach Angaben des UNHCR gehört Deutschland zu
den führenden Aufnahmestaaten von Flüchtlingen. Derzeit haben knapp 600 000 Flüchtlinge in Deutschland
Zuflucht und Schutz gefunden. Damit belegt Deutschland den vierten Rang, noch vor den Vereinigten Staaten
und Großbritannien. Während die Zahl der Asylbewerber im Jahre 2010 gegenüber dem Vorjahr weltweit um
5 Prozent zurückgegangen ist, ist die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland um 49 Prozent gestiegen. Wir
hatten 2010 mehr als 41 000 Asylbewerber. In der ersten
Hälfte dieses Jahres ist ihre Anzahl im Vergleich zum
Vorjahr noch einmal beträchtlich angestiegen.
Deutschland hat sich auch in der Vergangenheit immer wieder für den Schutz von Flüchtlingen eingesetzt.
Ich erinnere etwa an die vielen Flüchtlinge, die in den
90er-Jahren aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns kamen und bei uns aufgenommen wurden. Ich erinnere an
die 2 500 irakischen Christen, bei denen sich Deutschland federführend für eine EU-weite Aufnahme eingesetzt hat. Leider ist die Religionsfreiheit noch in
64 Ländern der Erde stark eingeschränkt oder gar nicht
existent. Wir fordern deshalb weltweit Religionsfreiheit
als eine zentrale Voraussetzung für ein freiheitliches Leben in Würde; denn bei Fragen von Glaubensüberzeugung und Weltanschauung ist der Kernbereich der Persönlichkeit eines jeden Menschen betroffen, den es zu
schützen gilt. Gewissens- und Religionsfreiheit sind elementare Menschenrechte, die bereits in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte verankert sind.
({0})
Insofern haben wir konsequent gehandelt, als wir uns für
die Aufnahme der 2 500 irakischen Christen eingesetzt
haben, denen dauerhafter Schutz gewährt wurde.
({1})
Leider mussten wir in der Vergangenheit auch die Erfahrung machen, dass die durch die Genfer Flüchtlingskonvention definierten gesetzlichen Bestimmungen
missbraucht wurden, indem Wirtschafts- und Armutsflüchtlinge die Situation ausgenutzt haben. Sie haben auf
diese Weise denjenigen geschadet, die aufgrund ihrer
politischen Überzeugung, ihrer Religion oder ihrer
Rasse verfolgt werden. Trotz dieser Mängel, die manchmal die öffentliche Meinung über die Asyl- und Flüchtlingspolitik negativ beeinflusst haben, ist der Schutz
Verfolgter oberstes Gebot unserer Flüchtlingspolitik geblieben. Die Akzeptanz der Genfer Flüchtlingskonvention ist nach wie vor hoch. Alle politischen Kräfte sind
sich darin einig, dass der Schutz vor Verfolgung großzügig gewährt werden muss. Gerade auf europäischer
Ebene ist die zentrale Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention unstrittig.
Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass es innerhalb der EU Unterschiede gibt. Da ist
auf der einen Seite beispielsweise Italien, das sich aufgrund seiner geografischen Lage mit einem massiven
Flüchtlingsstrom konfrontiert sieht, und auf der anderen
Seite Dänemark, dessen Bevölkerung eher skeptisch ist,
was sich in der Wiedereinführung von Grenzkontrollen
widerspiegelt. Solche Disparitäten müssen aufgelöst
werden. Hierfür wird sich die Bundesregierung auf EUEbene auch entsprechend einsetzen.
({2})
Bei den derzeitigen Verhandlungen auf EU-Ebene
plädiert Deutschland für ein möglichst umfassendes Verständnis der Verfolgungsgründe und unternimmt alles,
um bei den Mitgliedstaaten Überzeugungsarbeit zu leisten. Dabei muss alles darangesetzt werden, dass sowohl
den Interessen eines Landes als auch dem Recht Schutzsuchender und Verfolgter auf Aufnahme Rechnung getragen wird. Dies muss auch der Maßstab für die neuen
Vorschläge der EU-Kommission sein, die auf Solidarität
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union untereinander aufbauen sollten. Darüber hinaus muss sichergestellt
werden, dass das geltende EU-Recht in allen Mitgliedstaaten angewandt wird und Auslegungsunterschiede,
etwa bei der Flüchtlingsanerkennung, beseitigt werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6347 und 17/6095 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/5362. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4679 mit dem Titel „Für ein offenes,
rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsystem“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Kann ich
bitte das Abstimmungsverhalten der Grünen noch einmal signalisiert bekommen? Das war hier nicht zu erkennen.
({0})
- Gut. - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4886 mit dem Titel „Für wirksa-
men Rechtsschutz im Asylverfahren - Konsequenzen
aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte ziehen“. Wer stimmt für diese Be-
Vizepräsidentin Petra Pau
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 d. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einheitlichen EU-
Flüchtlingsschutz garantieren“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5361, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4439 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der antragstellenden Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der SPD
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 e. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bün-
dnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Unverzügliche Aus-
setzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkom-
mens“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6383, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5775
abzulehnen. Wir stimmen nun auf Verlangen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen namentlich über die Be-
schlussempfehlung ab. Daraus folgt, dass die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer ihre Plätze einnehmen und die
Kolleginnen und Kollegen bitte kontrollieren, ob die Ab-
stimmungskarten ihren Namen tragen. - Sind alle
Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? - Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme bislang noch nicht abgeben konnte? - Das ist
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte Sie um
die notwendige Aufmerksamkeit und darum, die Gespräche am Rande des Plenums so einzuschränken, dass wir
uns verstehen können.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der
Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige
Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen“.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass Sie
gerne wählen möchten. Wir sind aber noch nicht bei der
Wahl, sondern immer noch bei der Abstimmung über die
Beschlussempfehlung. Ich bitte Sie, die notwendige
Aufmerksamkeit herzustellen und mir hier vorne den
Blick freizumachen.
1) Ergebnis Seite 13932 D
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6266. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5909 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3
des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 17/6439 Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt auf
Drucksache 17/6439 die Kollegin Priska Hinz ({2})
vor.
({3})
- Liebe Kollegen, es hilft nichts. Die Wahl werde ich
erst eröffnen, wenn die notwendige Aufmerksamkeit
hergestellt ist und die notwendigen Erläuterungen erfolgt
sind.
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich Sie um Auf-
merksamkeit für einige Hinweise. Die erforderlichen
Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch keine
Stimmkarte haben, können Sie diese von den Plenar-
assistenten bekommen. Für die Wahl benötigen Sie au-
ßerdem einen Wahlausweis, den Sie in der Lobby aus Ih-
rem Stimmkartenfach entnehmen können.
Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit-
glieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt min-
destens 311 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als
ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind
ungültig. Die Wahl ist nicht geheim; Sie können deshalb
die Stimmkarte an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte einwerfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahl-
ausweis an der Wahlurne einer der Schriftführerinnen
oder einem der Schriftführer.
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ih-
ren vorgegebenen Plätzen? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann eröffne ich jetzt die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgege-
ben? - Das ist der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Sie sind einverstanden, dass das
Ergebnis der Wahl später bekannt gegeben wird.2)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis g und 53 i
bis m sowie die Zusatzpunkte 5 a und b auf:
53. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsände-
rungsgesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
2) Ergebnis Seite 13938 D
Vizepräsident Eduard Oswald
des Europäischen Parlaments und des Rates
über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt
- Drucksache 17/5391 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und des
Personenbeförderungsgesetzes
- Drucksache 17/6262 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes und des Seeaufgabengesetzes
- Drucksache 17/6332 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Seesicherheits-UntersuchungsGesetzes
- Drucksache 17/6334 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Überweisung des Goldstone-Berichtes an den
Internationalen Strafgerichtshof durch den
UN-Sicherheitsrat
- Drucksache 17/6339 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Kathrin Vogler, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Behandlungs- und Betreuungsangebote für
traumatisierte Soldatinnen und Soldaten, zivile Kräfte und Angehörige ausbauen
- Drucksache 17/6342 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Wolfgang Börnsen ({6}),
Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Sören Bartol, Martin
Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Patrick Kurth
({7}), Reiner Deutschmann, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Josef Philip Winkler, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 Ein Ereignis von Weltrang
- Drucksache 17/6465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Menschenrechte in der Tourismuswirtschaft
achten, schützen und gewährleisten
- Drucksache 17/6458 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Christel Humme, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zeit zwischen den Geschlechtern gerecht verteilen - Partnerschaftlichkeit stärken
- Drucksache 17/6466 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck ({11}), Marieluise Beck
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Seenotrettung im Mittelmeer konsequent
durchsetzen und verbessern
- Drucksache 17/6467 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Volker Beck ({14}), Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine glaubwürdige Außenpolitik gegenüber Usbekistan
- Drucksache 17/6498 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Kerstin Müller ({16}),
Volker Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausbildungstätigkeit der Bundespolizei in
Saudi-Arabien beenden
- Drucksache 17/6468 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 a Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Sören Bartol, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vorrang für Verbraucherinteressen im Gentechnikrecht verankern
- Drucksache 17/6479 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa
- Drucksache 17/6480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 54 a bis 54 q sowie
die Zusatzpunkte 6 a bis 6 l auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 54 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vierten, Fünften und Sechsten Änderung
des Europäischen Übereinkommens vom
1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals ({21})
- Drucksache 17/6061 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({22})
- Drucksache 17/6440 Berichterstattung:
Abgeordneter Herbert Behrens
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6440, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/6061 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke.
Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Fraktion der
Sozialdemokraten. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das
sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag „Unverzügliche Aussetzung
des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ bekannt: abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt
312, mit Nein haben gestimmt 200, Enthaltungen 69.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon
ja: 312
nein: 200
enthalten: 69
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({23})
Manfred Behrens ({24})
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({25})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({26})
Dirk Fischer ({27})
Axel E. Fischer ({28})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({29})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({30})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Siegfried Kauder ({31})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({32})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({33})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({34})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({35})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({36})
Anita Schäfer ({37})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({38})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({39})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({40})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({41})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({42})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({43})
Peter Weiß ({44})
Sabine Weiss ({45})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({46})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Vizepräsident Eduard Oswald
Joachim Günther ({47})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({48})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner ({49})
Michael Link ({50})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({51})
Burkhardt Müller-Sönksen
({52})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({53})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({54})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({55})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({56})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({57})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({58})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
({59})
Hubertus Heil ({60})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({61})
Frank Hofmann ({62})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({63})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({64})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({65})
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({66})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({67})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({68})
Werner Schieder ({69})
Ulla Schmidt ({70})
Silvia Schmidt ({71})
Carsten Schneider ({72})
Swen Schulz ({73})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({74})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({75})
Volker Beck ({76})
Cornelia Behm
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({77})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({78})
Monika Lazar
Tobias Lindner
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({79})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({80})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Vizepräsident Eduard Oswald
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({81})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
Tagesordnungspunkt 54 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien über den Sitz des IRENA-Innovations- und Technologiezentrums
- Drucksachen 17/6039, 17/6265 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({82})
- Drucksache 17/6464 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Dorothee Menzner
Hans-Josef Fell
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6464, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/6039 und 17/6265 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Somit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 c:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juni
2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Turks- und Caicosinseln über den steuerlichen
Informationsaustausch
- Drucksache 17/6057 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
21. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik San Marino
über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/6058 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
der Britischen Jungferninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen
durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/6059 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
9. März 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Östlich des
Uruguay zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Ge13936
Vizepräsident Eduard Oswald
biet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/6056 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Republik Ungarn zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/6060 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({83})
- Drucksache 17/6388 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({84})
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstaben a bis e
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6388,
die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/6057,
17/6058, 17/6059, 17/6056 und 17/6060 anzunehmen.
Sind Sie damit einverstanden, dass wir über diese fünf
Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen? - Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
den Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Alle
anderen waren dafür. Die Gesetzentwürfe sind angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie im Gesetz zum Schutz der Teilnehmer am Fernunterricht ({85})
- Drucksache 17/6208 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({86})
- Drucksache 17/6494 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg ({87})
Oliver Kaczmarek
Heiner Kamp
Dr. Rosemarie Hein
Kai Gehring
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6494, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6208 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind alle Mitglieder
des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch
niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({88}) zu
dem
Grünbuch
Europäischer Corporate Governance-Rahmen
KOM({89})164 endg.; Ratsdok. 8830/11
hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der EU-Kommission
- Drucksachen 17/5822 Nr. A. 20, 17/6506 Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6506, in Kenntnis des Grünbuchs eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({90}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja
Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltig
fördern - Auflegung eines Förderprogramms
„Jugendkultur Jetzt“
- Drucksachen 17/3066, 17/4595 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl ({91})
Ulla Schmidt ({92})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4595, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3066 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 54 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({93})
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Alexander Bonde, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 28./29. Oktober 2010 in Brüssel
und zum G-20-Gipfel am 11./12. November
2010 in Seoul
hier: Stellungnahme gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/3425, 17/4246 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({94})
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4246, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3425 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Das sind
die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 h:
Beratung der vierten Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({95})
zu 43 Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am
27. September 2009
- Drucksache 17/6300 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Michael Hartmann ({96})
Christian Lange ({97})
Dr. Dagmar Enkelmann
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! - Keine.
Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Es ist vereinbart, hierzu dem Kollegen Thomas Strobl
das Wort zu geben. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl.
({98})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute haben Sie über die letzte von insgesamt vier Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses zu
Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum
17. Deutschen Bundestag zu entscheiden. Nachdem die
Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vom 7. Juni 2009 bereits vor einem
Jahr abschließend beraten worden sind, schließen wir
heute, wenn Sie der Empfehlung des Ausschusses folgen
und die Einsprüche zurückweisen, auch die Prüfung der
Bundestagswahl vom 27. September 2009 ab, gegen die
insgesamt 163 Einsprüche eingereicht worden sind.
Die heute zu behandelnden letzten 43 Wahleinsprüche
richten sich unter anderem gegen die Wahlen in einzelnen Justizvollzugsanstalten, die Briefwahl, die Überhangmandate sowie die Kandidatenaufstellung in einzelnen Fällen. In allen Fällen schlägt der Wahlprüfungsausschuss vor, den Wahleinspruch zurückzuweisen. Der
Grund hierfür liegt darin, dass ein Wahleinspruch nur Erfolg haben kann, wenn, erstens, ein Wahlfehler festzustellen ist und dieser, zweitens, für die Verteilung der
Mandate relevant sein kann. Beides - ein Wahlfehler und
die Möglichkeit, dass dieser Fehler sich auch auf das Ergebnis auswirkt - muss für den Erfolg eines Wahleinspruchs kumulativ vorliegen.
Der Ausschuss hat auch im Rahmen der Prüfung der
letzten 43 Einsprüche nicht und damit bei keinem der
insgesamt 163 Einsprüche festgestellt, dass beide Voraussetzungen vorliegen.
Der Ausschuss ist dennoch allen behaupteten Verstößen gegen Vorschriften für die Vorbereitung oder Durchführung der Wahl gründlich nachgegangen und hat in einem Fall nicht mit Sicherheit feststellen können, dass
kein Wahlfehler vorgelegen hat. Dabei ging es um die
Aufstellung einer Wahlkabine in einem Wahlraum, der
mit einer Überwachungskamera ausgestattet war. Es
handelte sich hier, was häufiger vorkommt, um einen als
Wahllokal genutzten Raum einer Sparkasse. Es ist natürlich nicht so, dass die Kameras zur Überwachung der
Wahl installiert worden sind. Da aber aus versicherungsrechtlichen Gründen das Verdecken oder Abschalten dieser Kameras am Wahltag problematisch war, fühlten sich
einzelne Wähler in dieser Situation verständlicherweise
unwohl.
Daher hat der Ausschuss seine Bedenken, dass es hier
zu einem Verstoß gegen die wahlrechtlichen Vorgaben
zum Schutz des Wahlgeheimnisses gekommen sein
könnte, deutlich geäußert. Jedoch war auch in diesem
Fall das erforderliche zweite Kriterium, der Einfluss des
Wahlfehlers auf die Sitzverteilung im Bundestag, nicht
erfüllt.
In einem weiteren Fall ist es nicht auszuschließen,
dass es zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit bei der Vergabe von Plakatflächen an Parteien für die Wahlwerbung gekommen ist. Auch hier
fehlte es aber an der Mandatsrelevanz des Wahlfehlers.
Thomas Strobl ({0})
Diese Einsprüche werden zwar - wie auch die in den
vorherigen Beschlussempfehlungen behandelten Einsprüche, in denen Wahlfehler bestätigt wurden - vom
Ausschuss als unbegründet zurückgewiesen, ich gehe
aber davon aus, dass die zuständigen Stellen unsere Hinweise auf die Mängel beachten und Sorge tragen, dass
derartige Wahlfehler in Zukunft nicht mehr vorkommen.
Zusätzlich hat der Ausschuss aufgrund der Erfahrungen in Wahlprüfungsangelegenheiten die Bundesregierung in bestimmten Fällen um Prüfung gebeten, ob und
inwieweit Defizite des geltenden Wahlrechts bzw. seiner
Anwendung behoben werden können.
Eine dieser Prüfbitten bezieht sich auf die Frage, ob
der Rechtsschutz für politische Vereinigungen, die nicht
zur Bundestagswahl zugelassen werden, verbessert werden kann. Der Hintergrund ist hier, dass nach der jetzigen Gesetzeslage Rechtsmittel erst nach der Wahl eingelegt werden können, zu der die Partei nicht zugelassen
worden ist.
In Bezug auf den geschilderten Fall eines Wahllokals
mit bereits vor der Wahl installierter Überwachungskamera wurde die Regierung gebeten, solche Räumlichkeiten
zukünftig grundsätzlich nicht als Wahllokale zu nutzen.
Gegen die Entscheidung des Hohen Hauses über einen gegen die Bundestags- oder Europawahl gerichteten
Wahleinspruch ist, wie Sie alle wissen, die Beschwerde
an das Bundesverfassungsgericht zulässig. Hier ist zurzeit ein Verfahren anhängig, das von einiger Bedeutung
ist. Dabei geht es um die vom Ausschuss, wie eingangs
erwähnt, bereits im Juni letzten Jahres abgeschlossene
Prüfung der gegen die Europawahl gerichteten Einsprüche. In dem konkreten Fall wendet sich der Einspruchsführer gegen die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht. Hierzu hat es vor einigen Wochen eine
mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gegeben, an der neben Mitgliedern des
Bundestages auch deutsche Abgeordnete des Europaparlaments teilgenommen haben, die dem Gericht wertvolle
Eindrücke aus der Praxis des Europäischen Parlaments
schildern konnten. Eine Prognose über den Ausgang dieses Verfahrens in Karlsruhe möchte ich nicht wagen.
Zum Abschluss der Wahlprüfung möchte ich die
sachliche Atmosphäre, die bei den Beratungen im Ausschuss herrschte, ebenso hervorheben wie die Tatsache,
dass im Hinblick auf das Ergebnis der meisten Wahlprüfungsentscheidungen im Ausschuss ein breiter, parteiübergreifender Konsens bestand. Deshalb möchte ich
mich bei der Kollegin und den Kollegen im Wahlprüfungsausschuss herzlich für die kollegiale und konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Außerdem danke ich
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschusssekretariats für ihre gute Arbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie nun,
den Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses Ihre Zustimmung zu geben.
Danke sehr fürs Zuhören.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Das haben wir auch gemacht. Insofern wird dieser Bitte in der Tat entsprochen.
Jetzt kommen wir aber noch zur Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/6450. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke? - Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist somit abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 54 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({0})
Übersicht 5
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/6453 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen
und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Niemand.
Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes bekannt: abgegebene Stimmen 580, davon gültig 577. Mit Ja haben gestimmt 517, mit Nein 33, Enthaltungen 27. Ungültige
Stimmkarten 3. Die Abgeordnete Priska Hinz ({1})
hat die erforderliche Mehrheit von 311 Stimmen er-
reicht. Sie ist damit als Mitglied des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes gewählt.1)
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Wir kommen zu
den Tagesordnungspunkten 54 j bis 54 q. Sie betreffen
die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 54 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 287 zu Petitionen
- Drucksache 17/6323 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Sozialdemokraten und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Damit ist die Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3.
Vizepräsident Eduard Oswald
Sammelübersicht 288 zu Petitionen
- Drucksache 17/6324 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, SPD-Fraktion und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 289 zu Petitionen
- Drucksache 17/6325 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 290 zu Petitionen
- Drucksache 17/6326 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Somit ist die Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 291 zu Petitionen
- Drucksache 17/6327 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - SPD und
Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 292 zu Petitionen
- Drucksache 17/6328 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Linksfraktion. Somit ist
die Sammelübersicht angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 293 zu Petitionen
- Drucksache 17/6329 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 294 zu Petitionen
- Drucksache 17/6330 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Sammelübersicht ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 6 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grenzüberschreitende Bürgerrechte beim Atomkraftwerksprojekt Temelín 3 und 4
- Drucksache 17/6481 Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Oppositionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Somit
ist der Antrag abgelehnt.
Zusatzpunkt 6 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({10})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Mobilität nachhaltig sichern - Elektromobilität fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf,
Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nachhaltige Mobilität fördern - Elektromobilität vorantreiben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Klimaschutz im Verkehr braucht wesentlich
mehr als Elektroautos
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit grüner Elektromobilität ins postfossile
Zeitalter
- Drucksachen 17/3479, 17/3647, 17/2022, 17/1164,
17/6441 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Beckmeyer
Vizepräsident Eduard Oswald
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3479
mit dem Titel „Mobilität nachhaltig sichern - Elektromobilität fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Die Linke. Enthaltungen? Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
Wir sind noch beim Zusatzpunkt 6 b. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/3647 mit dem Titel „Nachhaltige Mobilität fördern - Elektromobilität vorantreiben“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2022 mit dem Titel „Klimaschutz im Verkehr
braucht wesentlich mehr als Elektroautos“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten.
Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Wir sind immer noch beim Zusatzpunkt 6 b.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1164 mit dem Titel „Mit grüner Elektromobilität ins postfossile Zeitalter“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 6 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 295 zu Petitionen
- Drucksache 17/6469 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und alle anderen Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber frage ich: Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Stimmenthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die
Sammelübersicht 295 angenommen.
Zusatzpunkt 6 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 296 zu Petitionen
- Drucksache 17/6470 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und alle anderen Fraktionen des Hauses. Vorsichtshalber: Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Keine.
Somit ist die Sammelübersicht 296 angenommen.
Zusatzpunkt 6 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 297 zu Petitionen
- Drucksache 17/6471 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Linksfraktion. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Die Sammelübersicht 297 ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 6 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 298 zu Petitionen
- Drucksache 17/6472 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und
alle anderen Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Auch niemand.
Die Sammelübersicht 298 ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 6 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 299 zu Petitionen
- Drucksache 17/6473 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und alle anderen Fraktionen des Hauses. Ich frage
vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Die Sammelübersicht 299
ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 6 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 300 zu Petitionen
- Drucksache 17/6474 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 300 ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 6 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 301 zu Petitionen
- Drucksache 17/6475 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt
Vizepräsident Eduard Oswald
dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 301 ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 6 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 302 zu Petitionen
- Drucksache 17/6476 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 302 angenommen.
Zusatzpunkt 6 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 303 zu Petitionen
- Drucksache 17/6477 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 303 angenommen.
Zusatzpunkt 6 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 304 zu Petitionen
- Drucksache 17/6478 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Alle drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 304 angenommen. - Jetzt haben wir es geschafft.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Anhaltend positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der Debatte ist der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Kollege Volker Kauder. Bitte schön, Kollege Volker Kauder.
({21})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Seit einiger Zeit hören wir jeden Monat positive Arbeitsmarktzahlen. Außerdem können wir alle erkennen, dass
es in Deutschland boomt. Eine der Lokomotiven, eine
der Schlüsselindustrien - die deutsche Automobilwirtschaft -, meldet in diesen Tagen, dass sie in ihrer 125jährigen Geschichte das beste Absatzergebnis erwartet,
das sie je hatte: 5,9 Millionen Autos sollen in Deutschland produziert werden.
({0})
Ein Erfolg ist nicht nur, dass so viele Autos verkauft
werden, sondern auch, dass es Tausende von neuen Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie gibt.
({1})
Dieses großartige Ergebnis einer klugen Politik, das
sich übrigens auch in den Kassen der Sozialversicherungen auswirkt, weshalb wir in der Lage sein werden, die
Beiträge zu senken und somit die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu entlasten, ist eine große Gemeinschaftsleistung in diesem Land, eine Gemeinschaftsleistung von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von risikofreudigen Unternehmern.
({2})
- Herr Kollege Heil, ich habe überhaupt keinen Grund,
zu bestreiten, dass die SPD unter Führung einer CDUKanzlerin dazu in der Lage ist, dem Land etwas Gutes zu
tun.
({3})
Aber allein können Sie es auf gar keinen Fall,
({4})
und mit Grün zusammen wird es ohnehin nichts.
({5})
Wir haben zum Schluss der Großen Koalition tatsächlich
ein paar richtige Entscheidungen getroffen.
({6})
Es war diese Regierungskoalition, die angesichts des
drohenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise mit einer guten Politik - wir
haben die Kurzarbeit erleichtert - dafür gesorgt hat,
({7})
dass die Menschen im Boot bleiben konnten, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beieinander bleiben
und eine gute Zukunft haben.
({8})
- Herr Heil, Sie sollten hier nicht so herumschreien. Sie
sind nachher an der Reihe.
({9})
Wenn Sie wollen, dass Herr Steinbrück Kanzlerkandidat
wird, können Sie es nachher hier sagen und mit Herrn
Steinmeier klären, warum Sie dafür und nicht für etwas
anderes sind.
({10})
Ich glaube, das ist genau das, was die Menschen irritiert. Die Menschen sind nämlich stolz auf das, was sie
miteinander erreicht haben.
({11})
Sie wollen nicht solche Leute, die so herumbrüllen und
ihnen damit den notwendigen Respekt versagen.
({12})
Herr Heil, es bleibt dabei: Die Deutschen sind stolz
auf das, was sie erreicht haben, und darauf, dass sie besser aus der Wirtschaftskrise herausgekommen sind als
andere in Europa. Mit Ihnen hat dies wahrhaftig nichts
zu tun. Gar nichts hat das mit Ihnen zu tun.
({13})
Wir lassen uns da auch gar nicht beirren.
({14})
Wir haben jetzt die große Aufgabe, dass wir uns mit
dem Thema beschäftigen, welche Konsequenzen der Altersaufbau in unserem Land hat und was die demografische Veränderung verlangt, damit wir auch in Zukunft
genügend Menschen in Ausbildung bekommen, damit
wir genügend Facharbeiterinnen und Facharbeiter haben.
({15})
Deswegen ist es nur konsequent - da kann ich die Sozialdemokraten überhaupt nicht verstehen -, dass wir sagen: Diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und die
jetzt Lohnerhöhungen bekommen,
({16})
sollen von diesen Lohnerhöhungen auch etwas mehr haben als nur ein paar zusätzliche Prozent.
({17})
Wir werden die schnell steigende Progression korrigieren. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit.
({18})
Dagegen können Sie lang polemisieren.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir stoßen beim Handwerk
und bei der Wirtschaft auf Zustimmung.
({19})
Dort sagt man: Jawohl, wenn die Menschen von uns
schon einen guten Lohn bekommen, dann sollen sie auch
etwas haben. Dafür sorgt diese Regierungskoalition.
({20})
So weit müssen Sie es erst einmal bringen.
Gestern Abend wurde im deutschen Fernsehen eine
von der Unionsfraktion herausgebrachte Broschüre dargestellt, in der gezeigt wird: Dem Land geht es gut. In
der Sendung wurde das bestätigt. Es wurde gesagt: Das
ist richtig. Deutschland geht es gut. Daran haben alle ihren Anteil.
({21})
Die Deutschen sind stolz darauf, dass sie dies erreicht
haben, und das lassen sie sich von Ihnen nicht wegbrüllen.
({22})
Damit können wir zeigen: Diese Regierungskoalition ist
gut für unser Land.
({23})
Das Wort hat der Kollege Juratovic für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kauder, ich werde das Gefühl nicht los,
dass jetzt, vor der Sommerpause, mit dieser Aktuellen
Stunde der schlechte Ruf der Bundesregierung etwas
aufpoliert werden soll.
({0})
Lassen Sie uns in Ruhe und Sachlichkeit weitermachen.
({1})
Es stimmt, dass wir, was die nackten Zahlen betrifft,
noch nie eine so hohe Beschäftigungsquote hatten. Es ist
allerdings fraglich, welche Bundesregierung dafür die
Weichen gestellt hat. Fraglich ist auch, wie viel Einfluss
wir Politiker tatsächlich auf die konjunkturelle Lage haben. Aber das nur am Rande.
Was eine Bundesregierung tatsächlich beeinflussen
kann, ist die Arbeitsqualität und somit die Lebensqualität der Menschen in unserem Land. Doch dazu später.
Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die Zahlen
werfen: Wir haben 40,8 Millionen Erwerbstätige. Davon
sind über 4 Millionen Selbstständige, darunter viele
Scheinselbstständige. Von den 36 Millionen abhängig
Beschäftigten sind 23,5 Millionen in Vollzeit; also sind
knapp 13 Millionen in verschiedenen Teilzeitarbeitsverhältnissen tätig. Jede dritte Stelle, die bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet ist, ist ein Leiharbeitsverhältnis. 1,4 Millionen Menschen, darunter 300 000
Vollzeitbeschäftigte, müssen trotz Arbeit zusätzlich zum
Sozialamt, um sich und ihre Familie ernähren zu können,
wenn sie sich überhaupt noch eine Familie leisten können. Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Jobwunder,
von dem die Bundesregierung immer spricht, ein Jobwunder der prekären Beschäftigung ist.
({2})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie wundern sich wahrscheinlich, warum viele Menschen trotz der Rekordzahlen der Erwerbstätigen unzufrieden sind und das Vertrauen in Ihre Politik verloren
haben. Das liegt auf der Hand: weil dieser Bundesregierung der Kompass aus Menschenwürde, Gerechtigkeit,
Fairness und Wertschätzung der Arbeit völlig abhandengekommen ist.
({3})
Das Menschenrecht auf eine würdevolle Arbeit spielt
in dieser Bundesregierung so gut wie keine Rolle mehr.
Das Einzige, was zählt, sind Zahlen und geschönte Statistiken.
({4})
Die Menschen spüren das, und sie merken, dass in der
Politik der Bundesregierung nicht das Schicksal jedes
einzelnen Menschen zählt.
Die Menschen in unserem Land hatten viel Verständnis für Probleme während der Wirtschaftskrise. Aber sie
haben zu Recht kein Verständnis dafür, dass es jetzt, nach
der Krise, auf dem Arbeitsmarkt immer noch ungerecht
zugeht. Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Praktika, Minijobs, Arbeit auf Abruf und Hungerlöhne sind zum selbstverständlichen Kalkulationsgegenstand der Unternehmen geworden.
Diese teils menschenunwürdigen Beschäftigungsverhältnisse werden von der Bundesregierung geduldet, da
die Unternehmen behaupten, sonst seien die Jobs in
Deutschland nicht mehr bezahlbar. Der Mensch ist zum
Kalkulationsgegenstand der Unternehmen verkommen.
Aber auch im Facharbeiterbereich gibt es viele Menschen, die mit ihrem Lohn am Rande des Existenzminimums stehen. Auch bei gut verdienenden Akademikern
machen sich alarmierende Arbeitsverhältnisse breit. Sie
müssen rund um die Uhr erreichbar sein und haben keine
Grenze mehr zwischen Arbeit und Privatleben. Daran
scheitern viele Ehen. Psychische Erkrankungen und
Burn-out nehmen immer weiter zu.
Allen, die sich über die Wachstumsraten freuen, sage
ich: Diese Zahlen sind das Zwischenergebnis dieser erschreckenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Das
Endergebnis dieser Entwicklungen muss unsere Gesellschaft bezahlen, wenn wir es mit Altersarmut wegen prekärer Beschäftigung, Erwerbsunfähigkeit und vielen sozialen Problemen durch gescheiterte Familien zu tun
haben.
Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass sich manch
einer in der Bundesregierung nur schwer vorstellen
kann, worüber der Fließbandarbeiter hier am Rednerpult
spricht. Ich kann Ihnen dazu einen Tipp geben: Reden
Sie mal mit den Fahrern aus unserem Fahrdienst, mit den
Reinigungskräften und dem Wachpersonal!
({5})
Sie werden sehen, dass all das, worüber ich rede, inzwischen über externe Dienstleister auch im Bundestag Einzug gehalten hat. Hier sind wir als Auftraggeber dafür
verantwortlich, gute Arbeitsbedingungen und faire
Löhne umzusetzen. Damit könnten wir ein Beispiel für
andere Arbeitgeber in unserem Land sein,
({6})
und damit könnte die Politik wieder Glaubwürdigkeit bei
den Menschen zurückgewinnen. Dazu könnte auch die
sofortige Einführung des von der SPD geforderten flächendeckenden Mindestlohnes beitragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen
schöne Tage in der Sommerpause. Von der Bundesregierung erwarte ich allerdings, dass sie sich ausreichend
Zeit zum Nachsitzen nimmt, damit wir zu mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Rainer
Brüderle.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Deutschland ist Wachstumsland.
({0})
- Herr Heil, Ihr Vorgänger als König der Zwischenrufer
in der SPD war Herr Tauss.
({1})
Ich hätte nicht gedacht, dass das Niveau von Herrn Tauss
noch unterboten werden kann.
({2})
Sie unterbieten es. Sie belegen das durch Ihre Zwischenrufe.
({3})
Deutschland ist Wachstumsland.
({4})
Das Gewerkschaftsinstitut - nicht die Regierung! - prognostiziert 4 Prozent reales Wachstum für dieses Jahr.
({5})
Aber eines ist sicher: Der XL-Aufschwung setzt sich
megamäßig fort. Die Rekordmarke vom letzten Jahr mit
3,5 Prozent können wir in diesem Jahr wieder erreichen.
Schwarz-Gelb sorgt dafür. Der XL-Aufschwung ist extra
stark und extra lang.
({6})
Das ganze Land freut sich. Wir können stolz darauf
sein, dass unsere fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dies möglich machen. Wir können stolz darauf sein, dass unsere Industrie, Mittelstand und Handwerk - alle erfolgreich! - dies möglich machen. Wir
können stolz darauf sein, dass unser Land das erreicht.
Nur die Opposition miesepetert vor sich hin
({7})
und versucht, das schlechtzureden, das Land schlechtzureden, die Leistung schlechtzureden.
Herr Gabriel hat noch im letzten Jahr von der Abschwungspirale der schwarz-gelben Regierung schwadroniert.
({8})
Das Gegenteil ist der Fall: Schnellstraße zur Vollbeschäftigung! Deutschland wird Vollbeschäftigungsland.
({9})
- Auch wenn Sie schreien: Das ist die Realität. Wir belegen das.
({10})
Der Herr Steinmeier sieht das übrigens genauso; ich
verweise auf seine Äußerungen in der Süddeutschen Zeitung. Er ist eben der Vernunftbegabte in der Sozialdemokratie. Vernunft macht aber bei Ihnen in der SPD sehr
einsam.
({11})
Deutschland hat noch nie so viele Menschen in Beschäftigung gehabt wie jetzt.
({12})
40,9 Millionen Arbeitsplätze gab es noch nie in Deutschland. Wir werden im nächsten Jahr mit 41 Millionen alle
Beschäftigungsrekorde brechen. Die Arbeitslosenquote
in Deutschland ist so niedrig wie seit 30 Jahren nicht
mehr.
({13})
Das ist der Erfolg einer gemeinsamen Anstrengung und
einer gemeinsamen Politik.
({14})
Schwarz-Gelb macht Vollbeschäftigungspolitik. GrünRot war Massenarbeitslosigkeit. Schwarz-Gelb ist Vollbeschäftigung. Das ist der Unterschied.
Wir haben mit Steuerentlastungen in Höhe von
24 Milliarden Euro das Wachstum beschleunigt.
({15})
Wir werden noch eine Schippe drauflegen. Wir entlasten
die Mitte bei Steuern und Abgaben. Wir befreien die unteren und mittleren Einkommen von der kalten Progression.
({16})
Ich bin sehr gespannt, wie die SPD dem Monteur bei
Bosch, dem Bandarbeiter bei Volkswagen oder der
Krankenschwester im Krankenhaus erklären wird, dass
sie von den Lohnzuwächsen nichts übrig behalten, weil
sie in die nächste Progressionsstufe kommen, weil das
wegbesteuert wird.
({17})
Sie verweigern den kleinen und mittleren Einkommen,
Anteil am Aufschwung zu haben.
({18})
Sie wollen das nur bei den Konzernen und den Finanzministern haben, aber nicht bei den hart arbeitenden
Menschen im Lande. Das ist Ihre Politik.
({19})
Sie verweigern Teilhabe am Aufschwung in Deutschland.
({20})
Wir stabilisieren die Binnennachfrage, um diesen
Wachstumspfad langfristig fortsetzen zu können.
({21})
Das ist unsere erfolgreiche Politik. Sie schwadronieren
aber nur davon, dass das „auf Pump“ geschehe. Die
größte Pumpstation ist Ihr Möchtegernkanzlerkandidat
Steinbrück. Er hat 86 Milliarden Euro Neuverschuldung
zu verantworten. Wir stehen jetzt bei 27 Milliarden
Euro, und die Neuverschuldung wird weiter heruntergehen. Das ist der Unterschied zwischen uns.
({22})
Einen Verfassungsbruch können Sie in NordrheinWestfalen, durch das dortige Verfassungsgericht bestätigt, erleben. Wir müssen Ihren Kollegen dort mit Bundesmitteln helfen, damit die WestLB nicht in Konkurs
geht.
({23})
Ihre Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ist dazu
nicht in der Lage. Das ist Sozial- und Haushaltspolitik
à la SPD.
({24})
Die Agenda in Deutschland hat sich völlig gewandelt.
Unsere Themen sind jetzt Fachkräftemangel.
({25})
Unser Thema ist nicht der Mangel an Ausbildungsplätzen, sondern ein Mangel an Auszubildenden.
({26})
Deshalb müssen wir die Reserve im Land mobilisieren,
die Ausbildungsreife weiter steigern und die inländischen Potenziale stärken.
Wir müssen auch die Hinzuverdienstmöglichkeiten
für die Rentner erweitern. Außerdem müssen wir der
Bundesagentur für Arbeit einmal Beine machen. Bei
5 Millionen Arbeitslosen hatte sie 90 000 Beschäftigte.
Jetzt gibt es über 2 Millionen Arbeitslose weniger, und
die Bundesagentur hat 115 000 Beschäftigte.
({27})
Das kann nicht angehen; dieser Trend muss umgekehrt
werden. Jetzt endlich fangen sie damit an.
({28})
Das sind die Entlastungspotenziale, die wir im Haushalt
brauchen. In der Bundesagentur wird zu viel verwaltet
und zu wenig vermittelt. Das muss sich ändern.
({29})
Wer hat denn die 1-Euro-Jobs eingeführt, Herr Heil?
Das war Grün-Rot. Wir schaffen Vollbeschäftigung und
ordentliche Arbeitsverhältnisse.
({30})
Sie haben die 1-Euro-Jobs geschaffen und anschließend
die betreffenden Menschen stigmatisiert. Wer hat denn
die Veränderungsprozesse eingeleitet, die zu prekären
Arbeitsverhältnissen geführt haben? Das waren Sie.
({31})
Wir machen aus 1-Euro-Jobs Dauerarbeitsplätze. Das
entspricht der Menschenwürde.
({32})
Ich bekenne mich klar zu Wachstum; ich finde
Wachstum prima. Wachstum ist toll. Wir brauchen es.
Wer wie die Grünen meint, mit Nullwachstum die Lebensqualität verbessern zu können, der irrt. Für sie ist es
vielleicht ein freudiges Erlebnis - aber dies gilt nicht für
Deutschland und Bayern -, dass unser Land den Zuschlag für die Olympischen Spiele nicht bekommen hat.
Sie wollten die Olympiade nicht haben, weil sie nicht
einmal diese den Menschen in Deutschland gönnen.
Gönnen Sie, meine Damen und Herren, den Menschen
wenigstens, was wir für sie tun! Bekennen Sie sich dazu,
dass wir in Deutschland eine erfolgreiche Politik machen!
({33})
Das Wort hat der Kollege Steffen Bockhahn für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um an Herrn Brüderle anzuknüpfen: Es stimmt, Deutschland freut sich über die konstant
niedrigen Umfragewerte der FDP. Sie liegen sauber unter 5 Prozent. Sie haben gerade bewiesen, warum.
({0})
52 Prozent der Beschäftigten in der Bundesrepublik
Deutschland unterliegen noch Branchen- oder Haustari13946
fen. Das heißt, 48 Prozent der Beschäftigten unterliegen
keinerlei tariflichem Schutz mehr. Das zeigt, in welche
Richtung sich der Arbeitsmarkt entwickelt. Von 36 Millionen Beschäftigten hat ein Drittel nur Teilzeitjobs mit
etwa 15 Wochenstunden. Wer soll denn davon leben?
Das sind die Erfolge Ihrer Arbeitsmarktpolitik, die Sie
hier feiern. Es gibt 1 Million Leiharbeiter in Deutschland, die keinen ausreichenden Schutz vor Kündigung
haben und die keine ordentlichen Mitbestimmungsrechte
haben. Das verkaufen Sie als Erfolg.
Herr Brüderle und Herr Kauder, wenn Sie hier große
Lohnerhöhungen für die kommenden Monate ankündigen, dann haben Sie vielleicht recht hinsichtlich der ganz
wenigen Beschäftigten, die in der Exportwirtschaft arbeiten. Aber die vielen Menschen, die in den Dienstleistungsberufen und in den sozialen Berufen arbeiten, haben seit Jahren brutal sinkende Löhne, was zu einer
weiteren Verarmung dieser Menschen führt, die eine so
wichtige Arbeit machen. Das ist das Ergebnis Ihrer Arbeitsmarktpolitik.
({1})
In Mecklenburg-Vorpommern, dem bekanntlich
schönsten Bundesland,
({2})
geht es vielen Menschen nicht so gut. 45 Prozent aller
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in MecklenburgVorpommern, also fast die Hälfte, arbeiten im Niedriglohnbereich. Etwa zwei Drittel aller unter 25-Jährigen
arbeiten ebenfalls im Niedriglohnbereich.
({3})
- Um Ihre Frage zu beantworten: In Mecklenburg-Vorpommern regiert die CDU zusammen mit der SPD. Das
ist richtig.
({4})
Ich habe kein Problem damit, dass die SPD da regiert,
aber die brauchen künftig einen ordentlichen Koalitionspartner. Das wird, denke ich, nach dem 4. September
auch wieder möglich sein.
({5})
Aber um Ihnen zu sagen, was das bedeutet: In Mecklenburg-Vorpommern erhält man bei einer 40-StundenWoche nur etwa 1 000 Euro brutto im Monat - nicht in
der Woche, im Monat! 1 000 Euro brutto für Vollerwerbsarbeit - das ist unwürdig. Es ist unwürdig, dafür
Leute arbeiten zu schicken, und es ist kein Erfolg, wenn
man solche Arbeitsplätze schafft.
({6})
Man kann sehr wohl etwas dagegen tun. Man könnte
zum Beispiel mal damit anfangen, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen gleichzeitig einzuführen. Das wäre ein Schutz für all diejenigen, die, wie ich eingangs erwähnte, dieser tariflichen
Bindung nicht mehr unterliegen. Das wäre eine vernünftige Maßnahme auch im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
({7})
In Richtung SPD muss ich aber - das tut mir leid - sagen, dass ich nicht verstehe, warum Sie gerade wieder
Mindestlöhnen zugestimmt haben, die im Osten und im
Westen unterschiedlich hoch sind - und dann auch noch
in der Leiharbeit. Das funktioniert leider auch nicht. Das
müssen Sie noch mal überdenken.
({8})
Ich glaube aber, dass Ihre vermeintlichen Erfolge am
Arbeitsmarkt noch zu ganz anderen Problemen führen.
Laut Statistik haben wir etwa 3 Millionen Arbeitslose.
Das ist ein Erfolg, sagen Sie. Das Problem ist, dass die
Zahl, wenn Sie sich einmal anschauen, wen Sie alles
nicht mehr in die Statistik hineinrechnen, plötzlich nicht
mehr so kuschelig wirkt.
({9})
Wen betrifft das also? Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 58 Jahre tauchen nicht mehr in Ihrer Statistik auf. Leute, die gerade Arbeitsgelegenheiten mit
Mehraufwandsentschädigung haben, also 1-Euro-Jobber,
werden da nicht mehr eingerechnet.
({10})
Leute, die in Bildungsmaßnahmen sind, werden da nicht
mehr eingerechnet. Aber noch verrückter ist - das finde
ich besonders toll -, Arbeitslose, die krankgeschrieben
sind, sind nicht mehr arbeitslos. Die werden in die Statistik nicht eingerechnet. Da drücken Sie jeden Monat
70 000 bis 80 000 Arbeitslose aus der Statistik. Ihre Statistiken sind nicht ehrlich. Wir haben etwa 4 Millionen
fehlende Arbeitsplätze in Deutschland, wir haben 4 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das ist der Erfolg Ihrer Politik.
Das ist aber kein Erfolg; denn er führt dazu, dass die
Kommunen gravierende Probleme bekommen. Es mag
Sie verwundern, dass ich das sage. Aber das Problem
sind die vielen Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die
vielen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten gerade im Bereich des Tourismus, gerade im Bereich des
Hotel- und Gaststättengewerbes. Die gehen als Aufstockerinnen und Aufstocker zum Jobcenter.
Ich weiß nicht, Herr Brüderle, ob Ihnen das klar ist,
wenn Sie die Lohnerfolge so bejubeln: 13 Milliarden
Euro - 13 Milliarden Euro! - geben wir in jedem Jahr
für Aufstockerinnen und Aufstocker im Hartz-IV-Bezug
aus.
({11})
Das sind 13 Milliarden Euro direkte Lohnsubvention an
die Unternehmerinnen und Unternehmer. Ich finde, das
Geld ist falsch angelegt. Ich glaube, damit könnten wir
Besseres machen.
({12})
Meine Damen und Herren, das nächste Problem in
dem Bereich besteht darin, dass den Kommunen dieses
Geld, das sie unter anderem mit aufwenden müssen, um
diese Armut trotz Arbeit auszugleichen, fehlt, um Schulen zu sanieren, um Sportplätze offen und in einem guten
Zustand zu halten, das fehlt, um Kulturarbeit zu ermöglichen, das fehlt an allen Ecken und Enden.
Ihre Arbeitsmarktpolitik führt nicht nur zu einer stärkeren Spaltung in Arm und Reich, Ihre Arbeitsmarktpolitik führt nicht nur dazu, dass Menschen in Armut leben,
obwohl sie arbeiten, sondern Ihre Arbeitsmarktpolitik
führt auch dazu, dass die Kommunen in Deutschland
pleite sind und damit das Land von unten her kaputtgeht.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kauder, Herr Brüderle, ich verstehe Sie ja. Ich kann verstehen,
({0})
dass die Bundesregierung jetzt kurz vor der parlamentarischen Sommerpause noch einmal versucht, sich im
schönen Schein der Arbeitsmarktpolitik zu sonnen.
Also: Wenn eine Bundesregierung so eine katastrophale
Zwischenbilanz vorlegt,
({1})
wenn eine Bundesregierung so ein schlechtes Ansehen
selbst bei Topmanagern hat, wenn der Streit bei den Koalitionspartnern einfach nicht enden will, dann kann ich
verstehen, dass Sie versuchen, das mit dieser Bilanz zu
überdecken. Aber Sie wissen natürlich schon, dass die
offiziellen Arbeitsmarktzahlen auch nur ein Teil der
Wahrheit sind.
Der andere Teil der Wahrheit ist das Problem der
Langzeitarbeitslosen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, Herr
Brüderle, dass Deutschland zu den Ländern gehört, in
denen die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu allen anderen
OECD-Ländern im Durchschnitt am längsten andauert.
Nur noch die Slowakei ist schlechter als wir.
({2})
Sie, Herr Brüderle, haben dann davon geredet, dass
wir mehr Ausbildungsplätze als Auszubildende haben.
Ich will Ihnen an dieser Stelle einmal sagen, dass immerhin noch 17 Prozent der 25- bis 29-Jährigen weder
einen Arbeits- noch einen Ausbildungsplatz haben.
6,5 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnbereich. Hunderttausende Menschen arbeiten als Leiharbeiter und machen bei den Aufstockern die größte
Gruppe aus. Jeder fünfte Job in Deutschland ist inzwischen ein Minijob. Hinter dem deutschen Jobwunder
verbirgt sich in Wahrheit also ein zutiefst gespaltener
Arbeitsmarkt. Dagegen unternehmen Sie rein gar nichts.
({3})
Diese Spaltung findet in doppelter Hinsicht statt. Auf
der einen Seite gibt es diejenigen, die gut qualifiziert
sind, die mobil sind und die in der Tat glänzende Aussichten haben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch
diejenigen, die gering qualifiziert sind, die langzeitarbeitslos sind und die trotz Aufschwung noch immer keinen Arbeitsplatz gefunden haben. Für diese Menschen
tun Sie gar nichts. Das nehmen wir nicht hin.
({4})
Die Spaltung setzt sich im Übrigen auch bei denen
fort, die Teilnehmer des Arbeitsmarktes sind, nämlich
zwischen der Stammbelegschaft und der Randbelegschaft. Die einen verdienen relativ gut und arbeiten zu
fairen Bedingungen. Die anderen arbeiten in prekären
Arbeitsverhältnissen. An dieser Stelle gibt es gar keine
Durchlässigkeit. Ich sage Ihnen: Arbeitsmarktpolitik
fängt nicht damit an, dass Sie sich für den Aufschwung
bejubeln lassen. Arbeitsmarktpolitik fängt damit an, dass
Sie beginnen, diese Spaltung zu überwinden. Und genau
an dieser Stelle haben Sie eine negative Bilanz.
({5})
Doch gerade hier könnte Arbeitsmarktpolitik zeigen,
was sie kann.
Herr Brüderle, Sie reden davon, dass Deutschland ein
Land ist, das Vollbeschäftigung erreichen kann. Das
finde ich auch. Aber nicht mit dieser Regierung!
({6})
Denn das Versagen Ihrer Arbeitsmarktpolitik zeigt sich
an folgender Situation:
({7})
Sie haben auf der einen Seite einen Fachkräftemangel
und auf der anderen Seite gleichzeitig eine hohe Arbeitslosigkeit. Daran wird das Versagen dieser Regierung
deutlich. Daran wird das Versagen Ihrer Arbeitsmarktpolitik deutlich.
({8})
Ich sage Ihnen etwas: Die Kürzung der Mittel in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, für die Sie sich gerade noch gerühmt haben, Herr Brüderle,
({9})
ist wirklich der falsche Weg. Damit treiben Sie die Spaltung des Arbeitsmarktes immer weiter voran.
({10})
Diese Regierung streicht das Geld für die Integration der
Ärmsten der Armen. Genau damit, Herr Brüderle, sind
Sie gerade dabei, den wirtschaftlichen Aufschwung zu
gefährden.
({11})
Der Fachkräftemangel ist aktuell das größte Risiko für
den wirtschaftlichen Aufschwung.
({12})
In genau dieser Situation wollen Sie jetzt die Steuern
senken.
({13})
Gleichzeitig wollen Sie uns hier erzählen, dass die Steuersenkung insbesondere denen zugutekommt, die mittlere und geringe Einkommen haben.
({14})
Herr Brüderle, die Hälfte der Bevölkerung zahlt gar
keine Steuern. Die haben von Ihrer Steuersenkung rein
gar nichts.
({15})
Sie behaupten, Ihnen ginge es darum, dass die Beschäftigten ihren Anteil vom Aufschwung kriegen. Ihnen geht
es aber ausschließlich um sich selbst. Ihnen geht es darum, dass Sie noch einen kleinen Anteil der Wählerstimmen kriegen.
({16})
Diese Steuersenkung ist nichts weiter als ein Reanimationsprogramm für die FDP.
({17})
Das wird aber nicht funktionieren.
({18})
Die Kollegin Gerda Hasselfeldt spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einigen Jahren sagte unsere Bundeskanzlerin: Wir
werden gestärkt aus der Krise herauskommen. - Heute
können wir sagen: Sie hat damals schon recht gehabt.
Wir sind nicht nur gut herausgekommen, sondern stehen
heute besser da als viele andere Länder in unserer Nachbarschaft. Wir stehen besser da als vor der Krise. Das ist
das Ergebnis.
({0})
All das ist kein Zufall und auch keine Selbstverständlichkeit, sondern es ist das Ergebnis von klugen Entscheidungen der Unternehmer ({1})
und zwar nicht nur der Manager in großen Unternehmen,
sondern vieler mittelständischer Unternehmer -, die ihre
Verantwortung ernst genommen und die ihre Arbeitnehmer nicht vorschnell entlassen haben.
({2})
Durch Unternehmensentscheidungen wurde so deutlich
gemacht, dass auch in schwierigen Zeiten weiterhin auf
Innovation und Forschung gesetzt wurde.
({3})
Es ist auch das Ergebnis von Tarifentscheidungen verantwortungsvoller Tarifpartner, das Ergebnis von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - Volker
Kauder hat darauf hingewiesen -; es ist das Ergebnis einer riesengroßen Gemeinschaftsleistung, auf das die
Deutschen stolz sein können und wir mit ihnen stolz sein
sollten.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist auch das Ergebnis
einer klugen Politik. Einiges wurde bereits in der letzten
Legislaturperiode - das ist richtig - unter Kanzlerin
Angela Merkel eingeleitet und in dieser Legislaturperiode fortgeführt. Es ist das Ergebnis einer Politik, die
auf Regulierung des Finanzmarktes, auf Einsparungen in
den öffentlichen Haushalten und auf konjunkturelle Belebung setzte. Dieses Zusammenspiel war es, das positive Signale nicht nur für die internationalen und nationalen Finanzmärkte, sondern auch für die Verbraucher
und Investoren gegeben hat. Das ist eine riesengroße
politische Leistung, die wir nicht gering schätzen sollten; denn sie hat zu diesem positiven Ergebnis beigetragen.
({5})
Die Gewinner dieser Politik sind die Arbeitsuchenden
- wenn auch noch nicht alle, aber doch viele -, die in
weiten Bereichen wieder eine Beschäftigung gefunden
haben. Gewinner sind auch die Hochschulabsolventen,
die Schulabsolventen und die Ausbildungsabsolventen.
Gewinner sind diejenigen, die aus der Kurzarbeit wieder
in die Vollzeitbeschäftigung wechseln konnten. Gewinner sind die Arbeitnehmer, die als ihren Anteil vom größer gewordenen Kuchen Lohn- und Gehaltserhöhungen
erhielten.
({6})
Gewinner sind auch die Unternehmer, die durch zusätzliche Aufträge aus dem In- und Ausland wieder mehr
Gewinne erzielen. Meine Damen und Herren, es wurde
Politik für die Menschen gemacht. Das ist das Ergebnis
dieser Politik.
({7})
Ganz persönlich sage ich Ihnen: Ich freue mich sehr,
dass die Entwicklung in meiner Heimat, in Bayern, ganz
besonders gut ist. Wir haben eine ganze Reihe von Regionen mit einer ganz geringen Arbeitslosenquote. Den
Daten liegt übrigens die gleiche statistische Erhebungsweise zugrunde, die vor Jahren bereits galt; daran hat
sich nichts geändert. Wenn Sie das alles schlechtreden
wollen, dann will ich in dem Zusammenhang festhalten,
dass es sich um die gleiche statistische Grundlage handelt.
({8})
Es gibt Regionen mit einer Arbeitslosenquote von unter
2 Prozent, in Eichstätt liegt sie sogar bei 1,2 Prozent.
({9})
Diese Zahl ist nicht gottgegeben, auch nicht in Bayern,
({10})
sondern es ist letztlich die Dividende einer weitsichtigen, klugen, über Jahrzehnte hinweg geleisteten regionalen Wirtschaftspolitik ({11})
eine Wirtschaftspolitik, die alle Regionen bedachte und
die immer auf Bildung, Qualifikation und auf Innovation
gesetzt hat.
({12})
An diesem Beispiel merken Sie, dass diese Erfolge nicht
selbstverständlich sind und dass es auch nicht egal ist,
wer Politik macht.
Jetzt geht es darum, die durch den Aufschwung entstandene Situation zu stabilisieren und weiterzuentwickeln. Spielräume dafür gibt es in den Haushalten, aber
auch in den Sozialversicherungen. Es geht darum, diese
Spielräume richtig zu nutzen - für Haushaltskonsolidierungen, aber auch für die Herstellung von Gerechtigkeit.
Die geplanten Entlastungen für die unteren und mittleren
Einkommensschichten - sowohl im steuerlichen als auch
im Sozialversicherungsbereich - sind eine Frage der Gerechtigkeit.
Es wundert mich, wenn sich die Sozialdemokraten
und die Grünen nun davon verabschieden. Ich habe in
früheren Jahren - ich möchte fast sagen: in meinem früheren Leben - gelernt, dass sich gerade die Sozialdemokraten um die Anliegen der kleinen Leute gekümmert
haben. Wo ist eigentlich Ihr Herz geblieben für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land?
({13})
- Es trifft Sie offensichtlich stark.
Ich möchte Sie herzlich bitten, meine Damen und
Herren: Lassen Sie uns auf diesem Weg fortfahren. Wir
haben Erfolge erzielt. Darauf sind wir stolz, und darauf
werden wir auch künftig aufbauen.
({14})
Der Kollege Klaus Barthel hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat, der Arbeitsmarkt entwickelt sich positiver als
erwartet. Man könnte fast sagen: Diesen Aufschwung in
seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. Das ist
bei dieser Bundesregierung das eigentliche Beschäftigungswunder in diesem Land.
({0})
Wir haben die Vollbeschäftigung noch nicht erreicht.
Es gibt enorme regionale Verwerfungen, Frau
Hasselfeldt, gerade auch innerhalb von einzelnen Bundesländern, so etwa in Bayern, wo die Spannen zwischen
den guten und den schlechten Arbeitsmarktregionen genauso groß sind wie zwischen Ost und West. In der ganzen Republik gibt es solche Orte, wo Sie die Strukturprobleme nicht in den Griff kriegen. Die Arbeitslosigkeit
in Oberfranken schießt nur deshalb nicht durch die
10-Prozent-Decke, weil die Menschen dort weg- und
den Arbeitsplätzen hinterherziehen. Das ist ein Problem
auf dem Arbeitsmarkt.
({1})
Weiterhin haben wir es mit der Prekarisierung, mit
der Polarisierung, mit dem hohen Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit und mit den verdorbenen Preisen auf dem
Arbeitsmarkt, also den niedrigen Löhnen, zu tun.
Aber richtig ist eines - das müssen wir heute auch
festhalten -: Vollbeschäftigung rückt in greifbare Nähe.
Es gab Sozialdemokraten, die das schon vor vier, fünf,
sechs Jahren gesagt haben und die damals als Utopisten
verlacht worden sind. Aber wir wollen festhalten: Wir
kämpfen weiter für das Ziel der Vollbeschäftigung.
Die Ursachen für den Erfolg müssen wir uns aber
noch einmal genauer anschauen, weil es ja nicht die Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne war, durch die der
Erfolg erzielt worden ist; denn noch so viel Druck auf
Arbeitslose, noch so viele Leistungskürzungen, noch so
viel Flexibilisierung bringen nichts, solange die Wirtschaft nicht läuft und solange nicht tatsächlich die Arbeitsplätze da sind. Um es mit Bill Clinton zu sagen: It’s
the economy, stupid!
({2})
Das heißt aber gerade nicht, dass sich der Staat und
die Politik heraushalten dürfen oder heraushalten können. Im Gegenteil: Gerade die letzten drei Jahre zeigen
doch, dass der Staat die richtigen makroökonomischen
Impulse setzen muss, dass er antizyklisch in die Wirtschaft eingreifen muss. Deswegen haben wir in der Großen Koalition durchgesetzt, dass erstens die unteren
Einkommen gestützt wurden, dass zweitens Konjunkturprogramme aufgelegt wurden, dass drittens eine expansive Haushaltspolitik gemacht wurde, eine antizyklische,
({3})
und zwar unter dem vehementen Protest der FDP und
von Herrn Brüderle - wir können uns alle noch gut daran
erinnern - und dass viertens eine Kurzarbeiterregelung
eingeführt wurde. Genau dieses klassisch keynesianische Teufelszeug hat uns gestärkt aus der Krise herausgebracht. Das ist die Tatsache, vor der wir heute stehen.
({4})
Die verteufelten Konjunkturprogramme wirken heute
noch nach, und sie haben wieder einmal enorme Hebelwirkungen bewiesen. Es hat sich in der Städtebauförderung, in der energetischen Gebäudesanierung, bei der öffentlichen Infrastruktur gezeigt, dass ein ausgegebener
Euro für solche Programme 7, 8, 9 Euro an Investitionen
in Bewegung setzt. Genau das ist der Unterschied zu den
Hotelsteuergeschenken, bei denen die Proportion genau
umgekehrt ist.
Wir haben mit der Kurzarbeiterregelung gezeigt - damals waren rechnerisch eigentlich 2 Millionen Arbeitsplätze übrig -, dass Flexibilität in der Arbeit, Flexibilität
im Betrieb stattfinden muss und dass es keine externe
Flexibilität durch Hire and Fire geben darf. Wir haben
das mit Arbeitszeitkonten und mit dem Kurzarbeitergeld
gemacht. Diese Flexibilität hat auf der Grundlage von
Sicherheit und von Mitbestimmung stattgefunden, mit
den Gewerkschaften, mit den Betriebsräten und nicht gegen sie.
({5})
Das hat erstens bewiesen, dass so etwas nur auf der
Grundlage von stabilen, geregelten und mitbestimmten
Arbeitsverhältnissen möglich ist. Das hat zweitens bewiesen, dass das Teufelszeug Arbeitszeitverkürzung im
Zweifelsfall sehr wohl Arbeitsplätze sichern kann und
nicht gefährdet. Das steht ja ganz im Gegensatz zu dem,
was hier immer behauptet wird.
Ich komme zu den Konsequenzen, die wir auch aus
der heutigen Debatte ziehen müssen. Wir sind gespannt,
was im Sommer passiert. Es ist doch völlig pervers,
({6})
was die Bundesregierung im Moment mit der EU-Kommission und anderen in Europa treibt: Trotz der Erfahrungen, die wir gemacht haben, zwingen Sie die Griechen, Portugiesen und Spanier genau das Gegenteil von
dem zu tun, was bei uns positiv gewirkt hat. Sie zwingen
sie, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Kündigungsschutz kaputtzumachen. Sparen, sparen, umverteilen! Sie zerschlagen die Tarifautonomie und reden einer
Politik der dezentralen Lohnfindung das Wort. Das ist
genau das Gegenteil von dem, was wir hier erfolgreich
gemacht haben. Die erste Konsequenz lautet: Wir brauchen eine Neuorientierung in der europäischen Wirtschaftspolitik.
Zur zweiten Konsequenz. Nur die Binnenwirtschaft
kann auf Dauer den Aufschwung tragen. Wir dürfen uns
nicht weiter von der Konjunktur in China, in den europäischen Nachbarländern und den USA, also vom Export,
abhängig machen. Wir müssen die Ungleichgewichte in
der Leistungsbilanz abbauen. Die Binnennachfrage ist die
Achillesferse des Aufschwungs. Schauen wir uns einmal
die Zahlen zum ersten Quartal an: ein Plus von 1,9 Prozent beim privaten Konsum, ein Plus von 13 Prozent bei
den Exporten. Das heißt, da gibt es ein riesiges Ungleichgewicht. Jeder kann sich vorstellen, was passiert, wenn
die Stimmung bei den Exporten abkühlt.
Letzte Bemerkung. Die Löhne brauchen natürlich einen Schub. Sie werden sagen: Das ist Sache der Tarifvertragsparteien. Wir alle wissen aber ganz genau - das
wurde schon angesprochen -, von welchen Rahmenbedingungen die Lohnfindung abhängt. Jetzt wäre eigentlich die Kanzlerin gefordert.
Kollege Barthel, es genügt nicht, dass Sie mir signalisieren, dass Sie mein Signal sehen. Sie müssen jetzt zum
Schluss kommen.
Ich bin beim letzten Satz.
({0})
Man kann nicht durch die Weltgeschichte reisen, die
Gewerkschaften preisen, von den Erfolgen, die man
daheim aufgrund der Sozialpartnerschaft erreicht hat, erzählen und dann, wenn man wieder nach Hause zurückkommt, die Gewerkschaften sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am ausgestreckten Arm zappeln
lassen.
({1})
Der Kollege Heinrich Kolb hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst der Kollegin Gerda Hasselfeldt sehr
herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.
({0})
Frau Kollegin Hasselfeldt, ich glaube, man hat Ihrer
charmanten Rede angemerkt, dass Sie sich gar kein
schöneres Geburtstagsgeschenk hätten wünschen können als die Arbeitsmarktbilanz, über die wir heute hier
reden.
({1})
Man muss einmal die Zahlen nennen. Frau Kollegin
Pothmer, Sie wollen immer alles schlechtmachen. Eines
ist klar: In Ihrer Dagegen-Republik würde es nie Vollbeschäftigung geben.
({2})
Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen sehen so aus:
Im April sind 40,7 Millionen Menschen in diesem Land
erwerbstätig gewesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das ist Rekordniveau.
({3})
28,233 Millionen Menschen waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auch das ist Rekordniveau. All das
wirkt in einer Art und Weise zusammen, wie wir es uns
nur wünschen können: Die Steuern sprudeln. Wir erleben, dass sich die Haushaltskassen, aber auch die Kassen
der Sozialversicherungen füllen.
({4})
Das ist doch etwas Erfreuliches. Es ist die beste Sozialpolitik, die man in einem Land machen kann.
({5})
Die Arbeitslosenquote auf Basis aller zivilen Erwerbspersonen belief sich im Juni 2011 auf 6,9 Prozent.
Das ist zugegebenermaßen noch keine Vollbeschäftigung; aber der Trend nach unten ist ungebrochen. Ich
will hier sehr deutlich sagen: Da ist noch einiges drin.
Wenn ich mir den Rechtskreis des SGB III anschaue,
dann kann ich festhalten: Mit etwa 804 000 betreuten
Personen ist hier mittlerweile eine Größenordnung erreicht, bei der man davon ausgehen kann, dass es sich
überwiegend um Sucharbeitslosigkeit handelt; diese
Zahl lässt sich in einer in Bewegung befindlichen Volkswirtschaft kaum weiter reduzieren. Es sind aber auch
23,1 Prozent weniger Arbeitslose als noch im Vorjahresmonat; da ist eine irre Bewegung drin. Das sollten Sie
hier nicht verschweigen, sondern positiv und anerkennend zur Kenntnis nehmen.
({6})
Im Rechtskreis des SGB II müssen wir arbeiten:
2 089 000 Menschen sind in Langzeitarbeitslosigkeit.
Ich will Sie aber darauf hinweisen, dass das 4 Prozent
weniger als im Vorjahr sind. Zugegebenermaßen gibt es
hier nicht die gleiche Dynamik wie im Rechtskreis des
SGB III. Die Probleme der Menschen, die langzeitarbeitslos sind, sind aber auch komplexer; sie müssen angegangen werden.
({7})
- Auf die Frage „Ja, wie denn?“ antworte ich: beispielsweise indem wir in die Qualifikation und Weiterbildung
dieser Menschen investieren.
({8})
Ich nenne Ihnen jetzt einmal die nackten Zahlen zu
den Weiterbildungsausgaben - Rechtskreise SGB II und
SGB III - und parallel dazu die Zahlen zur Entwicklung
der Arbeitslosigkeit:
({9})
Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für die Weiterbildungsförderung 2 Milliarden Euro, 2,002 Milliarden Euro,
um ganz exakt zu sein. Im Jahr 2011 beträgt das Soll für
das Aufgabengebiet Weiterbildung - Frau Kollegin
Hagedorn, als Haushälterin müssten Sie das eigentlich
wissen - 3,076 Milliarden Euro, mithin 1 Milliarde Euro
mehr als im Jahr 2005.
({10})
Um das zu komplettieren: Die Zahl der Arbeitslosen betrug 2005 4,861 Millionen, im Jahr 2011 2,919 Millionen.
({11})
Das heißt, 2011 waren knapp 2 Millionen Menschen weniger arbeitslos, und die Aufwendungen für diesen Bereich sind um 1 Milliarde Euro gestiegen. Das zeigt: Wir
nehmen die Herausforderungen an. Wir kämpfen um jeden einzelnen Menschen, der langzeitarbeitslos ist, damit er eine Chance zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt
hat. Das ist die Politik dieser Regierung.
({12})
Zum Schluss will ich an die Adresse der SPD sagen
- heute redet der Kollege Schreiner nach mir; manchmal
redet er auch vor mir, sodass ich ihn replizieren kann -:
({13})
Das Problem ist, dass Sie nicht mehr wahrhaben wollen,
wie Sie gehandelt haben. Mit der Agenda 2010 haben
Sie im Bereich der Arbeitsmarktpolitik vieles richtig gemacht. Das hat doch gewirkt; das muss man doch aner13952
kennen. Das Problem ist - das ist Ihr Fehler -, dass Sie
mit der Agenda 2010 heute überhaupt nichts mehr zu tun
haben wollen. Sie wollen die Agenda 2010, wo immer
das geht, rückabwickeln.
({14})
Sie müssen einmal einen Gang runterschalten und sich
sagen lassen, dass Sie die Orientierung vollkommen verloren haben.
({15})
- Sie hätten doch reden können, Herr Kollege Heil,
wenn Sie das Thema so sehr interessiert. Ich hätte gerne
gehört, was Sie vom Rednerpult aus gesagt hätten. Das
findet heute aber offensichtlich nicht statt.
Wie die SPD mittlerweile tickt, hat man an der Rede
des Kollegen Barthel sehr schön gesehen. Wir sind auf
die Tarifautonomie in diesem Land, auf die Tariffindung
von Arbeitgebern und Gewerkschaften stolz.
({16})
Sie aber stellen sich hier bettelnd hin und sagen: Der Gesetzgeber soll es richten. Das ist doch der falsche Weg.
Das zeigt: Sie sind nach den diversen Pirouetten, die Sie
in den letzten Jahren gedreht haben, völlig irritiert. Nehmen Sie wieder Vernunft an. Nehmen Sie sich ein Beispiel an dieser Koalitionsregierung,
({17})
die vieles richtig macht und mit guten Arbeitsmarktzahlen dafür belohnt wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem etwas radauhaften Beitrag des Kollegen
Kauder - ({0})
- Ja, das war schon ein bisschen radauhaft. Das war ungewöhnlich für das Hohe Haus. Der Kollege Brüderle
hat das sogar noch getoppt. Er hat hier fünf Minuten herumgetobt, ohne irgendetwas Konkretes zu sagen.
({1})
Ich habe versucht, sorgfältig mitzuschreiben. Ich habe
aber nichts zu Papier gebracht, weil er nichts Konkretes
gesagt hat.
({2})
Sie vermitteln den Eindruck, dass diese Bundesregierung aus lauter Heldinnen und Helden besteht. Sie stimmen die schönsten Lieder an, sodass man meinen
könnte, man habe es mit einem Heldenepos zu tun.
({3})
Die Hälfte der Heldinnen und Helden stellt die FDP, in
qualitativer Hinsicht natürlich.
({4})
- Ein Drittel. Das ist auch gut. - Wenn das so ist, müssen
Sie mir erklären, Herr Brüderle, wieso die von Ihnen
prognostizierten Wachstumsraten der Wirtschaft deutlich
höher sind als die Umfrageergebnisse der FDP in Prozent. Mit dem Heldentum kann es also nicht so weit her
sein.
({5})
Der Kollege Kolb hat behauptet, die SPD hätte die
Orientierung verloren. Dazu kann ich nur sagen: Die
Orientierung kann man nur verlieren, wenn man eine
hat. Mir ist völlig unklar, woran sich die FDP orientiert.
({6})
Sie müssen sich doch irgendwann einmal fragen, worin
die Gründe für den politischen Absturz Ihrer Partei liegen. Einen Absturz dieses Ausmaßes hat man in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht erlebt.
({7})
Das kommt doch nicht aus heiterem Himmel. Dafür
muss es doch Gründe geben. Vermutlich liegt das in Ihren Aktivitäten oder Nichtaktivitäten begründet.
({8})
Anstatt an diesem Pult oberlehrerhaft aufzutreten, sollten Sie während der Sommerferien lieber in sich gehen
und darüber nachdenken, was Sie alles falsch gemacht
haben. Richtiges werden Sie kaum finden.
Nun zum Kollegen Kauder.
({9})
- Jetzt seid mal ruhig. Nun seid mal friedlich. Jetzt sind
die Schwarzen dran. Die waren auch nicht viel besser.
Lieber Kollege Kauder, Sie haben zwei Punkte genannt. Erstens haben Sie darauf hingewiesen, dass die
amtierende Koalition die Regelungen der Kurzarbeit erleichtert habe, um die Anpassungsprozesse in der Krise
deutlich zu befördern. Das war eine der gröbsten Fehlinformationen, die man in diesem Hause geben konnte.
Das Kurzarbeitergeld war - zusammen mit den sogenannten Langzeitkonten im Rahmen der Arbeitszeit eine wirksame Waffe gegen die möglichen Folgen der
Krise, zum Beispiel eine abrupt steigende Arbeitslosigkeit.
({10})
Das ist vom ehemaligen Bundesarbeitsminister Scholz,
der nachweislich nicht der Union angehört, formuliert,
konzipiert und durchgesetzt worden.
({11})
Das hat mit der CDU/CSU-FDP-Regierung überhaupt
nichts zu tun. Sie haben nach einem langen, radaumäßigen Anlauf von zwei Minuten verkündet, das sei im Übrigen einer der großen Erfolge dieser Koalition.
Der zweite Versuch war auch nicht besser. Sie haben
die Sozialdemokraten gemahnt, wir sollten gemeinsam
mit Ihnen, und zwar mithilfe Ihrer angekündigten Steuerpolitik, diejenigen, die jeden Tag arbeiten gehen, etwas
besser stellen,
({12})
als das jetzt der Fall ist. Sie kündigen im 14-Tage-Rhythmus eine andere Steuerpolitik und Erleichterungen an.
Im 14-Tage-Rhythmus werden die dann wieder gekippt.
Wenn Sie mir einen einzigen christdemokratischen Ministerpräsidenten nennen können, der Ihre Vorgaben in
den letzten Wochen unterstützt hat, lobe ich für Sie ein
Preisgeld aus, Herr Kollege Kauder.
({13})
- Das gewinnen Sie? Sie haben zehn Minuten Bedenkzeit. Dann komme ich in Ihren Wahlkreis, und wir führen gemeinsam eine Podiumsdiskussion durch. Sie werden niemanden finden. Sie müssen erst einmal, bevor Sie
hier die Sozialdemokraten angreifen, sehen, dass Sie in
den eigenen Reihen Zustimmung finden.
Die christdemokratischen Ministerpräsidenten - ich
sehe das am Beispiel des saarländischen - haben doch
ihre Gründe. Die Kassen der Bundesländer sind weitgehend leer. Die Länder sind blank bzw. bankrott. Sie verkraften keine weiteren Steuererleichterungen mehr, weil
sie dann ihre originären Aufgaben im Bereich der Kinderbetreuung bzw. der Kinderkrippen, der Bildung, der
Sicherheit usw. nicht mehr wahrnehmen können.
({14})
Sie, Herr Kollege Kauder, sind ein massives Sicherheitsrisiko geworden - aufgrund weiterer Pläne, die dazu beitragen, dass genau diese Infrastruktur noch stärker lädiert wird, als sie in den vergangenen Jahren sowieso
schon beschädigt worden ist. Das kann so nicht gut sein.
({15})
Sie haben in der Sache gar nichts gesagt, außer dass
Sie diese beiden grässlichen Fehlinformationen gegeben
haben. Das ist im Hinblick auf den Status eines Fraktionsvorsitzenden auch nicht gerade furchtbar angemessen.
({16})
Wenn Sie über Löhne bzw. Erleichterungen für diejenigen geredet hätten, die es verdient haben, hätten Sie
über die Lohnentwicklung bei der Arbeitnehmerschaft in
Deutschland reden müssen. Dazu hat Ihnen vor wenigen
Wochen die Internationale Arbeitsorganisation gesagt,
dass die Bundesrepublik Deutschland die schlechteste
Lohnentwicklung aller OECD-Länder gehabt hat, nämlich minus 4,5 Prozent in den letzten zehn Jahren.
({17})
Sie hätten dann etwas sagen müssen zu Mindestlöhnen
und zur Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die es in den allermeisten Fällen ebenfalls im Niedriglohnsektor gibt. Weiter hätten Sie etwas über den
Bereich der Leiharbeit sagen müssen, der, relativ gesehen, über den höchsten Anteil an Aufstockern verfügt.
Die Steuerzahler zahlen jährlich allein 500 Millionen
Euro, um die Betriebe zu unterstützen, die ihre Leute mit
miserablen Löhnen nach Hause schicken. All dies hätte
Ihnen einfallen können, als Sie über diejenigen geredet
haben, die die Lasten in diesem Land tragen, nämlich die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
hätten auch etwas zur Arbeitsmarktpolitik sagen können.
Der Kollege Kolb hat eben vorgetragen, dass es bei den
Langzeitarbeitslosen zu einem Minus von 4 Prozent gekommen ist. Bei den übrigen Arbeitslosen liegen die
Zahlen wesentlich höher. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtarbeitslosigkeit ist im Übrigen in
den letzten Jahren auf jetzt 34 Prozent gestiegen. Ich
kann hierzu zitieren -
Herr Kollege, das funktioniert jetzt nicht mehr. Achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme sofort zum Schluss; bedauerlicherweise
kann ich das nicht mehr zitieren. - Die OECD bescheinigt Ihnen, dass die Bundesrepublik Deutschland, was
die Unterstützung der Langzeitarbeitslosen anbelangt, an
allerletzter Stelle aller entwickelten Industrieländer
steht. Das ist im Kern Ihre Bilanz. Für die Schwächsten
der Schwachen machen Sie gar nichts. Die Situation der
Arbeitnehmerschaft ist Ihnen relativ egal, Hauptsache
die Töpfe derjenigen werden gefüllt, für die Sie sich persönlich verantwortlich fühlen.
Herr Kollege Kolb, das hat mit einer sozial ausgewogenen Politik nichts zu tun. Deshalb sollten Sie in die
Sommerpause gehen und dort intensiv Gewissenserforschung betreiben. Dann haben Sie sehr viel zu tun. Die
Pause müsste eigentlich bis in den Herbst hinein verlängert werden, damit Sie zu Potte kommen. Berichten Sie
dann darüber, damit wir hier eine neue Debatte führen
können.
Die Redezeit verlängern wir jetzt aber nicht mehr.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schreiner, ich
hatte bei Ihnen gerade den Eindruck, das blanke Elend
Deutschlands spreche zu uns.
({0})
Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit. Sie haben es
nicht einfach. In der Zeit, in der Sie dem Deutschen
Bundestag angehört haben, waren Sie - soweit ich das
beobachten konnte -, egal wer regiert hat, in der Opposition.
({1})
Das ist natürlich nicht einfach. Viele Dinge, die Sie gerade genannt und kritisiert haben, sind zu anderen Regierungszeiten und nicht zu unseren Regierungszeiten entstanden.
({2})
Richten Sie also Ihre Kritik, bitte schön, nicht an uns,
sondern an andere.
({3})
Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Wir haben vor
sechs Jahren noch von 5 Millionen Arbeitslosen gesprochen. Mittlerweile sprechen wir von 2,8 Millionen Arbeitslosen, und wir diskutieren über Facharbeitermangel.
Wenn uns jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass wir
2011 über Fachkräftemangel diskutieren, wäre er von
vielen Leuten, einschließlich Ihrer eigenen Fraktion,
ausgelacht worden. Sie haben damals gesagt: Vollbeschäftigung wird es nie geben. Sie haben nicht daran geglaubt; das hat auch der Vorredner Ihrer Fraktion in seiner Rede gesagt. Aber wir haben daran geglaubt, und wir
sind ganz sicher, dass wir es schaffen, dass die Menschen wieder ordentlich in Beschäftigung kommen.
({4})
Lassen Sie mich einen Satz zu den Arbeitslosenzahlen und zu der Mär von der Statistikfälschung sagen. Die
Parameter der Statistik sind in Zeiten der jetzigen Koalition aus CDU/CSU und FDP nicht geändert worden.
({5})
Die letzte Änderung der Parameter erfolgte während der
Großen Koalition. Da haben wir die 58er-Regelung mit
aufgenommen. Wir haben die Statistik dadurch, technisch gesehen, sogar noch verschlechtert. Zu sagen, die
Zahlen seien alle falsch, halte ich für abenteuerlich.
({6})
Die Zahlen haben Bestand.
Ich bin froh, dass die Zahlen so sind, wie sie sind. Wir
haben übrigens im OECD-Vergleich die Statistik, die am
konsequentesten und unter strengsten Gesichtspunkten
die Arbeitslosigkeit beschreibt. Alle anderen Länder fassen die Arbeitslosigkeit enger bzw. weiter
({7})
und sorgen dafür, dass die Arbeitslosenquote schöngerechnet wird.
({8})
Bei uns wird strenger gerechnet. Deswegen können wir
mit diesen Zahlen bestehen.
({9})
Aber es kommt nicht nur auf die Arbeitslosenzahlen
an, auch wenn diese wichtig sind. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch der Aufwuchs an Beschäftigung. Fast 41 Millionen Menschen sind jetzt in Erwerbstätigkeit.
({10})
760 000 Menschen mehr sind in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
Ich möchte auch etwas zur Mär der Aufstocker sagen.
Natürlich haben wir Aufstocker. Aber warum? Eine Familie mit drei Kindern in Hartz-IV-Bezug bekommt bei
uns im Münsterland Pi mal Daumen 1 700 Euro. Wenn
einer allein diese Familie ernähren wollte, müsste er, um
netto auf diesen Betrag zu kommen,
({11})
einen Durchschnittsverdienst von 15 Euro pro Stunde
haben.
({12})
Weil dies nicht immer funktioniert, bekommt die Familie
Geld vom Staat dazu. Das ist keine Schande, sondern
eine Solidarleistung, die vom Steuerzahler erbracht wird.
({13})
In der Tat ist das Jobwunder, das wir erleben, nicht
vom Himmel gefallen. Es ist auch kein Wunder, sondern
hat ganz reale Ursachen. Die wirtschaftliche Entwicklung und die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen
haben eine Menge damit zu tun. Sie alle wissen genauso
gut wie ich: Arbeitsmarktpolitik schafft keine Arbeitsplätze. Arbeitsmarktpolitik setzt die Rahmenbedingungen, damit sich Arbeitsplätze entfalten können und Menschen wieder in Beschäftigung kommen. Wir haben die
richtigen Rahmenbedingungen gesetzt.
Ich muss - auch wenn es der Opposition wehtut kurz auf Folgendes hinweisen: In den vergangenen anderthalb Jahren haben wir im Bereich der Arbeitsmarktund Sozialpolitik gemeinsam mit Ihnen und dem Bundesrat die Jobcenterreform beschlossen. Wir haben gemeinsam mit Ihnen und dem Bundesrat die Frage der
Regelsätze geklärt.
({14})
Wir haben in der Zeitarbeit die sogenannte Drehtürklausel unterbunden und einen Mindestlohn eingeführt. Ich
möchte es Ihnen deutlich sagen: In der Zeitarbeit haben
wir die größte Dichte an Tarifverträgen. 98 Prozent aller
Beschäftigten arbeiten auf Basis von Tarifverträgen.
Angesichts Ihrer Rede über die blanke Verelendung
Deutschlands könnte man glatt meinen, Sie seien in diesem komischen Ausschuss der UN gewesen, dessen Mitglieder von New York aus offensichtlich einmal schräg
nach Deutschland geschaut haben und glauben, sie
könnten unser Land beurteilen.
({15})
- Das sage nicht nur ich, sondern das sagen mittlerweile
auch alle Zeitungskommentatoren, die sich mit diesen
Fragen beschäftigt haben.
({16})
Ich sage in aller Klarheit: Wir geben den Menschen in
diesem Land die Hoffnung, dass sie in Zukunft mit ihrer
eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt für sich und
ihre Familien verdienen können.
({17})
Das ist die Perspektive, mit der wir arbeiten. Wir arbeiten damit erfolgreich. Ich denke, dass wir es auf diesem
Weg tatsächlich schaffen, in den Bereich, den wir als
Vollbeschäftigung bezeichnen, zu kommen. Der Fachkräftemangel ist ein Zeichen dafür.
Mittlerweile sind 235 000 Menschen aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug in Beschäftigung gekommen.
({18})
Ich hoffe sehr, dass sich diese Zahl noch erhöht. Wir
werden alles dafür tun. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sind darauf ausgerichtet. Ich hoffe sehr, dass
Sie mit uns gemeinsam konstruktiv daran arbeiten, damit
wir auch den Menschen, die es nicht so leicht haben,
eine gute Perspektive eröffnen.
({19})
Der Kollege Johannes Vogel hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Schreiner hat eben das Kunststück hinbekommen, seine Rede damit zu beginnen, den Kollegen
Kauder dafür zu kritisieren, dass er nicht zur Arbeitsmarktpolitik gesprochen habe, und dann seinerseits
99 Prozent seiner Redezeit nicht zur Arbeitsmarktpolitik
zu sprechen.
({0})
Aber ich verstehe, warum. Weil die Zahlen so sind,
wie sie sind, und weil es Ihnen wehtut - leider tut es Ihnen weh -, zugeben zu müssen, dass es auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland gut aussieht, dass wir die niedrigste Arbeitslosenquote seit 20 Jahren haben und dass
wir übrigens auch - das ist wichtig - die zweitniedrigste
Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa haben.
({1})
Andere Länder wären froh und dankbar, wenn sie in unserer Situation wären.
({2})
Alles, was Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, dazu einfällt, ist, das deutsche Jobwunder schlechtzureden und zu behaupten, das seien nur
schlechte Jobs. Das Problem ist: Dabei erzählen Sie
gerne auch Märchen. Ich habe durchaus Verständnis dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
dass Sie Kollegen in diese Debatte schicken, die mit Arbeitsmarktpolitik weniger zu tun haben
({3})
- „Wo ist der eigentlich?“, ist eine gute Frage -, weil sie
zum Beispiel aus Landesverbänden kommen, die bald
Wahlkampf machen müssen. Dafür habe ich, wie gesagt,
Verständnis.
({4})
- Das gehört dazu, Herr Birkwald. - Aber dann sollten
Sie sie vorher vielleicht briefen, wie die Lage ist. Wenn
Sie sich allen Ernstes hier hinstellen und sagen, all die
Jobs, die in Deutschland neu entstehen, seien schlechtbezahlte Jobs, bei denen man aufstocken muss, dann
muss ich Ihnen entgegnen: Das stimmt nicht. Das wissen
Sie ganz genau.
({5})
Der Kollege Schiewerling hat es Ihnen eben schon erklärt: Drei Viertel derjenigen, die in Deutschland aufstockendes Hartz IV bekommen, bekommen es nicht, weil
ihr Lohn zu niedrig ist, sondern weil sie Teilzeit arbeiten.
Bei der Mehrheit des restlichen Viertels bekommen sie
Hartz IV deshalb, weil wir, die Solidargemeinschaft, ihnen Geld dazugeben wollen, weil sie eine große Familie
haben. Bei denjenigen, die in Deutschland Vollzeit arbeiten, alleinstehend sind und nur wegen der Höhe ihres
Lohns aufstocken, handelt es sich um einige Zehntausend. Tun Sie also nicht so, als würden Millionen Menschen in diesem Land für Billiglöhne arbeiten! Das
stimmt schlicht nicht.
({6})
Nun zu den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Liebe Frau Pothmer,
({7})
Sie haben wieder einmal ein Bild gezeichnet, das Sie
gerne zeichnen. Sie sagten, wir würden jetzt, in Zeiten
des Fachkräftemangels, bei der Qualifikation der Menschen sparen.
({8})
Ich freue mich, dass wir an einer Stelle einer Meinung
sind: dass für die Menschen am unteren Rand des Arbeitsmarktes, für die wir alle noch mehr Perspektiven
schaffen wollen, Qualifikation das A und O ist und dass
Qualifikation das Beste ist, was wir als Gesellschaft in
diese Menschen investieren können. Nur, zu behaupten,
diese christlich-liberale Koalition würde an dieser Stelle
sparen, das ist schlicht falsch. Ja, die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik gehen zurück. Aber warum
denn? Weil die Arbeitslosenzahl zurückgeht.
({9})
Außerdem konzentrieren wir unsere Anstrengungen
auf die Mittel, die wirklich wirken. Das sind die Mittel
für Qualifikation. Als der Kollege Kolb es Ihnen eben
erklärt hat, haben Sie verschämt in Ihren Papieren geblättert: Wir geben heute 3 Milliarden Euro für die Qualifikation von Arbeitslosen aus. 2005 - damals haben Sie
von den Grünen mitregiert -, als es 2 Millionen Arbeitslose mehr gab, waren es nur 2 Milliarden Euro. Zu behaupten, wir würden bei der Qualifikation sparen, ist alles Mögliche; aber richtig ist es nicht.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die
wesentliche Aussage, die ich heute von Ihnen zum
Thema Arbeitsmarkt gehört habe, lautete - dies wird
auch deutlich, wenn man die Zwischenrufe des Kollegen
Heil, der leider nicht mehr hier ist, interpretiert -: Ja, auf
dem deutschen Arbeitsmarkt sieht es gut aus - trotz der
Regierung.
({11})
Ich verstehe, dass man dann, wenn man sich für all das
schämt, was man, als man an der Regierung war, gemacht hat, und wenn man all das zurücknehmen will,
was man mit der Agenda 2010 erreicht hat, diese Perspektive einnimmt.
({12})
Deswegen sollten Sie aber nicht den Blick auf das verlieren, was wir für den Arbeitsmarkt erreicht haben.
({13})
Ich sage es einmal so: Schon dann, wenn diese Koalition
auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr erreicht hätte, als die
Gräueltaten zu verhindern, die Sie zum Beispiel im
Hartz-IV-Vermittlungsverfahren auf dem Arbeitsmarkt
anrichten wollten, hätte es sich für die Menschen in diesem Land gelohnt.
({14})
Aber dabei ist es ja nicht geblieben. Wir haben
Hartz IV fairer gemacht. Wir haben die Regelung zum
Kurzarbeitergeld - die Sie richtigerweise eingeführt haben; das will ich gerne zugestehen - verlängert. Wir unternehmen Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel.
Wir reformieren jetzt die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Wir flankieren den wirtschaftlichen Aufschwung
in der Arbeitsmarktpolitik sehr erfolgreich. Das ist auch
Teil des Jobwunders in diesem Land.
Johannes Vogel ({15})
Wir fördern aber auch den wirtschaftlichen Aufschwung; das wurde heute schon angesprochen. Wir sagen: Die Menschen müssen auch einen Anteil an ihren
Lohnsteigerungen haben;
({16})
diese dürfen nicht durch die kalte Progression aufgefressen werden. Deswegen wollen wir durch eine Steuersenkung die kleinen und mittleren Einkommen weiter entlasten - das zweite Mal in dieser Legislaturperiode.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden darüber
hinausgehen. Wir wollen nämlich auch die Sozialabgaben reduzieren.
({18})
Das Beste, was man dafür tun kann, ist, Ihre Forderung,
den Bereich der Rente mit immer neuen Aufgaben aufzublähen, abzuwehren. Auch das werden wir tun, damit
es auf dem Arbeitsmarkt weiter aufwärtsgeht und die
Menschen auch etwas davon haben.
Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie aufhören
würden, das deutsche Jobwunder, um das man uns im
Ausland beneidet, hier schlechtzureden - nicht weil wir
nicht darüber streiten sollten, welchen Anteil die Politik
daran hat, sondern weil den größten Anteil am deutschen
Jobwunder - und es sind eben nicht nur schlechte Jobs die Menschen in diesem Land haben: die Unternehmer,
die Menschen in den Unternehmen, die Betriebsräte und
die Gewerkschaftler. Sie alle erarbeiten das, was dieses
Land und das Jobwunder ausmacht, hart. Auch ihren Erfolg machen Sie madig, weil Sie permanent so tun, als
sei die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt schlecht.
Das sollten Sie beenden. Dann haben wir auch eine bessere Diskussionsgrundlage.
Vielen Dank.
({19})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Straubinger für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Wir haben heute natürlich die Erfolge der Bundesregierung darzustellen. Ich glaube, dass es entscheidend ist, den Menschen das Signal zu geben, dass diese Erfolge weiterhin
anhalten werden - im Sinne der Menschen, damit sie in
Arbeit kommen. Hier haben die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen großartige Erfolge erzielt.
Die entsprechenden Zahlen wurden schon dargestellt:
Im Juni dieses Jahres hatten wir 2,89 Millionen Arbeitslose.
({0})
Das sind 255 000 Arbeitslose weniger als vor einem
Jahr, und damit sind mehr Menschen in Lohn und Brot.
282 000 Menschen weniger beziehen Hartz-IV-Leistungen. Das zeigt sehr deutlich, dass sich die wirtschaftliche
Entwicklung in Deutschland für die Menschen gelohnt
hat. Dass wir noch nie so viele Erwerbstätige hatten wie
jetzt, wurde schon mehrmals dargestellt.
({1})
Das Ganze ist zusätzlich mit positiven Zukunftsaussichten verbunden. Das IAB hat geschätzt, dass es in unserem Land noch 1 Million offene Arbeitsstellen gibt.
Das bedeutet auch 1 Million Chancen mehr für die Menschen in unserem Land, ihre Zukunft selbstbestimmt zu
gestalten, ohne von staatlichen Leistungen abhängig zu
sein.
({2})
Ganz besonders ist dies in Bayern spürbar, das mit
3,5 Prozent die geringste Arbeitslosigkeit aller Bundesländer aufzuweisen hat. Der wesentliche Beitrag dort ist
die fundierte Strukturpolitik der Staatsregierung mit unserem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer
von der CSU an der Spitze.
({3})
Das ist letztendlich die Grundlage und hier mit zu berücksichtigen.
({4})
Es war schon großartig, dass man versucht hat, diese
positiven Zahlen auf eine angebliche Statistikverfälschung oder statistische Veränderungen zurückzuführen, wie es der Kollege Bockhahn getan hat, der die Debatte leider Gottes schon verlassen musste. Das zeigt
aber auch sehr deutlich, dass die Linke offensichtlich nur
in ihrer Tradition denkt: früher Wahlfälschung
({5})
und jetzt offensichtlich kein Beherrschen der Mitgliederlisten. Auch hier können Sie keine richtige Statistik führen, und dann glauben Sie, dass das bei der Bundesagentur für Arbeit auch so sei. Das weisen wir mit
Entschiedenheit zurück.
({6})
Es ist hier schon auch bedeutsam, dass dieser wirtschaftliche Aufschwung vor allen Dingen auf die politi13958
schen Entscheidungen in unserem Land zurückzuführen
ist.
({7})
Es kann ja nicht so sein, dass immer die Regierung
schuld ist, wenn es bergab geht, außer bei Rot-Grün.
({8})
Ich habe ja Verständnis für die Einstellung der Kolleginnen und Kollegen der SPD und auch der Grünen, dass
Sie an vieles nicht mehr erinnert werden wollen und tatsächlich glauben, Politik könne nichts gestalten; denn
für die 5 Millionen Arbeitslosen im Jahre 2005 wollten
Sie ja wirklich nicht verantwortlich sein. Dafür habe ich
auch Verständnis.
Als aber die Union in Regierungsverantwortung kam,
gab es eine Veränderung der Politik, nämlich dahin gehend, dass wir die Belastungen der Menschen verringert
haben, während Rot-Grün sie über ständige Beitragssteigerungen - Sie mussten den Arbeitslosenversicherungsbeitrag ständig erhöhen, weil es immer mehr Arbeitslose
gab - erhöht hat. Wir hatten in der Regierung den Mut,
die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken,
({9})
die steuerliche Belastung der Betriebe zurückzunehmen
und damit die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sich die Wirtschaft entwickeln
kann. Das ist letztendlich das Geheimnis des Erfolges,
den die Bundesregierung jetzt für sich in Anspruch nehmen kann.
({10})
Wir werden auf diesem Wege auch weiterarbeiten.
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der linken
Ecke dieses Hauses, zum Januar 2010 haben wir die
Steuern gesenkt und die Bürgerinnen und Bürger um
20 Milliarden Euro entlastet. Jetzt haben wir einen Wirtschaftsaufschwung zu verzeichnen. Im ersten Quartal
dieses Jahres betrug der Zuwachs über 5 Prozent, wodurch viele Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.
Das ist auf die anspringende Binnenkonjunktur zurückzuführen. Es wird in unserem Land mehr investiert, weil
wieder Zutrauen in die Zukunft gegeben ist und die
Menschen letztendlich gute Startchancen haben.
({12})
Deshalb werden wir die steuerlichen Rahmenbedingungen weiterhin verbessern.
Wir sind die Entlastungspartei, SPD und Grüne sind
die Belastungsparteien.
({13})
Das gilt gerade für Baden-Württemberg, wo sofort nach
der Wahl die Grunderwerbsteuer erhöht wurde.
({14})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Das ist der Unterschied zwischen der bürgerlich-liberalen Regierungskunst und Rot-Grün und den Linken in
unserem Land.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung,
zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid
- Drucksachen 17/5750, 17/6264 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Katrin Kunert,
Wolfgang Nešković, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der
Speicherung von Kohlendioxid in den Untergrund des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland ({0})
- Drucksache 17/5232 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
- Drucksache 17/6507 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Klaus Breil
Oliver Krischer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Jens Koeppen, MarieLuise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der AbVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
geordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch,
Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Umfassende Datenbasis für Nutzungsmöglichkeiten des Untergrunds schaffen
- Drucksachen 17/3056, 17/6507 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Klaus Breil
Oliver Krischer
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung und
über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke werden
wir später namentlich abstimmen. Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jens
Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Einführung der CCS-Technologie ist aus der Sicht von
vielen und auch aus meiner eine unendliche Geschichte,
die heute aber wahrscheinlich zu einem guten Ende geführt wird.
({0})
Das ist dann der Anfang einer guten CCS-Story in
Deutschland.
CCS ist auf der einen Seite für viele eine Horrortechnologie, die mit vielen Risiken belastet ist. Auf der anderen Seite - das ist die Ambivalenz - ist sie eine Wunderwaffe gegen den Klimawandel. Diese Ambivalenz in der
Politik und in der Gesellschaft müssen wir auflösen. Mir
als Techniker fällt das vielleicht ein bisschen leichter als
anderen.
Die Technologie, die ja noch gar nicht auf dem Markt
ist, ist ideologisch kontaminiert. Die Diskussion darüber
ist mit Unwissenheit gespickt, und vor allen Dingen werden Wissenschaft und Forschung ignoriert, obwohl sie
noch gar nicht erprobt ist und obwohl es noch keine
Großanlagen gibt. Hier ist sie wieder, die German
Angst- und die German Dagegen-Gesellschaft.
({1})
Hier sollten wir gegensteuern.
Trotzdem möchte ich einen Blick nach vorne wagen.
Warum haben wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet? Warum wollen wir diese Technologie?
Erstens. Wir brauchen einen Rechtsrahmen. Wir müssen und wollen schlicht und ergreifend die EU-Richtlinie
umsetzen.
Zweitens. Das gibt uns dann die Möglichkeit, diese
Technologie überhaupt erst einmal zu demonstrieren und
zu erproben.
Drittens. Es ist - das dürfte Ihnen sehr entgegenkommen - eine Klimaschutztechnologie.
({2})
- Das kommt mir sehr entgegen. Ohne CCS werden
beim Klimaschutz bis zu 70 Prozent höhere Kosten entstehen. Ohne CCS werden wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen. Das sage nicht ich, sondern das sagt der IPCC,
der Weltklimarat. Ihn tragen Sie doch immer wie eine
Monstranz vor sich her und nutzen ihn als Kronzeugen
für alles. Jetzt müssen Sie nicht nur den Mund spitzen,
sondern auch pfeifen. Es geht jetzt darum, dem IPCC
recht zu geben, wenn er sagt: CCS ist eine risikoarme
Technologie.
({3})
Zum Gesetzentwurf. Es ist schwierig, alle zufriedenzustellen. Es ist schwierig, ein einfaches Gesetz zu machen. Es ist auch schwierig - ich sage es einmal so -, die
reine Lehre zu vertreten. Wir müssen Kompromisse machen. Aber wenn wir irgendwann die Realitäten betrachtet und Kompromisse geschlossen haben,
({4})
dann sollten wir handeln.
Ich möchte etwas zum Gesetz und zur Länderklausel
sagen. Ich bin kein Freund der Länderklausel; das habe
ich erklärt. Aber es ist ein Mittel, um die Länder und
auch die Menschen in den Ländern einzubeziehen. Aber
es ist ein Märchen, dass die Länderklausel ein Vetorecht
darstellt.
({5})
Die Demonstration ist möglich, und sie ist in allen Ländern möglich. Das ist keine Lex Brandenburg. Es ist
auch für mehrere Projekte möglich. Deswegen ist es
auch keine Lex Vattenfall.
Es gibt kein Vetorecht für die Länder. Es ist die Wiederholung und Verschärfung des Raumordnungsrechtes.
Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, SPD und
Linke, in Brandenburg haben gesagt: Wir wollen das Gesetz, das steht so im Koalitionsvertrag. - Jetzt will Brandenburg den panikartigen Rückzug. CCS-Gegner in
Brandenburg wollen demonstrieren. Brandenburg will
jetzt ein durchsichtiges Manöver starten, indem es sagt:
Wir steigen aus diesem Vorhaben aus.
({6})
Sich in die Furche zu legen, bis der Sturm vorbei ist,
wird nicht funktionieren. Das funktioniert schon gar
nicht, wenn man in einer Regierung ist.
({7})
Das Gesetz ist wichtig. Wir haben - das habe ich gesagt - einen juristischen Rahmen. Mit dem Gesetz wird
die Akzeptanz gestärkt. Mit dem Gesetz wird die Sicherheit erprobt. Mit dem Gesetz zeigen wir, dass diese
Technologie beherrschbar ist.
({8})
Mit dem Gesetz wird ein Signal nach außen gesandt,
dass es jetzt losgehen kann. Das ist auch ein Zeichen an
die Industrie, nicht nur in Richtung Kohleverstromung,
sondern auch an die energieintensive Industrie, von der
ich mir ein stärkeres Bekenntnis gewünscht hätte. Aber
dieses Signal ist auch ein Zeichen für Investitionssicherheit.
Es werden keine Steuergelder vergraben, wie das im
Brandenburger Sand so oft passiert ist.
({9})
Im Rahmen dieses Projekts fließen sehr viele Steuergelder in Forschung und Entwicklung. Es ist gut, dass wir
dieses Gesetz heute nicht begraben.
({10})
Ein letzter Punkt - das ist der wichtigste -: Wir haben
bezogen auf diese Technologie bei Forschung und Entwicklung zurzeit eine Spitzenposition inne.
({11})
CCS wird kommen. CCS wird weltweit vorangetrieben,
ob wir das wollen oder nicht. Aus meiner Sicht ist CCS
nur eine Übergangstechnologie. Ich bin seit einiger Zeit
mit dem Wort „Brückentechnologie“ ein bisschen vorsichtig.
({12})
- Das bin ich auch.
({13})
Die CCS-Technologie ist aus meiner Sicht ein Übergang zu CCU, und zwar zur CO2-Nutzung im industriellen Maßstab, zum Beispiel bei den Algen und bei vielen
anderen Dingen. Wer heute bei CCS die Nase vorn hat,
der spielt morgen bei CCU in der Champions League
mit. Ich bitte um Ihre Unterstützung und Zustimmung
für dieses Gesetz.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der schwarz-gelben Energiepolitik ist die
Rolle rückwärts sozusagen schon enthalten. Aber das,
was wir heute erleben, ist doch ein Novum, weil die
Rolle rückwärts jetzt schon im Verfahren selbst implementiert ist. Während Herr Koeppen sagt, das Ganze
werde hier zu einem guten Ende geführt - möglicherweise ist es tatsächlich das Ende dieser Technologie -,
erklären die Ministerpräsidenten der CDU, diese Technologie sei eine Sackgasse, und sie komme in den Ländern nicht an. Herr Koeppen, einen größeren Widerspruch können Sie gar nicht schaffen.
({0})
Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie sagen, das sei eine der
am stärksten umstrittenen Technologien. Aber gerade
weil sie so umstritten ist - beispielsweise zwischen den
Umweltverbänden oder den Mitgliedern von Parteien -,
muss man eine Herangehensweise wählen, die auf diese
Dinge Rücksicht nimmt. Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU und FDP, haben Sie mit diesem
Gesetz an keiner Stelle getan.
({1})
Sie haben eben keine Rücksicht auf die Einwände genommen, die Ihre eigenen Mitglieder vor Ort überall artikulieren.
({2})
Was hätten Sie tun müssen? Sie hätten Antworten auf
die Fragen geben müssen: Wo wollen wir eigentlich mit
dieser Technologie hin? Warum wollen wir sie einsetzen,
und in welchen Bereichen wollen wir sie einsetzen?
({3})
Sie hätten auf die Fragen zu Risiken und Haftungen eindeutige Antworten finden müssen. Stattdessen erklären
Sie hier, Sie hätten ein Gesetz gefunden, welches die
Technik sicher macht. Das ist eine Gesetzesbegründung,
die ich in diesem Hause ehrlich gesagt noch nie erlebt
habe, Herr Koeppen.
Und Sie hätten weitere Fragen beantworten müssen.
Sie hätten beispielsweise die Frage beantworten müssen:
Bringt uns diese Technologie im Bereich der Energieerzeugung überhaupt etwas? - Denn wann steht sie allenfalls zur Verfügung? Wollen wir dann nicht längst aus
der fossilen Energieerzeugung ausgestiegen sein?
Sie hätten die Frage beantworten müssen, warum die
großen Prestigeobjekte im Ausland zum großen Teil versandet und gestoppt worden sind. Sie hätten die Fragen
zu möglichen Gefährdungen durch Trinkwasserbelastungen beantworten müssen, die beispielsweise auch in der
Anhörung aufgekommen sind. Sie hätten die Frage beantworten müssen, wie Sie das mit dem Pipelinebau machen wollen, da wir parallel dazu eine Riesenanstrengung bei dem Ausbau von Netzen unternehmen. Sie
hätten die Frage beantworten müssen, wie es sich mit der
Haftung verhält. - All diese Fragen haben Sie nicht beantwortet.
({4})
- Ja, ich komme gleich dazu. Sie haben auch nicht die
Frage beantwortet, ob es trotz dieser Fragen sinnvoll
sein kann, sich eine solche Option offenzuhalten. In Ihrem Gesetzentwurf machen Sie gar nichts.
({5})
Ich kann Ihnen hier drei wesentliche Punkte nennen,
weshalb man diesen Gesetzentwurf ablehnen muss.
Das Erste ist die Haftung. 30 Jahre soll ein Unternehmen haften. Das riecht doch schon wieder nach dem Modus, der auch beim Atomdeal Anwendung gefunden hat:
Alle Risiken werden von der Öffentlichkeit, dem Steuerzahler, getragen, und die Unternehmen, die davon profitieren, müssen gar keine Risiken tragen. - Eine völlig
unzureichende Haftungsregel!
({6})
Das Zweite. Sie haben jetzt im Gesetzgebungsverfahren noch einen aus meiner Sicht elementaren Fehler eingebaut, indem Sie bei der Haftungsfrage folgenden Passus ändern: Die Höhe der Deckungsvorsorge soll nicht
mehr danach bemessen werden, wie viel CO2 gespeichert wird, sondern danach, wie viel CO2 im Schadensfall austreten könnte.
Welcher Widerspruch ergibt sich denn dort? Auf der
einen Seite soll die Langzeitsicherheit gewährleistet
sein. Dann muss auf der anderen Seite auch ausreichend
Vorsorge für den Klagefall getroffen werden. Es muss
die Pflicht bestehen, eine Haftungs- und Deckungsvorsorge in Höhe eines möglichen Gesamtschadens zu treffen. Dies ist ein aus meiner Sicht unerklärbarer Widerspruch, der jetzt im Gesetzgebungsverfahren noch mit
aufgenommen wurde.
({7})
Dann haben Sie eine Länderklausel geschaffen, die
besagt: Wir machen hier in den Bundestagsfraktionen
von CDU/CSU und FDP große Klimapolitik. Aber
gleichzeitig soll die Klimapolitik - Ihrer Denke gemäß vor der Haustür der Länder enden. Sie räumen ein Vetorecht ein, sagen aber gleichzeitig, es gebe kein Vetorecht.
({8})
Klären Sie den Sachverhalt einmal auf! Soll ich dann
Herrn McAllister der Lüge bezichtigen? Er hat nämlich
in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung festgestellt,
er habe ein Vetorecht durchgesetzt, Herr Koeppen. Sie
widersprechen Ihrem eigenen Landesfürsten.
An Ihren Äußerungen wird deutlich, dass Sie etwas
konstruieren, was nur Rechtsunsicherheit schafft. Das
wird keiner Seite gerecht.
({9})
Letztlich ziehen Sie - insbesondere vor dem Hintergrund der kritischen Diskussion - keine klare Grenze und
sagen nicht, dass Sie ein Forschungsgesetz machen. In
der Anhörung haben mehrere Sachverständige exemplarisch erläutert, wie schnell daraus eine weitflächige Nutzung der CCS-Technologie entstehen kann. Sie machen
eben kein reines Forschungsgesetz. Das ist aus unserer
Sicht ein gravierender Fehler.
({10})
Man kann das Thema möglicherweise heute noch
nicht mit Schwarz oder Weiß bewerten. Umso wünschenswerter wäre es gewesen, dass Sie sensibel und
ausführlich auf die Fragen und möglichen Risiken eingehen und dann prüfen, ob es möglich ist, sich eine Option
nicht für die Energieerzeugung, sondern vor allen Dingen für die energieintensive Industrie, beispielsweise im
Bereich Stahl und Zement, offenzulassen. Aber davon
findet sich nichts in Ihrem Gesetzentwurf; Sie zielen damit in die Breite.
Sie haben leider einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
niemandem hilft. Ich hätte mir gewünscht, dass wir die
Fragen gemeinsam klären. Das machen Sie aber nicht.
Sie wollen heute einen Gesetzentwurf beschließen, der
schon morgen nicht mehr gilt, weil die Länder aussteigen werden.
({11})
Aus unserer Sicht wäre es wünschenswert gewesen,
ein Forschungsgesetz zu machen, das sehr enge Grenzen
vorsieht und die Haftungsfragen eindeutig klärt, und sich
dann zu fragen, ob das eine Option für die Bundesrepublik Deutschland ist. Dann hätten Sie auch die Frage beantworten müssen, welche Nutzungskonkurrenzen es
beispielsweise zur Geothermie oder zur Druckluftspeicherung gibt. All das lassen Sie außen vor.
Ich komme abschließend zu der Fraktion der Linken.
Man kann es sich auch nicht so leicht machen, zu sagen:
Diese Technologie gehört verboten.
({12})
Ich glaube, wir haben derzeit noch keine ausreichenden
Erkenntnisse, um uns in dieser Frage ausreichend positionieren zu können. Ihr eigener Wirtschaftsminister und
Ihre eigene Fraktion in Brandenburg sehen das anders
als Sie. Es gibt Zukunftsfragen, die im Parlament sensibel erörtert werden müssen. Das macht weder die CDU/
CSU, noch machen es die Linken.
Ich lade Sie alle herzlich ein: Kehren Sie um, wenn
Sie merken, dass das Ganze zum Scheitern verurteilt ist
und ein Rohrkrepierer wird! Möglicherweise haben wir
dann schon wieder andere Mehrheiten. Dann lassen Sie
uns das Thema sachlich diskutieren. So geht es jedenfalls nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns zunächst klären, worüber wir heute
entscheiden. In der Begründung zum Entschließungsantrag der Grünen zu diesem Gesetzentwurf heißt es:
Das vorliegende CCS-Gesetz schafft Fakten, bevor
ergebnisoffen die Tauglichkeit der Technik und ihre
Risiken … geklärt sind.
({0})
Genau das tut es nicht.
({1})
Wir wissen: Das Abspeichern von CO2 im Untergrund bereitet vielen Bürgern Sorge. Daher schaffen wir
mit diesem Gesetzentwurf keine Fakten. Der vorliegende Gesetzentwurf setzt einen Rechtsrahmen für die
großtechnische Erprobung. Deshalb wird erstens in einem genau begrenzten Umfang und zweitens zum Zwecke der Demonstration das Speichern von CO2 im Untergrund zugelassen.
Es geht also nicht darum, heute über die zeitnahe
kommerzielle Anwendung von CCS-Technologien zu
entscheiden. Deswegen sehe ich auch die typisch grüne
Forderung nach einem CCS-Sofortausstieg als völlig
überflüssig an.
({2})
Diese Entscheidung steht erst an, wenn wir mit einer
Demoanlage genügend Erfahrungen über die Umweltauswirkungen und die technische und wirtschaftliche
Machbarkeit gesammelt haben.
Jeder, der die Erprobung dieser neuen Technologie
ohne jegliche Erfahrungen für überflüssig oder gefährlich hält, ist hochmütig. So eine Haltung können wir uns
als Industrienation, die wirtschaftlich weiter wachsen
will und wahrscheinlich auch weiter wachsen muss,
nicht leisten.
({3})
An dieser Stelle empfehle ich uns allen einen Besuch bei
der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
in Hannover. Dort kann man sich bei unabhängigen und
hochkompetenten Wissenschaftlern über die wahren Gefahrenpotenziale dieser Technologie und über die Maßnahmen zur Gefahrenvermeidung kundig machen.
Noch haben wir in Deutschland eine Grundstoffindustrie. In vielen Prozessen in diesen Branchen ist es
rein technisch gar nicht möglich, CO2-Emissionen noch
stärker oder überhaupt zu vermeiden. Die Unternehmen
stehen am Anfang der Wertschöpfungsketten von Produkten, die wir gerade jetzt für unsere Energiewende
brauchen. Denken Sie zum Beispiel an Dämmstoffe für
die Gebäudesanierung, an neue, hochbelastbare Stähle
- die brauchen wir für die hocheffizienten Dampferzeuger in Gas-, Steinkohle- und Braunkohlekraftwerken oder an Windkraftanlagen an Land und auf See!
Es geht bei dem CCS-Gesetz also darum, Zukunftschancen zu erhalten: Chancen für neue Technologien,
Chancen für Menschen und für eine Energiewende, die
Umweltschutz und Versorgungssicherheit zu bezahlbaren Preisen miteinander verbindet.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Linke lehnt den Regierungsentwurf eines CCS-Gesetzes
weiterhin ab;
({0})
denn CCS ist ein gefährlicher und teurer Irrweg. Genau
aus diesen Gründen wenden sich nicht nur viele Bürgerinitiativen dagegen, zum Beispiel an der Nordseeküste,
in der Altmark oder in Ostbrandenburg; auch die Mehrheit der Umweltverbände kämpft gegen diese neue Bedrohung.
Jenen wenigen Verbänden, die CCS zumindest für
prozessbedingte Emissionen der Industrie befürworten,
möchte ich sagen: Zur Erfüllung der Klimaziele benötigen wir kein CCS.
({1})
Das hat die Bundesregierung gerade in einer Antwort auf
eine Anfrage bestätigt. Wenn wir aber CCS nicht benötigen, dann frage ich erneut: Wozu wollen wir uns ein
neues Endlagerproblem unter die Füße pressen? Reicht
nicht das Dilemma um die Asse?
CCS ist auch politisch ein falsches Signal; denn es
gilt, zu beweisen, dass eine Industrienation wie Deutschland in der Lage ist, ihre Wirtschaft emissionsfrei zu gestalten, und zwar - das halte ich für wichtig - ohne neue
Langzeitprobleme zu schaffen. Stecken wir Geld und
Grips also da hinein, wo es notwendig ist, um etwa Photovoltaik effektiver zu machen, preiswerte Stromspeicher zu entwickeln und einen sinnvollen internationalen
Stromverbund für erneuerbare Energien zu befördern!
({2})
Ohnehin wird als Zeitpunkt für die großtechnische
Einsatzfähigkeit von CCS mittlerweile das Jahr 2030 gehandelt - liebe Kolleginnen und Kollegen: 2030! -,
wenn es überhaupt dazu kommt. Bis dahin aber werden
die Erneuerbaren schon deutlich billiger sein als eine
fossile Stromerzeugung mit CCS. Wir schmeißen also
mit beiden Händen Geld aus dem Fenster. „Wem nützt
das, außer den Kohlekonzernen?“, frage ich Sie.
({3})
Ein zentrales Problem von CCS bleibt die Gefährdung des Trinkwassers durch verdrängte Salzwässer. In
der Anhörung letztens hat der Vertreter des GeoForschungsZentrums Potsdam behauptet, das wäre beherrschbar; die Ergebnisse der Forschungsverpressung
von CO2 in Ketzin hätten ergeben, dass die geologischen
Barrieren halten werden.
({4})
Komisch nur, dass eine Vertreterin der gleichen Einrichtung vor einiger Zeit erklärte, Ketzin eigne sich überhaupt nicht dazu, Aussagen über die Langzeitsicherheit
der CO2-Lagerung zu machen; dort gehe es allein darum,
erst einmal Methoden und Instrumente zu entwickeln,
um die Ausbreitung des CO2 im Untergrund besser verstehen zu können.
Herr Krischer von den Grünen - wie auch ein Kollege
von der CDU/CSU - hat mich in der letzten CCS-Debatte auf die Rolle der rot-roten Landesregierung in
Brandenburg hingewiesen. Darum sage ich heute noch
einmal: Ja, wir in der Bundestagsfraktion halten die
Position der Brandenburger Landesregierung für einen
Fehler.
({5})
Eine Technologie zu befördern, die weder nachhaltig
noch wirtschaftlich ist - und das noch gegen den Widerstand der Bevölkerung -, ergibt für uns keinen Sinn.
({6})
Allerdings möchte ich eine Frage an die Grünen stellen: Sind Sie nun eigentlich gegen CCS oder dafür?
({7})
Bislang haben Sie sich zwar stets gegen CCS bei Kraftwerken gewandt, aber gleichzeitig zur CO2-Verpressung
für die Industrie bekannt. Ich verweise da auf Ihren Entschließungsantrag.
Ich frage mich jetzt Folgendes: Wenn Sie für Industrie-CCS sind, dann können Sie natürlich nicht gegen
Forschungs- und Demonstrationsspeicher sein.
({8})
Denn dann würde es ja höchste Zeit, auszuloten, ob eine
Langzeitspeicherung gefahrlos möglich wäre oder nicht.
Warum aber verkaufen Sie sich dann an den Brennpunkten vor Ort als Kämpfer gegen die CO2-Speicherung?
Sowohl die SPD als auch die Grünen können ihre ablehnende Haltung unter Beweis stellen, indem Sie unserem
Antrag zustimmen. Daran kann die Bevölkerung vor Ort
sehen, wo Sie wirklich stehen.
Danke.
({9})
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
CCS-Euphorie, die wir vor zwei oder drei Jahren europaweit hatten, ist verflogen. In Europa haben einstige
Musterländer wie die Niederlande entsprechende Projekte gestoppt und beschränken sich auf Offshorelösungen. Das Gleiche gilt für Großbritannien. Die Mehrzahl
der EU-Staaten hat bis heute noch nicht einmal die entsprechende Richtlinie umgesetzt, obwohl die Frist schon
abgelaufen ist. Auch das einstige Musterland Norwegen,
das eine Reihe von Projekten geplant hatte, hat all diese
Projekte auf Eis gelegt. Das zeigt: CCS ist keine Zukunftstechnologie in Europa.
({0})
In Deutschland verhält es sich ähnlich. Es ist nicht so,
wie Sie hier behaupten, dass es nur die Grünen, die Sozialdemokraten oder die Bürgerinitiativen sind, die vor
Ort gegen CCS sind. Der Riss geht doch mitten durch
die Regierungskoalition, also durch CDU/CSU und FDP.
Das zeigt, dass auch bei Ihnen die Akzeptanz fehlt.
({1})
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang eine Äußerung aus dem Bayerischen Landtag präsentieren. Bayern ist eigentlich unverdächtig, etwas mit dem Thema
CCS zu tun zu haben. Ich habe jedenfalls noch nie von
einem Projekt dort gehört. Ich zitiere:
Beim Thema CCS sollten wir nicht den Fehler wiederholen, den wir beispielsweise bei der Kernenergie gemacht haben, indem wir versuchen, irgendwelche Abfallstoffe irgendwo zu verstecken. Ich
möchte aus Gründen des Klimaschutzes, aber auch
aus einem Verantwortungsbewusstsein für kommende Generationen CO2 vermeiden und nicht CO2
verbuddeln.
Das Protokoll vermerkt danach „Beifall bei der FDP“.
Das hat Herr Thalhammer gesagt, ein bayerischer Freidemokrat, der ganz offensichtlich eine Position vertritt,
die von der FDP-Landtagsfraktion in Bayern getragen
wird, die aber mit Ihrer überhaupt nicht deckungsgleich
ist.
({2})
Um diese Widersprüche zuzukleistern, haben Sie eine
Länderklausel erfunden. Diese Klausel, in der sich jeder
wiederfinden kann, soll es allen recht machen. Herr
Röttgen erzählt seit Monaten, dass jedes Land auf
Wunsch CCS ausschließen kann. Der Parlamentarische
Staatssekretär Otto hat uns noch gestern im Wirtschaftsausschuss erklärt, nein, so gehe es nicht, es müsse einen
komplizierten Abwägungsprozess geben. Heute lesen
wir in der Süddeutschen Zeitung eine Äußerung von
Herrn de Jager, seines Zeichens Wirtschaftsminister in
Schleswig-Holstein. Er erklärt, man werde sofort ein Gesetz auf den Weg bringen, mit dem CCS in SchleswigHolstein insgesamt verboten wird. Das zeigt doch: Sie
verkleistern Ihre Widersprüche und schaffen es nicht,
sich an dieser Stelle zu einigen.
({3})
Außerdem haben Sie noch Folgendes bewirkt: Die
einzigen Befürworter, die es deutschlandweit gab, nämlich die Sozialdemokraten und die Linken in Brandenburg, müssen jetzt ebenfalls gegen Ihr CCS-Gesetz sein,
weil sie - das ist aus ihrer Sicht nachvollziehbar - nicht
die Deppen der Nation sein wollen, die als Einzige diese
Technologie anwenden, während sich andere aus dem
Staub machen.
Das geht doch nicht. Das ist unseriöse Gesetzgebung.
Das hat mit einer seriösen Gesetzgebung nichts zu tun.
({4})
Die Krönung setzt dem Ganzen der Kollege
Meierhofer auf, der uns hier kurz vor der Plenardebatte
in einer Agenturmeldung mitteilt: Wer für CCS ist, muss
gegen diesen Gesetzentwurf stimmen. - Meine Damen
und Herren, das ist die Position des umweltpolitischen
Sprechers der FDP zu diesem Thema, zum vorliegenden
Gesetzentwurf.
({5})
Deshalb sage ich: Tun Sie das, was Sie schon lange
hätten tun sollen: Werfen Sie diesen Gesetzentwurf in
die Tonne; er bringt CCS nicht weiter, er löst das Problem nicht, er schürt nur weitere Konflikte. CCS ist ohnehin keine Zukunftslösung, es ist, wenn überhaupt, eine
Rückfalloption für prozessbedingte Emissionen, wenn es
uns in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingt, diese zu
vermeiden. Dafür brauchen wir Forschung, wie wir sie
in Ketzin betreiben. Das müssen wir fortsetzen.
({6})
Dafür brauchen wir ein Forschungsgesetz, wie wir es in
unserem Antrag vorschlagen. Wenn Sie es ernst meinten,
würden Sie sich auf unseren Vorschlag zubewegen. Damit kämen wir dann weiter, damit hätten wir auch etwas
für den Klimaschutz getan.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Schicksal. - Herr Präsident! Meine Damen! Meine
Herren! Ich bedanke mich für das Mitleid der SPD, dass
ich angeblich immer das Unerklärliche erklären muss.
Das fällt mir heute aber, glaube ich, relativ leicht. Ich
möchte dennoch mit einer allgemeinen Vorbemerkung
beginnen.
Wir führen in diesem Haus in steter Regelmäßigkeit
Akzeptanzdiskussionen. Immer geht es dabei um die
Frage, was wir denn noch hinzunehmen bereit sind. Leider Gottes wird dabei zu wenig mit Blick auf das Ziel
formuliert. Akzeptanz hinnehmen, akzeptieren heißt
doch, dass man auch ein Ziel, einen Maßstab im Auge
haben muss. Ich habe den Eindruck, dass viele in diesem
Hohen Haus diesen Maßstab mittlerweile nicht mehr im
Blick haben, dass sie glauben, Wohlstand, Arbeitsplätze,
Industrie seien etwas, was in diesem Land komplett
selbstverständlich ist. Meine Damen und Herren, das ist
falsch.
Wir leben in einer dynamischen Welt. Wir müssen uns
diesen Wohlstand, diese Arbeitsplätze täglich wieder erarbeiten. Dazu gehört es auch, offen und offensiv daDr. Georg Nüßlein
rüber nachzudenken, wie alles weitergeht und was man
tun muss.
Damit sind wir bei unserem heutigen Thema. Natürlich ist CCS kein einfaches Thema, bei dem man einfach
mal so aus der Hüfte geschossen sagt: Jawohl, das ist
prima, das löst unsere Probleme, das nehmen wir hin.
Das ist nicht der Fall. Es ist uns in der Tat, wie es
auch etliche beschrieben haben, nicht leicht gefallen,
eine Position zu finden; denn auf der einen Seite geht es
um die Sicherheit von Menschen und Umwelt und auf
der anderen Seite um Eigentumspositionen. Ich möchte
in der Debatte ausdrücklich betonen, dass es hier auch
um Eigentumspositionen geht.
Wir sind zu einem Ergebnis gekommen, das ich persönlich für einen sinnvollen und gangbaren Weg mit
Blick auf das Ziel erachte. Das Ziel heißt nämlich Erprobung, Demonstration. Das ist - um mal auf die Vorredner, insbesondere von den Grünen und von der SPD einzugehen - ein gutes Stück mehr als einfach nur
Erforschung, Forschung im Labor, wie Sie es wohl im
Kopf haben. Wir gehen einen notwendigen Schritt weiter. Denn die Forschungsspeicherung in Ketzin hat uns
gezeigt, dass 60 000 Tonnen eingelagert werden können.
Das, was man machen kann, ist von der Forschung schon
belegt. Also müssen Sie ein Stück weiter gehen.
Wir haben internationale Erfahrungen mit einer jährlichen Speicherung von 1 Million Tonnen pro Jahr in Norwegen und in Algerien. Also müssen Sie auch hier einen
Schritt weitergehen, wenn Sie eine Technologie erproben, demonstrieren und mit Blick auf ihre Anwendbarkeit weiter erforschen wollen. Ich halte es für entscheidend, dass wir hier einen Schritt nach vorn tun.
Dass wir das im Rahmen einer Vereinbarung mit den
Ländern, im Rahmen dieser vielfach zitierten Länderklausel tun, ist auch richtig und wichtig. Man kann beim
besten Willen nicht einfach von einem Vetorecht sprechen. Es muss abgewogene Kriterien geben, die einen
Gebietsausschluss zulassen. Diese Kriterien müssen
fachlich und gerichtlich überprüfbar sein, um bestimmte
Gebiete wegen geologischer Besonderheiten, wegen
Nutzungskonkurrenzen und wegen anderer öffentlicher
Interessen auszuschließen. Man kann das eben nicht
nach Gutdünken irgendwelcher Ministerpräsidenten
handhaben. Das formuliere ich so klar an die Adresse
derjenigen, die das anders sehen. Das muss man aus meiner Sicht klar in den Raum stellen.
({0})
Man muss über die Forderungen, die von der Opposition vorgetragen werden, diskutieren. Das Ziel ist die
Eingrenzung auf prozessbedingte Emissionen, also nur
auf die Emissionen der produzierenden Industrie. Bevor
wir über das Ziel sprechen, müssen wir aber diskutieren,
ob wir dies auf den gesamten Bereich der Energieproduktion anwenden wollen. Wo wollen wir denn solche
Prozesse zum Einsatz bringen? Dort, wo es keine Substitutionsmöglichkeiten und keine Alternativen gibt, sind
sie natürlich ganz besonders wichtig; da haben Sie recht.
Jetzt in der Erprobungsphase geht es aber nicht um die
Frage, wo das CO2 herkommt. Thema ist auch nicht, ob
CO2 gut oder schlecht ist oder was auch immer Sie damit
sagen wollen.
Es kommt darauf an, dass wir diese Phase in Übereinstimmung mit der Europäischen Union durchschreiten,
um diese Technologie überhaupt einsatzfähig zu machen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es nicht auf
die Einsatzfähigkeit in Deutschland allein ankommt. Es
wird darauf ankommen, dass wir solche Technologien
insbesondere in den Schwellenländern voranbringen. Es
gab in China Jahre, in denen jeden zweiten Tag ein Kohlekraftwerk ans Netz gegangen ist. Es gab in China auch
Jahre, in denen der jährliche Zuwachs an CO2-Ausstoß
so groß war wie unser Gesamtausstoß.
Jenseits aller grünen Traumtänzereien in Bezug auf
die Themen Kohle und fossile Brennstoffe ist mir eines
vollständig klar: Die Kohle dieser Welt wird verbrannt,
wenn uns nichts Besseres im Bereich der Energieversorgung einfällt. Wenn sie verbrannt wird, kommt es entscheidend darauf an, mit welcher Technologie sie verbrannt wird. Dass wir die Wirkungsgrade erhöhen und
den CO2-Ausstoß im Auge behalten, halte ich für eine
ganz wichtige Aufgabe, der sich eine Industrie- bzw. eine
Ingenieurnation - das sage ich mit Entschlossenheit wie Deutschland annehmen will. Ich sage ganz klipp und
klar: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass diese Technologie so weit vorangebracht wird, dass man sie beispielsweise in den Schwellenländern einsetzen kann. Ich lade
Sie herzlich ein, heute mit uns diesen nächsten Schritt zu
gehen.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Michael Kauch für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde
es schon unverfroren, dass sich Herr Miersch von der
SPD hier hinstellt, sich aufplustert und uns erzählen will,
was man alles hätte besser machen können. Es war ein
roter Umweltminister, der es in der letzten Wahlperiode
nicht geschafft hat,
({0})
ein Gesetz zur Umsetzung der CCS-Richtlinie durch den
Deutschen Bundestag zu bringen. Jetzt ist er Ihr Parteivorsitzender.
({1})
Sie haben es nicht hinbekommen. Sie sind die einzige
Fraktion im Deutschen Bundestag, die zu dieser Debatte
keine Vorlage eingebracht hat. Die SPD-Fraktion weiß
offensichtlich nicht, ob das, was Herr Miersch erzählt,
auch das ist, was die SPD-Fraktion denkt.
({2})
Ich sage mit Blick auf das Parlament und auch auf die
Länderparlamente ganz deutlich: Es gibt in Deutschland
immer schnell Koalitionen zum Neinsagen. Die gehen
über die Parteien hinweg und sagen vor Ort immer Nein.
Ich frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, in Deutschland nicht nur über die Risiken, sondern auch über die
Chancen von Technologien zu reden.
({3})
Meine Damen und Herren, die Vertreterin der Umweltorganisation WWF hat in der Anhörung ausgeführt,
dass es Menschen gibt, die meinen, wir sollten uns nicht
auf CCS einlassen, sondern lieber Bäume pflanzen, um
CO2 zu binden. Daraufhin hat sie gesagt: Ja, wir müssen
Bäume pflanzen - diese Bäume müssen wir aber in jedem Fall pflanzen, unabhängig davon, ob wir CCS zulassen. Wir müssen beides machen; nur dann werden wir
bis 2050 eine CO2-Reduktion von 95 Prozent erreichen.
({4})
Das ist der entscheidende Punkt. Wir können uns
nicht einfach entspannt hinsetzen und zusehen, dass wir
in Deutschland unsere Ziele erreichen. Wir müssen global mehr als die Hälfte der CO2-Emissionen einsparen;
das sind in den Industrieländern bis 2050 95 Prozent. Es
gibt aber Industrien, die ihre Emissionen nicht senken
können, weil sie prozessbedingt sind. Wenn Sie diese Industrien nicht nach China vertreiben wollen, dann müssen Sie eine Lösung hier im Land anbieten.
({5})
Dazu muss auch die CO2-Abspeicherung und -Einlagerung in die Erde gehören.
({6})
Jetzt tragen die Länder eine besondere Verantwortung.
({7})
Sie haben die Verantwortung, mit ihren Kompetenzen
sinnvoll und verantwortungsvoll umzugehen. Ich sage
ganz deutlich - auch an eigene Parteifreundinnen und
Parteifreunde -: Wer es mit dem Klimaschutz ernst
meint, der kann in seinem eigenen Bundesland entsprechende Technologien nicht pauschal ablehnen. Sie haben
die Verantwortung, und die müssen sie jetzt tragen.
({8})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Zum Abschluss sage ich Ihnen ganz deutlich: Die
SPD hat behauptet, wir würden uns nicht um Nutzungskonkurrenzen kümmern. Wenn Sie einmal die Vorlagen
des Deutschen Bundestages lesen würden, dann würden
Sie erkennen, dass es diese Koalition ist, die mit einem
Antrag die Bundesregierung beauftragt, einen Atlas zu
erstellen,
({0})
in dem die Nutzungskonkurrenzen zwischen Geothermie,
({1})
CCS und weiteren energetischen Nutzungen - wie beispielsweise Druckluftspeichern - aufgeführt sind.
Es muss endlich klargestellt werden, dass die Regionen in Deutschland nicht mehrfach
({2})
für die Nutzungen verplant werden, die wir klimapolitisch erreichen wollen. CCS ist notwendig. Die Einführung von CCS über die Länderklausel ist nicht der Weg
unserer Wahl gewesen; es ist aber der einzige Weg, dieses Gesetz durch den Bundesrat zu bringen. Deshalb
nehmen wir die Länderklausel in Kauf und appellieren
an die Länder, sensibel mit ihrer neuen Verantwortung
umzugehen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur De-
monstration und Anwendung von Technologien zur
Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Spei-
cherung von Kohlendioxid. Der Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6507, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/5750 und 17/6264 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak-
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Ge-
setzentwurf namentlich ab. Ich möchte darauf hinwei-
sen, dass wir im Anschluss noch eine weitere nament-
liche Abstimmung durchführen wollen. Es liegen zu
dieser Abstimmung eine ganze Reihe persönlicher Er-
klärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Ich
bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen be-
setzt? - Das scheint der Fall zu sein.
Ich eröffne die Abstimmung.
Die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglie-
der des Hauses sich an der Abstimmung beteiligt? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6513. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltun-
gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen und der Linken gegen
die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD
abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke zum Verbot der Speicherung von
Kohlendioxid in den Untergrund des Hoheitsgebietes der
Bundesrepublik Deutschland. Der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6507, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/5232 abzulehnen.
Wir stimmen über den Gesetzentwurf namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist offensicht-
lich der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Die obligate Frage: Haben alle Mitglieder des Hauses
ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergebnis
der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.3)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte
Platz; denn wir setzen die Abstimmungen fort.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit
dem Titel „Umfassende Datenbasis für Nutzungsmög-
lichkeiten des Untergrunds schaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/6507, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3056 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
1) Anlage 7
2) Ergebnis Seite 13970 D
3) Ergebnis Seite 13973 B
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung von SPD und Linken gegen
die Stimmen der Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Mast, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit orientieren - Weichen für gute
Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen
- Drucksache 17/6454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Katja
Mast für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Heute diskutieren wir den arbeitsmarktpolitischen Antrag der SPD. Dieser Antrag ist notwendig, weil Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik zwei Farben hat:
({0})
Schwarz und Gelb. Das wissen Sie. Deshalb behaupten
Sie immer in den Debatten über die massiven Haushaltskürzungen, das sei alles gar nicht so.
Hier sitzt die Lobby für aktive Arbeitsmarktpolitik.
Hier sitzen diejenigen, die in der Arbeitsmarktpolitik
fördern und fordern wollen. Diese Gedanken liegen unserem Antrag „Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderungen der Zeit orientieren - Weichen für gute Arbeit,
Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen“ zugrunde, über den wir jetzt diskutieren.
({1})
Uns geht es darum, die Spaltung am Arbeitsmarkt zu
überwinden. Darin sehen wir eine Aufgabe der Politik.
Auch das unterscheidet uns von Schwarz-Gelb. Wir wollen, dass die Spaltung am Arbeitsmarkt ein Ende hat.
Wann, wenn nicht jetzt, ist der richtige Zeitpunkt dafür?
({2})
Vollbeschäftigung ist ein hehres Ziel; das wissen wir
alle. Wenn es um Vollbeschäftigung geht, dürfen wir
aber nicht nur die Menschen, die Arbeitslosengeld I be13968
ziehen, in den Blick nehmen, sondern wir müssen auch
die Menschen berücksichtigen, die Arbeitslosengeld II
beziehen, also diejenigen, die langzeitarbeitslos sind. An
dieser Stelle möchte ich mit Erlaubnis des Präsidenten
Herrn Weise zitieren, der - das können wir heute nachlesen - ein Zehnjahresprogramm gegen Sockelarbeitslosigkeit gefordert hat. Er fordert die Bundesregierung auf,
dafür Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Er appelliert an die Bundesregierung, die Mittel für die Bundesagentur für Arbeit nicht voreilig zu kürzen. Das Geld sei
bei der Bundesagentur zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und zur Vermeidung der sozialen Folgekosten gut
angelegt. Er sagt: Geben Sie uns das Geld. Bei uns gibt
es Rendite. Woanders wird es verbrannt. - Er bringt es
auf den Punkt, Kolleginnen und Kollegen von SchwarzGelb: Machen Sie Schluss mit Ihren massiven Kürzungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
({3})
Wir haben in dieser Woche im Ausschuss über den
Gesetzentwurf diskutiert, den Sie in der letzten Woche
ins Plenum eingebracht haben. In dieser Woche haben
Sie im Ausschuss gesagt, dass Sie ihn nicht in den Bundesrat schicken können, weil er dort vielleicht keine Zustimmung bekommen würde. Wenn dieser Gesetzentwurf so gut wäre, wie Sie sagen, brauchten Sie keine
Angst vor den Bundesländern zu haben. Wenn Sie über
diesen Gesetzentwurf Chancen schaffen könnten, sollten
Sie damit in den Bundesrat gehen. Unsere Unterstützung
haben Sie.
Jetzt zu unserem Antrag, der auf sieben Leitideen basiert. Ich will an dieser Stelle auf einige eingehen.
Wir setzen erstens eine klare Priorität bei der Herausforderung unserer Zeit: Wir müssen sicherstellen, dass
der Fachkräftebedarf auch in Zukunft gedeckt wird. Das
ist die größte wirtschaftliche Herausforderung für unsere
Volkswirtschaft. Deshalb rücken wir - das ist unser erster Punkt - Ausbildung, Bildung, Qualifizierung und
Weiterbildung in das Zentrum der Arbeitsmarktpolitik.
In unserem Antrag finden Sie das Recht auf Ausbildung,
die Forderung nach mehr Praxisbezug im Rahmen der
Berufsvorbereitung junger Menschen und die Entfristung der Einstiegsqualifizierung, die vielen Jugendlichen
die Chance auf Ausbildung eröffnet. Das ist unser erster
Punkt. Diesen Punkt finden wir in Ihrem Gesetzentwurf
nicht. Deshalb mussten wir einen eigenen Antrag einreichen.
({4})
Zweiter Punkt: Wir wollen einen sozialen Arbeitsmarkt. Wir wollen öffentlich geförderte Beschäftigung,
die auf Dauer angelegt ist, damit die Menschen, die am
Rand des Arbeitsmarktes stehen, weil bei ihnen vielfältige Vermittlungshemmnisse vorhanden sind, die zum
Beispiel schon sehr lange arbeitslos sind, endlich eine
dauerhafte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
finden. Sie wollen das nicht. Mit Ihrem Gesetzentwurf
wollen Sie die Chancen dieser Menschen reduzieren.
Wir wollen neue Chancen schaffen. Deshalb haben wir
diesen Antrag eingebracht. Wir stehen zu einem sozialen
Arbeitsmarkt, den wir über einen Passiv-Aktiv-Transfer
finanzieren. Das ist ganz im Sinne der Menschen, die ein
Recht auf Beschäftigung wollen.
({5})
Drittens - und auch dazu sagen Sie im Rahmen Ihrer
uninspirierten Arbeitsmarktpolitik nichts -: Alle arbeitsmarktpolitischen Fachleute wissen, dass wir Langzeitarbeitslose am besten in Arbeit bringen, wenn wir die Arbeitsvermittler stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Vermittler weniger Menschen betreuen, als das heute
der Fall ist. Das Verhältnis liegt heute im Schnitt bei
1 : 158. Wir finden, dieser Schnitt muss deutlich gesenkt
werden. Nur so können wir genug Fachkräfte für die Zukunft ausbilden.
Wir wollen spezifische Angebote für Frauen, Migrantinnen, Migranten und Jugendliche. Dafür brauchen wir
gut qualifizierte Vermittlerinnen und Vermittler sowie einen besseren Betreuungsschlüssel. Dazu sagen Sie in Ihrem zentralen Arbeitsmarktprogramm, das Sie letzte
Woche vorgelegt haben, nichts.
({6})
Auch deshalb bekommen Sie heute die Antwort der
SPD: Wir wollen einen besseren Vermittlungs- und Betreuungsschlüssel insbesondere im Sozialgesetzbuch II
verankern.
({7})
Wir wollen aber auch, dass die wissenschaftliche Begleitung unserer Arbeitsmarktpolitik besser wird. Wir
wollen nicht nur wie Sie - das ist wichtig; das ist das
zentrale Ziel der Arbeitsmarktpolitik - den ersten Arbeitsmarkt im Blick haben, sondern auch soziale Teilhabe gerade für langzeitarbeitslose Menschen in die wissenschaftliche Begleitung mit aufnehmen.
Ich freue mich auf die Debatte mit Ihnen. Im September wird es eine Anhörung zu unseren Gesetzentwürfen und Anträgen geben. Ich fordere Sie noch einmal auf - wir brauchen eine Lobby für aktive
Arbeitsmarktpolitik -: Kämpfen Sie dafür, dass die Kürzungen, Ihre Sparorgien ein Ende haben! Kämpfen Sie
für die Menschen, die in Ihrer Verantwortung sind, für
Arbeitslose, die Arbeit haben wollen und die ein Recht
auf Beschäftigung haben!
({8})
Das Wort hat nun Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Herbst 2005 - nach der Wahl von Angela Merkel zur
Bundeskanzlerin - hat die Bild-Zeitung getitelt: „Frau
Merkel, das sind jetzt Ihre Arbeitslosen“. Nun will ich
Peter Weiß ({0})
Ihnen die Bilanz vorlegen. Im Jahr 2005 - beim Regierungsantritt von Angela Merkel - lag die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei 4,86 Millionen Personen oder
12 Prozent. Im Jahr 2009 - nach der erneuten Wahl von
Angela Merkel zur Kanzlerin - lag die Arbeitslosigkeit
in Deutschland bei 3,41 Millionen Menschen, sprich:
8,2 Prozent. Und heute, im Juni 2011, liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei 2,83 Millionen Menschen
oder 6,9 Prozent. Nichts kann mehr als diese klaren und
eindeutigen Zahlen, die niemand bezweifeln kann, belegen: Diese Bundesregierung unter Angela Merkel ist die
erfolgreichste, was die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit in Deutschland anbelangt.
({1})
Unter Rot-Grün war die Arbeitsmarkpolitik von der
Frage „Was machen wir gegen die Massenarbeitslosigkeit?“ bestimmt. Heute diskutieren wir über die Perspektive, dass wieder Vollbeschäftigung in Deutschland
möglich ist, und darüber, dass wir in einigen Bereichen
bereits einen Mangel an Fachkräften erleben. Auch die
Debatte über „gute Arbeit“ ist von Rot-Grün in den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit nicht geführt worden. Im
Gegenteil: All die Verwerfungen am Arbeitsmarkt, die
die Sozialdemokraten in dem vorliegenden Antrag beklagen und vorhin in der Aktuellen Stunde beklagt haben, sind Ausfluss der Gesetzgebung von Rot-Grün.
Deswegen müssten Sie ehrlicherweise über Ihren Antrag
schreiben: Schluss! Nie wieder Rot-Grün! Das wäre
konsequent.
({2})
Nun zu dem Geld, das der Staat zur Verfügung stellt.
Ich glaube, jedem wird einleuchten, dass eine veränderte
Situation auf dem Arbeitsmarkt auch Auswirkungen auf
die finanzielle Ausstattung der Arbeitsmarktpolitik haben muss.
({3})
Bei 2,8 Millionen Arbeitslosen muss und kann der finanzielle Rahmen nicht genauso aussehen wie bei 4,8 Millionen Arbeitslosen.
Ich komme zu den konkreten Zahlen. Im Jahr 2006
- das war das Jahr,
({4})
in dem eine Bundesregierung unter Führung von Angela
Merkel die Verantwortung trug;
({5})
es war die die Große Koalition von CDU/CSU und SPD haben wir für 2,82 Millionen Arbeitsuchende im SGB-IIBereich, also Arbeitslosengeld-II-Bezieher, 4,5 Milliarden Euro für Vermittlung und Förderung zur Verfügung
gestellt.
({6})
Das waren damals - Sie können das nachrechnen - pro
Kopf rund 1 600 Euro.
({7})
Im Entwurf für den Bundeshaushalt 2012, den der Herr
Bundesfinanzminister kürzlich vorgestellt hat,
({8})
stellen wir für 1,86 Millionen Arbeitslose, die derzeit Arbeitslosengeld II beziehen, einen Betrag von 4,4 Milliarden Euro zur Verfügung, also pro Kopf knapp 2 400 Euro.
2 400 Euro sind deutlich mehr als 1 600 Euro.
({9})
Zweitens zu den Zahlen für die Bezieher von Arbeitslosengeld I. Im Jahr 2006 gab es 1,66 Millionen Bezieher von Arbeitslosengeld I; für diese haben wir 2,7 Milliarden Euro aufgewandt. Für das Jahr 2012 werden wir
für geschätzte 0,8 Millionen Personen ziemlich genau
die Hälfte der Summe zur Verfügung stellen, die wir
2006 zur Verfügung gestellt haben. Sowohl für die Bezieher von Arbeitslosengeld I als auch für die Bezieher
von Arbeitslosengeld II wird es im nächsten Jahr pro
Kopf deutlich mehr finanzielle Förderung durch den
Staat und die Arbeitslosenversicherung geben als 2006.
Wer hier von einem finanziellen Kahlschlag bei der Arbeitsmarktpolitik spricht, kann schlichtweg nicht rechnen. Das ist die Wahrheit.
({10})
- Die Haushälterin Frau Hagedorn möchte mir eine
Frage stellen.
Ich war so im Zuhören begriffen, dass ich das nicht
bemerkt habe.
({0})
Bitte schön, Kollegin Hagedorn.
Herr Kollege Weiß, weil Sie hier versuchen, einen
vollkommen falschen Eindruck zu erwecken,
({0})
möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir einig sind, dass die
Bundesregierung vor ziemlich genau einem Jahr ein sogenanntes Sparpaket beschlossen hat, durch das die Mittel im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik um über
40 Prozent gekürzt werden sollten. Dieses Paket ist mit
dem Haushaltsbegleitgesetz umgesetzt worden. Die Instrumentenreform, über die wir hier jetzt diskutieren, ist
nichts anderes als ein Etikettenschwindel; denn durch
die im Rahmen der Instrumentenreform geplanten Maß13970
nahmen sollen die angestrebten Kürzungen erreicht werden. Genau das haben Sie vor. Daher muss man auch
nach vorne und nicht nur zurückschauen, Herr Kollege
Weiß, um Ihre Politik zu beurteilen.
Es ist ganz klar - Zahlen lügen an dieser Stelle nicht -,
dass Sie bis 2015 strukturelle Kürzungen vornehmen:
bei der Bundesagentur für Arbeit 11,5 Milliarden Euro
und ein halber Mehrwertsteuerpunkt, 4 Milliarden Euro,
pro Jahr. Zusätzlich kassieren Sie den Überschuss bei
der Insolvenzgeldumlage von 1,1 Milliarden Euro in diesem Jahr und kürzen im Bereich des SGB II, also bei
Langzeitarbeitslosen, um 15 Milliarden Euro. Diese
Kürzungsorgie haben wir noch vor uns; sie wird erst
2013, wenn Sie möglicherweise nicht mehr regieren, ihren Höhepunkt erreichen. Das ist die Folge Ihres Kürzungspakets, das Sie hier beschlossen haben. Sie sagen,
dass Sie dadurch die Schuldenbremse einhalten wollen.
Aber in Wahrheit nehmen Sie den Menschen damit die
Chancen und verbrämen alles mit dem Etikettenschwindel „Instrumentenreform“.
({1})
Frau Kollegin Hagedorn, zunächst einmal möchte ich
sagen, dass ich bemerkenswert finde, dass Sie die Zahlen, die ich vorgetragen habe, überhaupt nicht infrage
stellen. Als Mitglied des Haushaltsausschusses und als
zuständige Berichterstatterin für den Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales kennen Sie
diese Zahlen. Ich möchte also zuerst einmal festhalten,
dass meine Zahlen von Ihnen nicht bezweifelt worden
sind.
({0})
Zweitens. Da uns alle Wirtschaftsforschungsinstitute,
auch die gewerkschaftsnahen, voraussagen, dass die
Zahl der Arbeitslosen Gott sei Dank in den kommenden
Jahren weiter zurückgehen wird,
({1})
können wir die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik
insgesamt zurückführen, selbstverständlich auch strukturell.
({2})
„Strukturell“ heißt zum Beispiel: Wenn wir deutlich weniger Arbeitslose haben, dann brauchen wir auch nicht
mehr den vollen Apparat, den die Bundesagentur für Arbeit heute zur Verfügung hat.
({3})
Hier sind in der Tat strukturelle Einsparungen und Veränderungen - ich muss sagen: Gott sei Dank - notwendig. Denn es geht nicht darum, Arbeitslosigkeit zu verwalten, sondern darum, Menschen aus der
Arbeitslosigkeit hinauszuführen.
({4})
- Jawohl.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Frage
ist: Greift unsere aktive Arbeitsmarktpolitik auch mit der
Mittelausstattung, die wir in Zukunft haben werden? Ich
finde es ganz interessant, dass zum Beispiel eine aktuelle
Untersuchung unter Beteiligung der gewerkschaftsnahen
Hans-Böckler-Stiftung zu dem Ergebnis kommt, dass
wir mittlerweile auch klassische Problembereiche des
Arbeitsmarktes zusehends aufbrechen. Im Altersübergangs-Report 2011 heißt es:
Noch nie waren so viele Ältere ab 50 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt wie heute.
Das zeigt doch: Wir haben mit der Arbeitsmarktpolitik,
die wir gemeinsam verantworten, Erfolg.
({6})
Um was es geht, ist: Wir wollen mit der Reform der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente deren Effizienz erhöhen. Wir wollen Maßnahmen, die sich nach der Evaluierung und der wissenschaftlichen Untersuchung, die
Frau Mast gefordert hat,
({7})
als nicht wirksam erwiesen haben, künftig nicht mehr
anwenden und Maßnahmen, die effektiv sind, verstärkt
anwenden. So - da sind wir uns sicher - werden wir die
positive Entwicklung am Arbeitsmarkt auch in Zukunft
fortführen. Von Streichorgien zu reden, ist schlichtweg
falsch.
({8})
Die Zahlen strafen Sie Lügen. Bitte unterlassen Sie in
Zukunft eine solche Argumentation der Verunsicherung!
({9})
Wir setzen das notwendige Geld ein, damit die Arbeitslosigkeit in Deutschland in Zukunft weiter erfolgreich
bekämpft werden kann.
Vielen Dank.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch darf
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen AbstimVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
mung über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Demonstration und Anwendung von
Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur
dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid bekannt geben: abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt
306, mit Nein haben gestimmt 266, Enthaltungen 1. Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 573;
davon
ja: 306
nein: 266
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Siegfried Kauder ({8})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Stefan Müller ({11})
Nadine Schön ({12})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({24})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({25})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
({29})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({30})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
hierse
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({31})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({32})
Nein
CDU/CSU
Hans-Georg von der Marwitz
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({33})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({34})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({35})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
({36})
Hubertus Heil ({37})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({38})
Frank Hofmann ({39})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({40})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({41})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({42})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({43})
Michael Roth ({44})
({45})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({46})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({47})
Werner Schieder ({48})
Ulla Schmidt ({49})
Silvia Schmidt ({50})
Carsten Schneider ({51})
Swen Schulz ({52})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({53})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Horst Meierhofer
Judith Skudelny
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({54})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
hierse
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Cornelia Behm
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({57})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({58})
Monika Lazar
Tobias Lindner
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({59})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({60})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Enthalten
SPD
Gerd Bollmann
Des Weiteren darf ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zum Verbot der
Speicherung von Kohlendioxid in den Untergrund des
Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland bekannt geben: abgegebene Stimmen 575. Mit Ja haben
gestimmt 65, mit Nein haben gestimmt 445, Enthaltungen 65. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 575;
davon
ja: 65
nein: 445
enthalten: 65
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({61})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({62})
Manfred Behrens ({63})
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({64})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({65})
Dirk Fischer ({66})
Axel E. Fischer ({67})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({68})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({69})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Siegfried Kauder ({70})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
hierse
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({71})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({72})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Stefan Müller ({73})
Nadine Schön ({74})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({75})
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({76})
Anita Schäfer ({77})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({78})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({79})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({80})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({81})
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({82})
Peter Weiß ({83})
Sabine Weiss ({84})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({85})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({86})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Ingo Egloff
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({87})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
({88})
Hubertus Heil ({89})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({90})
Frank Hofmann ({91})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({92})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({93})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({94})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({95})
Michael Roth ({96})
({97})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({98})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({99})
Werner Schieder ({100})
Ulla Schmidt ({101})
Silvia Schmidt ({102})
Carsten Schneider ({103})
Swen Schulz ({104})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
hierse
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({105})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({106})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({107})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({108})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner ({109})
Michael Link ({110})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({111})
({112})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({113})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({114})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({115})
Enthalten
CDU/CSU
Hans-Georg von der Marwitz
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({116})
Volker Beck ({117})
Cornelia Behm
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({118})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({119})
Monika Lazar
Tobias Lindner
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({120})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({121})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9 zurück. Ich
erteile Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({122})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag wird die schwarz-gelbe Arbeitsmarktpolitik kritisiert, und das zu Recht. Ich möchte die Kritikpunkte aus Sicht der Linken darstellen.
Die Pläne der Bundesregierung - das können Sie
nicht einfach wegrechnen, Herr Weiß - gehen Hand in
Hand mit Kürzungen in der Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Wir hatten die Vertreter des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit bei uns im Ausschuss. Herr Clever,
der parteipolitisch wahrlich nicht im Verdacht steht, Mitglied der Linken zu sein, hat dort gesagt: Diese Kürzungen gehen nur mit enorm tiefen Einschnitten in der Arbeitsmarktpolitik.
({1})
Sie haben hier ein verzerrtes Bild gezeichnet. In der
Summe sind zwar jeweils weniger Erwerbslose zu verzeichnen. Weil die Beschäftigungsdauer kürzer ist, die
Leute also schneller gefeuert werden und sich schneller
wieder arbeitslos melden müssen, gibt es aber einen höheren Umschlag und demzufolge bei der Bundesagentur
für Arbeit mehr zu tun. Deshalb kann man dort nicht einfach kürzen.
({2})
Wenn Schwarz-Gelb über dieses Thema redet, dann
klingt das immer ganz schön. Sie sagen dann: Wir wollen Ordnung im Instrumentenkoffer schaffen. - Jeder,
der schon einmal vor einem chaotischen Werkzeugkoffer
stand, denkt dann: Na ja, da ist bestimmt etwas dran. Aber dieses Bild ist verlogen. Denn Sie kürzen gerade
bei den Maßnahmen, die zu vergleichsweise guten Ergebnissen geführt haben, und führen die Maßnahmen
fort, die in der wissenschaftlichen Evaluation schlecht
abgeschnitten haben.
({3})
Um beim sprachlichen Bild des Werkzeugkoffers zu
bleiben: Es ist schon ein Problem, wenn man nur noch
einen Hammer im Werkzeugkasten hat, aber eigentlich
einen Schraubenzieher bräuchte.
Da ich neulich in meiner WG renoviert habe, kann ich
nur sagen: Versuchen Sie einmal, einen Wandschrank
ohne den passenden Schraubenzieher anzubringen!
Bei der Arbeitsmarktpolitik reden wir über Menschen, bei denen Mangel verheerende Folgen hat. Das
heißt nämlich ganz konkret, dass der Sachbearbeiter
dann zum Erwerbslosen sagen muss: Tja, für Sie habe
ich heute weder Weiterbildung noch eine Arbeitsgelegenheit mit Entgelt. - Für uns als Linke ist das nicht akzeptabel.
({4})
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass aus Pflichtleistungen
Ermessensleistungen werden. Ermessensleistungen - das
ist Behördendeutsch. Da schreckt man erst einmal gar
nicht auf. Und wenn die FDP davon redet, klingt das
nach etwas ganz Tollem,
({5})
nämlich so, als ob dann aus der reichen Theke des Angebotes das Beste ausgesucht würde. Ich kann den Zuhörern nur empfehlen: Lassen Sie sich davon nicht täuschen! Denn in Verbindung mit Mittelkürzung bedeutet
Ermessensleistung vor allen Dingen eines: Der Entscheidungsspielraum wird am Ende bei null liegen. Dann
wird der Sachbearbeiter nur noch sagen können: Für Sie
haben wir heute leider keine Förderung. - Die Verantwortung dafür liegt bei CDU/CSU und FDP.
({6})
Die schwarz-gelbe Arbeitsmarktpolitik konzentriert
sich vor allen Dingen auf die Vermittlung in den ersten
Arbeitsmarkt. Das ist gut, aber eben zu kurz gegriffen.
Gegenüber dem wichtigen Potenzial einer öffentlich geförderten Beschäftigung sind Sie vollkommen blind. Öffentlich geförderte Beschäftigung kann nämlich Projekte, die nicht sofort der Profitlogik entsprechen, in
denen aber notwendige gesellschaftliche Arbeit geleistet
wird, wie das in Frauenzentren der Fall ist, mit Langzeiterwerbslosen zusammenbringen, die auf der Suche nach
sozialen Kontakten sind. Das ist eine wichtige Dimension, die Sie nicht einfach ignorieren können.
({7})
Deswegen setzen wir uns für öffentlich geförderte Beschäftigung ein. Ich finde die Idee eines Arbeitsmarktes
von unten sinnvoll. Man sollte besser bei Projekten wie
der Nachbarschaftshilfe, bei der Erwerbslose selbstbestimmt sinnvolle Tätigkeiten stiften, Jobs finanzieren.
Dort ist das Geld allemal besser aufgehoben, als wenn
man es in den Sanktionsapparat steckt.
({8})
Nun gäbe es tatsächlich Veränderungsbedarf. Genau
die notwendigen Veränderungen werden von Ihnen aber
nicht in Angriff genommen. Um nur einmal ein Beispiel
zu nennen: Es gibt einen enormen Bedarf an Altenpflegern. Altenpfleger ist aber ein Beruf mit einer Ausbildung, die mindestens drei Jahre dauert. Das Problem ist,
dass die meisten Maßnahmen in der Berufsförderung nur
auf zwei Jahre angelegt sind. Diese wichtige Veränderung nehmen Sie nicht in Angriff.
Aus all diesen Gründen und Kritikpunkten sagen wir
ganz deutlich Nein zur schwarz-gelben Arbeitsmarktpolitik. Sie kürzen an der falschen Stelle. Die wirklich
notwendigen Änderungen nehmen Sie nicht in Angriff.
Wir haben als Linke unsere Alternativen hier bereits
vor mehreren Wochen in einem Antrag vorgestellt. Ich
will sie noch einmal kurz zusammentragen.
Wir als Linke setzen auf eine Vermittlung in gute Arbeit. Gute Arbeit meint: gut bezahlt, ohne Zwang, sinnstiftend und mit familienfreundlichen Arbeitszeiten.
({9})
Wir wollen die vorhandene Erwerbsarbeit besser verteilen. Eines der zentralen Mittel dabei ist die Arbeitszeitverkürzung. Wir setzen auch auf eine öffentlich geförderte Beschäftigung in sinnvollen Tätigkeiten, die
mindestens mit dem Mindestlohn bezahlt werden, die
voll sozialversicherungspflichtig sind und deren Annahme freiwillig ist.
({10})
Um all dies zu finanzieren, haben wir auch ein eigenes Steuerkonzept eingebracht. Lassen Sie mich den Unterschied einmal auf den Punkt bringen: Im Zentrum
Ihrer Arbeitsmarktpolitik, der schwarz-gelben Arbeitsmarktpolitik, steht der Rotstift. Im Zentrum unserer Arbeitsmarktpolitik steht der Mensch - einfach weil er ein
Mensch ist.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
als Einzige Ihren Antrag nicht zu unserem Gesetzentwurf letzte Woche vorgelegt haben, will ich jetzt nicht
nur über unseren Gesetzentwurf reden. Vielmehr habe
ich mir konkret Ihren Antrag angeschaut. Darin findet
man wirklich interessante Sachen.
So schreiben Sie, wir würden den wissenschaftlichen
Evaluationsergebnissen kaum folgen.
({0})
Erstens ist das falsch. Zweitens, Frau Kollegin Mast,
wäre das noch gut gegenüber dem, was Sie hier tun;
denn Sie ignorieren sie einfach komplett.
Ich will nur aus dem Evaluationsbericht des IAB zu
einer ganz interessanten Maßnahme, den sogenannten
ABM-Stellen, zitieren. Warum ist diese Maßnahme so
interessant? Weil Sie in Ihrem Antrag fordern, dass die
ABM wieder eingerichtet werden sollen. Das IAB
schreibt dazu:
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schaden der Tendenz nach eher den Integrationschancen der Geförderten.
Und weiter:
Vor diesem Hintergrund stimmt es bedenklich,
wenn ABM für viele Teilnehmergruppen signifikant negative Eingliederungswirkungen auslösen.
Der Bedeutungsverlust im SGB III ist damit richtig
und zwangsläufig. Auch ihre Abschaffung im
Rechtskreis SGB II ist nachvollziehbar: …
Frau Kollegin Mast, wie Sie vor diesem Hintergrund
allen Ernstes sagen können, das sei moderne Arbeitsmarktpolitik - durch dieses Instrument werden Menschen aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten anstatt
hineingebracht -, kann ich nicht nachvollziehen. Richtigerweise ist das nicht unsere Arbeitsmarktpolitik.
({1})
Ich würde mich wirklich freuen und unsere Debatte
wäre viel anregender, wenn Sie zwei Dinge auseinanderhalten würden: Das eine ist die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, das andere ist die Kürzung im
Eingliederungstitel.
({2})
- Das gehört eben nicht zusammen.
({3})
Das eine ist in der Tat - liebe Frau Kollegin Kipping, ich
freue mich, dass Sie unsere Intention verstanden haben -,
dass wir wollen, dass der Werkzeugkasten für die Arbeitsmarktpolitik aufgeräumt wird,
({4})
und das andere ist, dass die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik in Zeiten sinkender Arbeitslosenzahlen natürlich auch ein Stück weit sinken.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - auch
an Sie, Frau Kollegin Hagedorn -, das ist deshalb noch
lange kein Kahlschlag.
({6})
- Das ist es nicht. - Das ist kein Kahlschlag; denn - wir
haben es Ihnen schon mehrfach vorgerechnet - Sie dürfen ja nicht nur die absolute Höhe der Mittel, sondern
Johannes Vogel ({7})
Sie müssen auch die Relation zu den Arbeitslosen betrachten.
({8})
Wenn Sie sich das anschauen, dann stellen Sie fest, dass
jetzt im Schnitt jedes Jahr noch immer mehr Geld pro
Arbeitslosen zur Verfügung steht, als das in den letzten
vier Jahren der Fall war, als Sie den Bundesarbeitsminister gestellt haben.
({9})
Ich komme zum letzten Punkt aus Ihrem Antrag, zu
dem ich etwas sagen will. Frau Kollegin Mast, ich finde
wirklich, es ist Chuzpe, dass Sie in Ihrem Antrag allen
Ernstes schreiben, Sie würden sich gegen die weit verbreitete Einschätzung wehren, Deutschland stünde - als
würde das nicht stimmen - bei der Jugendarbeitslosigkeit gut da. Sie sagen, das würde nicht stimmen. Sie
wehren sich gegen diese Einschätzung.
({10})
Anstatt dass Sie sich freuen, dass wir bei der Jugendarbeitslosigkeit die zweitbesten Zahlen in ganz Europa
haben, bemühen Sie irgendwelche statistischen Tricks,
um das schlechtzureden.
({11})
Ich verweise hier auf Eurostat. Wenn man Eurostat
fragt, dann sagen sie: „Zur Jugend gehört jemand bis
25 Jahre“, also nicht bis 29 Jahre, wie Sie sich das zurechtgelegt haben. Hier haben wir die zweitbesten Zahlen in ganz Europa. Das sollten Sie in Ihrem Antrag bei
aller Liebe nicht schlechtreden. Das ist den Menschen in
unserem Land gegenüber unfair und irreführend. Das ist
keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik.
({12})
Frau Kollegin Mast, wir haben übrigens keine Angst
vor dem Bundesrat. Das haben Sie uns eben ja unterstellt. Wir haben nur erlebt, dass Sie im Bundesrat bei
den Hartz-IV-Verhandlungen Unsinn veranstaltet haben
und die Arbeitsmarktpolitik schlechter machen wollen.
Das wollen wir uns und dem Land nicht noch einmal antun.
Zu unseren Instrumenten will ich nur kurz etwas sagen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem
der Instrumentenkasten in der Tat aufgeräumt wird.
({13})
Alleine dadurch wird die Arbeitsmarktpolitik besser und
werden mehr Menschen in diesem Land Chancen gegeben, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Perspektive zu
haben.
({14})
Das ist die Politik unserer Regierung. Was Sie hier machen - ABM wieder einführen und die Erfolge bei der
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit schlechtreden -,
ist in meinen Augen alles, aber keine verantwortungsvolle Politik.
({15})
Trotzdem möchte ich das Blinken der Uhr zum Anlass nehmen, Ihnen allen einen schönen Sommer zu
wünschen. Ich freue mich auf das Wiedersehen nach der
Sommerpause und insbesondere auf die Anhörung zu
unseren arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und die
Fortsetzung der Debatte.
Vielen Dank.
({16})
Herr Kollege, ich dachte, wir sehen uns morgen noch
einmal.
({0})
Ich arbeite auch morgen noch, aber wir sehen uns
nicht.
Mal sehen. - Das Wort hat nun Kollegin Brigitte
Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
… das deutsche Jobwunder ist kein Selbstläufer,
der Arbeitsmarkt braucht weiter unsere Aufmerksamkeit.
Das hat Ursula von der Leyen am letzten Donnerstag anlässlich der Verkündung der Arbeitsmarktzahlen gesagt.
Daran kann man wieder einmal sehen, wie weit Handeln
und Reden bei dieser Regierung auseinanderliegen; denn
von Unterstützung auf diesem Feld kann man bei Ihrer
Politik nun wirklich nicht mehr reden.
Herr Vogel und Herr Weiß, ich will jetzt noch etwas
zu Ihrem halbseidenen Zahlenvergleich sagen:
({0})
Sie vergleichen hier Äpfel mit Birnen. Wir sind uns
einig: Wir vergleichen das Jahr 2006 mit dem Jahr 2012.
Wenn wir von Ansätzen reden, dann sollten wir auch in
Bezug auf 2006 von Ansätzen reden. Sie vergleichen
hier aber das Ist mit den Ansätzen. Der Ansatz für 2006
betrug 6,75 Milliarden Euro, der Ansatz für 2012 beträgt
4,4 Milliarden Euro. Also sind die Zahlen, die Sie hier
vorlegen, einfach falsch.
({1})
Nicht nur Ihre Zahlenvergleiche sind unseriös, sondern auch Ihre Arbeitsmarktpolitik ist sehr unseriös. Es
ist einfach Unsinn, wenn Sie sagen, Herr Vogel, man
könne den Gesetzentwurf zur Instrumentenreform nicht
im Kontext mit den Einsparungen diskutieren. Es ist
doch so, dass zu diesem Gesetzentwurf das Finanztableau quasi mitgeliefert wird.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Vogel?
Selbstverständlich.
({0})
Frau Kollegin Pothmer, Sie haben uns eben vorgeworfen, dass wir für die Jahre, die noch vor uns liegen,
nur Ansätze vergleichen. Ich wüsste nicht, wie das anders gehen sollte; denn für die Jahre, die vor uns liegen,
können wir noch keine Istzahlen nehmen. Das ist das
Wesen der Zukunft.
({0})
Wir können uns zum Beispiel anschauen, dass die Istzahlen pro Arbeitslosen im Zusammenhang mit Leistungen nach dem SGB II 2010 immer noch höher liegen als
2008. Sind Sie mit mir der Meinung, dass dann Ihr Gerede von einem Kahlschlag einfach nicht angemessen
ist, Frau Kollegin?
Nein. Herr Vogel, das ist vollkommen falsch. Selbstverständlich können Sie die Istzahlen von 2012 noch
nicht wissen. Ich fürchte, dass sie noch unter 4,4 Milliarden Euro liegen werden. Aber Sie können sehr wohl die
Istzahl von 2006 wissen. Sie ist nämlich schon 2006 zur
Kenntnis gebracht worden. Deswegen sind Sie sehr wohl
in der Lage, Äpfel mit Äpfeln und Birnen mit Birnen zu
vergleichen, und müssen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Das ist unseriös; das wissen Sie auch.
({0})
Herr Vogel, es ist wirklich Quatsch mit Soße, wenn
Sie sagen, man dürfe den Gesetzentwurf zur Instrumentenreform nicht mit dem Finanztableau in Einklang bringen. Sie selber haben das zusammen vorgelegt. Sie machen das in Teilen sogar instrumentenscharf.
Im Zusammenhang mit dem Gründungszuschuss
schreiben Sie in das Gesetz hinein, dass hier 5 Milliarden Euro eingespart werden. Gleichzeitig sagen Sie hier,
wir dürften das nicht in einem Kontext sehen. Da lacht
doch wirklich die Koralle, die schon lange nicht mehr zu
Wort gekommen ist.
({1})
Sie machen eines der wirksamsten Instrumente der
aktiven Arbeitsmarktpolitik kaputt. Herr Vogel und Herr
Weiß, das sehe nicht nur ich so. Das sehen doch auch
Ihre Parteikollegen so. Die schwarz-gelbe Koalition in
Bayern hat angekündigt, den Veränderungen, die Sie
beim Gründungszuschuss angekündigt und im Gesetzentwurf festgelegt haben, nicht zuzustimmen. Der gesamte Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik des Bundesrates hat gesagt:
Beim Gründungszuschuss handelt es sich um ein
erfolgreiches Instrument der Arbeitsförderung, das
… nicht verkürzt oder verschlechtert werden darf.
… Gerade beim Gründungszuschuss handelt es sich
um ein Instrument, das direkt in Erwerbstätigkeit
führt, die Chance bietet, dass weitere sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geschaffen wird,
und gleichzeitig auch wirtschaftspolitische Impulse
setzt.
Das ist eine kluge Empfehlung des Ausschusses. Die
Kritik an Ihrer Politik ist vollkommen berechtigt. Auch
Ihre Ministerinnen und Minister haben dieser Empfehlung zugestimmt.
({2})
Im Koalitionsvertrag versprechen Sie, Deutschland zu
einem Gründerland werden zu lassen. Sie wollen sogar
eine Gründerkampagne machen. Was sollen denn die Arbeitslosen dazu sagen? Sind sie Gründer zweiter Klasse?
Der Gründungszuschuss im Jahre 2010 hat allein bei den
Gründern, also nur bei denjenigen, die für sich selbst Arbeitsplätze geschaffen haben, 146 500 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Diese Gründer haben zusätzliche
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
in einer Größenordnung von über 100 000 geschaffen.
Mit anderen Worten: 250 000 neue, zusätzliche Arbeitsplätze werden durch Ihre Politik gefährdet.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiß?
Aber gerne.
Frau Kollegin Pothmer, 13980
Herr Kollege Weiß!
({0})
- da Ihre Partei Bündnis 90/Die Grünen tendenziell
immer noch besonders gern mit den Sozialdemokraten
koalieren möchte Brigitte Pothmer ({0}):
Das liegt aber nicht an den Sozialdemokraten. Das
liegt an Ihnen.
({1})
- gut, ich nehme diese Liebeserklärung zur Kenntnis und die Frau Kollegin Mast darum gebeten hat, dass die
wissenschaftliche Begleitforschung zu den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten auch wirklich ernst genommen
wird, frage ich Sie, was Sie zu der Untersuchung des
IAB sagen, nach der beim Gründungszuschuss ein Mitnahmeeffekt von bis zu 75 Prozent festzustellen ist, dass
also öffentliches Geld verausgabt wird, das man für diesen Zweck gar nicht hätte verausgaben müssen. Warum
wollen Sie diese Feststellung des IAB schlichtweg nicht
zur Kenntnis nehmen?
Lieber Herr Weiß, das IAB hat diese Feststellung nie
getroffen. Das IAB hat sich presseöffentlich darüber beschwert, dass die Bundesarbeitsministerin angebliche
Forschungsergebnisse des IAB instrumentalisiert, um
ihre Kürzungspolitik zu rechtfertigen. So weit zu Ihrer
sauberen wissenschaftlichen Arbeit.
({0})
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Mast?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Pothmer, sind Sie mit mir der Meinung,
dass das IAB in seinem Kurzbericht 11/2011 Folgendes
festgehalten hat:
Eingliederungszuschüsse, betriebliche Trainingsmaßnahmen und die Gründungsförderung haben
besonders positive Effekte …
Meines Wissens findet sich das auf der Titelseite des
IAB-Berichts. Haben Sie wissenschaftliche Belege dafür, dass man den Vermittlungsgutschein weiterführen
soll?
Der Vermittlungsgutschein ist ein Instrument, gegen
das wir uns nicht wehren. Es ist aber schon sehr auffällig, dass die Lobbyistenpolitik der FDP
({0})
dieses eine Instrument eben nicht zu einer Pflichtleistung
gemacht hat. Es ist vielmehr eine Ermessensleistung und
stellt insoweit eine Ausnahme dar.
({1})
Aber gegen die Vermittlungsgutscheine an sich setze ich
mich nicht zur Wehr.
Was das Forschungsergebnis des IAB angeht, würde
ich Sie doch bitten, nicht mir diese Information zur
Kenntnis zu geben, sondern dem Kollegen Weiß. Der hat
da eine echte Wissenslücke.
({2})
Ich habe jetzt nur noch sehr wenig Redezeit. Lassen
Sie mich noch eines sagen: Diese Instrumentenreform ist
doch auch eine sehr wichtige Weichenstellung für die
Behebung des Fachkräftemangels. Das, was Sie in Sachen Fachkräftemangel vorgelegt haben, ist ein 30-seitiger Besinnungsaufsatz. Sie reden zwar davon, dass Sie
Migranten, Ältere und Frauen verstärkt in den Arbeitsmarkt bringen wollen. Sie nennen aber keine Instrumente, und Sie unterlegen das auch nicht mit Mitteln.
Das sind Appelle, von denen sich die Leute nichts kaufen können. Sie brauchen handfeste Unterstützung. Das
- das sage ich an dieser Stelle noch einmal - sehen die
Länder genauso, ebenso die Verbände und die arbeitsmarktpolitischen Experten. Ich bitte Sie an dieser Stelle:
Stellen Sie sich nicht gegen diese Expertisen. Stellen Sie
sich hinter die Arbeitslosen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir über das Thema Arbeitsmarkt heute
in der Aktuellen Stunde schon sehr ausführlich gesprochen haben, haben wir uns in einer Art ABM nunmehr
mit diesem Antrag der SPD auseinanderzusetzen.
({0})
Die SPD möchte nicht über die Erfolge reden, sondern
springt, liebe Kollegin Mast, in einer negativen Art und
Weise in diese Debatte, die wir nicht ganz nachvollziehen können. Aber während der Regierungszeit von RotGrün blühte nicht die Wirtschaft, sondern die Arbeitslosigkeit. Wenn Sie sich jetzt als Lobby für aktive Arbeitsmarktpolitik darstellen wollen, dann muss ich sagen
- seien Sie mir nicht böse -: Bei über 5 Millionen Arbeitslosen und einer Quote von 13 Prozent ist das eher
eine Lobby des Versagens. Die Zahlen zur gegenwärtigen Lage wurden heute oft genannt. Das zeigt, wie wichtig richtige Politik und richtige Rahmenbedingungen für
die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sind. Es ist eben
nicht egal, wer regiert, wie es heute Nachmittag anklang,
als es hieß: Es ist egal, wer regiert; die Lage wird besser. Nein, weil wir regiert haben, ist es besser geworden. Wo
Schwarz-Gelb regiert - ich nenne nur Bayern im Vergleich zu Berlin -, ist die Lage deutlich besser, um nicht
zu sagen: gut.
({1})
Wir haben letzte Woche über den Gesetzentwurf der
Bundesregierung diskutiert. Wir haben schon festgestellt, liebe Kollegin Mast, dass die Langzeitarbeitslosigkeit sehr wohl zurückgeht. Sie haben heute vorsichtigerweise die Zahlen von letztem Freitag nicht wiederholt;
denn wir haben festgestellt, dass die Zahlen, mit denen
Sie letzten Freitag operiert haben, nicht richtig waren.
Uns geht es darum, Langzeitarbeitslose zu mobilisieren
und in Arbeit zu bringen. Erste Erfolge zeigen sich in der
Konjunktur. Eine gute Konjunktur ist auch immer eine
Frage der Struktur von Arbeitslosigkeit.
({2})
Wenn Sie von Kahlschlag oder Rotstift reden, dann
kann ich nur sagen: Auch dies ist falsch. Das haben wir
ebenfalls letzte Woche diskutiert. Wir führen gerne jede
Woche eine Debatte als Nachhilfe für die SPD in Zahlenlehre.
Liebe Kollegin Kipping, wenn Sie sagen, bei Ihnen
stehe der Mensch im Mittelpunkt, dann entgegne ich
sehr deutlich: Nach unserer christlichen Soziallehre steht
sehr wohl der Mensch im Mittelpunkt. Bei Ihnen ist es
nichts anderes als die rote Ideologie.
({3})
Ich glaube, unser Hauptaugenmerk muss auch auf der
Sicherung des Fachkräfteangebots liegen. Das wird eine
der großen Herausforderungen der nächsten Monate und
Jahre, damit die gute Konjunktur nicht ins Holpern
kommt. Ich glaube, dass wir auch dort mit den angedachten Maßnahmen zur Bildungsinitiative und Berufsbildung vorankommen. Wir müssen uns darum bemühen, dass die Zahl der Hochschulabbrüche sinkt, und wir
müssen vor allem dafür sorgen, dass weniger Hochqualifizierte unser Land verlassen.
Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang auch
in den Anhörungen über die Instrumente hinaus viel zu
diskutieren haben. Ich freue mich auf die sachliche Auseinandersetzung
({4})
und glaube, dass sie uns weiterbringt als die wöchentliche Wiederholung der Debatte über vergleichbare Anträge mit gleichem Inhalt.
Lassen Sie uns in der Sache arbeiten. Die Struktur der
Langzeitarbeitslosigkeit ist nicht festgezurrt. Wir haben
in der jetzigen Konjunktur eine echte Chance. Das bedeutet auch, Instrumente neu auszurichten, finanzielle
Mittelströme zu überprüfen und das eine oder andere Instrument in diesem Zusammenhang effektiver zu gestalten. Ich bin mir sicher, dass das gelingen wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Gabriele Lösekrug-Möller für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir haben heute Nachmittag
eine Aktuelle Stunde zur Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt durchgeführt. Ich kam mir vor wie beim Schützenfest in Niedersachsen; denn die Beiträge hatten ein
Niveau wie im Bierzelt.
({0})
Ich bedauere das ausdrücklich. Es gibt mehr als 4 Millionen Menschen in Deutschland, die sich Teilhabe durch
Arbeit, und zwar durch gute Arbeit, wünschen. Ich weiß
nicht, wie sich diese Menschen fühlen müssen, wenn sie
gehört haben, auf welchem Niveau hier heute Nachmittag diskutiert wurde.
({1})
Ich freue mich, dass unter anderem auch aufgrund unseres Antrags der eine oder andere Beitrag beginnt sich davon abzuheben; denn diese Menschen haben das verdient.
Herr Kollege Weiß, Sie haben Martin Brussig zitiert.
Sie haben auf die Untersuchung abgehoben, die die
Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht hat. Sie haben sich
an die Brust geheftet, dass Sie es geschafft haben, mehr
Ältere auf dem Arbeitsmarkt in Beschäftigung zu bringen. Es wäre gut gewesen, Sie hätten uns den ganzen
Satz zur Kenntnis gegeben. Das ist nämlich nicht ein Erfolg Ihrer Arbeitsmarktpolitik, sondern: Kohorten älter
als 50 drängen stärker auf den Arbeitsmarkt.
({2})
Das ist etwas, an dem nicht einmal Kanzlerin Merkel
persönlich einen Anteil hat.
Wenn Sie darstellen, wie wunderbar Ihre Politik allen
geholfen hat, die in Beschäftigung gekommen sind, dann
will ich Ihnen sagen: Ich habe da so eine Idee, woran das
liegt. Das lag daran, dass wir konjunkturpolitisch die
richtigen Weichen gestellt haben. Wissen Sie, wer mir da
einfällt? Herr Scholz, Herr Steinmeier, Herr Steinbrück.
({3})
Ehrlich gesagt: Die verorte ich alle bei den Sozialdemokraten und nicht bei Ihnen.
({4})
Insofern finde ich: Was wir mit unserem Antrag vorschlagen, ist die konsequente Fortentwicklung einer
Politik, die denen Hilfe zuteilwerden lässt, die sie verdient haben. Latent - latent! - schimmert bei Ihnen
durch: Den Langzeitarbeitslosen muss man nicht nur unter die Arme greifen; sie brauchen geradezu Druck, dass
sie in Beschäftigung kommen.
({5})
Sie wissen, dass das nicht der Fall ist. Deshalb möchte
ich all denen, die sich jahrelang um Arbeit bemühen, sagen: Dieses Bemühen erkennen wir an, wir respektieren
das. Wir wollen helfen. Das ist die Zielrichtung unseres
Antrags.
({6})
Meine Kollegin Mast hat schon Herrn Weise zitiert.
Den würde ich auch nicht gerade in unseren Reihen zu
Hause sehen. Er hat recht, wenn er sagt: Jetzt haben wir
eine Chance, Arbeitsmarktpolitik so zu machen, dass
Langzeitarbeitslose einen Vorteil davon haben können. Aber was machen Sie? Strukturell ziehen Sie blank, was
den Haushalt anbelangt; Frau Hagedorn hat doch recht.
({7})
Wenn Sie meinen, Sie könnten auf der einen Seite Instrumente reformieren und auf einer ganz anderen Seite,
kilometerweit entfernt, Milliarden kürzen,
({8})
dann kann ich nur sagen: Beides kommt bei den Menschen an. Das Resultat vor Ort ist: Was vorher ein
Rechtsanspruch war, wird zur Ermessensleistung. Die
Fallmanager haben das Ermessen, Nein zu sagen, wenn
sie eigentlich gute Lösungen vorschlagen wollen.
({9})
Das ist ärgerlich. Ich finde, das ist auch Augenwischerei.
Ich will Ihnen noch etwas zum Thema Fachkräfte sagen; denn es stimmt ja - das wurde mehrfach angesprochen -: Wir haben schon einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Ihre Politik trägt dazu bei, dass diese Spaltung
massiv voranschreitet. Wir haben einen Fachkräftemangel, schon akut im Bereich von Pflege und Erziehung.
Fachkräftebedarf haben wir ohne Ende, zukünftig stärker auch in anderen Branchen. Es gab ein Zitat dazu.
Ihre Kanzlerin hat einmal gesagt: Man kann nicht aus jedem Langzeitarbeitslosen einen Ingenieur machen. Lassen Sie sich das einmal auf der Zunge zergehen! Damit hat sie vielleicht sogar ein bisschen recht, aber ich
sehe: Auf der Strecke vom Langzeitarbeitslosen zum Ingenieur liegen zehn Berufe, für die man qualifizieren
kann, die am Ende ein ordentliches Einkommen erzeugen, wenn es denn gute Arbeit ist. Darum sollten wir uns
bemühen.
({10})
Insofern ist unser Antrag - wir haben es gesehen - bitter
notwendig. Ich freue mich auf die Debatte.
Eines will ich Ihnen noch sagen, Herr Vogel. Sie haben am Mittwoch im Ausschuss so nett gesprochen von
narrativer Evidenz; Sie werden sich erinnern.
({11})
- Nein, Sie haben „narrativ“ gesagt; „anekdotisch“ war
das nicht. - Gelegentlich habe ich ein Wort im Kopf,
wenn ich Sie höre, und das hat zu tun mit juveniler Arroganz.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, insbesondere von Bündnis 90/Die Grünen und von
der SPD, ich finde es ein bisschen schade, dass Sie die
gesamte Diskussion um die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente blockieren, indem Sie permanent versuchen, den Menschen Angst zu machen mit der
Behauptung, wir würden unangemessene Kürzungen im
Haushalt bei den Mitteln für die aktive Arbeitsmarktpolitik vornehmen.
({0})
Es ist ja richtig, dass wir die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückführen. Aber dies ist kein
Grund, den Menschen Angst zu machen.
Frau Mast, Frau Lösekrug-Möller und Frau Pothmer,
was dahinter steckt, möchte ich Ihnen an einem einfachen Beispiel erläutern:
({1})
Wenn Sie einen Kuchen für acht Personen backen, dann
brauchen Sie weniger Eier, Mehl und Milch, als wenn
Sie einen Kuchen für 16 Personen backen. Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, dann brauchen Sie weniger finanzielle Mittel, um diese Menschen in Arbeit zu bringen.
({2})
Es zeigt unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen, dass wir auf diese Weise den Bundeshaushalt
gestalten.
({3})
Je weniger Menschen auf aktive Arbeitsmarktpolitik angewiesen sind, desto weniger Geld müssen wir einsetzen.
Wichtig ist aber festzustellen, dass wir in jedem Fall
mehr Geld für die Menschen ausgeben, als Sie von
Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD in Ihrer gemeinsamen Koalition je bereit waren, zu geben. Man
muss dabei bedenken, dass es nicht um die absolute
Höhe geht, sondern darum, wie viel jeweils für den Einzelnen zur Verfügung steht. Sie waren bereit, während
Ihrer Regierungszeit etwa 1 500 bis 1 600 Euro pro
Langzeitarbeitslosen zur Verfügung zu stellen. Wenn
man das mit dem vergleicht, was wir aktuell im Jahr
2011 zur Verfügung stellen, nämlich 1 980 Euro, dann
sieht man daran, dass wir mehr für den Einzelnen tun als
Sie zu Ihrer Regierungszeit.
({4})
Ich würde mich für die Menschen, die auf aktive Arbeitsmarktpolitik angewiesen sind, freuen, wenn Sie sich
an der Sachdebatte über die einzelnen Instrumente beteiligen würden und diese Diskussion nicht mit dem Vorwurf belasten würden, wir würden hier Kahlschlag betreiben oder in unangemessener Form kürzen.
({5})
Das ist nicht der Fall. Wir machen eine verantwortliche
Arbeitsmarktpolitik. Vor allen Dingen schaffen wir mit
unserer Politik die Voraussetzung dafür, dass die Arbeitsmarktpolitik überhaupt wirksam werden kann.
Durch eine kluge und verantwortungsvolle Wirtschafts-,
Finanz- und Steuerpolitik schaffen wir Anreize für Investitionen, die dann zur Schaffung von Arbeitsplätzen
führen. Durch eine gute Bildungspolitik in den Ländern,
in denen wir zusammen mit der Union regieren, erzielen
wir gute Ergebnisse bei der Schulausbildung der Jugendlichen.
({6})
Das ist später die Voraussetzung dafür, ohne staatliche
Unterstützung und ohne Unterstützung durch die Arbeitsmarktpolitik in Arbeit zu kommen.
Wir können es einfach, und Sie konnten und können
es nicht.
({7})
Wir sind besser.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Paul Lehrieder das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die letzten Wochen unserer Ausschussarbeit waren durch eine Vielzahl freudiger Ereignisse gekennzeichnet. Die Kollegin Mast hat vor wenigen Tagen
geheiratet. Frau Mast, bei allen Unterschieden in der Sache gratuliere ich Ihnen an dieser Stelle sehr herzlich
zum Einlaufen in den Hafen der Ehe.
({0})
Aus gleichem Anlass gratuliere ich dem Kollegen Kolb.
Auch wenn wir uns manchmal streiten, werden solche
persönlichen Ereignisse hier honoriert.
({1})
Mindestens genauso wichtig wie diese persönlichen
Ereignisse war das Angehen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
({2})
- Ich will warten, bis die Heiterkeit der Kollegin Mast
abgeklungen ist, damit sie sich auf meine Ausführungen
konzentrieren kann. Diese werden aber nicht mehr so
heiter sein.
({3})
Jetzt kommt die SPD mit ihrem nachgehechelten Antrag, um direkt nach der Sommerpause eine Ausschuss13984
anhörung durchführen zu können. Frau Kollegin Mast,
in Ihrem Antrag klingt es am Anfang ganz gut:
Fairness ist der Schlüssel für gute Arbeit. … Trotz
des wirtschaftlichen Aufschwungs, der derzeit nach
der schweren Krise der letzten Jahre ordentlich in
Fahrt kommt, ist Fairness … noch lange nicht erreicht.
Jetzt geht Ihr Lamento wieder los. Sie attestieren
aber: Der Aufschwung ist da, er ist ordentlich in Fahrt
gekommen. Sie haben während der Großen Koalition
diesbezüglich sicherlich auch nicht viel falsch gemacht.
Diesen Aufschwung hat die christlich-liberale Koalition
weiter begleitet.
Meine Damen und Herren, Sie monieren in Ihrem Antrag:
… jungen Menschen, Frauen, Migrantinnen und
Migranten … wird der Zugang zu Arbeit und Beschäftigung oftmals erschwert.
Einige Vorredner haben dazu bereits Ausführungen
gemacht. Die beste Erleichterung für den Zugang zu Arbeit gerade bei den von Ihnen angesprochenen Gruppen
ist natürlich die Schaffung von ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten, also die Schaffung eines gut funktionierenden und brummenden Arbeitsmarktes. Wenn Sie sich
den Arbeitsmarkt anschauen, dann stellen Sie fest: Die
Arbeitslosigkeit liegt im Westen bei 5,8 Prozent; das
sind 1,9 Millionen Arbeitslose. Im Vergleich zum letzten
Jahr sank sie um immerhin 200 000, im Osten um
55 000.
({4})
Wir haben also seit Jahresfrist für eine Viertelmillion
Menschen neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies reduziert
natürlich die Zahl der von Ihnen angesprochenen Problembereiche.
({5})
Heute Nachmittag stand hier ein Redner der SPD am
Pult - den Namen weiß ich nicht mehr; so ähnlich wie
Barthel oder so -,
({6})
kein Arbeitsmarktpolitiker - den hätten Sie lieber nicht
reden lassen sollen; da hätten Sie besser Toni Schaaf genommen oder jemanden, der etwas von der Sache versteht -, der sagte: In Bayern sind die regionalen Unterschiede ähnlich wie auf Bundesebene. - Ich habe mir
einmal die Zahlen für Bayern herausgesucht und möchte
- Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis - ein bisschen daraus vorlesen: In Bayern haben wir zugegebenermaßen
auch Bereiche, bei denen die Arbeitslosigkeit über
5 Prozent liegt.
({7})
- Hören Sie halt zu, Frau Kramme. Sie wissen das doch,
Menschenskind; Sie kommen doch auch aus Bayern. Sie
müssen froh sein; darüber können Sie sich gemeinsam
mit uns freuen, zum Kuckuck.
({8})
Wir haben aber auch Landkreise wie Freising mit
1,8 Prozent, Erding mit 1,9 Prozent, Pfaffenhofen an der
Ilm mit 1,9 Prozent, Neuburg-Schrobenhausen mit
1,8 Prozent und meinen eigenen Landkreis Würzburg
mit 2,6 Prozent. Das heißt, wir haben eine Supersituation, um hier geschwind neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Nach der Strukturreform im Hartz-IV-Bereich gehen wir
nun daran, geschwind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente voranzubringen. Wirtschaft schafft Arbeitsplätze
- das hatte ich gerade ausgeführt -, und wir setzen die
Rahmenbedingungen dafür.
Warum zieht sich die SPD aus der Agenda 2010, die
sie in besseren Zeiten auf den Weg gebracht hat, zurück?
Kollege Müntefering hat die Rente mit 67 eingeführt.
({9})
Es gibt auch gute Sozialdemokraten, die wissen, wie es
geht.
({10})
Die Wirtschaft hat seit 2009 Vertrauen gefasst. Das ist
der wichtigste Beitrag unserer Koalition.
({11})
Damit aber nicht genug. Wir verbessern mit der Reform
der arbeitsmarktpolitischen Instrumente die Möglichkeiten der Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist
ein gutes Gesetz. Dem können Sie eigentlich auch zustimmen.
Gestern kam der Antrag der SPD. Er wird den Herausforderungen am Arbeitsmarkt in keinster Weise gerecht. Er ist ein typisches SPD-Papier, aus meiner Sicht
konfus und wenig ausgewogen. Die SPD will bei sinkender Arbeitslosigkeit mehr Geld pro Kopf ausgeben. Die
Berechnungen - ich habe sie in meinem Skript - kann
ich Ihnen vorhalten: Wir haben 2006 im Schnitt
1 600 Euro pro Kopf ausgegeben und 2010 im Schnitt
2 400 Euro pro Kopf. Liebe Frau Kollegin Pothmer, wir
sollten jetzt nicht die Zahlen für 2012 antizipieren.
({12})
Lassen Sie uns die Istzahlen berücksichtigen, dann funktioniert das.
Frau Kollegin Kipping, Sie haben moniert, dass wir
den Werkzeugkasten aufgeräumt haben.
({13})
- Sortiert, aufgeräumt, Frau Kollegin. Die wichtigsten
Werkzeuge sind noch drin. Da brauchen Sie keine Angst
zu haben. - Gleichzeitig haben Sie gesagt, Sie hätten
beim Tapezieren Ihren Schraubenzieher vermisst. Ich
würde mir wirklich gerne vorstellen, wie die Frau Kollegin Kipping beim Tapezieren mit dem Schraubenzieher hantiert. Wir haben jetzt aber ein sogenanntes
Leatherman-Messer im Werkzeugkasten, ein Messer
mit mehreren Werkzeugen, das es dem Jobcenter-Mitarbeiter vor Ort ermöglicht, selbst zu entscheiden, mit
welchem - bildlich gesprochen - Werkzeug er welche
Maßnahme auf den Weg bringt. Damit ist dem Arbeitslosen, auch dem Langzeitarbeitslosen mehr geholfen als
mit populistischen Anträgen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Präsident, ich habe noch nicht einmal eine Minute überzogen.
({0})
Meine Damen und Herren, glauben Sie uns: Nach der
Sommerpause werden wir mit Ihnen
Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kommen.
- in einer dreistündigen Anhörung über die Anträge
diskutieren, und dann begleiten Sie uns.
Herzlichen Dank. - Herr Präsident, danke für Ihren
Langmut.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6454 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes
und eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 17/6291 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/6496 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Raju Sharma
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen!
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei.
So lautet Art. 21 unseres Grundgesetzes. Die demokratischen Parteien unseres Landes sind Kernbestandteil unserer parlamentarischen Demokratie. Durch ihre zumeist
breite Verankerung auf kommunaler Ebene, auf Landesebene und im Bund schaffen sie letztlich die entscheidende Stabilität für Demokratie und Freiheit. Dabei wird
häufig übersehen, dass die politische Nachwuchsgewinnung ganz überwiegend über die örtliche Basis, also von
unten nach oben, erfolgt.
Der Wert unserer Parteien in der Demokratie wird uns
als Bundestagsabgeordnete im Alltagsgeschäft oft erst
dann richtig bewusst, wenn wir nichtdemokratische Länder besuchen - das ist leider die große Mehrheit - und
wir dann hören, wie sehr man uns um unsere parlamentarische Demokratie und die partei- und gesellschaftspolitische Vielfalt beneidet, für die in vielen Ländern mit
Leib und Leben gekämpft wird.
({0})
Es ist richtig, dass wir uns schon vor vielen Jahren für
eine staatliche Teilfinanzierung entschieden haben.
Diese haben wir seit nunmehr bereits neun Jahren in unveränderter Höhe belassen,
({1})
obwohl sich die Aufgaben und Anforderungen verändert
und vergrößert haben. Es gäbe jetzt viel dazu zu sagen,
auf welchen Aufgabengebieten wir noch besser werden
müssen. Aber das ist die Situation.
Mit der jetzigen Erhöhung der allgemeinen Obergrenze der Finanzierung gehen wir einen maßvollen
Schritt. Das gesetzlich mögliche Volumen schöpfen wir
nicht aus und bleiben somit in einem gut vertretbaren
Rahmen. Wir sprechen insgesamt über eine Größenordnung - für alle Parteien auf allen Ebenen im ganzen
Land - von 141,9 Millionen Euro bzw. 150,8 Millionen
Euro. Wenn man das auf den Bundeshaushalt bezieht,
sieht man, dass wir uns hier im Promillebereich bewegen.
Ich komme zur Änderung des Abgeordnetengesetzes.
Die Erhöhung der Diäten ist immer ein sensibles Thema;
dessen sind wir uns alle bewusst. Es ist allerdings ein
Thema, das bei weitem nicht so häufig vorkommt, wie es
die Diskussion in den vergangenen Jahren oft hat er13986
scheinen lassen. Der letzte Beschluss des Deutschen
Bundestages zur Erhöhung der Diäten erfolgte Ende
2007 zum 1. Januar 2009. Wir wollen nunmehr eine Erhöhung in zwei Schritten, und zwar zum 1. Januar 2012
sowie zum 1. Januar 2013, beschließen. Damit fand und
findet über einen Zeitraum von drei Jahren faktisch
keine Diätenerhöhung statt.
Um bei dem schwierigen Thema der angemessenen
Abgeordnetenbezahlung einen vertretbaren Maßstab zu
finden, haben wir uns richtigerweise schon Anfang der
90er-Jahre dazu entschieden, die Besoldung von Bürgermeistern kleinerer und mittlerer Städte als Maßstab zu
wählen. Diesen Maßstab haben wir übrigens in der Vergangenheit nie erreicht. Wir werden ihn auch künftig
nicht erreichen. So schwierig die Diskussion auch ist:
Wir haben eine große Verantwortung gegenüber dem
Parlament und seinen Abgeordneten in ihrer Gesamtheit.
Der Deutsche Bundestag und seine Abgeordneten
brauchen den Vergleich zu anderen Führungsaufgaben
und Verantwortlichkeiten nicht zu scheuen.
({2})
Das gilt in Bezug auf die Verantwortung für die gesamte
Gesetzgebung des Bundes, die Verantwortung der kritisch hinterfragenden Regierungskontrolle, die Verantwortung für Alternativen, die Verantwortung für die Detailarbeit und Kärrnerarbeit in den Ausschüssen und die
Aufgaben im wöchentlichen Spagat zwischen Berlin und
den Wahlkreisen, also die Kommunikation mit den Bürgern bei zahlreichen Terminen und Veranstaltungen.
Ein Aspekt kommt meines Erachtens immer etwas zu
kurz: 40 Prozent aller Bundestagsabgeordneten verlassen das Parlament bereits nach zwei Legislaturperioden.
Der Gesamtdurchschnitt liegt bei einer Verweildauer von
etwa zehn Jahren. Das heißt, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen für einen überschaubaren Zeitraum
ihre eigene Lebens- und Arbeitsbiografie unterbrechen,
um als Parlamentarier an der Entwicklung ihres Landes
und ihrer Heimat mitzuwirken. Auch deshalb haben wir
die Verpflichtung, einer letztlich immer befristeten Verantwortung eine adäquate Vergütung gegenüberzustellen.
Wer sich für die Politik entscheidet, der tut das nicht
des Geldes wegen.
Das sieht man im Übrigen auch daran, dass bei den allermeisten Kolleginnen und Kollegen dem Einzug in den
Deutschen Bundestag ein jahrelanges ehrenamtliches
Engagement auf den unterschiedlichen Ebenen vorausging.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit der maßvollen Anpassung der Abgeordnetenvergütung werden wir
einerseits der Vorgabe unseres Grundgesetzes bezüglich
einer angemessenen und die Unabhängigkeit sichernden
Entschädigung und andererseits den Erwartungen der
Bürger und der Öffentlichkeit in Bezug auf Vernunft und
Augenmaß durchaus gerecht.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Dieter Wiefelspütz für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe acht Minuten Redezeit. Das ist an dieser Stelle viel zu viel. Über die Fragen, die uns heute beschäftigen, haben wir schon vor einer Woche ausreichend, angemessen und präzise gesprochen. Wir haben
es heute mit einer Vorlage zu tun, die vor einer Woche
ausgereift und gut war. Sie ist es auch heute noch, und
sie verdient eine breite Zustimmung in diesem Hohen
Hause.
({0})
Sogar von Porsche-Klaus würde ich mir wünschen, dass
er zustimmt, schon wegen der gestiegenen Benzinpreise.
({1})
Aber ganz ernsthaft: Die Vorlage ist ausgewogen. Im
Bereich des Parteiengesetzes - Kollege Kaster hat schon
darauf hingewiesen - haben wir in Deutschland das System einer staatlichen Teilfinanzierung, die sich für die
Parteien auf das Notwendigste beschränken muss. Die
Parteien sind in unserem Lande nicht alleine auf der
Welt. Sie sind Teil unseres Verfassungsstaates und verdienen eine angemessene Förderung.
Ich glaube, dass wir heute einen Fehler korrigieren.
Neun Jahre lang haben wir die staatliche Parteienfinanzierung nicht verändert. Dadurch haben wir im Deutschen
Bundestag dazu beigetragen, dass sich die strukturellen
Arbeitsbedingungen für die Parteien eher verschlechtert
haben. Das korrigieren wir heute mit Augenmaß.
Ich will darauf hinweisen, dass wir durch die Indexierung - durch einen Kostenindex, bei dem in Zukunft
Kostensteigerungen, wie etwa Tarifabschlüsse im Personalbereich, berücksichtigt werden - diese Defizite nicht
wieder auflaufen lassen werden. Dieser Index ist eine
ganz wichtige Errungenschaft, die wir vonseiten der
SPD-Fraktion sehr begrüßen. Er ist ein Beitrag zu vernünftigeren Regelungen im Bereich der staatlichen Teilfinanzierung.
({2})
Ich danke sehr dafür, dass das gelungen ist. Wir werden
dem heute mit breiter Mehrheit zustimmen.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu dem Thema Abgeordnetenentschädigung sagen. Ich möchte noch einmal wiederholen: Als Abgeordnete verfügen wir über
ein ordentliches Gehalt. Die meisten der Bürger, die uns
wählen, haben deutlich geringere Arbeitseinkünfte; das
ist richtig. Andererseits: Reich werden wir in unserem
Amte nicht. Das muss auch nicht sein. Wer hier nicht
wirklich mit Leidenschaft bei der Sache ist, der hat diesen Platz ohnehin nicht verdient. Die Arbeit funktioniert
nur, wenn man wirklich mit Leidenschaft dabei ist.
Wir haben ein ordentliches Gehalt; mehr muss auch
nicht sein. Es ist aber vernünftig und sachgerecht, dass
dieses Gehalt um 1 bis 2 Prozent pro Jahr angehoben
wird. Genau das machen wir mithilfe der gesetzlichen
Regelung in dieser Wahlperiode. Bezogen auf vier Jahre
bedeutet das eine Anhebung unseres Bruttogehalts um
knapp 2 Prozent. Das ist ausgewogen und angemessen.
Herr Kollege Schreiner, das ist für alle über 600 Mitglieder dieses Hauses angemessen; es ist vernünftig und
überlegt.
Deswegen ist die öffentliche Reaktion auch entsprechend angemessen. Es gibt kein Potenzial für eine Skandalisierung und keine künstlichen Aufgeregtheiten. Deswegen, glaube ich, ist nicht zuletzt die öffentliche
Reaktion der Beweis dafür, dass wir eine vernünftige,
solide Gesamtregelung geschaffen haben.
Ich hoffe sehr, dass uns eines Tages auch bei der Abgeordnetenentschädigung eine Indexierung gelingt. Vor
einer Woche habe ich in meiner ersten Rede darauf hingewiesen: Die beste Regelung auf diesem Sektor hat
Bayern. Daraus kann man einiges lernen, Herr Uhl. Bayern hat in seinem Landtag die beste Regelung getroffen;
denn im Index und bei der jährlichen Anpassung wird
die Einkommensentwicklung der bayerischen Bevölkerung sehr präzise abgebildet.
Wir wollen als Abgeordnete nicht mehr und nicht weniger. Wir wollen an der Einkommensentwicklung unseres Volkes teilhaben. Wenn die Situation eintreten sollte,
dass die Einkommensentwicklung des Volkes rückläufig
ist, dann sind wir selbstverständlich mit dabei;
({3})
ich wäre sehr damit einverstanden. Das ist doch auch
eine Frage von Gerechtigkeit. So etwas kann ein Index
sehr wohl leisten. Insoweit verspreche ich mir durchaus
noch den einen oder anderen Hinweis von dieser Kommission. Aber das, was wir heute hier beschließen, können wir guten Gewissens beschließen. Es ist ausgewogen, vernünftig und sehr in Ordnung.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz. - Jetzt
für die Fraktion der FDP Kollege Dr. Stefan Ruppert.
Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Abgeordneter, der diesem Hohen Haus erst seit
dieser Legislaturperiode angehört, muss man sich gut
überlegen, was man einer breiten Öffentlichkeit zum
Thema Diätenerhöhung sagt. Ich weiß nicht, wie der öffentliche Eindruck unserer heutigen Debatte sein wird,
wenn sich vier Fraktionen im Deutschen Bundestag einig sind.
Ich stelle aber fest, dass die Menschen, mit denen ich
diskutiere, sehr häufig sagen: Wir wünschen uns eigentlich den Typus des unabhängigen Politikers, des Politikers, der zuvor in einem anderen beruflichen Arbeitsfeld
Erfahrungen gesammelt hat, der jederzeit bereit und in
der Lage ist, in sein angestammtes klassisches Arbeitsfeld zurückzukehren. - Diesen Politikertypus, den man
sich in Sonntagsreden so oft wünscht und der sich aus
meiner Sicht unabhängig verhalten sollte, muss man aus
meiner Sicht auch adäquat bezahlen - nicht zu gut, aber
auch nicht zu schlecht.
({0})
Als jemand, der der FDP angehört und - ich sage das
einmal etwas freundlich - auch Umfragen kennt, mache
ich mir schon den einen oder anderen Gedanken, wie ein
Leben nach der Politik aussehen kann.
({1})
Sie fragen sich vielleicht, Herr Montag: Ist unser System
eigentlich durchlässig? Ist unser System so durchlässig,
dass wir den gewünschten Wechsel von der Privatwirtschaft - bei mir von der Wissenschaft - in die Politik
und zurück regelmäßig schaffen?
({2})
Da habe ich schon meine Zweifel, ob unsere Anforderungen an das typische Abgeordnetenprofil mit den Rahmenbedingungen einhergehen, die wir im Parlament
mitunter schaffen.
Ich glaube, es ist richtig, wenn wir die uns nun einmal
auferlegte Aufgabe, nämlich für eine adäquate Bezahlung der Abgeordneten zu sorgen, selbstbewusst und von
vorne - wie ich es sagen würde - verteidigen.
Herr Wiefelspütz hat richtig gesagt, die Erhöhung ist
angemessen. Sie sichert Unabhängigkeit. Sie sichert aber
auch, dass wir nicht auf die Idee kommen, uns vielleicht
noch in zu vielen anderen Tätigkeiten zu ergehen.
({3})
Ich will einen weiteren Aspekt bei der Parteienfinanzierung hervorheben. Wenn wir uns Länder in Europa
oder in der Welt daraufhin anschauen, wie sie ihre politischen Eliten oder ihre politischen Abgeordneten rekrutieren, dann wird aus meiner Sicht deutlich, dass die oft
geschmähten Parteien in Deutschland sehr wohl eine
gute Aufgabe bei der Rekrutierung politischen Personals
leisten.
({4})
Oft wird gesagt: Parteien, das sind verfilzte Organisationen mit mangelnder innerparteilicher Demokratie. Da
werden Hinterzimmerentscheidungen getroffen, die
nicht transparent gemacht werden können. - Die repräsentative Demokratie gerät unter einen gewissen Verdacht.
Wenn Sie aber sehen, wer in Italien, in den USA oder
in anderen Ländern dieser Welt wirklich Mandate erringt, welche persönlichen Voraussetzungen er erfüllen
muss, wie viel Geld er sammeln muss
({5})
und wie viel Spenden er einwerben muss, dann ist festzustellen: Unsere Parteien leisten, wie ich finde, einen
sehr guten Dienst bei der Rekrutierung des politischen
Personals. Auch das will ich an dieser Stelle einmal
selbstbewusst sagen.
({6})
Wer diese Parteien nicht in Abhängigkeit von einseitigen Finanzierungsquellen bringen will, der muss eben
dafür sorgen, dass die drei Säulen der Parteienfinanzierung auch weiterhin tragen. Da sind zunächst die Mitgliedsbeiträge und Mandatsträgerbeiträge, die viele von
uns bezahlen. Da sind durchaus auch Spenden von natürlichen Personen sowie der Wirtschaft
({7})
und von Organisationen, und da ist die staatliche Parteienfinanzierung.
({8})
- Sie hatten bei der Debatte eigentlich niveauvoller angefangen, Herr Wiefelspütz. Wenn Sie jetzt wieder auf
dieses Niveau abgleiten, dann ist das eigentlich bedauerlich.
({9})
Die dritte Säule der Parteienfinanzierung ist Gegenstand der heutigen Beratung. Wir haben die Obergrenze
der staatlichen Parteienfinanzierung seit vielen Jahren
nicht angehoben. Wer eine solche Anhebung nicht will,
der muss irgendwann sagen, welche alternative Parteienfinanzierung oder welche alternative demokratische Organisationsform er sich für dieses Land vorstellt. Ich
glaube, die staatliche Finanzierung steht in einem ausgewogenen, sachgerechten Verhältnis.
Insofern sind beide Aspekte des heutigen Beratungsgegenstandes richtig: auf der einen Seite eine moderate,
die Unabhängigkeit des Abgeordneten sichernde Entschädigung, auf der anderen Seite eine ausgewogene
Parteienfinanzierung. Ich bin froh, dass auch die Oppositionsfraktionen der Grünen und der SPD nicht dem Reflex erlegen sind, sich aus kurzfristigen Erwägungen der
angemessenen Erhöhung zu verschließen. Ich bin froh,
dass wir eine verantwortungsvolle Opposition haben, die
uns in dieser Frage folgt. Dafür herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Raju Sharma. Bitte
schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! In dem von Ihnen allen vorgelegten
Gesetzentwurf haben Sie zwei Themen zusammengefasst - das ist schon gesagt worden -: die Änderung des
Parteiengesetzes und die Diätenerhöhung. Wir Linken
finden das bedauerlich, weil wir dem einen Teil des Entwurfes durchaus hätten zustimmen können. Dabei rede
ich nicht, wie Sie sich denken können, von der Diätenerhöhung, sondern ich spreche von der Änderung des Parteiengesetzes.
Die Parteien übernehmen nach unserer Verfassung
eine wichtige Aufgabe: Sie „wirken bei der politischen
Willensbildung des Volkes mit.“ Dafür brauchen wir
eine solide Form der Parteienfinanzierung. Wir haben
drei Säulen der Parteienfinanzierung - der Kollege
Ruppert hat es eben dargestellt -, die alle ordentlich aufgebaut sein müssen: erstens die Mitgliedsbeiträge, zweitens die Spenden und Mandatsträgerbeiträge - ich fasse
sie in einer Säule zusammen -, drittens die staatliche
Teilfinanzierung.
Wenn Sie in den Rechenschaftsbericht unserer Partei
schauen, dann werden Sie feststellen, dass wir ungefähr
40 Prozent unserer Gesamtfinanzierung mit Mitgliedsbeiträgen abdecken. Nun sind wir keine Partei, die über
große Finanziers oder sehr viele reiche Mitglieder verfügt.
({0})
- Wir verlangen von unseren Mitgliedern ganz einfach
ordentliche Mitgliedsbeiträge. Es ist kein Zufall, dass
wir als Linke bei unserer Klientel und unseren Mitgliedern - ({1})
- Herr Krings, kommen Sie jetzt nicht wieder mit den
SED-Milliarden, die niemand kennt, von denen niemand
weiß und die auch nie jemand finden wird! Raju Sharma
({2})
Der Punkt ist: Wir erheben von unseren Mitgliedern ordentliche Mitgliedsbeiträge, im Monat durchschnittlich
10 Euro und mehr. Damit haben wir von allen im Bundestag vertretenen Parteien die höchsten Durchschnittsbeiträge.
({3})
Wenn die CSU die gleichen Beiträge erheben würde wie
wir, dann wäre sie nicht auf die Spenden von Großunternehmen, von Versicherungen und so etwas, angewiesen;
all das wäre gar nicht nötig.
({4})
- Hören Sie einfach einmal zu, Herr Krings!
40 Prozent unserer Parteienfinanzierung basieren also
auf Mitgliedsbeiträgen. Ungefähr 20 Prozent der Finanzierung basieren auf Spenden und Mandatsträgerbeiträgen; natürlich zahlen wir Bundestagsabgeordnete ordentliche Mandatsträgerbeiträge.
({5})
- Wer spendet an die Linke? Das sind nicht die großen
Unternehmen, sondern Menschen, die unsere Politik gut
finden,
({6})
die etwas Gutes tun wollen, die ihren mühsam ersparten
Arbeitergroschen einsetzen, um uns und unsere gute Sache zu unterstützen.
({7})
Das passiert tatsächlich. So kommt es, dass ich als Bundesschatzmeister auch in diesem Jahr mehrere Tausend
Zuwendungsbescheide unterschreiben konnte, und zwar
oft über Zuwendungen in der Größenordnung von 3, 5
oder 10 Euro.
({8})
Andere Parteien machen das anders; sie müssen nur
wenige Zuwendungsbescheinigungen unterschreiben.
Da gibt es irgendwie auf einmal sechsstellige Beträge
({9})
von Panzerherstellern.
({10})
- Ja, natürlich. Wenn wir nicht dieses aktuelle Beispiel
hätten, hätte ich natürlich wieder das Beispiel Mövenpick gebracht. Dann hätte Herr Ruppert aus nachvollziehbaren Gründen gesagt: Das ist langweilig, weil wir
es oft genug gehört haben. - Ich finde, man kann es nicht
oft genug hören. Es ist nach wie vor eine Schweinerei
- Entschuldigung, das war jetzt unparlamentarisch -; es
ist nach wie vor nicht in Ordnung, dass eine Partei zunächst einmal Großspenden einnimmt und dann eine
Politik macht, die zu dem Spender passt. So geht das
einfach nicht; das macht den Glauben der Menschen an
den Parlamentarismus kaputt.
({11})
Die dritte Säule ist die staatliche Teilfinanzierung. Sie
ist wichtig; wir brauchen sie. Deswegen ist auch die Erhöhung der Teilfinanzierung wichtig.
Ich will kurz etwas zur Diätenerhöhung sagen. Sie
alle haben gesagt, sie sei notwendig. Wir von der Linken
haben eine grundsätzlich andere Auffassung. Wir sagen,
dass Erhöhungen um 3,7 bis 3,8 Prozent angesichts der
geringen Erhöhungen der Löhne, der Renten und des
BAföGs in der Bevölkerung einfach nicht vermittelbar
sind.
({12})
Deswegen lehnen wir das ab.
Wir finden es gut, dass eine Kommission eingerichtet
wird, die das Ganze überprüft. Das ist notwendig, und
man sollte das machen. Man muss aber erst die Kommission einsetzen und die Ergebnisse abwarten. Dann kann
man daraus die richtigen Schlüsse ziehen. So wird ein
Schuh daraus.
({13})
Das, was Sie hier veranstalten, ist aus Sicht der Bevölkerung nichts anderes als Selbstbedienung. Das wollen wir
als Linke nicht mittragen.
Vielen Dank.
({14})
Kollege Ströbele, die Redezeit des Kollegen war
schon abgelaufen. Daher hat er nicht mehr reagiert. Nächster Redner auf unserer Liste ist für Bündnis 90/Die
Grünen Volker Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Es ist gut, dass wir uns zumindest beim Parteiengesetz einig sind, obwohl in dem Entwurf ebenfalls
eine prozentuale Steigerung vorgesehen ist.
Die vorgesehene Steigerung halte ich für angemessen.
Außerdem sorgen wir durch die Indexierung für Rechtsfrieden bei diesem Thema; denn letztendlich wird jeder
Cent, der zusätzlich in die Parteien fließt, von der Öffentlichkeit kritisiert, nach dem Motto: Jetzt kriegen die
schon wieder mehr Geld. Gleichzeitig erwarten die Bürgerinnen und Bürger von unseren Parteien aber, dass sie
ihnen ihre Konzepte erklären und sagen, mit welchen
Volker Beck ({0})
Ideen sie konkurrieren. Die Bürgerinnen und Bürger beschweren sich oftmals, dass die Politik sich nicht genügend erklärt. Die Fraktionen dürfen das nicht machen.
Sie dürfen nur ihre parlamentarische Arbeit nach außen
vertreten. Die Zukunftskonzepte zu kommunizieren ist
Aufgabe der Parteien, und zwar über den Wahlkampf hinaus.
In einer solchen Debatte muss man auch Folgendes
sagen: Wir Bundestagsabgeordneten, die wir im Lichte
der Öffentlichkeit stehen - das gilt für jeden von uns in
unterschiedlichem Maße -, sind zumindest im Wahlkreis
oftmals viel bekannter als die vielen Aktivistinnen und
Aktivisten in den Parteien, die Plakate kleben, Infostände organisieren und die Büros am Laufen halten.
Doch auch ihnen gebührt Dank für diese Arbeit; denn sie
leisten einen Dienst für die Demokratie in unserem
Land.
({1})
Herr Kollege Sharma, Sie haben gesagt, die vorgesehene Steigerung der Diäten sei unangemessen. Man
muss berücksichtigen, wie lange es keine Anpassung
gab, und sehen, wie hoch die Steigerung ist. Wenn man
das über die Jahre hochrechnet, stellt man wahrscheinlich fest, dass nicht einmal die Inflationsrate ausgeglichen wird. Das ist aber gar nicht der Punkt. Uns Abgeordneten geht es gut. Wir werden anständig bezahlt.
({2})
Darüber gibt es keinen Streit.
Wir brauchen dieses Geld nicht, weil wir notleidend
wären und uns deswegen irgendetwas nicht kaufen könnten, was wir dringend brauchen. Das ist aber nicht der
Punkt. Die Frage ist: Was ist der angemessene Maßstab
für die Bezahlung der Abgeordneten? Wir haben einen
angemessenen Maßstab. Das Bundesverfassungsgericht
hat uns nun aufgegeben, „die reguläre Entschädigung von
Zeit zu Zeit den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen; auch dadurch, dass die Entschädigung im Gefolge der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die
Grenze der Angemessenheit unterschreitet, wird die Freiheit des Mandats gefährdet“. Wenn man einen Maßstab
festgelegt hat, der die Angemessenheit bestimmt,
({3})
muss man diesen Leitsätzen des Bundesverfassungsgerichts folgen.
({4})
§ 11 des Abgeordnetengesetzes - Abgeordnetenentschädigung - besagt:
Ein Mitglied des Bundestages erhält eine monatliche Abgeordnetenentschädigung, die sich an den
Monatsbezügen
- eines Richters bei einem obersten Gerichtshof des
Bundes ({5}),
- eines kommunalen Wahlbeamten auf Zeit ({6})
orientiert.
Das ist der Maßstab, auf den wir uns im Abgeordnetengesetz verständigt haben. Das ist natürlich nicht Gottes Wort.
({7})
Das ist eine politische Entscheidung gewesen. Es ging
um die Frage, was wir für angemessen halten.
Wenn Sie einen anderen Vorschlag zur Angemessenheit haben, dann akzeptiere ich das und setze mich damit
auseinander. Es geht aber nicht, dass Sie in Ihrem Antrag, über den wir in der vergangenen Woche im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf debattiert haben, lapidar schreiben:
Der Orientierungsmaßstab der monatlichen Abgeordnetenentschädigung ist kritisch zu überprüfen.
({8})
Wenn Sie den Maßstab kritisch überprüfen wollen, hätte
ich gerne einmal die Kriterien gewusst, die Sie anwenden wollen.
({9})
Wir sind die Einzigen, die nicht mehr wollen! Wir nehmen es mit! Wir lehnen es ab, solange die Zustimmung
gesichert ist! - Ist das Ihr Motto?
({10})
Das ist meines Erachtens eine zu billige Nummer.
({11})
Diese Nummer ziehen Sie auf Kosten des ganzen Hauses
durch, auf Kosten des Ansehens der parlamentarischen
Demokratie. Ich bin durchaus dafür, dass wir die Diskussion noch einmal eröffnen. Dann sollten Sie aber bitte
konkrete Vorschläge für den Maßstab der Angemessenheit vorlegen.
Ich hänge nicht an einer Erhöhung um 292 Euro; aber
ich will, dass die Abgeordneten angemessen ausgestattet
sind, weil ich möchte, dass sie unabhängig sind und von
Nebenbeschäftigungen und anderen Einflüssen frei sein
können, wenn sie das für sich so entscheiden. Das gehört
zur Freiheit des Mandats und zu unserer Unabhängigkeit, die das höchste Gut in der parlamentarischen Demokratie ist. Denn nur sie sichert, dass die Abgeordneten
allgemeinwohlorientiert arbeiten.
Volker Beck ({12})
({13})
Wenn Ihnen das alles zu viel ist, wüsste ich gerne einmal, was für Sie angemessen ist. Sie haben auch bei den
letzten Erhöhungen nicht zugestimmt; das war alles zu
viel. Es gibt da - ich will Ihnen gerne helfen - eine Möglichkeit. Ich nenne Ihnen die Bankverbindung für Spenden an den Bund:
({14})
Kontoinhaber Bundeskasse Halle, Kontonummer
860 010 40, Bankleitzahl 860 000 00. Kontoführendes
Institut ist die Bundesbank Leipzig. Dorthin können Sie
das überweisen, was Sie für unangemessen und für zu
viel halten.
({15})
Wenn Sie das nicht tun, sind es leere Worte und blanker
Populismus, was Sie hier abgeliefert haben.
({16})
Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Dr. Hans-Peter Uhl.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mich zunächst beim Kollegen
Beck bedanken, dass er die Heuchelei der Linken bei der
Thematik, die wir hier besprechen, deutlich gemacht hat.
({0})
Es ist nicht anständig, wie Sie mit dem Thema umgehen.
Wir sind uns einig, dass wir bei beiden Punkten - bei der
Parteienfinanzierung und bei den Abgeordnetendiäten das tun müssen, was angezeigt ist. Bei der Parteienfinanzierung ist es richtig, die staatliche Finanzierung zu erhöhen. Wir haben uns darauf verständigt, weil sie seit
zehn Jahren nicht mehr erhöht wurde. Aber wir wissen
auch, dass dieses Thema ein Problem beinhaltet. Bei der
Struktur der Parteienfinanzierung sind wir aus Gründen
der Gleichbehandlung verpflichtet, Parteien staatlich
mitzufinanzieren, die keiner von uns finanziert haben
will: die NPD. Keiner von uns will das, und dennoch
müssen wir es aus Gründen der Gleichbehandlung tun.
Es gibt zwar ein Gutachten, wonach das nicht zwingend
ist; ich halte dieses Gutachten aber nicht für nachvollziehbar.
Nein, ich will mich nicht mit der Kapitalausstattung
der Linkspartei, ihrem Grundvermögen und ihren Beteiligungen an Wirtschaftsunternehmen befassen.
({1})
Wenn man darauf eingehen würde, könnte man einige
Punkte herausarbeiten, die den Linken sicher nicht gefallen würden.
Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Abgeordnetenbezügen sagen. Bevor ich in den Bundestag kam,
war ich kommunaler Wahlbeamter in München und immerhin elf Jahre lang - es gab 13 Monatsgehälter - in
der Besoldungsgruppe B 7. Wenn man fragt, was man
als Bundestagsabgeordneter verdient, stellt sich heraus:
Eigentlich müsste man B 6 bekommen.
({2})
Schaut man in die Gehaltstabelle, stellt man fest, dass
die Abgeordneten bis zuletzt nicht immer den Mut hatten, sich die angemessene Besoldungsgruppe B 6 per
Gesetz zu verschaffen. Es ist ein scheinbares Privileg,
dass wir unser Gehalt selbst festlegen können. In Wahrheit ist es eine Last. Denn es gibt keinen Tag im Jahr, an
dem es in die politische Landschaft passt, zu sagen: Jetzt
wollen wir - wie die Beamten, die dort eingestuft sind die Besoldungsgruppe B 6 bekommen.
({3})
Deswegen muss man einfach die Zivilcourage und den
Mut aufbringen, zu sagen: Jetzt ist der Abstand so groß,
dass wir unsere Besoldung wieder anpassen wollen.
Das versuchen wir jetzt. Wenn wir diese Anpassung
vornehmen, werden wir im Monat 400 Euro weniger
verdienen als ein Beamter, der in der Besoldungsgruppe
B 6 ist, oder als ein Bundesrichter. Was ist ein Beamter
in der Besoldungsgruppe B 6? Er ist Bürgermeister einer
mittelgroßen Stadt mit 40 000 Einwohnern.
({4})
Der verdient so viel, wie wir uns, wenn man so will, genehmigen wollen. Das ist angemessen und gerecht.
Ich freue mich immer, wenn Besuchergruppen aus
meinem Wahlkreis hier sind. Dann debattiere ich mit ihnen sehr gerne über dieses Thema. Sie wollen dann immer wissen, wie viel ein Abgeordneter arbeitet. Manchmal wollen sie auch wissen, was ein Abgeordneter
verdient.
Dann setze ich Arbeitszeit und Arbeitsentgelt in Bezug zueinander, und es wird ganz schnell ruhig im
Raum, weil jeder vernünftige Mensch sagt, dass das Verhältnis möglicherweise nicht ganz angemessen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut, dass wir
die Erhöhung heute so beschließen. Wenn uns das Bundesverfassungsgericht schon dazu zwingt, jede Erhöhung - und sei es nur um 1 Euro - per Gesetz transparent
zu beschließen
({5})
- ja, das ist auch richtig -, sollten wir, egal ob es in die
Landschaft passt oder nicht, den Mut aufbringen, hier einen Rhythmus hineinzubringen und zweimal in der Legislaturperiode zu prüfen, wie weit sich unsere Diäten
von B 6 und R 6 entfernt haben, und sie, wenn es angezeigt ist, erhöhen. Wir sollten uns parteiübergreifend einigen, daraus kein Thema zu machen, bei dem wir aufeinander losgehen. Das wäre eine vernünftige
Umgangsweise. Vielleicht findet sich der Mut, in den
kommenden Legislaturperioden so mit dem Thema umzugehen.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort unserer Kollegin Dr. Dagmar
Enkelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe jetzt bei einigen der Zuhörer Taschentücher gesehen. Vielleicht haben sie Mitleid mit uns Abgeordneten. Keine Sorge, Mitleid ist nicht nötig. Die Abgeordneten bekommen schon
jetzt ausreichend, um davon leben zu können. Sie müssen für uns Abgeordnete nicht unbedingt sammeln.
({0})
Uns ist gerade Heuchelei unterstellt worden.
({1})
Es ist richtig: Wenn Sie das jetzt hier beschließen, dann
wird das Geld auch auf die Konten unserer Abgeordneten gehen. Aber ich kann Ihnen eines versichern: Wir gehen damit sehr transparent um. Unsere Abgeordneten
spenden mehr als 2 000 Euro im Monat; das ist auf unseren Homepages nachzulesen.
({2})
- Wir spenden an Projekte, zum Beispiel Tafeln, an Organisationen und Verbände, die dringend Geld brauchen.
Außerdem hat unsere Fraktion einen Fonds, mit dessen Hilfe sie an Projekte spendet, die aus staatlichen
Mitteln keine Unterstützung bekommen. Wir haben in
den letzten Jahren sehr viele Projekte unterstützt und dafür gesorgt, dass sie weiter existieren können, nachdem
Sie an solchen Stellen gekürzt haben.
({3})
Ich kann Ihnen eines versichern: Auch diese Diätenerhöhung wird wieder einem guten Zweck zugeführt werden.
({4})
Zur Entgegnung hat das Wort Kollege Volker Beck.
Ich will jetzt nicht in den Wettbewerb treten, wer hier
wie viel spendet.
({0})
Auch unsere Kollegen spenden viel, und ich vermute,
dass das auch für andere Fraktionen gilt. Dafür bekommen Sie in der Regel Spendenquittungen, sodass Sie das
steuermindernd absetzen können. Das haben Sie jetzt
wohlweislich verschwiegen.
Wenn Sie der Ansicht sind, dass Ihnen das Geld nicht
zusteht, dann dürfen Sie es nicht spenden, sondern müssen es dem Bund zurückgeben; denn von dem haben Sie
das Geld bekommen. Alles andere ist nicht konsequent;
das wissen Sie. Sie sind dabei erwischt worden,
({1})
dass Sie sagen, es sei zu viel, aber nicht sagen können,
was gerade noch genug wäre. Das ist unehrlich.
Deshalb finde ich es gut, dass wir hier beschließen,
eine Kommission einzurichten, die sich über die Frage
der Angemessenheit unterhält
({2})
und vielleicht auch den Gedanken aufnimmt, über den
wir 1996 diskutiert haben. Dafür hatten wir damals eine
Zweidrittelmehrheit im Bundestag, aber das Vorhaben
wurde im Bundesrat vom niedersächsischen Ministerpräsidenten gestoppt. Es ging darum, das, was wir für
angemessen halten, ins Grundgesetz zu schreiben, um
ein für alle Mal die Diskussion, ob es mehr oder weniger
geben sollte, zu beenden. Dann müssten wir uns nicht
mehr selber die Gehälter erhöhen; bisher darf es niemand anders.
Ich fände es gut, wenn wir diese Verantwortung durch
einen sauberen, verfassungsrechtlich korrekten Akt loswerden und ein für alle Mal klären, was angemessen ist.
Das bliebe dann die Regel, nach der wir uns gemeinsam
richten. Dann müsste man sich nicht für jeden Euro
rechtfertigen, und dann wäre solcher Populismus auf
Kosten der parlamentarischen Demokratie nicht mehr
möglich.
In diesem Zusammenhang kann man auch über die
Altersversorgungssysteme diskutieren.
({3})
Das Beamtenversorgungssystem und das Abgeordnetenversorgungssystem sind im Wesentlichen gleich.
({4})
Volker Beck ({5})
- Frau Kollegin, ein Beamter zahlt auch nichts in die
Rente. Trotzdem gibt es Beamte, denen es finanziell
nicht so gut geht.
({6})
- Pumpen Sie sich nicht so auf; seien Sie ganz entspannt.
({7})
Wir führen hier eine sachliche Debatte. Diese Fragen
sollten von der Kommission, die wir einrichten, beantwortet werden. Dort sind es nicht Abgeordnete, die darüber befinden und Vorschläge machen. Vielleicht kann
man so die erforderliche Akzeptanz gewinnen.
Sicher darf man sich allerdings nicht sein. Ich weise
auf das hin, was sich im Abgeordnetenhaus von Berlin
zugetragen hat. Dort gab es eine solche Kommission;
aber niemand hatte den Mut, ihren Vorschlägen zu folgen. Auch so kann es gehen. Am Ende muss diese Entscheidung ohnehin vom Hohen Haus getroffen werden.
Die Gefahr, der Versuchung des Populismus zu erliegen,
ist bei Ihnen leider sehr groß.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6496, den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6291 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, das Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Linksfraktion und eine
Stimme aus dem Kreise der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Eine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? Enthaltung des Kollegen Ströbele. Der Gesetzentwurf ist
somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Behrens, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten
und zur Begrenzung von Energieverbrauch
und Energiekosten
- Drucksache 17/6371 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Niemand
widerspricht. Dann ist dies so beschlossen.
Die erste Rednerin kommt aus der Fraktion Die
Linke. Es ist unsere Kollegin Ingrid Remmers. Frau Kollegin Ingrid Remmers hat das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wohnen zu bezahlbaren Mieten, in Wohnungen, die barrierefrei und klimagerecht ausgestattet sind, wird immer
mehr zu einem zentralen Thema der Sozialpolitik. Immer mehr zeigt sich dabei, dass Wohnen unter den heutigen Herausforderungen der sozialen, demografischen
und ökologischen Entwicklung nicht mehr allein den Regulierungsmechanismen des Marktes überlassen werden
kann. Der Markt allein - das sagen im Übrigen alle Akteure in der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft - ist
mit dieser Herkulesaufgabe hoffnungslos überfordert.
({0})
Immer drängender werden auf der einen Seite die
Forderungen aus der Bau- und Wohnungsbranche nach
staatlichen Zuschüssen in Form von Fördermitteln und
steuerlichen Vergünstigungen. Begleitet werden diese
Forderungen vom Drängen nach Änderungen des ordnungspolitischen Gefüges - konkret: nach der geplanten
Änderung des Mietrechts -, um Investitionen leichter realisieren und sicherer davon profitieren zu können.
Gleichzeitig wächst auf der anderen Seite die Sorge
von Mieterinnen und Mietern, dass sie am Ende die Zeche für die ökologische Sanierung, für den barrierefreien
Umbau und für den klimagerechten, barrierefreien Neubau allein zahlen sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie sorgen sich zu Recht. Alle politischen Ideen und
Absichten der Bundesregierung, die bis jetzt in der Pipeline sind, bestätigen diese Befürchtungen leider: einerseits ehrgeizig formulierte Ziele, die CO2-Emissionen im
Gebäudebereich zu vermindern - das ist richtig und wird
von uns allen unterstützt -, andererseits eine völlig unzureichende und ungewisse Ausstattung der entsprechenden Förderprogramme; einerseits steuerliche Zugeständnisse an Haus- und Wohnungseigentümer als Anreiz zur
ökologischen Sanierung, andererseits die völlig offenen
Fragen, wie die umzulegenden Modernisierungskosten
von den Mieterinnen und Mietern aufgebracht werden
können und wie sie sich künftig gegen unzumutbare
Härten zur Wehr setzen sollen.
Parallel zu den Sanierungsvorgaben und den steuerlichen Entlastungen befindet sich ein Referentenentwurf
mit dem bedeutungsschwangeren Titel „Gesetz über die
energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“ in der Ressortabstimmung. Schon die
Vermischung einer wirklichen Generationenaufgabe, der
energetischen Sanierung, mit einer gutachterlich bescheinigten Marginalie, dem sogenannten Mietnomadentum, geht gar nicht.
({1})
Um eine Marginalie handelt es sich deshalb, weil wir
beim Mietnomadentum von lediglich 0,02 Prozent aller
insgesamt 38 Millionen Mietwohnungen sprechen. Dieses marginale Argument nutzen Sie, um das Mietrecht zu
verschlechtern. Schon diese Vermischung zeigt die Konfusion oder, was noch viel schlimmer wäre, die Klientelsteuerung der Koalition auch in der Wohnungsfrage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist deshalb dringend notwendig, gesetzliche Rahmenbedingungen zu
schaffen, die bezahlbare Mieten für alle sichern, und
gleichzeitig auf die Begrenzung von Energieverbrauch
und Energiekosten hinzuwirken. Genau dieses Ziel verfolgt der Gesetzesantrag, den das Land Berlin Anfang
November 2010 in den Bundesrat eingebracht hat. Zugegeben, der Gesetzesantrag ist nur ein Kompromiss zwischen der Berliner SPD und der Berliner Linken. Aber
auch wir als Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag unterstützen das Anliegen dieser Initiative.
({2})
Auch wenn die darin gemachten Forderungen noch
hinter unseren eigenen Vorstellungen zurückbleiben
- Sie erinnern sich, dass ich an dieser Stelle vor drei Wochen für eine Senkung der Modernisierungsumlage nicht
auf neun, sondern auf fünf vom Hundert geworben habe -,
geht der Berliner Antrag einen großen Schritt in die richtige Richtung. Deshalb übernehmen wir hier den Berliner Gesetzesantrag und machen ihn zu unserem eigenen
Gesetzentwurf.
({3})
Wir, die Linke, wollen, dass im Interesse von Millionen Mieterinnen und Mietern Bewegung in die Sache
kommt und Sicherheiten geschaffen werden.
Es kann doch zumindest für die Oppositionsfraktionen hier im Hause eigentlich keine unüberwindliche
Hürde sein, einem Antrag wohlwollend zuzustimmen,
der von der in Berlin regierenden SPD verfasst worden
ist, oder?
Danke.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Der nächste Redner
kommt aus der Fraktion der CDU/CSU und ist unser
Kollege Jan-Marco Luczak. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Remmers, ich finde es einigermaßen ehrlich,
({0})
dass Sie bei Ihren Ausführungen hier zumindest zugestehen, einen Gesetzesantrag übernommen zu haben, der
vom Land Berlin vor fast einem Jahr in den Bundesrat
eingebracht worden ist. Dabei haben Sie allerdings ein
wenig überspielt, dass Sie diesen Antrag wirklich wortwörtlich übernommen haben. Sie haben ihn einfach abgeschrieben und gesagt: Wir übernehmen ihn und machen ihn jetzt zu unserem eigenen Gesetzentwurf. - Man
kann mit Fug und Recht darüber streiten, ob das in dieser
Form richtig ist.
Nicht streiten kann man allerdings darüber, dass man
sich, wenn man so etwas tut, auch die Mühe machen
muss, zu schauen, was in der Zwischenzeit passiert ist.
Da ist die Welt nämlich nicht stehen geblieben - Sie haben das auch selbst erwähnt -: Es gibt mittlerweile einen
Referentenentwurf zur Novellierung des Mietrechts. Daraus haben Sie ja auch einige Dinge zitiert; Sie haben
von Mietnomaden gesprochen. Das hat mit unserer Thematik heute Abend zwar überhaupt nichts zu tun, aber
lassen wir das einmal dahingestellt sein. Jedenfalls haben Sie diesen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Mietrechts ganz offensichtlich zur Kenntnis genommen.
Was Sie aber nicht gemacht haben, ist Folgendes: Sie
haben Ihren Gesetzentwurf in keiner Weise angepasst.
({1})
Mit keiner Silbe haben Sie die Forderung, die Sie dem
im Bundesrat eingebrachten Gesetzesantrag entnommen
haben, dem aktuellen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mietrechts angepasst.
Das hätten Sie besser einmal machen sollen. Schließlich fordern Sie zum Beispiel in Bezug auf die gewerbliche Wärmelieferung, das Contracting, dass die dafür
anfallenden Kosten die bisherigen Heizkosten nicht
übersteigen dürfen. Wenn Sie unseren Entwurf gelesen
hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass die Forderung
nach Kostenneutralität dort längst erfüllt ist.
({2})
- Moment.
Tatsächlich geht unser Gesetzentwurf sogar noch weiter als der Ihrige. Bei uns gilt nämlich strikt und ohne
Ausnahme, dass die Betriebskosten nach der Umstellung
auf Contracting nicht höher sein dürfen als vorher. Nach
Ihrem Gesetzentwurf kann das in bestimmten Fällen
aber sehr wohl erlaubt sein. Das heißt, Sie bleiben hinter
Ihrem selbst gesteckten Ziel des Mieterschutzes sogar
noch zurück.
({3})
Meine Damen und Herren, diesen Vorwurf müssen
Sie sich in der Tat gefallen lassen. Konstruktive OpposiDr. Jan-Marco Luczak
tionsarbeit sieht nun wirklich anders aus. Dafür hat man
möglicherweise ein bisschen Verständnis: Momentan haben Sie ja viel mit innerparteilichen Streitigkeiten zu
tun. Das hindert Sie vielleicht daran, hier eigenen Sachverstand einzubringen, weshalb Sie sich dann einfach
auf andere Gesetzentwürfe stützen.
({4})
Machen Sie aber ruhig weiter so. Dann merken die Menschen nämlich umso deutlicher, dass Sie inhaltlich gar
nichts zu bieten haben.
({5})
Das alles ginge ja vielleicht noch, wenn nicht auch Ihr
Gesetzentwurf in der Sache genauso ideenlos und verfehlt wäre.
({6})
Wir alle wissen: Vom Mietrecht ist wirklich fast jeder
in unserem Land betroffen, entweder als Mieter oder als
Vermieter. Es gibt 24 Millionen Menschen, die in Mietwohnungen leben. Deswegen hat die Ausgestaltung des
Mietrechts wirklich eine existenzielle Bedeutung. Ein
ausgewogenes und soziales Mietrecht ist für die christlich-liberale Koalition eine bare Selbstverständlichkeit.
Wir sagen: Jeder Eingriff in das Mietrecht muss sorgfältig abgewogen sein, damit der gebotene Ausgleich
zwischen den unterschiedlichen Interessen auch wirklich
gewährleistet bleibt. Mit dem, was Sie uns hier präsentieren, werden Sie der notwendigen gesellschaftlichen
Ausgewogenheit aber in keiner Weise gerecht. Im Gegenteil: Die Änderungen, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen, führen zu einer absolut einseitigen
Belastung der Vermieter.
({7})
Sie schaffen es damit gerade nicht, dem eigenen Anspruch zu genügen, einen gerechten Interessenausgleich
zwischen den Beteiligten zu erreichen. Ihr Gesetzentwurf ist von der ersten Zeile an ein Widerspruch in sich.
Ich kann das sehr gerne einmal an Beispielen festmachen:
Erstes Beispiel. Mit Ihrer Initiative wollen Sie die
Möglichkeiten der Umlage von Modernisierungskosten
erschweren, indem Sie die Umlagefähigkeit von 11 Prozent auf 9 Prozent reduzieren. Dadurch soll die Akzeptanz von Modernisierungsmaßnahmen bei Mietern erhöht werden. Aber was hat das zur Folge? Natürlich
werden die Anreize für Vermieter sinken, Modernisierungen vorzunehmen, weil sie die Kosten nicht mehr in
gleicher Weise umlegen können und vielleicht sogar auf
diesen sitzen bleiben.
Wir alle reden in diesen Monaten vermehrt über den
Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir
alle reden über Klimaschutz. Auch die Linken tun das.
Sie haben das selber gerade gemacht, Frau Kollegin
Remmers. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, dass
sich die Wohnungswirtschaft an einer nachhaltigen, betriebskostensparenden und klimaschützenden Investitionspolitik orientieren soll, weil das Vorteile für alle Beteiligten und die Umwelt bringt. Ich dachte eigentlich
nicht, dass ich Ihnen einmal recht geben würde; aber an
dieser Stelle haben Sie wirklich recht.
Ich frage mich allerdings, warum Sie mit Ihrem Gesetzentwurf genau das Gegenteil davon anstreben. Sie
wollen rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, durch
die die energetische Modernisierung erschwert wird. Das
macht doch keinen Sinn. Meine Damen und Herren von
den Linken, wie wollen Sie die Eigentümer zu den notwendigen, aber teuren Modernisierungsmaßnahmen motivieren, wenn Sie ihnen Steine in den Weg legen? Das
ist doch kontraproduktiv.
({8})
Modernisierungsmaßnahmen müssen für Vermieter wirtschaftlich tragbar sein. Deswegen bedarf es wirtschaftlicher Anreize und nicht zusätzlicher Hürden.
Zweites Beispiel. Die Kappungsgrenze für die Erhöhung der Miete bis zur ortüblichen Vergleichsmiete soll
reduziert werden. Derzeit kann die Miete innerhalb von
drei Jahren um maximal 20 Prozent in Richtung der ortsüblichen Vergleichsmiete angehoben werden. Sie wollen
jetzt, dass nur noch 15 Prozent in vier Jahren erlaubt
sind. Dabei vergessen Sie, dass die Kappungsgrenze bereits 2001 gesenkt worden ist. Ich finde, wir haben mit
der derzeitigen Regelung einen gerechten Ausgleich der
Interessen geschaffen. Diesen sollten wir aufrechterhalten.
({9})
Im Übrigen greift die Kappungsgrenze ohnehin nur in
den Fällen, in denen zwischen tatsächlicher Miete und
der ortsüblichen Vergleichsmiete ein Gefälle besteht. Regelmäßig ist das aber gar nicht der Fall; es kommt nämlich sehr darauf an; die Situation in den einzelnen Regionen ist sehr unterschiedlich. Deswegen spielt das, was
Sie hier vorschlagen, in der Praxis eigentlich keine
Rolle. Was Sie hier machen, ist wieder einmal nichts
weiter als Symbolpolitik.
Damit, dass Sie die Vermieter auch noch mit einer
Verschärfung des Wirtschaftsstrafgesetzes drangsalieren
wollen, machen Sie endgültig klar, wes Geistes Kind Sie
sind. Sie haben sich noch immer nicht von alten Ideologien verabschiedet. Die Eigentümer sind bei Ihnen immer die Bösen. Fangen Sie endlich einmal an, zu begreifen, dass wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben, wo
Eigentum nichts Schlechtes ist.
Ich könnte jetzt noch einige weitere Punkte nennen.
Sie schlagen vor, § 550 a BGB zu ändern. Da geht es darum, dass ein Mietvertrag nur dann geschlossen werden
darf, wenn der Energieausweis Bestandteil des Mietvertrages ist. Hier kann man sich schon fragen, ob die Mieter damit einverstanden sind. Was ist denn die Folge,
wenn der Vermieter dagegen verstößt? Hinterher steht
der Mieter ohne Mietvertrag da. Das heißt, er kann bei
der Wohnungssuche möglicherweise von vorne anfangen. Sie geben den Mietern damit Steine statt Brot. Die
Mieter werden sich bei Ihnen bedanken.
Zum Schluss kann ich nur feststellen: Ihr Gesetzentwurf ist nicht nur abgeschrieben, sondern er ist auch
handwerklich schlecht gemacht. Damit verfehlen Sie die
selbst gesetzten Ziele. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner aus
der Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Ingo Egloff. Bitte schön, Kollege Ingo Egloff.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist richtig, Herr Kollege, dass wir eine soziale
Marktwirtschaft haben. Aber weil das so ist - Sie haben
hier das Thema Eigentum erwähnt -, gibt es kaum einen
anderen Bereich, auf den das, was in Art. 14 Grundgesetz steht, „Eigentum verpflichtet“, so zutrifft wie auf
das Mietrecht.
({0})
Wir streiten hier immer wieder über die Fragen eines
sozialen Mietrechts, und zwar zu Recht. Die Linke hat
selber zugegeben, dass sie den Gesetzesantrag, den die
Bürgermeisterin und Senatorin Junge-Reyer für das
Land Berlin im November 2010 in den Bundesrat eingebracht hat - im dortigen Rechtsausschuss ist er meines
Erachtens noch anhängig -, als Vorlage genommen hat.
Nun freuen wir uns natürlich, wenn ein Gesetzesantrag, den ein SPD-geführter Senat in den Bundesrat eingebracht hat, von der Linken als Gesetzentwurf in den
Bundestag eingebracht wird. Das Ganze verläuft ein
bisschen nach dem Motto: Ich kann zwar nicht bestimmen, wohin der Zug fährt, aber ich will auf jeden Fall
mit in der Lok sitzen.
({1})
In der Sache beschreibt der Gesetzentwurf die Problemlagen richtig. Die Tatsache, dass in bestimmten Teilen großer Städte die Mieten steigen, meist einhergehend
mit einer Verdrängung der angestammten Bevölkerung,
führt bei der Erstellung des Mietspiegels für die gesamte
Stadt automatisch dazu, dass das Mietniveau auch in weniger privilegierten Wohnvierteln steigt, weil das Niveau
in der gesamten Stadt steigt. Hier aus sozialpolitischen
Gründen einen Riegel vorzuschieben und die Mietentwicklung in bestimmten Teilgebieten steuern zu können,
ist zumindest für große Städte wie Hamburg, Berlin,
München und Köln wichtig. Ich finde, angesichts dessen
lohnt es sich, über diesen Gesetzentwurf zu reden. Sie
können natürlich anderer Auffassung sein. Aber tun Sie
das bestehende Problem nicht einfach ab, sondern lassen
Sie uns über bessere Lösungen streiten.
({2})
In keinem anderen europäischen Land ist der Anteil
am Einkommen, den die Bevölkerung für Mieten ausgibt, so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland.
Deshalb ist eine solche Regelung, mit der wir Grenzen
einziehen, zumindest für diejenigen Bevölkerungsschichten besonders wichtig, bei denen das Einkommensniveau eine Steigerung schon jetzt nicht zulässt.
Genauso verhält es sich bei den Energiekosten. Wir
sind uns alle einig, dass energetische Gebäudesanierung
sinnvoll ist und durchgeführt werden muss. Das haben
wir alle in der letzten Woche beschlossen. Aber wir sollten uns auch darin einig sein, dass energetische Gebäudesanierung nicht dazu führen darf, dass der Mietraum
nicht mehr bezahlbar ist. Es kann schwierige Situationen
geben, auch wenn Sie dies bestreiten, Herr Kollege. Ein
Beispiel dafür sind Frauen, deren Ehemann verstorben
ist und deren Einkommen dadurch geringer wird. Die
Wohnungen dieser Frauen müssen womöglich saniert
werden, ohne dass sie dies noch bezahlen können. Wenn
eine solche Situation eintritt, dann ist das schlicht und
ergreifend nicht richtig. Das ist eines Sozialstaates nicht
würdig.
({3})
Ich kann Ihnen solche Beispiele bei mir im Wahlkreis,
in Hamburg-Großlohe, zeigen. Das ist keine privilegierte
Gegend. Dort ist genau das eingetreten. Ich finde, da
müssen wir aufpassen. Wenn die energetische Gebäudesanierung durchgeführt wird, dann müssen wir aufpassen, dass am Ende nicht diejenigen, die sich das nicht erlauben können, in nicht sanierten Wohnungen wohnen
müssen, weil sie andere Wohnungen nicht mehr bezahlen können. Das hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
({4})
Wir müssen uns über die Frage Gedanken machen:
Wie ist das mit der Umlagefähigkeit? Wie ist das mit der
Senkung der Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Prozent? Eine Senkung auf 5 Prozent halte ich für illusorisch; aber über eine Senkung von 11 auf 9 Prozent müssen wir nachdenken.
Auch die Sache mit dem Energiepass ist sinnvoll. Die
Frage ist nur: Ist die Aushändigung des Energiepasses
eine zugesicherte Eigenschaft? Dann tritt das nicht ein,
Herr Kollege, was Sie gesagt haben: dass der Mietvertrag keine Gültigkeit mehr hat. Vielmehr hat dann der
Vermieter eine Mietsache zur Verfügung gestellt, die
nicht die zugesicherte Eigenschaft hat.
({5})
Diese Frage haben wir im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens zu klären.
Die Bundesregierung hat sich schon Gedanken darüber gemacht - Sie haben darauf hingewiesen -, im
Zuge der energetischen Gebäudesanierung das Mietrecht
zu ändern. Der Referentenentwurf hat uns zwar offiziell
noch nicht erreicht, aber jeder hat schon einmal hineingeschaut. Ich finde, die Bundesregierung tut gut daran,
diesen Gesetzentwurf endlich vorzulegen, damit wir ihn
im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
diskutieren können. Im Referentenentwurf steht beispielsweise: Bei energetischer Gebäudesanierung darf
der Mieter in Zukunft für drei Monate kein Recht auf
Mietminderung geltend machen.
Schon bisher gab es die energetische Gebäudesanierung. Wenn die Mietsache beeinträchtigt, also nicht in
vertragsgemäßem Zustand, war, konnte man Mietminderung geltend machen. Wo wollen Sie die Abgrenzung
zwischen regelmäßig durchzuführenden Instandhaltungsmaßnahmen und energetischen Gebäudesanierungsmaßnahmen vornehmen? Ich glaube, an dieser
Stelle ist der Gesetzentwurf, den Sie hier in der Pipeline
haben, noch nicht ausgereift. Wir müssen noch diskutieren, damit in der Praxis unnötige Prozesse vermieden
werden. Solche Prozesse wären das Einfallstor für
Streitigkeiten zwischen dem Mieter und dem Vermieter: Wo fängt Instandhaltung an - da kann man die
Miete kürzen -, und wo hört die energetische Gebäudesanierung auf? Was Sie da tun, ist nicht praxisgerecht.
Wir sollten uns jedenfalls hüten, im Zuge der Überarbeitung des Mietrechts im Hinblick auf die energetische
Gebäudesanierung Dinge zu regeln, die eigentlich nicht
in diesen Kontext gehören.
({6})
Wir Sozialdemokraten sind dagegen, dass unser soziales
Mietrecht zulasten der Mieter weiter eingeschränkt wird.
Über das Thema Contracting und darüber, ob die hier
vorgelegte Regelung oder eine andere Regelung zielführend ist, werden wir uns im Ausschuss noch in aller Ausführlichkeit unterhalten müssen. Auf jeden Fall gibt es
unterschiedliche Aussagen dazu. Frau Junge-Reyer hat
im Bundesrat gesagt, Contracting führe regelmäßig zu
Mietminderung. Wenn Sie mit den Mietervereinen reden, erzählen sie Ihnen das Gegenteil.
({7})
Wir haben solche Gespräche letzte Woche geführt.
Wir sollten das klären. Wir sollten eine Anhörung
durchführen, und wir sollten ein Mietrecht schaffen, das
einerseits dem Ziel, das wir beim Klimaschutz alle miteinander verfolgen, gerecht wird, und andererseits die
Frage der sozialen Gerechtigkeit nicht ausblendet. Wenn
das geschieht, dann haben Sie uns an Ihrer Seite, sonst
nicht.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Für die FDP-Fraktion
spricht unser Kollege Stephan Thomae. Bitte schön,
Kollege Stephan Thomae.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Linksfraktion will mit dem vorgelegten Entwurf die Mieten
bezahlbar halten, Energie einsparen und Energiekosten
senken. Es wird Sie nicht verwundern, dass ich skeptisch
bin, ob Sie mit diesem Entwurf das Ziel erreichen können. Ich will an einigen Punkten deutlich machen, weshalb wir meinen, dass der von Ihnen vorgelegte Entwurf
abzulehnen ist.
Der erste Punkt betrifft das Thema Energieausweis. In
Ihrem Entwurf schreiben Sie, dass der Mietvertrag über
Wohnraum nur dann wirksam ist, wenn der Vermieter
bei Abschluss des Vertrages einen Energieausweis für
den Wohnraum vorlegt. Die Folge ist aber logischerweise, dass immer dann, wenn bei Abschluss des Vertrages kein Energieausweis vorliegt, auch kein wirksamer
Mietvertrag zustande kommt. Die Folge ist - Kollege
Luczak hat es schon anklingen lassen -, dass eben kein
wirksamer Mietvertrag zustande kommt.
Man muss sich einmal überlegen - das ist ein Punkt,
der in dem von Ihnen vorgelegten Entwurf überhaupt
nicht bedacht ist -, was das für die Altfälle, also für die
schon bestehenden Mietverträge, bedeutet. Muss dann
der Energieausweis nachgereicht werden, oder welche
Konsequenzen sind ansonsten zu gewärtigen? Das ist ein
Punkt, der bei der Übergangsregelung zu bedenken
wäre. Dazu besagt Ihr Entwurf nichts.
Der zweite Punkt: Was gilt für die faktischen Mietverhältnisse, etwa wenn bei Eingehung des Mietvertrags ein
solcher Energieausweis nicht vorgelegt wird, weil die
Parteien es nicht bedenken, die Vorschriften nicht kennen, sie ihnen gleichgültig sind oder keiner von beiden
Wert darauf legt? Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an
dem zu klären ist, ob ein wirksamer Vertrag geschlossen
worden ist. Dann kann genau das passieren, was schon
angesprochen worden ist: Der Mieter ist rechtlos, weil er
im Falle des Beendigungswunsches des Vermieters auf
keinen wirksamen Mietvertrag zurückgreifen kann.
({0})
Sie wollen mit Ihrem Entwurf vielleicht die Vermieter
ärgern. In Wirklichkeit erzeugen Sie aber eine gewaltige
Rechtsunsicherheit für Hunderttausende, ja für Millionen von Mietverhältnissen. Das ist die Gefahr, die Sie
den Mietern hiermit sozusagen ins Nest legen. Sie erzeugen genau das Gegenteil dessen, was Sie eigentlich erreichen wollen.
({1})
Der dritte Punkt sind gewerbliche Wärmelieferungen,
Contracting-Verträge. Wir begrüßen, dass Sie diesem
Punkt zustimmen. Überraschenderweise sieht Ihr Entwurf vor, dass dem Mieter für Wärme-Contracting höhere Nebenkosten entstehen dürfen. Da kann ich Ihnen
sagen: Die Regierung will erreichen, dass sich der Vertrag beim Wärme-Contracting für den Mieter kostenneutral auswirkt. Wir meinen: Das Ganze ist für den Mieter
eine neutrale Investition, da sie mit einer Wertverbesserung einhergeht.
Sie haben zwei Voraussetzungen in Ihren Gesetzentwurf eingebaut, nämlich zum einen, dass der Primärenergiebedarf um mindestens 15 Prozent sinken muss,
und zum anderen, dass bei größeren Mietobjekten die
Hälfte der Mieter zustimmen muss. Für uns haben Sie zu
viele Voraussetzungen mit eingebaut. Diese Voraussetzungen gefährden unser Vorhaben, ein Energieeinsparziel zu erreichen. Sie senken den Modernisierungsanreiz
und verhindern geradezu das, was wir beabsichtigen,
nämlich die energetische Sanierung des Wohnraums bei
uns in Deutschland.
({2})
Ein weiterer Punkt ist die Kappungsgrenze; das ist
ebenfalls schon angeklungen. Nach der bisherigen Regelung darf die Miete innerhalb von drei Jahren um maximal 20 Prozent erhöht werden. Sie wollen diese Grenze
nun dahin gehend verändern, dass innerhalb von vier
Jahren die Miete um maximal 15 Prozent ansteigen darf.
In diesem Zusammenhang muss man berücksichtigen,
was auf dem Mietmarkt geschieht. Die Anschaffung von
Wohnungsmietraum in Form einer Immobilie ist für den
Vermieter zunächst eine Geldanlage. Dabei muss man
sich vor Augen halten, dass diese Geldanlage im Vergleich zu anderen Anlageformen eher als renditeschwach gilt. Sie gilt als sichere Geldanlage, aber Liquidität und Rendite sind schwach. Insofern muss man
berücksichtigen, dass diese Anlageform mit anderen Anlageformen konkurrieren muss. Die Gewinnerzielung ist
nichts Illegitimes. Auch das muss man sehen.
Sie wollen die Obergrenze ändern, wobei man nicht
übersehen darf, dass eine wirksame Begrenzung der
Mieten heute über den Markt stattfindet. Das berücksichtigen Sie in Ihrer Denklogik nicht in derselben Weise
wie wir. In vielen Regionen Deutschlands bzw. auf vielen Mietmärkten gibt der Mietmarkt sogar viel weniger
her als die gesetzlich erlaubte Erhöhung. Das ist nur eine
Obergrenze. Die eigentliche Obergrenze für Mieterhöhungen bildet aber der Markt. Wenn der Vermieter die
Miete zu stark erhöht, riskiert er Mietleerstand und Mietausfälle gerade in Gegenden fernab der Innenstädte großer Städte. Dieses Risiko trägt der Vermieter ebenfalls.
Das ist als eigentliche Kappungsgrenze anzusehen.
({3})
Der letzte Punkt sind die Modernisierungskosten.
Derzeit können bis zu 11 Prozent dieser Kosten auf die
Jahresmiete umgelegt werden. Sie wollen den Anteil auf
9 Prozent senken. An dieser Stelle muss man sich vor
Augen halten, was die Miete wirtschaftlich betrachtet ist.
Die Miete ist eine Abzinsung, die der Mieter auf die Anschaffungskosten des Vermieters entrichtet. Der Vermieter schafft Eigentum an, das er finanzieren muss. Er hat
Kapitalkosten, muss Zinsen zahlen sowie Investitionskosten und vielleicht auch Kosten für Instandhaltung
und Instandsetzung tragen. Das schießt er dem Mieter
sozusagen vor. Die Miete ist also eine Abzinsung. Deswegen heißt es auch Mietzins.
Diese Aufwendung darf der Vermieter refinanzieren.
Wenn wir diese Möglichkeiten beschneiden, dann riskieren wir, dass immer weniger Eigentümer bereit sind, in
Wohnraum zu investieren. Auch das ist nicht im Interesse der Mieter, weil sich dann die Lage auf dem Mietmarkt verschärft.
({4})
Sie haben recht, Kollege Egloff: Eigentum verpflichtet; aber es muss auch jemand Eigentum schaffen; jemand muss investieren. Deswegen dürfen wir die Anschaffung von Eigentum nicht allzu sehr erschweren.
Aus diesem Grund werden wir Ihren Entwurf ablehnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Daniela Wagner. Bitte schön, Frau Kollegin Daniela
Wagner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte und die Rede von Kollegin Remmers haben
deutlich gemacht, dass die wohnungs- und mietpolitischen Träumereien der Linken von der Berliner SPD
mittlerweile erfolgreich geglättet worden sind. Herausgekommen ist ein Gesetzentwurf, dem man seine Zustimmung, jedenfalls über weite Strecken, nicht verweigern kann.
({0})
Man hat allerdings ein bisschen den Eindruck, dass die
Debatte zur Unzeit stattfindet. Sie steht eigentlich dann
an, wenn wir über eine Mietrechtsnovelle reden.
Richtig ist aber auch - damit haben Sie recht -, dass
unsere Wohnungsmärkte vor massiven Herausforderungen stehen. Ohne die umfassende energetische Modernisierung unseres Gebäudebestands wird die Energiewende nicht zu schaffen sein.
Wir alle wissen: 40 Prozent der Energie wird zurzeit
im Gebäudebestand verbraucht.
Außerdem haben wir aufgrund des demografischen
Wandels einen Mehrbedarf an ungefähr 2,5 Millionen
barrierereduzierten bzw. barrierefreien Wohnungen. Bis
2030 wird dieser sogar noch auf 3 Millionen steigen.
Die weitreichenden Investitionen, die dafür zu tätigen
sind, werden erhebliche Folgen sowohl für die Gebäudeeigentümer als auch für die Mieterinnen und Mieter haben. Das Mietrecht ist nun einmal das zentrale Instrument, mit dem man solche Fragen regeln und Konflikte
entschärfen kann. So kann man ja Mietanstiegsdynamiken ausbremsen oder beschleunigen. Insbesondere in
Metropolregionen mit angespannten Wohnungsmärkten
besteht im Moment durchaus die Gefahr - das ist wahr -,
dass einkommensschwächere Mieterinnen und Mieter
unter dem Deckmantel der energetischen Sanierung aus
ihren Wohnungen heraussaniert werden. Das kann man
nicht wollen. Dem muss man etwas entgegensetzen.
Wir sind aber auch der Meinung, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass Mieterinnen bzw. Mieter, Vermieter,
Klima- und Mieterschutz nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
({1})
Wir glauben, dass ein soziales und klimafreundliches
Mietrecht möglich ist und dass der Interessenausgleich
mit den bestehenden Regelungen zu bewältigen ist. Wir
glauben vor allen Dingen, dass sich eine angemessene
Förderung, sowohl KfW-Förderprogramme als auch
steuerliche Entlastung - beides muss ja gemäß § 559 a
BGB weitergegeben werden -, mietmindernd auswirkt.
Von jeder Art von Entlastung des Eigentümers soll nämlich auch die Mietpartei etwas haben.
({2})
Im Moment ist vorgesehen, dass das Gebäudesanierungsprogramm künftig aus dem Sondervermögen
„Energie- und Klimafonds“ finanziert werden soll. Täglich lese ich in der Zeitung neue Berichte darüber, was
aus diesem Fonds noch alles finanziert werden soll. Insofern sind wir skeptisch, dass das Geld tatsächlich dort
landet, wo es landen müsste. Für das KfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“ stehen praktisch gar
keine Mittel mehr zur Verfügung, obwohl seine Bedeutung in jeder Rede betont wird. Das ist, finde ich, eine
Art wohnungspolitischer Geisterfahrt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
Jenseits vom Mietrecht und jenseits der Frage „Absenkung der Kappungsgrenze“ ist das Wirtschaftsstrafrecht zu erwähnen, das auch jetzt schon wirksam wird.
Im Volksmund ist das der Mietwucherparagraf. Das Begehren ist nun, dass dieser Paragraf auch stadtteilbezogen angewendet werden kann. Das ist sinnvoll; denn auf
die ganze Stadt bezogen kommt er praktisch nie zur Anwendung, weil extreme Wuchermieten durch niedrige
Mieten im Mittel ausgeglichen werden. Auch Sie wissen
natürlich, dass es vernünftig ist, diesen Paragrafen gebietsweise zur Anwendung zu bringen.
({3})
Die einzelnen mietrechtlichen Normen werden wir sicher im September einer eingehenden Würdigung unterziehen. Lassen Sie mich jetzt nur so viel sagen: Die Drittelung der Belastung ist unser Credo. Wir wollen, dass
die Mieterinnen und Mieter, die Vermieter und der Staat
sich die Last der energetischen Gebäudesanierung und
der Energiewende teilen, und dazu ist es erforderlich,
dass für die Förderprogramme zur energetischen Gebäudesanierung auf jeden Fall Mittel in ausreichender Höhe
und vor allem verstetigt zur Verfügung stehen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Jetzt für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Gero Storjohann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche
Mietrecht ist ein fein abgestimmter Mechanismus, und
die berechtigten Interessen von Mietern und Vermietern
werden nach meiner Auffassung gleichermaßen berücksichtigt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist meines Erachtens ein Angriff auf diese Ausgewogenheit.
({0})
In Deutschland ist das Gut „Wohnen“ für jedermann
erschwinglich und möglich. Wir Abgeordnete wohnen
hier in Berlin ja fast alle zur Miete. Ich habe mich gewundert, dass ich für 5 Euro in einem Altbau, saniert,
Erstbezug, unterkommen kann. Das ist günstiger als in
meinem Dorf.
Wenn ich im Ausland bin, frage ich nach der Mietsituation in den Städten. Gerade die Botschaftsangehörigen machen mir dann immer sehr deutlich, dass sie für
eine Miete unter 2 000, 3 000 oder 4 000 Euro keine vernünftige Bleibe finden können. Daher kann man sagen:
In Deutschland ist grundsätzlich eine gute Wohnsituation, in den letzten Jahren politisch begleitet, erreicht
worden. Das muss an der bisherigen Förderpolitik und
auch an der Investitionsbereitschaft von Unternehmen
und Privaten gelegen haben. Bisher hat noch keiner das
Förderinstrument Wohngeld erwähnt, das auch zu einem
Ausgleich beiträgt und schwächeren Mietparteien die
Möglichkeit gibt, angemessen zu wohnen. Auch das
muss man in diesem Kontext sehen.
Die Bestimmungen im Gesetzentwurf der Linken
würden zu einer einseitigen Belastung der Vermieter
führen. Das sagen Sie ganz offen am Ende Ihres Entwurfs. Frau Wagner von den Grünen hat schon den Bedarf dargestellt, der sich in den nächsten Jahren ergibt
und den wir bewältigen müssen.
({1})
Das heißt, wir brauchen die Bereitschaft, Investitionen
zu tätigen. Mein Kollege Thomae von der FDP hat bereits gesagt, dass wir diese Bereitschaft fördern und
nicht abwürgen wollen. Wir müssen daher aufpassen,
dass wir hier nicht zu falschen Zielsetzungen kommen.
Herr Egloff, was ausbleibender Wohnungsneubau bewirkt, konnten wir in Hamburg genau beobachten.
({2})
- Über 20 Jahre kann ich die Planung auch zurückverfolgen. - Die Ausweisung von billigen Grundstücken ist in
Städten schwierig. Aber wenn man es schafft, kann es
Neubau geben. Das hat dann eine dämpfende Wirkung
auf die Mieten.
({3})
Das ist das Geheimnis: Wir dürfen eine Verknappung
nicht zulassen. Ein entsprechendes Angebot wirkt einer
Verknappung entgegen.
Insofern würden die Linken mit ihrem Entwurf mittelfristig dem Anliegen auf bezahlbaren Wohnraum erheblichen Schaden zufügen.
({4})
Ihr Gesetzentwurf blendet völlig aus, dass es in großen
Städten zwar Mietspiegel gibt, dass dies in Stadtrandlagen oder verdichteten ländlichen Regionen jedoch nicht
der Fall ist. Zudem gibt es keine gesetzliche Verpflichtung für die Kommunen, Mietspiegel aufzustellen.
Die geltenden Regelungen zum Schutz der Mieter vor
unverhältnismäßigen Mieterhöhungen haben sich darüber hinaus bewährt. Die Kappungsgrenze, die verhindert, dass sich die Miete in großen Sprüngen erhöht,
wurde zuletzt 2001 unter Rot-Grün neu festgelegt. Man
hat sich damals, so glaube ich, etwas dabei gedacht.
Wie richtig erkannt wurde, bietet die energetische
Modernisierung von Mietshäusern ein großes Potenzial,
um CO2-Ausstoß einzusparen. Diese Modernisierungsmaßnahmen kosten Geld. Wir von der Union meinen,
dass diese Kosten gleichmäßig von Mietern und Vermietern getragen werden müssen und dass wir den Staat an
dieser Stelle größtenteils heraushalten sollten. Das ist
also ein klares Votum gegen die Drittelungslösung.
Die Linke möchte die entstehenden Kosten stärker als
bisher an den Vermieter weitergeben. Wir aber denken,
dass sich die Vorteile bei der Nebenkostenabrechnung in
einem Beitrag zu den Investitionen niederschlagen können. Dann werden die Investitionen getätigt, und nur
dann - das ist unser Ziel - wird auch ein Beitrag zum
Klimaschutz geleistet. Diesen Punkt dürfen wir nicht außer Acht lassen.
Bei einer Umsetzung der Vorschläge der Linken
würde die Bereitschaft der Vermieter, Modernisierungen
anzupacken, erheblich sinken. Wenn Vermieter einseitig
die Kosten von Modernisierungsmaßnahmen tragen
müssen, werden diese in Zukunft schlicht ausbleiben.
Sie können die Vermieter nicht dazu zwingen. Mit einem
engagierten Klimaschutz hat dies nichts zu tun.
({5})
Anders als die Linke fühlen sich CDU und CSU Mietern und Vermietern gleichermaßen verpflichtet. Die einseitigen Vorschläge der Linken, die eher zu höheren
Mieten führen würden, werden wir in den anstehenden
Ausschussberatungen nicht unterstützen.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Wir sind damit am Ende
der Rednerliste, sodass ich die Aussprache schließen
kann.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6371 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
- Drucksache 17/4143 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuches ({0})
- Drucksache 17/2165 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/6505 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Halina Wawzyniak
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Somit ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der Debatte ist unser Kollege Jörg van Essen von der Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Jörg van Essen.
Vizepräsident Eduard Oswald
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer gelegentlich in einem Streifenwagen mitfährt - ich
habe das in meinem früheren Beruf getan, tue es jetzt gelegentlich auch noch -, der macht sofort eine Beobachtung: Egal, wie die Polizisten unterwegs sind, ob sie
helfend unterwegs sind - dann bekommen sie böse Vorwürfe, man hätte viel schneller sein können - oder ob sie
eingreifend unterwegs sind, es gibt immer Zoff und Zunder. Deshalb zunächst einmal am Beginn dieser Debatte
ein herzliches Dankeschön, dass so viele Polizeibeamte
in diesem Land dann immer so ruhig reagieren, für den
Rechtsstaat stehen, die Gesetze anwenden und alles dafür tun, dass die ganze Situation nicht eskaliert.
({0})
Wenn man dabeisteht, dann weiß man, wie schwer das
oft ist. Ich persönlich hätte in der einen oder anderen Situation mit Sicherheit nicht so ruhig reagiert, wie es die
erfahrenden Polizeibeamten getan haben.
Die Zahlen zeichnen aber im Übrigen auch ein deutliches Bild: Zwischen 1999 und 2008, also innerhalb eines
Zeitraums von zehn Jahren, hat die Zahl der Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte um über
30 Prozent zugenommen. Das ist eine unglaubliche Steigerung, die wir dort haben. Alle wissen, dass das nach
2008 nicht weniger, sondern, ganz im Gegenteil, noch
mehr geworden ist.
Der Verfassungsschutzbericht hat gerade deutlich gemacht, dass die Gewaltbereitschaft bei Extremisten beider Lager, links wie rechts, noch einmal erheblich gestiegen ist. Diejenigen, die es auszubaden haben, sind
die Polizeibeamten. Deshalb sind wir als diejenigen, die
die Polizeibeamten in ihrem Dienst für den Staat auch zu
schützen haben, aufgerufen, zu prüfen, was wir tun können. Die dafür im Strafgesetzbuch vorgesehene Vorschrift, nämlich der § 113 Strafgesetzbuch „Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte“, ist dafür zunächst einmal
grundsätzlich der richtige Ort.
Der § 113 normiert alle typischen Widerstandshandlungen, die dann passieren, wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizeibeamten und Bürgern kommt,
und setzt dafür die Strafen fest. Er beinhaltet im Vergleich zu den Vorschriften allgemeiner Art, die wir
haben, also beispielsweise Vorschriften zu Körperverletzung oder gefährlicher Körperverletzung, eine Privilegierung der Bürger. Privilegierung heißt, die Bürger werden grundsätzlich besser gestellt. Dafür gibt es auch
einen Grund, weil es sich bei solchen Einsätzen - das
weiß jeder, der einmal dabei war - auch schon mal aufschaukelt. Deshalb soll den Bürgern entgegengekommen
werden; deshalb gibt es andere Strafrahmen als bei den
Grundtatbeständen, also beispielsweise bei der Körperverletzung oder bei der gefährlichen Körperverletzung.
Dennoch, finde ich, ist es angemessen, auch in einer
solchen privilegierenden Vorschrift auf Entwicklungen
zu reagieren und auch auf Gerichtsentscheidungen zu
antworten. Eine der Maßnahmen, die wir heute vorschlagen, stellt somit auch eine Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dar. Die Rechtsprechung
der Gerichte hat insofern für eine Erweiterung gesorgt,
als gefährliche Werkzeuge auch als Waffe im Sinne des
§ 113 betrachtet wurden. Der Bundesgerichtshof hat in
einer Kammerentscheidung darauf hingewiesen, dass
das eine zu weite Auslegung ist, und hat deutlich gemacht, dass eine entsprechende Rechtsprechung in Zukunft nicht weiter vorgenommen werden darf. Wir ändern das, denn es ist völlig klar: Egal, ob man eine Waffe
oder ein gewöhnliches Werkzeug bei der Tat benutzt,
beides ist gefährlich für die Polizeibeamten und muss
deshalb bei der Strafzumessung gleichermaßen berücksichtigt werden.
({1})
Auf die allgemeine Entwicklung antworten wir mit
einer Erweiterung des Strafrahmens. Auch danach bleibt
aber die Privilegierung noch bestehen. Der Gesetzgeber
ist nämlich frei, wie weit er diese Privilegierung anwendet; er kann sie besonders weit ziehen, aber er kann sie
natürlich auch ein Stück zurücknehmen, wenn aus der
Entwicklung deutlich wird, dass man härter gegenüber
den Tätern sein muss. Wir hatten ja - ich erinnere nochmals daran - bei den Fallzahlen eine Steigerung von
über 30 Prozent. Von daher macht es Sinn, den Strafrahmen vorsichtig auszuweiten.
Wir reagieren auch auf eine weitere Entwicklung der
letzten Jahre. Dies halte ich für ebenfalls richtig und
wichtig. Wir merken nämlich, dass es zunehmend
Brandanschläge auf Fahrzeuge gibt. Das ist hier in Berlin in besonderer Weise zu beobachten. Ein Bekannter
von mir hat gerade seinen Privatwagen verloren. Sein
ganz alter Mercedes, der am Straßenrand abgestellt war,
ist abgefackelt worden. Wir alle wissen, dass es auch
konzertierte Aktionen gegen die Polizei, gegen die Rettungsdienste, gegen den Katastrophenschutz und viele
andere gibt, bei denen deren Fahrzeuge in Brand gesetzt
werden. Auch deshalb ist es sinnvoll, die entsprechenden
Brandstiftungsvorschriften zu ergänzen. Auf diese Weise
kann man aktuell auf das Verhalten der Täter reagieren.
Von daher ist das, wie ich glaube, richtig.
Insgesamt lautet die Botschaft, die meine Fraktion
heute an die Polizeibeamten sendet: Wir unterstützen sie
in ihrem Dienst. Wir nehmen es nicht hin, dass sie zunehmend Opfer von Gewalt werden. Deswegen nehmen
wir diese Änderungen vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung für diesen Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist
unsere Kollegin Dr. Eva Högl für die sozialdemokratische Fraktion. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Verschärfung
des Strafrechts. Bei der Verschärfung des Strafrechts
müssen wir immer ganz sorgfältig prüfen, ob das notwendig ist. Deswegen müssen wir uns anschauen, ob es
eine Lücke im Strafrecht gibt und ob es tatsächlich, wie
Sie gesagt haben, Herr Kollege, eine gestiegene Zahl
von Fällen gibt. Wir müssen uns auch anhören, was die
Experten sagen.
Ich möchte etwas zur gestiegenen Zahl der Fälle sagen. Wir können uns jetzt lange darüber streiten, ob die
Anzahl der Fälle um 30 Prozent gestiegen ist oder nicht.
Alle Expertinnen und Experten haben gesagt: Es lässt
sich nicht nachweisen, dass die Anzahl der Fälle signifikant gestiegen ist. Diese Aufgeregtheit muss es also
nicht geben.
({0})
Darum geht es aber in der Debatte gar nicht. Ich will nur
angesprochen haben, dass man diese 30 Prozent nicht
pauschal in die Debatte werfen kann. Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Jeder einzelne Fall einer Polizistin oder eines Polizisten, gegen den Widerstand geleistet wird, ist wichtig und rechtfertigt diese Debatte.
Die Frage ist allerdings, ob es dadurch gerechtfertigt ist,
das Strafrecht zu verschärfen. Das ist die Frage, die wir
uns heute hier stellen müssen.
({1})
Wir rufen bei gesellschaftlichen Entwicklungen, die
uns nicht gefallen, nur allzu gerne nach dem Strafrecht.
Ich persönlich sage, dass eine Verschärfung des Strafrechts in vielen Fällen nicht die richtige Antwort ist. Andere Maßnahmen greifen häufig viel besser. Darüber
müssen wir uns hier Gedanken machen.
Es gab eine Expertenanhörung, an der alle Fraktionen
beteiligt waren. Alle Fraktionen konnten Experten einladen. Die Experten haben uns nicht geraten, das Strafrecht zu verschärfen. Deswegen bin ich persönlich sehr
skeptisch gegenüber einer Strafrechtsverschärfung. Wir
müssen hier im Deutschen Bundestag mit symbolischer
Gesetzgebung sehr vorsichtig sein. Allerdings sind
manchmal auch starke Signale notwendig - das will ich
gerne zugestehen -, wenn die Adressatinnen und Adressaten - in diesem Fall die Vollstreckungsbeamten - ein
starkes Signal brauchen. Die Polizistinnen und Polizisten brauchen ein starkes Signal aus dem Deutschen Bundestag; das haben Sie, Herr van Essen, schon angesprochen. Sie brauchen unsere Unterstützung gegen Gewalt
und gegen Widerstand in jeder Form. Dafür stehen wir
hier im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend ein.
({2})
Sie brauchen Dank für ihre Arbeit. Sie brauchen unsere
Unterstützung. Sie brauchen auch im täglichen Geschäft
unsere Wertschätzung.
Ich bin unterwegs gewesen und habe mit Polizistinnen und mit Polizisten ganz offen diskutiert. Ich habe Ihnen gesagt: Ich bin Mitglied des Deutschen Bundestages
und sitze im Rechtsausschuss. Sagt mir bitte, ob ihr eine
Strafverschärfung braucht. - Die Rückmeldung, die ich
bekommen habe, lautete ganz überwiegend: Wir brauchen Unterstützung von unseren Dienststellen bei der
Anwendung des geltenden Rechts. Wir brauchen Unterstützung der Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von
Straftätern. Wir brauchen außerdem Unterstützung bei
der Durchführung der gerichtlichen Verfahren. Das war
unisono die Rückmeldung, die ich in diesen Gesprächen
bekommen habe. Ich habe nicht gehört, dass Strafverschärfung hierfür das richtige Mittel ist.
Trotzdem möchten ich konstatieren, dass der Gesetzentwurf auch einige richtige Aspekte enthält, die wir als
SPD-Fraktion durchaus würdigen. Wir halten es für richtig, in den Geltungsbereich des § 114 die Feuerwehr, die
Rettungsdienste und insbesondere - auch dafür haben
wir uns eingesetzt - den Katastrophenschutz einzubeziehen. Hierzu hatten wir eine gute Diskussion. Ich habe
mich in dem Zusammenhang darüber informiert, wie es
derzeit bei der Feuerwehr und den Rettungsdiensten aussieht. Da war ich schon erschrocken - ich rede jetzt nicht
von 30 Prozent -, insbesondere von Feuerwehrleute zu
hören, dass sie zunehmend auf Widerstand stoßen und
attackiert werden. Nennen Sie mich bitte naiv, aber darüber habe ich mich gewundert; denn ich ging nicht davon aus, dass Menschen gegenüber jemandem, der
kommt, um andere Menschen zu retten, Widerstand leistet.
({3})
Die Einbeziehung des Katastrophenschutzes, der Feuerwehr und der Rettungsdienste begrüßen wir insofern
ganz ausdrücklich.
Wir begrüßen ebenfalls ausdrücklich die Einbeziehung der Definition „ein anderes gefährliches Werkzeug“ in die Norm. Das ist ein richtiger Schritt.
Von der Gesamtanlage sind wir zwar durchaus kritisch - das habe ich für die SPD-Bundestagsfraktion bereits gesagt -, aber wir erkennen einige gute Ansätze. Es
möge nützen! In diesem Sinne: Hoffen wir, dass das
starke Signal ankommt und dass es nicht nur ein symbolischer Akt ist, sondern auch die Richtigen erreicht
und die zunehmende Gewalt gegen Polizeibeamtinnen
und -beamte verhindert.
({4})
Deswegen ist dieser Schritt richtig.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Ansgar
Heveling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Hamburg wurden im Juni des letzten Jahres fünf Polizisten brutal mit Steinen angegriffen und durch Fußtritte
schwer verletzt. Der Einsatz war eigentlich ein Routineeinsatz; die Beamten hatten nicht mit dem Angriff gerechnet. In Mönchengladbach erlitt im August 2010 ein
Polizist schwerste Kopfverletzungen. Nach einem Einbruch wollten die Polizisten bei einer Gruppe von Männern im Umfeld des Tatorts die Personalien feststellen eigentlich eine Routineangelegenheit. Gleich zweimal in
einer Woche wurde im September des vergangenen Jahres in Dachau eine 17-Jährige auffällig. Zuerst bewarf
sie einen Polizeiwagen mit einer Flasche und leistete
dann bei der anschließenden Ingewahrsamnahme heftigen Widerstand. Wenige Tage später kam sie zur Polizeistation zurück, beschimpfte die Beamten und leistete
wiederum heftigen Widerstand, als sie in Gewahrsam
genommen wurde.
({0})
Das sind drei wahllos aus der Presseberichterstattung herausgegriffene Fälle.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Jerzy Montag?
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege, auch Sie haben jetzt einige Beispiele
genannt. Seit Monaten hören wir in dieser Debatte immer wieder Beispiele. Würden Sie mir zustimmen, dass
alle Beispiele, die Sie genannt haben, Straftatbestände
beschreiben - versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung, anderes gefährliches Vorgehen -, die mit dem Widerstandsbegriff
in § 113 überhaupt nichts zu tun haben? Wären Sie bereit, zuzugestehen, dass Ihre eigenen Beispiele nicht dem
Thema gerecht werden, über das wir heute reden?
({0})
Lieber Herr Kollege Montag, zum einen habe ich
diese Frage erwartet,
({0})
zum anderen waren es eigentlich zwei Fragen; denn der
zweite Teil Ihrer Ausführungen bezog sich eigentlich gar
nicht auf die erste Frage.
Ich bin natürlich bereit, anzuerkennen, dass in dem
diskutierten Zusammenhang auch andere Straftatbestände relevant werden, was im Übrigen im Bereich des
Strafrechts ein ganz normaler Vorgang ist; denn in den
meisten Fällen sind in eine Handlung unterschiedliche
Straftatbestände einbezogen. Trotzdem wird man letztlich wegen aller Straftatbestände angeklagt; und es ist
später eine Frage der Strafzumessung, wie die einzelnen
Straftatbestände berücksichtigt werden.
({1})
Insofern machen die Beispiele im Kontext „Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte“ in der Tat Sinn.
({2})
- Herr Montag, schön, dass Sie sich schon hingesetzt haben, aber ich war eigentlich noch mit der Beantwortung
der Frage beschäftigt. Wenn Sie aber den Rest nicht
mehr hören wollen, dann höre ich gerne auf und mache
weiter.
({3})
Schon diese drei Fälle lassen ein Muster erkennen,
das die Polizei sowie andere Einsatz- und Rettungskräfte
vermehrt beschäftigt: Fälle, die zeigen, dass sich in unserer Gesellschaft etwas verändert hat; Fälle, die zeigen,
dass wir uns diesen Konstellationen ohne ideologische
Scheuklappen nähern müssen, egal von welchen politischen Seiten wir kommen.
Ich bin mir natürlich bewusst, dass der Straftatbestand „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ politisch aufgeladen ist. Während konservativ veranlagte
Menschen wie ich da oft an Demonstrationssituationen
denken, mag bei anderen ein anderes Bild im Kopf bestehen. Ohne Frage sind Übergriffe im Rahmen von Demonstrationen nach wie vor auch eine strafrechtlich
nicht zu vernachlässigende Größe. Gerade in diesen Fällen ist auch - das zeigen Untersuchungen - der Einsatz
von Waffen häufig.
Unser Hauptaugenmerk muss aber den Situationen
gelten, die ich in den eingangs beispielhaft genannten
Fällen beschrieben habe. Sie zeigen eine neue Qualität
von Angriffen auf Polizistinnen und Polizisten sowie auf
andere Einsatz- und Rettungskräfte. Es geht um Angriffe, die in scheinbaren Routinesituationen erfolgen,
um ein dumpfes Draufschlagen aus ebenso dumpfer
grundsätzlicher Feindschaft gegen die Polizei und den
Staat schlechthin. Oftmals ist auch noch Alkohol im
Spiel.
Keine Frage, das Problem ist vielschichtig und bedarf
eines Ansetzens an vielen Stellen. Respekt vor dem Staat
und seinen Organen erzeuge ich sicherlich nicht oder
nicht allein durch Repressionen und die Mittel des Strafrechts. Strategien hierfür müssen früher und an anderer
Stelle ansetzen. Aber angesichts dieser Entwicklung dürfen wir gerade die Instrumente des Strafrechts auch
nicht aus dem Blick lassen. Wenn sich - die Zahlen belegen dies - eine zunehmende Bereitschaft zur Gewalt
in der gesamten Bandbreite - beim einfachen Streifengang wie bei der Großdemonstration - konstatieren
lässt, müssen wir darauf auch aus dem Blickwinkel des
Strafrechts reagieren.
({4})
Wir haben uns entschieden, hier anzusetzen. Es ist ein
klares Signal an die zur Vollstreckung berufenen Organe
- seien es Polizisten, Gerichtsvollzieher, Justizvollzugsbeamte oder sonstige Amtsträger im Sinne des § 11 des
Strafgesetzbuches -, dass der Strafrahmen in § 113 erhöht wird. Zwar sollte durch den niedrigeren Grundstrafrahmen eine Privilegierung in der konkreten Tatsituation
gegenüber dem Straftatbestand der Nötigung zum Ausdruck kommen - sprich: es sollte zu berücksichtigen
sein, dass sich der Täter in einer Extremsituation befindet, weil er sich der staatlichen Gewalt ausgesetzt fühlt -,
aber die Wirklichkeit in unserer Gesellschaft zeigt eben,
dass wir es mit einem veränderten Täterbild zu tun haben. Mehr und mehr geraten die staatlichen Organe in
eine Extremsituation, weil sie sich jederzeit einer unkontrollierten und unerwarteten Gewaltsituation ausgesetzt
sehen können.
Leider zeigt sich, dass der Respekt gegenüber dem
Staat und damit der Respekt vor den für ihn Handelnden
sinkt. Dies drückt sich auch in den deutlich gestiegenen
Zahlen der Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte
aus. So sind ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik die Fälle von Widerstandshandlungen von 1993 bis
2009 um 44 Prozent auf 26 344 Fälle gestiegen.
Es ist der christlich-liberalen Koalition ein ganz besonderes und ein grundsätzliches Anliegen, die staatliche Handlungsfähigkeit und Sicherheit zu gewährleisten; denn geben wir diese Werte preis, geben wir auch
das Vertrauen der Bürger, dass der Staat sie schützen
kann, preis. Ist der Staat nicht in der Lage, sein Handeln
und die Personen staatlichen Handelns zu schützen, werden wir dem Bürger auch nicht vermitteln können, dass
wir in der Lage sind, ihn, den Bürger, zu schützen. Damit
würde das Gewaltmonopol des Staates insgesamt infrage
gestellt.
({5})
Was für Vollstreckungs- und Vollzugsbeamte im Einsatz gilt, muss auch für Rettungs- und Einsatzkräfte gelten: also zum Beispiel für Feuerwehrleute und Angehörige des Technischen Hilfsdienstes, die bei Gefahren,
Unglücken und Katastrophen auch Angriffen von gewaltbereiten Personen an Einsatzorten ausgesetzt sind.
Anders als Polizisten, Gerichtsvollzieher und Justizvollzugsbeamte zum Beispiel sind diese Personen oftmals
nicht Amtsträger und deshalb nicht von § 113 erfasst.
Derjenige, der sich gegen den Vollzugsakt eines Polizeibeamten wehrt, ist im Zweifel auch gegen die am Einsatzort anwesenden Sanitäter, Feuerwehrleute und Rettungskräfte gewaltbereit. Häufig unter Alkoholeinfluss
gewinnt der Widerstand gegen jegliche Maßnahmen eine
Eigendynamik und richtet sich gegen alles und jeden,
der an der Abwicklung beteiligt ist. Berichte von Feuerwehrleuten sowie Einsatz- und Rettungskräften haben
uns immer wieder deutlich gemacht, dass die Gewaltbereitschaft auch gegen diese Rettungs- und Hilfskräfte zunimmt und dass diese sich gegen die Angriffe nicht ausreichend geschützt fühlen. Hier geht es um ein positives
Signal an die Berufstätigen in diesem Bereich: Wir wollen sie vor Nötigung und Gewalttaten schützen.
({6})
Schließlich passen wir die Regelbeispiele des § 113
Abs. 2 StGB an die Rechtsprechung an. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2008 die bis dahin gängige
Auslegung des Begriffs „Waffe“ als zu weit beanstandet.
So wurden nicht nur klassische Waffen wie Schuss-,
Hieb- und Stichwaffen sowie Wurfgeschosse unter den
Waffenbegriff subsumiert, sondern auch andere Gegenstände, die konkret zum Angriff genutzt wurden. In dem
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegenden Fall ging es konkret um ein Kraftfahrzeug, das als „Waffe“ eingesetzt wurde. In Zukunft werden diese bisher untechnisch als „Waffe“ bezeichneten
Gegenstände nunmehr als „andere gefährliche Werkzeuge“ erfasst sein.
Quintessenz unserer Änderungen ist und bleibt aber:
Wir lassen am staatlichen Gewaltmonopol nicht rütteln.
Der Schutz von Polizistinnen und Polizisten sowie anderen Vollstreckungsbeamten bedeutet Schutz und Sicherheit für unsere Bürger.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Jörn Wunderlich. Bitte schön, Herr Kollege Jörn
Wunderlich.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man sollte regeln, wo Regelungsbedarf ist. Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht
es fast ausnahmslos um Strafverschärfungen. Die Anhebung des Strafrahmens in § 113 StGB - Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte - ist unangemessen und nicht
notwendig.
({0})
Es ist schon gesagt worden: Der unter diesen Tatbestand fallende Täter war bisher beispielsweise gegenüber
dem Tatbestand der Nötigung privilegiert. Diese Privilegierung folgte der Erkenntnis, dass es in Vollstreckungssituationen leicht zu Affekthandlungen des Betroffenen
oder eines Dritten, der für ihn Partei ergreift, kommen
kann. Die Privilegierung trug diesem nachvollziehbaren
Umstand Rechnung. Jetzt wird die Privilegierung ohne
Anführung von Argumenten abgeschafft.
({1})
Alkoholisierte oder sich im Recht glaubende Personen, worum es sich bei den Tätern im Sinne des § 113
StGB meist handelt, lassen sich doch nicht durch einen
höheren Strafrahmen abschrecken. Sie machen zu Beginn der Tat keine Kosten-Nutzen-Abwägung, sondern
handeln spontan und emotional.
({2})
Gegenwärtig wird in den abgeurteilten Fällen des § 113
- die Zahlen, die Herr van Essen genannt hat, bezogen
sich nur auf Anzeigen, nicht auf abgeurteilte Taten ({3})
der Strafrahmen von den Gerichten äußerst selten nach
oben hin voll ausgenutzt. Deshalb frage ich: Warum sollen wir den Strafrahmen weiter erhöhen?
Bei dem Gesetzentwurf handelt es sich wirklich um
reine Symbolpolitik. Es ist doch kriminologisch erwiesen, dass eine Strafandrohung allein keine abschreckende Wirkung hat. Man muss auch sagen: Die Sorgen
der Polizei werden doch nicht dadurch gelöst oder verringert, dass wir die Zahl der Stellen auf Landesebene
um 30 Prozent reduzieren und dafür den Strafrahmen des
§ 113 StGB um 50 Prozent anheben.
({4})
Dadurch ist die Welt nicht wieder in Ordnung. Wer das
glaubt, hat von Kriminologie, von der Justiz und vom
Polizeidienst keine Ahnung. Gehen Sie raus, reden Sie
mit den Polizisten! Die Realität sieht ganz anders aus.
({5})
Ich kann nur sagen: Willkommen in der Wirklichkeit.
Die Einbeziehung von Feuerwehrleuten und Rettungskräften ist nicht sachgerecht; denn sie wurden bereits - das ist schon gesagt worden - durch § 240 StGB
und andere Strafrechtsnormen entsprechend geschützt.
Ich halte es auch für verfehlt, die Wörter „gefährliches Werkzeug“ in den Gesetzentwurf aufzunehmen und
dies letztendlich mit Waffen gleichzusetzen. Von Waffen
geht eine andere Gefährdung aus. Bislang konnte der erkennende Richter, wenn gefährliche Werkzeuge mitgeführt wurden, dies in der Strafzumessung berücksichtigen. Das muss man nicht als Tatbestandsmerkmal in den
Paragrafen aufnehmen.
({6})
Das einzig Positive an dem Gesetzentwurf ist die Einführung des minderschweren Falls beim Diebstahl mit
Waffen. Bislang zieht allein das Mitführen einer Waffe
eine erhöhte Strafe nach sich, auch wenn nicht die Absicht bestand, sie zu benutzen. Das hat in der Vergangenheit im Einzelfall zu ungerecht hohen Strafen geführt.
Das einzig Positive an diesem Gesetzentwurf ist also,
dass jetzt der minderschwere Fall eingeführt wird. Wegen seines repressiven Charakters - außer bei diesem
Punkt - ist der Gesetzentwurf im Übrigen in Gänze abzulehnen.
({7})
Der Deutsche Anwaltverein und der Deutsche Richterbund haben sich in ihren Stellungnahmen und in der Anhörung am 27. Januar ganz überwiegend ablehnend zu
dem Gesetzentwurf geäußert.
Die Strafbarkeitslücke, die es möglicherweise zu
schließen gilt, wird in dem Gesetzentwurf weder behauptet noch dargestellt noch ist sie an irgendeiner Stelle
ersichtlich. Der Polizei soll ein bisschen der Bauch gestreichelt werden, ohne dass ihr tatsächlich geholfen
wird. Wir sollten keine Gesetzentwürfe verabschieden,
die lediglich Symbolcharakter haben, sondern, wie eingangs gesagt, dort regeln, wo Regelungsbedarf ist.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Jerzy Montag. Bitte schön, Herr Kollege
Montag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der
letzten Woche konnte die Öffentlichkeit in der Zeit über
die Koalition und die Regierung ein vernichtendes Urteil
lesen.
({0})
Das Urteil lautete - ich darf zitieren -: Wir haben die
„schlechteste Regierung seit 1949“.
({1})
Das Urteil war eine Mischung aus Hohn und Spott, gemischt mit leichter Verzweiflung. Unter der Überschrift
„Kopflos glücklich“ wurde der Regierung und der Koalition völlige Unfähigkeit attestiert.
({2})
Mit diesem Gesetzentwurf sind Sie auch auf dem Gebiet der Rechtspolitik auf diesem Niveau angekommen.
({3})
- Hören Sie mir einmal zu. - Es ist interessant, was Jurastudenten zurzeit über Ihre Reform des § 113 StGB
- Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte - lernen. In
der Aprilausgabe der Juristischen Arbeitsblätter - Grundstudium ({4})
liest unter anderem meine Tochter, die jetzt Jura studiert,
über Sie - das lernen alle Jurastudenten in Deutschland -:
Das systematische Verhältnis zwischen den §§ 113 und
240 StGB wird auf den Kopf gestellt. Eine rechtsgutorientierte Anwendung wird ungemein erschwert. Zum
Schluss steht da - Zitat -: Die abwegigen Gesetzesbegründungen zeigen, dass sich der Gesetzgeber weder des
Privilegierungscharakters der Norm noch ihres Schutzzwecks auch nur im Ansatz bewusst ist.
({5})
Das lernen Jurastudenten in diesen Monaten über den
Gesetzentwurf, über den wir hier diskutieren.
Der Deutsche Richterbund sagt Nein zu diesem Gesetzentwurf. Die Anwaltsverbände sagen Nein. Von drei
Sachverständigen, die wir angehört haben, haben zwei
erklärt, sie lehnen diese Regelung ab. Der Dritte war ein
Vertreter des Deutschen Feuerwehrverbandes. Er hat sozusagen in eigener Sache geredet, als er angehört worden ist.
({6})
Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Siegfried Kauder?
Es ist zu spät. Alle wollen nach Hause. Heute nicht.
({0})
Was Sie da betreiben, ist eine unheilvolle Zersetzung
des rechtsgüterorientierten, systematisch geordneten
Strafrechts nur und ausschließlich zugunsten von reinstem Populismus, ohne jeglichen Sinn und Verstand.
({1})
Die Gesetzentwürfe von Bundesregierung und Bundesrat beginnen mit dem Hinweis, dass Vollstreckungsbeamte und Polizeibeamte in den letzten Monaten und
Jahren vermehrt angegriffen und verletzt worden sind.
Das ist richtig; das stimmt.
({2})
Dafür haben wir Straftatbestimmungen: von Mord und
Totschlag über gefährliche Körperverletzung und
schwere Körperverletzung bis runter zur Nötigung.
({3})
Diese Straftaten sind alle mit Strafrahmen bewehrt, die
höher sind als derjenige, den Sie jetzt für den Widerstandsparagrafen anbringen wollen. Deswegen sage ich
Ihnen: Diese Reform ist nur ein fragwürdiges Signal an
die Polizei - wir tun irgendetwas für euch -,
({4})
und macht darüber hinaus überhaupt keinen Sinn. Die
Täter erreichen Sie so sowieso nicht. Sie müssten die
Deutsche Richterzeitung lesen. Darin stand im April etwas über die Typologie des Täters, der Widerstand leistet. Dort stand, dass er sich um eine Strafrahmenerhöhung von zwei auf drei Jahre nicht im Geringsten schert.
({5})
Deswegen erinnere ich Sie zum Schluss an das, was
die Bundesjustizministerin in der letzten Woche im Vorgriff auf die Strafrechtslehrertagung in Leipzig gesagt
hat: Wünsche nach ständiger Ausdehnung des Strafrechts sind zurückzuweisen. Neue Gesetze sind nur reine
Symbolpolitik. Diejenigen, die immer davon sprechen,
dass Strafbarkeitslücken geschlossen werden müssen,
blenden aus, dass das Strafrecht als Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme nicht taugt. - Das sind
die Worte Ihrer Bundesjustizministerin.
Deswegen sage ich, Herr Kollege Stadler: Diesen Gesetzentwurf der Koalition hätten Sie sich von der CDU
niemals aufzwingen lassen dürfen. Er ist schlecht und
unbrauchbar, und wir lehnen ihn ab.
({6})
Herr Kollege Montag, Ihr Wunsch, nach Hause gehen
zu wollen, ist nachvollziehbar. Trotzdem hat es den Kollegen Siegfried Kauder nicht daran gehindert, sich zu einer Kurzintervention zu melden. - Bitte schön, Kollege
Siegfried Kauder.
({0})
Herr Kollege Montag, erstens schätze ich es durchaus, wenn Sie im Rechtsausschuss sachlich argumentieren; aber hier haben Sie unnötig den Scharfmacher gespielt. Sie haben aus den Juristischen Arbeitsblättern
zitiert. Mich würde interessieren, wer das geschrieben
hat, ob das ein Professor oder so ein Scharfmacher wie
Sie war. Das ist vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung.
Siegfried Kauder ({0})
({1})
Zweitens. Herr Kollege Montag, was Konkurrenzlehre ist, brauche ich Ihnen nicht zu erklären;
({2})
Sie wissen es. Bei einem Tötungsversuch, von dem der
Täter zurücktritt, bleibt § 113 StGB übrig. Auch bei einer gefährlichen Körperverletzung, von der der Angreifer zurücktritt, bleibt § 113 StGB übrig. Das ist einfache
Konkurrenzlehre. Das lernt Ihre Tochter schon im zweiten Semester. Deswegen sollten auch Sie es wissen.
({3})
Ihre Tochter lernt aber auch, was Generalprävention
ist. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass Strafe
nicht abschreckt, brauchen wir sie nicht. Dann können
wir es ganz sein lassen. Es ist anerkannt, dass Generalprävention ein strafverschärfendes Mittel darstellt, welches wichtig und notwendig ist. Deswegen wissen Sie
genau, dass das, was Sie erzählt haben, Unfug war. Bleiben Sie bei dem Niveau, das Sie im Rechtsausschuss
pflegen, dann können wir auch wieder anständig miteinander umgehen.
({4})
Das Wort zur Entgegnung hat Kollege Jerzy Montag.
({0})
Danke sehr, Herr Präsident. - Die Beispiele, die Sie in
Bezug auf die Konkurrenzlehre erwähnt haben, können
wir im Rechtsausschuss oder im Rahmen eines Privatissimums miteinander diskutieren. Das waren aber nicht
die Fälle, die der Kollege Heveling angesprochen hat. Es
sind auch nicht die Fälle von brutalen Übergriffen auf
die Polizei, die in der Öffentlichkeit seit Jahren - völlig
zu Recht, wie ich finde - diskutiert werden. Da gibt es
keinen strafbefreienden Rücktritt. Es gibt da Verletzte
bzw. Polizeibeamte, die im Krankenhaus landen, und es
gibt Sachbeschädigungen. Das alles muss und kann unsere Rechtsordnung ohne Ihr Gesetz von heute sehr wohl
ahnden und verfolgen.
({0})
Zu der Frage, wer hier polemisiert oder nicht, will ich
Ihnen Folgendes sagen: Ich habe keine linksradikale
Kampfzeitschrift zitiert, sondern die Zeit. Die mögen Sie
nicht mögen; aber dass es eine seriöse Zeitung ist, Herr
Kollege, werden Sie nicht abstreiten können. Es war nun
einmal in der Zeit der letzten Woche zu lesen, dass wir
die schlechteste Regierung seit 1949 haben und dass Sie
sich auf allen Politikfeldern nur durch Unfähigkeit auszeichnen.
({1})
Zum Schluss komme ich zu den Juristischen Arbeitsblättern. Ich habe aus einem Beitrag zitiert, der nicht von
einer Studentin oder einem Studenten und auch nicht
von einem wild gewordenen Rechtsreferendar geschrieben worden ist, sondern von Herrn Professor
Dr. Nikolaus Bosch, der - man höre und staune - in Bayreuth, also an einer bayerischen Universität, lehrt. So
viel zu Ihren Überlegungen.
Danke schön.
({2})
Wir fahren in unserer Debatte fort. Für die Fraktion
der CDU/CSU hat Kollege Armin Schuster das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Montag, auch wenn das nicht
die beste Rede seit 1949 in diesem Hause war,
({0})
möchte ich mich erbarmen und Ihrer Tochter Unterstützung anbieten.
({1})
Als ehemaliger Behördenleiter - das darf ich Ihnen versichern - war eine meiner allerbesten Erfahrungen,
junge Staatsanwälte nach ihrer juristischen Ausbildung
in meine Behörde zu bitten - meistens haben die LOStA
das mitgemacht - und sie eine komplette Schicht mit
ganz normalen Polizeibeamten mitfahren zu lassen. Sie
ahnen nicht, von wie vielen juristischen Schriften und
Kommentaren die sich danach gedanklich verabschiedet
haben
({2})
und gesagt haben: Jetzt habe ich gelernt, wie ich juristisches Wissen mit Praxis kombinieren muss. - Das ist
das, was Herr Kauder Ihnen erklärt hat. Schicken Sie
Ihre Tochter einmal eine Schicht lang zu den 250 000
Polizistinnen und Polizisten, die tagtäglich in diesem
Land für die Sicherheit sorgen und das Gewaltmonopol
durchsetzen.
({3})
Der Bürger hat das Recht, bei Gefahr Schutz zu suchen und auszuweichen. Wir verlangen von Vollzugsund Vollstreckungsbeamten, dass sie ihrer Pflicht nachkommen und aktiv einschreiten. Diese Pflicht bürden
wir ihnen per Gesetz auf. Sie tragen damit erhöhte Ge14008
Armin Schuster ({4})
fahren, oft zum Nachteil ihrer Gesundheit. Deswegen
müssen wir hier darüber diskutieren, wie wir diesen Beamten einen besonderen Schutz bieten; diese Debatte ist
richtig.
Polizeidienst auf der Straße wird leider immer gefährlicher, und dabei kommt es immer häufiger zu offener
Feindschaft. Herr Montag, ich erspare Ihnen jetzt die
Aufzählung von Beispielen. Sie haben mich durch Ihre
Rede nicht davon überzeugt, dass der Gesetzentwurf
falsch ist. Es gibt aber nicht nur Gefahren bei Demonstrationen; diese werden immer hervorgehoben. Für
mich ist der alltägliche Einsatz, wo die Lagen eskalieren,
viel prekärer. Beamte werden bespuckt, getreten, geschlagen, mit Flaschen und Steinen beworfen, sogar mit
Waffen bedroht oder angegriffen. Dass eine enorme Erhöhung der Zahl solcher Vorkommnisse in der PKS
nachweisbar ist, haben Sie gehört. Dass PMK, politisch
motivierte Kriminalität, insbesondere von links, dabei
eine erhebliche Rolle spielt, finde ich besonders besorgniserregend. Über die Dunkelziffer haben wir nicht gesprochen. Wir wissen nicht, wie viele Delikte von Polizeibeamten gar nicht erst angezeigt werden. Das ist noch
gar nicht zur Sprache gekommen.
Am 17. November 2010 wurde ein Rettungssanitäter
während eines Notfalleinsatzes der Feuerwehr Bremerhaven schwer verletzt, als zwei Männer ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund auf ihn einschlugen.
Diese - auch durch Studien belegte - zunehmende Gewalt zeigt, wie wichtig es ist, den strafrechtlichen Schutz
für die Angehörigen der Polizei, der Rettungs- und Katastrophenschutzdienste und der Feuerwehr schnell und
spürbar zu verbessern. Es ist richtig, dass die Koalition
mit der Verschärfung des § 113 Strafgesetzbuch ein Zeichen setzt: Wir stehen hinter unseren Einsatzkräften. Der
Staat duldet diese Taten nicht, im Gegenteil: Wir verurteilen sie. Das möchte ich hier ganz nachdrücklich zum
Ausdruck bringen.
({5})
Frau Dr. Högl, ich weiß nicht, mit welchen Polizeibeamten Sie gesprochen haben. Ich spreche regelmäßig
in Arbeitskreisen mit Polizisten. Diese sagen mir: Das ist
keine Symbolpolitik. Wir erwarten von euch glasklar
eine Strafverschärfung. Das ist eine ganz klare Erwartung. Deswegen bin ich heute froh, dass wir politisch
endlich liefern. Ich werde seit eineinhalb Jahren gefragt,
wann wir endlich etwas tun. Wenn ich den Polizisten
nun am Samstag gegenüberstehe, habe ich ein gutes Gefühl. Wir wissen: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist in bestimmten Bereichen mittlerweile zum
Kavaliersdelikt, fast zum Angeberdelikt geworden. Deshalb wollen wir hier ausdrücklich zeigen, dass wir das
nicht dulden.
Dass Rettungskräfte, Feuerwehrleute und THW-Einsatzkräfte einbezogen werden konnten, finde ich besonders gut. Ich verspreche Ihnen - insbesondere Ihnen,
Frau Dr. Högl, weil Sie uns eine Chance geben; das habe
ich wohl gehört -, dass dieses Gesetz seine Wirkung in
der Praxis nicht verfehlen wird.
({6})
Was Polizisten und Rettungskräfte betrifft, haben wir
alles getan, um deeskalierend zu wirken. Wir trainieren
sie. Wir verbessern die Eigensicherung. Wir sorgen für
klare Befehlstaktik und gute Einsatzführung. Wenn Täter
dennoch vorsätzlich gewalttätig werden, ist das ein unerhörter Angriff auf unsere Polizeibeamten, aber auch auf
unseren Rechtsstaat. Daher stimmen wir der heute vorgeschlagenen Verschärfung der Gesetzeslage, die allerdings mit einer deutlichen Verbesserung des präventiven
Schutzes unserer Einsatzkräfte einhergeht, ausdrücklich
zu.
Abschließend: Ich freue mich - jetzt, kurz vor der
Sommerpause, sogar ganz besonders -, dass wir mit der
Verlängerung der Antiterrorgesetze und der Verschärfung des § 113 des Strafgesetzbuches die von uns erwarteten klaren Zeichen an die Betroffenen - sprich: an diejenigen, die in diesem Land im Bereich der inneren
Sicherheit tätig sind - gegeben haben.
({7})
- Dazu komme ich noch.
Ich glaube nicht, dass Sie dazu noch kommen, weil
Ihre Redezeit nicht ausreicht.
({0})
Die Antwort will ich ihm nicht schuldig bleiben: Das
Glück wäre gar nicht auszuhalten gewesen, wenn wir
auch noch eine Regelung zur Vorratsdatenspeicherung
hinbekommen hätten.
({0})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin für das zweite Halbjahr dieses Jahres optimistisch. Schnell und falsch kann
nämlich jeder.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Sebastian
Edathy. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Guten Abend, sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Schuster hat etwas Richtiges gesagt:
Schnell und falsch kann jeder. - Langsam, träge und
falsch, das bekommt allerdings nur Schwarz-Gelb hin,
wie wir seit zwei Jahren beobachten können.
({0})
Herr Schuster, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Unionsfraktion und aus dem übrigen Hause, bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf geht es nicht um eine massive Verschärfung des Strafgesetzbuches. Das kann man
schon dem Umstand entnehmen, dass die FDP dem Gesetzentwurf zustimmt. Wenn es im Bereich der inneren
Sicherheit um wirklich wichtige Stellschrauben geht,
tritt die FDP auf die Bremse. Sie sind offenkundig gutgläubig genug, sich mit Placebos abspeisen zu lassen;
das ist von vielen Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Opposition zu Recht gesagt worden. Auch
wenn Sie, Herr Schuster, von schweren Körperverletzungen gesprochen haben, muss ich Ihnen sagen: In den
einschlägigen Kapiteln des Strafgesetzbuches ist ein
deutlich höheres Strafmaß als drei Jahre vorgesehen, wie
Sie es jetzt in § 113 des Strafgesetzbuches einführen
wollen. Hier sollte man redlich und realistisch bleiben.
Ich habe eben im Handbuch des Deutschen Bundestages nachgeschlagen. Herr Schuster, Sie haben bis zum
Einzug in den Bundestag unter anderem leitende Funktionen bei der Bundespolizei bekleidet. Ich kann Ihnen
nur sagen: In meinen Gesprächen, ob mit Landespolizisten oder mit Vertretern der Bundespolizei, stellte ich
fest: Am meisten wurde von den Beamtinnen und Beamten bemängelt, dass der Gesetzgeber bzw. die jeweils zuständige Regierung nicht genug für ihre Motivation tut.
Ich glaube, Sie hätten einen größeren Beitrag zur Unterstützung der Bundespolizei geleistet, wenn Sie zum Beispiel die sogenannten Weihnachtsgelder nicht weiterhin
eingefroren, sondern sie zur Steigerung der Motivation
der Beamten verwendet hätten.
({1})
Die Gewerkschaft der Polizei weist immer wieder darauf hin, dass 10 000 Polizeibeamte fehlen. Ich glaube,
es wäre auch ein Gewinn für die innere Sicherheit, wenn
man dafür sorgen würde, dass hoch motivierte Beamte in
einen solchen Einsatz gehen und nicht solche, die schon
viele Überstunden geleistet haben.
({2})
Der Beitrag, den man damit leisten würde, wäre mit Sicherheit größer als der Beitrag, den Sie durch die Veränderungen in § 113 des Strafgesetzbuches leisten.
({3})
Weil ich glaube, dass einige Beispiele, die die Redner
der Koalitionsfraktionen angeführt haben, irreführend
sind, will ich betonen: Nötigung wird schon jetzt mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft, in besonders schweren Fällen sogar mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu fünf Jahren. Körperverletzung wird schon
jetzt mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft, gefährliche Körperverletzung sogar mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Das Einzige, das man
Ihrem Gesetzentwurf abgewinnen kann, ist, dass Sie in
§ 114 des Strafgesetzbuches auch diejenigen Kräfte, die
im Rettungsdienst und im Katastrophenschutz tätig sind,
aufnehmen; das ist richtig. Diese Berufsgruppen neben
den Polizeikräften auch in § 305 a des Strafgesetzbuches
aufzunehmen - hier geht es um die Sanktionierung der
Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel -, ist ebenfalls vernünftig und richtig.
Unter dem Strich ist Ihr Gesetzentwurf ziemlich viel
Wind um ziemlich wenig Substanz. An dieser Stelle hat
Herr Montag recht: Ihr Gesetzentwurf reiht sich nahtlos
in die traurige Geschichte ein, in der es darum geht, was
Sie der Öffentlichkeit als vermeintliche Erfolge dieser
Koalition zu präsentieren versuchen.
({4})
Was den Bereich der inneren Sicherheit betrifft, ist das,
was Sie heute vorschlagen - ich will es einmal so formulieren -, nicht schädlich, punktuell sogar begrüßenswert.
Aber im Grunde genommen ist es nichts, was uns substanziell voranbringt. Deswegen wird sich die SPDFraktion bei der Abstimmung enthalten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Damit sind wir am
Ende der Rednerliste.
Mir liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsord-
nung unseres Kollegen Kai Wegner von der Fraktion der
CDU/CSU vor.1)
Somit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Strafgesetzbuches - Widerstand gegen Vollstre-
ckungsbeamte. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6505, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/4143 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Linksfraktion und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das
ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzent-
wurf ist damit in der zweiten Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
1) Anlage 7
Vizepräsident Eduard Oswald
und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist somit
angenommen.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6505, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/2165
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die
dritte Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eva
Högl, Michael Hartmann ({0}),
Christian Lange ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Interessenvertretung sinnvoll regeln - Lobbyismus transparent machen
- Drucksache 17/6442 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Michael
Hartmann. Bitte schön, Kollege Michael Hartmann.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf Sie alle zu dieser späten sommerlichen
Abendstunde darum bitten, noch einen Moment einem
tatsächlich wichtigen Thema Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Thema ist deshalb wichtig und zentral, weil
es nicht nur um die in dem Antrag formulierte Fragestellung geht, sondern im Zusammenhang damit auch sehr
viel weiter gehende Aspekte diskutiert werden.
Wir hören immer wieder und zunehmend Klagen über
den abnehmenden Stellenwert, die abnehmende Bedeutung des Parlaments und parlamentarischer Prozesse.
Unser Bundespräsident hat erst jüngst in einem Interview davor gewarnt. Unser Bundestagspräsident wird
nicht müde, als unser Fürsprecher in dieser Sache zu
agieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir in Zeiten, in denen das parlamentarische Regierungssystem vermeintlich in eine Krise zu geraten droht, auch Selbstheilungskräfte entwickeln.
Ein Instrument, eine Therapie kann es sein, dass sich
das Parlament in Zeiten, in denen immer schneller immer komplexere Entwürfe diskutiert und verabschiedet
werden müssen, in Zeiten, in denen es so aussieht, als
würden wir immer fremdbestimmter agieren, eigene
Entscheidungskompetenz mit Selbstbewusstsein zurückholt. Das gilt auch für das Thema Lobbyismus.
Es lässt sich natürlich nichts dagegen einwenden, dass
wir alle immer wieder mit interessengeleiteten Stellungnahmen aller möglichen Verbände und Vereinigungen
konfrontiert werden. Das beginnt meinethalben bei den
großen Kirchen und endet noch lange nicht beim BDI
und anderen Organisationen. Das ist in Ordnung.
Es geht aber darum, dass wir präziser und genauer alles das erfassen können, womit wir konfrontiert werden.
Mit unserem Antrag ist die Chance gegeben, hier tatsächlich weiter zu gehen.
Bereits seit 1972 - das wird niemand leugnen - haben
wir hier im Deutschen Bundestag eine Registrierungspflicht für alle, die Zugang zum Parlament bekommen
sollen. Trotzdem kommt es einem gelegentlich so vor,
als würden sich die vielen Lobbyisten, die hier registriert
sind, wahnsinnig schnell vermehren.
({0})
Das ist also tatsächlich nicht das Problem. Zugang wird
gefunden. Daran, dass dieser Zugang immer legitimiert
und berechtigt ist, haben wir aber Zweifel.
Deshalb wollen wir mit Ihnen offen einen Antrag diskutieren - das, was wir vorschlagen, ist nicht in Stein gemeißelt -, der vorsieht, dass erstens ein wahrhaftig verbindliches Lobbyistenregister eingeführt wird, zweitens
ein Verstoß gegen die darin enthaltenen Regelungen nun
endlich sanktionsbewehrt wird und drittens - das ist für
uns der wichtigste Punkt - die Finanzierungsströme und
die Hintergründe der Finanzierung aller Lobbyistenverbände, die hier beim Deutschen Bundestag registriert
sein sollen, offengelegt werden;
({1})
denn hinter manchem, der hier im Gewande des Schützers des Allgemeinwohls daherkommt, verbirgt sich eine
knüppelharte, egoistische und kleinkarierte Interessenvertretung.
({2})
Indem die Finanzierungsströme offengelegt werden,
wird dieses getarnte Unterwegssein in dieser Weise nicht
mehr möglich sein.
Denken Sie bitte darüber nach, ob es nicht mit Ihren
Stimmen seitens der Koalition möglich ist - ich weiß,
dass viele Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen das allgemeine Unbehagen teilen -, dass wir dieses verbindliche und transparente Lobbyistenregister unterhalb der Regelung eines Gesetzes im Sinne einer
Selbstreinigung und Selbstheilung einführen.
Das ist natürlich nur ein Mosaikstein neben vielen
weiteren Bemühungen. Dazu gehören auch - Sie wissen
es - die Registrierungspflicht und die Meldepflicht von
Michael Hartmann ({3})
Externen in den Bundesministerien. Last, not least gehört auch die Änderung des Straftatbestands der Abgeordnetenbestechung dazu; wir werden bald einen Vorschlag dazu unterbreiten.
Helfen Sie bitte mit, unser Parlament transparenter zu
machen. Helfen Sie mit, zu verhindern, dass Lobbyisten
hier scheinbar die Macht übernehmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Es ist gerade einmal drei Monate her, dass
wir hier den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Einführung eines Lobbyistenregisters diskutiert haben.
({0})
Ich habe den damaligen Antrag als einen Schaufensterantrag bezeichnet,
({1})
und zwar deshalb, weil er ausschließlich darauf ausgerichtet war, sich aktuelle politische Stimmungen zu Eigen zu machen und den Begriff „Lobbyismus“ als - man
kann ihn inzwischen so bezeichnen - politischen Kampfbegriff zu nutzen, trotz des Wissens, dass die parlamentarische Wirklichkeit anders aussieht.
({2})
Der heutige Antrag ist nicht nur ein schlechter zweiter
Aufguss, sondern er ist mehr als ein Schaufensterantrag.
Ich muss das so sagen: Er ist quasi ein Phantomantrag,
der in den Details überhaupt nichts mehr mit unserer Arbeit zu tun hat.
({3})
Über Ihren Debattenbeitrag können wir diskutieren, aber
die Details Ihres Antrags haben mit der Wirklichkeit
nichts zu tun.
({4})
- Ich habe ihn gelesen.
Damit ich nicht missverstanden werde: In Ihren Begründungen stehen Formulierungen, die wir gemeinsam
durchaus sehr ernst nehmen müssen. Wenn im Land
wirklich der Eindruck entsteht, dass wir als Parlamentarier nicht mehr in der Lage sind, Interessen richtig abzuwägen oder auch abzuwehren, und dass sich vielleicht
Interessen einseitig - ich sage es einmal so - auf dunklen
Wegen durchsetzen, dann muss uns das schon alarmieren. Wenn es in der Parlamentspraxis denn so wäre!
Zunächst einmal sei festgestellt, dass unsere Parlamentariertätigkeit, ja, Politik überhaupt, letztlich nichts
anderes als die ständige Wahrnehmung von Interessen
ist.
({5})
Das fängt bei jedem Kollegen schon in seiner Heimat an.
Jeder von uns bringt hier in Berlin Wahlkreisinteressen
ein. Das sind im Übrigen oft auch Wirtschaftsinteressen:
das Interesse am Erhalt und der Sicherung von Arbeitsplätzen und Branchen, die im jeweiligen Wahlkreis von
besonderer Bedeutung sind.
Durch jeden Beschluss und jedes Gesetz treffen wir
Menschen und Gruppen unserer Gesellschaft mal positiv, mal negativ. Diese Menschen und Gruppen haben
sich in der Regel schon vorher durch Einzelstimmen,
Verbandsvertreter oder die Mobilisierung der Öffentlichkeit gemeldet. Es ist sogar so, dass wir Interessenvertreter sehr bewusst einladen, am Gesetzgebungsverfahren
teilzunehmen, indem wir öffentliche, transparente Anhörungen durchführen,
({6})
mit der ausdrücklichen Erwartung, dass von den oft beschimpften Verbandsvertretern zusätzlicher Sachverstand in die Debatte, in die Diskussion eingebracht werden kann. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie
wichtig mir als Abgeordneter von der Mosel die Stellungnahmen der Bauern- und Winzerverbände waren, als
wir das Weingesetz diskutiert haben, um hier zu einer
guten Lösung zu kommen.
({7})
Wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck aufkommt,
dass die Interessen einzelner Gruppen - Sie haben einige
genannt -, seien es spezielle Wirtschaftsverbände, seien
es Gewerkschaften, seien es Sozialverbände, Kirchen
oder Einzelinteressen, in politisch nicht wünschenswerter Weise in ein Gesetz Eingang gefunden haben, dann
muss das hier in der Debatte ganz konkret benannt werden. Das geschieht auch. Das tragen wir hier miteinander
aus: in erster, zweiter und dritter Lesung. Wir tragen das
in Ausschussberatungen und Anhörungen aus.
Dabei helfen keine bürokratischen und weltfremden
Vorschläge - ich muss sie einfach so bezeichnen - wie
die in Ihrem Antrag. Ein immer wieder aktualisiertes
Lobbyistenregister liegt bereits seit Jahrzehnten vor. Sie
werden es nie schaffen - es wäre schlimm, wenn es anders wäre -, den Bundestagsabgeordneten Vorschriften
zu machen, mit wem sie wann und wo sprechen oder
nicht sprechen.
({8})
- Doch, ich komme jetzt zu Ihrem Antrag. In Ihrem Antrag heißt es:
Als entscheidendes Kriterium der Kontaktaufnahme zu Bundestagsabgeordneten oder Bundesbehörden müssen finanzielle wie zeitliche Schwellenwerte festgelegt werden.
Oder:
Definitionen von Interessenvertretung müssen formuliert werden.
Sagen Sie uns, wie das in der Praxis gehen soll. Ich
frage Sie im Ernst: Wie definieren Sie gute und
schlechte Interessenvertreter? Wo fängt für Sie der Interessenvertreter überhaupt an?
({9})
Was ist dafür die Definition?
Der Gipfel des Ganzen ist der Vorschlag, Ordnungswidrigkeitstatbestände einzuführen bzw. neu zu schaffen.
({10})
An dieser Stelle sage ich ganz klar: Bei Bestechung und
Korruption gilt das Strafrecht. Dann helfen keine irgendwie gearteten Register, Listen oder das Vorzeigen von
Gehaltsbescheinigungen von Gesprächspartnern.
Ich möchte zum Schluss mit einem Zitat unseres Bundestagspräsidenten Dr. Lammert aus einer wie immer,
wie ich finde, sehr bemerkenswerten Rede am 28. März
2011 in der Frauenkirche in Dresden enden, und zwar
zum Thema „Interessen gegen Gemeinwohl - Gerechtigkeit in der Politik“. Er hat dabei sehr zutreffend ausgeführt, dass die meisten Menschen mit der Wahrnehmung
von Interessen, auch in organisierter Form, kein Problem
haben - ich zitiere -,
… wenn es sich um ihre Interessen handelt, während dann, wenn eigene Interessen mit anderen kollidieren, die ärgerlicherweise auch noch organisiert
vertreten werden, sich beinahe reflexhaft Empörung
einstellt. Und die inzwischen handelsübliche Form
der Empörung ist heutzutage mit dem Begriff
„Lobbyismus“ verbunden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Raju Sharma von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Kaster hat eben von Phantomanträgen gesprochen. Wenn eine Sache etwas Phantomhaftes hat, dann
ist es eher der Lobbyismus, weil man ihn nicht sehen
kann, aber man weiß, dass es ihn gibt. Der Lobbyismus
ist ein Phänomen, dessen Existenz man nicht bestreiten
kann.
({0})
- Lobbyismus gibt es. Er ist eine Form von gesellschaftlicher Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. Wir als Linke sagen: Wir finden, es gibt bessere,
transparentere und richtigere Formen der gesellschaftlichen Beteiligung, zum Beispiel Volksentscheide auf
Bundesebene. Dafür streiten wir.
({1})
Da es den Lobbyismus nun einmal gibt, muss man ihn
regulieren.
({2})
- Sicher muss man ihn regulieren. Ich nenne Ihnen nachher ein Beispiel, wie sich ein unregulierter Lobbyismus
auswirkt. Dabei komme ich auch ganz speziell auf die
FDP zu sprechen.
({3})
Immerhin sind Sie realistisch genug, zu erkennen, dass
Sie mit dem unregulierten Lobbyismus am meisten Profite machen können. Dazu kommen wir nachher.
({4})
Der Punkt ist: Die SPD hat jetzt als dritte Partei einen
Antrag zur Regulierung des Lobbyismus vorgelegt. Dieser Antrag sieht im Wesentlichen ein verpflichtendes
Lobbyistenregister vor. Das ist gut, das ist richtig, und
das ist überfällig. Es ist in gewisser Weise auch so etwas
wie ein Akt der Selbstkritik der SPD. Das Schöne an
Selbstkritik ist, dass es den anderen die Notwendigkeit
nimmt, auch noch den Finger in die Wunde zu legen und
darin herumzubohren.
({5})
Ansonsten könnte ich jetzt einen Haufen Beispiele bringen, um zu belegen, warum gerade die SPD in den letzten und auch in früheren Jahren mit dem Lobbyismus
Probleme gehabt hat. Das will ich jetzt jedoch nicht machen.
Ein Beispiel will ich Ihnen aber nicht ersparen, weil
es so aktuell ist und weil ich es auch heute Nachmittag
schon beim Thema Parteienfinanzierung angesprochen
habe. Es betrifft ein Thema, über das wir auch morgen
reden werden. Die Bundesregierung beabsichtigt nämlich, Panzer nach Saudi-Arabien zu liefern. Panzer nach
Saudi-Arabien - das allein ist schon fragwürdig. Aber
wenn man dann sieht, dass FDP, CDU/CSU und auch die
SPD in den letzten Jahren über 600 000 Euro an Spenden von den Hauptherstellerfirmen der Panzer bekommen haben, macht man sich schon Gedanken, ob hier
wirklich alles so unabhängig ist.
({6})
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der inhaltlich
weitgehend dem Antrag der Linken folgt. Das finden wir
natürlich begrüßenswert. Wir können uns vielleicht für
zukünftige Fälle vornehmen, dass wir solche Anträge
gleich zusammen formulieren. Dann kann man sich besser dabei unterstützen. Das machen wir gerne.
({7})
Fakt ist jedenfalls, dass wir uns jetzt auf Oppositionsseite einig sind, dass der Lobbyismus mit einem verpflichtenden, verbindlichen Lobbyistenregister reguliert
werden muss. Wir sind uns einig, die Bürgerinnen und
Bürger wollen das auch. Im Grunde muss man sich nur
fragen, warum Sie nicht mitmachen. Warum weigern Sie
sich, hier für mehr Transparenz zu sorgen? Warum weigern Sie sich, das alles auf den Tisch zu legen? Es würde
der Demokratie guttun, es würde auch uns in diesem
Hause guttun. Arbeiten Sie mit! Es gibt genug Vorschläge, die alle auf dem Tisch liegen. Sie sind herzlich
eingeladen, daran mitzuwirken.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Antrag der SPD zum Lobbyistenregister. Ich muss sagen, Kollege Hartmann, Ihren
Wortbeitrag kann man in Teilen unterstützen.
({0})
Aber das, was Sie als Antrag vorgelegt haben, entspricht
nicht dem, was Sie hier an dem Pult wörtlich von sich
gegeben haben.
({1})
Insofern unterstütze ich das, was Herr Kaster sagt.
Grundsätzlich liegen Sie mit der Feststellung richtig,
dass es offensichtlich eine öffentliche Wahrnehmung
gibt, die nahelegt, dass man das Thema Lobbyismus
vielleicht genauer betrachten muss. Das unterstützen wir.
Es gibt auch ein Lobbyistenregister. Aber Ihren Antrag,
so wie Sie ihn gestellt haben - den werde ich mir gleich
mit Ihnen zusammen angucken -, lehnen wir ab, weil darin Kriterien stehen, die schwammig sind, und Forderungen, die nicht umzusetzen sind.
({2})
Lassen Sie mich zum Beispiel feststellen: Sie fordern,
dass Lobbyarbeit dann erfasst werden soll, wenn sie entweder einen bestimmten zeitlichen oder einen bestimmten finanziellen Rahmen überschreitet. Da frage ich
mich: Was sind das für Kriterien? Sie sind übrigens auch
beide falsch, wie ich Ihnen gleich noch erläutern werde,
weil sie willkürlich gewählt sind und - das ist natürlich
die Zielrichtung Ihres Antrages - vor allen Dingen auf
unternehmerisch tätige oder verbandlich organisierte
Lobbyisten abzielen. Aber wir haben natürlich - wenn
man den Lobbyistenbegriff wirklich genau nimmt - eine
Vielzahl von Lobbyisten. Im Grunde sind wir alle ein
Stück weit Lobbyisten für das Volk; denn wir hier im
Parlament sind gewählte Interessenvertreter und deswegen sicher auch Lobbyisten für das Volk im guten Sinne.
({3})
- Wenn Sie sich nicht als Lobbyist für das Volk sehen,
müssen Sie das mit sich ausmachen; das tut mir leid.
({4})
Nun zu Ihren Kriterien: Was soll das Kriterium Zeit
genau bedeuten? Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass ein
bestimmter zeitlicher Rahmen überschritten werden
muss. Wie stellen Sie sich das vor? Die aufgewendete
Lobbyarbeit soll irgendwie erfasst werden. Das kann
doch angesichts der vielen Gespräche mit Interessenvertretern nicht funktionieren. Das wissen Sie selbst.
Manchmal ist eine kleine Bemerkung am Rande eines
Treffens oder ein kurzes Telefonat genauso wirkungsvoll
wie eine Lobbyarbeit von großem zeitlichem Aufwand.
Auch Geld oder Organisation sind Kriterien, die ich
ganz vehement infrage stelle, weil wir auch jede Menge
ehrenamtlich tätige Lobbyisten haben, übrigens auch
durchaus und gerade aus Ihren Reihen.
In der Zeitschrift AWO in Bayern zum Beispiel
schreibt der AWO-Bezirksvorsitzende im Juni 2011:
In der Tat haben Lobbyisten großen Einfluss.
Die AWO könnte, heißt es weiter, „diese Karte noch viel
öfter und besser spielen, wenn sie sich im Interesse ihrer
Klientel zusammentun und noch mehr gemeinsam agieren würden. Wir haben ein hohes Ansehen, Tausende
Beschäftigte, unzählige Sozialeinrichtungen.“
Dieses Zitat zeigt ganz klar, dass Ihre Kriterien, nämlich Zeitaufwand und Geld, nicht zur Abgrenzung von
Lobbyismus geeignet ist. Kollegin Högl und Kollege
Hartmann, Sie sind beide Mitglied der AWO und damit
sozusagen Teil dieses Lobbyistenverbandes. In jedem
Ortsverband der SPD gibt es auch Mitglieder der AWO.
({5})
Das ist eine große ehrenamtliche Lobbyistenvereinigung. Wie wollen Sie bei ihr die Kriterien Zeitaufwand
und Geld anlegen?
Nein, dieses System funktioniert, weil Ehrenamtler
organisatorische Unterstützung leisten. Deswegen ist das
Kriterium ungeeignet.
Zu den Offenlegungspflichten in Ihrem Antrag haben
Sie nichts gesagt. Sie sind ebenfalls kritisch zu betrachten. Sie fordern eine detaillierte Aufschlüsselung und die
Veröffentlichung von Auftragsvolumina, und zwar nicht
nur von Lobbyistenverbänden, sondern auch von den
Angestellten dieser Lobbyistenverbände. Das heißt, dass
Lobbyisten, die als Angestellte arbeiten, den Anteil ihres
Gehaltes für sogenannte Lobbyaktivitäten veröffentlichen sollen.
Ich frage mich, wie Sie, die immer den Arbeitnehmerdatenschutz anführen, das miteinander in Einklang bringen wollen. Wie wollen Sie das vor allen Dingen praktisch handhaben? Das funktioniert nicht. Sie verletzen
damit die Privatsphäre dieser Arbeitnehmer, die vielleicht für ihren Arbeitgeber Lobbyarbeit machen müssen.
Sie wollen zudem, dass deren Postanschrift veröffentlicht wird. Wozu eigentlich? Damit irgendwelche Verrückten radikale Extreme, wie es sie in manchen politischen Interessenvertretungen gibt, zu der Privatanschrift
von Angestellten kommen und Drohbriefe schicken oder
Ähnliches? An dieser Stelle geht Ihr Wunsch nach
Transparenz ein großes Stück zu weit.
({6})
Ich glaube, dass Ihr Antrag wegen dieser Mängel abzulehnen ist.
({7})
- Lesen Sie doch den Antrag. Dann merken Sie, dass
das, was ich beschreibe, genauso darin enthalten ist.
Sie erklären auch nicht genau, wie die Überwachung
Ihrer Forderungen funktionieren soll. Das kann nur
funktionieren, indem man zusätzlich zu dem Lobbyistenregister, das es seit Jahrzehnten gibt, eine große Überprüfung der Gespräche vorsieht, die wir führen. Es
wurde bereits gesagt: Wir führen viele Einzelgespräche.
Jetzt sollen wir auch noch in irgendeiner Form vorher
kontrollieren, ob jedes Einzelgespräch diesen Lobbyistenkriterien entspricht, die auch noch, wie gesagt, ungeeignet sind. Das funktioniert mit Sicherheit nicht.
Liebe Freunde von den Linken, was Sie machen, ist
die Regulierung politischer Meinungsbildung in der Demokratie. Mir ist klar, dass Sie gerne alles regulieren
wollen. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir Meinungsbildung in unserer Demokratie nicht regulieren
müssen. Das geht einen entscheidenden Schritt zu weit.
Wir lehnen aus den genannten Gründen den Antrag
ab. Wir können aber gerne in Ruhe weiter diskutieren.
Herr Hartmann, Ihr Wortbeitrag hat interessante Aspekte
enthalten. Darüber können wir gerne weiter reden, aber
über den Antrag nicht.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz
von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Demokratie braucht Transparenz. So schlicht ist das. Darin
werden Sie mir wahrscheinlich noch zustimmen, Herr
Kollege Kaster. Aber wenn Sie von einer weltfremden
Phantomdebatte reden und gleichzeitig Bürgergespräche mit dem 100 Millionen Euro schweren Lobbyismus
im Regierungsviertel vergleichen, dann ist nicht der Antrag zur Einführung eines Lobbyistenregisters, sondern
Ihre Ansicht weltfremd.
({0})
Ich will in dieser Debatte zu vorgerückter Stunde eine
kurze Geschichte erzählen. Ich bin vor circa drei Jahren
auf die Landesliste in Schleswig-Holstein gewählt worden. Kurze Zeit später schenkte mir ein alter Freund aus
Studienzeiten ein Buch „LobbyPlanet Berlin - Der Reiseführer durch den Lobbydschungel“. Es ist ein interessantes Buch. Darin steht viel über Lobbyismus in Berlin.
Ich empfehle jedem sehr, es zu lesen.
Ich erzählte das meiner Kollegin Ingrid Nestle, die
auch auf die Landesliste der schleswig-holsteinischen
Grünen gewählt worden war. Sie sagte: Das ist ja lustig.
Eine Freundin hat mir gestern genau dasselbe Buch geschenkt. - Weil ich fand, dass das ein merkwürdiger Zufall war, erzählte ich die Geschichte auf dem Neujahrsempfang der Oberbürgermeisterin in Kiel. Dort kam die
CDU-Direktkandidatin aus Kiel auf mich zu und sagte:
Mir hat das Buch auch gerade jemand geschenkt.
({1})
- Genau! In Schleswig-Holstein werden Bücher verschenkt, und das ist ein schönes Zeichen.
({2})
Ich schenke es dir gleich, Halina.
Ob das nun statistisch ein Zufall ist oder nicht: Auf jeden Fall kommt doch zum Ausdruck, dass in der Bevölkerung ein massives Problembewusstsein bezüglich des
Lobbyismus besteht, der hier stattfindet.
({3})
Wenn Sie dieses Zusammentreffen als zufällig abtun,
dann nehmen Sie aber bitte die vielen Gespräche mit
Bürgerinnen und Bürgern ernst. Die können bei Ihnen ja
nicht total anders verlaufen als bei uns.
({4})
Man wird immer wieder darauf angesprochen, dass der
Wunsch besteht, mehr Transparenz in den Lobbyismus
in Berlin zu bekommen. Das geht bis hin zu statistischen
Erhebungen, nach denen der Einfluss der Wirtschaft auf
die Politik zu stark ist und man mehr Transparenz
braucht.
Wir brauchen miteinander nicht zu diskutieren, dass
Lobbyismus, Interessenvertretung das alltägliche Geschäft hier ist und dass wir alle jeden Tag damit zu tun
haben. Vom THW über das Rote Kreuz bis hin zum Verband der Chemischen Industrie ({5})
alle bringen ihre Positionen vor. Anders kann Politik
nicht funktionieren. Wir als Abgeordnete müssen sozusagen auf der Basis unserer lauteren Werte - das ist ein
ganzer Kanon - dann die richtige Entscheidung treffen.
({6})
- So ist es, Herr Kaster. Aber wenn es so ist, dann müssen wir nach außen Transparenz darüber schaffen, wer
hier versucht, Einfluss zu nehmen. Die Leute wollen es
wissen. Deswegen ist es einfach eine Selbstverständlichkeit, ein Lobbyregister einzuführen.
({7})
- Ja, aber kein verpflichtendes, Herr Höferlin; das wissen auch Sie. Wer sich nicht eintragen lassen will, der
lässt sich eben nicht eintragen. Das reicht nicht.
({8})
- Dass es heute schon 600 Seiten hat, zeigt doch,
({9})
wie viele Lobbyisten es gibt, die das schon freiwillig
tun.
({10})
Interessant wäre es, jetzt noch sozusagen die einzusortieren, die sich nicht freiwillig melden, aus welchen Gründen auch immer.
({11})
Deswegen haben wir schon vor geraumer Zeit, vor
mehreren Monaten, unseren Antrag vorgelegt. Die Linke
hat einen Antrag vorgelegt. Die SPD hat jetzt nachgezogen. Wir unterstützen auch diesen Antrag.
Weil der Kollege Hartmann von Selbstheilungskräften gesprochen hat, sage ich: Es geht hier nicht um
Selbstheilungskräfte, sondern es geht bei der Frage eines
Lobbyistenregisters um einen Selbstbehauptungsanspruch, den wir als Abgeordnete geltend machen sollten.
Deswegen würde ich Ihnen doch sehr zuraten, sich einen
Ruck zu geben. Ich weiß, die FDP ist gar nicht so weit
davon entfernt, uns hier zuzustimmen.
({12})
Herr Kollege, erlauben Sie zum Abschluss noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Ja, das ist gut. Sehr gern.
Bitte schön, Herr Fricke.
Herr Kollege, wir merken in der Debatte, dass es
durchaus Punkte gibt, über die wir diskutieren, um gute
Lösungen zu finden. Ich will zur Mehrung der Erkenntnis einfach zwei, drei Sachen fragen.
Meinen Sie, wenn Sie von Lobbyisten sprechen, auch
Gewerkschaften, ({0})
- Natürlich.
- Kirchen, Umweltverbände, Flüchtlingsverbände
usw., alle?
({0})
- Selbstverständlich.
Das ist gar keine kritische Frage, sondern nur eine
Frage zur Aufklärung.
Jetzt habe ich das folgende Problem: Ich habe vor
kurzem ein Gespräch mit Vertretern eines Flüchtlingsverbandes gehabt, der - ich will es vorsichtig formulieren - im weitesten Sinne die Interessen von Flüchtlingen
aus Syrien vertritt, also ein Lobbyverband ist. Der Vertreter hat mir gesagt, dass er mit mir nur sprechen will,
wenn klar ist, dass von seiner Person nichts auftaucht,
und wenn ich als Abgeordneter zusage, dass diese
Gruppe - in Ihrem Sinne eine Lobbygruppe - auf keinen
Fall in die Öffentlichkeit kommt.
Nach dem, was Sie sagen, sind wir uns darüber einig,
dass es aber auch Fälle gibt, und zwar viele Fälle, in denen der Abgeordnete sogar die Pflicht hat, nicht zu sagen, mit welchem Interessenvertreter er spricht.
({0})
- Ich frage allgemein. Es geht mir um Erkenntnisgewinn.
Herr Kollege Fricke, ich begrüße zunächst einmal
sehr, dass Sie sich auch mit solchen Lobbyistengruppen
treffen. Für diesen besonders gelagerten Fall wird man,
so würde ich behaupten, eine gute Regelung finden, sodass die Vertreter nicht ins Licht der Öffentlichkeit geraten.
({0})
Die Tatsache, dass Sie diesen Fall herauspicken, Herr
Kollege Fricke, lässt doch tief blicken. Wenn Sie einmal
durchs Regierungsviertel schlendern und sich die Hausfronten in einem Umkreis von 800 Metern anschauen,
dann sehen Sie, dass hier die gesamte Industrie Haus an
Haus vertreten ist.
({1})
- Nein, das ist überhaupt nicht schlimm. Dieser Widerspruch, hinter dem Sie sich ständig verstecken - ich
weiß nicht, wie ich es noch deutlicher sagen soll -, besteht aber nicht.
({2})
- Ich stimme Ihnen völlig zu. Sie müssen stark genug
sein, den Anreizen zu widerstehen. Das traue ich Ihnen
auch total zu. Ich sage Ihnen allerdings, viele Länder auf
der Welt haben ein verpflichtendes Lobbyistenregister,
und die Welt ist trotzdem nicht untergegangen. Deswegen steht dies auch Deutschland gut an. Herr Fricke, wir
werden bestimmt Regelungen finden, wie wir da gemeinsam zu einem Ergebnis kommen können.
Ich komme zum Schluss. Die Selbstheilungskräfte,
die der Kollege Hartmann angemahnt hat, sind vielmehr
Selbstbehauptungskräfte, die wir als Parlamentarier entwickeln sollten. Es sollte uns ein inneres Bedürfnis sein,
nach außen Transparenz herzustellen. Es ist keine große
Sache. Ich möchte behaupten, dass der Widerstand, den
man eventuell befürchtet, gar nicht vorhanden ist, weil
Unternehmen, gerade auf europäischer Ebene, ein Interesse an Transparenz haben, um diesen Makel loszuwerden.
Demokratie braucht Transparenz. Dabei bleibt es.
Stimmen Sie für diesen Antrag, selbst wenn er von der
SPD kommt.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es war vorhin schon einmal die Rede von einem
Antrag der Grünen aus dem April und von einem Antrag
der PDS zum selben Thema,
({0})
der nicht wesentlich länger zurückliegt. Nun gibt es also
diesen Antrag der SPD. Solche Anträge kann man natürlich im monatlichen Rhythmus stellen. Es stellt sich aber
die Frage, ob neuere Erkenntnisse hinzugekommen sind.
Wir sehen diese jedenfalls nicht.
Das Lobbyistenregister gibt es bereits seit 1972 in
Deutschland. Man kann es natürlich auf irgendeine
Weise qualifizieren. Aber dafür muss es aus unserer
Sicht Gründe geben.
Ich denke, wir sind uns alle einig - das merken wir,
wenn wir mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen, Herr
Kollege von Notz -, dass die Wörter „Lobbyismus“ und
„Lobbyist“ negativ besetzt sind. Ich beklage dies, weil
ich es für falsch halte. Anträge wie den, den Sie hier einbringen, und solche Debatten, die wir heute hier führen,
zeichnen ein Zerrbild, das eben nicht der Realität entspricht.
({1})
Wenn sieben von zehn Bürgerinnen und Bürgern - so
steht es im Antrag der SPD; es wird darin vorausgesetzt,
dass diese Zahlen repräsentativ sind - der Auffassung
sind, dass die Korruption in Deutschland zugenommen
hat, dann besteht in der Tat ein Problem; denn die Zahlen, die das Ausmaß der Korruption verdeutlichen, besaMarco Wanderwitz
gen genau das Gegenteil. Es handelt sich also lediglich
um ein dumpfes und subjektives Gefühl, dass dem so
sei. Kollege Hartmann hat vorhin so schön gesagt, Politik werde immer komplexer. In der Tat kann man deswegen ein solches Gefühl bekommen. Aber die Realität ist
offensichtlich anders.
Lobbyismus ist - Kollege Kaster hat es schon gesagt für uns Politiker eine lebenswichtige Form von Interessenvermittlung. All die Argumente fallen doch nicht
vom Himmel. Niemand von uns hat das notwendige
Wissen, um Kenntnis über alle möglichen Verästelungen
bei den Interessen zu haben, was die Voraussetzung für
die bestmögliche Abwägung im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens ist. Wir sind also geradezu darauf angewiesen, dass all die Interessenvertreter - viele sind
schon angesprochen worden; sie sind mehr oder weniger
in Verbänden organisiert; ich nenne beispielsweise die
klassischen NGOs und die berufsständischen Vertretungen - auf uns zukommen und uns erläutern, was die
Gruppe, die sie vertreten, bewegt.
Das erleben wir in Berlin, ebenso wie die Kollegen in
Brüssel oder in den Landtagen, im Großen. In den Wahlkreisen erleben wir es im Kleinen, wo wir es beispielsweise mit Kreisverbänden im Bereich des Sports zu tun
haben. Ich kann daran überhaupt nichts Schlechtes entdecken. Ich könnte es einzig und allein nur dann, wenn
wir uns selbst nicht zutrauten, diese subjektiven Interessen als genau das zu erkennen, was sie sind, nämlich
subjektive Interessen, die wir uns genau anschauen und
gegeneinander abwägen müssen, um am Ende das für
uns herauszulesen, was Gemeinwohlinteresse ist.
({2})
Im Übrigen fand ich das Bild, das Kollege Höferlin
gezeichnet hat, überhaupt nicht kritikwürdig. Das ist
nämlich auch mein Bild. Auch ich empfinde mich als
Lobbyist für die Menschen meiner Heimatregion.
({3})
- Ja, offensichtlich nicht. Die Zwischenrufer von den
Linken haben wir vorhin ja zu diesem Thema gehört.
Ich habe einen positiv besetzten Lobbyistenbegriff.
Sie schreiben im Übrigen in Ihren Antrag selbst hinein:
Eine verbesserte Transparenz kann illegitime Formen der Einflussnahme oder gar Fälle von Korruption zwar nicht völlig verhindern, …
Ich will mal den Schwerpunkt nicht auf das „völlig“ legen, obwohl das da steht, sondern will Ihnen sagen:
Eben, schwarze Schafe wird es immer geben.
({4})
Dafür haben wir jetzt schon das Strafrecht. Ich glaube
nicht, dass Ihr Antrag da vieles wesentlich besser machen würde. Das ist viel weiße Salbe, im Übrigen verbunden mit einer erheblichen Menge an Bürokratie.
Denn das müssen Menschen aufnehmen, vielleicht überprüfen. Mit der Meldung ist es ja nicht getan, wenn man
das wirklich alles ernst meint.
Durch diese Formulierungen aber, die hier immer
wieder in die Debatte getragen werden, reden wir nicht
über die schwarzen Schafe, sondern wir tun so, als bestünde die ganze Schafherde aus schwarzen Schafen.
Die Herde besteht aber mehrheitlich aus weißen Schafen, um jetzt mal das Bild, dass die schwarzen Schafe
die Schlechteren sind, was der alten Volksmeinung entspricht, zu nehmen. Wir können es auch umdrehen.
Ich glaube, wir müssen einfach aufhören, das Bild
von irgendwelchen Dunkelmännern und Dunkelfrauen
zu zeichnen, die über unsere Gänge schleichen und die
keiner kennt. Zu behaupten, zu Tausenden zögen sie hier
umher, ist doch schlicht falsch.
({5})
Wenn irgendjemand von uns einen Termin will, fragen wir doch: Wer sind Sie denn? Wenn ich darauf keine
befriedigende Antwort bekomme, dann bekommt diejenige oder derjenige bei mir jedenfalls keinen Termin. Ich
höre mir doch irgendjemanden, der mir nicht mal sagen
kann, für wen er steht - es sei denn, er bringt seine ureigenen Interessen vor -, nicht an.
Einen konkreten Punkt möchte ich noch ansprechen:
Was muss mich interessieren, was ein Verbandsvertreter
oder ein anderer Lobbyist verdient? Dahinter kann doch
nur ein Gedanke stehen: Derjenige, der mehr verdient,
hat die moralisch verwerflichen Interessen.
({6})
- Aha, größere Möglichkeiten. Es gibt eine größere
Wirkkraft seiner Argumente, die er mir entgegenhält?
({7})
- Ja, Herr Kollege Montag, da kann ich nur für uns sagen - ich glaube, das geht uns allen hier im Haus so; da
hoffe ich doch, dass Sie nicken -, das sind doch die Argumente, die in dieser Herde, in der die weißen Schafe
überwiegen, hoffentlich niemanden interessieren.
({8})
Als letzte Rednerin hat die Kollegin Dr. Eva Högl von
der SPD das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, ich habe
es registriert, aber ich habe nicht verstanden, warum Sie
unseren Antrag ablehnen. Ich verstehe es einfach nicht.
({0})
Ich sehe aber in der Auseinandersetzung mit Details,
insbesondere von Ihnen, Herr Kollege Höferlin, die
Chance, dass wir vielleicht doch zu einer Sachdebatte
kommen. Allerdings setzt das voraus, liebe Kollegen,
dass Sie unseren Antrag erst mal lesen - leider haben Sie
ihn bisher noch nicht gelesen ({1})
und ihn dann im zweiten Schritt auch verstehen. Liebe
Kollegen, ich gebe Ihnen die Chance, über die Sommerpause diesen Antrag noch einmal zu lesen, dann auch zu
verstehen, und anschließend können wir im Ausschuss
vielleicht sachlich darüber diskutieren.
Ich will dazu ein paar Aspekte ansprechen. Wir können das Register, das wir vorschlagen und das auch die
anderen beiden Fraktionen vorgeschlagen haben, nicht
mit dem vergleichen, was wir seit 1972 haben, weil wir
nämlich ein verbindliches Lobbyistenregister fordern ein verbindliches mit verbindlichen Vorschriften und
auch mit Sanktionen, wenn nicht eingetragen wird.
({2})
Da geht es nicht darum, wer wann mit wem an welchem Ort welche Gespräche geführt hat. Darum geht es
nicht. Das soll auch nicht veröffentlicht werden und
auch nicht in diesem Register niedergelegt werden.
({3})
- Das steht nicht in unserem Antrag, und darum geht es
auch nicht. Es geht darum, diejenigen zu verpflichten,
sich einzutragen, die professionell, hauptamtlich Lobbyismus betreiben.
({4})
Darüber können wir uns in der weiteren Debatte verständigen. Sie haben bereits erste Ansätze gezeigt, die
ermöglichen, dass wir in ein Gespräch kommen.
Wir brauchen Definition und natürlich auch Grenzen.
Wir müssen sagen: Wir unterscheiden, ob jemand gelegentlich für bestimmte Interessen wirbt und diese dann
durchsetzt oder ob das vielleicht seine hauptsächliche
Tätigkeit ist. Eine Anwaltskanzlei, die sich überwiegend
mit anderen Dingen beschäftigt und by the way in bestimmten Situationen Lobbyismus betreibt, ist natürlich
von einer Kanzlei zu unterscheiden, die professionell für
bestimmte Interessen und mit sehr viel Geld im Hintergrund überwiegend Lobbyismus betreibt. Deswegen
steht in unserem Antrag, dass wir zeitliche und finanzielle Grenzen und natürlich auch eine saubere Definition des Begriffs „Lobbyismus“ brauchen.
Es geht nicht darum, zwischen guten und schlechten
Interessenvertretungen und Lobbyisten zu unterscheiden. Natürlich sind die AWO oder der Deutsche Gewerkschaftsbund genauso Interessenvertretungen und
genauso legitim wie BDA, BDI, EADS und andere. Es
geht nicht um gut und schlecht. Es geht darum, Lobbyismus zu benennen. Ich weiß wie Sie alle auch sehr gut,
dass wir als Abgeordnete von der Interessenvertretung
abhängig sind; deswegen verstehe ich nicht, warum Sie
alle dagegen sind. Wir können unsere Meinung nur bilden, wenn wir die verschiedenen Einflüsse aufnehmen
und dann als selbstbewusste, gewählte Abgeordnete Entscheidungen treffen. Aber - daher kommt das ungute
Gefühl der Bürgerinnen und Bürger - wir haben ganz
viele Tatbestände registriert, die gezeigt haben, dass das
nicht immer passiert und zum Beispiel Rechtsanwaltskanzleien Gesetzentwürfe oder Teile von Gesetzentwürfen geschrieben haben.
Ich möchte Folgendes in Richtung FDP sagen - ich
weiß, dass das ein wunder Punkt ist -: In der letzten Zeit
hat Ihnen doch das Stichwort „Mövenpick-Partei“ am
meisten geschadet.
({5})
Es war ganz offensichtlich, dass ein Lobbyist die Gesetzgebung hier im Deutschen Bundestag in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Das schadet nicht nur einer Partei bzw. einer Fraktion. Das schadet der gesamten
Demokratie. Deswegen müssen wir hier im gesamten
Bundestag selbstbewusst damit umgehen und sagen: Ja
zur Interessenvertretung, Ja zum Lobbyismus. Wir sind
davon abhängig. Wir bilden dadurch unsere Meinung.
Wir führen Gespräche, und zwar mit Flüchtlingsorganisationen genauso wie mit Wirtschaftsverbänden. Wir gehen zu Sommerfesten, gerade in den letzten beiden Wochen. Wir unterhalten uns. Das gehört zu unserer Arbeit
dazu. Das müssen wir selbstbewusst vertreten. Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das bitte
aus den Hinterzimmern herausholen.
({6})
Lassen Sie uns das in die Öffentlichkeit holen. Lassen
Sie uns mit diesem Selbstbewusstsein für mehr Transparenz und für mehr öffentliche Kontrolle sorgen. Das geht
nicht, wenn es unverbindlich bleibt. Das geht nur mit einem verbindlichen Lobbyistenregister. Ich lade Sie ein,
nach der Sommerpause im Ausschuss mit uns eine sachorientierte Debatte zu führen. Dann finden wir auch gute
Definitionen und gute Kriterien.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6442 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
51 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs ({0})
- Drucksache 17/6261 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck ({2}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im
Zivil- und Strafrecht
- Drucksache 17/5774 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sowie zu
diesem Zusatzpunkt sollen zu Protokoll gegeben wer-
den.1) Erlauben Sie mir, dass ich die Namen der Rednerinnen und Redner nicht einzeln verlese. Sie können Sie
im Protokoll nachlesen. Wir haben noch etwa 30 Tagesordnungspunkte vor uns. Die Sitzung wird also noch
eine Weile dauern.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/6261 und 17/5774 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Friedens- und Konfliktforschung stärken Deutsche Stiftung Friedensforschung finanziell ausbauen
- Drucksachen 17/1051, 17/6437 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Martin Neumann ({5})
Krista Sager
Auch hier werden die Reden zu Protokoll gegeben.2)
1) Anlage 18
2) Anlage 8
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6437, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1051 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD
und Grünen und Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär,
Markus Grübel, Elisabeth Winkelmeier-Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({7}), Petra Crone, Christel
Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Christian Ahrendt, Stephan Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Opfern von Unrecht und Misshandlungen in
der Heimerziehung wirksam helfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unterstützung für Opfer der Heimerziehung Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen
- Drucksachen 17/6143, 17/6093, 17/6500 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Marlene Rupprecht ({9})
Nicole Bracht-Bendt
Heidrun Dittrich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Norbert Geis von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({10})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In den Kinderheimen des Westens,
mit denen ich mich hauptsächlich befassen werde - mit
den Kinderheimen in der DDR wird sich der Kollege
Kolbe befassen -, waren in der Zeit von 1949 bis 1975
etwa 800 000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche bis
zum 21. Lebensjahr untergebracht.
Die Kinder und Jugendlichen wurden dort eingewiesen, weil häufig die Eltern - oft war es nur die Mutter,
weil der Vater gar nicht mehr in der Familie lebte - nicht
mehr in der Lage waren, die Kinder richtig zu erziehen.
Diese Kinder galten oft als „schwer erziehbar“. Deshalb
nannte man diese Heime - was wir heute als abfällig
empfinden - im Volksmund auch Erziehungsheime oder
sogar Erziehungsanstalten. Wer einen Teil seiner Jugend
in einem solchen Heim verbracht hatte, dem haftete oft
ein Makel fürs ganze Leben an.
Aufgrund der Initiative des Petitionsausschusses kam
es dann zu dem Runden Tisch Heimerziehung, der sich
mit den Missständen der Kinderheime in den 50er-,
60er- und in den Anfängen der 70er-Jahre beschäftigte.
Der Runde Tisch nahm nicht Stellung zu den Vorgängen
in den Kinderheimen der DDR; dieses Gebiet muss noch
im Einzelnen erforscht werden. Wir können aber von
vornherein davon ausgehen, dass es auch dort Unrecht
gab.
In vielen Kinderheimen des Westens gab es ebenfalls
große Missstände. Hiervor darf man die Augen nicht
verschließen. Der übergreifende Antrag von SPD, FDP,
Grünen und CDU/CSU hat den Vorschlag des Runden
Tisches aufgegriffen. Im Laufe der Untersuchungen
wurde festgestellt, dass in den Heimen sicherlich fürsorglich erzogen wurde; man hat aber auch auf die Missstände hingewiesen.
Wir müssen allerdings, so glaube ich, etwas vorsichtig sein, was den Begriff „Unrecht“ anbelangt. Es gab
Verletzungen und Missstände; es gab Unrecht, das schon
zur damaligen Zeit nach dem damals geltenden Strafrecht hätte strafrechtlich verfolgt werden müssen und
das auch zu Schadensersatzansprüchen seitens der Kinder hätte führen können.
Es gab aber auch Verhaltensweisen, die wir heute
zwar scharf missbilligen, die aber nach damaliger Praxis
nicht als Unrecht angesehen wurden. Das müssen wir erkennen. Nach den damaligen pädagogischen Vorstellungen und der damaligen pädagogischen Praxis wurden
Kinder oder Jugendliche, wenn sie sich ganz auffällig
schlecht verhielten - aber auch in weniger auffälligen
Fällen -, oft hart bestraft. Sie erhielten Arrest oder bekamen Arbeitsauflagen. Ebenso gab es Entzug des Essens
oder das, was wir heute als Prügelstrafe bezeichnen.
({0})
Das war zum Teil ein grober Missstand. Zum Teil war
es auch gängige Praxis, weil man der Auffassung war,
dass die Kinder, die in ein Kinderheim eingewiesen wurden und oft Verwahrlosungszustände aufwiesen oder
schwer erziehbar waren,
({1})
einem besonderen Rechtsverhältnis unterworfen waren.
Dieses besondere Rechtsverhältnis hat tatsächlich
dazu geführt, dass Grundrechte der Kinder damals nicht
so erkannt worden sind, wie sie eigentlich hätten erkannt
werden müssen. Dieses besondere Rechtsverhältnis oder
besondere Gewaltverhältnis hat das Bundesverfassungsgericht 1972 gekippt. Seit dieser Zeit kann auch in Strafanstalten nur aufgrund eines Gesetzes vollzogen werden.
Aber es entstand aufgrund der damaligen Praxis so etwas wie ein rechtsfreier Raum. Das muss man erkennen.
Man darf deshalb nicht alle Maßnahmen, die dort getroffen worden sind, vom damaligen Standpunkt her als
Unrecht bezeichnen, wenngleich wir sie heute scharf
missbilligen und heute scharf als Unrecht bezeichnen
würden. Wir müssen ja von dem ausgehen, was sich damals abgespielt hat.
Nun stellt sich die Frage: Wie können wir dieses damals geschehene Unrecht an den Kindern wiedergutmachen? Der Runde Tisch hat sich damit beschäftigt. Da
ging es zunächst um die Frage: Sollen sie individuell
entschädigt werden, oder soll eine pauschale Entschädigung erfolgen? Bei der individuellen Entschädigung ist
man sehr schnell an die Grenze gekommen. Die damaligen Vorfälle lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren.
Es ist auch schon Verjährung eingetreten. Man hätte sich
schwergetan, solche individuellen Entschädigungsmaßnahmen durchzuführen. Das hat der Runde Tisch so erkannt.
Dann ging es um die Frage: Soll pauschal entschädigt
werden? Auch da war man sich sehr unsicher; denn das
hieße ja, dass bei einer pauschalen Entschädigung schon
die Anwesenheit in einem Heim als Unrecht hätte angesehen werden können oder müssen. Daher hat sich der
Runde Tisch davon ebenfalls abgewandt. Der Runde
Tisch ging zu der Überlegung über, die Folgen wiedergutzumachen, die heute noch erkennbar sind. Da will der
Runde Tisch eine Wiedergutmachung vorsehen. Ich
meine, dass dies ein richtiger Weg ist.
Allerdings meine ich auch, dass wir uns noch ein wenig Gedanken darüber machen müssen, ob nicht auch
- wie beim sexuellen Missbrauch - eine Art Schmerzensgeld möglich sein muss. Das wird vom Runden
Tisch in Bezug auf sexuellen Missbrauch vorgeschlagen.
Ich meine, dass wir das, wenn wir eine entsprechende
gesetzliche Regelung finden, auch für die Heimkinder
vorsehen sollten, denen Unrecht widerfahren ist. Auch
das muss man irgendwie gerecht austarieren. Es geht
nicht an, dass die einen entschädigt werden und die anderen nicht. Es war in beiden Fällen Unrecht, wenn es
im Falle des sexuellen Missbrauchs auch ein schweres
Unrecht war.
Ich möchte noch ein Wort zu der Frage der Finanzierung sagen, Herr Präsident. Was die Frage der Finanzierung angeht, glaube ich, müssen wir uns einfach noch
zusammensetzen und müssen überlegen, wie das am
besten zu finanzieren ist. Ich bin ganz sicher, dass wir einen vernünftigen Weg finden werden.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Acht Jahre ist es her; seitdem habe ich das Thema Heimkinder vor mir. Ich will eine kurze Entwicklung darstellen; vielleicht versteht man dann besser, was passiert ist.
Es kamen Menschen zu mir, die gesagt haben, ihnen
sei Unrecht angetan worden. Dabei ging es nicht um das,
was man damals als übliche Erziehung ansah, sondern
um massives Unrecht. Die erste Reaktion war, das waren
Einzelfälle. Das ist bedauerlich; aber es sind Einzelfälle.
Aber nachdem die Einzelfälle immer mehr wurden, habe
ich die Betroffenen aufgefordert, eine Petition zu schreiben; denn als einzelne Abgeordnete kann man nicht helfen. Aber ich fand, dass das ein Thema ist, mit dem sich
das Gremium auseinandersetzen muss, das Verfassungsrang und die größten Wirkungsmöglichkeiten hat, nämlich der Deutsche Bundestag.
Der Deutsche Bundestag hat im Petitionsausschuss
zwei Jahre darüber beraten und kam zu dem Schluss: Es
muss weiter daran gearbeitet werden. Das wurde von allen Abgeordneten einstimmig, im absoluten Konsens, in
großer Verantwortung und Sachlichkeit beschlossen. Wir
haben es als gesamtgesellschaftliches Problem angesehen, das wir zu lösen haben. Da sind nämlich Menschenrechtsverletzungen passiert; das war nicht ein Klaps oder
eine Ohrfeige, sondern ein Zerbrechen von Menschen,
von Persönlichkeiten. Die Zerstörungen an den Menschen halten noch heute an. Das war für uns der Grund,
zu sagen: Wir müssen ein Fachgremium dazu einberufen; deshalb wurde der Runde Tisch Heimerziehung eingerichtet.
Der Runde Tisch hat zwei Jahre lang mit Betroffenen
und anderen, die Mitverantwortung hatten, getagt. Ich
durfte für den Bundestag daran teilnehmen. Wir haben
uns am Runden Tisch informiert, Hintergründe erforscht
und nach Lösungen gesucht. Wir haben damit angefangen, nach tatsächlich tragbaren und umsetzungsfähigen
Lösungen zu suchen.
Im Dezember 2010 hat der Runde Tisch Heimerziehung seinen Abschlussbericht vorgelegt, so wie es der
Bundestag gefordert hatte. Im Januar hat der Bundestagspräsident den Bericht in Empfang genommen. Wir
haben uns geeinigt: So wie wir vorher gemeinsam versucht haben, Lösungen zu finden, wollen wir die Lösungsvorschläge, die uns der Runde Tisch unterbreitet,
gemeinsam umsetzen.
Die Fraktionen haben sich mehrfach getroffen, um
auf Grundlage der Ergebnisse einen Antrag zu schreiben,
der uns heute zur letzten Abstimmung vorliegt. Diese
Woche haben wir im Ausschuss noch einmal darüber beraten und waren uns einig, dass das, was im Antrag und
im Abschlussbericht steht, Wirklichkeit werden soll. Da
habe ich gedacht: Jetzt sind wir eigentlich auf der Zielgeraden. Ich habe noch im Ausschuss gesagt: Wir müssen nicht mehr viel diskutieren, weil eigentlich klar ist,
was wir umsetzen wollen. Es ging darum, den Prozess zu
begleiten; denn wir gehen neue Wege. Auch die Regierung muss neue Wege gehen - das ist nicht selbstverständlich -; denn wir haben so etwas vorher noch nie gemacht.
Gestern Mittag habe ich dann eine Mitteilung erhalten. Zuvor waren wir uns alle - die vier Fraktionen, die
den Antrag eingebracht haben - wirklich einig: Wir machen das und wollen nicht, dass ein Ressort die Kosten
in Höhe von 40 Millionen Euro über den laufenden Etat
trägt. Dann haben wir die Mitteilung erhalten; ich
dachte, mich tritt ein Pferd. Im Schwäbischen würde ich
sagen: Leut’, warum redet ihr net mit’nander?
Das Folgende richtet sich an die Koalitionsfraktionen.
Ich versuche sonst wirklich immer, einen Konsens zu
finden; aber jetzt muss ich sagen: Sie müssen Ihre Haushälter dafür, dass sie Ihnen so etwas vorlegen, in Grund
und Boden stampfen.
({0})
Das darf nicht wahr sein. Ich sage Ihnen, warum es nicht
wahr sein darf: Es ist das völlig falsche Signal an die Betroffenen. Es ist das falsche Signal an die ehemaligen
Heimkinder aus dem Osten. Es ist ein völlig falsches Signal an alle jetzt jungen Menschen, wenn wir die Mittel
aus dem Haushalt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, aus dem Haushalt für Justiz und dem Haushalt für
Arbeit und Soziales nehmen. Wir können es nicht verantworten - das sage ich; die Familienpolitiker werden
es genauso sagen -, dass wir den heutigen Jugendlichen
das Geld nehmen, damit wir die Sünden der Urgroßväter
und Urgroßmütter ausgleichen, die vor Jahrzehnten geschehen sind. Das ist ein Widersinn.
({1})
Dafür müssen diejenigen im Haushaltsausschuss, die das
beschlossen haben, wirklich geprügelt werden. Ich bin
Ihnen sonst immer wirklich wohlgesonnen.
({2})
- Doch, es gibt einen entsprechende Beschlussanhang. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie das nicht spätestens bei
den Haushaltsberatungen revidieren, gibt es einen Eklat;
das geht nicht gut.
Der zweite Effekt dieses Beschlusses ist, dass die
Mittel den Ressorts, die im betreffenden Bereich beteiligt sind, entzogen werden. Die Länder müssen jetzt beschließen, ebenfalls 40 Millionen Euro einzubringen.
Wenn die Länder sehen, dass der Bund die Mittel aus
den laufenden Etats nimmt, dann entnehmen auch die
Länder die Mittel den Etats. Dann wird vom Bund über
die Länder bis zu den beteiligten Gemeinden genau dort
gespart, wohin das Geld eigentlich muss: Es wird bei
den Kindern und Jugendlichen gespart. Das kann nicht
wahr sein.
Marlene Rupprecht ({3})
({4})
Ich halte es für fatal, wenn wir es so machen.
Ich habe gestern noch versucht, alle möglichen Leute
zu mobilisieren und ihnen zu sagen: Ihr dürft euch das
nicht bieten lassen. - Eigentlich ist es ein Armutszeugnis, dass so etwas passiert. Ich glaube nicht einmal, dass
es aus Boshaftigkeit gemacht wurde. Man hat schlicht
und ergreifend nicht miteinander geredet; das ist ein Problem der Kommunikation. Es hat aber fatale Folgen. Das
ist das Problem.
Ich möchte, dass wir das ganz schnell korrigieren.
Unser Antrag ist auf die betroffenen Menschen ausgerichtet. Die Betroffenen können jetzt lesen, was
beschlossen worden ist - das steht in der Beschlussempfehlung -: Der Bund, die alten Bundesländer und die
Kirchen zahlen je 40 Millionen Euro. Wenn der Bund
bei den 40 Millionen Euro sparen will, dann geht das nur
durch Einsparungen bei den freiwilligen Leistungen,
also beim Kinder- und Jugendplan. Das heißt, wir sagen
den Kirchen, die viele Kinder- und Jugendverbände haben: Ihr zahlt nicht bloß 40 Millionen Euro, sondern ihr
zahlt quasi auch einen Anteil an den 40 Millionen Euro
des Bundes, weil ihr weniger Geld für eure Kinder- und
Jugendarbeit bekommt. Wir müssen das Geld ja irgendwo abziehen. Wir müssen es ja irgendwo hernehmen. - Das ist eine Katastrophe. Bitte korrigieren Sie
das.
Es war ausgemacht, dass von diesen 40 Millionen
Euro keine Leistungen für die sogenannten Ost-Heimkinder bezahlt werden. Das, was sie brauchen, sollte zu
einem Drittel vom Bund bezahlt werden. Das war ausgemacht. Das haben wir, die wir diesen Antrag ausgearbeitet haben, gemeinsam so beschlossen. Und dann kommt
so ein dicker Knaller!
({5})
- Ich finde das gut. Ich höre Ihr Wort. Hoffentlich
kommt es ins Protokoll. Hoffentlich steht im Protokoll,
dass Sie gesagt haben: Das war ein Versehen; es tut uns
leid; wir wollten das so nicht. Dann ist das okay. Schriftlich festgehalten ist aber das, was ich eben gesagt habe,
und das kann so nicht bleiben. Ich bitte unsere Haushälter dringend, dies zurückzunehmen.
({6})
Sonst können wir die ganze Arbeit - ich habe acht Jahre
daran gearbeitet - in den Papierkorb schmeißen und den
Menschen sagen: Eigentlich haben wir es gar nicht so
gemeint. Das wäre eine ganz falsche Botschaft.
Ich werde unserem Antrag trotzdem zustimmen.
Meine Fraktion wird zustimmen, weil unser Antrag gut
ist. Wir haben uns eng an die Vorgaben des Runden
Tisches gehalten. Ich hoffe, dass wir, wenn es um die
Umsetzung geht, trotz dieses wirklich nicht tollen Ereignisses wieder zu einer guten sachlichen Arbeit zusammenfinden.
In diesem Sinne wünsche ich uns heute einen fast einstimmigen Beschluss. Die Linken haben einen eigenen
Antrag dazu eingebracht. Dazu nehme ich jetzt nicht
mehr Stellung.
({7})
- Ist gut. Das muss ich euch nicht vorbeten.
Ich hoffe, dass die Fraktionen, die das beantragt haben, das heute gemeinsam beschließen.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zuerst ein Wort an Sie, Frau Kollegin Rupprecht:
Ich verstehe Ihre Aufregung angesichts der Tatsache,
dass Sie sich schon sehr lange mit dem Thema befassen
und das ehrliche und nachvollziehbare Ziel verfolgen,
das Thema Heimkinder zu einem guten Ergebnis zu führen. Dieses Ziel haben wir alle.
Wenn ich den Beschluss des Haushaltsausschusses
richtig verstehe, sind die 40 Millionen Euro, um die es
geht, für die Heimkinder vorgesehen; denn es heißt hier:
Bund, Länder und Kirchen. Dabei ging es immer um die
Kinder, die in Heimen im Westen untergebracht waren.
So verstehe ich das.
({0})
Auch das kommt ins Protokoll.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir das beibehalten,
was wir am Runden Tisch und in den Ausschüssen geschafft haben: ein weitgehend fraktionsübergreifendes,
sachorientiertes Diskussionsklima. Im Ergebnis beraten
wir heute abschließend einen von fast allen Fraktionen
getragenen Antrag, der eine lange Geschichte hat und,
wie ich glaube, rechts- und gesellschaftspolitisch wirklich bedeutsam ist. Wir haben uns die Mühe gemacht
- das haben wir uns vorgenommen -, Unrecht aufzuarbeiten, das zu der Zeit, als es geschehen ist, vielleicht
nicht als Unrecht verstanden wurde - so habe ich Herrn
Geis gerade verstanden -, auch wenn es das zweifellos
war. Das war ein rechtsfreier Raum. Das kann aber nicht
die Grundlage dafür sein, dass mit Kindern, mit Menschen Schindluder getrieben wird. Und das war es. Ich
glaube, das sollten wir ganz deutlich und unumwunden
sehen und uns dem stellen; denn das verlangen die
Heimkinder im Westen und auch im Osten von uns.
({1})
Wenn man das rekapituliert, muss man schon sagen,
dass es eigentlich unglaublich ist, wie damals mit diesen
Kindern umgegangen wurde. Ich war zu dieser Zeit selber Kind und weiß, dass es damals hieß: Wenn du nicht
parierst, nicht richtig funktionierst, kommst du eben ins
Heim. - Das war eine Drohung, und jeder hat sie verstanden.
Ich glaube, wenn wir uns in der Geschichte noch ein
Stück weiter zurückbewegen, dann merken wir: Da waren andere Drohungen in Deutschland an der Tagesordnung. Als Demokraten haben wir uns aus dieser Tradition gelöst. Darüber haben wir Diskussionen geführt.
Wir müssen sie immer wieder aufs Neue führen, damit
uns klar ist: Wo Recht gesetzt wird, muss auch dafür gesorgt werden, dass Unrecht aus der Vergangenheit aufgearbeitet wird.
Der Runde Tisch hat hier Großes geleistet. Es war für
mich sehr eindrucksvoll, in der Anhörung zu hören, wie
Frau Vollmer als Vorsitzende des Runden Tisches sagte:
Es war eine anstrengende, schwere Arbeit. - Es war eine
Arbeit, die nicht jederzeit wieder so geleistet werden
kann. Wir haben ja auch noch einen anderen Runden
Tisch, nämlich zum Thema „Sexueller Missbrauch von
Kindern“.
In der Anhörung war für mich besonders eindrucksvoll, Betroffene zu hören. Durch die Anhörung habe ich
gelernt, dass es für die Heimkinder auch heute noch sehr,
sehr schwierig ist, mit ihrem Thema in der Öffentlichkeit
umzugehen. Sie sind sehr empfindsam, traumatisiert, geschädigt und teilweise fürs Leben gezeichnet. Sie sind
auch sehr empfindsam in Bezug darauf, wie man mit ihnen umgeht. Ich glaube, dass wir uns abverlangen müssen, uns mit ihnen zu beschäftigen, ihnen auch in einer
solchen Anhörung das Wort zu geben. Im Rahmen des
Möglichen ist das auch geschehen. Es hat uns alle erschüttert, zu hören, was Heimkinder erlebt haben. Ich
konnte es mir in dieser krassen Form bis dahin nicht vorstellen.
Wir haben einen Antrag formuliert, der meiner Ansicht nach genau das auf den Weg bringt, was den Heimkindern am Herzen liegt und was uns als Aufarbeitung
am Herzen liegt. Er beinhaltet den Auftrag an die Bundesregierung, zu handeln. Obwohl keine Rechtsansprüche mehr bestanden, haben wir gesagt: Es muss hier die
Grundlage, eine gewisse Entschädigung zu leisten, geschaffen werden. Das wird der Fall sein. Ich bin ganz sicher, dass eine Finanzierungslösung gefunden wird, die
praktikabel ist. Es sollten in den jetzt vorliegenden Antrag nicht noch andere offene Themen mit eingearbeitet
werden. Vielmehr werden diese gesondert abgearbeitet,
Stichwort „Behandlung der Heimkinder in der damaligen DDR“. Auch sie befanden sich in einer untragbaren
Situation und wurden teilweise ebenfalls mit geradezu
krimineller Energie behandelt, wie wir ebenfalls in der
Anhörung des Ausschusses hören mussten. Das ist ein
weites Feld.
Ich erwarte von der Bundesregierung hier zügiges
Handeln und einen überzeugenden Vorschlag. Wir werden uns im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens
weiter mit dem Thema befassen. Ich hoffe, dass wir dann
eine so konstruktive Vorgehensweise finden werden, wie
es in der Vergangenheit der Fall war. Aufregung und
Emotionen helfen uns nicht weiter. Nach meinem Dafürhalten ist das so - auch wenn ich gut verstehen kann,
dass Emotionen bei diesem Thema zu Recht eine große
Rolle spielen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leider kam es nicht zu einem Antrag, der von allen
Fraktionen des Hauses getragen werden kann. Es gab
zwar die interfraktionelle Arbeitsgruppe. Im Ergebnis
entspricht das, was da erarbeitet wurde, allerdings auch
nicht ganz den Vorstellungen meiner Fraktion.
Aus Sicht der Linken ist an die damals betroffenen
Kinder, die in Heimen misshandelt wurden, eine wirkliche Entschädigung zu leisten.
({0})
Auf die Einzelheiten des Grauens, das diese Kinder damals durchlebt haben - das ist heute auch noch einmal
angesprochen worden -, muss ich nicht noch einmal eingehen.
Wiedergutmachen kann man das nicht, aber man kann
das Leid der Betroffenen anerkennen und ein Schmerzensgeld zahlen, das zumindest angemessen erscheint.
Legt man die Zahlen zugrunde, die auch in der Anhörung im Ausschuss zur Sprache kamen, so entspricht der
von den anderen Fraktionen beantragte Fonds von
120 Millionen Euro einer Entschädigung von 125 Euro
pro Kopf. Von daher waren und sind wir uns fraktionsübergreifend alle einig, dass die veranschlagten 120 Millionen Euro nicht ausreichen werden.
Gleichwohl hat der Haushaltsausschuss gestern beschlossen, die 40 Millionen Euro Anteil des Bundes als
einmalige maximale Obergrenze zu veranschlagen und
aus dem Einzelplan 17 zu finanzieren. Mit anderen Worten: Entschädigung der Kinder von gestern auf Kosten
der Kinder von heute.
({1})
So viel zu der Familien- und Entschädigungspolitik dieser Regierung. Darin kann kaum eine Anerkennung des
Leidens oder auch nur ansatzweise eine Schadenswiedergutmachung gesehen werden.
({2})
Deshalb gehen die Forderungen im Antrag der Linken
über die im Antrag der übrigen Fraktionen hinaus. Wir
fordern nicht nur eine angemessene Versorgung anknüpfend an noch bestehende Folgeschäden, sondern wirk14024
liche Entschädigung. Die Entschädigung muss sich an
dem persönlich erlittenen Unrecht orientieren und nach
Überzeugung der Linken bis zu 54 000 Euro betragen; in
besonders schweren Fällen soll der Betrag höher ausfallen können. Wenn wir davon ausgehen, dass wir jedes
zehnte Kind mit einem durchschnittlichen Betrag von
27 000 Euro entschädigen müssten, würde dies den
Haushalt mit etwa 2 Milliarden Euro belasten. Die Frage
ist, ob wir bereit sind, 2 Milliarden Euro für die Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen auszugeben.
Die Berechtigung der finanziellen Forderungen der
betroffenen Heimkinder zeigt ein kurzer Blick ins Zivilrecht. Im System der deliktischen Handlung spielt das
Schmerzensgeld eine wichtige Rolle für die Anerkennung des erlebten Leidens; dies ist nicht in wirtschaftliche Kosten, Arztrechnungen etc. übertragbar. Der
Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ ist vorhin
angesprochen worden. Wenn man die Ergebnisse dieses
Runden Tisches betrachtet, muss man feststellen, dass
die Unabhängige Beauftragte Christine Bergmann in ihrem Abschlussbericht ein Modell vorgelegt hat, welches
Entschädigungszahlungen in Höhe der entsprechenden
Schmerzensgeldsätze mit einer Obergrenze von 50 000
Euro vorsieht. Aus Sicht der Linken wäre es ein fatales
Signal an die ehemaligen Heimkinder, wenn eine vergleichbare Opfergruppe Entschädigungen mit Genugtuungsfunktion erhielte, die für sie selbst nicht vorgesehen sind.
Die Einrichtung einer Stiftung oder eines Fonds, wie
es vorgeschlagen wird, reicht nicht aus. Nein, es bedarf
eines Gesetzes - dies fordern wir -, welches den Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Entschädigung bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gewährt;
dieser kann notfalls auch auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden.
Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die
damals betroffenen Heimkinder teilweise auch in Betrieben als billige oder kostenlose Arbeitskräfte eingesetzt
wurden. Diese Betriebe gilt es festzustellen und zu der
Finanzierung der Entschädigung mit heranzuziehen. Es
darf nicht bei Bund, Ländern und Kirchen bleiben.
({3})
Wir alle sind uns einig, dass wir gemeinsam einen
Kampf gegen Kinderarbeit führen wollen; das kam gestern im Ausschuss zur Sprache. Lassen Sie uns mit einem entsprechenden Gesetz beginnen, um zu zeigen,
dass wir unsere Vergangenheit nicht verdrängen, die damaligen Opfer als solche entsprechend anerkennen und
zumindest ein wenig Wiedergutmachung leisten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Winkler von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Auch ich bin, so wie Kollegin
Rupprecht, schon etliche Jahre mit diesem Thema befasst. Wir waren gemeinsam im Petitionsausschuss Berichterstatter zu diesem Thema und haben den Beschluss
zur Einsetzung des Runden Tisches und auch diesen Beschluss, den wir heute hier fassen, mit vielen anderen
Kollegen gemeinsam vorbereitet. Sie können davon ausgehen, dass dies durchaus ein besonderer Tag ist. Daher
war es mir nicht möglich, meine Rede zu diesem Thema
zu Protokoll zu geben.
Ich möchte einen Punkt ansprechen: die Entschädigungssummen. Wenn man zum Vergleich darauf hinweist, was wir an die Opfer des NS-Regimes ausgezahlt
haben, dann muss man den großen Gesamtzusammenhang betrachten. Man kann Unrecht nicht gegeneinander
aufrechnen. Herr Wunderlich, Sie haben gerade versucht, dies zu machen. Sie haben gesagt: Diese Opfer haben zum Teil nur Summen um die 5 000 Euro bekommen und waren von den Nazis verfolgt. - Das können
Sie nicht mit dem Leid der Heimkinder in einen Bezug
setzen.
Ich finde, wir haben einen historischen Erfolg erzielt.
Er kommt Jahrzehnte zu spät, aber wir können froh sein,
dass wir uns interfraktionell geeinigt haben. Ich persönlich muss sagen: Wir können stolz darauf sein, dass wir
diesen Beschluss heute gemeinsam fassen.
Jetzt zu dem, was die Linke hier betreibt. In der Anhörung hat ein Vertreter der Heimkinder gesagt: Ich
hoffe sehr, dass Sie uns nicht täuschen. - Doch, genau
das tun Sie. Sie wussten von vornherein, dass Ihre Forderung völlig aussichtslos ist. Wir reden nicht von einem
Betrag von 2 Milliarden. Herr Witti und andere fordern
24 Milliarden Euro. Sie haben immer gesagt, dass Sie
die Forderungen der Vertreter der Heimkinder aufgreifen. Veräppeln Sie diese Leute nicht! Sie sollten sich
schämen, vor diesen Leuten, denen in der Bundesrepublik Deutschland so viel Unrecht angetan wurde, eine
Show zu veranstalten und zu sagen: Die anderen Parteien im Parlament wollen Ihnen zu wenig Geld geben,
weil sie Ihnen nicht mehr gönnen. - Sie sollten sich
wirklich schämen! Sie sollten sich nicht hier hinstellen
und solche Aussagen treffen.
({0})
Der zweite Grund, weswegen Sie diesem Antrag nicht
zustimmen, ist - geben Sie es doch zu! -, weil in unserem Antrag steht, dass die Unterbringung in Heimen der
DDR, in einem diktatorischen System, immer die Unterordnung unter das sozialistische System zum Ziel hatte.
Das ist ein weiterer Grund, warum Sie sich herausmogeln und sagen, Sie wollen dem Antrag nicht zustimmen.
({1})
Wir haben nämlich interfraktionell klar festgestellt: Die
Heimunterbringung in der DDR hatte immer die Unterordnung des Charakters unter die sozialistische Diktatur
zum Ziel.
({2})
Herr Kollege Winkler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?
Bitte schön.
Bitte, Herr Wunderlich.
Herr Kollege Winkler, vielleicht können Sie sich daran erinnern, dass wir in der interfraktionellen Arbeitsgruppe gemeinsam an den von Ihnen gerade erwähnten
Begriffen gearbeitet haben und dass die Linke insoweit
einverstanden war. Im Übrigen sprechen wir heute nicht
über die Heimkinder in der DDR; dazu werden wir noch
genügend Argumente hören. Das ist nicht Gegenstand
des Antrags. Es geht hier um die Heimkinder aus dem
Westen.
Das ist doch gar nicht wahr.
Wir wissen, dass in der DDR auch Schlimmes passiert ist.
Ich sage nur: Beschlussempfehlung.
Dann haben Sie Ihren eigenen Antrag nicht richtig gelesen.
({0})
Das muss aber noch aufgearbeitet werden. Ein entsprechendes Gesetz soll auf den Weg gebracht werden. Hier
ist noch Forschung notwendig. Das haben wir allesamt
übereinstimmend festgestellt.
Um auf die Anhörung zurückzukommen: Wenn Sie
hier schon aus der Anhörung zitieren, können Sie sich
vielleicht auch daran erinnern, dass die Sachverständigen von etwa 800 000 Überlebenden der Kinderheime
gesprochen haben - ich finde, das ist ein ganz schlimmer
Begriff - und davon ausgegangen sind, dass jedes dieser
800 000 Kinder mit dem von uns geforderten Betrag von
54 000 Euro - das ist die Obergrenze - entschädigt wird.
Dies führt in der Summe zu einem Betrag von etwa
44 Milliarden Euro. Das ist natürlich Quatsch. Das ist
nämlich keine pauschale, unabhängige Entschädigung.
Vielmehr bemisst sie sich nach dem persönlich erlittenen
Leid. Die Zahlen im Hinblick auf die Antragsteller, die
Sie zugrunde legen, liegen darunter; auch das muss man
feststellen.
Kommen Sie bitte zum Schluss der Frage.
Ja. - Geht man von einem Mittelwert, nämlich von
27 000 Euro, aus, kommt man auf einen Betrag von etwa
2 Milliarden Euro. Insofern: Rechnen - ich hatte MatheLeistungskurs - kann ich.
Ich nehme das mal als Zwischenbemerkung, auf die
ich gerne eingehe. Ich will gar nicht abstreiten, dass es
Mitglieder Ihrer Fraktion gibt, die diesen interfraktionellen Antrag hätten unterstützen können. Aber ich bezweifle wirklich ernsthaft, dass Sie es jemals geschafft
hätten, Ihre Fraktion hinter diesem Antrag zu versammeln, völlig unabhängig von den Summen. Der Grund
dafür ist, dass wir uns auch mit der DDR beschäftigt und
gesagt haben: Auch für das, was dort geschehen ist,
muss eine Entschädigung erfolgen, nicht in diesem
Sachzusammenhang, sondern separat und mit eigenen
Mitteln. Daran wird sich der Bund mit einem Drittel beteiligen. - Dafür hätten Sie keine Mehrheit gefunden das war jedenfalls meine Überzeugung -, weil die Formulierung so ist, wie sie ist. Das ist eine Prognose.
({0})
Sie mag falsch sein; das ist schließlich ein „hätte, wäre,
könnte“. Aber das ist, wie gesagt, meine Vermutung. Sie
können sie nicht widerlegen. Die Fakten sprechen dagegen.
({1})
Jetzt muss ich mich der anderen Seite des Hauses zuwenden; ich bin nämlich der Auffassung, über die Linke
wurde genug gesprochen. Ich möchte die Entscheidung
des Haushaltsausschusses ansprechen. Weil bei diesem
Thema eben ein bisschen Heiterkeit herrschte, muss ich
sagen: Ich finde, vom Stil her war es schlecht. In dem
langen Prozess, der sich, zumindest was den Bundestag
betrifft, über sechs Jahre hingezogen hat, haben wir immer darauf geachtet, dass wir interfraktionell vorgehen;
zunächst war die Linke ja gar nicht im Parlament vertreten. Dies war das erste Mal, dass die beiden Regierungsfraktionen in diesem Prozess im Haushaltsausschuss an14026
ders als die Oppositionsfraktionen abgestimmt haben.
Das halte ich einfach für ein schlechtes Signal.
Von allem, was Frau Rupprecht gesagt hat, will ich
hoffen, dass es nicht eintritt. Ich bitte Sie, das noch einmal zu bedenken, es mit Ihren Haushältern zu besprechen und dann zu anderen Empfehlungen zu kommen.
Das ist wirklich keine Petitesse. Für uns ist es jedenfalls
sehr wichtig.
({2})
Frau Kollegin Rupprecht spricht hier auch nicht nur
für ihre Fraktion, sondern ebenfalls für meine. Wir tragen das so nicht mit, wie es in dieser Fassung im Haushaltsausschuss beschlossen worden ist.
({3})
- Wir hörten, wie es beschlossen worden sein soll.
Deshalb sage ich: Die Empfehlungen des Runden Tisches müssen jetzt umgesetzt werden. Auch die Landesparlamente müssen die Empfehlungen umsetzen und ein
glaubwürdiges Signal an die Heimkinder aussenden,
dass es zeitnah losgehen kann - am besten zum 1. Januar
des nächsten Jahres. Ich hoffe, dass wir uns dann auch
hier in dieser Gemeinsamkeit wiederfinden.
Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die Geduld, und
Ihnen allen noch einen schönen Abend.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Manfred Kolbe von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute Abend einen Antrag der vier Fraktionen,
bei dem es darum geht, wie wir Opfern von Unrecht und
Misshandlung in West- und Ostdeutschland wirksam
helfen können.
Herr Wunderlich, Sie haben schlicht und ergreifend
unrecht und haben unseren Antrag nicht gelesen. Es geht
heute nicht nur um die Heime West.
({0})
Wir sind hier weiter als der Runde Tisch. Wir handeln
gesamtdeutsch. Wir behandeln hier im Deutschen Bundestag die Problematik Ost und West. Darum geht es
heute Abend.
An dieser Stelle wäre es angemessen gewesen, dass
Sie, statt nur große Forderungen zu stellen - 54 000 Euro
pro Heimkind usw. -, auch einmal ein Wort zu den Zuständen in der ehemaligen DDR gesagt hätten. Dabei
waren Sie natürlich persönlich nicht involviert. Als Abgeordneter der Nachfolgepartei der SED hätten Sie aber
schon ein Wort der Entschuldigung hervorbringen können.
({1})
Dazu haben Sie aber nichts gesagt. Das ist auch bezeichnend.
({2})
Wir haben den Runden Tisch gehabt, der unter Vorsitz
von Frau Dr. Antje Vollmer wertvolle Arbeit zur Aufklärung der Heimerziehung West geleistet hat. Kollege
Norbert Geis hat dazu bereits Ausführungen gemacht.
Hier ist Unrecht geschehen. Dieses Unrecht muss entschädigt werden. Dazu wird ein Fonds in Höhe von
120 Millionen Euro aufgelegt, der drittelparitätisch vom
Bund, den Ländern und den Kirchen getragen wird.
Ich sage als Berichterstatter für den Osten, dass dieser
Fonds alleine für die Heimkinder West gedacht ist, Frau
Rupprecht. Wir haben von Anfang an niemals darauf abgezielt, diesen Fonds auch für den Osten zu nutzen. Das
gäbe auch keinen Sinn, weil zum Beispiel die Kirchen
nicht Träger von Kinderheimen im Osten waren, sich
aber natürlich an diesem Fonds beteiligen.
Wir haben von Anfang an einen zusätzlichen, eigenständigen Fonds für den Osten gefordert. Genauso, wie
wir diesen Fonds für den Westen respektieren, haben wir
aber immer gesagt: Wir brauchen zeitgleich auch eine
Lösung für den Osten. Es kann nicht bei der Situation
des Runden Tisches bleiben, wo nur die Situation West
erörtert und entschädigt wird und die Heimkinder Ost
außen vor bleiben. Wir brauchen zeitgleich auch eine
Lösung für die Heimkinder Ost, die mindestens gleiches
Unrecht erlitten haben wie die Heimkinder West.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige
Worte zur DDR-Heimerziehung sagen. Die DDR-Heimerziehung war zentralistisch organisiert. Oberstes Organ
war das Ministerium für Volksbildung, seit 1963 unter
Leitung von Margot Honecker. Es ist kein Zufall, dass
der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau, die schlimmste
Einrichtung dieses Systems, 1964 unter ihrer Leitung
eingerichtet wurde. Es gab 474 Heime, Spezialheime,
32 Jugendwerkhöfe und als zentrale Einrichtung den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau.
Die Heimerziehung war auch in der ehemaligen DDR
vielschichtig. Ich kenne ehemalige Heimkinder, die von
einer fürsorglichen Erziehung sprechen und dort gerne
gelebt haben. Ich kenne aber auch Heimkinder, die am
liebsten Selbstmord begangen hätten, um dort nicht weiter leben zu müssen.
Auch die Heimeinweisungen waren vielschichtig: Sie
erfolgten bei wiederholtem und grobem Verstoß gegen
die gesellschaftlichen Normen. Das reichte von Arbeitsverweigerung und Schulverweigerung bis hin zu politischen Gründen,
({3})
wenn die Eltern etwa versuchte Republikflucht begangen hatten oder wenn sich die Jugendlichen nicht den sozialistischen Normen unterwarfen, indem sie etwa eine
andere Haartracht oder westlich anmutende Kleidung
trugen.
Im Zentrum der DDR-Heimerziehung stand die Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten. Der war alles untergeordnet. Ich zitiere Eberhard Mannschatz, den
Chefideologen, der die „individualistische Gerichtetheit“ der Jugendlichen als den „Kern der psychischen
Besonderheit“ Schwererziehbarer definierte. Deshalb
stand im Mittelpunkt das Kollektiv, die Gruppe. Die
Gruppe wurde für das Versagen Einzelner bestraft, und
die Gruppe hat dann den Einzelnen bestraft. Straffe Tagesordnung, Morgenappell, Sport und Drill waren an der
Tagesordnung.
Die Spitze des ganzen Systems war der Geschlossene
Jugendwerkhof Torgau. Wer nach Ansicht der Organe in
den anderen Einrichtungen noch nicht zur sozialistischen
Persönlichkeit geformt worden war, kam nach Torgau
und sollte dort durch eine Schocktherapie gemäß dem
Motto „Wer nicht hören will, muss fühlen“ zur sozialistischen Persönlichkeit erzogen werden. Horst Kretschmar,
der ehemalige Direktor, schrieb zynisch in seiner Diplomarbeit:
In der Regel benötigen wir drei Tage, um die Jugendlichen auf unsere Forderungen einzustimmen.
Welch Zynismus!
Man kann Ost und West nur schwer vergleichen, aber
zwei Dinge muss man zur Situation in der ehemaligen
DDR sagen:
Erstens. Die DDR war im Unterschied zur Bundesrepublik, die auch in den 50er-Jahren ein demokratischer
Rechtsstaat war, wenn die Erziehungsmethoden vielleicht auch nicht den heutigen entsprachen,
({4})
ein Unrechtsstaat, in dem der Betroffene nicht einmal
theoretisch die Möglichkeit hatte, Abhilfe zu suchen.
Diese Möglichkeit bestand in der Bundesrepublik
manchmal schon.
Zweitens. Die Zustände in der ehemaligen DDR haben bis 1989 angedauert, ohne irgendeinen gesellschaftlichen Wandel wie im Westen. Es geht nicht um die Zustände West.
({5})
Die Zustände in der DDR haben bis 1989 angedauert.
Gerade dieser besagte Horst Kretschmar hat bis zum bitteren Ende sein Unwesen getrieben. Er ist - das ist ein
Zufall der Geschichte - in der Nacht des Mauerfalls eines natürlichen Todes verstorben, was ihn vor einem
Strafverfahren gerettet hat.
Dieses Unrecht wird in Torgau und in den anderen
Stellen aufgearbeitet. Es gibt dort einen Verein, der verdienstvolle Arbeit leistet. So wie wir im Westen eine
Entschädigungsregelung haben, so muss es auch eine
Entschädigungsregelung Ost geben.
({6})
Wir brauchen einen zusätzlichen Fonds für den Osten.
Die 120 Millionen Euro sind für die Heimkinder im
Westen. Der Bund hat sich bereit erklärt, für den Osten
ebenfalls ein Drittel zu tragen. Das zweite Drittel könnte
von den Ländern im Osten und das dritte Drittel vielleicht aus dem Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR kommen. Das wird sich aber in den
kommenden Monaten zeigen.
Wichtig ist uns - das ist mein Schlusssatz -, dass wir
das Unrecht in Ost und West hier gleichermaßen auf die
Tagesordnung setzen und dass es zeitgleich eine Rehabilitation und Entschädigung in beiden Landesteilen
Deutschlands gibt; denn wir sind mittlerweile seit
20 Jahren ein wiedervereinigtes Land, und deshalb brauchen wir eine gesamtdeutsche Lösung.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/6500.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6143 mit dem Titel „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Linken
mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6093 mit dem Titel „Unterstützung für Opfer der Heimerziehung - Angemessene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
und Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU wirksam kontrollieren
- Drucksache 17/5387 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es liegt der Wunsch nur einer Rednerin vor, zu spre-
chen. Die anderen Reden werden zu Protokoll genom-
men.1) Ich erteile daher der Kollegin Sevim Dağdelen
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist kein Zufall, dass das Hohe Haus
ein so bedeutendes und bedeutsames Thema wie die europäische Außen- und Sicherheitspolitik wieder einmal
im Schutz der Dunkelheit behandelt. Die Regierungsfraktionen, CDU/CSU und FDP, haben gemeinsam mit
SPD und Grünen wirklich alles unternommen, um eine
Debatte über die parlamentarische Kontrolle der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik von der Öffentlichkeit fernzuhalten.
({0})
Selbst bei der Behandlung Ihrer eigenen Anträge einigten Sie sich auf ein vereinfachtes Verfahren ohne Debatte, als ginge es hier lediglich um Bagatellen und nicht
um die zukünftige Ausrichtung der deutschen Außenpolitik.
({1})
Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU bis Grüne,
die so gerne von Demokratie reden, versuchen hier im
Bundestag eine Tradition zu etablieren, bei der Entscheidungen über Krieg, Sanktionen, Rüstungsexporte und
Auslandseinsätze als Protokolldebatten geführt werden.
Das macht die Linke wie bei Ihrem klammheimlichen
Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien nicht mit.
({2})
Der Kollege Spatz von der FDP-Fraktion hat es
letztens auf den Punkt gebracht, wenn auch nur zu Proto-
koll. Es gehe, so meinte er in seiner Protokollrede - ich
zitiere -, „letztlich doch um die Perzeption elementarer
Sicherheitsbedürfnisse“, bei der die Bevölkerung mitge-
nommen werden solle. Ja, es gehört leider doch zu einer
1) Anlage 9
Unsitte der deutschen Außenpolitik von Joschka Fischer
bis Guido Westerwelle, dass das Schüren von Ängsten
und Bedrohungsszenarien die Rechtfertigung einer kriegerischen Außenpolitik herstellen sollen.
({3})
Hierin scheint auch die einzige Sorge der CDU/CSUFraktion um das, wie es der Kollege Kiesewetter sagte,
„zarte Pflänzchen“ GASP, also die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, zu liegen. Nur um diese Sorge
geht es Ihnen anscheinend. Unter Kontrolle der gemeinsamen Sicherheitspolitik versteht der Kollege nicht die
Stärkung der parlamentarischen Kontrolle, sondern eben
die Durchsetzungskraft deutscher Interessen im Rahmen
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.
Im Vertrag von Lissabon werden den nationalstaatlichen Parlamenten wie auch dem Europäischen Parlament parlamentarische Kontrollrechte in der EU-Außenpolitik schlicht verweigert; das wissen Sie ganz genau.
Solange dieses Demokratiedefizit in den europäischen
Verträgen selbst nicht beseitigt wird, fordern wir, die
Linke, die Gründung einer interparlamentarischen Versammlung zur Kontrolle der GASP und auch der GSVP,
({4})
allerdings nur dann, wenn damit eine wirksame und umfassende parlamentarische Kontrolle gewährleistet wird.
Dazu gehört für uns gerade auch ein Ablehnungs- bzw.
ein Zustimmungsrecht zu allen Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zu allen Missionen sowie der Verhängung von Zwangsmaßnahmen
wie Sanktionen, und zwar unabhängig von den Rechten
der einzelstaatlichen Parlamente und auch unabhängig
von den Rechten des Europäischen Parlaments. Eine solche Versammlung muss auch Stellungnahmen vom Europäischen Auswärtigen Dienst, von der Kommission
und auch vom Rat erbitten können.
Für uns ist weiterhin zentral, dass die Vertretung von
kleineren Fraktionen in dieser Versammlung sichergestellt werden muss.
({5})
Wir schlagen deshalb vor, dass sich die Zusammensetzung dieser interparlamentarischen Versammlung nach
dem Vorbild der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates richtet.
({6})
Wieder einmal - ich komme zum Schluss - will allein
die Linke eine echte parlamentarische Kontrolle. Sie
steht damit leider im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen, die es vorziehen, hier mit Placebos zu arbeiten.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, weil
auch Sie als Parlamentarierinnen und Parlamentarier
sich nicht weiter entmachten lassen sollten. Die Entscheidung über Krieg und Frieden
({7})
Sevim Daðdelen
wie auch die Entscheidung über Panzerlieferungen nach
Saudi-Arabien darf keine Entscheidung eines geheimen
Kabinetts mehr sein.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5387 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir haben jetzt noch eine große Zahl von Tagesord-
nungspunkten, bei denen die Reden zu Protokoll gege-
ben worden sind. Ich bitte Sie, mich dabei noch zu be-
gleiten. Ich werde so schnell machen, wie ich reden
kann.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:1)
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung
- Drucksachen 17/5334, 17/5388 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Sonja Steffen,
Dr. Peter Danckert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Zivilprozessordnung ({0})
- Drucksache 17/4431 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Volker
Beck ({1}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des § 522 der Zivilprozessordnung
- Drucksache 17/5363 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 17/6406 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Sonja Steffen
Mechthild Dyckmans
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6406, den Gesetzentwurf
1) Anlage 11
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/5334 und
17/5388 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD zur Änderung der Zivilprozessordnung. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6406, den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4431 ab-
zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt die
weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des § 522 der Zi-
vilprozessordnung. Der Rechtsausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/6406, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/5363 abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Damit ist der Gesetzentwurf abgelehnt. Auch
hier entfällt die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:2)
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kai Gehring, Dr. Harald Terpe, Dr. Konstantin
von Notz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Effektivierung des Jugendschutzes
- Drucksachen 17/3725, 17/5868 -
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 17/6451. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke und Zustimmung von SPD und Grü-
nen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und auf:3)
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
2) Anlage 10
3) Anlage 12
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens
vom 4. August 1963 zur Errichtung der Afrikanischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/6062 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
- Drucksache 17/6395 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Joachim Günther ({4})
Ute Koczy
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
29. November 1972 über die Errichtung des
Afrikanischen Entwicklungsfonds
- Drucksache 17/6063 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
- Drucksache 17/6396 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Joachim Günther ({6})
Ute Koczy
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/6395, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/6062 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen.
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6396, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6063 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:1)
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den
EU-Visakodex
- Drucksache 17/6053 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen
Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex
- Drucksache 17/5470 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({7})
- Drucksache 17/6497 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({8})
Josef Philip Winkler
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6497, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung
auf Drucksache 17/6053 sowie der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/5470 zusammen-
zuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Oppositionsfraktionen angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:2)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({9}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,
1) Anlage 14
2) Anlage 13
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk-
tion verbieten
- Drucksachen 17/5485, 17/5893 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Kerstin Tack
Dr. Kirsten Tackmann
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5893, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/5485 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b auf:1)
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({10})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Erika
Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina
Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Situation der Sinti und Roma in Europa
verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Graf ({11}), Kerstin Griese, Rüdiger
Veit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen
Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Umsetzung der Gleichstellung von
Sinti und Roma in Deutschland und Europa
- Drucksachen 17/5767, 17/6090, 17/5191,
17/6446 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Angelika Graf ({12})
Annette Groth
Volker Beck ({13})
1) Anlage 16
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({14})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
In historischer Verantwortung - Für ein
Bleiberecht der Roma aus dem Kosovo
- zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({15}), Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Zwangsrückführungen von Minderheitenangehörigen in das Kosovo
- Drucksachen 17/784, 17/1569, 17/3735 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({16})
Josef Philip Winkler
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 17/6446. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/5767 mit dem Titel „Situation der
Sinti und Roma in Europa verbessern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Oppositions-
fraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/6090 mit dem Titel „Die Integration der Sinti
und Roma in Europa verbessern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und Enthaltung der Linken und der Grünen angenom-
men.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5191 mit dem Titel „Für die Umsetzung der Gleich-
stellung von Sinti und Roma in Deutschland und Eu-
ropa“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Linken und die Grünen bei
Enthaltung der SPD-Fraktion.
Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses auf Drucksache 17/3735. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/784 mit dem Titel „In histori-
scher Verantwortung - Für ein Bleiberecht der Roma aus
dem Kosovo“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken
und Enthaltung von SPD und Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1569 mit dem Titel „Keine
Zwangsrückführungen von Minderheitenangehörigen in
das Kosovo“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen von Linken und Grünen
und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:1)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({17}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elke Ferner,
Monika Lazar, Cornelia Möhring und weiterer
Abgeordneter
Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen
in der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem
Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“
- Drucksachen 17/5885, 17/6435 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Michael Hartmann ({18})
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({19})
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6435,
den Antrag der Abgeordneten Elke Ferner, Monika
Lazar, Cornelia Möhring und weiterer Abgeordneter auf
Drucksache 17/5885 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 27:2)
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
zu der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufnahme
und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit ({20}) Nr. 2009/138 ({21}) sowie zum Entwurf einer Richt-
linie des Europäischen Parlaments und des
Rates zur Änderung der Richtlinien 2003/71/
EG und 2009/138/EG im Hinblick auf die Be-
1) Anlage 15
2) Anlage 17
fugnisse der Europäischen Aufsichtsbehörde
für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge und der europäischen
Wertpapieraufsichtsbehörde ({22})
hier: Stellungnahme nach Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
Für eine harmonisierte europäische Versicherungsaufsicht unter Wahrung bewährter Aufsichtsinstrumente zur Risikovorsorge in
Deutschland
- Drucksache 17/6456 Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/6456. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken
und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gute öffentlich geförderte Beschäftigung Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit
und Ein-Euro-Jobs
- Drucksachen 17/1397, 17/5448 Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober
Die Arbeitslosigkeit sinkt deutlich unter 3 Millionen,
die Zahl der Jobs geht auf neue Rekordstände zu. Die
umsichtige und kluge Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik der Union trägt gute Früchte. Im internationalen
Vergleich steht Deutschland sehr gut da - es wird sogar
vom „German Wunder“ gesprochen. Die Linken aber
ignorieren diese guten Entwicklungen und üben sich
weiterhin in Larmoyanz. Die Linke spricht von der
„Geißel einer hohen Langzeitarbeitslosigkeit“. Es ist
zwar richtig: Jeder Erwerbslose ist einer zu viel - und
das nicht nur aus pekuniären Gründen, sondern weil Erwerbstätigkeit auch ein Türöffner ist für soziale und gesellschaftliche Teilhabe. Sicher, wir müssen besonderes
Augenmerk darauf legen, dass auch Langzeitarbeitslose
und weniger Qualifizierte zügig den Weg zurück in den
ersten Arbeitsmarkt finden. Dennoch halte ich es für erwähnenswert, dass sich die Zahl der Langzeiterwerbslosen unter der Regierung Merkel von durchschnittlich
über 1,8 Millionen im Jahr 2005 auf knapp über 1 Million im Jahr 2010 erheblich verringert hat. Das ist eine
beachtliche Entwicklung.
Ebenso wenig kann ich den Klageruf der Linken
nachvollziehen, die soziale Absicherung verschlechtere
sich. Seit Gründung der BRD haben wir einen stets steigenden Sozialhaushalt, der eine politisch gewollte, effektive soziale Absicherung möglichst breiter gesellschaftlicher Schichten widerspiegelt. So sind im Jahr
2010 mit 153 Milliarden Euro fast die Hälfte der gesamten Bundesausgaben auf den Arbeits- und Sozialbereich
entfallen. Das ist Rekord und widerspricht dem Bild der
Linken einer allgemeinen sozialen Kälte in unserem
Land.
Ebenso haltlos ist die Unterstellung, die öffentlichen
Investitionen seien gedrosselt worden. Gerade im Rahmen der Konjunkturpakete I und II sind die öffentlichen
Investitionen massiv erhöht worden. Hierbei haben wir
- auch in Zusammenarbeit mit den Ländern - vor allem
die Forschung und Entwicklung des Mittelstandes gefördert und in nachhaltige Mobilitäts- und Infrastrukturprojekte investiert. Insgesamt belaufen sich die zusätzlichen wachstumspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung auf rund 100 Milliarden Euro. Wer hier von
einer Drosselung spricht, hat jedweden Sinn für Maß
und Mitte verloren.
Noch mehr irritiert hat mich die Aussage der Linken,
das Land Berlin sei beispielhaft, was die strategische
Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit angeht. Möglicherweise haben die Antragschreiber die Diagramme
verkehrt herum gehalten, aber die Zahlen sprechen eine
ganz eindeutige Sprache: Berlin verkörpert mitnichten
ein Jobwunder. Die Erwerbslosenquote entwickelt sich
zwar analog zum Bundesdurchschnitt und damit positiv,
allerdings auf fast doppelt so hohem Niveau. Einen
überdurchschnittlichen Abbau der Arbeitslosigkeit im
Vergleich zum Bundestrend ist hier beim besten Willen
nicht erkennbar. Daher erschließt sich mir Berlin bei der
Entwicklung der Arbeitslosigkeit nicht zwingend als ein
Musterland.
Nun fordern die Linken die Schaffung von 500 000 öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen. Dieser Bedarf erschließt sich mir nicht. Auch mein geschätzter Kollege Mierscheid, der in seiner Funktion als
Vorsitzender des Kleintiervereins Morbach vehement für
eine Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung gestritten hat, bezeichnete die Forderung der Linken als nicht praktikabel. Eine solche Zahl würde auch
der Luftkurort Morbach nicht bewältigen können. Öffentlich geförderte Beschäftigung kann ein sinn- und
wirkungsvolles Arbeitsmarktinstrument sein, aber die
Evaluationen des IAB zeigen, dass dieses seine Wirkung
nur dann entfaltet, wenn es auch gezielt eingesetzt wird.
Eine breite und willkürliche Streuung dieser Maßnahme
lehnen wir daher ab. Nicht zuletzt würde eine massenhafte Anwendung dieses Instrumentes auch unterstellen,
dass Erwerbslose kongruente Problemlagen hätten.
Dies ist nicht der Fall. Gerade Langzeitarbeitslose weisen multiple Problemlagen auf, weshalb wir auch einen
breiten Kasten arbeitsmarktpolitischer Instrumente bereithalten. Diese Instrumente wird die Bundesregierung
nun mit ihrem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt schärfen.
Der Gesetzentwurf wurde am 1. Juli 2011 in erster
Lesung im Deutschen Bundestag beraten. Erst nach der
Sommerpause wird die weitere Behandlung im Ausschuss Arbeit und Soziales mit einer Anhörung Anfang
September fortgesetzt. Die zweite und dritte Lesung ist
für den 22. September geplant. Dieser Zeitplan dokumentiert, dass die parlamentarische Diskussion gerade
erst beginnt. Uns haben zahlreiche Stellungnahmen von
Verbänden und Institutionen erreicht. Zwischenzeitlich
wurden im vorliegenden Regierungsentwurf bereits einige Änderungsvorschläge aufgenommen. So wurden
die kritisierten Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentlichen Interesses, der Wettbewerbsneutralität teilweise
bereits aufgegeben zugunsten einer anderen Regelung.
Wir werden auch weitere Vorschläge anhand der Zielsetzung des Gesetzesvorhabens prüfen, wo noch Handlungsbedarf besteht. In allen Debatten hat für uns die Integration der Menschen in den ersten Arbeitsmarkt
oberste Priorität.
Ich meine, dass die vorliegende Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente eine gute Basis bietet, um
die Integration auf den Arbeitsmarkt zu beschleunigen
und zu verbessern. Sie ermöglicht mehr Flexibilität und
Effizienz. Sie schafft mehr Entscheidungsfreiheit vor
Ort. Die Notwendigkeit der Reform ergibt sich nicht in
erster Linie aus Sparzwängen, sondern auch aus der
Auswertung der Evaluation zu den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Denn die Prüfung hat ergeben, dass
bislang nicht alle vorhandenen Arbeitsmarktinstrumente
den gewünschten Erfolg hatten, ebenso wie eine willkürliche Streuung bestimmter Maßnahmen - wie dies die
Linken fordern - nicht zielführend ist.
Befristete Beschäftigungsgelegenheiten im Rahmen
der öffentlich geförderten Beschäftigung sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ABM, und Arbeitsgelegenheiten.
Die vorrangige Zielsetzung von öffentlich geförderter
Beschäftigung waren die Heranführung von Langzeitarbeitslosen an den allgemeinen Arbeitsmarkt und die Entlastung des Arbeitsmarktes. Sie diente insbesondere
dazu, einerseits die „soziale“ Integration zu fördern als
auch die Beschäftigungsfähigkeit aufrechtzuerhalten
oder wiederherzustellen und damit die Chance zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erhöhen. So weit
die Theorie - die jahrelange Praxis sieht aber völlig anders aus.
ABM-Maßnahmen haben sich über die Jahre nicht
bewährt. Die Kosten waren gigantisch, die positiven
Auswirkungen sehr gering mit der Folge, dass die Bedeutung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen immer
weiter abgenommen hat. Deshalb ist es folgerichtig,
dass wir in unserem jetzigen Gesetzentwurf auf die
ABM-Maßnahmen verzichten.
Trotz der negativen Erfahrungen in der Vergangenheit fordert die Linke öffentlich geförderte Beschäftigung, einen zweiten Arbeitsmarkt, immer nach dem
Motto: Der Staat muss es richten, der Staat ist für alles
zuständig. Ja sehen Sie denn nicht, dass viele durch die
Zu Protokoll gegebene Reden
Einbindung in diesen Scheinmarkt mit ihrer Situation
zufrieden sind, sich in dieser Scheinarbeitswelt einrichten und nicht wirklich nach Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt suchen, quasi im Bereich der ABM-Maßnahmen eine Dauerposition beziehen?
Mit Recht weisen Sie darauf hin, dass wir die Langzeitarbeitslosen nicht aus den Augen verlieren dürfen.
Wir haben sie im Blick. In unserem Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt haben wir viele Instrumente, die zu einer drastischen Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit führen
werden.
Ein wichtiger Ansatzpunkt ist: Im Rahmen einer Aktivierungs- und Vermittlungsoffensive mit innovativer
Förderung werden gezielt die Beschäftigungschancen
wichtiger Zielgruppen erhöht. Insbesondere junge Menschen, Alleinerziehende und ältere Leistungsempfänger
sollen dauerhaft aus der Hilfebedürftigkeit geführt werden. Auch Fachkräftemangel und demografischer Wandel fordern, dass wir diese Bemühungen intensivieren.
Die Reform findet einerseits in Zeiten der Haushaltskonsolidierung statt, anderseits aber auch in dem überaus freundlichen Umfeld des Arbeitsmarktes. In einigen
Regionen haben wir bereits Vollbeschäftigung, DonauRies. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt, und zwar in diesem Monat schon deutlich unter die 3-Millionen-Grenze.
Nicht nur an Fachkräften mangelt es, sondern zum Beispiel im Bereich der Pflege, auf dem Bau werden auch
weniger Qualifizierte sowie Auszubildende dringend gesucht. In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Bestand Langzeitarbeitsloser nahezu halbiert. Wir haben
heute über 250 000 weniger Langzeitarbeitslose als vor
der Krise.
Im Fokus der Reform stehen folgende Schwerpunkte:
Höhere Qualität von Beratung und Vermittlung.
Künftig soll dezentral vor Ort flexibler und passgenau
im Hinblick auf die jeweilige Situation der Menschen
entschieden werden, welches das richtige Instrument ist.
Die Eingliederungsmittel werden den Arbeitsagenturen
und Jobcentern pauschal zur Verfügung gestellt. Es liegt
am Entscheider vor Ort, wie die Mittel eingesetzt werden. Eine Qualifizierungsinitiative soll das Personal in
die Lage versetzen, Arbeitsuchende noch effizienter und
passgenauer in den Arbeitsmarkt zu vermitteln. Die Jobcenter und Optionskommunen müssen künftig aber auch
verstärkt Rechenschaft ablegen.
Mehr Effizienz. Um vor Ort freieres Arbeiten zu ermöglichen, wird die unübersichtliche Anzahl der Instrumente um ein Viertel reduziert und einfacher geregelt,
ohne die Handlungsmöglichkeiten der aktiven Arbeitsmarktpolitik einzuschränken, weil nur Instrumente mit
geringer Bedeutung wegfallen.
Fördern und Fordern junger Menschen. Es wird eine
Aktivierungs- und Vermittlungsoffensive zur verstärkten
Betreuung junger Menschen in den Grundsicherungsstellen gestartet. Ausbildungsreife junge Menschen sollen unmittelbar den Weg in die Berufsausbildung finden.
So bietet die jeweilige Grundsicherungsstelle jedem Arbeitslosen unter 25 Jahren innerhalb von sechs Wochen
einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz oder eine Arbeitsgelegenheit an.
Neue Perspektiven für Alleinerziehende. Vorrang soll
künftig die Betreuung und Vermittlung von Alleinerziehenden haben, die den weit überproportional größten
Teil der Leistungsempfänger in der Grundsicherung für
Arbeitsuchende stellen und lange in der Hilfebedürftigkeit verbleiben. Um Alleinerziehende in den Arbeitsmarkt eingliedern zu können, muss unter anderem die
Kinderbetreuung angemessen und passgenau geregelt
sein. Neben der Betreuung in Kindertagesstätten sollen
vor Ort Tagesmütterstrukturen aufgebaut werden.
Mehr Chancen für Ältere - Arbeiten bis 67. Die Aktivitäten in der Arbeitsmarktpolitik zur Erhöhung der Beschäftigungschancen Älterer werden weiter ausgebaut.
Zur Fachkräftesicherung gehören gerade die älteren,
erfahrenen Arbeitnehmer, denen wir die Möglichkeit geben, sich weiterzuqualifizieren, wenn sie bereits einem
Beruf nachgehen. Genauso sollen sich arbeitsuchende
Ältere weiterbilden können, wenn das die Chance auf
eine Rückkehr in reguläre Arbeit erhöht.
Reduzierung der Mitnahmeeffekte. Der sogenannte
Gründungszuschuss, also die finanzielle Förderung von
Arbeitslosen in der Anlaufphase ihrer Unternehmensgründung, wird neu justiert, indem Mitnahmeeffekte abgebaut werden.
Neuausrichtung öffentlich geförderter Beschäftigung.
Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ABM, im Bereich
der Arbeitsförderung werden abgeschafft. Sie wurden in
den vergangenen Jahren kaum noch genutzt und haben
in Bezug auf die Integration in den regulären Arbeitsmarkt eine eindeutig negative Wirkung.
Wir verwenden angesichts der guten Konjunktur die
Steuergelder dafür, dass die Menschen schneller wieder
in Arbeit kommen. Nach wie vor ist die Vermittlung in
den regulären Arbeitsmarkt die wichtigste Brücke. Die
Langzeitarbeitslosigkeit ist kein fester Block, es gibt Bewegung. Wir haben Erfolge vorzuweisen.
Werfen Sie Ihre rosarote Brille in den Müll, vergessen
Sie Ihr dauerhaftes Gerede vom glorreichen Sozialismus, mit dem Sie schon die Wirtschaft der DDR gegen
die Wand gefahren und dabei versenkt haben. Haben Sie
den Mut, Ihre alten Trampelpfade zu verlassen. Haben
Sie den Mut, Ihrer rückwärtsgewandten Ideologie den
Rücken zu kehren, für die Menschen in unserem Land.
Vergessen Sie Ihren veralteten Antrag, stimmen Sie mit
uns für unseren Gesetzentwurf, damit die Anzahl der
Langzeitarbeitslosen weiter sinken kann.
Zunehmender Fachkräftebedarf einerseits, Langzeitarbeitslose ohne Perspektive andererseits - beides
Herausforderungen, auf die Arbeitsmarktpolitik Antworten finden muss. Wir denken Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zusammen und deshalb ist der soziale
Arbeitsmarkt ein wichtiger Teil unserer Vollbeschäftigungsstrategie. Denn nur so können wir für Langzeitarbeitslose mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, beispielsweise fehlende Ausbildung oder gesundheitliche
Zu Protokoll gegebene Reden
Probleme, würdevolle Beschäftigung ermöglichen.
Durch meine jährlichen Praktika mit Langzeitarbeitslosen in meinem Wahlkreis Pforzheim/Enzkreis weiß ich,
was es für sie bedeutet, wenn sie einen Arbeitsvertrag in
der Hand halten. Dieses Strahlen im Gesicht und Leuchten in den Augen spricht für sich.
Warme Worte, kalte Taten. Das ist, was Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen mit ihren Plänen
zur Neuordnung der öffentlich geförderten Beschäftigung derzeit umsetzt. Mit warmen Worten verspricht sie,
sich besonders um Langzeitarbeitslose zu kümmern.
Kalt kürzt sie die Mittel für Instrumente wie den Beschäftigungszuschuss, Jobperspektive oder die Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante zusammen. Die
Dauer der noch möglichen Förderung wird in ein enges
Korsett gepresst, und so wird es immer wieder zu Unterbrechungen von Qualifizierungsmaßnahmen kommen.
Das schafft demotivierende Förderlücken und keine
dauerhafte Perspektive auf Beschäftigung und damit
Teilhabe.
Eigentlich wäre es die Aufgabe der Bundessozialministerin, Lobby für Langzeitarbeitslose zu sein. Doch
stattdessen ist Ursula von der Leyen lieber die oberste
Lobbyistin für Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
und kürzt und streicht, wie es ihr aus seinem Ministerium vorgegeben wird. Dies hat mit einer Arbeitsmarktpolitik, die sich an den Herausforderungen der Zeit
orientiert, nichts zu tun. Diese Politik lässt Menschen
am Rande stehen. Diese Politik nimmt Menschen ihre
Würde.
Über 200 Expertinnen und Experten, die mit Langzeitarbeitslosen arbeiten und ihnen durch Qualifizierung und Beschäftigungsangebote eine Perspektive geben, waren am 5. Juli 2011 auf Einladung der SPDBundestagsfraktion im Bundestag zu Gast. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beschäftigungs- und
Weiterbildungsträger haben uns berichtet, was durch
diese Kürzungspolitik vor Ort passiert. Durch die Politik
Ursula von der Leyens wird ihnen der Boden unter den
Füßen weggezogen. Die dauerhafte Integration von
Langzeitarbeitslosen in Beschäftigung und die dafür
notwendige Qualifizierung sind kaum noch möglich. Ein
Geschäftsführer hat gesagt, dass er seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bereits kündigen musste. Wie
sollen engagierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter zur
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit denn helfen,
wenn Sie durch die Politik von Schwarz-Gelb selbst um
ihre Jobs fürchten müssen?
Wir als SPD-Bundestagsfraktion stehen zum sozialen
Arbeitsmarkt. Deshalb haben wir heute auch einen umfassenden Arbeitsmarktantrag eingebracht. Wir wollen
die öffentlich geförderte Beschäftigung ausbauen. Dabei
ist uns wichtig, dass wir uns auf eine enge Zielgruppe
konzentrieren. Wir setzen auf einen Ausbau der Jobperspektive, und unsere Vorstellung eines sozialen Arbeitsmarktes folgt klaren Kriterien. Gewerkschaften und Arbeitgeber arbeiten vor Ort in sogenannten Beiräten
zusammen, um die Einsatzfelder für öffentlich geförderte
Beschäftigung ausfindig zu machen. Diese Zustimmungserfordernis hilft, Missbrauch zu verhindern. Die
Annahme der Beschäftigungsverhältnisse ist freiwillig,
sozialversicherungspflichtig und wird tariflich entlohnt.
Dort, wo dies nicht möglich ist, ist eine ortsübliche Entlohnung Födervoraussetzung. Unterste Haltelinie ist der
jeweils gültige Mindestlohn.
Im Gegensatz zur Fraktion Die Linke und dem vorliegenden Antrag, den wir heute hier beraten, diskutieren
wir unsere Arbeitsmarktpolitik nicht in der Vergangenheit, sondern unsere Arbeitsmarktpolitik orientiert sich
an den Herausforderungen der Zeit. Deshalb sind wir
für differenzierte Lösungen statt pauschalen Urteilen.
Das trifft auch auf die Arbeitsgelegenheiten - die sogenannten 1-Euro-Jobs - zu. Die Durchführung von
Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsvariante
wird auf das unumgängliche Maß beschränkt. Sie kommen nur im Ausnahmefall zum Einsatz. Wir sehen die
Arbeitsgelegenheiten als Instrument, das ausschließlich
dazu dient, Arbeitsuchende auf eine Beschäftigung vorzubereiten, damit beispielsweise ein strukturierter Tagesablauf wieder möglich wird.
Wir picken uns nicht einzelne Instrumente heraus und
leiten daraus eine fehlgeleitete Politik ab, sondern wir
arbeiten konsequent daran, gute Arbeit in Deutschland
im Rahmen einer Vollbeschäftigungsstrategie zu schaffen. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
Die Arbeitsmarktzahlen und die konjunkturelle Entwicklung sind für uns alle Grund zur Freude. Auch die
Aussichten für die kommenden Monate sind sehr positiv.
Und erstmals seit der deutschen Einheit sinkt aktuell
auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen, was besonders
erfreulich ist. Wir wissen, dass hinter diesen Zahlen, Statistiken und Prognosen Menschen und ihre Lebensschicksale stecken. Und wir wissen um die besondere
Verantwortung, die wir für diese Menschen übernehmen,
wenn wir hier im Bundestag Politik machen.
Die FDP hat immer darauf hingewiesen, dass eine
vernünftige Wirtschaftspolitik die beste Politik für diejenigen ist, die erwerbsfähig, aber ohne Arbeit sind. Denn
was hilft die beste arbeitsmarktpolitische Maßnahme,
wenn keine Arbeitsplätze vorhanden sind, weil Unternehmen nicht investieren können, weil ihre Produkte keinen Abnehmer finden oder Steuern, Abgaben und Bürokratie den Unternehmen die Luft abschnüren? Darüber
hinaus haben wir immer betont, dass die Voraussetzungen für eine langfristig positive wirtschaftliche Entwicklung eine gute Bildungs- und Familienpolitik sind. Deshalb haben wir zum Beispiel das Bildungs- und
Teilhabepaket für benachteiligte Kinder geschaffen, damit kein Kind in seiner Entwicklung behindert ist, weil
die Eltern nicht genügend Geld verdienen. Aber entscheidend für das gegenwärtige wirtschaftliche Wachstum ist auch, dass diese Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz und weitere Maßnahmen nicht nur mit entscheidende Wachstumsimpulse, sondern auch Vertrauen
für eine langfristig positive Entwicklung und damit für
Investitionen geschaffen haben, was die VoraussetzunZu Protokoll gegebene Reden
gen für die Schaffung von Arbeitsplätzen weiter verbessert hat.
Dass Sie ausgerechnet in dieser wirtschaftlichen
Konjunktur und ausgerechnet bei diesen positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt - ausdrücklich auch
bei den Langzeitarbeitslosen - 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze fordern, mutet doch etwas eigenartig
an. Ziel der aktuellen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik muss es doch jetzt sein, dass wir die Menschen
wieder oder erstmals in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. Wer in dieser konjunkturellen Lage nicht alles
dafür tut, die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu
integrieren, macht sich schuldig.
Natürlich ist uns auch bewusst, dass es Menschen
gibt, denen dies nicht so einfach gelingt. Für diese Menschen brauchen wir zielgerichtete, passgenaue, auf die
individuellen Bedürfnisse und Verhältnisse abgestimmte
Angebote der Arbeitsvermittlung. Es kann nicht Ziel öffentlich geförderter Beschäftigung sein, die Menschen in
irgendeiner Art von Arbeit zu parken. Deshalb muss das
Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung
sehr zielgerichtet und einzelfallbezogen eingesetzt werden. Denn was auf gar keinen Fall geschehen darf, ist,
dass Menschen durch Einbindungseffekte die Chance
auf eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt verlieren.
Studien belegen, dass, wer erst einmal dauerhaft in
öffentlich geförderter Beschäftigung ist, aus dem Blick
der Jobcenter leichter verschwindet, selbst weniger Eigeninitiative zeigt und es daher deutlich schwerer hat,
eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Ohne
öffentlich geförderte Beschäftigung geht es nicht. Aber
sie darf nur sehr zielgerichtet und genau auf die Bedürfnisse der Betroffenen und ihres Arbeitsmarktumfeldes
eingesetzt werden.
Mit der aktuellen Reform der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente bekennt sich diese Regierungskoalition weiterhin zum Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung. Unser Ziel ist dabei die Befähigung oder
auch, wo es nötig ist, die Teilhabe des Individuums und
nicht das pauschale Schaffen von öffentlich geförderten
Arbeitsplätzen, mit denen man die Arbeitslosenzahlen
schönen könnte. Dazu kommt, dass die Tätigkeiten für
die Menschen sinnstiftend sein müssen und nicht sinnentleert sein dürfen. Arbeitsplätze entstehen in der sozialen Marktwirtschaft vorrangig durch unternehmerisches Handeln, nicht vorrangig durch den Staat. So ist
es klar, dass wir nicht als Staat der größte Arbeitgeber
sein dürfen. Die Auswirkungen einer solchen Politik, die
Arbeit bezahlt, für die es keine Nachfrage am Markt
gibt, etwa in Form eines überdimensionierten Staatssektors, können wir gerade in Griechenland erkennen. Und
auch die Kolleginnen und Kollegen der Linken haben
das da, wo sie in Regierungsverantwortung sind, erkannt. Denn das Bundesland mit dem größten Abbau
von Stellen im öffentlichen Dienst ist das rot-rot regierte
Berlin.
Unsere Politik zielt darauf ab, die Menschen zu befähigen und dort, wo es notwendig ist, auch durch öffentlich geförderte Beschäftigung teilhaben zu lassen. Das
kann man aber nicht einfach durch pauschale Forderungen nach einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätzen,
sondern allein durch individuelle und zielgerichtete Unterstützung des Einzelnen.
Die derzeitigen Kürzungspläne der Bundesregierung
zeigen: Der Antrag der Linken, den wir heute abschließend beraten, ist bitter nötig. Aus dem Titel geht klar
hervor: Wir wollen gute öffentlich geförderte Beschäftigung einrichten als Alternative zur Langzeiterwerbslosigkeit und zu den 1-Euro-Jobs. Die Bundesregierung
sagt, das sei falsch. Es müsse vielmehr darum gehen, die
Menschen jetzt in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, statt sie künstlich von diesem fernzuhalten. Das hört
sich gut an, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn die
Bundesregierung sagt nichts dazu, warum sie bei der
Weiterbildung der Erwerbslosen deutlich kürzt. Und sie
sagt nichts dazu, warum trotz Aufschwung die Zahl der
Langzeiterwerbslosen auf einem hohen Niveau stagniert. 886 026 Menschen sind im Juni dieses Jahres bereits länger als ein Jahr arbeitslos. Das sind nur 56 000
weniger als ein Jahr zuvor. Der Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit an der gesamten Arbeitslosigkeit steigt
und liegt inzwischen bei 34 Prozent.
Richtig ist: Viele Langzeiterwerbslosen könnten jederzeit einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt annehmen. Aber der Aufschwung geht an vielen vorbei. Dafür
gibt es verschiedene Gründe: Sie werden von vielen Arbeitgebern abgelehnt. Und die Bundesregierung verweigert notwendige Qualifikationen und Weiterbildungen.
All das ist nicht hinzunehmen und die Politik ist gefordert, hier zu reagieren.
Richtig ist aber auch: Es gibt eben auch eine größere
Zahl von Erwerbslosen, die aus verschiedensten Gründen auf absehbare Zeit keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, sei es, weil in manchen Regionen
nach wie vor Arbeitsplätze fehlen. Das trifft insbesondere auf den Osten Deutschlands zu. Hier kommen auf
eine gemeldete Arbeitsstelle zwölf Arbeitslose. Zugleich
hat bei nicht wenigen Menschen die lange Arbeitslosigkeit deutliche Spuren hinterlassen. Sie sind nicht von
heute auf morgen vermittelbar. Hier geht es zunächst darum, sinnvolle Beschäftigungsprojekte zu fördern, um
sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen und mittelfristig
in reguläre Jobs zu integrieren.
Die Linke will diesen Menschen eine Perspektive bieten und fordert, gute öffentlich geförderte Beschäftigung
einzurichten. Es ist tausendmal besser, mit dem Geld der
Arbeitsmarktpoli t ik gesellschaftlich sinnvolle Projekte zu fördern - und damit dem Einzelnen und der Gemeinschaft zu helfen -, als die Betroffenen künstlich in
der Arbeitslosigkeit zu halten oder mit Zwang in einen
1-Euro-Job zu pressen. In dem vorliegenden Antrag hat
die Linke klare Eckpunkte für ein solches Konzept benannt. Wir wollen sinnvolle Beschäftigungsverhältnisse schaffen. Diese müssen freiwillig sein und existenzsichernd, am besten tariflich bezahlt. Das ist das
Gegenteil der derzeitigen 1-Euro-Jobs. Wir wollen diese
Beschäftigung mit Qualifizierung begleiten, denn nur so
Zu Protokoll gegebene Reden
wird den Betroffenen eine Perspektive geboten. Wir wollen sicherstellen, dass keine reguläre Beschäftigung verdrängt wird. Am besten ist dies durch regionale Beiräte
vor Ort zu gewährleisten, die ein Vetorecht besitzen.
Und wir wollen die öffentlich geförderte Beschäftigung
auf eine solide finanzielle Grundlage stellen. Dafür
muss es möglich sein, die verschiedenen Gelder der Arbeitsmarktpolitik zur Finanzierung solcher Beschäftigungsverhältnisse zusammenzuführen. Das ist eine Forderung, die auch immer wieder Sozialverbände erheben.
Die Bundesregierung sagt: All das brauchen wir
nicht. Noch schlimmer: Sie will die öffentlich geförderte
Beschäftigung einstampfen. Das kündigt der aktuelle
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur sogenannten
Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente an.
Jenseits der 1-Euro-Jobs und gescheiterten Bürgerarbeit soll Beschäftigungsförderung nur noch eine Randgröße sein. Für die Schaffung zusätzlicher Arbeitsverhältnisse sollen die Jobcenter maximal 5 Prozent ihres
Etats ausgeben dürfen. Umgerechnet sind das bundesweit ab dem nächsten Jahr etwa nur noch 200 Millionen
Euro. 2010 war es noch deutlich über 1 Milliarde. Das
zeigt: Diese Regierung hat die Langzeiterwerbslosen
abgeschrieben. Die Linke wird das nicht hinnehmen.
Union und FDP verschärfen die Spaltung des Arbeitsmarktes. Die Kürzung der Mittel für die Arbeitsförderung, die Konzentration der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente auf diejenigen, die eine schnelle Integration
in den ersten Arbeitsmarkt erwarten lassen, und die Einschränkungen bei der öffentlich geförderten Beschäftigung stellen Langzeitarbeitslose immer weiter ins
Abseits. Sie werden trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt und ausgegrenzt, und ihnen wird
die Teilhabe verwehrt.
In Deutschland sind derzeit trotz Aufschwungs und
Fachkräftemangels nahezu 900 000 Menschen länger
als ein Jahr arbeitslos. Sie brauchen dringend eine gute
Förderung. Viele von ihnen könnten bei entsprechender
Qualifizierung offene Stellen übernehmen und damit den
Fachkräftemangel entschärfen. Daher wollen wir Grüne
jetzt im Aufschwung in die Betreuung, Qualifizierung
und Vermittlung Langzeitarbeitsloser investieren. Zusätzlich wollen wir aber auch für diejenigen Chancen
eröffnen, die trotz guter Konjunktur in den kommenden
Jahren den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt nicht
schaffen werden. Für sie fordern wir einen verlässlichen
sozialen Arbeitsmarkt. Genau der rückt aber mit den arbeitsmarktpolitischen Vorgaben der Bundesregierung in
weite Ferne.
Die Bedingungen im Bereich geförderter Beschäftigung werden im Rahmen der Instrumentenreform von
Arbeitsministerin von der Leyen so gestrickt, dass eine
sinnvolle, längerfristig angelegte Integrationsstrategie
für die Personengruppe der besonders Benachteiligten
nicht möglich ist. Ihre Teilhabe- und Eingliederungschancen werden damit dramatisch zurückgehen. Richtig
ist zwar, dass die 1-Euro-Jobs in den letzten Jahren massenhaft und teilweise über jedes Maß hinaus geschaffen
wurden. Die Konsequenzen aber, die die Bundesregierung daraus zieht, wie beispielsweise die Kürzung der
Trägerpauschale, sind falsch. Wir schlagen stattdessen
vor, die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung darauf zu konzentrieren, Kompetenzen zu
stärken, Defizite zu beseitigen und auf eine Erwerbstätigkeit vorzubereiten und dafür ausreichend Mittel zur
Verfügung zu stellen. Das alles muss Bestandteil einer
umfassenden Integrationsstrategie sein. Einer Abschaffung der Ein-Euro-Jobs, wie die Linke in ihrem Antrag
fordert, stimmen wir nicht zu.
Nicht als Alternative zu den 1-Euro-Jobs, sondern darüber hinaus brauchen wir einen gut ausgestalteten und
vernünftig finanzierten sozialen Arbeitsmarkt. Die Rahmenbedingungen dafür haben wir mit unserem Antrag
„Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit
einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen“
formuliert. Leistungen wie das Arbeitslosengeld II und
die Kosten der Unterkunft wollen wir über einen sogenannten Passiv-Aktiv-Transfer in ein Arbeitsentgelt umwandeln. Uns geht es darum, sinnstiftende Beschäftigung zu schaffen, von der die gesamte Gesellschaft
profitiert und bei der die Interessen und Fähigkeiten der
Arbeitssuchenden berücksichtigt werden.
Und das ist etwas ganz anderes als das Modell „Bürgerarbeit“, mit dem Union und FDP einen sozialen Arbeitsmarkt nur vorgaukeln. In der Realität wird „Bürgerarbeit“ für die Gruppe von Arbeitssuchenden, die
trotz aller Bemühungen auf dem ersten Arbeitsmarkt
keine Chance hat, kaum Verbesserungen bringen. Mit einem Lohn von 900 Euro ist der ergänzende Arbeitslosengeld-II-Bezug für viele von ihnen vorprogrammiert. Zudem zeigen die aktuellen Zahlen, dass das Modell
„Bürgerarbeit“ ein Flop ist: Die Zahl der bewilligten
Plätze bleibt weit hinter den Erwartungen zurück, und
das liegt nicht daran, dass es keines sozialen Arbeitsmarkts bedürfte, sondern an den hohen Hürden.
All dies zeigt: Wir brauchen sowohl mehr und bessere
Qualifizierungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose
als auch gute öffentlich geförderte Beschäftigung inklusive eines sozialen Arbeitsmarktes. Nur dann haben Arbeitsuchende eine echte Chance auf Teilhabe an Arbeit.
Und genau darum geht es.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5448, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1397 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Verordnung ({0})
Nr. 1272/2008 und zur Anpassung des
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Chemikaliengesetzes und anderer Gesetze im
Hinblick auf den Vertrag von Lissabon
- Drucksache 17/6054 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
- Drucksache 17/6463 Berichterstattung:
Abgeordneter Ingbert Liebing
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
Heute beraten wir abschließend über das CLPAnpassungsgesetz. CLP steht für „Classification, Labelling, Packaging“. Der uns vorliegende CLP-Gesetzentwurf regelt die Einstufung und Kennzeichnung gefährlicher Chemikalien neu.
Die Neureglung geht auf Beschlüsse der Konferenz
der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung
im Juni 1992 in Rio de Janeiro zurück. Auf dieser für die
Belange des Umweltschutzes so wichtigen Konferenz
wurden auch Vorgaben für ein weltweit abgestimmtes
System der Einstufung und Kennzeichnung gemacht.
Zwecks schrittweiser Einführung dieses neuen Systems
verabschiedete die EU im Dezember 2008 die europäische CLP-Verordnung ({0}) Nr. 1272/2008. Ab dem
1. Juni 2015 wird Europa vollständig auf das System der
CLP-Verordnung umgestellt haben.
Die EU-Verordnung gilt in den EU-Mitgliedstaaten
unmittelbar und bedarf keiner gesonderten Umsetzung
in deutsches Recht. Um in Deutschland jedoch einen reibungslosen CLP-Vollzug sicherzustellen, ist es notwendig, das deutsche Chemikalienrecht an die EU-Vorgaben
anzupassen. Beispielsweise müssen die notwendigen
rechtlichen Voraussetzungen für einen Übergangszeitraum geschaffen werden: Innerhalb einer Übergangsphase bis zum Jahr 2015 sollen das bisherige deutsche
Recht und das neue EU-UN-System parallel nebeneinander bestehen bleiben. Darüber hinaus müssen die
Zuständigkeiten der Behörden festgestellt werden. Hier
werden aus der Verordnung erwachsene Aufgaben zum
Beispiel der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ({1}) zugewiesen. Nicht zuletzt werden
überflüssig gewordene nationale Vorschriften gestrichen und terminologisch angepasst. Beispielsweise wird
das Wort „Zubereitung“ durch das Wort „Gemisch“ ersetzt.
Wie aber lauten die wesentlichen inhaltlichen Änderungen, die durch die Umsetzung der EU-CLP-Verordnung in deutschem Recht vorgenommen werden? Im Vergleich zum bisherigen Recht führt die CLP-Verordnung
insbesondere neue Einstufungsvorschriften ein. Durch
diese werden die Einzelheiten des Begriffs der chemikalienrechtlichen Gefährlichkeit und der zugrunde liegenden Gefährlichkeitsmerkmale geändert. Statt der bisherigen Zuordnung zu Gefährlichkeitsmerkmalen erfolgt
die Einstufung gefährlicher Stoffe und Gemische nun in
Gefahrenklassen. Diese werden durch neue Gefahrenkategorien innerhalb der Klassen weiter abgestuft. Die
Kennzeichnungssymbole und sonstige Kennzeichnungsbestandteile wurden grundlegend neugestaltet. Das bedeutet, dass die bisher bekannten orangenen Vierecke
zukünftig durch Symbole bestehend aus weißem Grund
und roter Umrandung ersetzt werden. Die Mitteilungspflichten der Unternehmen an Behörden, wie die Giftinformationszentren, werden angepasst. Auf diese Weise
wird der Schutz der Verbraucher durch eine verbesserte
Notfallbehandlung erhöht. Gleichzeitig wurden Vorkehrungen getroffen, dass sich der aufgrund dieser Regelung aufseiten der Unternehmen entstehende Mehraufwand in einem angemessenen Verhältnis befindet.
Aus umweltpolitischer Perspektive überzeugt dieser
Gesetzentwurf, weil er dazu beiträgt, das auf der RioKonferenz von 1992 beschlossene CLP-System global
effektiv durchzusetzen. Durch die Harmonisierung der
Einstufung und Kennzeichnung gefährlicher Chemikalien auf UN-Ebene wird der gesundheitliche Verbraucherschutz zu Recht gestärkt.
Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht überzeugt dieser Gesetzentwurf; denn er garantiert Unternehmen, die
am globalen Markt agieren, einheitliche Wettbewerbsbedingungen. Aus diesem Grund wurde nicht zuletzt
auch eine praktikable Umsetzung des neuen Einstufungs- und Kennzeichnungssystems sichergestellt. Im
Rahmen einer Übergangsphase wird den betroffenen
Unternehmen bis 2015 Zeit gegeben, sich an die neuen
Regeln anzupassen. Diese Übergangsphase, in der altes
und neues Recht zum Teil parallel existieren, wurde
transparent ausgestaltet. Dies sorgt für die nötige
Rechtssicherheit.
Vor dem Hintergrund dieser positiven Bewertung des
uns zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurfs bitte
ich um Ihre Zustimmung.
Die 63. Generalversammlung der Vereinten Nationen
hat das Jahr 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie
erklärt. Dieses Jahr steht unter dem Motto „Chemie unser Leben, unsere Zukunft“ und soll dazu beitragen,
die Öffentlichkeit noch mehr zu sensibilisieren für die
fundamentale Bedeutung der Chemie. Ein weiteres Ziel
ist, die internationale Zusammenarbeit in diesem Bereich zu fördern.
Einen wichtigen Beitrag in diesem Zusammenhang
leistet das schrittweise in der Europäischen Union eingeführte neue und weltweit harmonisierte System der
Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien, sowohl für die Sicherheit am Arbeitsplatz als auch für den
sicheren Umgang von Verbraucherinnen und Verbrauchern mit Chemikalien. Denn mit Chemikalien kommen
wir täglich in Berührung. Sie sind aus unserem Alltag
nicht mehr wegzudenken. Wir benutzen sie als Waschmittel, Reiniger, Lack und Lösemittel im Haushalt, in der
Freizeit oder im Beruf. Oft erleichtern sie unser Leben,
oft sind sie aber auch gefährlich für die menschliche Gehttp://de.wikipedia.org/wiki/Vereinte_Nationen
http://de.wikipedia.org/wiki/Vereinte_Nationen
http://de.wikipedia.org/wiki/Vereinte_Nationen
http://de.wikipedia.org/wiki/1992
http://de.wikipedia.org/wiki/Rio_de_Janeiro
http://de.wikipedia.org/wiki/Rio_de_Janeiro
sundheit und für die Umwelt. Denn viele chemische
Stoffe haben unerwünschte Wirkungen auf die menschliche Gesundheit. Manche Stoffe können die Haut oder
die Augen reizen, andere Allergien auslösen oder eine
narkotische Wirkung haben. Auch Vergiftungen kommen
leider immer wieder vor, wenn Chemikalien aus Versehen geschluckt werden. Oft sind hiervon Kinder oder Senioren betroffen.
Um einen verantwortungsbewussten Umgang mit
Chemikalien zu sichern, müssen wir Chemikalien erkennen und wissen, wie sie wirken. Vor dem sogenannten Inverkehrbringen unterliegen alle Chemikalien grundsätzlich der Einstufungs- und Kennzeichnungspflicht und
werden hierzu einer toxikologischen Bewertung unterzogen. Werden dabei gefährliche Eigenschaften erkannt,
werden die Stoffe entsprechend eingestuft. Für eine
schnelle Information über die Gefährlichkeit eines Stoffes oder Gemisches müssen deren Verpackungen mit entsprechenden Gefahrenkennzeichnungen versehen werden. Dadurch sollen Mensch und Umwelt beim Umgang
mit Chemikalien vor nachteiligen Auswirkungen geschützt werden. Weltweit gibt es jedoch sehr unterschiedliche Systeme zur Einstufung und Kennzeichnung
von Chemikalien. Es kann daher passieren, dass ein
Stoff oder Stoffgemisch in einem Land als gefährlich eingestuft und behandelt wird und in einem anderen nicht.
Dies führt nicht nur beim Transport und im Handel zu
Problemen, sondern auch bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern und im Arbeitsschutz.
Auf dem Weltgipfel für Nachhaltigkeit 1992 in Rio de
Janeiro wurde erstmals von den Staaten festgelegt, dass
ein weltweit einheitliches System zur Einstufung und
Kennzeichnung von Chemikalien unter der Leitung der
UN geschaffen werden soll. Das sogenannte Globally
Harmonised System, GHS, wurde 2003 erstmals vorgelegt und wird seitdem alle zwei Jahre aktualisiert. Ziel
des GHS ist es, erstmals ein weltweit einheitliches System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien
zu schaffen. Überall, wo dieses global harmonisierte
System eingeführt wird, sei es in China, Indien, den USA
oder in Europa, werden Chemikalien in Zukunft nach
einheitlichen Kriterien eingestuft und gekennzeichnet.
Was zum Beispiel giftig oder umweltgefährlich ist, trägt
dann überall das gleiche Symbol. Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dabei besonders wichtig, dass unsere hohen Schutzstandards nicht abgesenkt
werden, sondern weltweit gelten. Wir alle erinnern uns
an die Fälle von gefährlichem Spielzeug aus China.
Deshalb müssen wir uns nicht zuletzt zum Wohl unserer
Kinder für einen universellen Schutz vor gefährlichen
Chemikalien starkmachen. Das GHS auf UN-Ebene ist
jedoch nicht unmittelbar rechtswirksam, sondern wird
erst durch die Umsetzung in den einzelnen Staaten oder
Staatengemeinschaften verbindlich.
Innerhalb der Europäischen Union ist das GHS mit
der sogenannten CLP-Verordnung, Classification, Labelling and Packaging, am 20. Januar 2009 in Kraft getreten. Damit wurde europaweit ein neues System für die
Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen
und Gemischen eingeführt. Die rechtliche Basis für das
bisher gültige Einstufungs- und Kennzeichnungssystem,
die Stoffrichtlinie und Zubereitungsrichtlinie, werden
zum 1. Juni 2015 aufgehoben.
Ziel des Gesetzes, das wir heute in abschließender
Lesung beraten, ist es, das Chemikaliengesetz und weitere Gesetze an diese CLP-Verordnung anzupassen. Im
Vergleich zum bisherigen europäischen Recht führt die
CLP-Verordnung insbesondere neue Einstufungsvorschriften ein, die die Einzelheiten des Begriffs der chemikalienrechtlichen Gefährlichkeit und der zugrunde
liegenden Gefährlichkeitsmerkmale ändern. Statt der
bisherigen Zuordnung zu Gefährlichkeitsmerkmalen erfolgt die Einstufung gefährlicher Stoffe und Gemische
nun in Gefahrenklassen, die durch neue Gefahrenkategorien innerhalb der Klassen weiter abgestuft werden.
Die Kennzeichnungssymbole und sonstige Kennzeichnungsbestandteile wurden grundlegend neu gestaltet.
Menschen reisen, Menschen beziehen Produkte aus
anderen Ländern. Wir begrüßen, dass es jetzt weltweit
gleiche Symbole gibt, die unabhängig von Schriftzeichen
und Sprachkenntnissen von allen verstanden werden
können. Es kommt jetzt darauf an, dass die Menschen
aber auch vertraut werden mit den neuen Symbolen.
Als unmittelbar geltendes EG-Recht bedarf die CLPVerordnung keiner Umsetzung in nationales Recht. Erforderlich ist aber eine Anpassung des nationalen Chemikalienrechts, mit der die rechtlichen Voraussetzungen
für eine effektive Anwendung der Verordnung in
Deutschland geschaffen, Zuständigkeiten der Behörden
festgelegt und überflüssig gewordene Vorschriften aufgehoben werden. Da die Verordnung bis 2015 einen
Übergangszeitraum vorsieht, in dem Teile des bisherigen Rechts teils optional, teils verpflichtend fortgeführt
werden, besteht dabei die Notwendigkeit, das bisherige
Recht zunächst noch transparent zu halten und so anzupassen, dass beide Systeme reibungslos nebeneinander
bestehen können.
Das Gesetzesvorhaben wird gleichzeitig dazu genutzt, im Chemikaliengesetz, im Wasch- und Reinigungsmittelgesetz und im Elektro- und Elektronikgerätegesetz
erforderliche begriffliche Anpassungen an den Vertrag
von Lissabon vorzunehmen, wie zum Beispiel die Änderung von „Europäische Gemeinschaft“ in „Europäische
Union“. Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, denn er
ist ein weiterer Schritt hin zu einer weltweit einheitlichen und klar erkennbaren Zuordnung von Chemikalien. Wir setzen uns seit langem auf nationaler wie auf
internationaler Ebene dafür ein, die Chemikaliensicherheit zu verbessern und damit die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist die
wichtigste Neuerung, dass die bislang verwendeten
orangefarbenen Gefahrstoffsymbole durch neue rot umrandete Gefahrenpiktogramme ersetzt werden. Das
muss in der Öffentlichkeit noch mehr bekannt gemacht
werden. In Bayern gab es bereits im letzten Jahr eine
Wanderausstellung, die nicht nur über die neue Kennzeichnung von Chemikalien informierte, sondern Arbeitnehmern und Verbrauchern auch hilfreiche Hinweise an
die Hand gab, in welchen Produkten welche Chemikalien vorkommen. Besonders für Familien waren gute
Zu Protokoll gegebene Reden
Tipps dabei, wie man sich selbst und seine Kinder beim
Umgang mit Chemikalien schützen kann. Das allein
reicht noch nicht. Deshalb würde ich es sehr begrüßen,
wenn solche und ähnliche Informationsveranstaltungen
verstärkt durchgeführt würden. Die eingangs genannte
Intention des diesjährigen Internationalen Jahrs der
Chemie könnte damit konkret umgesetzt werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Anpassung
des deutschen Chemikalienrechts an die 2008 verabschiedete EU-Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen
und nimmt zudem die durch den Vertrag von Lissabon
erforderlich gewordenen begrifflichen Veränderungen
im nationalen Recht vor. Im Wesentlichen bedarf es veränderter gesetzlicher Regelungen, um während der
Übergangszeit bis 2015 ein strukturiertes Nebeneinander von altem und neuem Chemikalienkennzeichnungssystem zu gewährleisten. Auch sind die Zuständigkeiten
der nationalen Behörden neu zu regeln. Der Gesetzentwurf sieht hierzu vor, die Kompetenzen analog zur 2006
in Kraft getretenen REACH-Verordnung zu strukturieren.
Die erneute Novellierung des deutschen Chemikalienrechts ist Teil des mit der REACH-Verordnung begonnenen und derzeit noch andauernden Umbaus des europäischen Chemikalienrechts, welches schrittweise von
national umzusetzenden EU-Richtlinien in unmittelbar
geltendes EU-Recht überführt wird. Für meine Fraktion
verbindet sich damit die Hoffnung, insgesamt zu einem
kohärenteren und effizienteren Rechtsrahmen für die
Produktion, die Weiterverarbeitung und die Vermarktung von Chemikalien zu gelangen und ein adäquates
Schutzniveau für Arbeitnehmer und Verbraucher im Umgang mit Chemikalien zu gewährleisten.
Vor wenigen Tagen hat die Europäische Chemikalienagentur ECHA in diesem Zusammenhang den turnusmäßig vorgesehenen ersten Evaluationsbericht zur EUweiten Implementierung von REACH vorgelegt. Das Fazit der bisher gemachten Erfahrungen ist durchweg
positiv. REACH funktioniert. Es funktioniert trotz kleiner Kinderkrankheiten, wie etwa den zwischenzeitlich
aufgetretenen Problemen mit der REACH-IT, sehr gut,
und es hat gerade erst begonnen, seine positiven Wirkungen für den Umwelt- und Gesundheitsschutz zu entfalten.
Daher will ich an dieser Stelle auch davor warnen,
vor der vollständigen Umsetzung und dem Inkrafttreten
der einschlägigen mengenabhängigen Vorschriften über
eine weitere Verschärfung des europäischen Chemikalienrechts nachzudenken. Der heute vorliegende Gesetzentwurf zeigt vielmehr, dass es in den nächsten Jahren
entscheidend darauf ankommt, die zahlreichen Detailregelungen des Chemikalienrechts weiter zu optimieren
und aufeinander abzustimmen. Aus den aus diesem Prozess gewonnenen Erfahrungen können dann Ansätze für
eine punktuelle Weiterentwicklung des Chemikalienrechts entwickelt werden. Dies braucht aber seine Zeit
und sollte nicht übereilt geschehen.
Der Gesetzentwurf findet unsere uneingeschränkte
Zustimmung.
Ohne Chemikalien, ohne verschiedene Stoffe und
Stoffgemische kommt die Menschheit nicht mehr aus,
und leider haben diese gefährliche Nebenwirkungen.
Egal ob sie giftig, explosiv, brennbar oder ätzend sind,
ihre schädlichen Nebenwirkungen entfalten Chemikalien weltweit. Die Verordnung 1272/2008 der EG, auch
CLP-Verordnung genannt, beruht auf einem UN-Vorschlag. Sie soll die Kennzeichnung von Stoffen und Gemischen regeln und weltweit erkennbar vor möglichen
Gefahren warnen. Außerdem erfasst sie Meldepflichten
zu gefährlichen Stoffen.
Eine international angepasste Kennzeichnung begrüßt meine Fraktion, und auch die im Gesetzentwurf
vorgenommene Erweiterung der Liste gefährlicher
Stoffe und erweiterte Mitteilungspflichten für Hersteller
und Nutzer dieser Stoffe unterstützen wir. Aber aus folgenden Gründen kann die Linke nicht zustimmen. Die
Bildsymbole sollen zukünftig nur noch mit den Signalworten „Gefahr“ und „Achtung“ versehen werden. Es
entfallen also die gewohnten Einstufungen, die aber
durchaus der Systematik in der EU-Verordnung ähneln.
Das ist ein Problem. Eine giftige Flüssigkeit wurde bisher mit einem Totenkopf markiert. Eine hautreizende
Flüssigkeit hat derzeit ein Warnkreuz auf dem Etikett.
Zukünftig werden beide dasselbe Warnsymbol haben,
nur das kleingedruckte Wort „Gefahr“ oder „Achtung“
unterscheidet sie noch. Aber wie sollen Menschen, die
nicht Deutsch lesen können, den Unterschied erkennen?
In abgewandelter Form hätte die Regierung klarere Gefahrenhinweise einführen können. Das würde einige Unfälle mit Chemikalien und schwerwiegende Gesundheits- und Umweltschäden verhindern.
Überall schwärmt man von Nanostoffen; das sind extrem kleine Partikel. Dummerweise besitzen die neben
ihren neuen, gut nutzbaren Eigenschaften auch unerwartete, noch unbekannte gefährliche Nebenwirkungen.
Diese Materialien durchdringen aufgrund ihrer geringen Abmessungen zum Beispiel Haut und Blutgefäße.
Ihre im Verhältnis zur Masse größere Oberfläche verstärkt die Reaktivität mit anderen Stoffen. Mikroskopische Titanoxidpartikel verändern das Erbgut. Das in
Sonnenschutzmitteln enthaltene Silber in Nanoform
schädigt Wasserorganismen. Die Auswirkungen des
Nanosilbers wurden erst Jahre nach Beginn der Nutzung
erkannt. Ab 2012 müssen Kosmetikartikel, die Nanopartikel enthalten, gekennzeichnet werden. Dazu gehört
dann auch das Nanosilber. Damit Verbraucherinnen und
Verbraucher eine Chance haben, eventuellen Schäden
auszuweichen, fordern wir eine Kennzeichnungspflicht
für neuartige Nanostoffe. Unabhängig davon müssen
natürlich bekannte Risiken, die von Nanostoffen ausgehen, mit den entsprechenden Gefahrenhinweisen dargestellt werden.
Zuletzt stelle ich eine Frage an die Bundesregierung.
Warum lassen Sie einige Stoffe und Gemische, welche
chronisch schädigende Auswirkungen auf die GesundZu Protokoll gegebene Reden
heit haben, mit dieser Richtlinie aus der Kennzeichnungspflicht herausfallen? Gerade für Arbeitnehmer,
die zum Beispiel in Lackierereien solchen Stoffen täglich
ausgesetzt sind, bedeutet dies, dass sie nicht mehr auf
der Verpackung sehen, dass sie sich vor dem Anlagenreinigungsmittel eigentlich schützen müssten. Firmen erkennen nicht mehr, dass sie ihre Beschäftigten gefährden, und werden erhöhte Krankenstände haben. Wie
wollen Sie diese Nebenwirkungen der Richtline ausschließen? Wie wollen Sie verhindern, dass Schäden
durch Unkenntnis entstehen? Entscheiden Sie sich wie
wir für die Variante „Lieber eine Kennzeichnung zu viel
als einen Kranken mehr“. In Abwägung der positiven
und negativen Auswirkungen dieser Gesetzesänderung
kommen wir zur Entscheidung, dass wir uns enthalten.
Heute endlich beraten wir die notwendigen Gesetzesänderungen zur Schaffungen der rechtlichen Voraussetzungen zum effektiven Vollzug der EU-Verordnung zur
Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Chemikalien in Deutschland. Reichlich spät. Diese Verordnung
wurde schon 2008 verabschiedet und trat am 20. Januar
2009 in Kraft. Da die Verordnung unmittelbar geltendes
Gemeinschaftsrecht ist, muss nun durch Gesetzesänderungen, wie der heute vorliegenden, der ordnungsgemäße Vollzug sichergestellt werden. Da fragt man sich
doch: Warum braucht die Bundesregierung mehr als
zwei Jahre, um eine rein technische Anpassung zur Vollzugssicherstellung einer EU-Verordnung auszuarbeiten? Und wie wurde der Vollzug eigentlich bisher sichergestellt?
Dass man allein für technische Anpassung im Chemikalienrecht so lange braucht, spricht Bände. Welchen
Stellenwert hat denn das Thema Chemikalienpolitik
überhaupt noch bei dieser Bundesregierung und im Umweltministerium? Ich würde mich freuen, wenn die wirklichen drängenden Herausforderungen in der Chemikalienpolitik endlich auch mal hier im Hause umfassend
diskutiert würden. Mit der damals heiß umkämpften
REACH-Verordnung wurde das zuvor sehr mangelhafte
EU-Chemikalienrecht stark verbessert. Aber heute, vier
Jahre nach Inkrafttreten von REACH, ist deutlich geworden, welche gravierenden Lücken und Schwachstellen es in der Umsetzung noch immer gibt. Doch was tut
die Bundesregierung auf nationaler und auf europäischer Ebene, um diese Schwachstellen zu beseitigen und
einen Schutz für Mensch und Umwelt vor gefährlichen
Chemikalien sicherzustellen? Sonntagsreden halten!
Ich will nur kurz zwei Bereiche nennen, in denen dringender Handlungsbedarf besteht: Nanomaterialien und
hormonelle Schadstoffe. Der Einsatz von Nanomaterialien ist durch REACH bisher nicht erfasst. Nanoteilchen
haben durch ihre Winzigkeit zum Teil völlig andere Eigenschaften als die Ursprungsstoffe; sie müssen damit
als Neustoffe eine eigene Sicherheitsbewertung durchlaufen. Gerade Nanosilber, das immer häufiger in verbrauchernahen Produkten, wie Textilien, Spielzeuge und
Kosmetik auftaucht, ist ein besonderes Problem. Um einen wirksamen Gesundheitsschutz der Verbraucherinnen und Verbraucher sicherzustellen, wäre es am besten,
Nanosilber sofort unter REACH zu registrieren. Dafür
sollte sich die Bundesregierung einsetzen und, unabhängig von REACH, in Deutschland die Inverkehrbringung
von verbrauchernahen Produkten mit Nanosilber verbieten. Dazu haben wir Grüne auch einen Antrag gestellt, der derzeit noch beraten wird. Wir werden versuchen, die Kollegen der anderen Fraktionen zu überzeugen, unserem Antrag zuzustimmen und so gemeinsam für
den effektiven Schutz von Mensch und Umwelt vor risikoreichen Chemikalien wie Nanosilber einzutreten.
Eine zweites drängendes Problem in der Chemikalienpolitik ist der mangelnde Schutz der Menschen vor
hormonellen Schadstoffen. Bisher finden sich keine
Stoffe auf der REACH-Kandidatenliste, die speziell aufgrund ihrer hormonellen Eigenschaften ausgewählt
wurden. Dabei sind gerade diese Stoffe besonders gefährlich und können schwerwiegende gesundheitliche
Folgen nach sich ziehen. Wir begrüßen sehr, dass das
Umweltbundesamt mit Octylphenol jetzt endlich einen
hormonellen Schadstoff auf die Kandidatenliste setzen
will. Liest man dann aber das Positionspapier einer anderen Bundesbehörde, dem Bundesinstitut für Risikobewertung, zur Definition von hormonell wirksamen Chemikalien, muss man sich fragen, wie ernst es der
Bundesregierung mit dem Schutz von Mensch und Umwelt vor hormonellen Schadstoffen ist. Die in dem Papier vorgeschlagenen Definitionskriterien sind ein
Rückschlag für den Gesundheitsschutz. Sie machen es in
der Praxis fast unmöglich, einen Stoff als hormonellen
Schadstoff zu klassifizieren und regulieren.
Wir Grüne würden es begrüßen, wenn die Bundesregierung endlich einmal Vorschläge macht, wie man die
Lücken in der Regulierung von hormonellen Schadstoffen und Nanomaterialien schließen kann. Dies sind die
drängenden Themen der Chemiepolitik, über die wir im
Parlament diskutieren müssen. Allein die Diskussion nur
über verspätete rein technische Gesetzesanpassungen,
die geltendes EU-Recht umsetzen, ist unzureichend.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6463,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6054 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Scheel, Kerstin Andreae, Fritz Kuhn,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bürokratieabbau vorantreiben: Kleine Unternehmen von der Bilanzierungspflicht befreien
- Drucksache 17/3221 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Bürokratieabbau oder Entbürokratisierung: Wörter,
die regelmäßig in aller Munde sind.
Es ist nicht nur kostbare Zeit, sondern auch jede
Menge Geld, was die Bürokratie verschlingt. Ich höre
die Klagen im Wahlkreis häufig; Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen sind ebenso betroffen wie die öffentliche Verwaltung selbst. So klein jeder einzelne Akteur im Wirtschaftskreislauf sein mag, so bedeutend sind
sie insgesamt für die europäische Wirtschaft. Gerade
Handwerker würden vom Abbau unnötiger bürokratischer Formalien profitieren. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion arbeiten daher seit geraumer Zeit für Entlastungen und gegen überzogene Bürokratie zugunsten
der Kleinunternehmer aus.
Auch die EU hat für sich 2007, unter deutscher Ratspräsidentschaft der unionsgeführten Bundesregierung,
Handlungsbedarf an dieser Stelle gesehen. Der Aufwand
für einen Jahresabschluss ist für Kleinunternehmer und
kleine Betriebe beträchtlich und fällt in gehörigem
Maße ins Gewicht. Ein Unternehmen, das sinnvollerweise keine Bilanz fertigen muss, soll auch keine fertigen müssen. So weit so gut. Nach einem aktuellen Vorschlag des Rates sollen das Unternehmen sein, die am
Bilanzstichtag zwei von drei definierten Schwellenwerten nicht überschreiten: Eine Bilanzsumme von 250 000
Euro, einen Nettoumsatzerlös von 500 000 Euro und/
oder eine durchschnittliche Zahl von zehn Beschäftigten
während des betreffenden Geschäftsjahres.
Die Bundesregierung wirbt intensiv für den sogenannten Micro-Vorschlag, wie er letztlich im Änderungsvorschlag der Richtlinie 78/660/EWG Eingang
fand. Ein entsprechender Vorschlag zur gewünschten
kompletten Freistellung von der Bilanzierungs- bzw. Offenlegungspflicht für Kleinunternehmer wurde vom Europäischen Parlament dann 2009 mit großer Mehrheit
verabschiedet. Doch Mehrheiten verschieben sich im
politischen Alltag bekanntlich schnell, und so müssen
wir akzeptieren, dass nicht wenige EU-Staaten den Verzicht auf die Offenlegungspflicht mittlerweile nicht mehr
befürworten. Das bedauern wir sehr, denn hier liegen
die größten Potenziale.
Der von Deutschland nun nicht mitgetragene Kompromiss gesteht den Kleinunternehmern nur kleine Erleichterungen bei der Bilanzierung zu. Eine Befreiung
von den Publizitätspflichten wurde insofern abgelehnt,
als es weiterhin eine Mindestleistung bleibt, dass die Bilanz bei mindestens einer Behörde qualifiziert hinterlegt
und an das Unternehmensregister übermittelt werden
muss.
Das geht uns nicht weit genug. Dass im Ergebnis bei
den Verpflichtungen, die man in eine Bilanz zu schreiben
hat, ein paar Begründungen weggelassen werden können, ist unzureichend. Das sorgt nicht für die erhoffte
Entlastung. Wir werden die weitere Entwicklung aufmerksam begleiten, denn wenn es die EU mit dem Bürokratieabbau wirklich ernst meint, ist eine wesentliche
Erleichterung für kleinere Betriebe nur ein Anfang.
Dennoch helfen nationale Schnellschüsse hier nicht.
Die werden wir weder unterstützen noch vorlegen. In
der bevorstehenden zweiten Lesung des Europäischen
Parlaments ist zudem noch einiges möglich. Die Chancen stehen nicht schlecht, das Blatt zugunsten der kleineren Betriebe noch einmal wenden zu können.
Nach unserer Auffassung muss den Mitgliedstaaten
die Möglichkeit eröffnet werden, für Kleinunternehmen
Bilanzierungserleichterungen zu schaffen. Aus diesem
Grunde hat der Bundestag im Jahre 2009 bereits mit
großer Mehrheit das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz verabschiedet, nachdem für kleinere Einzelunternehmer die Verpflichtung zur Buchführung, Stichtagsinventur und Bilanzierung nach Handelsrecht abgeschafft
wurde. Allein dies hat zu einer Entlastung dieser um
über 2 Milliarden Euro pro Jahr geführt.
Aber: Wir haben uns schon damals aus gutem Grunde
gegen eine Bilanzierungserleichterung für Personenund Kapitalgesellschaften ausgesprochen. Diese sind
üblicherweise haftungsbeschränkt, weshalb es schon
aus diesem Grunde gegenüber einem Einzelkaufmann,
der vollumfänglich haftet, eines Mehrs an Transparenz
für den Geschäftsverkehr bedarf, wollen wir nicht diese
Unternehmensform diskreditieren. Der Antrag der Grünen geht genau an dieser Stelle in die falsche Richtung;
auch deshalb lehnen wir ihn ab.
Wir befassen uns heute mit einem Antrag der
Fraktion der Grünen, dessen Kernaussagen quer durch
alle Fraktionen des Bundestages breite Zustimmung finden dürften. Was wollen wir? In der Vierten Richtlinie
78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von
Art. 54 Abs. 3 Buchstabe g des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen werden die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Gliederung und den Inhalt des
Jahresabschlusses und den Lagebericht, die Bewertungsmethoden sowie die Offenlegung dieser Schriftstücke für sämtliche Kapitalgesellschaften koordiniert. Für
kleine und mittlere Unternehmen können die Mitgliedstaaten unter anderem vorsehen, die Pflicht zur Offenlegung der Jahresabschlüsse zu lockern oder kleine Unternehmen von der Prüfung ihres Jahresabschlusses
freizustellen.
Seit 2009 gibt es einen Vorschlag für eine Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates - Vorschlag
vom 26. Februar 2009 - zur Änderung der Richtlinie 78/
660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von GeIngo Egloff
sellschaften bestimmter Rechtsformen im Hinblick auf
Kleinstunternehmen, Drucksache KOM({0}) 83 endg.
Der Vorschlag sieht vor, Kleinstunternehmen vom
Anwendungsbereich der Richtlinie 78/660/EWG
auszunehmen. Gemeint sind alle diejenigen Unternehmen, deren Bilanzsumme unter einer halben oder
Nettoumsatzerlöse unter 1 Million Euro liegen und die
nicht mehr als zehn Mitarbeiter beschäftigen. Dieser
Vorschlag findet unsere Zustimmung, weil er es gestattet,
bei Privatgesellschaften, Einzelselbstständigen und anderen sehr kleinen Unternehmen auf die Verpflichtung
zum Jahresabschluss ganz zu verzichten und stattdessen
eine einfache Gewinnermittlung vorzunehmen. Das wird
Sie nicht überraschen, denn in dem von uns 2009 vorgelegten Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, BilMoG, das
der Bundestag mit breiter Mehrheit verabschiedet hat,
waren ähnliche Erleichterungsvorschriften für kleine
und mittlere Unternehmen ebenfalls ein wesentlicher
Bestandteil. Bürokratie- und andere Kosten in Höhe von
1 Milliarde Euro und mehr konnten durch die
Maßnahmen des BilMoG bereits eingespart werden.
Der Parlamentarische Staatssekretär im Justizministerium, Max Stadler, hat hier im letzten Jahr auf
eine Frage der Kollegin Christine Scheel geantwortet,
dass „die Beratungen im Rat über den … Richtlinienvorschlag der Kommission zu Bilanzerleichterungen für Kleinstunternehmen … bislang durch die
Ablehnung einiger Mitgliedstaaten blockiert worden
({1}).“ In der Zwischenzeit hat sich diese Blockade
offenbar aufgelöst. Mein Eindruck ist, dass der
Einigungsprozess auf europäischer Ebene gute Fortschritte gemacht hat. Das Europäische Parlament hatte
bereits im März 2010 eine entsprechende Empfehlung
ausgesprochen. Der Vorschlag der EU-Kommission zu
den neuen Bilanzrichtlinien und der Möglichkeit, kleine
Körperschaften von den Verpflichtungen zu befreien und
mittlere bei bestimmten Vorschriften auszunehmen, deckt
sich mit unserer Auffassung von einer pragmatischen
Lösung für kleine und mittlere Unternehmen in Europa.
Nach den angesprochenen Widerständen bei einigen
Mitgliedstaaten hat sich nun auch der Rat Wettbewerbsfähigkeit am 30. Mai für den Vorschlag der
Kommission ausgesprochen. Damit ist der Weg frei für
eine baldige Inkraftsetzung der Richtlinie, und ich bin
ganz sicher, dass der Bundestag nicht zögern wird, diese
Richtlinie unverzüglich zu ratifizieren.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist deshalb gegenüber
Geist und Inhalt des Antrags der Grünen aufgeschlossen, hält aber die meisten Aspekte für bereits erfüllt oder
zumindest kurz vor Vollzug. Jedenfalls sehen wir keinen
Anlass zur Sorge, ob diese wirklich vernünftigen Regelungen innerhalb kürzester Frist auch für deutsche Unternehmen gelten werden - ich bin da zuversichtlich.
Die ebenfalls im Antrag der Grünen enthaltene
Forderung nach einer Vereinfachung der EinnahmeÜberschuss-Rechnung unterstützen wir ausdrücklich.
Dies tun wir insbesondere vor dem Hintergrund, dass
die früher formlos eingereichte Gewinnermittlung heute
nach § 60 Einkommensteuer-Durchführungsverordnung
das Ausfüllen einer Anlage EÜR verlangt, die unnötig
kompliziert erscheint und ohne Steuerberater für viele
der betroffenen Kleinstunternehmer nicht fehlerfrei zu
bewältigen ist.
Wir werden darüberhinaus im Rahmen der Ausschussbefassung darauf zu achten haben, dass die zügige Umsetzung der EU-Richtlinie weiter im Fokus
steht. Ein eigener Gesetzentwurf zur Befreiung der
Kleinstunternehmer von den Bilanzrichtlinien, wie der
Antrag der Grünen ihn hilfsweise fordert, wäre dann unnötig.
Wir debattieren heute über einen Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Lassen Sie mich trotzdem mit
einem großen Lob beginnen. Dies ist einer der ganz wenigen Anträge Ihrer Fraktion, der ausnahmsweise nicht
neue Bürokratie schafft, sondern welche abbauen
möchte. Sonst ist es Ihnen meist eher ein Anliegen, den
Unternehmen in unserem Land immer neue Pflichten
aufzuerlegen. Insofern begrüßen wir es als FDP, dass
die Grünen erkennen, dass man Bürokratie abbauen und
nicht ausweiten muss.
Leider erkennt jeder kundige Leser sofort, dass Sie
vielleicht dieses richtige Anliegen verfolgen, aber in der
Sache so oberflächlich vorgehen, dass man nur zu einem
Schluss kommen kann: Ein echtes Herzensanliegen kann
es Ihnen wohl doch nicht gewesen sein! Das möchte ich
Ihnen anhand einiger offenkundiger Mängel Ihres Antrages aufzeigen:
Sie schreiben in Ihrem Antrag auf Seite 1, dass es darum gehe, Kleinstunternehmen - Zitat - „von der
Pflicht, eine Bilanz zu erstellen“ - Zitat Ende - zu befreien. Das schreiben Sie sogar noch vor dem Hintergrund, dass es um Kapitalgesellschaften gehen solle.
Nun, jedermann weiß, dass man Kapitalgesellschaften und seien sie noch so klein - nicht von der Pflicht befreien kann, eine Bilanz zu erstellen. Wesentliche
Rechtsvorschriften im Kapitalgesellschaftsrecht setzen
zwingend eine Bilanz voraus. Der Geschäftsführer einer
GmbH braucht eine Bilanz, um zu wissen, ob er rechtzeitig einen Insolvenzantrag gestellt hat oder sich nach
§ 15 a InsO strafbar gemacht hat. Die Gesellschafter
brauchen eine Bilanz, um zu wissen, ob sie Gewinnausschüttungen vornehmen dürfen, ohne dafür mit ihrem
Privatvermögen haften zu müssen. Und letztlich ist die
Ermittlung der Besteuerungsgrundlage bei einer Kapitalgesellschaft gar nicht anders denkbar als mit einer
Bilanz. Wer die Bilanzierungspflicht für kleine Kapitalgesellschaften abschafft, muss sagen, wie man all diese
Funktionen der Bilanz, auf die Geschäftsführer, Gesellschafter und auch der Staat angewiesen sind, anders erfüllen möchte. Es wäre ein großer Schritt in Richtung
etwa eines gespaltenen Rechts der großen und der kleinen GmbH. Das erleichtert nichts, sondern macht es am
Ende für die Beteiligten nur komplizierter.
Genau das möchte auch der Entwurf für eine Änderung der Richtlinie 78/660/EWG ({0}), auf
den sie sich beziehen, überhaupt nicht. Es geht gar nicht
um die Abschaffung der Bilanzierungspflicht im Allgemeinen. Es geht unter anderem nur darum, ob etwa zusätzliche Bilanzierungspflichten und OffenlegungsZu Protokoll gegebene Reden
pflichten, die das europäische Recht vorsieht, in den
Mitgliedstaaten zwingend sein sollten oder ob man den
Mitgliedstaaten hier einen Handlungsspielraum eröffnet. Da sagen auch wir, dass es sinnvoll ist, Kleinstunternehmen von den zwingenden Vorgaben des EU-Bilanzrechts zu befreien, um auf nationaler Ebene den
Spielraum für Bürokratieabbau nutzen zu können, indem
Erleichterungen bei der Bilanzierung und der Publizität
gewährt werden. Wenn Sie das meinen, dann müssen Sie
das auch schreiben.
Ein weiterer offenkundiger Mangel Ihres Antrags ist,
dass Sie Dinge fordern, die wir schon längst umgesetzt
haben. Nehmen wir Ihre Forderung, dass man Einzelkaufleute im Rahmen bestimmter Schwellenwerte von
der Bilanzierungspflicht befreien solle. Anders als bei
Kapitalgesellschaften ist dies hier unschwer möglich, da
aufgrund der persönlichen Haftung die bilanziellen
Kontrollgrößen nicht dem Gläubigerschutz dienen. Ihre
Forderung können Sie aber nicht aus dem Richtlinienentwurf ableiten, auf den Sie sich beziehen. Denn
nach Art. 1 Abs. 1 soll die Richtlinie ausdrücklich nur
für Kapitalgesellschaften gelten. Schließlich sind Einzelkaufleute bereits größtenteils von der Bilanzierungspflicht befreit. Das ergibt sich aus § 242 Abs. 4 HGB in
Verbindung mit § 241 a HGB.
Kurz und knapp lässt sich das Votum der FDP-Fraktion daher wie folgt auf den Punkt bringen: Gut gemeint
ist nicht gut gemacht! Daher können wir einem Antrag,
der zwar vom Grundanliegen her sympathisch, aber wegen der offenkundigen fachlichen Mängel sachlich untauglich ist, nicht zustimmen.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen greift einen Regelungspunkt auf, der bereits in
der letzten Legislaturperiode im Rahmen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes, BilMoG, umfassend debattiert wurde. Damals wurde mit § 241 a HGB eine Regelung eingeführt, nach der Einzelkaufleute von der
Buchführungspflicht und, in der Systematik jedenfalls
folgerichtig, von der Pflicht zum Jahresabschluss befreit
sind, wenn ihr Handelsgewerbe gewisse Schwellenwerte
unterschreitet. Bereits diese Regelung wurde von uns,
aber auch der Fachwelt kritisiert.
Die Beratungen zum BilMoG fanden im Schatten der
durch die Insolvenz der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers eingeleiteten weltweiten Finanzkrise statt, die Millionen Arbeitsplätze vernichtet hat
und mit deren Nachbeben wir uns auch heute noch auseinandersetzen müssen. Schon damals hatten die Ziele
der Entbürokratisierung, Deregulierung und Flexibilisierung der Bilanzierungsvorschriften sowie die Anpassung an internationale Rechnungslegungsvorschriften
einen faden Beigeschmack. Erst nach intensiven Beratungen wurde den tradierten Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung wieder mehr Bedeutung beigemessen.
Drei Jahre später zeigt Ihr Antrag, dass die damalige,
aber auch die aktuellen Krisen und deren Ursachen von
Ihnen nicht verstanden worden sind. Erneut bewerten
Sie die Vorgaben des HGB zur Buchführung und zur Erstellung eines Jahresabschlusses allein unter den Gesichtspunkten der vermeintlichen Unwirtschaftlichkeit
und der unnötigen Bürokratie. Sie fordern daher, die unter diesen Vorschriften „leidenden“ Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften unterhalb der
Schwelle von 500 000 Euro Umsatzerlös und 50 000
Euro Jahresüberschuss von der Pflicht zur Erstellung eines Jahresabschlusses zu befreien. Sie verkennen, dass
diese Vorschriften in erster Linie dem Kaufmann selbst
und seinen Gläubigern dienen. Nur ordnungsmäßige
Buchführung und Bilanzierung versetzen den Handelsgewerbetreibenden überhaupt in die Lage, Forderungen
und Verbindlichkeiten, aber auch den Status von Anlageund Umlaufvermögen zuverlässig zu bestimmen und sich
jederzeit einen realistischen Gesamteindruck über den
Stand seines Unternehmens zu verschaffen.
Die öffentliche Anhörung zum Gesetz zur weiteren
Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, ESUG,
hat deutlich gemacht, dass eine Vielzahl kleinerer Unternehmen zahlungsunfähig ist, die ihren bestehenden
Pflichten zur Buchführung und zur Erstellung von Jahresabschlüssen nicht nachkommt, also gerade keinen
Überblick über ihre finanzielle Situation hat. Dem leisten Sie mit Ihrem Antrag nun weiter Vorschub. Als vollkommen abstruse Lösung dafür hat Ihr Abgeordneter
Jerzy Montag ja bereits in seiner Rede zum BilMoG vom
25. September 2008 gefordert, man könne und müsse
den Risiken erleichterter Buchführungspflichten mit einem verbesserten Insolvenzrecht begegnen.
Unabhängig von den grundlegenden Einwänden gegen Ihre Forderungen ist der Antrag auch im Detail von
Widersprüchlichkeiten geprägt. Zunächst ist festzuhalten, dass bereits § 241 a HGB in der geltenden Fassung
ein Fremdkörper im Handelsrecht ist. Er erlässt die
Pflicht zur Buchführung für Einzelkaufleute, obwohl gerade die Notwendigkeit dazu deren Kaufmannseigenschaft überhaupt erst begründet. Nun wollen Sie eine
vergleichbare Regelung für Personen- und Kapitalgesellschaften. Dass auch Sie die Konkurrenz mit § 141 AO
dabei übersehen, mag man verzeihen. Allerdings verlangen Sie, dass nur die Pflicht zum Jahresabschluss entfällt. Gerade kleinere Unternehmen lassen auch die
Finanzbuchhaltung durch Steuerberater durchführen.
Eine nennenswerte Entlastung allein durch die Herausnahme der Jahresabschlusserstellung dürfte damit nicht
eintreten. Konsequent wäre es, wenn Sie wenigstens den
§ 241 a HGB auf diese Gesellschaften ausdehnen wollten. Stattdessen soll aber offenbar ein weiterer Fremdkörper im Handelsrecht etabliert werden: Kaufleute, die
buchführungspflichtig sind, aber keinen Jahresabschluss erstellen müssen.
Auch die Begründung für diesen Vorschlag entbehrt
jeglicher Logik. Sie führen Liquiditätsengpässe bei Unternehmen aufgrund restriktiver Kreditvergabe durch
Banken ins Feld. Statt dieses Problem anzugehen und
der unsozialen Kreditvergabepraxis der Banken durch
deren Vergesellschaftung entgegenzutreten, wie wir es
fordern, sollen Einsparungen für die Jahresabschlusserstellung von 2 500 Euro im Jahr die Liquiditätsprobleme lösen. Endgültig ad absurdum wird die BegrünZu Protokoll gegebene Reden
dung dadurch geführt, dass Unternehmer überhaupt nur
eine Chance auf einen Kredit bekommen, wenn sie solide
Buchführungsunterlagen und Jahresabschlüsse vorweisen können.
Ihr Antrag ist damit nicht mehr als der missglückte
Versuch, wirtschaftspolitische Kompetenz zu beweisen,
um die FDP als Koalitionspartner in schwarz-grünen
Bündnissen ablösen zu können.
Zwei Jahre schwarz-gelbe Koalition waren leider
auch zwei verlorene Jahre für kleine und mittlere Unternehmen. Nichts ist passiert für den Mittelstand. Die
größte Maßnahme war es da noch, als Sie vergangene
Woche angekündigt haben, die Grenzwerte der Istbesteuerung zu entfristen - eine Maßnahme der Vorgängerregierung wohlgemerkt. Es reicht einfach nicht, sich
immer mal wieder in Schaufensterreden über die Bedeutung des Mittelstands auszulassen. Eine konsequente
Mittelstandspolitik kümmert sich auch um Details und
tritt konsequent für kleine und mittlere Unternehmen
ein. Beides vermisse ich bei dieser Bundesregierung.
Die Befreiung von der Bilanzierungspflicht war eines
der größten Projekte der EU für einen Bürokratieabbau
in der Wirtschaft, eine durch und durch positive Initiative, die mehr als die verbale Unterstützung der Bundesregierung verdient hätte. Stattdessen stehen wir jetzt
nach einem Beschluss des EU-Ministerrats vor einem
faulen Kompromiss, der fast nichts mehr mit der ursprünglichen Idee zu tun hat. Die Befreiung von der Bilanzierungspflicht wurde vom Ministerrat leider weitestgehend gekippt. Dabei wäre eine Befreiung sehr sinnvoll
gewesen: Die Bilanzierung ist für kleine Unternehmen
mit hohen Kosten verbunden, die oftmals den Nutzen bei
weitem übersteigen. Eine halbe Arbeitskraft allein für
die Erstellung des Jahresabschlusses ist für Kleinstunternehmen eine Investition ohne Gegenwert.
Die Vorteile des Mittelstands wären beträchtlich gewesen. Mit einer jährlichen Ersparnis von zwischen
1 200 und 2 500 Euro pro Unternehmen würden wichtige Mittel in den Betrieben frei. Diese zusätzlichen Mittel können dann zur Finanzierung und für Investitionen
genutzt werden. Daher sollte es kleinen Unternehmen
freigestellt werden, ob sie einen Jahresabschluss mit Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung, Anlagen und Lagebericht erstellen wollen. Sollten sich kleine Unternehmen geschäftliche Vorteile von einer umfassenden Bilanzierung versprechen, stünde es ihnen selbstverständlich
weiterhin frei, diese vorzulegen. Das war die Initiative,
bei der Kommission und Parlament auf einer Seite standen. Auch die Bundesregierung hat sich immer wieder
positiv geäußert. Aber Worten müssen auch Taten folgen.
Bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene hat
diese schwarz-gelbe Regierung dann aber leider auf
ganzer Linie versagt. Seit mehr als zwei Jahren können
Sie sich mit einem konkreten Entwurf der Kommission
befassen. Der Rat kennt seit März 2010 den Standpunkt
des Parlaments. Sie hatten also weit mehr als ein Jahr
Zeit, eine Mehrheit für die Verabschiedung zu organisieren. Stattdessen wurde Ende Mai diesen Jahres ein sogenannter Kompromiss im Rat verabschiedet, der diese
Bezeichnung jedoch nicht verdient. Nicht nur, dass die
relevanten Schwellenwerte halbiert wurden. Nein, außerdem können bürokratische Entlastungen nur noch in
wenigen Punkten innerhalb des Jahresabschlusses realisiert werden. Die Befreiung von der Bilanzierung fällt
weg, und ein spürbarer Impuls ist für den deutschen Mittelstand daher nicht mehr zu erwarten. 70 Prozent der
deutschen Unternehmen wären davon betroffen gewesen. Erklären Sie diesen Unternehmerinnen und Unternehmern, warum Sie nicht besser verhandelt haben.
Wenn man sich das Votum der Bundesregierung im
Rat anschaut, muss man festhalten, dass diese Bundesregierung diesen inhaltsleeren Beschluss des Rates sogar
zu einer Mehrheit verholfen hat. Jetzt müssen Sie Millionen deutschen Unternehmen erläutern, warum Sie sich
bei einem solch schlechten Kompromiss enthalten haben
und damit einer Mehrheit den Weg bereiten. Stattdessen
hätten Sie konsequenterweise gegen ein solch unbefriedigendes Verhandlungsergebnis stimmen müssen, wenn
Ihnen an der Initiative etwas gelegen hätte.
Eine Befreiung der Kleinstunternehmen von der Bilanzierungspflicht hätte vielen kleinen Unternehmen gut
getan. Heute sind zwar schon Einzelkaufleute mit sehr
niedrigen Schwellenwerten befreit. Aber es geht um eine
konsequente Befreiung von der Jahresabschlusspflicht
unabhängig davon, welche Rechtsform eine Unternehmerin oder ein Unternehmer gewählt haben - es geht
darum, dass Einzelkaufleute, Personengesellschaften
und Kapitalgesellschaften gleichermaßen profitieren
können. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass
sich kleine Unternehmen auf ihr Geschäft konzentrieren
können und sich nicht im bürokratischen Klein-Klein
verstricken müssen.
Das EU-Parlament wird sich hoffentlich gegen den
faulen Kompromiss des Rates aussprechen, sodass es
noch Chancen zur Korrektur des Ratsbeschlusses gibt.
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich diesmal für den deutschen Mittelstand ein. Hören Sie auf, Politik nur für die
großen Konzerne zu machen, und kümmern Sie sich um
die Belange der KMU. Mit der jetzigen Beschlusslage ist
niemandem geholfen. Aber auch hier im Bundestag können Sie Farbe bekennen: Schon jetzt wäre eine Entlastung der Personengesellschaften nach den für Einzelkaufleute geltenden Grenzwerten möglich. Da müssen
Sie nicht auf ein Votum anderer EU-Regierungen warten, das können Sie schon jetzt ganz allein umsetzen.
Machen Sie endlich eine konsequente Politik für den
Mittelstand, und reden Sie nicht nur davon.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Demokratische Republik Kongo stabilisieren
- Drucksache 17/6448 Hartwig Fischer ({0}) ({1}):
Zu Beginn meiner Rede möchte ich gerne aus meiner
Rede vom 1. Juni 2006 im Deutschen Bundestag zitieren,
wo wir im Rahmen der UN-Operation EUFOR RD
Congo über die Entsendung deutscher Soldaten zur Absicherung der damals bevorstehenden Präsidentschaftsund Parlamentswahlen in der Demokratischen Republik
Kongo zu entscheiden hatten: „… Wir stehen jetzt am
Vorabend von Entscheidungen, die dazu beitragen können, dass ein zentraler Unruheherd in Afrika befriedet
wird. … Wir haben jetzt die Gelegenheit, mit einem kurzen militärischen Einsatz einem Volk die Chance zu geben, in freier Verantwortung seine Parlamentarier und
seinen Präsidenten zu wählen.“
Fünf Jahre nach dieser Rede muss ich leider feststellen, dass die kongolesische Regierung unter Präsident
Joseph Kabila das in sie gesetzte Vertrauen und damit
die angesprochene Chance nicht genutzt hat.
Wir befinden uns heute fast fünf Monate vor den geplanten Präsidentschaftswahlen in der Demokratischen
Republik Kongo. Dies haben wir zum Anlass genommen,
mit unserem Antrag ein Resümee der vergangenen Jahre
zu ziehen und gleichzeitig einen Ausblick in die Zukunft
zu wagen. Ich freue mich, dass dieser Antrag als interfraktioneller Antrag heute zur Debatte steht, denn dies
zeigt, dass wir hier mit einer gemeinsamen Stimme sprechen.
Wir stellen leider zuallererst fest, dass sich die Situation der kongolesischen Bevölkerung, gerade in den östlichen Regionen, seit Jahren nicht gebessert, ja vielerorts sogar verschlechtert hat. Misswirtschaft und
Korruption sind nach wie vor an der Tagesordnung. In
den letzten Tagen erreichen uns vermehrt Meldungen
über die immer größere Ausbreitung einer Choleraepidemie. Die Epidemie war im März in der Stadt Kisangani ausgebrochen und hat sich seitdem immer weiter
entlang des Flusses Kongo ausgebreitet. Den Angaben
zufolge sind bereits 2 787 Menschen erkrankt und 153
bereits gestorben. Die nahezu ungehinderte Ausbreitung
der Cholera hat vor allem folgende Gründe: hohe Bevölkerungsdichte, mangelhafte Hygienebedingungen
und eingeschränkter Zugang zu sauberem Wasser.
Im Jahre 2006 waren die Wahlen zu 90 Prozent von
den Geberstaaten finanziert. Die kongolesische Regierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die kommenden
Wahlen mit einem hohen Eigenanteil, nämlich circa
60 Prozent, selber zu finanzieren. Allerdings ist bis
heute nicht klar, woher das Geld genau stammen soll.
Am 31. Juni 2011 kam es in der Hauptstadt Kinshasa zu
gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Anhängern der
Oppositionspartei UDPS und der Polizei vor dem Sitz
der Wahlkommission. Die Anhänger der Opposition
werfen der Kommission Unregelmäßigkeiten bei der
Wählerregistrierung vor. Wir fordern die kongolesische
Regierung daher auf, den Fahrplan für die Präsidentschaftswahlen einzuhalten und somit den anvisierten
Wahltermin im November 2011 einzuhalten.
In der letzten Woche hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Verlängerung von MONUSCO, mit 22 000
Mann eine der größten UN-Blauhelmmissionen, um ein
Jahr beschlossen. Die jährlichen Kosten für diesen Einsatz werden auf circa 1,4 Milliarden US-Dollar geschätzt. Deutschland als viertgrößter Zahler ist mit rund
10 Prozent an den Kosten beteiligt. Daran sehen Sie,
dass die Stabilisierung der Demokratischen Republik
Kongo, gerade der östlichen Provinzen, in unserem ureigensten Interesse sein muss.
Immer wieder erreichen uns schreckliche Nachrichten von Massenvergewaltigungen, Verschleppungen und
Raub aus dem Osten der Demokratischen Republik
Kongo. Marodierende Milizen treiben dort weiter ihr
Unwesen und betreiben bewusst eine Destabilisierung
der Region. Straf- und Rechtsfreiheit sind an der Tagesordnung. Dies führt weiterhin zu einem nahezu unkontrollierten Abbau und somit zur Ausbeutung der vorhandenen Rohstoffe. Die Deutsche Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit, GIZ, in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Geowissenschaft und
Rohstoffe ({2}) arbeitet deshalb bereits seit mehreren
Jahren an einem Mechanismus für die Zertifizierung der
kongolesischen Rohstoffe. Nur so können wir sicherstellen, dass die Rohstoffe zu Weltmarktkonditionen abgebaut, zu Weltmarktpreisen verkauft und nicht wie geschehen gegen Waffen getauscht werden.
Wenn wir es nicht schaffen, die Demokratische Republik Kongo zu stabilisieren, können wir auch das gesamte Gebiet der Großen Seen nicht stabilisieren. Lassen Sie uns gemeinsam den vorliegenden Antrag zum
Anlass nehmen, die Demokratische Republik Kongo
wieder mehr in den Fokus der deutschen Außenpolitik zu
rücken. Denn nur mit einer europäisch und international
abgestimmten Position können wir eine Verbesserung in
und für die Bevölkerung in der Demokratischen Republik Kongo erreichen. Die Menschen sind der Gewalt
und des Mordens müde geworden.
Unterstützen Sie deshalb den vorliegenden Antrag,
denn mit den darin aufgezeigten Mitteln und Wegen wollen wir versuchen, unseren Anteil zur Stabilisierung der
Demokratischen Republik Kongo beizutragen.
Zum 1. Juli hat Deutschland den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernommen. Einen Tag
zuvor lief das ursprüngliche Sicherheitsratsmandat für
die MONUSCO-Mission der Vereinten Nationen aus.
Auch wenn wir zurzeit intensiv über die Umwälzungen
in Nordafrika und die Zukunft des Sudans diskutieren,
dürfen wir die Demokratische Republik Kongo als zweiten großen Krisenherd auf dem afrikanischen Kontinent
nicht aus den Augen verlieren.
Daher hat der Antrag zum Ziel, die Bedeutung dieses
Konfliktes zu unterstreichen. Wir wollen aber auch, dass
die Bundesregierung, die Europäische Union und die
Vereinten Nationen eine kohärente Strategie für die Demokratische Republik Kongo entwickeln, um gezielt
Druck auf die Regierung und andere relevante Akteure
auszuüben.
Dazu zeichnet der Antrag zunächst ein ungeschöntes
Bild der Lage in der Demokratischen Republik Kongo
und nennt die Dinge beim Namen. Er beschreibt konkret
die Probleme und Defizite, ohne sie zu verharmlosen.
Dies hat sich bei ähnlichen Berichten oder Anträgen zu
Afghanistan oder dem Sudan bewährt, und ich freue
mich daher auch über die breite interfraktionelle Zustimmung dazu.
Diese ungeschönte Analyse fängt bei der Beschreibung der Menschenrechtslage an - sie ist katastrophal.
Wir alle kennen die Berichte über die grauenhaften
Massenvergewaltigungen vor einem Jahr, bei denen binnen vier Tagen über 300 Frauen und Kinder vergewaltigt wurden. Der Antrag nennt auch ein anderes grauenhaftes Beispiel und klagt die Massenvergewaltigungen
an der Grenze zu Angola mit 1 400 Opfern in nur einem
Dorf innerhalb weniger Monate an.
Folge dessen sind eine katastrophale Sicherheitslage
mit über zwei Millionen Binnenvertriebenen, hauptsächlich im Grenzgebiet zu Ruanda.
Damit lässt sich nicht abstreiten, dass die Blauhelmmission ihrem prioritären Auftrag, die Zivilbevölkerung
des Landes zu schützen, wiederholt nicht gewachsen
war. Dies gilt nicht nur für die Verhinderung einzelner
Massaker oder Vergewaltigungen, sondern auch für die
Niederschlagung größerer regionaler Unruhen.
Dabei ist die MONUC/MONUSCO-Mission seit 1999
stetig gewachsen und mittlerweile die größte der Vereinten Nationen. Zurzeit umfasst sie ein robustes Mandat
mit rund 20 000 Blauhelmen. Auch Deutschland als
viertgrößter Beitragszahler unterstützt diese Mission
seit langem.
Neben einer verheerenden Bestandsaufnahme umfasst der Antrag aber auch einige wenige Erfolge. Dazu
zählen die Wahlen im Jahr 2006, die nicht nur von der
Bundesregierung und der EU finanziert, sondern auch
im Rahmen der Operation EUFOR RD Congo militärisch abgesichert wurden. Ich erinnere mich noch gut an
die damalige Debatte, als deren Ergebnis wir uns trotz
mancher Einwände entschieden haben, 780 Soldaten zu
entsenden. Im Nachhinein betrachtet war das eine richtige Entscheidung.
Jetzt stehen die zweiten demokratischen Präsidentschaftswahlen an, die für den 27. November angesetzt
sind. Über deren Bedeutung brauchen wir nicht zu diskutieren. Denn - und das sagt der Antrag klar und deutlich - „das Vertrauen der Bevölkerung in Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit ist jedoch in den letzten Jahren
gefährlich gesunken.“ Weder Menschenrechte noch Sicherheit oder eine unabhängige und funktionierende
Justiz sind in der Demokratischen Republik Kongo vorhanden. Der Rohstoffreichtum scheint für die Bevölkerung kein Segen, sondern ein Fluch zu sein. Und ein
Ende der Gewalt ist nicht in Sicht.
Vor diesem Hintergrund scheint ein großer Wurf zur
schnellen Wende kaum möglich. Daher braucht es
langfristige und nachhaltige Arbeit, um das Ruder herumzureißen. Entsprechende Passagen finden sich im
Afrika-Konzept der Bundesregierung. Als Entwicklungspolitikerin weiß ich um die Bedeutung der Demokratischen Republik Kongo als bilaterales Partnerland
der deutschen Entwicklungspolitik.
Doch all das hat in der Vergangenheit nicht zum entscheidenden Durchbruch verholfen. Daher müssen wir
darüber nachdenken, wie Sanktionen und Konditionalisierung, aber auch Mechanismen zur Transparenz und
Rohstoffzertifizierung sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt werden können.
Andernfalls werden Willkür und Korruption jeglichen
Fortschritt verhindern. Exemplarisch wird das an dem
offensichtlich jeder ernsthaften Grundlage entbehrenden Vorgehen der kongolesischen Justiz gegen die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ,
deutlich.
Daher unterstützt der Deutsche Bundestag auch eine
zukünftig deutlichere Ansprache der Bundesregierung
und EU gegenüber den kongolesischen Verantwortlichen. Der Antrag macht deutlich, dass die Zeit der Ausreden und leeren Versprechen durch die kongolesische
Regierung ein Ende haben muss - deren Verantwortlichkeit für die Entwicklung des Landes wird klar benannt.
Wir als Bundesrepublik und internationale Gemeinschaft können nur unsere Hilfe anbieten.
Nach Verhandlungen zwischen den oben genannten
Fraktionen ist ein interfraktioneller Antrag zur Stabilisierung der Demokratischen Republik, DR, Kongo entstanden, der aufgrund der vorgenommenen Änderungen
vonseiten der SPD-Fraktion befürwortet wird. Auf folgende Punkte, die im Verhandlungsprozess Berücksichtigung gefunden haben, möchte ich nochmal eingehen:
Von einer positiven Entwicklung der DR Kongo hängt
die Sicherheitslage der gesamten Region ab. Das Land
ist an Fläche und Bevölkerung eines der größten Afrikas. Seit den ersten Wahlen im Jahre 2006, die von der
Europäischen Union in erheblichem Maße mitfinanziert
und personell gestützt wurden, lassen sich jedoch kaum
Zeichen einer fortschreitenden Demokratisierung ausmachen. Besonders die im November anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stimmen sorgenvoll und sind mit ein Grund dafür, dass die größte
Blauhelmmission der VN, MONUSCO, um ein weiteres
Jahr verlängert wurde. Die Lage vor den Wahlen ist angespannt. Darüber hinaus gibt es Unmut in der Bevölkerung über die Maßgabe der Regierung, sich erneut in
das Wählerregister eintragen zu lassen, eine fast unüberbrückbare Hürde für viele Kongolesen, die vor der
Gewalt im Land flüchten oder vertrieben wurden. Die
VN fordern die kongolesische Regierung auf, für faire,
regelmäßig und transparente Wahlen zu sorgen. Ohne
beträchtliche internationale Unterstützung dürften die
Zu Protokoll gegebene Reden
Wahlen jedoch - selbst bei einer wohlwollenden Einschätzung - kaum erfolgreich verlaufen. Darum fordert
der Antrag die Bundesregierung unter anderem auf, bei
der Vorbereitung der Wahlen organisatorische und
rechtliche Unterstützung anzubieten und frühzeitig auf
die Entsendung internationaler und EU-Wahlbeobachter zu drängen. Diese sollen in enger Zusammenarbeit
mit der Zivilgesellschaft die Wahlkämpfe und Wahlgänge überwachen.
Die Lebensumstände der Menschen insbesondere im
Osten und Norden des Landes haben sich in den letzten
Jahren nicht wesentlich verbessert. Etwa 55 Millionen
Menschen sind immer noch von eklatanter Armut betroffen und müssen mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag
auskommen. Gerade die Sicherheitslage bereitet Anlass
zur Sorge. Frauen und Kinder laufen unverändert Gefahr, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Massenvergewaltigungen werden von den Milizen systematisch als
Mittel der Kriegsführung eingesetzt, um die Gemeinschaften zu zerstören. Obwohl internationale Programme zur Reform des kongolesischen Sicherheitssektors vorhanden sind, ist es bisher nicht gelungen, einen
Großteil der Milizionäre zur Aufgabe ihres Kampfeinsatzes zu bewegen. Kinder werden verstärkt als Kindersoldaten rekrutiert und zum Töten missbraucht - ein lebenslanges Trauma ist die Folge. Besonders bemängelt
wird die Tatsache, dass die kongolesische Regierung die
Sicherheit der Menschen in ihrem Land nicht gewährleistet und Menschenrechtsverletzungen nicht konsequent verfolgt und geahndet werden. Dies muss insbesondere für Vergewaltigungen gelten, die von der VN in
ihrer Sicherheitsratsresolution 1820 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit besonders geächtet wurden. So
bleibt es meist Aufgabe anderer, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu untersuchen. So ist es nicht
die kongolesische Regierung, sondern die VN-Mission
MONUSCO, die prüft, wie es zu den Massenvergewaltigungen im Juni durch desertierende Soldaten im Osten
des Landes gekommen ist und wie rechtlich vorgegangen werden muss.
Eine Umverteilung des beträchtlichen Ressourcenreichtums steht immer noch aus und bleibt eine der
grundlegenden Herausforderungen für die Befriedung
des Landes. Die aus Bodenschätzen wie Coltan, Kupfer
und Zink gewonnenen Einnahmen werden immer noch
allzu oft zur Finanzierung von Kriegsaktivitäten verwendet oder fließen ausländischen Unternehmen zu, die
sich durch geschickte Vertragsverhandlungen beträchtliche Erträge sichern. Fehlende Mittel für die Armutsbekämpfung sind die Folge. Die Entwicklung eines einheitlichen und flächendeckenden Zertifizierungs- und
Transparenzmechanismus muss daher mit besonderem
Nachdruck vorangetrieben werden. Mit diesem könnten
die Handelswege der aus der DR Kongo abgebauten
Rohstoffe nachverfolgt werden. Unsere Fraktion schlägt
auch vor, eine europäische Regelung zu schaffen, die
analog zum US Financial Reform Act fordert, die Zahlungen von europäischen Firmen transparent zu machen, um damit dem illegalen Ressourcentransfer entgegenzuwirken.
Bevor ich auf das Inhaltliche eingehe, nur kurz zum
Ablauf der Beratungen. Der vorliegende Antrag der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und von Bündnis 90/Die
Grünen - Drucksache 17/6448 - ist ein interfraktioneller Antrag, der auf Basis des Koalitionsantrages
({0}) entstanden ist. Deswegen wird
der Koalitionsantrag zurückgezogen und durch den interfraktionellen Antrag ersetzt. Diesen interfraktionellen Antrag stellen wir zur Sofortabstimmung, da wir
möchten, dass er noch vor der Sommerpause beschlossen wird, denn in der Demokratischen Republik Kongo
stehen im November Präsidentschaftswahlen an. Die
Demokratische Republik Kongo hat also nicht nur deswegen eine entscheidende Phase vor sich, in der wir als
Parlamentarier mit unserem umfassenden Forderungskatalog konzeptionell zur rechten Zeit kommen. Ich bin
erleichtert, dass uns zur Situation in der Demokratische
Republik Kongo ein interfraktioneller Antrag gelungen
ist und er belegt, dass der erhobene Vorwurf, die Regierungskoalitionen würden grundsätzlich keine interfraktionellen Anträge wünschen, nicht stimmt. Es ist auch
bei weitem nicht der erste interfraktionelle Antrag. Zum
Beispiel hatten wir interfraktionelle Anträge zum Sudan,
zu Belarus, zum Iran, um nur einige zu nennen.
Als Mitglied des Menschenrechtsausschusses habe
ich im Mai an einer Ausschussreise nach Ruanda und
in den Ostkongo - nach Goma und Bukavu - teilnehmen können. Ich möchte an dieser Stelle daher ganz
ausdrücklich der Deutschen Botschaft, dem Botschafter Dr. Peter-Christof Blomeyer und seinem Vertreter,
Herrn David Schwake, für die hervorragende Vorbereitung und Betreuung danken. Gleiches gilt für die Botschaft in Kigali und dem Geschäftsträger der Botschaft
in Ruanda, Herrn Frank Maier. Auch wenn ich natürlich
nicht für die anderen Reiseteilnehmer sprechen kann:
Diese Reise hat uns - gerade was den Rohstoffhandel
betrifft - neue Einblicke vor Ort gebracht. Vieles, was
hier in den deutschen Medien manchmal simplifiziert
dargestellt wird, sieht in der Realität anders aus.
Keine Frage: Die Demokratische Republik Kongo ist
reich an Rohstoffen - doch leider kommt dieser Reichtum nicht der Bevölkerung zu Gute, sondern ist vielmehr
selbst ein Teil des nicht enden wollenden Gewaltkreislaufs. Es stimmt aber nicht, dass 80 Prozent des Coltans
aus der Demokratische Republik Kongo kommen. Der
Anteil an Coltan aus der Demokratische Republik
Kongo am Weltmarkt beträgt 8,7 Prozent. Auch wird der
Preis für Coltan-Kondensatoren in Handys überschätzt er dürfte bei etwa 2 Cent liegen. Diese Zahlen sollen
nichts verharmlosen, nur ins rechte Licht rücken. Denn
unser Ziel ist und bleibt das gleiche: Den Rohstoffhandel aus dem Gewaltzirkel herauszulösen und die Erträge
einer nachhaltigen Entwicklung zugänglich zu machen.
Das ist ein besonders wichtiger Beitrag zur Friedenskonsolidierung im Ostkongo.
Durch den Dodd-Frank-Act und das Importverbot
Ruandas, das die Einfuhr von nicht zertifizierten Mineralien seit dem 1. März 2011 verbietet, ist endlich ein so
hoher Druck auf die kongolesische Regierung ausgeübt
worden, dass sie sich bewegen muss. Jetzt hat man vor
Zu Protokoll gegebene Reden
Ort ein hohes Interesse am EITI-Prozess und an der Zertifizierung. Hierbei nimmt Deutschland durch die Arbeit
der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
({1}) mit ihren Zertifizierungssystemen für mehrere
Rohstoffe und durch die EITI-Initiative eine weltweite
Vorreiterrolle ein. Mein ausdrücklicher Dank gilt daher
Dr. Uwe Näher von der BGR und Herrn Götz von
Stumpfeldt von der GIZ.
Wenn ich die Reise Revue passieren lasse, dann ist es
so, dass man die vielen Menschenrechtsverletzungen,
die dort nach wie vor geschehen, kaum verarbeiten
kann. Wir haben ehemalige Kindersoldaten besucht. Ein
Junge, 12 Jahre alt, war vier Jahr Kindersoldat bei den
Mai-Mai-Rebellen. Wir haben das Panzi-Krankenhaus
in Bukavu besucht, in dem pro Jahr 3 500 Vergewaltigungsopfer behandelt werden Die meisten Vergewaltigungen gehen - auch nach Angaben der UN vor Ort bestätigt - von der offiziellen kongolesischen Armee aus.
Wir haben in Bukavu ein Gefängnis besucht - ein Gefängnis, das ausgelegt war auf 400 Häftlinge, in dem
1 200 Häftlinge untergebracht waren, in Schlafsälen mit
dreckigen, schimmligen Matratzen und Plastikeimern
als WC - und das Gefängnis war sicher das „beste“ in
der Region von den Standards her. Wir haben mit Häftlingen gesprochen - einer seit fünf Jahren in Haft, ohne
Anklageerhebung, ohne dass er je einen Anwalt gesehen
hätte. Wir haben mit inhaftierten Oppositionspolitikern
gesprochen - inhaftiert, weil sie etwas Regierungskritisches gelesen haben sollen.
Wir haben MONUSCO besucht - die händeringend
Hubschrauber brauchen - und wer die Landschaft dort
kennt, der weiß, dass ohne Hubschrauber selbst nah gelegene Ortschaften nur in stundenlanger Fahrt auf mehr
als holprigen oder schlammigen Pisten erreicht werden
können. Dann nämlich kommt die Hilfe zu spät für die
Abwehr eines Überfalls. Wir haben eine artisanale Mine
gesehen, wo mit bloßen Händen nach Gold geschürft
wird und wo sich sämtliche Ausführungen zu Arbeitsstandards erübrigen. Diese Liste ließe sich noch fortsetzen. Fest steht: Die Sicherheits- und Menschenrechtslage bleibt katastrofal, auch wenn es im riesigen Gebiet
des Ostkongos natürlich Unterschiede gibt. Deswegen
ist es dringend geboten, dass wir uns gerade jetzt intensiv mit der Demokratische Republik Kongo beschäftigen.
Die Demokratische Republik Kongo befindet sich
nach über einem Jahrzehnt mehrerer, miteinander verknüpfter interner und regionaler Kriege und Konflikte,
die nach Angaben des internationale Rescue Committees mehr als 5 Millionen Todesopfer forderten, in einem
wechselhaften Übergangsprozess. Etwas Hoffnung
keimte auf, als die Kongolesen im Jahr 2006 zur Wahlurne schritten, um erstmals in der Geschichte ihres Landes in freien Wahlen Präsident und Parlament zu wählen. An der Absicherung dieser Wahlen durch die
internationale Gemeinschaft war auch die Bundeswehr
mit 780 Soldaten im Rahmen der EU-Mission EUFOR
RD Congo beteiligt.
Fünf Jahre später stehen nun turnusgemäß die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Wir
wissen aus anderen Postkonflikt-Ländern nur zu gut,
dass dieser zweite Urnengang für die Konsolidierung einer neuen Ordnung fast so entscheidend ist wie der
erste. Wenn die internationale Medienkarawane längst
weitergezogen und der Konflikt aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit verschwunden ist, erst dann zeigt sich, wie
nachhaltig die Anstrengungen zur Beendigung des Konfliktes waren und wie stabil die neue Ordnung tatsächlich ist.
Der Wahlkampf und die Wahlen erfordern die volle
Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft, um
glaubwürdige Wahlgänge durchzuführen. Die Wahlvorbereitung erfüllt mich mit Sorge: Es gibt zwei Faktoren,
die zu einem Legitimitätsproblem führen könnten. Erstens. Es gibt deutlich weniger Wählerregistrierungsstationen in der Demokratische Republik Kongo als noch
2006. Die Zahlen veranschaulichen dies: Im Südkivu
waren es 2006 noch 700 Stationen, heute 303 Stationen.
Zweitens. Präsident Kabila hat die Wahlgesetzgebung
nach seinen Vorstellungen so umschreiben lassen, so
dass eine Stichwahl bei der anstehenden Präsidentschaftswahl als ausgeschlossen gelten kann. Außerdem
gibt ihm die Verfassungsänderung, die Möglichkeit, ein
Provinzparlament aufzulösen und den Gouverneur abzusetzen.
Fest steht: Wir brauchen eine intensive Begleitung
des Wahlprozesses. Es muss EU-Wahlbeobachter geben,
es muss auch jetzt schon Beobachtung der Wählerregistrierung, des Wahlkampfs geben, und vor allem muss die
Opposition Zugang zu staatlichen Medien haben und
muss sich frei betätigen können.
Eines müssen wir auch klar feststellen: Die Verantwortung für die Gewährleistung eines stabilen Sicherheitsumfelds, die Geltung der Menschenrechte und die
Umsetzung sämtlicher Reformprojekte liegt letztlich und
zuerst bei der Regierung der Demokratische Republik
Kongo. Die internationale Gemeinschaft kann hierzu lediglich Hilfestellung bieten. Aber Deutschland hat ein
fundamentales Interesse daran, dass die Konsolidierung
der Demokratische Republik Kongo erfolgreich voranschreitet. Denn nicht nur war die Bundeswehr zur Absicherung der Wahlen 2006 im Kongo im Einsatz, seit Jahren engagiert Deutschland sich in diesem Land auch als
Geber in der bi- und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Im neuen Afrika-Konzept der Bundesregierung nimmt die Demokratische Republik Kongo in den
Bereichen „Frieden und Sicherheit“, „Umwelt und
Klima“ sowie „Energie und Rohstoffe“ einen bedeutenden Platz ein. Zwei wichtige Sicherheitssektorreformen
der EU werden mit deutschem Geld und Personal unterstützt. Und wir sind viertgrößter Beitragszahler der VNMission MONUSCO, die schon seit 1999 im Land aktiv
ist und deren Mandat Ende Juni gerade um ein weiteres
Jahr verlängert wurde.
Das deutsche Engagement bezüglich der Demokratische Republik Kongo ist unter den Prämissen einer
werte- und interessengeleiteten Außenpolitik nicht nur
gerechtfertigt, es ist vielmehr zwingend geboten. Denn
Massaker, Massenvergewaltigungen, Plünderungen,
Vertreibungen und weitere Menschenrechtsverletzungen
Zu Protokoll gegebene Reden
durch Rebellengruppen, aber auch Armee-Einheiten
sind vor allem in den östlichen Kivu-Provinzen an der
Tagesordnung. Ich habe von meinem Besuch im PanziKrankenhaus berichtet. Aber selbst in den Teilen des
Landes, in denen kein bewaffneter Konflikt schwelt, ist
die Menschenrechtssituation katastrofal. Menschenrechtsaktivisten und Journalisten werden zunehmend in
ihrer Arbeit eingeschüchtert, mit dem Leben bedroht
oder ermordet. Hierfür zeichnen auch die staatliche
Polizei und der nur dem Präsidenten unterstellte Geheimdienst verantwortlich. Eine unabhängige Justiz, die
solche Verbrechen aufklären und zur Anklage bringen
könnte, existiert in den seltensten Fällen. Verfahren gegen die Täter werden kaum angestrengt und enden oft
ohne Verurteilung. Im ganzen Land existiert eine Kultur
der Straflosigkeit. Auch die im Kontext des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit harren weiter einer systematischen Aufarbeitung. Die Behandlung weniger, prominenter Fälle bleibt dem Internationalen Strafgerichtshof
in Den Haag überlassen. Dies ist die erschütternde Bestandsaufnahme rund fünf Jahre nach den Wahlen von
2006, in die viele Kongolesen so große Hoffnungen gesetzt hatten.
Fünf Jahre nach ihrem Amtsantritt hat die Regierung
Joseph Kabila kaum eines ihrer zahlreichen Wahlversprechen gehalten. Der Schutz der Zivilbevölkerung ist
vor allem in den Kivu-Provinzen nicht gewährleistet.
Wichtige Reformen wie etwa die in der Verfassung geforderte dezentralisierte Neugliederung des Landes oder
die Einsetzung einer ebenfalls in der Verfassung verankerten Nationalen Menschenrechtskommission unterblieben jedoch. Die anhaltende Stagnation legt die Vermutung nahe, dass Teile der kongolesischen Elite in
Kinshasa sich mit dem prekären Zustand ihres Landes
arrangiert und kein Interesse an grundlegenden Fortschritten haben. Deutschland und die internationale Gemeinschaft sind daher aufgefordert, ihre Unterstützungsmaßnahmen umfassend auf den Prüfstand zu
stellen und ihre Anstrengungen besser zu koordinieren.
International muss die Gewährung von Entwicklungszusammenarbeit direkter an messbare Erfolge bei der Verbesserung der Menschenrechtslage geknüpft werden.
Insbesondere bei der Reform des kongolesischen Sicherheitssektors - einem Schlüsselprojekt bei der langfristigen Friedenskonsolidierung - sind Verbesserungen
notwendig. Hier brauchen wir eine spürbare finanzielle
und personelle Aufstockung von den beiden EUPOLund EUSEC-Missionen. Aber auch bei der Unterstützung der MONUSCO-Mission sind eine Überprüfung
laufender Maßnahmen und eine verbesserte Abstimmung mit den internationalen Partnern notwendig.
Oberste Aufgabe für MONUSCO muss der Schutz der
geschundenen Zivilbevölkerung sein. Ich begrüße,
dass man nun Gemeinde-Verbindungspersonal einsetzt, die mit Handy ausgestattet, im Notfall schneller
Hilfe rufen können. Die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von MONUSCO hängt entscheidend von dieser
Schutzfunktion ab. Und es ist ein nicht hinnehmbarer
Zustand, dass sich in der internationalen Gemeinschaft
keine Hubschrauber finden.
Wir müssen auch die regionale, politische Dimension
im Blick behalten. Die Demokratische Republik Kongo
grenzt an insgesamt neun Staaten und ist damit von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung Zentralafrikas.
Politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität im
Kongo strahlen positiv auf die gesamte Region aus umgekehrt haben Instabilität und eine anhaltend schwache wirtschaftliche Entwicklung einen negativen Effekt
auf die Anrainer-staaten, wie die Vergangenheit gezeigt
hat.
Mit dem vorliegenden Antrag leistet der Deutsche
Bundestag einen wichtigen Beitrag für die zukünftige
Entwicklung, indem er eine Bestandsaufnahme liefert
und konkrete Schwerpunkte für zukünftiges Handeln benennt. Hieran wird die Bundesregierung nun mit konkreten Taten anknüpfen und ihr Engagement fortsetzen.
Die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP hat
uns gemeinsam mit den Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen ein Protokoll des Grauens und
der Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo
vorgelegt. Es ist zugleich auch ein Protokoll des Versagens der internationalen Gemeinschaft und der bisherigen deutschen Außenpolitik. Ein Versagen Ihrer Politik,
meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, die de facto auch die Fortführung der rot-grünen
Politik in diesem rohstoffreichen afrikanischen Land ist.
Wer nach den Ursachen der Konflikte im Kongo
sucht, wird sie in diesem interfraktionellen Antrag nicht
finden. Systematische Einschüchterungen und Morddrohungen durch die kongolesische Polizei und das Militär
gehören zur Tagesordnung. Das Europäische Parlament
hat am 22. September 2010 in einem gemeinsamen Entschließungsantrag festgestellt, dass es sich hier um einen eindeutigen Trend handelt und dass „viele nichtstaatliche Organisationen im vergangenen Jahr eine
zunehmende Unterdrückung von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Oppositionsführern, Opfern und
Zeugen in der Demokratischen Republik Kongo einschließlich Tötungen, rechtswidriger Verhaftungen, Verfolgungen, Drohanrufen und wiederholten Vorladens bei
den Geheimdienststellen beobachtet haben“.
Sowohl dem Rat der Europäischen Union, EU, als
auch der Bundesregierung ist bekannt, dass die allermeisten Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo auf die Polizei und das Militär
zurückgehen, die seit Jahren von Deutschland und der
EU ausgerüstet und ausgebildet werden. Im Rahmen der
Mission EUPOL Kinshasa wurden für 10 Millionen
Euro sogenannte Integrierte Polizeieinheiten in der
Hauptstadt aufgebaut. Diese Einheiten wurden aufgerüstet, um demokratische Versammlungen niederzuschlagen. Gemäß einer Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion wurden diese
Einheiten im Rahmen der EUPOL-Mission mit „Schutzschildern, Helmen, Schlagstöcken und Tränengas sowie
Maschinenpistolen der Marke Uzi“ ausgestattet. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sehen anders aus. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Linke lehnt es ab, solche Regime mit Repressionsapparaten zu unterstützen!
Mit dem skandalösen Urteil vom 23. Juni hat die kongolesische Justiz, wegen der Auftragsmorde an den
kongolesischen Menschenrechtsaktivisten Floribert
Chebeya und Fidèle Bazana, bewiesen, dass die Täter
weitgehende Immunität besitzen. Trotz dieser erdrückenden Faktenlage verweigern Sie von der Regierungskoalition zusammen mit SPD und Grünen eine Evaluierung dieser Missionen. Angesichts des Elends Ihrer
bisherigen Afrika-Politik werden uns nur alte Antworten
auf aktuelle Fragen präsentiert: mehr Aufrüstung und
Ausbildung der kongolesischen Polizei. Ihre Verantwortung für zahlreiche Verbrechen und die Unterdrückung
demokratischer Bestrebungen ist erwiesen. Als hätten
Sie diesem Zustand durch Ihre Auslandsmissionen nicht
aktiv geholfen, fordern sie noch die finanzielle und personelle Aufstockung der EUSEC- und EUPOL-Missionen bzw. der MONUC/MONUSCO und sehnen sich
nach noch mehr Waffen und Hubschraubern, die in das
Land gebracht werden sollen. Die Linke fordert hier
eine radikale Umkehr. Sie müssen aufhören, meine Damen und Herren von der Koalition, der SPD und den
Grünen, die Ausrüstungs-, Ausstattungs- und Ausbildungshilfe für autoritäre Regime wie im Kongo fortzuführen.
In Bezug auf die Aufarbeitung der verübten Verbrechen halten Sie weiter an einem Rechtsverständnis fest,
das unter internationaler Strafgerichtsbarkeit nur die
exklusive Verfolgung von Feinden des Westens versteht.
Sie entdecken nun sogar das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, an welches Sie sich, wenn es um die Verfolgung
von Verbrechen geht, die durch Ihre kongolesischen
Partner, die NATO oder Bundeswehr verübt werden, nur
ungern erinnern wollen.
Als Autorinnen und Autoren dieses Antrages wissen
Sie genau, dass die Präsenz der Vereinten Nationen
nicht erst 2006 und die der EU und einzelner europäischer Staaten erst mit ihrem militärischen Eingreifen
2003 begonnen hat.
Vielmehr stehen die in dem Antrag detailliert geschilderten Verbrechen in der Kontinuität des Bestrebens,
Kongo als ein Gehege zur Handelsjagd zum Zwecke der
Sicherung von Bodenschätzen und geostrategischen Interessen unter der Kontrolle des Westens beizubehalten.
In Ihrer Darstellung nehmen die Menschen vor Ort nur
eine Statistenrolle ein. Die von Ihnen geschilderten Verbrechen spielen für Sie nur insofern eine Rolle, als dass
sie Zeugnis über das Versagen Ihrer bisherigen langjährigen Polizei- und Militärausbildungsmissionen ablegen. Offensichtlich kann die Wahrheit angesichts der
massiven Verbrechen nicht mehr unterdrückt werden.
Diese Sorge scheint das einzige Motiv dieses Antrages
zu sein. In Wirklichkeit versank nämlich in jedem Stadium der von außen als Stabilisierungsmissionen verkauften Interventionen das Land in einem blutigen Bürgerkrieg. Diese militärische Präsenz der UN und EU hat
zur Befriedung des Landes nicht beigetragen, sondern
seine Eskalation und Verlängerung durch die Unterstützung einer biegsamen Kriegspartei vorangetrieben. AufSevim Dağdelen
grund der völligen Verkennung Ihrer Mitverantwortung
für die gegenwärtige Lage und ein Festhalten an Maßnahmen, welche die Eskalation des Bürgerkrieges intensivieren, lehnt die Linksfraktion diesen Antrag ab. Die
Linke beteiligt sich nicht an der polizeilichen und militärischen Unterstützung von Despoten.
Vor der letzten Präsidentschaftswahl 2006 war ich in
der Demokratischen Republik Kongo. Ich habe auch den
Osten des Landes besucht und dort vor Ort viel über die
dramatisch schlechte Sicherheitssituation der Bevölkerung erfahren. Auf einem Berg in der Nähe der Stadt
Bukavu in Südkivu wies ein Entwicklungshelfer auf ein
offenes Gelände im weiten Urwald unter uns und erläuterte: Dort ist das Lager der FDLR-Hutu-Rebellen. Von
dort aus unternehmen diese die Überfälle auf Dörfer, töten die Männer, vergewaltigen und verschleppen Frauen
und Mädchen und halten sie im Wald in einer Art Sexsklaverei. Die UN-Truppe Monuc wisse das, gehe gegen
das Lager aber nicht vor, weil der UN-Kommandant der
Meinung sei, dies sei von ihrem UN-Auftrag nicht gedeckt.
Ich wollte das nicht glauben. Später wurde bestätigt,
Ja, es gebe Streit darüber, was das Mandat erlaube und
was nicht. Einige Kommandeure verweigerten mit dieser
Begründung den unangenehmen und gefährlichen Einsatz gegen die Hutu-Rebellen. Später bin ich mit einigen
betroffenen Frauen zusammen getroffen, die „ausgedient“ hatten oder entkommen waren. Sie erzählten ihre
grauenhaften Erlebnisse. Ich habe auch ein Hilfskrankenhaus für Frauen besucht.
Nach dieser Erfahrung hatte ich dem Einsatz deutscher Soldaten zur Sicherung der Wahlen damals nicht
zugestimmt, auch weil ihnen nicht erlaubt wurde, in solchen Notsituationen im Ostkongo zu helfen. Sie blieben
in der Nähe der Hauptstadt Kinshasa, weit weg vom
Ostkongo.
Deshalb habe ich mich immer wieder für eine Verstärkung der UN-Schutztruppe eingesetzt und für eine
Klarstellung in ihrem Mandat, welches Nothilfe gegen
die Rebellen leistet, um die Bevölkerung vor Massaker
und Vergewaltigung zu schützen. Später habe ich gehört,
dass ausreichende Klarheit des Mandats immer noch
nicht erreicht sei. Das heißt nicht, dass ich die Leistung
der UN-Schutztruppe insgesamt schlechtmache. Sie leisten viel für die Sicherheit. Sie haben erreicht, dass in
dem weitaus größten Teil des Landes der 30-jährige
Krieg beendet ist. Sie sorgen weitgehend sogar für eine
Verkehrsinfrastruktur und damit für ein wenig Handel
und Wandel in dem riesigen Land. Sie helfen häufig, die
Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Aber mit
Soldaten kann man ein Land wirtschaftlich nicht entwickeln, selbst wenn es so unendlich fruchtbar sowie reich
an Ressourcen und wertvollen Bodenschätzen ist wie
dieses Land am Kongo.
Und auch diese größte und teuerste Streitmacht der
UNO konnte nicht eine gute Regierungsführung im Staat
durchsetzen. Von demokratischen Verhältnissen, AchZu Protokoll gegebene Reden
tung der Menschenrechte und der Pressefreiheit ist das
Land weit entfernt. Kritische Journalisten und Menschenrechtsaktivisten werden verfolgt und ermordet.
Nach wie vor ist es nicht gelungen, alle Milizen zu entwaffnen und verlässliche Sicherheitskräfte zu schaffen,
denen die Bevölkerung vertrauen kann. Korruption
blüht überall, am meisten in der Staatsspitze. Der Präsident kann sich eine eigene bewaffnete Garde leisten.
Soldaten der offiziellen Armee werden nicht oder
schlecht bezahlt und plündern, um sich und ihre Familien durchzubringen. Sie beteiligten sich in der Vergangenheit auch an schwersten Verbrechen an der Bevölkerung und tun dies bis in die Gegenwart. Ausländische
Konzerne und Regierungen von Nachbarstaaten profitieren weit mehr von den Bodenschätzen des Landes als
die einheimische Bevölkerung, weil sie ihre Interessen
mittels Korruption und zuweilen auch mit militärischer
Intervention durchsetzen.
Wir in Europa haben Verantwortung für die Entwicklung des Landes, nicht nur weil Staaten Europas sich als
Kolonialmächte und später mittels skrupelloser Interessendurchsetzung mit allen Mitteln bereichert haben und
noch heute bereichern. Europa kann das ferne Land am
Kongo nicht sanieren. Aber deutsche und europäische
Politik kann Einfluss nehmen, um die Regierungsführung zu verbessern. Wir können wirklich freie und faire
Wahlen fordern, und zwar auf allen Ebenen für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ebenso wie für die
lange zugesagten Regionalwahlen. Wir können Zusammenarbeit und Hilfen von der Erfüllung dieser Forderungen und dem wirksamen Schutz von Bürgerechten
und unabhängiger Presse abhängig machen. Wir können
die Beziehungen zu bekannten korrupten Politikern einfrieren und abbrechen. Wir können Hilfen auf kontrollierte, direkte Bekämpfung der großen Armut konzentrieren. Und wir müssen auf unsere europäischen
Partner einwirken, nachkoloniale Interessen zurückzustellen und gemeinsam wirklich für die Interessen der
kongolesischen Bevölkerung zu wirken.
Im Sicherheitsbereich müssen wir für die Fortsetzung
der UN-Mission und für klare Mandate zum Schutz der
Bevölkerung sorgen. Wir können helfen, die Entwaffnung
der Milizen und Rebellentruppen und die Zivilisierung
der kongolesischen Armee voranzubringen. Wir müssen
dafür eintreten, dass die Verantwortlichen für Massaker,
Massenvergewaltigungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen bei den Rebellen und aus
der Regierungsarmee gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Der gegen den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Bemba angelaufene Prozess und das
Verfahren gegen den Milizenführer in der kongolesischen Armee Ntaganda beim Internationalen Gerichtshof sind ein hoffnungsvoller Anfang.
Seit ich erfahren hatte, dass die Anführer der FDLRHutu-Milizen Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni unbehelligt in Deutschland lebten, hier als politische Flüchtlinge anerkannt sind, aber immer wieder in
den Kongo flogen, um die Hutu-Milizen zu neuen Angriffen gegen die Bevölkerung anzutreiben und von hier aus
zu führen, habe ich mich dafür eingesetzt, dieses Treiben
zu beenden. Ich habe mich bemüht, die deutsche Staatsanwaltschaft zu interessieren und ihr Belastungsmaterial zuzuleiten. Die inzwischen erfolgte Verhaftung der
Beschuldigten und der Beginn des Prozesses sind ein
wichtiges Signal in das Land am Kongo, dass Verbrechen nicht folgenlos bleiben und die Beschuldigten sich
in fairen Prozessen auch in Europa verantworten müssen.
In der neuesten UN-Resolution zum Kongo wurde das
Mandat der UN-Mission MONUSCO um ein Jahr bis
Mitte 2012 verlängert, und gleichzeitig werden Warnungen über die Sicherheitslage und die Wahlvorbereitung
zum Ausdruck gebracht. Der UN-Sicherheitsrat äußert
sich in seiner Resolution 1991 vom 28. Juni, genau fünf
Monate vor dem Wahltermin, „sehr besorgt über die humanitäre Lage und das weiterhin große Ausmaß von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen gegenüber der
Zivilbevölkerung“. Gleichzeitig sei „in erster Linie die
Regierung der Demokratischen Republik Kongo für die
Sicherheit verantwortlich“, und die UNO „ermutigt“
die Regierung, sich der „Kohäsion der nationalen Armee“ zu widmen und sich professionelle und nachhaltige Sicherheitskräfte zu geben.
Die Entwicklung am Kongo ist derzeit kaum kalkulierbar und deshalb kann heute nicht beurteilt werden,
wie es nach den Wahlen im Dezember weitergeht. Richtig ist jetzt vor allem, den Dialogprozess - wie im Friedensprozess vereinbart - weiter voranzubringen. Das
heißt konkret, die Repräsentanten von Regierung, Opposition und aus der Zivilgesellschaft an einen Tisch zu bekommen, damit es faire und gleiche Wahlen geben kann.
Der von uns mitgetragene überfraktionelle Antrag
soll helfen, diese gemeinsam darin formulierten Ziele zu
erreichen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag auf Drucksache 17/6448 ist bei Gegenstimmen
der Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD
Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln aktiv unterstützen
- Drucksachen 17/6087, 17/6445 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Serkan Tören
Volker Beck ({1})
Anlass der heutigen Debatte ist die Vorlage von Leitlinien der Vereinten Nationen für menschenrechtlich
verantwortliches unternehmerisches Handeln als einen
„Global Compact“ durch den UN-Sonderbeauftragten
John Ruggie. In diesen Leitlinien, die Ruggie als Bestandsaufnahme des geltenden Völkerrechts verstanden
wissen will, werden zehn Gebote zu Menschenrechten,
Arbeit, Umwelt und Korruptionsbekämpfung festgeschrieben. Inzwischen verpflichten sich rund 5 300 Unternehmen aus 130 Ländern zur Umsetzung dieser Prinzipien und einer Fortschrittsberichterstattung.
Fast gleichzeitig wurden auch die OECD-Leitsätze
für multinationale Unternehmen überarbeitet und Ende
Mai dieses Jahres vorgestellt. Hier hat es deutliche Verbesserungen gegeben, weil jetzt der Finanzsektor eingeschlossen wurde und auch Geschäfts- und Lieferbeziehungen betrachtet werden.
Inhaltlich enthalten die OECD-Leitsätze ein generelles Prinzip der Sorgfaltspflicht. Außerdem ist der Aspekt
der Menschenrechte hier mit einem eigenen Artikel aufgewertet worden. Darin werden wichtige Kriterien genannt, mit denen Unternehmen ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nachkommen können.
Es bewegt sich also etwas auf der internationalen
Ebene im Bereich der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung. Das ist sehr erfreulich, denn wir
sind hier bei aller berechtigten Kritik auf einem richtigen und erfolgversprechenden Weg. Deshalb begrüßen
wir als CDU/CSU sowohl die UN-Leitlinien für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches
Handeln als auch die Fortentwicklung der OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen.
Insofern ist es grundsätzlich durchaus begrüßenswert, dass die SPD einen Antrag eingebracht hat, der
die UN-Leitlinien vor allem unterstützen möchte und der
schon aus diesem Grund auch aus meiner Sicht in die
richtige Richtung zielt. Bei näherer Betrachtung des Antrags kommen mir aber dann doch Zweifel, ob die Forderungen im Detail realistisch und zielführend sind:
Das gilt zum Beispiel für die geforderte Bindung der
Außenwirtschaftsförderung an die Verpflichtung des jeweiligen Unternehmens auf die Einhaltung der Menschenrechte in allen Tochter- und Subunternehmen sowie bei Zulieferern.
Diese Anforderung wird nicht nur durch die Unternehmen schwer zu leisten sein. Sie ist auch kaum rechtlich verbindlich international durchsetzbar. Noch
schwerer ist die Umsetzung, denn die Kontrolle müsste
als erstes ausschließlich seitens der Regierungen der
Entwicklungsländer erfolgen. Das ist in vielen Ländern
unrealistisch.
Eine direkte Haftung der Mutterunternehmen bei
Menschenrechtsverletzungen der Töchter, die im Antrag
der SPD ebenfalls enthalten ist, kann aus unserer Sicht
erst der zweite Schritt sein. Unser Primat liegt auf der
Schaffung von Bedingungen, die Menschenrechtsverstöße direkt vor Ort in den Entwicklungsländern bei den
Tochterunternehmen ahnden. Die geeignete Maßnahme
in den Industrieländern sehe ich eher im Verbraucherboykott.
Der geforderte verbesserte Rechtsschutz der Opfer
gerade bei Unternehmen mit Sitz in Deutschland widerspricht völkerrechtlichen Grundsätzen. Will die SPD die
Verfahren in Deutschland durchführen? Das wäre nicht
nur rechtlich problematisch, sondern auch logistisch
aufwändig und mit unkalkulierbaren Kosten verbunden.
Es zeugt auch von einer gewissen Arroganz gegenüber
den Entwicklungsländern, wenn wir deren Angelegenheiten hier in Deutschland behandeln wollen, anstatt die
Länder beim Aufbau eines funktionierenden Rechtssystems zu unterstützen.
Grundsätzlich geht es der SPD aus unserer Sicht zu
sehr darum, unrealistische globale Forderungen aufzustellen, die weder international durchsetzbar noch realistisch in absehbarer Zeit umzusetzen sind. Es fehlt der
Ansatz vor Ort in den Entwicklungsländern, und der interessante Ansatz von besseren Verbraucherinformationen wird auch nicht angesprochen.
Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, diesen Antrag der SPD abzulehnen, auch wenn wir die Erstellung
von UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln grundsätzlich begrüßen.
Tatsächlich zielt unsere Politik ja in die gleiche Richtung wie die Leitlinien, nämlich die Menschenrechte in
allen Bereichen weltweit zu stärken.
Wie sehr wir dies als ein Grundthema unserer Arbeit
sehen, kann man an der Entwicklung unserer Entwicklungspolitik festmachen, die sich ja mit dem Thema der
Menschenrechte in einer neuen Dimension befasst. Das
gerade verabschiedete Menschenrechtskonzept des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung stellt eine ganz neue Qualität für die
Menschenrechte in diesem Bereich dar, auch weil es für
alle Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring und
deren Evaluierung werden jetzt erstmals Menschenrechte einbezogen, Beschwerde- und Sanktionsmechanismen werden geschaffen.
Ich begrüße es ganz außerordentlich, dass die Menschenrechte jetzt auch in der Entwicklungszusammenarbeit kraftvoll verankert werden. Ich wundere mich nur
darüber, dass es in mehr als einem Jahrzehnt, in dem die
SPD das Entwicklungsressort innehatte, nicht gelungen
ist, die Menschenrechte in der Entwicklungspolitik zu institutionalisieren. Umso froher bin ich über die jetzige
Initiative, die die Entwicklungspolitiker der Union mit
Nachdruck unterstützen.
Um kurz bei der Entwicklungszusammenarbeit zu
bleiben: Auch hier gibt es große Herausforderungen, die
mit den Unternehmen zu tun haben, nämlich die Einbindung der Wirtschaft in die deutsche Entwicklungspolitik
zum gegenseitigen Nutzen. Dabei spielt der Aspekt der
Wahrnehmung von menschenrechtlicher Verantwortung
nicht die einzige, sehr wohl aber eine wichtige Rolle.
Zu Protokoll gegebene Reden
Einerseits kann die Wahrnehmung der menschenrechtlichen Verantwortung für Unternehmen einen
Mehrwert haben. Andererseits können Anstrengungen
der Unternehmen in diesem Bereich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtssituation in Entwicklungsländern beitragen. Allerdings sehe ich hier
auch noch erheblichen Nachholbedarf.
Deshalb sehe ich internationale Politik hier weiterhin
in der Rahmensetzung, aber auch als Impulsgeber sowie
als Multiplikator von Best-practice-Beispielen gefordert. Nachhaltige Fortschritte müssen jedoch auch
durch die Unternehmen und deren Organisationen erreicht werden. Hier sehe ich vor allem den Druck der
Verbraucher als ausschlaggebend an.
Denn gerade in diesem Bereich hat es ganz erhebliche Fortschritte bei der Sensibilisierung der Verbraucher für sozial und ökologisch nachhaltige Produktion
gegeben, die wiederum zu einer Rückkopplung bei den
Unternehmen geführt haben und sich zum Beispiel in einer Corporate-Responsibility-Strategie vieler Unternehmen äußern.
Entscheidend für das Funktionieren dieses Mechanismus ist, dass der Verbraucher über Missstände, aber
auch über besonders vorbildliche Unternehmen informiert wird. Hier kommt gerade den Medien eine wichtige Rolle zu, weil sie die Versprechen der Unternehmen
zunehmend vor Ort in den Produktionsländern abgleichen können. Dass solche Informationen Veränderungen
bewirken können, ist gerade nach einigen Berichten
über unzumutbare Arbeitsbedingungen in der Textilproduktion in Bangladesch augenfällig geworden.
Nachhaltige Veränderungen können jedoch meines
Erachtens nur erfolgen, wenn der Verbraucher dauerhaft informiert wird. Das kann zum Beispiel durch besondere Siegel geschehen, die die Einhaltung bestimmter Produktionsstandards garantieren und auf die sich
der Verbraucher verlassen kann. Beispiele dafür sind
das Biosiegel, das Fair-Trade-Zeichen oder auch MSC
als Ausweis für nachhaltige Fischerei. Leider hat sich
im Bereich der sozialen Mindeststandards der Produktion zum Beispiel im Bereich der Textilien noch kein solches Siegel etabliert. Deshalb setze ich mich gerade in
diesem problematischen Bereich für ein mindestens EUweites Siegel zum Beispiel mit dem Titel „Social made“
ein.
Für ein solches Siegel müssen Mindeststandards bei
Lohnniveau, Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllt
sein. Unternehmen, die in den Produktionsländern diese
höheren Standards erfüllen, können dann mit dem
„Social-made“-Siegel werben und den Verbraucher
informieren, dass er sozial verantwortungsvoll und ökologisch nachhaltig handelt. Umgekehrt werden Unternehmen, die das Siegel nicht besitzen, in Erklärungsnot
kommen, insbesondere wenn sie teure Markenkleidung
in Deutschland verkaufen, aber in Bangladesch oder anderswo nicht einmal Mindeststandards erfüllen.
Wir schließen damit also eine wichtige Lücke. Deshalb würde ich mich freuen, wenn möglichst viele Kolleginnen und Kollegen fraktionsübergreifend diese Idee
unterstützen würden. Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln
sind ein guter und wichtiger Ansatz, den wir in unsere
nationale Entwicklungszusammenarbeit integrieren
sollten und den wir auf internationaler Ebene - zum Beispiel in der Form eines Folgemandats - ausbauen sollten.
2011 stehen Menschenrechte und Unternehmensverantwortung im Zentrum der Aufmerksamkeit. 2011 können in entscheidender Weise die Weichen für die Stärkung der Menschenrechte und den Ausbau der
gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung gestellt
werden. Im Juni wurde die Revision der OECD-Leitsätze
abgeschlossen.
Zur selben Zeit stimmte auch der UN-Menschenrechtsrat über die sogenannten „Guiding Principles“
von John Ruggie, dem UN-Sonderberichterstatter für
Wirtschaft und Menschenrechte, ab. Daneben bestehen
bereits die Erklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik sowie der Global Compact
der Vereinten Nationen.
Während verbindliche Normen sich zumeist in gewerkschaftlich erstrittenen tariflichen Vereinbarungen
niederschlagen, umfasst der Begriff CSR - Corporate
Social Responsibility - freiwillige Initiativen der Wirtschaft zur Einhaltung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten, zur nachhaltigen Entwicklung und zur Beachtung von Umweltfaktoren.
Mit seinem Rahmenwerk „Guiding Principles“ will
Ruggie zwischen sämtlichen bestehenden teils freiwilligen, teils verbindlichen Normen vermitteln.
Sein Rahmenwerk beruht auf drei Säulen: erstens
protect, die staatliche Verpflichtung, die Menschenrechte gegenüber Verletzungen Dritter zu schützen,
zweitens respect, die Verantwortung von Unternehmen,
die Menschenrechte zu respektieren, drittens remedy,
Zugang der Opfer zu effektiven Beschwerde- und Abhilfemaßnahmen.
Damit definiert er neben menschenrechtlichen auch
soziale und ökologische Standards für global tätige Unternehmen. Denn ökologische und soziale Belange berühren die menschenrechtliche Dimension unternehmerischen Handelns häufig in erheblichem Umfang. Wenn
Ureinwohnern durch Landgrabbing beispielsweise ihre
Lebensgrundlage entzogen wird, verletzt dies Menschenrechte sogar in existenziellem Sinne.
Die Guiding Principles stellen dabei kein neues Regelwerk dar, sie bieten aber Orientierung in der Fülle
von rechtlichen Verpflichtungen, freiwilligen Initiativen
und unklaren Verantwortlichkeiten, und sie klären die
verschiedenen Handlungsebenen für die Staaten, die
Unternehmen und die Betroffenen. Sie enthalten politische, juristische und verfahrenstechnische Empfehlungen an Unternehmen, wie sie den Menschenrechtsschutz
intern in ihren Tochtergesellschaften und ihren Zulieferbetrieben verbessern und Menschenrechtsverletzungen
vermeiden können. Auch werden Unternehmen durch sie
Zu Protokoll gegebene Reden
aufgefordert, mögliche Menschenrechtsverletzungen zu
erkennen, zu beseitigen und bereits eingetretene Folgen
wiedergutzumachen und weiteren Verletzungen vorzubeugen.
Darüber hinaus enthalten die Leitlinien Anregungen
für einen effektiven Rechtsschutz für die möglichen Opfer von Menschenrechtsverletzungen und für nichtjuristische Maßnahmen im Sinne der Opfer. Um die Leitlinien mit der wünschenswerten Durchsetzungskraft und
Dynamik auszustatten, ist ein UN-Folgemandat für
Menschenrechte und Wirtschaft unerlässlich.
Hier fordern wir als SPD die Bundesregierung ausdrücklich auf, konstruktiv und nachdrücklich an der
weiteren Ausgestaltung des UN-Folgemandats mitzuwirken und dafür zu sorgen, dass dieses Folgemandat
angemessen ausgestattet bleibt, damit die Implementierung der Leitlinien überwacht und ihre Verbreitung und
Weiterentwicklung befördert wird. An dieser Stelle ist
die Zivilgesellschaft ausdrücklich einzubeziehen.
Des Weiteren soll sich die Bundesregierung auf EUEbene für eine Berichts- und Offenlegungspflicht für
Unternehmen engagieren, damit unternehmerisches
Handeln transparenter und der Umgang von Unternehmen mit menschenrechtlichen Risiken dokumentiert
wird.
Wir fordern die Bundesregierung weiter auf, dass
auch Freihandelsabkommen eine Menschenrechtsklausel enthalten und Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen Bestandteil dieser Abkommen werden. In diesem
Zusammenhang machen wir uns für eine menschenrechtliche Risikoanalyse für alle Bereiche der Außenwirtschaftsförderung stark: Unternehmen sollen sich für
die Einhaltung der Menschenrechte in allen Tochterund Subunternehmen sowie den Zulieferbetrieben einsetzen. Eine direkte Haftung von Mutterunternehmen für
alle schuldhaften Menschenrechtsverletzungen von
Tochterunternehmen gehört ebenfalls dazu. Diese Maßnahmen müssen insgesamt zu einem verbesserten
Rechtsschutz für die Opfer führen. In diesem Zusammenhang müssen auch die viel zu kurzen Verjährungsfristen
erneut auf den Prüfstand gebracht werden.
Wir als SPD fordern die Bundesregierung an dieser
Stelle nachdrücklich dazu auf, ihrer menschenrechtlichen Verantwortung gerecht zu werden und unsere
Forderungen eingehend zu prüfen. Der Einsatz für die
Menschenrechte weltweit muss erklärtes Ziel deutscher
Politik, auch der deutschen Außenwirtschaftspolitik
sein.
In der heutigen abschließenden Beratung der Beschlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten Antrag der SPD-Fraktion. Der Antrag wird von der FDPBundestagsfraktion abgelehnt.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sind die Forderungen des SPD-Antrags zu wenig differenziert. So
sollen Unternehmen nach Auffassung der SPD umfassenden Berichts- und Monitoringpflichten im Hinblick
auf ihre menschenrechtliche Verantwortung unterworfen
werden. Diese Pflichten sollen sich auch auf Tochter-,
Subunternehmen und Zuliefererbetriebe erstrecken. Zudem soll auf EU-Ebene auf verbindliche Berichts- und
Offenlegungspflichten gedrängt werden.
Die Einhaltung von Menschenrechts-, Sozial- und
Umweltstandards trägt zum guten Ruf des Unternehmens bei. Auch die deutsche Wirtschaft insgesamt profitiert von dem guten Ruf ihrer Unternehmen. Aus Sicht
der FDP sollte die menschenrechtliche Verantwortung
ein essenzielles Interesse jedes Unternehmens sein, insbesondere dann, wenn es international tätig ist.
Zum einen: Unternehmen möchten ungern mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht werden. Dies schon allein deshalb nicht, um Imageschäden
zu vermeiden. Zum anderen: Die Beachtung von Menschenrechten stellt im Rahmen der sozialen Unternehmensverantwortung einen unternehmerischen Vorteil
dar.
Zudem erhöht sich in einem Umfeld, in dem Menschenrechte beachtet werden, die Investitionssicherheit
für das Unternehmen. Umfassende Berichts- und Dokumentationspflichten stellen hingegen eine zusätzliche
bürokratische Belastung für Unternehmer dar. Dies gilt
auch für deren Tochter-, Subunternehmen und Zuliefererbetriebe. Diese Pflichten verursachen zusätzliche
Kosten. Deutschland hat sich verschiedenen Initiativen
internationaler Organisationen angeschlossen. Hintergrund ist, die Beachtung von Menschenrechten durch
Unternehmen zu verbessern. Zu nennen sind hier beispielsweise der Global Compact der Vereinten Nationen.
Diese Initiative ist im Jahr 2000 als Allianz zwischen
der UN und der Privatwirtschaft ins Leben gerufen worden. Heute ist sie die weltweit umfassendste freiwillige
Initiative zur Förderung unternehmerischer Verantwortung. Des Weiteren sind die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen zu erwähnen. Diese OECDLeitsätze wurden überarbeitet. Der Round Table, bei
dem diese diskutiert wurden, fand am 29. Juni 2011 in
Paris statt. Im Zuge der Erneuerung der Leitsätze wurde
ein eigenes Menschenrechtskapitel eingefügt. Auch die
Zuliefererbeziehungen sind hierbei thematisiert worden.
Zudem ist die Bundesregierung bestrebt, die OECDLeitsätze international zu verbreiten. Damit sollen weitere Staaten diese anerkennen.
Seit 2001 besteht ein „Runder Tisch Verhaltenskodizes“. Hier diskutieren Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, NRO und Bundesministerien
gemeinsam über Verhaltenskodizes und Sozialstandards.
Allein diese drei Beispiele zeigen: Deutschland ist bereits sehr aktiv im Hinblick auf die Förderung der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung.
Zu dem Forderungskatalog des SPD-Antrags ist folgendes festzustellen:
Zur Forderung 1 des Antrags ist zu erwähnen: Die
„Guiding Principles“ sind am 16. Juni 2011 vom Menschenrechtsrat in Genf im Konsens angenommen worden. Somit nur wenige Tage, nachdem die SPD ihren Antrag vorgelegt hat. Deutschland begrüßt die „Guiding
Principles“ und war Cosponsor der begleitenden ResoZu Protokoll gegebene Reden
lution. Wenngleich sich der praktische Nutzen dieser Resolution in Zukunft erst noch erweisen muss, ist die zentrale Forderung des Antrags damit hinfällig.
Zur Forderung 2 ist zu sagen: Der UN-Menschenrechtsrat hat am 16. Juni 2011 über ein Nachfolgemandat für den UN-Sonderbeauftragten John Ruggie entschieden. Dieser darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr
kandidieren. Eine Arbeitsgruppe aus fünf Experten wird
sich künftig dem Thema widmen. Die Experten werden
aber erst im Herbst 2011 benannt. Forderung 2 ist demnach obsolet.
Zur Forderung 4 ist zu konstatieren: Die Folgekosten
dieser Forderung sind nicht quantifizierbar. Daher kann
diese aufgrund ihrer Pauschalität nur abgelehnt werden.
Zu der Forderung 5 ist festzustellen: Seit den frühen
1990er-Jahren bezieht die Europäische Gemeinschaft in
alle Rahmenabkommen, die mit Drittstaaten geschlossen werden, eine sogenannte Menschenrechtsklausel
ein.
Dies gilt für Handels- und Kooperationsabkommen
oder Assoziationsabkommen wie die Europa-Abkommen
über die Mittelmeer-Abkommen bis hin zum Abkommen
von Cotonou.
Ausnahmen bilden Abkommen über Landwirtschaft,
Textilien und Fischerei. Über 50 solcher Abkommen sind
bereits unterzeichnet worden, und die Menschenrechtsklausel gilt derzeit für über 120 Länder. Die ohnehin bereits obligatorische Menschenrechtsklausel ist ein Weg,
wie Menschenrechtsprobleme im Verhältnis von EU und
Vertragsstaat adressiert werden können. Sie entbindet
die EU-Staaten nicht, darüber hinaus auch in den bilateralen Beziehungen jeweils Verbesserungen anzumahnen.
Die FDP vertritt die Auffassung: Handelsabkommen
sollten in erster Linie darauf abzielen, Wirtschaftsbeziehungen zu stärken und somit Armut zu bekämpfen. Das
entscheidende Stichwort ist hier „Wandel durch Handel“.
Eine „Überfrachtung“ von solchen Handelsabkommen mit einem Forderungskatalog, was die Menschenrechte betrifft, würde dem grundsätzlichen Charakter
solcher Abkommen zuwiderlaufen. Damit würde ein Zustandekommen unnötig erschwert. Die positiven Effekte
der Wirtschaft auf die Wohlfahrt in den Ländern und damit die Verbesserung der konkreten Lebenssituation vieler Menschen würde verhindert werden. Insbesondere
bei Ländern mit kritischer Menschenrechtslage ist die
Menschenrechtssituation in den Beziehungen zu thematisieren. Ein Freihandelsabkommen bietet einen weiteren Gesprächskanal, auf dem gegenüber Regierungen
auch Menschenrechtsanliegen kommuniziert werden
können.
Aufgrund des bereits erfolgenden Engagements
Deutschlands für die Beachtung von Menschenrechten
durch Unternehmen und die zum Teil hinfälligen, zum
Teil problematischen Forderungen im Antrag der SPD
kann dieser von der FDP-Bundestagsfraktion nur abgelehnt werden.
Die Außenhandels- und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik zeigt deutlich, dass unverantwortliches unternehmerisches Handeln durch staatliche Politik unterstützt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Hermesbürgschaft in Höhe von 1,3 Milliarden Euro für den
Atomreaktor Angra 3 in Brasilien. Es ist unverantwortlich, dass mit deutscher Hilfe ein fast 25 Jahre alter
Schrottreaktor in Brasilien fertiggebaut wird. Angra 3
ist vergleichbar mit dem Atomkraftwerk Grafenrheinfeld, das in Deutschland 2015 stillgelegt werden muss.
In Brasilien soll es jedoch mit staatlicher Unterstützung
der Bundesregierung noch Jahrzehnte betrieben werden.
Auch das zweite Großprojekt in Brasilien, der Bau
des Stahlwerks von ThyssenKrupp und dem Brasilianischen Konzern Vale in Sepetiba im Bundesstaat Rio de
Janeiro hat massiv die Menschenrechte verletzt. Über
8 000 Fischerfamilien mit mehr als 40 000 Betroffenen
müssen um ihre Existenz fürchten. Die Fangmengen der
Fischer sind durch den Bau des Stahlwerks um bis zu
80 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig werden die
wertvollen Mangrovenwälder nachhaltig geschädigt.
Um den Protest der Fischerinnen und Fischer zu verhindern, werden Kritikerinnen und Kritiker des Stahlwerkbaus von Milizen bedroht.
Die Bundesregierung hat den Bau des Stahlwerkes
als Entwicklungsperspektive bezeichnet. Dies ist zynisch. Alle Forderungen der Bundesregierung, die UNLeitlinien für menschenrechtlich verantwortliches Handeln zu unterstützen, sind unglaubwürdig, wenn sie aus
rein exportegoistischen Gründen eine unverantwortliche Politik unterstützt. Menschenrechtlich verantwortliches Handeln bedeutet, dass die Industriestaaten keine
Investitionen zulassen oder fördern dürfen, die das
Recht auf Arbeit und Nahrung von anderen Menschen
zerstört. Von den Unternehmensmanagern von ThyssenKrupp erwarten wir, dass sie an die Fischerfamilien Entschädigungen zahlen und das Stahlwerk so umbauen,
dass die Existenz der Fischer gesichert werden kann und
die Bucht von Sepetiba nicht mehr verschmutzt wird.
Auch in der neuen Rohstoffstrategie der Bundesregierung kommen Menschenrechte de facto nicht vor. Zwar
wird im Einleitungsteil darauf hingewiesen, dass die
Bundesregierung die „nachhaltige Rohstoffwirtschaft
unter Wahrung der Menschenrechte und Einhaltung international anerkannter sozialer und ökologischer Mindeststandards stärken“ will. Die Rohstoffstrategie ist jedoch einseitig auf „bilaterale Rohstoffpartnerschaften“,
„europäische Rohstoffpolitik“ und auf die „Bekämpfung
von Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen“ ausgerichtet. Damit will die Bundesregierung Länder in Afrika und Südamerika zwingen, ihre Exportsteuern auf unverarbeitete Rohstoffe massiv abzubauen oder
abzuschaffen. Sie verhindert damit bewusst die Entwicklung von Wertschöpfungsketten in diesen Ländern. Auch
Zu Protokoll gegebene Reden
die Staatshaushalte vieler rohstoffexportierender Länder werden dadurch massiv gefährdet.
Die gesamte Rohstoffstrategie ist einseitig von den
Interessen der deutschen Industrie bestimmt. Viele Forderungen wurden im Vorfeld der Erarbeitung der Strategie vom BDI erhoben und finden sich fast wortgleich in
der Rohstoffstrategie der Bundesregierung wieder.
Durch diese Ausrichtung der Rohstoffpolitik Deutschlands auf die Liberalisierung von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen werden die Menschenrechte in vielen Regionen der Welt den ökonomischen Forderungen
der Industriestaaten untergeordnet.
Ein typisches Beispiel für die bewusste Ausblendung
der Folgen deutscher Rohstoffpolitik ist der Abbau von
Uran in Niger. Wenn die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen zur Herkunft des in deutschen Atomkraftwerken eingesetzten Urans mitteilt, dass „unter ‚Herkunft‘ des
Materials das Land verstanden wird, in welchem der
letzte Konversionsschritt bei der Verarbeitung zum Beispiel des Urans durchgeführt worden war“, zeugt das
von einer bewussten Ignoranz der Bundesregierung. Allgemein bekannt ist, dass Frankreich mehr als 40 Prozent
seiner Uranimporte aus Niger bezieht. Wenn die Bundesregierung aber mitteilt, Deutschland beziehe sein
Uran zu großen Teilen aus europäischen Ländern, ist
das die bewusste Unwahrheit, um von den katastrophalen Abbaubedingungen in den Uranminen Nigers abzulenken. Der französische Konzern Areva betreibt Uranminen in Niger. Seit 1968 haben sie mehr als 100 000
Tonnen des Atombrennstoffs in den Minen gefördert. Die
Folgen des Uranabbaus in Niger sind Millionen Tonnen
radioaktiver Abfälle, schwere Krankheiten, verstrahltes
Wasser und ganze Regionen, die radioaktiv verstrahlt
sind.
Der Abbau von metallischen und nichtmetallischen
Rohstoffen sowie die Förderung von Erdöl und Erdgas
sind in vielen Entwicklungsländern einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Häufig führt dieser Rohstoffreichtum dazu, dass für die Interessen der Rohstoffkonzerne die Armutsbekämpfung auf der Strecke bleibt, das
Recht auf Nahrung, Gesundheit und menschenwürdiges
Wohnen mit Füßen getreten wird. In den Förderländern
leben mehr als die Hälfte der Menschen in äußerster Armut. Gerade in Ländern mit hohem Rohstoffreichtum
nehmen Armut, Staatszerfall, Gewalt und Korruption
durch die einseitige Umsetzung der Interessen der Rohstoffkonzerne massiv zu. Die Landrechte indigener Völker und lokaler Gemeinschaften werden häufig verletzt.
Umweltzerstörungen führen zu einer Verletzung des
Rechts auf Gesundheit.
Eine Studie des „Open Society Institute of Southern
Africa“ kommt zu dem Ergebnis, dass die Abbauländer
kaum von dem Preisboom der Rohstoffe zwischen 2003
und 2008 profitiert haben, „weil den Bergbauunternehmen zu viele Steuererleichterungen gewährt werden und
viele Unternehmen die Zahlung von Steuern durch geheime Verträge und konzerninterne Gewinnverlagerung
umgehen.“ Hierbei nennt die Studie Beispiele aus
Ghana, Tansania, Sierra Leone, Sambia, Malawi, Republik Südafrika und Demokratische Republik Kongo.
Deshalb weist das Global Policy Forum völlig zu
Recht darauf hin, dass nur „eine faire und ökologisch
tragfähige Rohstoffstrategie die Senkung des Ressourcenverbrauchs, Achtung und Schutz der Menschenrechte, die Einhaltung der internationalen Umwelt- und
Sozialstandards, die zivile Konfliktprävention sowie die
Eindämmung der Rohstoffspekulation“ Entwicklung in
den rohstoffreichen Ländern ermöglichen und Menschenrechtsverletzungen durch die Unternehmen eindämmen kann.
Der bisherige Entwurf der OECD-Leitlinien bezieht
an keiner Stelle die Verantwortung von Geschäftsführern, weder im Völkerrecht noch im nationalen Recht
und weder unter straf- noch unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten, ein. Das „European Center for Constitutional and Human Rights“, ECCHR, kritisiert, dass mit
der Ausrichtung des Entwurfs der weiteren Untätigkeit
der Staaten des globalen Nordens Vorschub geleistet
wird.
Dies will die Fraktion Die Linke verändern, damit
transnationale Unternehmen und deren Verantwortliche
in Zukunft für ihr Handeln direkt zur Rechenschaft gezogen werden können.
Der Antrag der SPD geht bei einigen Forderungen in
die richtige Richtung und fordert teilweise verbindlichere UN-Leitlinien ein. Dennoch fehlen in dem Antrag weiter gehende Forderungen wie die nach einem
verpflichtenden Zugang der Opfer zu Beschwerde- und
Klagemöglichkeiten und die Möglichkeiten der Betroffenen, Schadenersatzzahlungen von den transnationalen
Unternehmen zu erhalten. Aus diesem Grund wird sich
die Fraktion Die Linke bei diesem Antrag enthalten.
Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen
stellen das internationale Menschenrechtssystem vor
enorme Herausforderungen. Weder die klassischen,
staatszentrierten Menschenrechtskonzeptionen noch die
aktuelle Rechtslage auf internationaler und nationaler
Ebene werden den menschenrechtlichen Gefahren, die
von Unternehmen ausgehen, gerecht. Professor John
Ruggie, der bis Ende Juni 2011 UN-Sonderbeauftragter
zur menschenrechtlichen Verantwortung internationaler
Konzerne war, hat die Debatte über Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in den letzten sechs Jahren beharrlich vorangebracht und bestehende Regelungslücken aufgezeigt. Dafür gebührt ihm Respekt.
Ruggie hat UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln erarbeitet,
die am 16. Juni 2011 vom UN-Menschenrechtsrat beschlossen wurden. Sie fassen bestehende Rechtspflichten
von Staaten und Verantwortlichkeiten von Unternehmen
zusammen und geben Empfehlungen ab. Im Dschungel
rechtlicher Verpflichtungen, freiwilliger Initiativen und
unklarer Verantwortlichkeiten bieten sie Orientierung
für Staaten, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen, die sich für einen besseren MenschenrechtsZu Protokoll gegebene Reden
schutz engagieren. Eine konsequente Umsetzung des geforderten Prinzips der menschenrechtlichen Sorgfaltsplicht, Due Diligence, würde einen großen Schritt nach
vorn bedeuten. Demnach müssen Unternehmen Vorkehrungen treffen, um nachteilige Auswirkungen auf Menschenrechte zu vermeiden oder, sollten bereits Schäden
entstanden sein, zu entschädigen. Dabei beziehen sich
die Maßnahmen auch auf die Zulieferer und andere
staatliche und nicht staatliche Geschäftspartner.
Die Leitlinien sind ein Schritt in die richtige Richtung. Er reicht aber nicht aus. So weisen die Leitlinien
eine Reihe von Schwächen auf, die Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights
Watch und FIAN zu Recht kritisieren:
Erstens. Die Leitlinien beruhen auf dem Prinzip der
Freiwilligkeit und sind rechtlich nicht verbindlich. Die
Deutungshoheit über das, was ein angemessenes soziales Verhalten ist, wird also den Unternehmen überlassen.
Zweitens. Den Leitlinien mangelt es an Verzahnung
der drei Säulen der Menschenrechtsumsetzung Protect
({0}), Respect ({1}) und Remedy ({2}). Noch werden also staatliche Schutzpflichten
nicht ausreichend mit unternehmerischen Sorgfaltspflichten verknüpft. Eine Pflicht von Staaten, Verletzungen der Sorgfaltspflicht durch Unternehmen konsequent
zu ahnden, ist nicht vorgesehen.
Drittens. Die Leitlinien greifen extraterritoriale Staatenpflichten kaum auf. Das wird den ökonomischen und
politischen Realitäten in Zeiten der Globalisierung und
der massiven staatlichen Außenwirtschaftsförderung
nicht gerecht. Hier sind Menschenrechte noch nicht ausreichend verankert. Eine menschenrechtliche Risikoanalyse fehlt ganz.
Um die Arbeit von John Ruggie weiterzuführen, sollte
ein wirksames Verfahren ({3}) im UN-
Menschenrechtsrat beschlossen werden, wie es ver-
schiedene Nichtregierungsorganisationen fordern. Ein
solches Verfahren sollte vor allem vier Aufgaben erfül-
len:
Erstens. Die bestehenden Rechtsschutzlücken analy-
sieren und international verbindliche Regelungsinstru-
mente entwickeln.
Zweitens. Die Umsetzung des „Protect, Respect and
Remedy“-Ansatzes durch Staaten und Unternehmen im
Hinblick auf die UN-Leitlinien und die entsprechenden
internationalen Menschenrechtspflichten beobachten,
zum Beispiel durch Länderbesuche, das Sammeln von
„Best Practices“ und durch Empfehlungen an Staaten
und Unternehmen.
Drittens. Regierungen, die Zivilgesellschaft und Op-
fer von durch Unternehmen verursachte Menschen-
rechtsverletzungen in Zusammenarbeit mit dem UN-
Hochkomissariat für Menschenrechte unterstützen.
Eine Studie der George-Washington-Universität
schätzt, dass nur 400 von den circa 80 000 multinationa-
len Unternehmen weltweit Menschenrechtsprinzipien in-
tegriert haben. Noch weniger prüfen Auswirkungen ih-
res Unternehmertums auf Menschenrechte. Wir müssen
beharrlich daran arbeiten, dass die Leitlinien für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmeri-
sches Handeln Eingang in rechtliche Vorgaben finden.
Nur so können Menschen vor Verletzungen ihrer Rechte
durch Unternehmen geschützt werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6445, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6087
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen und
Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie und zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes
- Drucksachen 17/6055, 17/6209 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 17/6508 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Angelika Brunkhorst
Dorothea Steiner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unsere Meere brauchen Schutz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen
- Drucksachen 17/1960, 17/1763, 17/4566 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sabine Stüber
Die Meere sind kostbar. Ihr Schutz ist uns ein wichtiges Anliegen. Meeresschutz stellt einen Eigenwert an
sich dar. Der effektive Schutz der Ozeane und Meere ist
aber auch wichtig für uns und unser tägliches Leben.
Der immense Einfluss, den menschliche Aktivitäten auf
die Meere ausüben, steht diesem Schutzanliegen oftmals
entgegen. Um die Potenziale der Meere - wie Fischerei,
Energiegewinnung, marine Wirkstoffe - weiter nutzen zu
können, müssen wir die Meere auch in unserem eigenen
Interesse noch besser schützen.
Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass das
Thema auf den verschiedenen politischen Ebenen zunehmend mehr Aufmerksamkeit erfährt und dass bereits viel
Gutes erreicht wurde. Beispielsweise ist Deutschland im
Bereich der Meeresschutzgebiete Vorreiter. Im Jahr
2010 erfüllt die Ostseeregion als erste Meeresregion
weltweit die Zielvorgabe der UN-Konvention zur biologischen Vielfalt. Sie ist weltweit die erste Meeresregion,
die es geschafft hat, mindestens 10 Prozent der Meeresfläche als Meeresschutzgebiete vorweisen zu können. Innerhalb des deutschen Ostseegebietes sind sogar mehr
als 35 Prozent als Meeresschutzgebiete ausgewiesen.
Mit Blick auf die beiden Anträge der Opposition meine
ich deshalb: Wir sollten es vermeiden, den Eindruck zu
erwecken, dass alles schlecht sei und bislang nichts substanziell Gutes erreicht worden sei. Ich warne davor, ein
falsches Bild zu zeichnen. Von deutscher Passivität beim
Meeresschutz kann jedenfalls keine Rede sein.
Richtig ist jedoch: Wir geben uns mit dem bisher Erzielten nicht zufrieden. Noch lange nicht sind alle Probleme zufriedenstellend gelöst. Gerade weil immer noch
Handlungsbedarf besteht, ist die Vorlage des Gesetzes
zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtline,
MSRL, von besonderer Bedeutung. Dies zeigt, dass die
christlich-liberale Bundesregierung dem Thema Meeresumweltschutz einen hohen Stellenwert beimisst und gemeinsam mit den Bundesländern intensiv an der Reduzierung der Belastung der Meere arbeitet.
Die MSRL wurde am 17. Juni 2008 auf EU-Ebene
verabschiedet. Der integrative Politikansatz, der der
Richtlinie zugrunde liegt, dient dem Schutz des marinen
Ökosystems als Ganzes. Dies schließt die biologische
Vielfalt und die Meeresschutzgebiete als Unterpunkte
ein. Das konkrete Ziel der Richtlinie besteht darin, bis
2020 einen guten Umweltzustand der europäischen
Meere zu erreichen.
Zur Erreichung dieses Ziels wurde erstmals ein einheitlicher Rechtsrahmen geschaffen, innerhalb dessen
die EU-Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen. Erstmals
gibt es verbindliche Ziele. Erstmals wird die Durchführung systematischer und aufeinander aufbauender Verfahrensschritte zum Schutz der Meere gesetzlich normiert. Hieraus folgen erhöhte Anforderungen an die
Überwachung der Meere und die Koordinierung entsprechender Maßnahmen, auch in Abstimmung mit den
Anrainerstaaten.
Wie sieht der Weg zur Erreichung des guten Umweltzustands genau aus? Das wesentliche Instrument auf
dem Weg ist die Erstellung von Meeresstrategien, die jeder EU-Mitgliedstaat entwickeln muss. Die sechs
Schritte zur Entwicklung der Meeresstrategie bestehen
in der Anfangsbewertung zur Erfassung des aktuellen
Umweltzustands, der Beschreibung eines guten Umweltzustands, der Festlegung von Umweltzielen und dazugehörigen Indikatoren, der Erstellung und Durchführung
eines Überwachungsprogramms für die laufende Bewertung, der Erstellung eines Maßnahmenprogramms zur
Erreichung des guten Umweltzustands und der praktischen Umsetzung des Maßnahmenprogramms.
Bei der Ausführung dieser Schritte stehen Bund und
Bundesländer gemeinsam in der Verantwortung. Nur in
Zusammenarbeit können die oben genannten Ziele erreicht werden. Aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten - der Bund für die AWZ und die Bundesländer
für die Küstengewässer - gibt es beim Meeresschutz einen regelrechten Zwang zur Kooperation. Der Schutz
der Meere ist nicht teilbar. Weil das so ist, hat sich die
Umsetzung der europäischen Richtlinie in deutsches
Recht verzögert. Ein Beispiel für die zunehmende
Schwerfälligkeit unseres föderalistischen Systems. Den
Änderungswünschen des Bundesrates hat die Bundesregierung jedoch weitgehend zugestimmt. Wir haben dies
in unseren Änderungsanträgen der Koalition aufgenommen.
Wenn wir heute den Gesetzentwurf mit einem Jahr
Verzögerung gegenüber den Fristsetzungen der EURichtlinie beschließen, so heißt das nicht, dass wir auch
in der konkreten Arbeit, zum Beispiel der Anfangsbewertung, im Verzug sind. Es ist gut, dass daran bereits gearbeitet wird. Ich gehe davon aus und erwarte auch, dass
für alle weiteren Verfahrensschritte zur Umsetzung der
EU-MSRL die darin vorgegebenen Fristen eingehalten
werden.
Die Meere und ihre Bewohner verzeihen uns keine
Verzögerungen! Es ist gut, dass das Gesetz heute beschlossen wird. Jetzt können wir beim Meeresschutz weiter voranschreiten. Die MSRL und ihre nationale Umsetzung sind ein Meilenstein für den Meeresschutz. Wir
müssen das uns Mögliche tun, um marine Lebensräume
zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Aus diesem Grund
bitte ich um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
Die Lage der Meere ist dramatisch. Überfischung,
Klimawandel, Vermüllung, Verschmutzungen durch die
Ölförderung. Das sind nur ein paar Bespiele der Bedrohungen, denen unsere Meere ausgesetzt sind. Forscher
warnen in einem neuen Bericht sogar vor einem Massensterben in den Ozeanen - so schlimm, wie es sich zuletzt vor rund 55 Millionen Jahren ereignete, als ein bedeutender Teil der im Meer lebenden Arten verschwand.
Wissenschaftler warnen auch vor kumulativen Effekten
der schädlichen Einflüsse. Ein schädlicher Einfluss ist
Zu Protokoll gegebene Reden
zum Beispiel die Versauerung der Ozeane. Durch
menschlichen Einfluss erwärmen sich die Ozeane - und
sie versauern, weil sie Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen. Als Folge schwindet jetzt der Sauerstoffgehalt
in manchen Meeresregionen. Die Pufferkapazität des
Meeres sinkt. Das führt dazu, dass die Ozeane noch
schneller versauern und dass sie weniger CO2 aus der
Atmosphäre aufnehmen können, was wiederum den Klimawandel beschleunigt. Eine andere schädliche Veränderung sind das Verschwinden von Fischarten und das
Auftreten gefährlicher Algenblüten. Die Bestände einiger kommerziell wichtiger Fischarten sind um mehr als
90 Prozent reduziert worden. Der kumulative Effekt der
schädlichen Einflüsse sei - so eine Gruppe von Wissenschaftlern in einem Bericht über einen Kongress in der
Universität von Oxford im April - größer als bisher angenommen - und größer als die Summe der einzelnen
Effekte. So würden etwa gleichzeitige Überfischung,
Überdüngung, klimatische Veränderung und das Einführen nicht heimischer Arten dazu führen, dass sich diese
fremden Arten ausbreiten, was sich etwa durch Algenblüten bemerkbar mache. Steigende Temperaturen und
Versauerung zerstören gemeinsam tropische Korallenriffe.
Der Meeresschutz muss ganz oben auf der politischen
Agenda stehen. Die Meeresstrategierahmenrichtlinie ist
dabei ein wichtiger Schritt hin zu einem besseren Schutz
der Meere. Diese Richtlinie der EU wurde 2008 verabschiedet und sollte eigentlich seit letztem Jahr in deutsches Recht umgesetzt werden. Mit fast einem Jahr Verspätung liegt der Gesetzentwurf nun dem Deutschen
Bundestag vor. Deutschland hat es versäumt, rechtzeitig
die Meeresschutzrahmenrichtlinie umzusetzen. Dafür
wurde Deutschland im Juni von der EU-Kommission in
einer Stellungnahme gerügt. Die Umsetzungsfrist für
beide Rechtsakte ist bereits im Juli 2010 abgelaufen.
Aber wenigstens ist die jetzige Fassung des Gesetzes
deutlich besser als die Version, die die Bundesregierung
letztes Jahr vorgelegt hat. Der Entwurf vom letzten Jahr
wäre der Richtlinie nicht gerecht geworden. Die aktuelle
Fassung vom 15. April 2011 wird den Vorgaben der
Meeresstrategierahmenrichtlinie in weiten Teilen gerecht. Doch noch immer finden sich einige gravierende
Schwachstellen, die unserer Meinung nach dringend
verbessert und angepasst werden müssen:
Die Meeresstrategierahmenrichtlinie schafft einen
Ordnungsrahmen für Maßnahmen der Europäischen
Gemeinschaft zum Schutz der Meeresumwelt. Als Umweltsäule der europäischen Meerespolitik hat sie das
Ziel, die europäischen Meere bis zum Jahr 2020 in einen
guten Umweltzustand zu versetzen bzw. diesen zu erhalten. Dabei will diese Richtlinie zur Kohärenz der verschiedenen politischen Maßnahmen beitragen, die sich
auf die Meeresumwelt auswirken. Damit die Ziele der
Meeresstrategie erreicht werden können, ist ein transparenter und einheitlicher Rechtsrahmen erforderlich. Die
Richtlinie schreibt einen „guten Umweltzustand“ für die
europäischen Meere ab 2020 vor. Die Richtlinie schreibt
den EU-Mitgliedstaaten vor, bis 2020 Maßnahmen umzusetzen, die geeignet sind, diesen guten Umweltzustand
zu erreichen. Die Richtlinie enthält dazu elf sogenannte
Deskriptoren des guten Umweltzustands, unter anderem
die biologische Vielfaltssicherung oder die Verringerung von Schadstoffeinträgen in die Meere. Diese Diskriptoren sind in die nationale Gesetzgebung überzuführen.
Trotz verschiedener inhaltlicher Schwächen und
Schlupflöcher im Gesetzestext kann die Meeresstrategierahmenrichtlinie bei ambitionierter nationaler Anwendung ein wertvolles Werkzeug für den europäischen
Meeresnaturschutz darstellen. Der erste wichtige Schritt
besteht dabei in der Umsetzung in nationales Recht. Zur
Umsetzung der Meeresstrategie sind Änderungen des
Wasserhaushaltsgesetzes und wenige Folgeänderungen
des Bundesnaturschutzgesetzes und des Gesetzes über
die Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich. Im Änderungsantrag der Koalition ist auch eine Änderung des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes vorgesehen.
Enthalten sind auch Folgeänderungen des Bundeswasserstraßengesetzes. Denn die in dem Wasserhaushaltsgesetz neu übertragenen Aufgaben an die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes, WSV, verlangen eine
verfahrensrechtliche Festschreibung im Bundeswasserstraßengesetz. Insbesondere werden dazu neue Vorschriften zu Zubehör, Unterhaltung und Aus- und Neubau von Bundeswasserstraßen angepasst.
Zwar ist der jetzige Gesetzentwurf besser als der
erste Entwurf. Zu kritisieren ist aber, dass wichtige
Punkte nicht aufgegriffen wurden. So ist zum Beispiel
der Schutz der biologischen Vielfalt nur unzureichend
als eines der Teilziele definiert. In der Begründung wird
dieses Ziel zwar aufgeführt, es sollte jedoch innerhalb
der Problemstellung und Zielsetzung genannt werden,
um die Kohärenz mit dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt zu unterstreichen. Der wichtigen Bedeutung der Meeresschutzgebiete wird der Gesetzentwurf nicht gerecht. In der Begründung zur Struktur des
Gesetzentwurfs fehlt die Nennung der Meeresschutzgebiete. Ebenso fehlt auch an dieser Stelle die Hervorhebung des Schutzes der biologischen Vielfalt und des
Ökosystemansatzes. In § 45 a wird von Bewirtschaftungszielen als Hauptaufhänger der Meeresstrategierahmenrichtlinie gesprochen. Ziel sollte jedoch der allgemeine Meeresschutz mitsamt dem Schutz der Biodiversität sein. Dies sollte an verschiedenen Stellen des
Gesetzes stärker zum Ausdruck kommen. Auch der Änderungsantrag der Koalition ist kritisch zu bewerten. Er
greift Zuständigkeits- und Kompetenzfragen zwischen
Bund und Ländern auf, ändert das Gesetz jedoch auch
inhaltlich. Der Änderungsantrag orientiert sich an der
Stellungnahme des Bundesrates. Der Antrag möchte,
dass die Länder ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, wenn der Bund nicht tätig wird. Er
greift die Zuständigkeit der Länder nach dem Bundesnaturschutzgesetz auf und unterstützt die Forderung der
Länder, dass die Zuständigkeit der Bundeswasserstraßenverwaltung nicht erweitert wird. Der Antrag greift
auch den Vorschlag des Bundesrates auf, eine Änderung
des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes vorzunehmen. Der Verweis auf das Düngegesetz in der Ermächtigungsgrundlage des Kreislaufwirtschafts- und AbfallgeZu Protokoll gegebene Reden
setzes vollzieht in der Verweisung die Ablösung des
Düngemittelgesetzes durch das Düngegesetz nach.
Abzulehnen ist jedoch die inhaltliche Änderung in
§ 45 Abs. 2 des Wasserhaushaltsgesetzes. Das ist eine
Änderung der Zielsetzung des Gesetzes. Nun sollen vom
Menschen in die Meere eingetragene Stoffe nicht mehr
mit dem Ziel vermindert werden, dass nachteilige Auswirkungen auf die Meeresökosysteme auszuschließen
sind. Es soll nur noch das Ziel gelten, dass diese Schadstoffeinträge so weit gemindert werden, dass keine signifikanten nachteiligen Auswirkungen bestehen. Das ist
eine Verschlechterung des Umweltschutzes im Vergleich
zum vorliegenden Entwurf des Gesetzes. Zwar steht in
der Richtlinie, dass es zu „keinen signifikanten Auswirkungen auf die Artenvielfalt des Meeres“ kommen soll.
Im Sinne eines ambitionierten Schutzes des Meeres ist
das jedoch kein Argument, warum wir in Deutschland
eine Umsetzung der Richtlinie wählen sollen, die weniger Meeresschutz zulässt. Ziel muss ein hoher Schutzstandard für unsere Meere sein. Deswegen sollten wir
die Richtlinie zugunsten des Meeresschutzes auslegen.
Wir lehnen den Änderungsantrag der Koalition somit
ab. Zum Gesetzentwurf werden wir uns enthalten, da der
Entwurf neben brauchbaren Elementen auch Punkte
enthält, denen wir nicht zustimmen können.
Die heutige Verabschiedung des Gesetzes ist jedoch
nur der erste Schritt. Jetzt müssen die zuständigen Behörden die Meeresgewässer bewerten und beschreiben,
wie ein guter Zustand dieser Gewässer aussehen kann.
Daraufhin müssen Maßnahmen erarbeitet werden, mit
denen wir bis zum Jahr 2020 einen guten Zustand der
Meere erreichen können, eine anspruchsvolle Aufgabe,
aber angesichts der Bedrohungen der Meere eine Aufgabe, die wir dringend anpacken müssen, sei es beim Artenschutz, bei der Fischerei oder dem Klimaschutz. Ziel
muss sein, die Nutzung und Bewahrung der Meere wieder miteinander zu verbinden. Wir müssen den Schutz
der Meere vermehrt auf die politische Agenda setzen
und hartnäckig und mit langem Atem für Verbesserungen kämpfen. Als Politiker müssen wir hierfür den Dialog suchen und dafür eintreten, dass kurzfristiges Profitdenken durch langfristige Verantwortung abgelöst wird.
Unsere Erde ist zu mehr als 70 Prozent mit Wasser
bedeckt. Die Meeresflora erzeugt täglich einen Großteil
des weltweiten Sauerstoffs und ist somit Quell unseres
Lebens. Viele Lebewesen, die sich unter Wasser in Riffen, Gebirgen, Gräben und Rinnen tummeln, sind noch
völlig unbekannt. Ihre Lebensräume werden jedoch zunehmend durch Müll und Verschmutzung bedroht. Im
Namen der Fraktion der FDP begrüße ich deshalb die
Verabschiedung des Gesetzes zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinien.
Nach einem zweiten Anlauf haben wir jetzt eine sehr
gute Lösung gefunden. Unser Ziel und unsere Verpflichtung ist es, eine gute Balance zwischen dem Schutz und
der nachhaltigen Nutzung der Meere zu schaffen. Die
Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie ist
hierfür der Grundstein. Alle europäischen Meeresanrainerstaaten sind im Moment mit der Erarbeitung von nationalen Strategien zur Umsetzung befasst. Europaweit
wird so ein Fundament für eine intakte Meeresumwelt
geschaffen. Dies wird den vielen im Meer lebenden Arten nutzen. Ihre Lebensräume wollen wir in Zukunft besser schützen. Deshalb ist vor allem der Biodiversitätsansatz in der Richtlinie von großer Bedeutung. Unser
erklärter Wunsch ist es, den Rückgang der maritim-biologischen Vielfalt konsequent zu stoppen. Wir wollen
produktive und dynamische Meeressysteme schaffen.
Der Artenschutz ist dafür die Basis, er soll ein großes
Augenmerk bekommen. Hier gilt es in erster Linie der
Überfischung und Vermüllung der Ozeane entgegenzutreten. Nur nachhaltig genutzte Meere versorgen uns
auch morgen noch mit Ihren Gütern.
Die Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie ist ambitioniert. In wenigen Jahren wollen wir eine
deutliche Verbesserung der europäischen Meere erreichen. In einem ersten Schritt werden wir den Zustand
unserer Meere umfangreich dokumentieren. Dann gilt es
den gewünschten Umweltzustand festzulegen und peu à
peu Ist- und Soll-Zustand anzugleichen. Hierzu zählt
auch die Entwicklung eines maritimen Schutzgebietsnetzwerkes. Ebenso wie die Entwicklung und Durchführung von Monitoring-Programmen. Ab 2016 wollen wir
mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog für eine
bessere Meeresumwelt sorgen. 2020 soll der tatsächliche Zustand unseres Meeres dem Soll-Zustand entsprechen. Wir haben uns hohe Ziele gesteckt und müssen nun
die Ärmel hochkrempeln.
Europa kann international zum Vorbild werden. Weltweit gibt es nur wenige Meeresschutzgebiete. Nach den
ambitionierten Zielen der 10. Vertragsstaatenkonferenz
der CBD in Nagoya sollen endlich neue Schutzzonen folgen. Der Ausbau eines globalen Netzes von Meeresschutzgebieten soll fortgeführt und erweitert werden.
Einmalige Unterwasserwelten müssen bewahrt und Rückzugsgebiete für bedrohte und seltene Arten gesichert
werden.
Die Meere bergen noch viele Geheimnisse. Rund
30 Prozent der Ozeane sind zwischen 4 000 und 5 000
Meter tief, und etliche Regionen sind noch gänzlich unbekannt. Vieles gibt es noch zu erforschen und die Bedeutung der Meere als Nahrungs- und Rohstoffquelle
wird in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen.
Eines dürfen wir jedoch nicht vergessen: Das Meer ist
ein sensibles Ökosystem, das als Kohlenstoffspeicher
unser Klima sichert. Wir müssen sorgsam mit den Ozeanen und ihren Bewohnern umgehen. Ein Leben auf der
Erde ist nur im Einklang mit intakten Meeren möglich.
In dieser Position stimmen wir mit der SPD und den
Grünen bei den Zielen überein. Die rot-grünen Lösungswege in den jeweiligen Anträgen können wir jedoch
nicht mittragen.
Der Antrag „Schutz der Meere vor Vermüllung und
anderen Verschmutzungen“ von Bündnis 90/Die Grünen
verfolgt gute Absichten. Er will die Verschmutzungen
der Meeresumwelt aus land- und meeresgestützten Quellen verhindern oder wenigstens reduzieren. Auch soll die
Vielfalt der Meere anhand von Schutzgebieten gesichert
Zu Protokoll gegebene Reden
werden. Der einführende Text beschreibt den Sachstand
weitestgehend zutreffend. Der Antrag entpuppt sich jedoch im weiteren Verlauf als ein ungeordnetes Sammelsurium aktuell diskutierter Themen des Meeresschutzes.
Er ist in keiner Weise fokussiert, mit Forderungen und
Maßnahmen, die längst in Kraft sind. Dazu zählen unter
anderem das Verbot von Bunker-C-Öl oder die Seekartierung von Munitionsfunden. Der Antrag hinkt den aktuellen Gegebenheiten hinterher. Ein grünes Potpourri
an Verboten, weder ausgegoren noch tragfähig. Deshalb
werden Sie von der FDP auch keine Unterstützung erhalten.
Auch der Antrag „Unsere Meere brauchen Schutz“
der SPD-Bundestagsfraktion ist nicht viel erquicklicher.
Die SPD fordert Maßnahmen gegen die zunehmende
Überfischung und Verschmutzung der Meere. Anhand
einer neuen Strategie sollen unter anderem Meeresschutzgebiete ausgebaut und Verschmutzungen durch
Ölförderungen eingedämmt werden. Auch verlangt der
Antrag ein generelles Moratorium in der Tiefseeölförderung. Mit diesen Maßnahmen soll das Artensterben in
den Meeren gestoppt und die biologische Vielfalt der
Ozeane erhalten werden. Wir haben zwar das gleich
Ziel: Auch wir wollen den Lebensraum Meer schützen.
Doch wir brauchen keine neue Strategie. Wir haben auf
europäischer Ebene die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, die wir heute verabschiedet haben. Sie schafft den
Ordnungsrahmen für die notwendigen Maßnahmen für
alle EU-Mitglieder. Sie ist die Strategie, die den Schutz
der europäischen Meere würdigt. Sie legt den Ökosystemansatz zugrunde und wählt den integrativen Politikansatz. Sie gilt es nun konsequent umzusetzen und nicht parallel etliche neue Strategien zu schaffen, um am Ende
nichts zu erreichen.
Die FDP steht für einen Umweltschutz mit Augenmaß.
Dies gilt auch für die Ölförderung im Meer. Sicherheit
und Umweltschutz müssen dabei jedoch großgeschrieben werden. Die FDP sieht in der verantwortungsvollen
Nutzung der Meeresressourcen eine besondere Herausforderung. Wir sprechen uns deshalb auch gegen ein
pauschales Verbot der Tiefseeförderung aus. Wir wollen
einen Einklang zwischen dem Schutz der Meere, der Nutzung der Meeresressourcen und der Entwicklung der maritimen Wirtschaft erzielen, und nicht ein neues Verbot
an das andere reihen. Der von der SPD vorgelegte Antrag ist dafür ungeeignet.
Nur ein halbherziger Versuch zum Schutz der Meere
ist die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie in Deutschland. Besser als nichts, hört man allgemein, aber das ist
zu wenig.
Worum geht es? Unsere Meere brauchen Schutz. Ich
kenne niemanden, der das nicht weiß, niemanden, der
dem nicht mit Inbrunst der Überzeugung zustimmen
würde. Und wir kennen alle die Schlagzeilen über Ölpest, Überfischung, giftige Chemikalien, Plastikmüll
und radioaktive Stoffe im Meer.
Meer bedeutet im Hochdeutschen, die miteinander
verbundenen Gewässer der Erde, die die Kontinente umgeben. Es ist das größte, zum Teil noch völlig unbekannte und unerforschte Ökosystem unserer Erde, das
immer mehr zerstört wird, und es ist unsere Maßlosigkeit, die zur Bedrohung wird, mit der industriellen Fischerei, mit der Öl- und Gasförderung, dem Abbau von
Sand und Kies, dem ständig wachsenden Schiffsverkehr
und der Verklappung von Chemikalien. Die Auswirkungen des Klimawandels kommen noch dazu, aber auch
daran haben wir unsere Aktie. Es gäbe noch viel zu dem
Horrorszenario zu sagen, dass sich täglich in den Meeren abspielt, aber wir wollen nach vorn schauen.
2008 verabschiedete die EU eine MeeresstrategieRahmenrichtlinie. Damit wurde der gesetzliche Hintergrund geschaffen, um die Belastungen der Meere zu verringern. Was wir anstreben, sind saubere und gesunde
europäische Meere mit Fischreichtum und großer Artenvielfalt. Das klingt irgendwie nach Märchen und heißt
dann auch im Beamtendeutsch: Erreichung eines „guten
Umweltzustandes“. Wie macht man das? Man nehme die
Erfassung des Ist-Zustandes und rühre eine Definition
für den „guten Zustand“ hinein. Dazu kommen Maßnahmen, mit denen das Ziel erreicht werden soll und zum Abschluss ein Programm zur Überwachung des Ganzen.
Es gibt gute Nachrichten von der Nordsee. Auswertungen von ersten Langzeitbeobachtungen im Wattenmeer belegen: Überdüngung und viele Schadstoffkonzentrationen sind rückläufig, und die Populationen von
Seevögeln und Meeressäugern wachsen wieder an. Offensichtlich ist konsequenter Schutz das Mittel der Wahl.
Das bedeutet, wir sollten einem Netzwerk von Meeresschutzgebieten mehr Bedeutung einräumen. Nur so können wir Lebensräume und Arten vor der Zerstörung bewahren und ihnen die Chance zur Regeneration geben.
Was also ist zu tun? Die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie in deutsches Recht umsetzen ist der erste
Schritt. Der Gesetzentwurf liegt uns heute mit einem
Jahr Verspätung vor. Er wird den europäischen Anforderungen weit besser gerecht als ein erster Entwurf aus
dem vergangenen Sommer. Und trotzdem bleibt es nur
ein erster Schritt; denn es bleiben Schwachstellen, maßgeblich im Ergebnis der Beratung mit dem Bundesrat.
Bei einer Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen
Vorgaben geht es auch um Besitzstandsinteressen. Da
wird um Begriffe gefeilscht und gestritten und für den
Meeresschutz läuft es auf so viel Schutz wie gerade nötig
hinaus und keinen Deut mehr.
Ein Beispiel: Im Gesetzentwurf wird das Wort „nachteilige“ Auswirkungen für vom Menschen verursachte
Beeinträchtigungen durch das Wort „signifikant“ ersetzt. In der Begründung dafür heißt es, der Begriff
nachteilig sei in der deutschen Sprache ein Synonym für
ungünstig oder störend und so für wirtschaftliche Aktivitäten zu negativ belegt. Aber Überdüngung, Überfischung und die Verschmutzung unserer Meere durch
Öl, Chemikalien und Müll sind nachteilige Beeinträchtigungen, die vermieden werden müssen. Solange das weiter schöngeredet wird und wir nicht einmal durchsetzen,
dass Ross und Reiter klar benannt werden, fehlt der politische Wille. Solange nenne ich den deutschen Meeresschutz halbherzig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Zustand der Meere weltweit ist - man kann es leider nicht dramatisch genug ausdrücken - eine Katastrophe. Sie scheinen unendlich groß zu sein, und so werden
sie vielfach auch behandelt: Als Ressource, die es schonungslos zu nutzen und auszubeuten gilt. Die Folgen
sind klar, auch wenn sie unter der Wasseroberfläche liegen und zunächst verborgen erscheinen: Massive Überfischung bei der jetzt an die letzten Reserven gegangen
und Fisch gefangen wird, den vor wenigen Jahren keiner
kannte, geschweige denn essen wollte, oft sogar noch
bevor sie sich wenigstens einmal fortpflanzen konnten.
Hinzu kommen Schadstoffe aus allen Richtungen: Der
Meeresboden wird nach Öl und Gas angezapft oder auf
der Suche nach Rohstoffen umgepflügt, über die Flüsse
werden Rückstände aus der Landwirtschaft eingeleitet,
befeuern das Algenwachstum und senken den Sauerstoffgehalt so weit, dass Teile der Ostsee zum Beispiel
praktisch tot sind. Hinzu kommt die Schifffahrt, die mit
Raffinerieabfällen angetrieben wird, die ihre Abwässer
legal in die Meere kippt und mit ihren Ballasttanks
fremde Arten einschleppt und Heimisches verdrängt.
Nicht zu vergessen ist schließlich die Müllproblematik.
Vor allem Kunststoff kommt von Land in die Meere,
treibt jahrzehntelang herum, zerfällt in kleinste Teile
und wird von Vögeln gefressen, woran sie schließlich
sterben. Für all diese Probleme haben wir bisher nur
Lösungsansätze. Einen durchschlagenden Erfolg gibt es
nicht. Im Gegenteil: Die Ausbeutung wird weiter vorangetrieben. Die Deepwater Horizon ist fast vergessen,
und manche träumen von den sogenannten Chancen des
Klimawandels, um endlich mit Schiffen durch das sensible Ökosystem Arktis fahren zu können. Die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie ist überfällig und als europäische gemeinsame Initiative der richtige Weg, denn
Meere kennen keine Grenzen. Müll oder Ölreste schwappen gnadenlos an jeden Strand.
Leider blieb schon die europäische Vorgabe hinter
unseren Vorstellungen zurück. Die Fischerei wurde vollkommen ausgenommen. Obwohl die Richtlinie den Erhalt der Fischbestände und zerstörerische Fangmethoden als Teil der Definition zum guten Umweltzustand
betrachtet, können diese Punkte nicht in der nationalen
Gesetzgebung reguliert werden. Die Staaten sollen mit
ihren Gesetzen zwar die Meere schützen, auf die Fischerei können sie aber keinen direkten Einfluss ausüben. In
der Zwischenzeit hat auch die Biodiversitätskonvention,
CBD, Ziele zum Meeresschutz verabschiedet. Zentral ist
dabei das Ziel, Fischerei und Aquakultur nachhaltig zu
gestalten. Dieser Bezug wird in der MeeresstrategieRahmenrichtlinie nicht hergestellt. Leider ist die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie in sich nicht konsistent:
Einerseits wird ein kohärenter und transparenter
Rechtsrahmen über die relevanten Politikbereiche hinweg gefordert, andererseits wird die gemeinsame Fischereipolitik nicht angetastet. Hier wäre eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten wünschenswert gewesen, da
eine wirklich weitreichende Ökologisierung der Fischereipolitik bisher nicht absehbar ist. Das ist ein echter
Schwachpunkt in der europäischen Vorlage. Sie setzt
kaum einen ausreichenden Handlungsrahmen für die
Mitgliedstaaten. Auch die deutsche Umsetzung hat Mängel, das zeigt auch die Kritik von Umwelt- und Naturschutzverbänden. So ist der Schutz biologischer Vielfalt
zwar in der Begründung als Ziel aufgeführt, müsste aber
viel stärker das Ineinandergreifen mit dem CBD-Übereinkommen über die biologische Vielfalt unterstreichen.
Auch die Bedeutung von Meeresschutzgebieten wird zu
wenig berücksichtigt. Bei den Maßnahmen hätte man die
Schutzgebiete herausheben sollen, denn gerade hier
wird die Vielfalt maritimer Ökosysteme repräsentativ
und angemessen berücksichtigt.
Wenn man gewollt hätte, wäre in der Gesamtheit
mehr drin gewesen. Sowohl die europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie als auch die deutsche Umsetzung hätten viel konsequenter sein müssen. Trotz dieser
Kritik ist es wichtig, dass nun endlich eine Grundlage
zum Schutz der Meere vorliegt. Es besteht die Chance,
den Zustand der Meere umfassend zu bewerten und anhand dieser konkrete Schritte zu gehen. Dabei dürfen
wir aber keine rosarote Brille aufsetzen. Der Zustand ist
in seiner Dramatik, wie uns fast schon regelmäßig in jeder neuen Studie vorgehalten wird, kaum zu unterschätzen. Die Lücke zu einem guten ökologischen Zustand ist
groß, und ein Maßnahmenprogramm, das diese Lücke
schließen soll, muss es in sich haben. Doch die tatsächlichen Debatten und Ergebnisse stimmen trübe. Eines
der wesentlichen Handlungsfelder - die Fischerei - wird
kaum angetastet. Genau wie bei der jüngst vorgelegten
europäischen Biodiversitätsstrategie schnellen sofort
die Zeigefinger in die Luft, die Strategie dürfe den europäischen Agrar- und Fischereireformen nicht vorgreifen. Falsch! Die Strategien, Richtlinien und legislativen
Umsetzungen sind genau dazu da, ressortübergreifend
einen Rahmen zu setzen. Sonst sind sie das Papier nicht
wert, auf dem sie stehen. Es ist höchste Zeit, und wir alle
müssen viel arbeiten, um nicht zu spät zu kommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie und
zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes. Der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6508, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/6055 und 17/6209 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/4566. Unter Buchstabe a empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
der SPD auf Drucksache 17/1960 mit dem Titel „Unsere
Meere brauchen Schutz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1763 mit dem Titel „Schutz der
Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen
- Drucksache 17/6452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Die schwarz-gelbe Koalition hat schon im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir mehr Güter auf die
Schiene verlagern wollen. Aber wie alle Verkehrsträger
verursachen auch die Güterwagen Lärm. Der Schienenverkehr eignet sich aber wie kein anderes System, Personen und Güter über große Entfernungen sicher und
schnell zu transportieren. Auch der Umweltvorteil
macht das Rad-Schienensystem wirtschafts- und gesellschaftspolitisch sinnvoll. In diesem Kontext gewinnt die
Schiene als umweltverträglichster Verkehrsträger zunehmend an Bedeutung. Diesen Umweltvorteil zu erhalten und auszubauen, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Bahnphilosophie.
Es ist allen Bahnpolitikern bewusst, dass die Lärmimmission des Schienengüterverkehrs eine Belastung für
die Bevölkerung, insbesondere an stark befahrenen
Schienenstrecken wie im Mittelrheintal, darstellt. Der
umweltfreundliche Schienenverkehr stößt dort auf Vorbehalte, wo sich die Menschen vom Güterverkehr, insbesondere in der Nacht, gestört fühlen. Wir wissen, dass
viele Anwohner unter Schienenverkehrslärm leiden und
nehmen dieses Problem sehr ernst, auch in dem Bewusstsein, dass der leisen Bahn die Zukunft gehört. Eine
signifikante Reduzierung der Lärmimmission ist deshalb
sinnvoll, ja erforderlich, damit die gesellschaftliche Akzeptanz des Schienengüterverkehrs erhalten bleibt.
Lärmminderung ist deshalb ein gemeinsames Anliegen
innerhalb der Koalitionspolitiker.
Dass die Anwohner der Mittelrheintalbahn besonders
betroffen sind, steht außer Frage. Eine Prüfung einer
Machbarkeitsstudie hinsichtlich möglicher neuer Schienengüterverkehrstrassen und der Umleitung des Güterfernverkehrs über andere bestehende Bahntrassen sollte
unter dem Gesichtspunkt des Kosten-Nutzen-Verhältnisses erwogen werden. Wichtiger erscheint mir ihre zweite
Forderung nach kurz- und mittelfristig lärmmindernden
Maßnahmen.
Unser Ziel ist, bis zum Jahr 2025 eine Reduzierung
um 50 Prozent des Schienenlärms in hochbelasteten Gebieten zu erreichen. Dies betonte Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer beim Abschluss der Eckpunktevereinbarung am 5. Juli 2011 zum lärmabhängigen
Trassenentgelt. Deshalb haben wir auch die Beseitigung
des Schienenbonus im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Das Reduktionsziel werden wir auf der einen Seite
über den traditionellen Lärmschutz mit Lärmschutzwänden, Lärm-schutzfenstern etc. erreichen. Die positiven
Wirkungen bleiben jedoch nur lokal begrenzt.
Lärmursache Nummer eins ist das Rollgeräusch, das
durch den dynamischen Kontakt zwischen Schiene und
Radlaufflächen entsteht. Deshalb setzen wir hier an. Wir
werden eine erhebliche Lärmreduzierung bei den Waggons mithilfe der Flüsterbremsen, LL-Sohlen, erreichen.
Durch die Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems schaffen wir einen rechtlichen Rahmen zum
Ausbau der Flüsterbremsen. Das lärmabhängige Trassenpreissystem sieht ab Dezember 2012 höhere Entgelte
für Züge ohne Flüsterbremsen vor und einen Bonus für
Güterwagen, die auf lärmmindernde Technologie umgerüstet wurden. Durch die Umrüstung kann die Lärmbelastung mittelfristig bis zu 10 Dezibel reduziert
werden. Dies entspricht etwa einer Halbierung des
wahrgenommenen Lärms. Der Bonus wird direkt an die
Wagenhalter ausgezahlt. Finanziert wird dies acht Jahre
lang durch einen Bundeszuschuss. Zusammengefasst:
Laute Züge müssen bezahlen, leise Züge erhalten einen
Bonus - Zuckerbrot und Peitsche.
Dadurch werden wir den Schienenlärm deutlich und
spürbar verringern. Durch die Einführung von lärmabhängigen Trassenpreisen werden wir in einem Zeitraum von acht Jahren den Großteil der hier verkehrenden Güterzüge auf Flüstertechnik umgerüstet bekommen. Damit wird es überall leiser, wo Güterwagen
unterwegs sind, nicht nur auf bestimmten Strecken.
Deutschland stellt sich bei einem weiteren ökologischen
Projekt weltweit an die Spitze.
Trassenentgelte mit Lärmkomponente werden sich
auch wirtschaftlich positiv auswirken, da die Eisenbahnunternehmen in den Lärmschutz investieren werden.
Erst einmal möchte ich deutlich machen, dass mir die
Situation der Betroffenen entlang der Bahnstrecke am
Mittelrhein absolut bewusst ist. Bei meinen Besuchen im
Rheintal habe ich nur zu deutlich erfahren, was der
Bahnlärm für die Anwohner bedeutet. In vielen Gesprächen mit Betroffenen wurde mir ihre Last anschaulich
beschrieben. Aber nicht nur ich, sondern die ganze
Union steht auf der Seite der Menschen, die unter Bahnlärm leiden. Und wir drücken dabei eben nicht nur unsere Betroffenheit aus, sondern wir handeln auch. Seit
Jahren und Jahrzehnten wird darüber diskutiert, wie wir
die zunehmende Lärmbelastung verringern können.
Dass Lärm krank machen kann, ist auch wissenschaftlich hinlänglich erwiesen. Bei meiner Teilnahme am
zweiten Schienenlärmkongress in Freiburg im Breisgau
letztes Jahr ist mir das eindrücklich vor Augen gemalt
worden. Am Kongress in Boppard letztes Jahr hätte ich
ebenfalls gerne teilgenommen, aus terminlichen Gründen war mir dies jedoch nicht möglich. Unsere Fraktion
weiß, dass Lärm keine Kleinigkeit ist. Deshalb haben
wir im Koalitionsvertrag mit der FDP auch festgehalten:
„Die Akzeptanz für einen weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur hängt entscheidend davon ab, dass
die Lärmbelastung der Bevölkerung reduziert wird. Wir
wollen deshalb den Lärmschutz ausweiten. Dazu wollen
wir den Schienenbonus schrittweise reduzieren mit dem
Ziel, ihn ganz abzuschaffen. Gleichzeitig wollen wir eine
lärmabhängige Trassenpreisgestaltung bei der Bahn.
Bei bereits bestehenden Strecken wollen wir das Lärmsanierungsprogramm Schiene fortsetzen und intensivieren. Dazu wollen wir auch die Möglichkeiten des technischen Fortschritts bei Fahrzeugen nutzen.“
In unserem Antrag zur Rheintalbahn vom 18. März
2011 haben wir deshalb die Bundesregierung aufgefordert, „den Schienenbonus schrittweise abzuschaffen“.
Auch andere Fraktionen hätten einen solchen Beschluss
in ihrer Regierungszeit fassen können. Wir als christlich-liberale Koalition setzen unsere Ankündigung nun
um. Nach langen Diskussionen und vielen verschiedenen Bundesregierungen ist es also die jetzige, die endlich nicht mehr zwischen „gutem“ und „bösem“ Lärm
unterscheidet. Dabei sind wir aber nicht stehen geblieben. Gerade diese Woche wurde die Einführung eines
lärmabhängigen Trassenpreissystems zum Dezember
2012 zwischen dem Bundesverkehrsministerium und der
Deutschen Bahn AG beschlossen. Der Schienenlärm soll
damit deutlich und dauerhaft verringert werden. Das
lärmabhängige Trassenpreissystem sieht höhere Entgelte für Züge ohne Flüsterbremsen vor und einen Bonus
für Güterwagen, die auf lärmmindernde Technologie
umgerüstet werden. Durch die Umrüstung kann die
Lärmbelastung mittelfristig bis zu 10 db reduziert
werden. Das kostet sowohl die Bundesregierung Geld
als auch die Deutsche Bahn AG. Die Umrüstung auf sogenannte Flüsterbremsen wird mit über 300 Millionen
Euro zu Buche schlagen. Das neue Preissystem ist eine
gute Nachricht für alle Menschen, die entlang von Güterverkehrsstrecken wohnen - besonders aber für die
Betroffenen am Mittelrhein.
Die Abschaffung des Schienenbonus und lärmabhängige Trassenpreise ergänzen sich. Wir brauchen beides
und bekommen beides. Ergänzt wird es durch das von
uns weiter vorangetriebene Lärmsanierungsprogramm
Schiene, wie wir es im Koalitionsvertrag festgelegt haben. Mit diesen drei wichtigen Maßnahmen zeigt die
schwarz-gelbe Koalition, dass sie die Lärmbekämpfungskoalition ist!
Ich möchte mich auch an dieser Stelle für die konstruktive Arbeit der Bürgerinitiativen bedanken. Wir
brauchen eine gelebte Kultur von Bürgerbeteiligung.
Das kann ich bei Pro Rheintal erkennen. Ich danke auch
meinen Kollegen vor Ort, besonders Peter Bleser und
Ute Granold, die uns Verkehrspolitikern in Berlin immer
wieder vor Augen und Ohren „malen“, was am Mittelrhein los ist.
Trotz aller Anstrengungen bei der Lärmminderung ist
natürlich auch uns klar, dass der beste Lärm der ist, der
gar nicht erst entsteht. Da das in unserer Industriegesellschaft aber kaum komplett möglich ist, müssen wir
über Maßnahmen nachdenken, damit zumindest nur so
wenig Menschen wie nötig belästigt werden. Deshalb
prüfen wir bei der Rheintalbahn in Baden auch alternative Strecken. Und dasselbe sollte auch am Mittelrhein
getan werden - und das wird es.
Die Bahn hat in ihrem Wachstumsprogramm schon
genau das vorgelegt, was der Antrag fordert: ein Ertüchtigungsprogramm für Entlastungsstrecken. Wer
mehr Güter auf den ökologischen Verkehrsträger
Schiene bekommen möchte, muss die Kapazitäten erhöhen. Der Stau auf der Schiene darf sich nicht weiter ausweiten. Wir als Bund sind gefordert. Bereits bei der Bedarfsplanüberprüfung 2010 hat sich gezeigt, dass der
Bereich Köln-Mittelrhein-Mannheim-Karlsruhe im Prognosejahr 2025 mehrere Engpässe aufweisen könnte. Allein schon deshalb wird das Bundesverkehrsministerium
eine Untersuchung durchführen, in der verkehrliche
Konzepte für die Verkehrsachsen zwischen Köln und in
etwa Karlsruhe ermittelt werden sollen. Derzeit läuft
das Ausschreibungsverfahren für die Studie. Ziel ist die
Entwicklung eines verkehrlich sinnvollen Konzeptes für
den gesamten Korridor. Damit werden die erforderlichen Eingangsdaten für den neuen Bundesverkehrswegeplan ({0}) 2015 erarbeitet. Die Untersuchungsergebnisse werden wahrscheinlich bis Ende 2012
vorliegen. Die geforderte Prüfung für die nötige Entlastung der Bürger über eine alternative Strecke ist also bereits in Auftrag gegeben.
Wir schließen uns also unseren Kollegen in Rheinland-Pfalz an. Trotzdem lehnen wir den Antrag der Sozialdemokraten ab. Wir brauchen hier keine Aufforderungen an die Bundesregierung. Die eine Hälfte davon
wurde schließlich bereits diese Woche umgesetzt, und
die andere Hälfte ist sowieso geplant. Obwohl wir uns
also inhaltlich hinter die Forderungen stellen, lehnen
wir den Antrag als organisatorisch überflüssig ab.
Die Konjunktur nimmt Fahrt auf, die Wirtschaft
brummt und setzt ordentlich Waren um. Es gibt Menschen, die nehmen diese im Allgemeinen durchaus positiven und erfreulichen Nachrichten als Bedrohung ihrer
Gesundheit und Lebensqualität wahr. Und das zu Recht!
Ich rede von den Menschen, die an Güterverkehrstrassen leben, arbeiten und tagtäglich einer LärmZu Protokoll gegebene Reden
kulisse ausgesetzt sind, die sich verheerend auf ihre Gesundheit auswirkt. Über 100 Dezibel werden dort
gemessen, Nacht für Nacht! Diese Menschen leiden unter dem Lärm, den Erschütterungen, die insbesondere
von den Güterzügen ausgehen, aber auch Personenzüge
tragen ihren Teil dazu bei. Das Mittelrheintal ist diesbezüglich ein wahrer Hexenkessel, weit über 100 Ortsdurchfahrten werden über den Tag registriert, und die
Menschen haben keine Möglichkeit, den Auswirkungen
zu entfliehen, wenn sie ihrer Heimat nicht den Rücken
kehren möchten.
Schon mehrfach haben wir in diesem Jahr hier im
Plenum des Deutschen Bundestages über das Problem
Schienenlärm debattiert, auch in der Debatte zur Rheintalbahn war der Lärm zentraler Bestandteil der Reden aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, dort wollen wir verhindern, was im Mittelrheintal jede Stunde
des Tages und der Nacht bittere Realität ist!
Viele Maßnahmen haben wir unter rot-grüner Bundesregierung eingeleitet, die seither geplant, finanziert
und gebaut wurden, viele Millionen Euro haben wir in
die Hand genommen, doch der Durchbruch ist uns nicht
gelungen. Lärmschutzwände und -fenster sind kein Königsweg, ganz im Gegenteil; denn diese verschleiern das
Problem. Wie oft habe ich von der jetzigen Bundesregierung gehört, wie viel Geld im Mittelrheintal investiert
wurde - sie tut fast so, als wäre das Problem damit vom
Tisch. Hier wird versucht, alles auszusitzen, es wird beschwichtigt, angekündigt und verschoben. Letztlich fehlt
nach wie vor ein Bewusstsein für die Probleme vor Ort.
Ich frage mich, warum es so lange dauern muss, um ein
lärmabhängiges Trassenpreissystem einzuführen. Erst
hieß es: zum Fahrplanwechsel 2011/12; und gestern verkündet unser Verkehrsminister: 2012/13 - und ist auch
noch stolz darauf. Natürlich freue ich mich, dass es eingeführt wird; aber warum dauert es so lange? Die Umrüstung muss jetzt angeschoben werden, wir müssen jetzt
Impulse setzen, und die Wirtschaft muss jetzt umrüsten;
jeder Tag ist ein verlorener Tag. Bis zum Fahrplanwechsel am 15. Dezember 2012 sind es noch 528 Tage, bei
100 Ortsdurchfahrten sind das über 50 000 Züge, die den
Menschen das Leben schwer machen. Ich erwarte hier
entschieden mehr Engagement, und ich bin davon überzeugt, das geht den Menschen vor Ort nicht anders. Die
zögerliche Haltung der Bundesregierung und der Koalition bleibt mir ein Rätsel. Vielleicht liegt das daran, dass
Lärm und Erschütterungen hier im fernen Berlin nur
noch als leichtes Rauschen ankommen.
Rheinland-Pfalz übt massiven Druck über den Bundesrat aus, und auch der Mainzer Landtag hat am
10. Februar 2011 einen einstimmigen Beschluss gefasst.
Wohlgemerkt, mit den Stimmen von CDU und FDP fordert der Landtag den Bund auf, die Suche nach einer alternativen Trassenführung endlich einzuleiten und die
Züge umzuleiten. Kurz- und mittelfristig müssen mit
Nachdruck alle Register gezogen und die Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems unterstützt
werden. Das ist wegweisend, und daher haben wir diesen Antrag heute in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich fordere meine Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen auf, es ihren Landtagsfraktionen
gleichzutun. Lassen Sie uns gemeinsam für ein leiseres
Mittelrheintal kämpfen und damit auch andernorts Signale setzen, dass wir das Problem Verkehrslärm erkannt haben und nicht länger hinnehmen möchten!
Rüdesheim, Boppard, Kamp-Bornhofen, Spay sind
nur einige Orte, doch sie stehen stellvertretend für verlärmte Regionen in der ganzen Republik - hier muss was
geschehen!
Lassen Sie uns das „Epizentrum“ des Schienenlärms
gemeinsam anpacken! Wir brauchen jetzt kurzfristige
Maßnahmen, um schnell zumindest Linderung zu bringen. Mittelfristig muss der Schienenbonus abgeschafft
werden, und das nicht schrittweise, wie es die Koalition
jetzt verkündet; denn das würde nur Chaos im Planungsrecht schaffen und für Jahrzehnte einen Flickenteppich
unterschiedlichster Lärmschutzstandards hinterlassen,
den man niemandem erklären kann. Auch brauchen wir
zügig den lärmabhängigen Trassenpreis als Anreizprogramm zur Umrüstung, flankiert mit einem qualifizierten Nachtfahrverbot, um klar der Wirtschaft zu signalisieren, dass wir es ernst meinen. Dafür müssen wir eine
rechtliche Grundlage schaffen. Langfristig kommen wir
aber nicht um einen neuen Korridor für den europäischen Güterverkehr herum. Dabei dürfen wir uns nicht
auf den Bundesverkehrswegeplan vertrösten lassen jetzt ist Zeit, zu handeln und den Lärm der Zukunft zu
verhindern. Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss und dass die vielen Papiere und Gutachten endlich umgesetzt werden. Es gibt genug Gutachten, jetzt
müssen wir handeln!
Verkehrslärm ist ein zentrales Umweltproblem. Dauerhafter Lärm gefährdet die Gesundheit. Etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung fühlen sich durch Schienenverkehrslärm belästigt, etwa ein Viertel davon
schwer. Schienenlärm wird weniger durch einen geschlossenen Geräuschpegel als durch laute Einzelereignisse bestimmt. Insbesondere in der Nacht beeinträchtigen Aufweckreaktionen, beispielsweise verursacht durch
nächtliche Gütertransporte, die Regenerationsphase des
Körpers - mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit.
Ich habe selbst bei meinen Besuchen entlang der Rheintalstrecke die Auswirkungen des Güterverkehrslärms
kennengelernt.
Wir haben an den bestehenden Schienenwegen einen
besonders hohen Bedarf an Lärmsanierung. Das geltende Immissionsschutzrecht verlangt allerdings nur
beim Neubau und der wesentlichen Änderung von Schienenstrecken, dass durch diese keine schädlichen Umwelteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche hervorgerufen werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar
sind. Eine entsprechende Regelung fehlt für bestehende
Strecken. Damit werden die Anwohner an Altstrecken
deutlich höheren Belastungen ausgesetzt. Wir erleben
das aktuell im Rheintal oder auch, wie in ihrem Antrag
erwähnt, im Mittelrheintal.
Aus diesem Grund haben wir der Frage des Lärmschutzes im Koalitionsvertrag einen hohen Stellenwert
Zu Protokoll gegebene Reden
beigemessen und immer betont, dass wir hier zum
Schutze der Anwohner Änderungen herbeiführen wollen.
Ich freue mich, dass ich Ihnen mitteilen kann, dass
wir Ihrem Antrag bereits zuvorgekommen sind und die
Einführung lärmabhängiger Trassenpreise in einer Eckpunktevereinbarung zwischen dem Bundesverkehrsministerium und der DB AG am vergangenen Dienstag unterzeichnet wurde. Damit setzen wir eine wichtige
verkehrs- und umweltpolitische Forderung der schwarzgelben Koalition um. Die Bundesregierung macht damit
einen wichtigen Schritt hin zur einer spürbaren Verringerung des Schienenverkehrslärms.
Der Schienenlärm wird damit deutlich und dauerhaft
verringert werden. Das lärmabhängige Trassenpreissystem sieht höhere Entgelte für Züge ohne Flüsterbremsen
vor und einen Bonus für Güterwagen, die auf lärmmindernde Technologie umgerüstet werden. Durch die Umrüstung kann die Lärmbelastung mittelfristig bis zu
10 db reduziert werden. Der Bonus wird direkt an die
Wagenhalter ausgezahlt. Finanziert wird dies acht Jahre
lang durch einen Bundeszuschuss. Damit wird das lärmabhängige Trassenpreissystem zu gleichen Teilen durch
den Eisenbahnsektor und die öffentliche Hand finanziert. Bei rund 180 000 umrüstbaren Wagen in Deutschland betragen die Kosten für die Umrüstung über
300 Millionen Euro. Wirksam wird das lärmabhängige
Trassenpreissystem zum Fahrplanwechsel 2012/2013.
Wir handeln nicht nur im Interesse der Anwohner an
Schienenstrecken, sondern auch im Interesse eines leistungsfähigen Schienengüterverkehrs.
Die Fraktionen von FDP und CDU/CSU haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir eine ordnungspolitische Lösung wollen, um einen Anreiz zur Umrüstung
von Güterzügen mit Flüstersohlen zu setzen. Das wird
jetzt umgesetzt und damit ein wichtiger Beitrag zum flächendeckenden Lärmschutz in Deutschland geleistet.
Das ist allerdings nur der erste Teil der Maßnahmen, die
wir noch in diesem Jahr zur Verbesserung des Lärmschutzes im Schienenverkehr aufs Gleis setzen wollen.
Noch in diesem Jahr werden wir für neue Schienenvorhaben den sogenannten Schienenbonus kippen. Das bedeutet eine Hebung der Lärmschutzanforderungen um
weitere 5 Dezibel. Damit wollen wir einen Beitrag leisten, um Anwohner von Neubaustrecken in Zukunft besser zu schützen. Dadurch wird auch die Akzeptanz von
Infrastrukturvorhaben verbessert. Das wird in diesem
Jahr noch Gesetz werden.
„Das ist grundsätzlich ein Schritt in die richtige
Richtung“! Ich würde mich freuen, wenn Sie sich Ihrem
Kollegen anschließen und Ihren Antrag zurückziehen
würden.
Zum wiederholten Male ist der Bahnlärm Thema hier
im Bundestag und wieder geht es um die Rheintalstrecke, deren Anwohnerinnen und Anwohner in teilweise
wirklich unerträglicher Weise vom Bahnlärm betroffen
sind. Die Bahn ist ein vergleichsweise umweltfreundlicher Verkehrsträger - aber wirklich verträglich für Anwohner, Umwelt und Klima wird er nur, wenn mehr Geld
in die Schiene und insbesondere in den Lärmschutz investiert wird.
Bei dieser Gelegenheit habe ich gleich eine Frage an
die antragstellende SPD: Können wir nicht auf den
höchst umstrittenen Hochmoselübergang verzichten, für
den die Kosten gerade explodieren und der zudem von
zweifelhaftem Nutzen ist? Brauchen wir das Geld nicht
vielmehr für sinnvolle Schienenprojekte in RheinlandPfalz, zum Beispiel für eine Güterverkehrstrasse zur
Entlastung des Mittelrheins?
Wir unterstützen die Aufforderung aus dem Antrag,
„eine Machbarkeitsstudie hinsichtlich möglicher neuer
Schienenverkehrstrassen und der Umleitung des Güterverkehrs über andere bestehende Bahntrassen sowie deren Ertüchtigung zu erstellen“. Dies muss schnellstmöglich angegangen werden, um bei den Planungen von
Anfang an eine Bürgerbeteiligung sicherzustellen und
trotzdem nicht erst in Jahrzehnten eine Entlastung der
Rheintaltrasse zu erreichen.
Wir unterstützen außerdem das 10-Punkte-Programm
„Leises Rheintal“. Für die besonders belasteten Abschnitte, bei denen andere Maßnahmen nicht zügig umgesetzt werden können und die Grenzwerte weiter überschritten werden, müssen die rechtlichen Möglichkeiten
geprüft und ausgeschöpft werden, insbesondere nachts
und für laute Güterzüge Geschwindigkeitsbeschränkungen oder sogar Fahrverbote anzuordnen. Zu prüfen sind
auch die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen, die die
Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschäden durch die Bahn e. V. fordert. Als mittelfristige Maßnahme fordern wir, an den am höchsten belasteten Abschnitten bis 2015 eine Lärmsanierung vorzunehmen.
Die Haushaltsmittel dafür sind zu verdoppeln.
Am 5. Juli haben sich Bundesministerium und Bahn
auf die Umsetzung einer Forderung aus dem Antrag
bereits verständigt: Die Einführung lärmabhängiger
Trassenpreise. Angesichts der Gesundheitsschäden, der
Einbußen an Lebensqualität und auch der damit verbundenen volkswirtschaftlichen Kosten ist das Ziel, innerhalb von acht Jahre den Großteil der Güterzüge auf
Flüstertechnik umzurüsten, wenig ambitioniert. Sobald
die Technik serienreif ist, muss es deutlich schneller gehen. Es muss auch ein Datum gesetzt werden, ab dem
diese Technik bzw. die Unterschreitung eines damit einzuhaltenden Lärmgrenzwertes für alle Güterwagen verpflichtend wird.
Die Bundesregierung muss nun auch zügig ein Gesetz
vorlegen, mit dem der Schienenbonus wie im Koalitionsvertrag vorgesehen schrittweise reduziert und dann ganz
abgeschafft wird. Den Stufenplan halten wir allerdings
nicht für sinnvoll: Der Schienenbonus sollte ab 2012
ganz gestrichen werden. Neubaustrecken sollten gleich
so gebaut werden, dass strenge Lärmgrenzwerte eingehalten werden. Natürlich wird das erheblich teurer, wie
die Regierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage
schreibt. Aber sollen Strecken gebaut werden, die dann
nicht nachgerüstet werden können, von denen also für
die weitere Zukunft eine ständige unzulässige Lärm- und
Zu Protokoll gegebene Reden
damit Gesundheitsbelastung ausgeht? Wir müssen Infrastruktur für eine lebenswerte Zukunft bauen. Wenn
wir endlich aufhören, Beton für ein Weiter-so! in die
Landschaft zu gießen, haben wir auch genügend Geld.
Ein Weiter-so! kann es beim Autoverkehr aber nicht geben - eine Ausweitung schon gar nicht. Autobahnbau ist
daher von gestern.
Es ist zynisch, Lärmschutzmaßnahmen als unbezahlbar zu bezeichnen. Tatsächlich verursachen die physischen und psychischen, die sozialen und volkswirtschaftlichen Folgen der tagtäglichen Lärmbelastung
immense Kosten, die sich unsere Gesellschaft nicht leisten kann. Das Geld ist da - es ist lediglich eine Frage
der Prioritätensetzung. Brauchen wir Prestigeprojekte
wie Stuttgart 21 und immer weitere Hochgeschwindigkeitstrassen? Brauchen wir unsinnige Straßenprojekte
wie den Hochmoselübergang? Wir sagen ganz klar:
Nein! Die Bahn muss in der Fläche entwickelt werden
- so sozial- und umweltverträglich wie möglich. Lärmschutz ist dabei ein ganz wichtiges Element. Und: Die
tatsächlichen - auch externen - Kosten des Straßenverkehrs müssen endlich den Verursachern angelastet werden. Wer den Straßenverkehr weiter subventioniert, aber
kein Geld für Lärmschutz hat, handelt rückwärtsgewandt und verantwortungslos.
Lärm macht krank - das ist keine neue Erkenntnis. Zu
viele Menschen leiden besonders unter den Folgen, welche die starke Zunahme des Verkehrs mit sich bringt. Ein
Exportland wie Deutschland ist darauf angewiesen, die
steigende Nachfrage nach seinen Produkten immer
schneller zu den Kunden in alle Welt zu bringen. Der
Güterverkehr wird weiter ansteigen - und die Politik hat
dafür zu sorgen, dass dies möglichst umweltfreundlich
klima- und ressourcenschonend passiert. Deswegen setzen wir auf die Schiene - denn die kann ihre ökologischen Vorteile voll ausspielen. Sie ist umweltfreundlicher, klimaschonender, sicherer sowie flächen- und
ressourcensparender. Trotz dieser eindeutigen Vorteile
können wir die Nachteile nicht ignorieren. Besonders an
den Haupttrassen leiden Menschen unter der Verkehrszunahme, vor allem unter dem Lärm. Die Lärmbelastung an viel befahrenen Bahnstrecken ist inzwischen so
hoch, dass sie nicht nur als Belästigung empfunden
wird, sondern auch eine Gesundheitsgefahr für die Anwohner ist. Darauf müssen wir eingehen, um die Akzeptanz für diesen umweltfreundlichsten Verkehrsträger
nicht zu verlieren.
Die Ankündigung des Verkehrsministeriums, lärmabhängige Trassenpreise einzuführen, kommt einer unserer Forderungen nach. Das ist zu begrüßen. Hierdurch
kann ein Anreiz gesetzt werden, um in leisere Fahrzeuge
zu investieren. Dazu werden mit diesem Vorschlag externe Kosten internalisiert, und wir Grünen hoffen, dass
dies ein Anstoß für die dringend erforderliche weitere
Internalisierung externer Kosten ist. Viel zu oft muss die
Allgemeinheit für die Vorteile Weniger aufkommen. Wir
müssen uns insgesamt ehrlich machen und die Kosten,
die für die Umwelt - etwa durch den Verkehr - entstehen, auf die einzelnen Produkte übertragen. So können
wir klarer sehen, dass Transporte mit Autos nicht nur
Sprit und mit Bahnen nicht nur Strom kosten, sondern
dass darüberhinaus viel mehr Mittel durch die Allgemeinheit aufgebracht werden. Nicht nur in Infrastruktur
muss investiert werden, auch wenn Kranke wieder gesund werden sollen, wenn zerstörte Natur wieder hergestellt werden muss, kostet das sehr viel Geld. Deswegen
können lärmabhängige Trassenpreise für die Bahnen
nur ein erster Schritt sein, um Kostenwahrheit herzustellen. Auch bei der Straße müsste nachgezogen werden,
damit hier nicht ein Verkehrsträger - der noch dazu der
umweltfreundlichste ist - einseitig benachteiligt wird.
Neben den lärmabhängigen Trassenpreisen kommt es
jetzt jedoch zusätzlich darauf an, ein Gesamtpaket zu
schnüren; denn die Preise sind nur eine Stellschraube.
Auch der Schienenbonus - mit welchem man beim Bahnlärm vom tatsächlichen Schallpegel pauschal 5 Dezibel
abzieht - muss nun endlich abgeschafft werden. Die Annahme, dass Bahnlärm weniger belastend ist als der an
Straßen, weil die Frequenzen deutlich geringer ausfallen, ist mittlerweile durch zahlreiche Studien widerlegt.
Hinzu kommt, dass auf vielen Strecken inzwischen so
viele Züge unterwegs sind, dass es kaum noch Lärmpausen gibt. Auf diese Entwicklung müssen wir reagieren
und können die Koalition hier nur an ihre eigene Vereinbarung erinnern. Auch wenn wir wissen, dass vieles aus
dem Koalitionsvertrag - zum Glück - wohl nicht umgesetzt wird, bei der Abschaffung des Schienenbonus haben Sie unsere Unterstützung. Darüber hinaus macht
unsere Fraktion jedoch noch weitere konkrete Vorschläge.
Setzen Sie jetzt auch das Bundesimmissionsschutzgesetz konsequent um. Dann sind Schienenfahrzeuge endlich so zu betreiben, dass vermeidbare Emissionen verhindert und unvermeidbare Emissionen - einschließlich
Lärm - auf ein Mindestmaß reduziert werden. Hierzu
gehört ebenfalls, dass Alternativtrassen für den Güterverkehr ernsthaft geprüft und in die Planung von Schienenwegen einbezogen werden. Außerdem müsste das
Lärmsanierungsprogramm des Bundes aufgestockt werden, damit die Sanierung bestehender Strecken beschleunigt wird. Ergreifen Sie als Koalition und Regierung den
breiten gesellschaftlichen Konsens und setzen Sie endlich weitere Maßnahmen zum Lärmschutz um!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6452 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 17/5515 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Petitionsausschuss
Wir beraten heute in erster Lesung den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung
des Bundesvertriebenengesetzes. Es ist die mittlerweile
neunte Änderung des Bundesvertriebenengesetzes und
betrifft insbesondere die Spätaussiedler. Denn im Bundesvertriebenenrecht fehlt bisher eine konkrete Regelung, die es beispielsweise dem Ehegatten oder Abkömmling eines Spätaussiedlers ermöglicht, auch
nachträglich ins Bundesgebiet auszusiedeln, wenn ein
Härtefall vorliegt. Damit soll beispielsweise eine unvertretbare Familientrennung bei Spätaussiedlern vermieden werden.
Nehmen wir an, eine Spätaussiedlerin hat bereits ihren ständigen Aufenthalt in Deutschland. Sie hat einen
Ehegatten oder Nachkommen, der im Aussiedlungsgebiet verblieben ist und die sonstigen bereits bestehenden
Aufnahmevoraussetzungen erfüllt, die im Bundesvertriebenenrecht aufgeführt sind. Nach der vorgeschlagenen
Regelung könnte der Familienangehörige in solchen
Härtefällen ebenfalls nach Deutschland aussiedeln.
Ich begrüße die Bemühung der Bundesregierung, hier
für die Betroffenen Abhilfe zu schaffen, denn mittlerweile leben rund 2,4 Millionen Spätaussiedler in
Deutschland, die unsere Gesellschaft bereichern. Für
den einen oder anderen unter ihnen wird diese Änderung
mehr als nur überfällig sein.
Darum sehen auch wir eine Änderung und Ergänzung
des § 27 als notwendig an. Denn damit vermeiden wir
das, was in der Vergangenheit bislang immer geschehen
ist, nämlich dass eine Aussiedlung nach Deutschland für
Spätaussiedler wiederholt zu einer nahezu unumgänglichen und fortdauernden Trennung von ihrer Familie geführt hat. Wenn zurückbleibende Familienangehörige
sich zunächst dafür entschieden haben, im Aussiedlungsgebiet zu verbleiben, gab es keine Chance, später
nachzufolgen. Ein späteres Zusammenkommen wurde
dadurch nahezu ausgeschlossen. Dies hat in dem einen
oder anderen Fall auch zu schlimmen menschlichen
Schicksalen geführt. Nehmen wir zum Beispiel ein in
Deutschland lebendes älteres Ehepaar, das aufgrund des
Alters und gesundheitlichen Zustandes unter einer Trennung von ihren Kindern gravierend leidet. Bislang gab
es keine Chance, dass die Kinder oder Enkel folgen
konnten. Mit der vorliegenden Änderung wird es künftig
vereinfacht werden, dass diese Abkömmlinge im Härtefall mit in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers
einbezogen werden können und so auch noch später
nach Deutschland folgen können.
Gleichwohl denke ich, dass wir aber auch die Anmerkungen des Bundesrates mit in unsere anstehenden Beratungen einfließen lassen sollten. Die Länder fordern
unisono bei der nachträgliche Einbeziehung eine zeitliche Befristung, um so Planungssicherheit zu erhalten.
Ich denke, darüber sollten wir noch einmal diskutieren.
Diskussionsbedarf sehe ich hierbei aber auch im Zusammenhang mit den auch von Spätaussiedlern in Anspruch genommenen Integrationskursen. Insbesondere
im Punkt Kosten für Integrationskurse und Spracherwerb müssen wir hier dann auch nachbessern, sehr geehrte Bundesregierung. Ich kann nur schlicht sagen, ich
bin überrascht, dass Sie hier keine weiteren Kosten erwarten.
Sie rechnen mit einer Mindestzahl von 5 000 Härtefallanträgen. Dies wird sich natürlich auch auf die angebotenen Integrationskurse auswirken, die im Übrigen
bereits jetzt schon unterfinanziert sind. Darum fordere
ich Sie hier auch konkret auf, mehr Geld für Integrationskurse und Sprachkurse im Bundeshaushalt zur Verfügung zu stellen. Alles andere wäre blauäugig und fatal. Sorgen Sie dafür, dass die Menschen, die lernen
wollen, die sich integrieren wollen in unser Land, dazu
auch die Möglichkeit finden! Man kann nicht nur von
Verbesserung der Integration reden und sie von den
Menschen fordern, man muss dafür auch die entsprechenden Mittel und Wege zur Verfügung stellen. Das
wäre eine Zuwanderungspolitik mit Weitsicht, die ich
mir in anderen Bereichen wünschen würde.
Der eine oder andere wird sich wahrscheinlich wundern, dass wir heute dieses Thema auf der Tagesordnung
haben. Die meisten gehen sicherlich davon aus, dass es
für eine Novellierung mangels Betroffener doch heute
eigentlich keinen Bedarf mehr gibt. Große Ströme von
Aussiedlern haben wir heute sicherlich nicht mehr; das
ist richtig.
Aber dieses Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte ist noch immer nicht abgeschlossen. Noch immer leben in Osteuropa und den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion Angehörige von anerkannten Spätaussiedlern, die schon nach Deutschland ausgesiedelt sind.
Diese Familienmitglieder haben bei der Aussiedlung ihrer nächsten Angehörigen auf die Möglichkeit verzichtet, ihr Recht, mit auszusiedeln, wahrzunehmen. Die
Gründe für diesen Verzicht waren beziehungsweise sind
vielfältig. Einige wollten zum Bespiel bei ihren nicht
deutschstämmigen Ehepartnern bleiben. Andere ließen
aus Unkenntnis Fristen verstreichen und verwirkten somit das Recht, auszusiedeln. Wieder andere Betroffene
wollten das ihnen vertraute Umfeld nicht verlassen. So
unterschiedlich diese Fälle sind, in allen Fällen ist ein
Teil der Familien im Aussiedlungsgebiet geblieben.
Wie sich herausgestellt hat, gibt es Konstellationen,
in denen die Betroffenen sich wünschen, dass die Familienteile wieder zusammengeführt werden. Die Gründe
hierfür sind so unterschiedlich wie bei dem Wunsch, zunächst nicht mit auszusiedeln. Da gibt es das Problem,
über die weiten Entfernungen einen engen Kontakt zu
halten. Direkte Besuche in Deutschland sind aus visarechtlichen Gründen nahezu unmöglich. Besuche in der
ehemaligen Heimat kommen in vielen Fällen wegen des
fortgeschrittenen Alters der in Deutschland lebenden
Angehörigen nicht in Betracht. Es gibt aber auch Fälle,
bei denen der - nicht deutschstämmige - Ehepartner im
Aussiedlungsgebiet verstorben ist und die nahen Angehörigen nun in Deutschland leben. Da ohne den Ehepartner keine familiäre Bindung mehr im Aussiedlungsgebiet besteht, will man nun doch zur Familie nach
Deutschland aussiedeln. Oder aber die Angehörigen in
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland sind alt und gebrechlich und sind auf Hilfe
angewiesen und wünschen sich von den Angehörigen,
gepflegt zu werden. Nach derzeitigem Recht ist die nachträgliche Einbeziehung in den Aussiedlungsbescheid
ausgeschlossen.
Sofern diese sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen eine extreme Härte für die Betroffenen darstellen,
will die christlich-liberale Koalition durch die Novellierung des Bundesvertriebenengesetzes hier für eine pragmatische Lösung sorgen. Mit dem nun eingebrachten
Gesetzentwurf wird den Betroffenen nachträglich die
Möglichkeit eröffnet, in den Aussiedlungsbescheid aufgenommen zu werden. Dies eröffnet dann die Möglichkeit, ebenfalls nach Deutschland nachträglich auszusiedeln und die Familie wieder zusammenzuführen.
Wie viele von der angestrebten Lösung Gebrauch machen werden, kann nicht genau gesagt werden. Bei Zugrundelegung verschiedener Indikatoren - bisher abgelehnte nachträgliche Einbeziehungsanträge, Petitionen
mit nachträglichem Einbeziehungsersuchen, in den Aussiedlungsgebieten verbliebene Abkömmlinge - ist mit
etwa 5 000 Härtefällen zu rechnen. Von diesen 5 000
Fällen werden wohl etwa 2 500 Fälle positiv für die Betroffen beschieden werden können.
Uns Liberalen ist das Schicksal der Spätaussiedler
nicht egal! Daher unterstützen wir den Gesetzentwurf
der Bundesregierung, um den betroffenen Familien in
ihrer schwierigen Situation zu helfen. Lassen Sie uns die
Sache schnell anpacken und sorgen wir für eine einfache
und pragmatische Lösung.
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes.
Konkret geht es um den Nachzug von Familienangehörigen zu den Spätaussiedlern, die bereits länger in der
Bundesrepublik leben.
Bislang erhalten Spätaussiedler einen Aufnahmebescheid und können dann in die Bundesrepublik übersiedeln. Im Aufnahmebescheid sind auch die einbezogenen
Angehörigen, also Eheleute und Nachkommen, genannt.
Bislang war ein Nachzug zu einem späteren Zeitpunkt
nicht möglich. Dies soll nun im Rahmen einer Härtefallregelung gelockert werden. Wird beispielsweise ein hier
lebender Spätaussiedler krank und ist auf die Hilfe seiner Kinder angewiesen, kann das einen solchen Härtefall begründen. Die Kinder können dann nachträglich in
den Aufnahmebescheid aufgenommen werden, obwohl
sie ursprünglich in ihrem Herkunftsland bleiben wollten.
Grundsätzlich ist diese Lockerung begrüßenswert.
Der Gesetzentwurf stellt auch klar, zumindest in seiner
Begründung, dass das Ermessen der Behörden in dieser
Frage recht großzügig ausgeübt werden soll. Dennoch
stellt sich die Frage, warum hier eine solche Härtefallregelung notwendig ist und nicht stattdessen der Familiennachzug zu Spätaussiedlern ohne weitere Prüfung
und ohne Fristen zugelassen wird. In der Gesetzesbegründung selbst ist davon die Rede, dass mit 5 000 Anträgen im Rahmen dieser Regelung zu rechnen ist. Dort
steht auch schon, dass die Hälfte davon abgelehnt werden wird. Das ist doch unsinnig und kleinlich. Man
schafft eine Härtefallregelung für einen sehr überschaubaren Kreis von Betroffenen, spricht aber gleich der
Hälfte dieser Menschen ab, die Härtefallkriterien zu erfüllen. Insgesamt ist die Zuwanderung von sogenannten
Spätaussiedlern in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Nach den Spitzenwerten zu Beginn der 90erJahre mit über 200 000 Aussiedlern und Spätaussiedlern
pro Jahr sind es seit 2006 nur noch wenige Tausend, die
pro Jahr übersiedeln. Selbst bei einer großzügigen Regelung werden sich die Zahlen also sehr in Grenzen halten.
Wie schon bei den Regelungen zum Familiennachzug
im Aufenthaltsgesetz kritisiert die Linke auch an diesem
Gesetz, dass der Zuzug vom Nachweis deutscher
Sprachkenntnisse abhängig gemacht wird. Das konterkariert im Übrigen auch noch einmal den Charakter der
Härtefallregelung. Denn davon soll nach der Gesetzesbegründung beispielsweise auch der im Aussiedlungsgebiet verbliebene Abkömmling übergesiedelter Spätaussiedler profitieren können, der hilfsbedürftig geworden
ist. Der müsste jetzt also unter extrem erschwerten Bedingungen zunächst Deutsch lernen, bevor er mit Aussicht auf Erfolg das Verfahren zur Aufnahme in die Bundesrepublik betreiben kann.
Das Bundesvertriebenengesetz hat über Jahrzehnte
diejenigen ausländischen Staatsangehörigen bei der Zuwanderung nach Deutschland privilegiert, die nach Kriterien der blutsmäßigen Abstammung auf deutsche Vorfahren verweisen konnten. Damit sollte den Deutschen
eine Übersiedlung in die Bundesrepublik ermöglicht
werden, die in den sozialistischen Staaten Osteuropas
lebten. Nach 1990 wurde dieses Gesetz fortgeschrieben,
obwohl von einer Vertreibung der Deutschen nicht mehr
die Rede sein konnte. Es wäre also an der Zeit, grundsätzlich darüber nachzudenken, ob die Zuwanderung
dieser Gruppe weiterhin in einem speziellen Gesetz statt
im allgemeinen Aufenthaltsgesetz geregelt sein sollte.
Wir begrüßen die Initiative der Bundesregierung,
eine Härtefallregelung für Spätaussiedler beim Familiennachzug einzuführen. Mit der neuen Härtefallregelung soll es Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedern ermöglicht werden, bei besonderen persönlichen
Belastungen nachträglich ihren Familienangehörigen
nach Deutschland zu folgen. In welchem Ausmaß die
Neuregelung die Situation für die Betroffenen verbessern wird, muss sich noch zeigen. Insbesondere die weiterhin geforderten Deutschkenntnisse und die Einschränkung, dass nur Umstände nach der Aussiedlung
berücksichtigt werden, könnten die Anwendung der Vorschrift erheblich einschränken. Wir Grüne haben eine
Härtefallregelung immer wieder befürwortet. Es ist erfreulich, dass nun auch die Bundesregierung die große
Bedeutung des Familienzusammenlebens erkennt und
einsieht, dass das Einwanderungsrecht hierauf flexibel
eingehen muss.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Petitionsausschuss haben uns in den letzen Jahren
eine Vielzahl von Petitionen erreicht, in denen Familien
ihr schweres Leid von ungewollten Trennungen vortrugen. Die starren und restriktiven Regelungen zum Familiennachzug versperren insbesondere älteren Menschen
und Personen aus ländlichen Gebieten oder bildungsfernen Schichten den Weg zu ihren Ehegatten in Deutschland. Diese Petitionen betreffen aber nicht nur Spätaussiedler - auch in Deutschland lebende Ehegattinnen und
Ehegatten von Türken und Türkinnen, Argentiniern und
Argentinierinnen oder anderen Drittstaatsangehörigen
beklagen viel zu oft die Härten einer jahrelangen oder
dauerhaften Trennung, die das deutsche Einwanderungsrecht ihnen und vielen anderen Familien zumutet.
Eine spezielle Härtefallregelung nur zugunsten von
Spätaussiedlern zu schaffen, ist sachlich nicht begründbar. Nach der Gesetzesbegründung ist das erklärte Ziel
der Neuregelung, Härtefälle zu vermeiden, die durch
dauerhafte Familientrennungen entstehen, und dadurch
die Integration von Spätaussiedlern in Deutschland weiter zu fördern. Es gibt keinen Grund, warum dieses Ziel
nicht auch für andere binationale Familien gültig sein
soll. Auch unter Deutschen und Drittstaatsangehörigen
gibt es Familien, die durch die Trennung unzumutbar
belastet werden. Für diese Personen, denen es nicht gelingt, die strengen Voraussetzungen für den Nachzug zu
erfüllen, muss das deutsche Recht auch eine Härtefallregelung vorsehen. Wir fordern daher eine allgemeine
Härtefallregelung bei der Familienzusammenführung
im Aufenthaltsrecht.
Die spezielle Härtefallregelung im Bundesvertriebenengesetz könnte insofern als Grundlage für eine allgemeine Härtefallregelung dienen, als sie erfreulicherweise „nur“ eine „einfache Härte“ für den Familiennachzug voraussetzt. Das sollte auch bei einer allgemeinen Härtefallregelung beibehalten werden. Die im Aufenthaltsgesetz enthaltenen Sonderbestimmungen für
Härtefälle setzen bislang höhere Anforderungen an die
vorgebrachte Härte. Beim Kindernachzug wird etwa
eine „besondere Härte“ verlangt, beim Nachzug sonstiger Familienangehöriger wird der Nachzug sogar nur
zur Vermeidung einer „außergewöhnlichen Härte“ gestattet.
Eine Härtefallregelung für den Familiennachzug ist
dem deutschen Recht auch nicht ganz fremd. So enthielt
bereits das Ausländergesetz von 1990 eine Klausel, nach
der von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung
abgesehen wurde, wenn aus der Ehe ein Kind hervorgegangen oder die Ehefrau schwanger ist.
Da die Bundesregierung uns mit dem heutigen Gesetzentwurf gezeigt hat, dass sie die Schutzbedürftigkeit
von Familien anerkennt, müsste der nächste Schritt,
nämlich eine allgemeine Härtefallregelung für den Familiennachzug im Aufenthaltsrecht, in greifbarer Nähe
sein. Alles andere dürfte im Hinblick auf das Grund- und
Menschenrecht auf Familienzusammenführung und
Partnerwahl sowie im Hinblick auf das Gleichheitsgebot
nur schwer zu begründen sein.
Schließlich wächst auch der Druck aus der Europäischen Union für eine Reform des Familiennachzugs. Gerade erst hat die Kommission in einem Verfahren vor
dem EuGH über die Vereinbarkeit des niederländischen
Integrationstests im Ausland mit der Familienzusammenführungsrichtlinie erklärt, dass mangelnde Sprachkenntnisse nicht zu einer automatischen Sperre des
Nachzugs beim Familiennachzug der Kernfamilie führen
darf, die einen Nachzugsanspruch aus der Richtlinie ableiten kann.
Das Bundesvertriebenenrecht kennt seit 20 Jahren
das Instrument des gemeinsamen Aufnahmebescheides
für Spätaussiedler und ihre Abkömmlinge und Ehepartner. Dieses Verfahren knüpft an die besonders bei den
Russlanddeutschen ausgeprägten Familienbindungen
an und ermöglicht ein gemeinsames Aufnahmeverfahren
der Familien. Im Zuge der mehrjährigen Praxis haben
sich jedoch auch Härtefälle eingestellt, die die Wohlfahrts- und Vertriebenenverbände ebenso wie den Petitionsausschuss beschäftigt haben. Bis heute kommt es
immer wieder zu tragischen Fällen der Trennung von
Familien von Spätaussiedlern. Die Ursachen hierfür
sind vielfältig.
So können zum Ersten Angehörige, die sich zunächst
entschieden haben, im Herkunftsgebiet zu bleiben, zum
Beispiel weil dort noch ein Angehöriger zu versorgen
war, selbst nach schweren Schicksalsschlägen nicht
nachträglich aussiedeln. Das Gleiche gilt zum Zweiten
für Angehörige, die verschärfte Aufnahmevoraussetzungen nicht erfüllten - zum Beispiel für Ehegatten und Abkömmlinge, die nicht über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügten, wie sie seit Inkrafttreten des
Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 für die Einbeziehung in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers
erforderlich sind. Selbst der nachträgliche Erwerb entsprechender Deutschkenntnisse reicht nicht, wenn der
Volksdeutsche Angehörige bereits spätausgesiedelt ist.
Eine sachgerechte Lösung solcher Fälle ist auf der Basis
des geltenden Rechts nicht möglich, da das geltende Vertriebenenrecht keine nachträgliche Einbeziehung zulässt. Nicht einmal in Härtefällen gibt das Bundesvertriebenengesetz diese Möglichkeit.
So ist es zum Beispiel derzeit regelmäßig nicht möglich, dass ein erwachsenes Kind eines Spätaussiedlers
- entgegen seinen früheren Plänen zum Zeitpunkt der
Aussiedlung der Eltern oder Großeltern - nach Deutschland zu seinen hier lebenden Angehörigen übersiedelt.
Selbst nach tragischen familiären Entwicklungen und
Schicksalsschlägen können die Nachkommen gehindert
sein, zu ihren Eltern nach Deutschland zu ziehen. Eine
vertriebenenrechtliche Aufnahmemöglichkeit besteht
nicht einmal dann, wenn in Deutschland lebende Eltern
pflegebedürftig werden oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters gravierend unter der Trennung von ihren engsten Familienangehörigen leiden. In solchen und
ähnlichen Härtefällen will die Bundesregierung den betroffenen Familien helfen.
Durch das Gesetz sollen tragische Härtefälle vermieden werden, die durch dauerhafte Familientrennungen
Zu Protokoll gegebene Reden
entstehen. Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaussiedlern, die sich zunächst bei deren Aussiedlung entschieden hatten, im Aussiedlungsgebiet zu bleiben, soll
im Härtefall die nachträgliche Aussiedlung nach
Deutschland zu ihren Familienangehörigen ermöglicht
werden. Gleiches gilt im Härtefall für Ehegatten und
Abkömmlingen von Spätaussiedlern, die damals Aufnahmevoraussetzungen noch nicht erfüllten, diese aber jetzt
erfüllen - zum Beispiel weil sie zwischenzeitlich Grundkenntnisse der deutschen Sprache erworben haben.
Die geschilderten Beispiele zeigen: Die Ihnen vorliegende Härtefallregelung ist geboten. Sie ist erstens maßvoll. So bedeutet die nachträgliche Einbeziehung nicht
etwa den Verzicht auf die üblichen Voraussetzungen einer Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz.
Eine nachträgliche Einbeziehung kann vielmehr nur
dann erfolgen, wenn alle anderen Voraussetzungen, die
im Falle einer Einbeziehung vor Aussiedlung vorliegen
müssen, erfüllt sind. Damit sind auch weiterhin deutsche
Sprachkenntnisse erforderlich. Auch die Ausschlussgründe nach § 5 BVFG gelten ebenso uneingeschränkt,
was bedeutet, dass Personen, die ein Verbrechen begangen, den Terrorismus unterstützt oder sich gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet haben, nicht nachträglich in den Aufnahmebescheid des
hier lebenden Spätaussiedlers einbezogen werden können,
Zum Zweiten ist die hier vorgestellte Härtefallregelung sachgerecht: Der deutsche Verfassungsgeber hat
die Solidarität mit Vertriebenen, Flüchtlingen und deren
Ehegatten und Abkömmlingen in Art. 116 Abs. 1 des
Grundgesetzes verankert. Deutschland hat damit seine
dauerhafte historische Verantwortung gegenüber den
Menschen manifestiert, die als Deutsche in Osteuropa
und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehemaligen
Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges
gelitten haben. Dies gilt heute insbesondere noch für die
Deutschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen
Sowjetunion, bei denen das Kriegsfolgenschicksal am
längsten nachgewirkt hat.
Auch die Bundesländer befürworteten die Schaffung
einer neuen Härtefallregelung im Grundsatz. Sie haben
allerdings die Forderung erhoben, die Wirksamkeit der
nachträglichen Einbeziehung gesetzlich zu befristen.
Die Bundesregierung verschließt sich der Absicht der
Länder nicht, missbräuchliche Handhabungen und zeitlich unkalkulierbare Zuzüge von Familienangehörigen
zu unterbinden. Die Bundesregierung hält allerdings die
vorgeschlagene Lösung des automatischen Erlöschens
der nachträglichen Einbeziehung nach Ablauf von drei
Jahren für nicht sachgerecht. Es sind einerseits Fälle
denkbar, in denen bereits kurz nach Erteilung eines
nachträglichen Einbeziehungsbescheides kein Härtefall
mehr zu begründen ist. Andererseits sind auch Fälle
denkbar, in denen auch noch nach Ablauf von drei Jahren weiterhin ein Härtefall vorliegt. Hier wollen wir dem
von den Ländern formulierten Anliegen durch untergesetzliche Regelungen Rechnung tragen, zum Beispiel
flexible Handhabung ermöglichen. Ich denke hier zum
Beispiel an eine Befristung des nachträglichen Einbeziehungsbescheides mit der Möglichkeit für den Betroffenen, seine spezielle Situation noch einmal darzulegen,
bevor der Einbeziehungsbescheid endgültig verfällt.
Zu guter Letzt: Die hier vorgestellte Härtefallregelung hat keine unüberschaubare Welle neuer Spätaussiedlung zur Folge. Sie ist nicht Teil einer Zuwanderungspolitik; sie soll auch nicht als ein Teil davon
verstanden werden. Sie ist vielmehr Teil des bis in unsere
Tage fortreichenden Bemühens aller bisherigen Bundesregierungen, sich der Verantwortung Deutschlands im
Blick auf die Folgen des Nationalsozialismus und des
Zweiten Weltkrieges für die stärkst betroffenen deutschen Minderheiten zu stellen. Die Härtefallregelung
verdient daher unserer aller Unterstützung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5515 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hände weg von der Initiative „JUGEND
STÄRKEN“
- Drucksache 17/6393 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Mit dem vorliegenden Antrag kommt die Fraktion Die
Linke genau eine Woche zu spät. Bereits in der zurückliegenden Plenarwoche haben wir einen SPD-Antrag
debattiert, der nahezu identische Forderungen beinhaltete. Die Position meiner Fraktion hat sich seit der letzten Woche nicht verändert. Es wäre sinnvoll und effektiv
gewesen, Sie hätten den Antrag zurückgezogen. Bereits
in den letzten Wochen haben wir festgestellt, dass die
Forderungen an den Tatsachen vorbeigehen. Daran hat
sich auch eine Woche später nichts geändert. Es ist daher nur konsequent, Ihnen das zu sagen, was ich bereits
zu dem Thema ausgeführt habe.
Mit der Initiative „Jugend Stärken“ hat das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend seine
bereits bestehenden Programme für benachteiligte junge
Menschen und Jugendliche mit Migrationshintergrund
erheblich gebündelt und geschärft. Gleichzeitig ist es
gelungen, die bestehenden Programme besser aufeinander abzustimmen und sie zum Teil erheblich auszubauen.
Die Initiative „Jugend stärken“ bündelt dabei die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“, die
„Kompetenzagenturen“, das Programm „Stärken vor
Ort“ sowie die Jugendmigrationsdienste.
Bundesweit bilden mehr als 1 000 Standorte der Initiative ein flächendeckendes Netzwerk an Angeboten
und Strukturen. Mit den Programmen ist die Bundesregierung neue Wege gegangen. Benachteiligte junge
Menschen, die bei ihrer Lebensplanung zu scheitern
drohen, erhalten mithilfe der Programme kompetent und
einfühlsam die Hilfe, die sie brauchen, um in ihrem Alltag künftig besser zu bestehen. Einer der Schwerpunkte
liegt dabei unter anderem auf den Jugendmigrationsdiensten. Wir wollen damit junge Migrantinnen und
Migranten begleiten und sie bei der Integration in die
Gesellschaft unterstützen. Es hat sich dabei ein beachtliches Netzwerk gebildet, das jungen Migranten wirksam und unbürokratisch weiterhilft. Dies ist ein voller
Erfolg.
Mit den Programmen werden junge Menschen dort
abgeholt, wo sie sind. Gerade die unbürokratische und
behutsame Herangehensweise stellt sicher, dass junge
Menschen die Angebote als ehrlich und auf Augenhöhe
empfinden. Dies ist der Schlüssel zur Akzeptanz bei den
Betroffenen und damit auch zum konkreten Erfolg der
Programme.
Einer der Schwerpunkte der Initiative ist dabei die
Aktivierung der Stärken junger Menschen. Nicht selten
geht es darum, bestehende Stärken zu wecken, sie förmlich wieder zu beleben und den Jugendlichen den Glauben an sich selbst zurückzugeben. Dies gelingt nicht selten in beachtlicher Art und Weise. Gleichzeitig wird das
Umfeld der Betroffenen angeregt und dabei unterstützt,
sich für die Perspektiven junger Menschen aktiv einzusetzen. Und erfreulicherweise bedarf es dazu oft keiner
großen Überredungskunst. Der Punkt ist viel häufiger,
dass es einfach jemanden geben muss, der sein Umfeld
mitzieht und neue Impulse gibt.
Besonders erfreulich ist die geschickte Abstimmung
der Programme auf die tatsächlichen Bedürfnisse benachteiligter Jugendlicher. Das Programm „Aktiv in der
Region“ zielt auf ein möglichst lückenloses Fördersystem, um den Übergang von der Schule in das Berufsleben, wo es leider häufiger Probleme gibt, zu vereinfachen und gleichzeitig wichtige Starthilfe zu geben. Dies
geschieht auch in wohlverstandenem Interesse des Steuerzahlers. Denn ein geglückter Einstieg in das Berufsleben kann helfen, hohe Kosten für den Sozialstaat zu sparen.
Das Programm „Schulverweigerung - Die
2. Chance“ soll erreichen, dass junge Menschen, die
den Besuch der Schule verweigern, eine neue Perspektive erhalten, mit dem Ziel, sie wieder in die Schulen eingliedern zu können, damit sie einen Abschluss machen
können und ihre Chance auf ein beruflich erfolgreiches
Leben nicht frühzeitig aufgeben. Dies passiert nicht im
luftleeren Raum, sondern in enger Abstimmung mit Eltern und Lehrkräften. Damit wird erreicht, dass die Fördermaßnahmen auch tatsächlich auf den Bedarf jedes
Einzelnen abgestimmt sind.
Die Kompetenzagenturen hingegen unterstützen besonders benachteiligte Jugendliche. Hierbei geht es
häufiger über die Frage hinaus, einen Beruf zu finden.
Häufig geht es darum, den Jugendlichen dabei zu helfen,
einen Weg in die Gesellschaft zurückzufinden. Gerade
diejenigen, die vom bestehenden System der Hilfeangebote beim Übergang von der Schule in den Beruf nicht
mehr erreicht werden, erhalten hier engagierte und persönliche Hilfe. Für den Einsatz möchte ich mich im Namen meiner Fraktion bei Ministerin Schröder herzlich
bedanken.
Es lohnt sich, noch einmal genau auf die Faktenlage
zu schauen: Im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens
der Programme „Kompetenzagenturen“ und „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ hat das Familienministerium Ende Mai entschieden, die bisher zur Verfügung
stehenden ESF-Mittel von 50 auf 80 Millionen Euro für
den Förderzeitraum September 2011 bis Ende 2013 zu
erhöhen und sämtliche 409 förderfähigen Träger, die
sich am Interessenbekundungsverfahren beteiligt haben,
zur Antragstellung zuzulassen. Damit erhalten von insgesamt 430 Antragstellern nur 21 aus fachlichen, nicht
aus finanziellen Gründen eine Absage.
Die Antragsaufforderung erfolgte am 31. Mai 2011
durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Bis 1. Juli haben die Träger noch Zeit,
ihren Antrag einzureichen. Danach erfolgt das Bewilligungsverfahren, sodass ab September mit einer nahtlosen Weiterförderung zu rechnen ist. Niemand wird dabei
im Regen stehen gelassen.
Die zur Verfügung stehenden ESF-Mittel von 80 Millionen werden in einem gerechten Verfahren auf Grundlage der ESF-Anforderungen auf die Länder verteilt. Da
die zur Verfügung stehenden Fördermittel nicht ausreichen, um die 409 förderfähigen Träger mit der im Interessenbekundungsverfahren angegebenen Fördersumme
zu fördern - durch die Träger wurden Mittel von mehr
als 100 Millionen Euro beantragt -, mussten die beantragten Mittel teilweise gedeckelt werden, sofern die
Mittel für das Zielgebiet und das entsprechende Bundesland erschöpft waren. Dies ist nichts Unübliches, im Gegenteil, es ist Bestandteil eines üblichen Antragsverfahrens.
Sämtliche Interessenbekundungen für die ESF-Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ wurden nach einem einheitlichen Bewertungsverfahren geprüft. Die fachlich-inhaltliche Bewertung erfolgte durch ein objektives Bewertungsraster und wurde unabhängig von zwei Prüfern
durchgeführt. Die beiden Einzelbewertungen waren
Grundlage für die Gesamtbewertung. Die Deckelung
einzelner Träger ist nach der im Bewertungsverfahren
erreichten Punktzahl und somit nach der Qualität der
Interessenbekundungen erfolgt.
Voraussetzung für eine Förderung und somit Aufforderung zur Antragstellung war das Erreichen einer Mindestpunktzahl. Förderwürdig waren insofern nur Interessenbekundungen, die mindestens 50 Prozent der
möglichen Punkte erreicht haben. Da es sich dabei um
Fördersummen im sechsstelligen Bereich handelt, ist es
ein Gebot der Verantwortung gegenüber den Steuerzahlern, eine maßvolle Vergabe von Steuermitteln zu praktizieren, die sich auf Qualitätsstandards gründet und nicht
einfach wahllos Gelder mit der Gießkanne verteilt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Damen und Herren von der Linken greifen mit
der von ihnen gemachten Forderung nach Bereitstellung
von Mitteln in gleichbleibender Höhe wie in der Förderperiode eindeutig zu kurz. Sie verkennen, dass es nicht
um eine Eins-zu-eins-Weiterförderung bestehender
Standorte geht, sondern die Programme mit neuer Aktzentsetzung ausgeschrieben wurden und eine Bewerbung der Träger erforderlich ist, die bestimmten Qualitätskriterien unterliegt. Wie gesagt: Erst wenn die
Qualität stimmt, wird ein Bescheid erteilt.
Aktuell werden die Programme „Schulverweigerung Die 2. Chance“ an 192 Standorten durch 173 Träger
und das Programm „Kompetenzagenturen“ an 204
Standorten durch 200 Träger - insgesamt 396 Standorte,
373 Träger - umgesetzt. Im Rahmen der neuen Ausschreibung wurden alle 409 förderfähigen Träger zur
Antragstellung aufgefordert, die insgesamt 408 Standorte, also 208 „Kompetenzagenturen“ und 200 Koordinierungsstellen der „2. Chance“ bedienen. Damit werden ab September 2011 sowohl auf Trägerebene als auch
nach Standorten mehr Aktivitäten als in der aktuellen
Förderphase gefördert. Wenn Sie dann davon schwadronieren, dass das Ende dieses Unterstützungsangebotes
eingeleitet werden würde, dann zeigt das, dass es Ihnen
um die Sache nicht geht, sondern vielmehr um das Bedienen von alten Klischees.
Ihre Forderung, eine Kofinanzierung aus dem SGB II/III
über den 1. Januar 2012 hinaus zu ermöglichen, liegt
neben der tatsächlichen Situation. Die Kofinanzierung
des Programms „Kompetenzagenturen“ aus SGB-II/IIIMitteln ist ab dem 1. Januar 2012 nicht mehr möglich.
Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII obliegt - wie Sie
wissen - den Kommunen, die für die Umsetzung des
SGB VIII zuständig sind. Im Hinblick auf die gewünschte Verstetigung des Angebots und zur Stärkung
der kommunalen Verantwortung sollen daher die erforderlichen Kofinanzierungen in erster Linie aus kommunalen Mitteln erbracht werden. Die nach einer Übergangszeit bis Ende 2011 auslaufende Möglichkeit der
20-prozentigen Kofinanzierung aus Mitteln des Zweiten
und Dritten Buches Sozialgesetzbuch trägt diesem Anliegen Rechnung.
Zudem kann künftig ergänzend auch eine Kofinanzierung aus dem Bundesprogramm der Jugendmigrationsdienste erbracht werden. Jugendmigrationsdienste und
Kompetenzagenturen weisen sowohl hinsichtlich der
Zielgruppe als auch bei den angewendeten Instrumenten
und Arbeitsmethoden eine große Schnittmenge auf. Daher ist beabsichtigt, mit beiden Einrichtungen näher zusammenzurücken. Ein erster Schritt zur Synergie ist die
mit der neuen Ausschreibung zugelassene Möglichkeit
der nationalen Kofinanzierung aus der Bundeszuwendung der Jugendmigrationsdienste, mit der die Zusammenarbeit vor Ort positiv befördert werden soll.
Ihre Forderung, das Programm für die Träger zukünftig transparenter zu gestalten, deckt sich ebenfalls
nicht mit den Tatsachen. Vielmehr war es doch so, dass
die Träger im zweistufigen Ausschreibungsverfahren
laufend über die ESF-Regiestelle und das Bundesamt für
Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben informiert
worden sind. Neben schriftlichen Informationen, die für
alle Träger relevant waren, bestand jederzeit die Möglichkeit, auch telefonisch individuelle Beratung zu erhalten. Die Länder wurden ebenfalls sowohl in die Mittelverteilung als auch in den Auswahlprozess der
Standorte mit einbezogen.
Wichtig für die Arbeit vor Ort ist daher in meinen Augen ganz besonders die Botschaft, dass beide Programme, also sowohl das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ als auch das Programm
„Kompetenzagenturen“, in Zukunft weitergeführt werden. Dies ist nicht zuletzt dem Erfolg und der Qualität
der Programme geschuldet, wofür der Bundesregierung
noch einmal ein herzlicher Dank gebührt.
Ein wichtiges Signal ist zudem, dass alle förderfähigen Antragsteller bereits ihre Anträge erhalten haben.
Ich bin sicher, dass es gelingen wird, das flächendeckend aufgebaute Hilfesystem der Initiative „Jugend
stärken“ zu erhalten, und dies auf hohem Niveau. Diese
Bundesregierung hat sich die Förderung benachteiligter
Kinder in enger Partnerschaft mit den Kommunen zum
Ziel gemacht und wird diesen Weg konsequent weiter beschreiten. Ihr Antrag hingegen läuft den Entwicklungen
hinterher, ihre spekulativen Forderungen sind für die
Antragstellung zudem irrelevant und keinerlei Hilfe für
die Arbeit vor Ort. Ihren Antrag werden wir daher auch
ablehnen. Die christlich-liberale Regierung kümmert
sich stattdessen mit Hochdruck darum, dass alle Förderbescheide in den kommenden Wochen erteilt werden, damit die Arbeit im September nahtlos fortgeführt werden
kann.
Nachdem wir in der vergangenen Woche den Antrag
der SPD-Bundestagsfraktion zu den Programmen
„Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ beraten haben, beraten wir nun den Antrag der Fraktion die Linke.
Insgesamt fünf Modellprogramme sind unter dem
Dach der Initiative „Jugend stärken“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0}) zusammengefasst. Ende 2010 gab das
BMFSFJ das Aus für das Programm „Stärken vor Ort“
bekannt. Für zwei weitere Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ verkündete es, dass diese im Jahr 2011 neu ausgeschrieben
werden sollen. Obwohl die Förderphase ursprünglich
bis ins Jahr 2013 geplant war.
Im Februar 2011 rückte das BMFSFJ dann mit einer
gravierenden Änderung heraus: Im Zuge der Neuausschreibung sollten die Mittel aus dem Europäischen
Sozialfond ({1}) für die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ um
die Hälfte gekürzt werden. Zusätzlich soll für das Programm „Kompetenzagenturen“ die bis zu 20-prozentige
Kofinanzierung über den SGB-II- und SGB-III-Bereich
ab Januar 2012 entfallen.
In der letzten Maiwoche setzte die zuständige Ministerin Schröder nach vehementen Protesten der TrägerZu Protokoll gegebene Reden
organisationen kurzerhand die ESF-Mittel für die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ von 50 Millionen Euro auf
80 Millionen Euro hoch. Die SPD-Bundestagsfraktion
hat das aus einer Pressemitteilung des Ministeriums erfahren. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich das Heraufsetzen der Fördersumme. Dennoch liegt
der jahresdurchschnittliche Fördermittelbetrag in der
neuen Programmphase von 2011 bis 2013 nur noch bei
34,29 Millionen Euro. Das ist eine Kürzung der Förderung um über 13 Millionen Euro pro Jahr, beziehungsweise um 28 Prozent.
Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass die Fördersumme auf die bisherige Höhe von 112 Millionen Euro
aufgestockt wird. Für uns ist nicht nachvollziehbar, warum das BMFSFJ die ESF-Mittel an dieser Stelle um fast
ein Drittel kürzt.
Aktuell werden rund 40 000 junge Menschen bundesweit durch 192 Anlauf- und Beratungsstellen für das
Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ sowie
204 Kompetenzagenturen unterstützt. Es zeichnet sich
ab, dass Länder und Kommunen alleine die drohende
Finanzierungslücke nicht auffangen können. In der Konsequenz bedeutet dies, dass durch die Kürzung der Mittel entweder die Anzahl der Standorte oder die Qualität
der Arbeit vor Ort gefährdet ist.
Logisch zu begründen ist die Kürzung nicht. Beide
Programme werden vom BMFSFJ hochgelobt und haben eine außergewöhnlich hohe Erfolgsquote, weil es
sich um Programme der aufsuchenden Sozialarbeit handelt. 60 Prozent der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher erreichen mit dem Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ einen Schulabschluss. Die
„Kompetenzagenturen“ bringen rund 70 Prozent der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Job oder Ausbildung. Auch eine Änderung der Förderschwerpunkte in
der Europäischen Union betrifft diese Programme nicht.
Soweit ich dem Protokoll der 117. Sitzung entnehmen
kann, teilen alle Fraktionen im Deutschen Bundestag
die Auffassung, dass die Programme unter dem Dach
der Initiative „Jugend stärken“ außerordentlich erfolgreich sind. Die Menschen in den Trägerorganisationen
leisten hier eine außerordentlich wichtige und engagierte Arbeit.
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die Kürzung für
die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“
und „Kompetenzagenturen“ ab. Sie fordert, ESF-Mittel
in Höhe von mindestens 112 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Außerdem fordert die SPD-Bundestagsfraktion, eine 20-prozentige Kofinanzierung beim Programm „Kompetenzagenturen“ auch über den 1. Januar
2012 hinaus zu ermöglichen.
Ich möchte an dieser Stelle auf einige Behauptungen
von Schwarz-Gelb eingehen. Es ist falsch, wenn behauptet wird, die Programme seien ohnehin nur bis 2011 gelaufen. Richtig ist, dass die ESF-Förderperiode bis 2013
reicht und dass die Trägerorganisationen stets davon
ausgingen, beide Programme würden bis 2013 laufen.
So wurden die Programme auch ursprünglich ausgeschrieben. Schon die Neuausschreibung der Programme
hatte die Trägerorganisationen misstrauisch gemacht,
sodass sie sich an uns gewandt haben. Wir haben daraufhin eine Kleine Anfrage gestellt und mit der Antwort
erste wichtige Informationen erhalten.
Es ist weiterhin falsch, zu behaupten, es würden alle
Standorte erhalten bleiben. Wir haben bereits erste Informationen, wonach sich Kompetenzagenturen nicht mehr
am Antragsverfahren beteiligen werden, weil sie die Kofinanzierung nicht hinbekommen. Hier ging es insbesondere um die wegfallenden Mittel aus der SGB-IIKofinanzierung.
Auch die Eröffnung der Kofinanzierung über die Jugendmigrationsdienste ist kein geeigneter Weg. Es bleibt
ohnehin bei einer Kürzung; denn die Mittel, die aus den
Jugendmigrationsdiensten für Kompetenzagenturen entzogen werden, fehlen dann bei den Jugendmigrationsdiensten.
Der vorgelegte Antrag der Fraktion die Linke enthält
viele Forderungen der SPD-Bundestagsfraktion. In einem Punkt geht er aber deutlich weiter, nämlich in dem
Verlagen, diese Programme dauerhaft im Kinder- und
Jugendhilfeplan des Bundes zu verstetigen.
Darüber werden wir im Ausschuss zu beraten haben.
Wir werden beide Anträge gemeinsam nach der Sommerpause beraten. Vielleicht gibt es bis dahin positive
Neuigkeiten von den Koalitionsfraktionen. Bei ESF-Mitteln bleibt stets die Hoffnung, dass Mittel umgeschichtet
werden könnten. Es wäre begrüßenswert, wenn nicht abgerufene Mittel in diese wichtigen Programme fließen.
Aber noch wichtiger wäre die Ermöglichung der Kofinanzierung im SGB II und SGB III über den 31. Dezember 2011 hinaus.
Seit 2009 fördert das BMFSFJ gezielt junge Menschen, die auf ihrem Weg durch Schule und Berufsausbildung in Schwierigkeiten geraten sind. In der Initiative
„Jugend stärken“ bündelt das Ministerium die fünf Teilprogramme „Jugend stärken: Aktiv in der Region“,
„Schulverweigerung - Die 2. Chance“, „Kompetenzagenturen“, „Stärken vor Ort“ sowie die „Jugendmigrationsdienste“. Diese Teilprogramme richten sich gezielt an solche Jugendliche, die von regulären Hilfsangeboten in Schule oder Jobcenter nur noch unzureichend oder gar nicht mehr erreicht werden.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke bezieht sich in erster Linie auf die beiden Teilprogramme
„Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Stärken vor
Ort“. Das Programm für Schulverweigerer unterstützt
junge Menschen bei der Reintegration in einen geregelten Schulalltag und gibt ihnen so eine zweite Chance auf
einen Schulabschluss. „Stärken vor Ort“ setzt daneben
voll auf das Prinzip der Subsidiarität in der Jugendförderung, indem es Mikroprojekte zur ganzheitlichen - das
heißt schulischen, sozialen und beruflichen - Integration bezuschusst.
Den Programmen der Initiative „Jugend stärken“
wurde in der jüngeren Vergangenheit große - vor allem
Zu Protokoll gegebene Reden
auch mediale - Aufmerksamkeit gewidmet. Leider resultierte diese Aufmerksamkeit nicht aus dem Erfolg der
Programme. Erfolgreich waren sie allesamt, und ich
hätte mir sehr gewünscht, dass dieser Erfolg auch einmal angemessen in der Öffentlichkeit honoriert wird.
Doch dem war nicht so. Aufmerksamkeit erfuhr die Initiative „Jugend stärken“ erst, als manche Vertreter der
Opposition und der Medien offenbar völlig überraschend die Nachricht ereilte, dass die Programme wie
geplant im August 2011 auslaufen sollten. Das muss einige wirklich völlig unerwartet getroffen haben. Dabei
hilft es einem als Jugendpolitiker an der ein oder anderen Stelle durchaus weiter, sich mit den Förderplänen
des Ministeriums auseinanderzusetzen. Da Sie dies aber
offenbar nicht getan haben, möchte ich Ihnen gerne auf
die Sprünge helfen:
Die Programme der Initiative „Jugend stärken“ werden bis auf die Jugendmigrationsdienste vollständig aus
Mitteln des Europäischen Sozialfonds, ESF, finanziert.
Sie waren von Anfang an bis zum Sommer 2011 angelegt, und das war allen Beteiligten auch lange bekannt.
Es kann also gar keine Mittelkürzungen seitens der Bundesregierung oder des BMFSFJ gegeben haben, wie von
ihnen behauptet, weil sich an der Höhe der ESF-Mittel
rein gar nichts verändert hat. Die Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds sind für mehrere Jahre fest vereinbart worden. Ist das Geld aufgebraucht, kommt auch
keines mehr nach. Danach ist der Topf leer.
Nichtsdestotrotz hat sich meine Fraktion schon zu einem Zeitpunkt für eine Anschlussfinanzierung eingesetzt, als andere noch fleißig Pressemitteilungen verschickt haben. Entsprechende Gespräche zwischen den
Koalitionsfraktionen und den beteiligten Ministerien
fanden über Wochen hinweg statt. Dass uns dabei eine
Fortführung der Programme gelungen ist, ist ein toller
Erfolg, aber die Programme können nur deshalb fortgeführt werden, weil ursprünglich nicht vorgesehene
Rückflüsse von ESF-Mitteln hierfür aufgewendet werden.
Auch wenn Sie davon nichts mitbekommen haben
wollen, so hätten Sie spätestens am 31. Mai auf der Website des BMFSFJ erfahren können, dass alle Teilprogramme der Initiative „Jugend stärken“ bis 2013 verlängert werden. Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, kommt Ihr Antrag genauso zu spät wie der Antrag Ihrer Kollegen von der
SPD in der letzten Woche. Es stellt sich bei mir unweigerlich das Bild ein, dass es Ihnen weniger um die Programme an sich geht als vielmehr um ein letztes bisschen Aufmerksamkeit. Denn wenn es Ihnen tatsächlich
um die Programme geht und Sie in Ihrem Antrag fordern, dass die Finanzierung in mindestens gleichbleibender Höhe gewährleistet bleiben soll, dann hoffe ich
auch sehr, dass Sie im Rahmen der Ausschussberatung
die Gegenfinanzierung Ihrer Forderungen einmal ausführlich präsentieren. Bis zum heutigen Tage haben Sie
aber leider in keinem einzigen Politikfeld mit konstruktiven Finanzierungsvorschlägen glänzen können.
Die Bundesregierung plant Kürzungen im Bereich
der Initiative „Jugend stärken“. Diese Initiative unterstützt Jugendliche beim Übergang von Schule und Ausbildung in den Beruf oder hilft schulfremd gewordenen
Jugendlichen zurück in den Schulalltag. Die beiden Teilprogramme „Schulverweigerung - Die zweite Chance“
und „Kompetenzagenturen“ sollen nun ab September
mit nur noch einem Teil der Fördersumme auskommen.
Das Teilprogramm „Stärken vor Ort“ wird ganz gestrichen.
Weshalb streicht die Bundesregierung ihr eigenes,
sehr erfolgreiches Programm zur Unterstützung Jugendlicher derart zusammen? Besteht kein Interesse mehr an
der Förderung benachteiligter Jugendlicher? Durch die
Kürzungen wird sich die Lage an den Standorten um
rund 28 Prozent verschlechtern. Es gibt weniger Personal bei gleichbleibender Belastung. Wie soll da die Qualität aufrechterhalten werden? Was wird aus dem angestrebten Netzwerk von 1 000 Standorten, das ab 2013
aus Mitteln des Bundes und des ESF entstehen sollte?
Bei andauernder Unterfinanzierung wird auch dies wohl
nicht verwirklicht werden können. Angesichts der Kürzungen wird die ohnehin schon komplizierte Kofinanzierung der Stellen weiter erschwert. Es ist keine Rede
mehr davon, die Schnittstellenprobleme in der Jugendhilfe abzubauen, wie es im Koalitionsvertrag der regierenden Parteien heißt.
Bisher werden fast 40 000 Jugendliche individuell
und zielgenau durch die Initiative „Jugend stärken“ begleitet. Sie werden auf Augenhöhe angesprochen, sie bekommen ihre eigenen Stärken gespiegelt, und ihr Umfeld
wird aktiviert. Zusätzlich sprechen die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der rund 400 Standorte der Programme
„Kompetenzagenturen“ und „Schulverweigerung - Die
zweite Chance“ mit den Jugendämtern, Schulen, Betrieben, Jobcentern und Arbeitsagenturen. Sie entwickeln
einen Integrationsplan, und entwickeln mit den Jugendlichen Strategien, damit Probleme in der Familie oder in
der Schule erst gar nicht mehr auftreten, damit die Jugendlichen einmal ein Leben ohne Transferleistungen
gestalten können, ganz individuell. Die Arbeit muss getan werden, will man den erfolgreichen Kurs weitergehen.
Was macht also ein Jugendlicher in Zukunft, wohnungslos, ohne Schulabschluss? Was würde passieren,
wenn die Programme nicht mehr ausreichend ausgestattet sind? Es gibt niemanden mehr, der ihm hilft, den Weg
zu finden, seine Probleme kennt und hilft, sie zu lösen.
Dieser Jugendliche wäre ohne eine konkrete Anlaufstelle wieder sich selbst überlassen. „Jugend stärken“
ist im Ganzen eine erfolgreiche Initiative, und ich bin
überrascht, dass die Ministerin sich nicht mit mehr
Verve für seinen Erhalt einsetzt.
Wie hat die Bundesregierung informiert? Sie hat die
Kürzungen als Ausgabensteigerung verkauft, ein X für
ein U vorgemacht. Erst nach Protesten der Sozialverbände wie zum Beispiel dem Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit, erst nachdem die Oppositionsparteien
- und insbesondere Die Linke - nachgehakt haben, wurZu Protokoll gegebene Reden
den in der letzten Maiwoche die Mittel von 50 Millionen
Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt. Dadurch wurde
das Ende des Teilprogrammes „Stärken vor Ort“ besiegelt, ebenso von 200 Programmstandorten, wie der Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit schätzt.
Es reicht eben nicht, darauf zu verweisen, dass es nur
ein unwahrscheinliches Glück gewesen sei, dass Mittel
aus dem ESF zurückgeflossen sind. Denn wenn es um
die Lebenschancen Jugendlicher geht, wenn es darum
geht, ihnen den Zugang zu Bildung und Arbeit zu ermöglichen, dann müssen wir das möglich machen. Das heißt,
sich dafür zu entscheiden, Mittel einzustellen, die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen und das Programm
„Jugend stärken“ auch in Zukunft im vollen Umfang
fortzuführen. Letztlich konterkariert die Bundesregierung ihre eigene Maßgabe, benachteiligte junge Menschen zu stärken. Sie gibt sie verloren, und das auf
Dauer. Die Kürzungen stehen im Widerspruch zu den jugendpolitischen, arbeitsmarktpolitischen und bildungspolitischen Zielen der Bundesregierung. Man kann sich
nur wundern, dass Sie das Ruder aus der Hand geben.
Nun zu unseren Forderungen. Wir sind nicht die Einzigen, die den Erhalt der Initiative „Jugend stärken“
fordern. Wir möchten allerdings mehr als SPD, Grüne,
CDU/CSU und FDP. Wir wollen, dass das Programm im
vollen Umfang erhalten bleibt und verstetigt wird.
Es sind vier einfache Punkte, die unserer Ansicht
nach notwendig sind: Erstens. Die Finanzierung der Initiative „Jugend stärken“ muss sichergestellt werden,
und zwar in gleichbleibender Höhe wie in der letzten
Förderperiode. Zweitens. Die Kofinanzierung der Programme durch Jobcenter und Agenturen für Arbeit muss
über den gesamten Förderzeitraum bis Ende 2013 weiterhin möglich sein. Drittens. Die Finanzierung der Programme muss dauerhaft über den Etat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
gesichert werden. Viertens. Die Programme der Initiative „Jugend stärken“ müssen transparent gestaltet werden. Sie müssen über Mittelherkunft, Mittelhöhe, Vergabekriterien und Mittelverwendung eindeutig informieren
und Trägern wie Betroffenen einen Überblick über die
Unterstützungsangebote bieten.
Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir stehen für eine
eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe
und eine starke Jugendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre Potenziale fördert und ausbaut. Wir
wollen Jugendliche beim Übergang von Ausbildung in
den Beruf besser unterstützen. Wir betonen die zentrale
Bedeutung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung
für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Es gilt die neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Jugend, Kultur und Schule zu nutzen und qualitativ und
quantitativ auszubauen.“ Das kann man unterschreiben! Doch bitte fangen Sie endlich an, danach zu handeln! Sie sind in der Verantwortung dafür, dass jeder
junge Mensch mit ganzer Kraft dahin gehend gefördert
wird, dass ihm die bestmöglichen Chancen für sein zukünftiges Leben bereitgestellt werden.
Wir erleben derzeit, wie sich die soziale Kluft in
Deutschland immer weiter vertieft. Dies gilt gerade für
die junge Generation: einer gut ausgebildeten Gruppe
junger Menschen, die vor dem Hintergrund der aktuellen positiven wirtschaftlichen Entwicklung hervorragende Berufsperspektiven hat, steht eine benachteiligte
Gruppe gegenüber. Viele dieser jungen Menschen sind
in den Arbeitsmarkt nicht integriert, sodass der Weg in
die Langzeitarbeitslosigkeit vorgezeichnet ist. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung betrifft dies 17 Prozent der Jugendlichen. Sie befinden sich in nutzlosen
Warteschleifen, die zu selten individuelle Defizite der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer beheben, und haben
keine wirkliche Chance auf die Integration in den Arbeitsmarkt.
Vor diesem Hintergrund kommt der Initiative „Jugend stärken“ eine besondere Bedeutung zu. Hier ist es
mit Erfolg gelungen, junge Menschen auf ihrem Weg zu
ihrem Schulabschluss und bei ihrem Übergang in den
Beruf zu unterstützen.
Verschiedene Sozial- und Jugendverbände haben vor
Kürzungen des Programms zu Recht gewarnt und darauf
hingewiesen, dass viele der dringend förderbedürftigen
jungen Menschen demnächst ohne Hilfe und Unterstützung bleiben und auch die in den letzten Jahren entstanden Netzwerkstrukturen für die Förderung junger Menschen in den Regionen geschwächt werden. Und um es
noch einmal zu betonen: Hier geht es gerade um die
Gruppe von Jugendlichen, für die Verlässlichkeit und
Kontinuität am Wichtigsten sind.
Die Bundesregierung schreibt sich im Koalitionsvertrag auf die Fahnen, dass vor Ort Bildungsbündnisse aller relevanten Akteure - Kinder- und Jugendhilfe, Eltern,
Schulen, Arbeitsförderung sowie Zivilgesellschaft - gefördert werden sollen. Und mehr noch: Alle Jugendlichen sollen dabei unterstützt werden, einen Schulabschluss zu erreichen und eine Ausbildungsstätte zu
finden. Die Koalitionspartnerinnen, so heißt es, stünden
für eine eigenständige Jugendpolitik und eine starke Jugendhilfe. Denn: Junge Menschen sollen teilhaben können und ihre Potentiale müssen gefördert und ausgebaut
werden. Leider stehen diese Ankündigungen nur auf dem
Papier, das konkrete Handeln der Bundesregierung
weist eher in die andere Richtung. Natürlich muss verstärkt und präventiv in die frühe Bildung und den Elementarbereich investiert werden, aber doch nicht zulasten der jetzt unterstützungsbedürftigen Jugendlichen.
Vor dem Hintergrund der Europa-2020-Strategie ist
im Rahmen der Nationalen Qualifizierungsinitiative die
Verringerung der Zahl der Schulabbrecherinnen und
Schulabbrecher von 8 auf 4 Prozent bis 2012 das erklärte Ziel. Davon ist die Bundesrepublik mit einem Prozentsatz von 7,5 Prozent zurzeit weit entfernt. Dieser
Missstand bei den Abbrecherquoten bewirkt, dass ein erheblicher Teil der Jugendlichen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen ist. Auch wirtschaftlich
ist dieser Umstand angesichts des steigenden Bedarfs an
gut ausgebildeten Fachkräften schädlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist unverantwortlich, dass die Bundesregierung
nicht bereit ist, „Jugend stärken“ als wichtiges Unterstützungsangebot für junge Menschen in wenigstens
gleichbleibendem Umfang weiterzuführen und ausgerechnet in diesem Bereich kürzen will. Dies gilt insbesondere, wenn zu gleicher Zeit über die Möglichkeit von
Steuersenkungen schwadroniert wird.
Wir können daher den Antrag der Linken unterstützen, wonach die Finanzierung der Initiative „Jugend
stärken“ in mindestens gleichbleibender Höhe gewährleistet werden muss.
Wir fordern die Regierung auf, ihre Politik der Einsparungen im Sozialbereich zu beenden und angemessen
auf sozialpolitische Herausforderungen zu reagieren.
Wir stehen auf der Seite der benachteiligten Jugendlichen und wehren uns entschieden gegen die Pläne der
Bundesregierung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6393 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
11. Oktober 1985 zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur
- Drucksache 17/5263 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
- Drucksache 17/6231 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Joachim Günther ({1})
Ute Koczy
Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur,
MIGA, wurde als jüngste Tochter der Weltbankgruppe
durch das Übereinkommen vom 11. Oktober 1985 gegründet. Ihre Aufgabe ist es, ausländische Direktinvestitionen in Schwellen- und Entwicklungsländern gegen
politische Risiken wie Enteignung, Krieg, Devisentransferbeschränkungen sowie Vertragsbruch seitens der Regierung des Investitionsstandortes abzusichern. Sie ist
damit ein sehr wichtiges Förderinstrument der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung beginnt, wenn die Wirtschaft investiert, und wir haben entwicklungspolitisch erfolgreich gearbeitet, wenn eine Region für Investoren interessant wird. Trotzdem bleiben
für Investoren abschreckende Risiken, die durch die
MIGA abgefedert werden sollen.
Es ist ein selbstverständlicher Vorgang, nach einer
gewissen Zeit die Wirksamkeit der geschaffenen Instrumente zu überprüfen und an veränderte Bedingungen
bzw. Bedürfnisse anzupassen. So muss auf praktische
Erfahrungen reagiert werden, wenn man erfolgreich
bleiben oder noch erfolgreicher werden will.
Im Übereinkommen von 1985, das Deutschland unterzeichnet hat, ist geregelt, mit welchem Verfahren das
Übereinkommen angepasst werden kann. Für die Änderung des Austrittsrechts oder der Haftung eines Mitglieds müssen alle Gouverneure zustimmen, für alle anderen Änderungen sind drei Fünftel der Gouverneure
mit vier Fünftel der Gesamtstimmenzahl erforderlich.
Durch die Entschließung des Gouverneursrats der
Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur vom 30. Juli
2010 wird das MIGA-Übereinkommen erstmals substanziell verändert. Die Entschließung ändert nicht das
Kernmandat und es ändert nicht die Haftung der Mitgliedstaaten. Ziel der Änderungen ist vielmehr die
Anpassung an aktuelle Marktentwicklungen und die
Möglichkeit, effizienter ihr Entwicklungsmandat zu verfolgen. Dies erlaubt auch eine effektive Unterstützung
von Anpassungsmaßnahmen, zum Beispiel beim Klimawandel in Entwicklungsländern. Das trägt zu einer
nachhaltigen Entwicklung bei.
Mit deutscher Zustimmung und der erforderlichen
Mehrheit wurde das Gründungsübereinkommen geändert. Ermöglicht wurde nun die Abdeckung von alleinstehenden Darlehen - stand alone debt -, die Ausdehnung
des Verfahrens zur Registrierung von Investoren - investor registration -, die Ausdehnung des Anwendungsbereiches zur Risikoabdeckung von bestehenden Investitionen - coverage for existing assets - und die Abschaffung
der gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gastland zur Autorisierung der Risikoabdeckung.
Bisher war es so, dass die Agentur nur Darlehen absichern konnte, wenn auch die Beteiligung eines Investors abgedeckt war. Nun sollen auch isolierte Bankdarlehen versichert werden können. Dies ist eine Anpassung
an die internationale Praxis. Damit werden Banken in
Zukunft schneller in der Lage sein, Darlehen für interessante Vorhaben in Entwicklungs- und Schwellenländern
zu mobilisieren.
Mit der Anpassung des Verfahrens zur Registrierung
von Investoren wird eine weitere Erleichterung eingeführt. Bislang war es so, dass Investitionen über die
MIGA nur versichert werden konnten, wenn ein Antrag
auf Absicherung von Leistungserbringung vorlag. Dies
ist ein komplexes und zeitaufwendiges Verfahren, weil
oftmals die Absicherung erst im Zusammenhang mit der
Finanzierung diskutiert wird. Die angestrebte Veränderung stellt eine große Vereinfachung dar und öffnet die
MIGA für neue Investoren, Banken und Unternehmen,
weil nun gewährleistet wird, dass Entscheidungen
schneller stattfinden werden.
Mit der Änderung des Übereinkommens können jetzt
unter gewissen Bedingungen bestehende Investitionen
einbezogen werden. Dies ist insbesondere dann sinnvoll,
wenn mit der Investition Modernisierungen oder Erweiterungen verbunden sind. Damit wird das Übereinkommen marktgerecht fortentwickelt. Derzeit liegt die
durchschnittliche Dauer eines Prüfverfahrens eines
durch MIGA geförderten Projektes bei etwa zwölf Monaten. Die MIGA prüft in den Einzelfällen, welche Konsequenzen die Übernahme der Deckung bei Bestandsinvestitionen hat. Die Abschaffung der gemeinsamen
Antragstellung von Investor und Gastland zur Autorisierung der Risikoabdeckung ist ausgesprochen sinnfällig.
MIGA möchte gerade auf dem afrikanischen Kontinent Investitionen fördern und ist deshalb eine einzigartige Partnerschaft mit der African Development Corporation, ADC, eingegangen, um dabei behilflich zu sein,
dass Investitionen in die kleinen und mittleren Unternehmen Afrikas weiter gestärkt werden.
Der Präsident der ADC, Dirk Harbecke, zeigt sich in
Bezug auf Afrika als Investitionsstandort optimistisch:
„Wir sehen Subsahara-Afrika als einen der größten
Wachstumsmärkte an. Es gibt einen schnell wachsenden
Mittelstand und eine erhöhte Nachfrage nach neuen
Produkten. Einige Technologien, wie zum Beispiel Mobiltelefonbanking, waren zuerst in Afrika verbreitet und
wurden dann in andere Regionen exportiert.“
ADC ist ein Geschäftsentwicklungsunternehmen, das
auf Private Equity für Investitionen in Subsahara-Afrika
mit einem Schwerpunkt auf Bankgeschäften, IT, Finanzen, Dienstleistungsbranchen und Immobilien baut. Das
Unternehmen wandte sich an MIGA, um die Unterstützung der Agentur in Bezug auf die Beschaffung von Mitteln für verschiedene geplante Investitionen in Anspruch
zu nehmen.
ADC und MIGA haben einen „Rahmenvertrag“ geschlossen. Dieser Vertrag ermöglicht MIGA, politische
Risikodeckung für bis zu 20 der von ADC geplanten Investitionen bereitzustellen - bis zu einer Gesamtsumme
von 150 Millionen US-Dollar. Die meisten der abgedeckten Investitionen fallen voraussichtlich unter das
kleine Investitionsprogramm von MIGA - dies bedeutet,
dass die Deckung unter 10 Millionen US-Dollar pro
Projekt betragen wird. Die abgedeckten Risiken sind
Transferbeschränkungen, Enteignung, Krieg und Unruhen. Jedes Projekt, für das MIGA das Risiko übernommen hat, wird überprüft, um sicherzustellen, dass die Risikoübernahmestandards einschließlich ökologischer
und sozialer Aspekte eingehalten werden. Und sie werden auf der MIGA-Webseite veröffentlicht.
„MIGA ist ein sehr wichtiger Partner für uns“, so
Dirk Harbecke. „Als Teil der Weltbankgruppe verfügt
MIGA über viel mehr Einflussmöglichkeiten und Kenntnisse über Afrika als andere private oder staatliche Versicherer. In der Regel ist es so, dass jedes Gastland von
uns über die Investitionen informiert wird und eine entsprechende Befürwortung für die Deckungsübernahme
des Vorhabens abgeben muss.“
Die beschlossenen Änderungen des Übereinkommens
können also mit Fug und Recht als Fortentwicklung angesehen werden. Sie werden bereits seit 2010 angewendet, obwohl der Bundestag nach der geltenden Rechtslage noch seine Zustimmung geben muss.
Nach dem Vorschlag der Bundesregierung sollen
künftige Änderungen des MIGA-Übereinkommens nach
Art. 59 und Art. 60 per Rechtsverordnung durch den
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung in deutsches Recht umgesetzt werden können. Dies halten die Koalitionsfraktionen für eine sinnvolle Vereinfachung, insbesondere durch im Übereinkommen vorgesehene Mehrheitsentscheidung und der
auf 90 Tage beschränkten Zeit bis zum Inkrafttreten.
Um keinen Zweifel an der erforderlichen und auch gewünschten Parlamentsbeteiligung zu lassen, haben die
Koalitionsfraktionen in einem Änderungsantrag klargestellt, dass nicht alle Änderungen des Übereinkommens
unter die Ermächtigung fallen sollen, per Rechtsverordnung in deutsches Recht umgesetzt zu werden. Das sind
die Veränderungen, bei denen die Zustimmung aller
Gouverneure bzw. die Zustimmung des deutschen Gouverneurs aufgrund der möglichen Auswirkungen für
Deutschland im Übereinkommen ohnehin vorgesehen ist.
Dazu zählen zum Beispiel die Haftungsveränderungen.
Mit dem Änderungsantrag wird sichergestellt, dass
die Bundesregierung das Parlament von geplanten Änderungen vorher informiert und eine Meinungsäußerung
der Parlamentarier einbezogen werden kann. Zusammen mit dem Änderungsantrag sollte eine Zustimmung
zum vorgeschlagenen Gesetz der Bundesregierung auch
für die Oppositionsfraktionen möglich sein.
Die Bundesregierung hat drei Gesetzentwürfe vorgelegt, aufgrund derer jeweils Änderungen von völkerrechtlichen Verträgen gebilligt werden sollen und mit
denen außerdem der Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ermächtigt werden
soll, künftige Änderungen dieser völkerrechtlichen
Übereinkommen durch Rechtsverordnung in Kraft zu
setzen.
Die Gesetzentwürfe betreffen zum einen das Übereinkommen zur Errichtung der Multilateralen InvestitionsGarantie-Agentur, MIGA, die Teil der Weltbankgruppe
ist und an der Deutschland mit einem Stimmrechtsanteil
von 4,47 Prozent beteiligt ist, zum anderen das Übereinkommen zur Errichtung der Afrikanischen Entwicklungsbank sowie das Übereinkommen über die Errichtung des Afrikanischen Entwicklungsfonds.
Die SPD-Fraktion hat gegen alle drei Gesetzentwürfe
inhaltliche und verfassungsrechtliche Bedenken, die
auch nicht durch die von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Änderungsanträge ausgeräumt werden
konnten. Deshalb wird die SPD-Fraktion die Gesetzentwürfe ablehnen. Lassen Sie mich das hinsichtlich des
nun zur Abstimmung stehenden MIGA-Abkommens begründen.
Zunächst begrüßen wir außerordentlich, dass die
Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen auf
unsere Bedenken eingegangen sind und nach einer Anhörung am 10. Mai die vorliegenden Änderungsanträge
Zu Protokoll gegebene Reden
gestellt haben. Dies ist doch ein bemerkenswerter Vorgang; denn es passiert nicht alle Tage, dass ein Gesetzentwurf der Bundesregierung im Hinblick auf seine
Verfassungsgemäßheit von der eigenen Parlamentsmehrheit geändert werden muss.
Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur,
MIGA, soll als Mitglied der Weltbankgruppe ausländische Direktinvestitionen in Entwicklungsländern fördern, indem sie Garantien gegen nichtkommerzielle Risiken und Investitionsberatung für Entwicklungsländer
anbietet. Der Gouverneursrat der MIGA hat mit deutscher Zustimmung das Gründungsübereinkommen geändert, unter anderem für die Abdeckung von alleinstehenden Darlehen, Stand Alone Debt, die Ausdehnung des
Verfahrens zur Registrierung von Investoren, Investor
Registration, die Ausdehnung des Anwendungsbereichs
zur Risikoabdeckung von bestehenden Investitionen,
Coverage for Existing Assets, und die Abschaffung der
gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gastland
zur Autorisierung der Risikoabdeckung.
Diese Änderungen stellen Vereinfachungen dar, die zu
einer Beschleunigung und Erweiterung der Antragsverfahren führen sollen. Ohne Zweifel ist das im Sinne der
Investoren und der Versicherungsagentur, die in einem
Umfeld zunehmender Investitionstätigkeit in Entwicklungs- und Schwellenländern durchaus ein Eigeninteresse an ihrer Marktfähigkeit hat.
Da bei ausländischen Direktinvestitionen über die
MIGA lediglich das politische Risiko versichert wird
und der Anlagestaat als eigentlicher Garant der politischen Stabilität nun in bestimmten Fällen als Mitantragsteller wegfällt, wird damit allerdings gleichzeitig ein
„eingebauter Risikominimierer“ aufgegeben. Das wollten auch die Experten nicht uneingeschränkt begrüßen.
Im Gesamtergebnis haben die Sachverständigen die
Auswirkungen dieser Vereinfachungen im Hinblick auf
die Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung in den
Gastländern jedoch positiv bewertet. Eine Projektprüfung hinsichtlich der Sustainability and Social Standards der International Finance Corporation, IFC, wird
vorgenommen.
Wir kritisieren aber, dass bessere und weitergehende
umwelt- und menschenrechtliche Standards bei der Projektprüfung nicht in ausreichendem Umfang herangezogen werden. Auch die begleitende oder nachträgliche
Projektevaluation ist ein großer Schwachpunkt. Nicht
zuletzt durch die Tätigkeit der Extracting Industries
Transparency Initiative, EITI, wissen wir, dass die entwicklungspolitische Dimension von Investitionen zum
Beispiel bei der Gewinnung von Rohstoffen nicht endet,
sondern deren weitere Wertschöpfungskette sowie die
Gewinnverteilung umfassen muss. Mit anderen Worten:
Wir haben Bedenken, dass über dem Bestreben nach
Vereinfachung und Beschleunigung der entwicklungspolitische Auftrag in den Hintergrund tritt. Es kann
nicht sein, dass die entscheidende Schwachstelle bei
Weltbank und MIGA, nämlich die Projektevaluation,
noch weiter verschlechtert wird. Die Zivilgesellschaft
kann das nicht über nachträgliche Beschwerden beim
Ombudsmann ausgleichen; denn dann ist das Kind oft
schon in den Brunnen gefallen.
Ich möchte mich aber nun im Folgenden auf unsere
verfassungsrechtlichen Bedenken konzentrieren. Nach
Art. 59 Abs. 2 GG bedürfen Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes mit dem Ausland regeln
oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines
Bundesgesetzes.
Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung haben wir daher eine Anhörung für
den Gesetzentwurf zur Multilateralen InvestitionsGarantie-Agentur durchgeführt mit Fragestellungen zu
den inhaltlichen Änderungen und Kompetenzerweiterungen der MIGA und zur zukünftigen Inkraftsetzung
durch Rechtsverordnung. Die Anhörung haben wir beantragt, da die Gesetzentwürfe ohne Debatte im vereinfachten Verfahren überwiesen und schon in der folgenden Sitzungswoche nach der Ausschussberatung in
zweiter/dritter Lesung ohne Debatte im vereinfachten
Verfahren verabschiedet werden sollten. Der Ausschuss
sollte das erste Mal vor dieser abschließenden Lesung
dreißig Minuten mit Debatte unterrichtet werden.
Wir haben ebenfalls den Wissenschaftlichen Dienst
um die Erstellung eines verfassungsrechtlichen Gutachtens zu folgender Fragestellung gebeten: „Ermächtigung der Exekutive zur Änderung völkerrechtlicher Verträge mittels Rechtsverordnung - Möglichkeiten und
Grenzen nach Art. 59 Abs. 2 GG“. Der Wissenschaftliche Dienst stellt darin eindeutig fest: „Nach der Verordnungsermächtigung in Art. 2 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 11. Oktober
1985 zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur müssen Änderungen sich allein „im Rahmen der Ziele des Übereinkommens halten“ und dürfen
„nicht Art. 47 des Übereinkommens betreffen“. Die Änderungsklausel des MIGA-Übereinkommens in Art. 59
des MIGA-Übereinkommens selbst ist inhaltlich unbegrenzt. Die Verordnungsermächtigung begründet dadurch eine nahezu unbegrenzte dynamische Verweisung
auf die Änderungsbefugnis des Gouverneursrats in
Art. 59 und 60 des MIGA-Übereinkommens. Damit
dürfte die Verordnungsermächtigung nicht den verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügen, sind doch weder Inhalt noch Ausmaß der Verordnungsermächtigung
näher bestimmt. Allein die Zweckrichtung ist konturiert.
Dies genügt aber gerade vor dem Hintergrund der umfassenden Änderungsermächtigung des Gouverneursrats wohl nicht den Bestimmtheitsanforderungen.
Zudem fehlt es an einem Ausschluss von Regelungsbereichen, die dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen
und einer Regelung per Rechtsverordnung nicht zugänglich sind, beispielsweise im Falle von Haushaltsbelastungen oder des Eingriffs in bestehende gesetzliche
Rechte und Pflichten Einzelner.
Im Ergebnis dürfte die Verordnungsermächtigung in
Art. 2 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Übereinkommens vom 11. Oktober 1985 zur Errichtung
der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur den
Zu Protokoll gegebene Reden
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht
genügen.
Auch der zu unserer Anhörung am 10. Mai eingeladene
Verfassungsrechtler Professor Dr. Ulrich Fastenrath
kommt in seiner schriftlichen Stellungnahme zu einem
vergleichbaren Schluss. Ich möchte bei diesem doch
recht komplexen Thema nicht unscharf werden. Deshalb
erlaube ich mir an dieser Stelle, auch Herrn Professor
Fastenrath ausführlich zu zitieren: „Die in Art. 2 des
Entwurfs des Vertragsgesetzes enthaltene Verordnungsermächtigung für künftige Änderungen des MIGA-Übereinkommens begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie ist positiv lediglich dadurch eingegrenzt, dass
sie nur für Änderungen des MIGA-Übereinkommens im
Rahmen der in dessen Art. 2 recht weit formulierten
Ziele gilt, und negativ dadurch, dass Änderungen des
Art. 47 des MIGA-Übereinkommens ({0}) von der Ermächtigung ausgenommen sind. Damit ist lediglich der
Zweck der Verordnungsermächtigung hinreichend klar
bestimmt, nämlich das innerstaatliche Inkraftsetzen von
Vertragsänderungen zu erleichtern. Inhalt und Ausmaß
der Verordnungsermächtigung bleiben aber offen, da die
Änderungsklausel des MIGA-Übereinkommens inhaltlich unbegrenzt ist. Damit liegen schon nach Punkt 2.3
[der Richtlinien des BMJ für die Fassung von Vertragstexten und vertragsbezogenen Verordnungen] RiVeVo
die Voraussetzungen für eine Verordnungsermächtigung
nicht vor. Ausgeschlossen ist zudem nicht, dass künftige
Änderungen des MIGA-Übereinkommens zu überjährigen oder über die Ansätze des laufenden Haushaltsjahres hinausgehenden Finanzierungs- und Garantieverpflichtungen führen, die nur auf formell-gesetzlicher
Grundlage eingegangen werden dürfen. Auch können
sonstige Gesetze von künftigen Änderungen des MIGAÜbereinkommens betroffen sein, ohne dass die vom Bundesverfassungsgericht ({1}) gesetzten Grenzen
für gesetzesändernde Rechtsverordnungen vorliegen
[…]. Wenn die Verordnungsermächtigung beibehalten
werden soll, müsste sie weiter begrenzt werden etwa in
dem Sinne, dass sie Vertragsänderungen nicht erfasst,
durch die finanzielle Verpflichtungen Deutschlands erhöht werden oder in bestehende gesetzliche Rechte und
Pflichten Einzelner eingegriffen wird.“
Diese Ergebnisse sind auch auf die beiden den Afrikanischen Entwicklungsfonds und die Afrikanische Entwicklungsbank bezogenen Gesetzentwürfe übertragbar.
Sowohl die Anhörung als auch das inzwischen vorliegende Gutachten haben somit unsere Bedenken nicht
ausräumen können. Die Mehrheitsfraktionen im Ausschuss haben aufgrund der in der Anhörung geäußerten
verfassungsrechtlichen Bedenken den Passus der
Rechtsverordnung geändert und einen neuen Artikel mit
der Verpflichtung, das Parlament rechtzeitig zu informieren, eingefügt. Doch reichen diese Ergänzungen aus
unserer Sicht nicht aus, um Einfluss auf die Änderung
internationaler Übereinkommen zu nehmen. Gerade die
im Ausschuss streitig debattierten inhaltlichen Änderungen und Kompetenzerweiterungen, wie in den vorliegenden Fällen geschehen, werden durch die veränderte
Gesetzesfassung des MIGA-Übereinkommens nicht gedeckt. Daher begrüßt die SPD-Fraktion zwar die eingebrachten Ergänzungen zur Beteiligung des Parlaments.
Wir wenden aber ein, dass diese nicht ausreichen, da
hierin nur Art. 47 des Übereinkommens angesprochen
werde und nicht Art. 60, gemäß dem jedoch die inhaltlichen Änderungen im Übereinkommen vom Gouverneursrat beschlossen werden.
Uns ist bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht
in einem frühen Urteil vom 29. Juli 1952 ausgeführt hat,
dass die Zustimmung nach Art. 59 Abs. 2 GG nur durch
förmliches Gesetz vorgenommen werden kann. Dennoch
hatte es in den vergangenen Jahrzehnten Fälle gegeben,
bei denen die Zustimmung zu Änderungen von völkerrechtlichen Verträgen per Rechtsverordnung vorgesehen
war.
Es geht uns darum, die Rechte des Parlamentes umfassend zu sichern. Die Wahrung der Rechte des Parlaments ist eine Aufgabe aller Abgeordneten. Das schließt
auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, mit ein.
Um unseren Standpunkt zu unterstreichen, haben wir
auch für die beiden weiteren erwähnten Gesetzentwürfe
die Mitberatung durch den Rechtsausschuss beantragt.
Die in der Begründung der Bundesregierung für die
Rechtsverordnung angegebene zeitliche Belastung des
Parlaments dürfte bei rechtzeitiger und guter inhaltlicher Informationspraxis nicht zutreffen; denn ein informiertes Parlament kann schnelle Entscheidungen treffen.
Hierzu möchte ich unkommentiert eine Aussage unseres Bundestagspräsidenten zitieren. Bereits im November sagte Herr Professor Lammert dem Spiegel: „Es
schadet dem Ansehen des Parlaments, wenn der Eindruck entsteht, als folgten wir vermeintlichen oder tatsächlichen Vorgaben, statt selbstständig zu urteilen und
zu entscheiden.“
Bei der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur,
MIGA, handelt es sich um das kleinste Tochterunternehmen der Weltbank. Die MIGA sichert privatwirtschaftliche Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern durch Garantien gegen nichtkommerzielle
Risiken ab, wie zum Beispiel Devisentransferbeschränkungen, Vertragsbruch seitens der Regierung des Investitionsstandortes, Krieg und zivile Unruhen oder Enteignung. Sie bietet zudem Dienstleistungen im technischen
Bereich sowie Investitionsberatung an, um Aktivitäten
der Investitionsförderung zu unterstützen.
Deutschland ist Gründungsmitglied der MIGA, mit
rund 5 Prozent am gezeichneten Kapital beteiligt und
hat einen Stimmrechtsanteil von 4,19 Prozent. 2009 wurden Garantieverträge für 26 Vorhaben mit einem
Gesamtumfang von 1,4 Milliarden US-Dollar abgeschlossen, die hauptsächlich auf Süd-Süd-Investitionen
basieren.
Seit Mitte der 80er-Jahre hat es keine Veränderung
im Aktionsradius der MIGA gegeben. Um flexibler und
marktgerecht agieren zu können, hat die MIGA ihr
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Gründungsabkommen geändert und kann damit durch
Entbürokratisierung ihren entwicklungspolitischen Tätigkeitsbereich ausweiten. Die Änderungen traten unter
Zustimmung des deutschen Gouverneurs Bundesminister Niebel am 28. Oktober 2010 in Kraft und sind damit
völkerrechtlich wirksam.
Die Entschließung des Gouverneursrats der MIGA
ändert nicht das Kernmandat der MIGA, ausländische
Direktinvestitionen in Schwellen- und Entwicklungsländern zu fördern. Ziel ist vielmehr die Anpassung an
aktuelle Marktentwicklungen und eine effizientere Verfolgung des Entwicklungsmandates in Verbindung mit
Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel in den
Entwicklungsländern.
Die Änderungen des Gründungsabkommens beziehen
sich insbesondere auf die Abdeckung von alleinstehenden Darlehen, die Ausdehnung des Verfahrens zur Registrierung von Investoren, die Ausdehnung des Anwendungsbereichs zur Risikoabdeckung von bestehenden
Investitionen und die Abschaffung der Voraussetzung einer gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gastland zur Autorisierung der Abdeckung von spezifischen,
nicht kommerziellen Risiken.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat in Deutschland das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, um die Änderungen in
deutsches Recht umzusetzen. Der Gesetzentwurf wurde
im Ressortkreis - Zustimmung von AA, BMI, BMJ, BMF
und BMWi - abgestimmt; die Zustimmung des Kabinetts
erfolgte im Januar 2011.
Im Rahmen der parlamentarischen Befassung hat die
Opposition eine öffentliche Anhörung zur Ausgestaltung
des Gesetzentwurfes im federführenden Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beantragt. Begründet wurde dieser Schritt neben Fragen zur
entwicklungspolitischen Sinnhaftigkeit mit der Sorge,
dass der Gesetzentwurf die Beteiligungsrechte des Parlaments gefährdet. Die entwicklungspolitischen Implikationen des Gesetzentwurfes stießen bei den beteiligten
Experten auf vollständige Zustimmung.
Der Sachverständige Herr Wietstock von PricewaterhouseCoopers begrüßte die geplante Absicherung von
alleinstehenden Darlehen zur Finanzierung spezieller
förderungswürdiger Vorhaben. Die MIGA passe sich
hier nur einer internationalen Praxis der Investitionsversicherer an. Es seien ausschließlich positive Auswirkungen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer zu
erwarten. Von der Abschaffung der Voraussetzung einer
gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gastland
zur Autorisierung der Absicherung nichtkommerzieller
Risiken verspreche er sich eine Vereinfachung des Verfahrens. Auch der Sachverständige Herr Vitinius von der
Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft,
DEG, begrüßte die beschlossenen Änderungen uneingeschränkt, da in der Vergangenheit viele Investoren den
Weg zur MIGA wegen des langwierigen, bürokratischen
und zu teuren Verfahrens gescheut hätten. Auch die umstrittene Nichtinvolvierung des Gastlandes in die Antragstellung beantwortete er positiv, da dies in der
Vergangenheit zu massiven Verzögerungen bei der Indeckungnahme geführt habe und damit letztlich zum Scheitern vieler Projekte. Da die MIGA im Unterschied zu
Hermes oder anderen Exportförderinstrumenten keine
kommerziellen Risiken versichere, sondern politische
Risiken prüfe, würden im Prüfungsverfahren nicht nur
Aspekte der wirtschaftlichen Plausibilität, sondern
schwerpunktmäßig auch Aspekte der entwicklungspolitischen Sinnhaftigkeit berücksichtigt.
Allerdings äußerte der geladene Experte Professor
Dr. Fastenrath von der Technischen Universität Dresden
Bedenken gegenüber der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Gesetzentwurfes, da die im Entwurf integrierte Verordnungsermächtigung zu weit gefasst sei
und einer Einschränkung bedürfe. Auf Grundlage dieser
Rechtsauffassung haben wir uns in den Koalitionsfraktionen darauf verständigt, die infrage stehende Verordnungsermächtigung per Änderungsantrag geringfügig
anzupassen.
Ich möchte für die FDP-Bundestagsfraktion unterstreichen, dass die in der Anhörung aufgekommenen Bedenken, die Beteiligungsrechte des Parlamentes könnten
gefährdet sein, mit dem vorliegenden Änderungsvertrag
vollständig ausgeräumt werden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird verpflichtet, über jede geplante Änderung des
Übereinkommens im Bundestag rechtzeitig zu unterrichten. Das Parlament wird im rechtlich notwendigen Maße
beteiligt. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu.
Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur
MIGA sichert in Ergänzung bestehender Investitionsschutzabkommen privatwirtschaftliche Direktinvestitionen aus Industrieländern in Entwicklungsländern durch
Bürgschaften gegen nicht kommerzielle Risiken wie
etwa Vertragsbruch, Krieg oder Enteignung ab. 2009
wurden Garantieverträge für 26 Vorhaben mit einem
Gesamtumfang von 1,4 Milliarden US-Dollar abgeschlossen. Die MIGA berät außerdem Regierungen im
Süden bei der Förderung ausländischer Investitionen.
Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur als Teil
der Weltbank-Gruppe muss bei der Absicherung privatwirtschaftlicher Direktinvestitionen menschen- und arbeitsrechtliche, umwelt- und sozialpolitische Standards
berücksichtigen. Eigentlich sollten die abgesicherten
Projekte diese Bereiche sogar fördern. Jedoch wurde in
den letzten Jahren von Nichtregierungsorganisationen
häufig kritisiert, dass die von der Investitions-GarantieAgentur abgesicherten Projekte oftmals keine entwicklungsförderliche Wirkung entfaltet oder sogar Menschrechts- und Umweltstandards missachtet hätten. Der bekannteste Fall ist in diesem Zusammenhang sicher der
einer Nickelmine in Indonesien, die von der französischen Gesellschaft Eramet und dem japanischen Konzern Mitsubishi betrieben wird. MIGA hat hier Garantien in Höhe von 207 Millionen Dollar übernommen,
obwohl es zur Zerstörung tropischer Wälder und der
Vertreibungen indigener Gruppen gekommen ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland ist Gründungsmitglied der MIGA, hält
einen Kapitalanteil von 5 Prozent und einen Stimmrechtsanteil von 4,2 Prozent und ist damit durchaus in
der Lage, sich innerhalb der Agentur Gehör zu verschaffen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich
dafür einzusetzen, dass die Einhaltung von Menschenrechtsstandards durch die begünstigten Unternehmen
verbindlich und sanktionierbar wird. Konkreten Sanktionen gegen Unternehmen müssen möglich sein, wenn
sie Menschenrechte, Umwelt- oder Sozialstandards verletzen.
Grundsätzlich tritt die Linke für eine andere Investitionspolitik ein: dafür, dass die OECD-Leitlinien verbindlichen Charakter bekommen, für ein alternatives
entwicklungsförderliches Investitionsrahmenabkommen
und für den Aufbau eines internationalen Investitionsregimes für zukunftsfähige Entwicklung im Rahmen der
Vereinten Nationen.
Laut Gesetzentwurf sollen künftige Änderungen am
Übereinkommen zum Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur-Übereinkommen per Rechtsverordnung
durch den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in deutsches Recht, also
ohne Bundestag und Bundesrat, umgesetzt werden.
Diese Einschränkung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte zugunsten der Exekutive lehnt die Linke
ganz klar ab. Eine schlichte Unterrichtung des Bundestags über künftige Änderungen per Rechtsverordnung
halten wir für zu wenig. Änderungen am Übereinkommen müssen auch künftig im Parlament ratifiziert werden.
Als Teil der Weltbank versichert die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur, MIGA, privatwirtschaftliche Direktinvestitionen in Schwellen- und Entwicklungsländern gegen politische Risiken wie Enteignung, Krieg
oder Vertragsbruch seitens der Partnerregierung.
Die Agentur ist vor der Übernahme einer Investitionsschutzgarantie verpflichtet zu prüfen, welchen Beitrag die Investition zur Entwicklung des Gastlandes leistet und ob diese mit den Entwicklungszielen des Landes
vereinbar ist. Wem die Entwicklung des Landes durch
die Übernahme von Garantien dient, ist im Einzelfall zu
klären. So hat MIGA beispielsweise im Juli 2010 eine
Garantie über 207 Millionen US-Dollar für den französisch-japanischen Konzern Strand Minerals für eine
Nickelmine in Weda Bay, Indonesien, übernommen.
Die indonesische Nichtregierungsorganisation
WALHI hat daraufhin Beschwerde beim Ombudsmann
von MIGA eingelegt, da Vertreibungen indigener Gruppen, Zerstörung des tropischen Regenwalds und Kontaminierung des Wassers durch das Vorhaben drohten. Die
von MIGA im Vorfeld durchgeführte Umweltverträglichkeitsprüfung hatte diese gewichtigen sozialen, ökologischen und politischen Risiken aber gar nicht berücksichtigt.
Doch gelten auch für MIGA die IFC-Standards der
Weltbanktochter International Finance Corporation.
Diese stehen jedoch in der Kritik, da sie unter anderem
menschenrechtliche Defizite aufweisen. Sie werden zurzeit überarbeitet, was sie eigentlich auch dringend nötig
haben.
Änderungen des MIGA-Übereinkommens sehen nun
eine Ausweitung der Schutzgarantien für Investoren vor.
Aus unserer Sicht muss ein besserer Schutz für Investoren vor allem einhergehen mit dem besseren Schutz der
lokalen Bevölkerung vor möglichen negativen Auswirkungen, wie beispielsweise Landverlust oder Umweltverschmutzung.
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Im Gouverneursrat der Weltbank wurden Änderungen des
Gründungsübereinkommens von MIGA vorgenommen,
welche die Bundesregierung mitgetragen hat. Gegen die
inhaltlichen Statutenänderungen der Übereinkommen
bestehen aus unserer Sicht mehrere Einwände. Die Ausweitung der Garantiezusagen soll künftig auch rückwirkend möglich sein. Durch eine neue Klausel können
theoretisch auch Dinge nachträglich versichert werden,
die keine genuine Weltbankförderung bekommen hätten.
Die Evaluationsmaßnahmen von MIGA sind bislang
unzureichend, da nur circa 3 Prozent der Vorhaben
überhaupt überprüft werden. Dies lässt differenzierte
Erkenntnisse über die Arbeit von MIGA gar nicht zu. In
diesem Bereich muss es dringend Verbesserungen geben.
Aus unserer Sicht ist die Einbeziehung der betroffenen Bevölkerungsgruppen und der Zivilgesellschaft
durch MIGA dringend geboten. Sozial- und Umweltstandards und die Folgeabschätzung von Investitionen müssen künftig eine gewichtigere Rolle spielen. Die Statutenänderungen berücksichtigen dies jedoch leider nicht.
Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf im Art. 2
eine Verordnungsermächtigung, die vorsieht, dass künftige Änderungen der Statuten im Alleingang durch das
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung vorgenommen werden können, ohne den
Bundestag zu beteiligen. Hiermit wird die parlamentarische Kontrollfunktion ausgehebelt.
Die Richtlinien des Bundesjustizministeriums für die
Fassung von Vertragsgesetzen und vertragsbezogenen
Verordnungen sehen für eine Verordnungsermächtigung
vor, dass der Gegenstand der Änderungen oder Ergänzungen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß - Art. 80 Abs. 1
Satz 2 GG - hinreichend bestimmt ist. Es bestehen aus
unserer Sicht aber erhebliche Bedenken, ob die Verordnungsermächtigung in Art. 2 des Gesetzentwurfs hinreichend bestimmt ist. Der Gesetzeswortlaut - Art. 2 - enthält weder eine Begründung noch eine Eingrenzung, die
über die sehr allgemeine Formel, dass sich die Änderungen „im Rahmen der Ziele des Übereinkommens halten“
müssen, hinausginge.
Der von der Koalition eingebrachte Änderungsantrag kann aus unserer Sicht die verfassungsrechtlichen
Bedenken hinsichtlich der fehlenden Bestimmtheit nicht
ausräumen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aus all diesen genannten Gründen lehnen wir den
Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den Statutenänderungen der Multilateralen Investitions-GarantieAgentur ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6231, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5263 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für eine Ausstellungszahlung an bildende
Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei durch den Bund geförderten Ausstellungen
- Drucksache 17/6346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Haushaltsausschuss
Zum wiederholten Mal diskutieren wir heute das Für
und Wider einer Ausstellungsvergütung. Jetzt sind es die
Grünen, die sich einer Forderung des BBK anschließen.
Sie wollen eine „verpflichtende Ausstellungszahlung an
bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen in die Förderkriterien für die aus
dem Einzelplan 04 ({0}) finanzierten oder bezuschussten Institutionen oder Projektträger“. „Mit der
Aufnahme einer pauschalierten Ausstellungszahlung in
die Förderkriterien für die aus dem Etat des BKM finanzierten oder bezuschussten Institutionen und Projektträger, welche Ausstellungen ausrichten, kann der Bund
eine Zahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler
sowie Fotografinnen und Fotografen für die öffentliche
Ausstellung ihrer Werke ermöglichen, soweit sich die
Werke im Eigentum der Künstlerin oder des Künstlers
befinden“. Dies, so Ihr Antrag, sei ein „Signal gegen die
bestehende Gerechtigkeitslücke“.
Eine „Gerechtigkeitslücke“ kann ich nicht erkennen.
Wir alle wissen, dass es sehr erfolgreiche Maler und
Bildhauer gibt ebenso wie arme Poeten und nur wenig
wohlhabende Musiker. Richtig ist: Der bildende Künstler lebt im Gegensatz zu anderen Künstlern vom Verkauf
seiner Werke, der Autor vom Vertrieb, der Musiker von
Aufführungen. Erfolgreich verkaufen kann ein Künstler
dann, wenn er zuvor bekannt gemacht wurde, zum Beispiel durch Ausstellungen in Museen, Kunstvereinen,
Galerien etc. Das bringt dem Künstler eine große Öffentlichkeit und bestenfalls Anerkennung eines Werkes.
Und während die einen bei Lesungen, die anderen bei
Konzerten eine direkte Vergütung erhalten, lebt der bildende Künstler lediglich vom Verkauf seiner Werke bzw.
von der Nutzung der Abbildungen. Die nun erneut geforderte Ausstellungsvergütung soll dazu dienen, bildenden
Künstlern auch aus der Ausstellung ihrer Werke einen
wirtschaftlichen Nutzen zukommen zu lassen - auf dass
sich ihre wirtschaftliche Lage verbessere.
Einmal abgesehen davon, dass auch eine Ausstellungsvergütung die schwierige wirtschaftliche Situation
der Künstler nicht auffangen würde, wäre die Ausstellungsvergütung so nur eine verkappte zusätzliche Sozialleistung. Aber mit welcher Berechtigung eigentlich?
Wenn auch in verschiedenen Systemen, so arbeiten und
leben doch alle Künstler von demselben Prinzip: vom
Verkauf ihrer kreativen Arbeit - in dem sie sie aufführen
({1}) oder ihr Kunstwerk sein Publikum
({2}) oder neue Besitzer ({3}) findet. Die soziale Absicherung aller ({4})
Künstler in Deutschland unterstützen wir mit der Künstlersozialkasse, einer Anerkennung, die die Gesellschaft
den besonderen Erfordernissen diesem uns so wichtigen
Berufsstand zollt.
Sie blicken hoffnungsvoll auf das schwedische Modell, das 2009 in Kraft trat. Aber hat das schwedische
Modell die ökonomischen Verhältnisse der Künstler
oder deren Möglichkeit, ihre Werke auszustellen, dramatisch verändert? Nicht, dass wir wüssten. Zu bedenken
ist aber sehr wohl, welche dramatischen Konsequenzen
das für die Museen hätte: Forderungen nach einem Vergütungsanspruch für die öffentliche Ausstellung bildender Kunst gibt es schon lange; ebenso lange lehnen fast
alle im Kunstbetrieb Verantwortlichen diese Forderung
ab.
Die Museen haben ein großes Interesse an Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Sie verleiht den Häusern
Lebendigkeit und Aktualität. Umgekehrt wissen natürlich auch die Künstler um die Vorteile einer Ausstellung
in diesen Institutionen. Gerade Ausstellungen ihrer
Werke in öffentlichen Museen sind für die Künstler wie
ein Ritterschlag, die Arbeiten erfahren eine enorme
Wertsteigerung.
Die Schattenseite: Durch Ausstellungsvergütungen
werden Ausstellungen für die Veranstalter erheblich teurer, in der Folge planen die Museen weniger Ausstellungen, oder man greift gleich auf die ({5}) Werke zurück, für die keine Gebühr bezahlt werden muss; und das
geht letztlich zulasten der Künstler, weil sie noch weniger Präsentationmöglichkeiten bekommen. In fast allen
Fällen werden Ausstellungen nicht einmal kostendeckend durchgeführt. Künstler an Ausstellungseinnahmen zu beteiligen, würde in vielen Fällen den finanzielMonika Grütters
len Ruin der Veranstaltungen bedeuten, und das wäre
dann das endgültige Aus einer wirksamen Kunst- und
Künstlerförderung.
Die meisten Museen verfügen ohnehin kaum noch
über große Ausstellungsetats. Ihr Budget für Ausstellungen müsste also entsprechend erhöht werden. Im Jahr
2009, in dem die Übereinkunft in Schweden in Kraft trat,
erhielten deshalb sowohl das Moderna Museet als auch
Riksutställningar einen Sonderzuschuss, um diese Vergütungen überhaupt zahlen zu können ({6}).
Aus langjähriger persönlicher Erfahrung als Ausstellungsmacherin kann ich Ihnen berichten, dass die Mehrzahl der ({7})Museumsbesucher nicht an Werken
zeitgenössischer Künstler, sondern vielmehr an Werken
der alten Kunst oder der klassischen Moderne interessiert ist, und diese fallen ohnehin nicht unter die Ausstellungsvergütung. Für Werke zeitgenössischer Künstler
müssen wir das Publikum zunächst begeistern. Kuratierung der Ausstellung, Transport der Werke, Schreiner-,
Maler- und Reinigungsarbeiten, Restaurierung, Beschriftung, Beleuchtung, Bewachung, Heizung und Klimatisierung, Herstellung von Katalogen, Plakaten, Einladungskarten, deren Versand, Kosten für die Eröffnung
etc. - alle diese Kosten übernehmen wir als Aussteller
bereits. Und dann auch noch Vergütung zahlen?
Natürlich könnte man die Künstler an dem Gewinn,
der mit der Präsentation ihrer Kunstwerke erwirtschaftet wird, beteiligen, wenn es denn einen gäbe. Doch wer
am Erlös beteiligt wird, müsste sich auch an den entstehenden Kosten beteiligen, und diese übertreffen bekanntlich in fast allen Fällen den Gewinn eines Ausstellungsprojektes. Hinzu kommt, dass der Kunstmarkt
dieses Geschäft betreibt, in Galerien und auf Messen.
Museen haben einen anderen Auftrag. Die Auswirkungen auf die private Kunstförderung und Ausstellungstätigkeit wären verheerend, da sich die Kosten nicht über
die Eintrittsgelder auf die Besucher verlagern lassen.
Die Enquete-Kommission hat dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung empfohlen, erneut zu
prüfen, „mit welchen Regelungen und Maßnahmen im
Urhebervertragsrecht eine angemessene, an die wirtschaftlichen Verhältnisse angepasste Vergütung für alle
Urheber und ausübenden Künstler erreicht werden
kann, da die bisherigen Regelungen im Urhebervertragsgesetz unzureichend sind“.
Die bildende Kunst wird über den Verkauf verwertet.
Glauben Sie wirklich, dass ein Künstler, dessen Werke
nicht gekauft werden, gegen Vergütung ausgestellt
würde? Käme demnach eine Ausstellungsvergütung
nicht vor allem einem kleinen Kreis etablierter Künstler
zugute? Österreich jedenfalls hat die Ausstellungsvergütung zurückgenommen ({8}): Dort gibt es keine Ausstellungsvergütung
für urheberrechtlich geschützte Werke der bildenden
Kunst mehr. Die Ausstellungsvergütung bewirke nämlich prompt eine Benachteiligung lebender Künstler und
wirke sich am Ende sogar nachteilig für den ganzen
Kunststandort Österreich aus.
Positiv an Ihrem Antrag ist, dass wir einmal mehr das
wichtige Thema „Soziale Lage der Künstler“ besprechen. Es ist uns allen wichtig, dass unsere Künstler für
ihre Arbeit - gut - bezahlt werden. Aber eine pauschalierte Ausstellungszahlung für Einrichtungen des BKM?
Für Institutionen, die überwiegend mit etablierten und
auf dem Kunstmarkt bereits eingeführten Künstlern arbeiten? Wäre das wirklich die geforderte Gerechtigkeit?
Unser Anliegen ist es vielmehr, besonders auch die
junge, zeitgenössische Kunst zu fördern. Von einer solchen von Ihnen geforderten Ausstellungsvergütung würden aber in erster Linie die etablierten Künstler, die auf
dem Kunstmarkt bereits eingeführt sind, profitieren.
Wichtiger ist es, die Chancen für Künstler, überhaupt
ausstellen zu können, zu verbessern, nicht, sie gesondert
zu vergüten. Es braucht mehr Ausstellungsmöglichkeiten für jüngere bildende Künstler, weitere Fördermöglichkeiten, Projektzuschüsse oder Arbeitsstipendien
({9}) und Ankaufsetats für die Museen. Hier sind
vor allem die Länder und Kommunen gefragt.
Die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern hat
in unserem Land grundsätzlich einen guten Ruf, zu
Recht; denn durch großzügige Finanzspritzen privater
Unterstützer und auch durch Förderprogramme des
Bundes und der einzelnen Bundesländer gelingt es, die
ökonomisch oft instabilen und stark erfolgsabhängigen
Lebensbedingungen der Künstler aufzufangen und abzufedern; denn wir alle wünschen uns, dass die Kunstschaffenden ihren Fokus in vollem Umfang auf ihre
kreativen Schöpfungen lenken und sich nicht mit Finanzierungsnöten beschäftigen müssen.
Vor diesem Hintergrund betrachte ich auch den vorliegenden Antrag der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen: als gut gemeinte Wohltat. Aber wie so oft ist auch in
diesem Fall gut gemeint oft das Gegenteil von gut. Ich
wage folgende These: Eine verpflichtende Ausstellungszahlung senkt die Zahl der Ausstellungen in der Bundesrepublik und schwächt damit die Künstlerinnen und
Künstler und die Kulturszene in unserem Land; denn,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Ihrem Antrag
folgen würden und die ausstellenden Institutionen zu einer Zahlung verpflichten würden, dann überlegen diese
sich zweierlei: Erstens. Entweder sie verzichten aus
Kostengründen gänzlich auf die Ausstellung. Dies darf
uns weder recht noch billig sein, da wir zu Recht stolz
auf eine sehr reiche und vielfältige Kunstszene in
Deutschland sind und diese auch als Parlamentarier
schützen und fördern müssen. Oder - zweitens - sie entscheiden sich für eine Umlage der Kosten, die automatisch zu einer Erhöhung der Eintrittspreise führt. Die
Folge dessen wird sein, dass immer weniger Bürgerinnen und Bürger in der Lage und willens sind, für einen
Ausstellungsbesuch Geld auszugeben, und daher einfach wegbleiben.
Wenn ich in den Fraktionsbeschluss der grünen Bundestagsfraktion vom 15. März diesen Jahres schaue, lese
ich dort: Bibliotheken, Theater, Archive und Museen traZu Protokoll gegebene Reden
gen Unverzichtbares zur sozialen Teilhabe bei. - Inhaltlich stimme ich Ihnen vollumfänglich zu!
Gleichzeitig frage ich mich aber: Warum dann dieser
Antrag? Ich habe Verständnis für die soziale Situation
der Künstler, und auch ich möchte, dass sie von ihrem
kreativen Schaffen ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Was ich aber nicht möchte, ist, dass das Erleben
von Kunst für einen Großteil unserer Gesellschaft nicht
mehr bezahlbar ist.
Sie verweigern aber mit dem vorliegenden Antrag
nicht wenigen in diesem Lande eine soziale Teilhabe.
Dies kann doch nicht in Ihrem Interesse sein. Ich bin der
Überzeugung, dass wir bei der Förderung von Künstlern
andere Akzente setzen sollten - vor allem solche, die abseits starrer gesetzlicher Regelungen liegen. Mit einer
kleinen, aber wirksamen Katalogförderung ist vielen
deutlich mehr geholfen. Auch Projektzuschüsse oder Arbeitsstipendien, wie sie beispielsweise die Stiftung
Kunstfonds vergibt, sind wichtige Impulse der Bundeskulturförderung für die bildende Kunst in Deutschland.
Ein zu starker Eingriff seitens der Gesetzgebung ist
meiner Meinung nach jedoch nicht der richtige Weg, um
unsere Künstlerinnen und Künstler in ihrer wertvollen
und für unsere Gesellschaft stark prägenden Arbeit zu
unterstützen.
Seit mehr als 30 Jahren fordern maßgebliche Verbände im Bereich der bildenden Kunst, ein Ausstellungshonorar bzw. eine Ausstellungsvergütung einzuführen.
Sie führen an, dass bildende Künstlerinnen und Künstler
ungleich behandelt werden gegenüber Künstlern anderer Sparten wie Musik, Theater oder Literatur, bei denen
das Urheberrecht den Künstlerinnen und Künstlern eine
Vergütung für jede öffentliche Verwertung ihrer Werke
sichert. Im Unterschied zu diesen erhalten bildende
Künstlerinnen und Künstler in Deutschland, wenn ihre
Werke öffentlich ausgestellt werden, hierfür keine Vergütung. Angesichts der schwierigen materiellen Situation
vieler bildender Künstlerinnen und Künstler ist diese Situation besonders unbefriedigt.
Wie berechtigt ist dieses Anliegen? Natürlich ist eine
Ausstellung im ureigenen Interesse der Künstler, weil sie
ihre Werke präsentieren und damit Interesse für ihre
Kunst wecken können. Es findet aber auch im rechtlichen und wirtschaftlichen Sinne eine Nutzung ihres
Werkes statt. Sie ist vergleichbar mit den im Urheberrecht geregelten Nutzungs- und Verwertungsrechten in
anderen Kunstsparten. Von daher müsste die Ausstellung von Kunstwerken im Zusammenhang mit sonstigen
Nutzungen anderer Werke gesehen werden, etwa der
Aufführung von Musikstücken in Konzerthallen, in Hörfunk- und Fernsehprogrammen, der Aufführung von
Theaterstücken, dem Vermieten von Videokassetten oder
CDs oder dem Verleihen von Büchern in öffentlichen Bibliotheken, also mit Vorgängen, die als urheberrechtliche Nutzungen als vergütungspflichtig anerkannt sind.
Für eine Vergütung spricht außerdem, dass mit der
öffentlichen Präsentation eines Kunstwerkes für die
Künstlerinnen und Künstlern auch Kosten verbunden
sind. Oft konzipieren sie nicht nur die Ausstellung, sondern übernehmen auch Transport und Aufbau etc. der
Kunstwerke.
Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen
Seite muss natürlich auch danach gefragt werden, ob
eine solche Ausstellungsvergütung den bildenden Künstlerinnen und Künstlern in der Praxis auch wirklich etwas bringt. Vertreter der Kommunen und Länder, in
deren Verantwortung ja viele Museen und Ausstellungsräume liegen, führen immer auch wieder mögliche Zusatzkosten an, die dazu führen könnten, dass im Ergebnis
weniger Ausstellungen durchgeführt werden. Gerade
von kommunaler Seite, aber auch vom Deutschen Museumsbund und anderen wurde in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass eine Ausstellungsvergütung dazu führen könnte, dass am Ende nur die
bekannten und etablierten Künstler profitieren. Derartige Erfahrungen in Österreich jedenfalls haben dazu
geführt, dass man sich dort mittlerweile von einer entsprechenden Regelung wieder verabschiedet hat, die
aber - und das muss der Vollständigkeit halber hinzugefügt werden - auch etwas anders strukturiert war als die
in Deutschland diskutierten Vorschläge.
Genau hier steckt der Teufel im Detail. Mit einem
Sondervotum hat sich die SPD in der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland für eine Ausstellungsvergütung ausgesprochen. Eine parlamentarische Initiative
aus den Reihen der SPD-Kulturpolitiker 2005 scheiterte
jedoch an den unterschiedlichen Vorstellungen, wie genau eine Ausstellungsvergütung rechtlich ausgestaltet
sein soll. Gerade die Verbände waren sich da nicht einig.
Dennoch: Das Anliegen ist berechtigt: Die SPD hat
sich in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2009
deutlich dafür ausgesprochen, dass Kultur- und Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler und Kreative
von ihrer Arbeit leben können müssen. Daran halten wir
fest. Das Urheberrecht und das Urhebervertragsrecht
bieten die Grundlagen dafür, ein angemessenes Einkommen aus der Verwertung geistigen Eigentums zu ermöglichen. Beide Bereiche wollen wir gezielt weiterentwickeln, um eine angemessene Vergütung für alle auch
tatsächlich zu erreichen. Künstlerinnen und Künstler
müssen deshalb von der Möglichkeit profitieren können,
ihre Werke in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Um aber das zuvor beschriebene Dilemma und den
Anspruch, eine angemessene Vergütung zu realisieren,
auflösen zu können, muss man nach neuen Wegen suchen. Das haben wir getan. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat am 25. November 2010 ein Expertengespräch
zum schwedischen Modell der Künstlervergütung durchgeführt. In Schweden hat man sich im Jahr 2009 für eine
untergesetzliche Regelung entschieden, die vorsieht,
dass Ausstellungshäuser, insbesondere die staatlichen
Museen, ein in einem Rahmenvertrag geregeltes Honorar an die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler
zahlen. Das schwedische Modell ist interessant, jedoch
aus mehreren Gründen nicht direkt auf Deutschland
übertragbar. Gleichwohl waren die damalige DiskusZu Protokoll gegebene Reden
sion und das schwedische Modell Anlass für die Künstlerverbände in Deutschland, auch hier die Debatte wieder anzuregen, was wir als SPD sehr unterstützen und
befördern. In Berlin beispielsweise wird die Einführung
eines Haushaltstitels für Ausstellungshonorare diskutiert.
An diesen Diskussionsprozess knüpft nun die Fraktion der Grünen an. Wir begrüßen die Initiative grundsätzlich, wobei ihr Antrag aus meiner Sicht einige wichtige Fragen unbeantwortet lässt. Warum beispielsweise
soll eine „verpflichtende Ausstellungszahlung“, wie es
im Antrag heißt, nur auf die vom Bund geförderten Einrichtungen und Projektträger beschränkt bleiben? Von
den über 6 000 Museen und Ausstellungshäusern in
Deutschland sind nach Angaben des Instituts für Museumsforschung nur 59 in der Trägerschaft des Bundes.
Der überwiegende Teil der Museen und Ausstellungshäuser ist in der Verantwortung von Ländern und Kommunen. Spannender wäre also die Frage, wie man es
schafft, zu einer umfassenderen Lösung zu kommen. Zudem muss man sich der Frage stellen, welche Effekte
eine solche Ausstellungszahlung in der Realität hat. Ich
erinnere an die zuvor angesprochenen Argumente des
Museumsbundes und von Vertretern aus den Ländern
und Kommunen und die von ihnen geäußerte Befürchtung, dass am Ende nur die etablierten Künstlerinnen
und Künstler profitieren und weniger Ausstellungen gemacht werden. Dann würde man den Künstlern einen
Bärendienst erweisen. Das ist nicht der Anspruch der
SPD, weshalb wir diese Fragen vertiefter betrachten
werden. Denn letztlich muss es das Ziel sein, dass die
Künstler und Kreativen durch ihr Schaffen und ihr Werk
auch ein angemessenes Einkommen erzielen können.
Wir debattieren heute einen Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, der sich im Grunde mit der sozialen Lage
von bildenden Künstlerinnen und Künstlern in unserem
Lande auseinandersetzt. Wie kann der Kreative von seinem Werk leben? Diese Frage ist auch für uns Liberale
eine der wichtigsten Fragestellungen der Kulturpolitik.
Zum Erhalt einer lebendigen und schaffenskräftigen
Kulturszene existiert eine Vielzahl von Werkzeugen, mit
deren Hilfe wir die Förderung des Kreativen unterstützen. Bund, Länder und Kommunen geben über 8 Milliarden Euro für die Förderung von Kunst und Kultur
aus, und zwar nicht nur für Einrichtungen und Projekte
der Hochkultur. Natürlich muss man in diesem Zusammenhang auch auf die einzigartige soziale Absicherung
hinweisen, die uns mit der Künstlersozialversicherung
zur Verfügung steht.
Bei aller Wertschätzung für meine Kollegin Agnes
Krumwiede, die den uns heute vorliegenden Antrag initiiert hat, berührt der Vorstoß von Bündnis 90/Die Grünen aus Sicht der Liberalen keine Punkte, die einer Regelung bedürfen. Künstler wissen sehr gut, auf welch
finanziell wackligen Brettern sie sich gerade zu Beginn
ihres Schaffens bewegen. Mit diesem Risiko und der
mangelnden Sicherheit muss jeder leben, der sich selbstständig betätigen möchte. Hier unterscheiden sich Kunst
und Kultur in der freien Szene nicht vom normalen
Marktgeschehen. Alles andere wäre auch lebensfremd.
Der erste Teil des Antrages beschäftigt sich mit der
prekären Lage vieler bildender Künstler und vieler Fotografen. Sie schreiben in Ihrem Antrag - Zitat -: „Wenn
kein Werksauftrag vorliegt, gehen bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen
mit der Erstellung eines Werkes grundsätzlich eine kreative und finanzielle Vorleistung ein“. Sie beschreiben die
finanziellen Risiken und die fehlende Sicherheit für
Künstlerinnen und Künstler im kommerziellen Raum,
stellen dann aber folgerichtig fest, dass man dort wohl
nichts machen kann. Die Einführung einer Ausstellungsabgabe im kommerziellen Raum wäre nämlich, so weit,
so richtig, kontraproduktiv für Nachwuchskünstler, die
damit kämpfen, überhaupt Raum für die Ausstellung ihrer Werke - oftmals in kleinsten privaten Galerien - zu
finden. Außerdem wäre es ein Eingriff in den Markt, beispielsweise in die Verhandlungen zwischen Künstlern
und Galeristen.
Warum aber sollen nun die durch den BKM geförderten Einrichtungen und Projekte eine solche Zahlung
leisten? Die vom BKM unterstützten Projekte zielen oftmals gerade auf die Förderung unbekannter Künstler
ab. Hier ist das Interesse des Künstlers doch vorrangig,
einen Bekanntheitsgrad aufzubauen. Es verhält sich also
nicht anders als im kommerziellen Raum. Der Ausstellungsraum ist für den Jungkünstler zunächst wichtiger
als die Vergütung. Die dann für eine Ausstellung fällige
Zahlung an den Künstler reduzierte die für andere Ausstellungen benötigten Mittel der Einrichtung.
Ganz anders verhält es sich mit den großen Staatsgalerien und Ausstellungstempeln. Die hier ausgestellten
Werke befinden sich ganz überwiegend im Eigentum der
Museen, Kunsthallen und Galerien oder werden von den
Käufern bzw. Sammlern der Werke für eine Ausstellung
zur Verfügung gestellt. Der Bekanntheitsgrad eines
Künstlers, der im Martin-Gropius-Bau oder in der
Neuen Nationalgalerie ausstellt, ist in der Regel auch
schon so groß, dass er erstens gesammelt wird und damit
Werke erfolgreich verkauft, und zweitens durch eine
Ausstellung weitere Sammler zum Kauf seiner Werke
animiert. Selbst wenn der Künstler nicht weithin bekannt ist, so gewinnt er durch eine Ausstellung in einer
großen vom BKM geförderten Einrichtung doch eine
Aufmerksamkeit, die in Geld nicht ohne weiteres aufzuwiegen ist und die sich im Nachhinein auch positiv auf
die finanzielle Situation des Künstlers auswirken wird.
Im Übrigen dürfte der Großteil von relevanten Ausstellungen in Einrichtungen der Länder und Kommunen
stattfinden, sodass der Bund hier qua fehlender Zuständigkeit nicht handlungsfähig wäre.
In jedem Fall vermisse ich in dem Antrag konkrete
Ausführungen, welche Einrichtungen zu welchen Bedingungen betroffen wären. Auch vermisse ich belastbares
Material, das die Situation derjenigen Künstler beschreibt, die in BKM geförderten Einrichtungen ausstellen. Die globalen Ausführungen der erwähnten Studie
des Bundesverbandes der bildenden Künstler, zumal aus
dem Jahr 2008, sind hier nur wenig hilfreich, weil daZu Protokoll gegebene Reden
raus keinerlei Rückschlüsse zu den vom BKM geförderten Einrichtungen gezogen werden können.
Mehrere Gefahren birgt der Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen ganz konkret: Erstens. Eine Ausstellungszahlung durch den BKM trifft womöglich ganz überwiegend diejenigen „großen“ Künstler, die aufgrund ihres
Erfolges gut auf das Geld verzichten könnten. Damit
würde gerade der Sinn und Zweck der Förderung von
Künstlerinnen und Künstlern, die unsere Unterstützung
nötig haben, verfehlt.
Zweitens. Es ist zu erwarten, dass sich die Ausstellungsabgabe auf die Eintrittspreise und damit negativ
auf die Besucherzahlen auswirken wird. Das wäre eine
Erschwerung des Zugangs zu Kunst und Kultur. Schließlich kann sich der BKM nicht aus der Haushaltskonsolidierung verabschieden und seinen Etat beliebig aufstocken. Die betroffenen Einrichtungen müssten also einen
eigenen finanziellen Beitrag zur Aufbringung der schon
häufig unter dem Begriff „Ausstellungsvergütung“ diskutierten Abgabe leisten.
Drittens. Viele vom BKM geförderte Einrichtungen,
gerade im kommunalen Bereich, würden keine Ausstellungen mehr durchführen, da sie damit finanziell überfordert wären oder den damit verbundenen Aufwand
scheuen.
Viertens. Die Festlegung einer solchen Ausstellungsabgabe dürfte sich schwierig gestalten, sowohl organisatorisch als auch der Höhe nach; denn jede geförderte
Einrichtung verfügt über andere räumliche und technische Voraussetzungen.
Der wirtschaftliche Erfolg von Künstlerinnen und
Künstlern liegt mir sehr am Herzen. Das Kernproblem
schein mir jedoch zu sein, diesen Künstlerinnen und
Künstlern genügend Ausstellungsraum und damit Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Vielleicht sollten
wir uns einmal Gedanken machen, wie wir diesem Umstand in Zukunft besser Rechnung tragen können.
Ich kann hier nur aus meinen eigenen Erfahrungen
berichten. Als Leiter eines kommunalen Kulturbetriebes
habe ich mindestens 15 Jahre Ausstellungen selbst verantwortet, zum Beispiel in Kirchenräumen, in einem
Speicherbau und in einem Theaterfoyer. Es war mir immer wichtig, einerseits Künstlern eine Plattform zu geben und andererseits den Besuchern die Schwellenangst
beim Galeriebesuch zu nehmen. Neben bekannten und
unbekannten regionalen Künstlern gab es auch Ausstellungen mit Georg Baselitz, Benjamin Katz oder Neo
Rauch. Dabei war es immer möglich, eine individuelle
und stimmige Vereinbarung zwischen Kommune und
Künstler zu treffen, aus der beide Seiten ihren Nutzen
ziehen konnten.
Ist Gott für die Finanzen zuständig? Oder wer? In der
aktuellen Ausgabe von Politik und Kultur sagt die
Künstlerin Sarah Haffner über Malen und Geld: „Wenn
man Freiberufler ist, muss man an Gott glauben. Gott ist
für die Finanzen zuständig.“ Die Beschreibung ihres Lebens und Arbeitens zeigt deutlich, welchen Unsicherheiten bildende Künstlerinnen und Künstler ausgesetzt
sind, die für den freien Markt arbeiten. Der Verkauf von
Werken ist von vielen Faktoren, auch vielen Zufälligkeiten, abhängig, mal gelingt er, mal gelingt er nicht. Sie
malt großformatige Bilder, nicht sehr markttauglich.
Dennoch schaffte sie es, über die Runden zu kommen,
auch wenn sie sich einschränken musste. Heute, nach
30 Jahren Selbstständigkeit, erhält sie Rente aus der
Künstlersozialkasse. „Wenn ich davon leben müsste,
sähe es schlimm aus“, sagt sie.
Seit der letzten großen Untersuchung zur sozialen
und wirtschaftlichen Lage von Künstlerinnen und Künstlern aus dem Jahre 1972, deren Befunde maßgeblich mit
zur Gründung der Künstlersozialkasse im Jahre 1983
führten, hat sich die Einkommenssituation von freiberuflich und selbstständig tätigen Künstlerinnen und Künstlern im Durchschnitt nicht verbessert - so lautete das
Fazit der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ in ihrem Abschlussbericht, Drucksache 16/7000
Seite 297 ff. In vielen Fällen hat sie sich sogar verschlechtert, ist von unsicheren und schwankenden, insgesamt geringen Einkünften gekennzeichnet. Das betrifft
insbesondere bildende Künstlerinnen und Künstler. Die
Gruppe der bildenden Künstlerinnen und Künstler verfügt mit 94 Prozent über den höchsten prozentualen Anteil von Selbstständigen, ebenda Seite 240. Der derzeitige durchschnittliche Jahresverdienst von bildenden
Künstlerinnen und Künstlern, die in der Künstlersozialkasse versichert sind, beträgt insgesamt 13 185 Euro.
Frauen verdienen noch deutlich weniger: 11 103 Euro
im Jahr. Sie haben also mehrheitlich ein Einkommen,
von dem sie nicht leben können.
Einer der Gründe für die schwierige wirtschaftliche
Situation dieser Berufsgruppe ist, dass die bildenden
Künstlerinnen und Künstler im Unterschied zu den
Werkschaffenden aller anderen Sparten bislang keine
Vergütung erhalten, wenn ihre Werke öffentlich ausgestellt werden. Bildende Künstlerinnen und Künstler beziehen ihre Einnahmen allein aus dem Verkauf der
Werke bzw. der Nutzung von Abbildungen dieser Werke.
Der Bundesverband bildender Künstler und andere
Künstlerverbände kämpfen gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi seit nunmehr über 30 Jahren darum, diese
Ungleichbehandlung zu beenden, bislang ohne Erfolg.
Eine Ausstellungsvergütung - so lautet die Forderung soll diese Lücke im Urheberrecht schließen. Wir als
Linke haben diese Forderung immer unterstützt, auch im
Rahmen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, die sich in ihrem Schlussbericht leider gegen eine
Handlungsempfehlung zu diesem Thema entschied,
Drucksache 16/7000, Seite 263 ff. Wir haben dazu ein
Sondervotum eingebracht und die rechtliche Verankerung einer Ausstellungsvergütung im Urheberrecht
empfohlen. Diese Forderung halten wir bis heute aufrecht.
Bündnis 90/Die Grünen bringen nun einen Antrag für
eine Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen
und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei
durch den Bund geförderten Ausstellungen ein. Das ist
noch nicht die Umsetzung der Forderung nach einer gesetzlich festgelegten Ausstellungsvergütung, wäre aber
Zu Protokoll gegebene Reden
aus unserer Sicht ein erster und wichtiger Schritt, um zu
einer solchen Regelung zu kommen. Vor allem wäre dies
ein wichtiger Beitrag des Bundes dazu, die wirtschaftliche Situation von bildenden Künstlerinnen und Künstlern zu verbessern. Der Bund könnte damit als Vorbild
für andere öffentliche Geldgeber in den Ländern und
Kommunen wirken und auch über den öffentlich geförderten Bereich hinaus dazu beitragen, die Wertschätzung für die kreative Leistung von bildenden Künstlerinnen und Künstlern zu erhöhen.
Wir unterstützen deshalb die im Antrag gestellten
Forderungen an die Bundesregierung. Im Rahmen der
Fördergrundsätze des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM, hätte hier der Bund
die Möglichkeit, ein Signal zu setzen. Mit der Aufnahme
einer pauschalierten Ausstellungszahlung in die Förderkriterien für die aus dem Etat des BKM finanzierten oder
geförderten Institutionen und Projekte, die Ausstellungen ausrichten, kann der Bund eine Zahlung an bildende
Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und
Fotografen für die öffentliche Ausstellung ihrer Werke
ermöglichen, sofern diese Einrichtungen und Projekte
dafür auch hinreichend finanziell ausgestattet werden.
Das heißt aber, dass die Bundeszuschüsse diesem finanziellen Mehrbedarf dann auch angepasst werden müssen. Das Geld müsste ja sonst woanders weggenommen
werden, im schlechtesten Falle könnten Projekte nicht
realisiert werden. Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Insofern bitten wir, zu überlegen, ob das nicht auch als
Forderung in einen solchen Antrag gehört. Vielleicht
müsste dafür auch ein spezieller Titel im Etat des BKM
eingerichtet werden.
Wir halten es für richtig, dass Höhe und Kriterien einer Ausstellungszahlung in einem Gremium mit Vertreterinnen und Vertretern der betroffenen Institutionen und
Projekte sowie von Verbänden festgelegt werden. Diese
haben auch die Kenntnisse und Erfahrungen, auf deren
Basis prognostiziert werden kann, welcher finanzielle
Mehrbedarf daraus für den Bund erwächst. Aus unserer
Sicht wäre das aber wahrlich gut angelegtes Geld. Wir
wollen die Finanzierung der Künstler nicht einfach dem
lieben Gott überlassen.
Ein Blick nach Schweden zeigt, dass auch kleine
Schritte in Richtung einer Ausstellungsvergütung einen
Prozess in Gang setzen können, der die Situation der
Künstler nachhaltig verbessern kann. Unter sozialdemokratischer Regierung wurde in Schweden der Anstoß
dazu gegeben, für staatliche Institutionen klare und verbindliche Regelungen aufzustellen, wie diese bildende
Künstler bezahlen müssen. Diese Regeln wurden zwischen den Organisationen der Künstler und dem Kulturrat ausgehandelt und traten mit Beginn des Jahres 2009
in Kraft. In einer Art Tarifvertrag werden staatliche Museen verpflichtet, eine Ausstellungsvergütung für die
Ausstellung von Werken zu zahlen, die im Eigentum eines in Schweden lebenden Künstlers stehen. Optional ist
ferner die Zahlung einer Mitwirkungsvergütung für die
Beteiligung zum Beispiel am Aufbau einer Ausstellung.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem
Schluss, dass das schwedische Modell, an einigen Stellen verbessert, eine gute Basis für Lösungsansätze in anderen Ländern sei.
Also: Lassen sie uns mit einer Ausstellungszahlung
an bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei durch den Bund geförderten
Ausstellungen beginnen und dann sollten wir erneut
über eine rechtliche Verankerung einer Ausstellungsvergütung nachdenken. Wir unterstützen den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Werke berühmter Künstlerinnen und Künstler bereichern nicht nur unser visuelles Umfeld und unsere Fantasie, sondern sind für viele Kunstsammler auch - je
nach Berühmtheit der Schöpferin oder des Schöpfers eine Kapitalanlage, die Option einer Wertsteigerung inbegriffen. Im Jahr 2009 betrug der Umsatz des Kunsthandels 1,8 Milliarden Euro, weltweit waren es
31,3 Milliarden Euro.
Meisterwerke kann man käuflich erwerben, Talent
nicht. Im krassen Gegensatz zu den meisten Käufern ihrer Werke befinden sich Künstlerinnen und Künstler die
meiste Zeit ihres Lebens in prekären Einkommensverhältnissen. Die von Carl Spitzweg illustrierte Metapher
auf die „brotlose Kunst“ trifft seit Generationen auf die
Biografien bildender Künstlerinnen und Künstler zu.
Einer der prominentesten unter ihnen ist Vincent van
Gogh. Zeit seines Lebens konnte er kaum eines seiner
Werke verkaufen, er war hoch verschuldet. Das Schicksal van Goghs ist auch heute exemplarisch für die Lebensumstände vieler bildender Künstlerinnen und
Künstler. Eine Studie des Bundesverbandes Bildender
Künstlerinnen und Künstler, BBK, zur „wirtschaftlichen
und sozialen Situation bildender Künstlerinnen und
Künstler“ belegt, dass über 50 Prozent der befragten
Künstlerinnen und Künstler im Laufe eines Jahres weniger als 5 000 Euro durch den Verkauf ihrer Werke eingenommen haben. Nach Angaben der Künstlersozialkasse
liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen bildender
Künstlerinnen und Künstler aktuell bei knapp über
13 000 Euro.
Für die Mehrheit der Kunstschaffenden im Bereich
bildende Kunst und Fotografie sind die Ausstellungsbedingungen in Deutschland finanziell unbefriedigend:
Während bildende Künstlerinnen und Künstler, Kunstfotografinnen und -fotografen im kommerziellen Raum
- beispielsweise in Galerien - zumindest eine theoretische Chance auf den Verkauf ihrer Werke haben, profitieren sie im nicht kommerziellen Raum - beispielsweise
in Museen - finanziell in den allermeisten Fällen nicht
von der Ausstellung ihrer Werke. Aber vom Ruhm allein
kann sich niemand seine Brötchen kaufen. Leihgebühren
für die Leihgabe von Kunstwerken zwischen Museen
sind schon längst üblich. Umso fragwürdiger erscheint
die Tatsache, dass das „Ausleihen“ von Kunstwerken
beim Künstler selbst kostenlos ist.
Seit mittlerweile 30 Jahren schwelt bei uns die Debatte um die Einführung einer Ausstellungsvergütung,
bisher ohne nennenswerte Initiativen vonseiten der BunZu Protokoll gegebene Reden
despolitik. Schweden ist diesbezüglich schon etwas weiter: 2009 wurde dort das sogenannte schwedische Modell eingeführt, eine Übereinkunft zwischen schwedischen Künstlerverbänden und staatlichen Ausstellungshäusern zur Zahlung einer pauschalierten Ausstellungsvergütung. Mit Blick nach Schweden ist eines der
Hauptargumente von Gegnern einer Ausstellungsvergütung schnell widerlegt: Die Ausstellungsvergütung ist
keineswegs mit immensen Kosten verbunden, die Vergütung der Künstlerinnen und Künstler macht gerade einmal zwei bis drei Prozent eines Ausstellungsetats aus.
Die von uns geforderte Aufnahme einer pauschalierten Ausstellungszahlung in die Fördergrundsätze des
Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM, wäre ein wichtiges Signal der Wertschätzung und ein Schritt zur Verbesserung der Entlohnung
künstlerischer Leistungen in den Bereichen bildende
Kunst und Fotografie. Der Bund könnte dadurch eine
Vorbildfunktion für Länder, Kommunen und private Aussteller übernehmen.
Unser Antrag sieht vor, in die Förderkriterien für alle
durch den Etat des BKM finanzierten oder bezuschussten Institutionen und Projektträger, welche öffentliche
Ausstellungen ausrichten, eine verpflichtende Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler
sowie Fotografinnen und Fotografen aufzunehmen, unter der Voraussetzung, dass sich die Werke im Eigentum
der Künstlerin bzw. des Künstlers befinden. Die Höhe
sowie die Kriterien einer Ausstellungszahlung sollten in
einem Gremium mit Vertreterinnen und Vertretern der
betroffenen Kulturinstitutionen und Projektträger, Vertreterinnen und Vertretern von Kunstverbänden und ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern sowie Fotografinnen und Fotografen festgelegt werden.
Die am teuersten verkauften Gemälde der Welt stammen überwiegend von Künstlern, die seit Jahrzehnten
verstorben sind. Unter den „Top 3“ befinden sich zwei
Werke von Pablo Picasso, jeweils im Wert von rund
100 Millionen Dollar. Ob Kunstwerke im Laufe der Zeit
eine Wertsteigerung erfahren und deren Schöpferin oder
Schöpfer in die Ahnengalerien berühmter Meister eingestuft wird, entscheiden oftmals erst die nachfolgenden
Generationen. Nicht zuletzt deshalb entspricht die Argumentation, ein außergewöhnlich talentierter Künstler
- bzw. Künstlerin - könne automatisch auch zeitlebens
gut von der künstlerischen Arbeit leben, nicht der Realität. Ich erachte es als eine der zentralen Aufgaben der
Kulturpolitik, dafür zu sorgen, dass Künstlerinnen und
Künstler faire Rahmenbedingungen zur Ausübung und
Vermarktung ihrer Kunst haben. Die zahlreichen alarmierenden Statistiken zur sozialen Situation Kulturschaffender in Deutschland drängen uns dazu, politisch
endlich aktiv zu werden: Wir müssen Künstlerinnen und
Künstler in Deutschland finanziell und wirtschaftlich
besser unterstützen. Die von uns geforderte Ausstellungszahlung ist auf diesem Weg ein Schritt in die richtige Richtung. Die Einführung einer Ausstellungszahlung im Rahmen der Kompetenzen des Bundes wäre
auch eine Geste der Wertschätzung. Damit könnte der
Bund lebenden Künstlerinnen und Künstlern, die unsere
Museen und somit unsere inneren Erlebniswelten mit ihren Werken bereichern, den notwendigen Respekt vor ihrer künstlerischen Leistung entgegenbringen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6346 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({0}), Aydan Özoğuz, Daniela Kolbe
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einrichtung eines Zentrums für Alevitische
Studien fördern
- Drucksache 17/5517 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
JugendHaushaltsausschuss
Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion behandelt übergeordnet gesehen einen Aspekt,
der uns allen in der Politik wichtig sein sollte: Religionsvielfalt und auch die grundgesetzlich verankerte
freie Ausübung der jeweiligen Religion.
Deutschland, geprägt durch seine christlich-jüdischen Wurzeln, wird durch seine Mitbürgerinnen und
Mitbürger verschiedener Glaubensrichtungen seit Jahrzehnten bereichert. Das friedliche Nebeneinander verschiedener Religionen in unserem Land ist ein Beispiel,
das Mut macht für andere Länder auf dieser Erde, in denen Konflikte wegen verschiedener Religionszugehörigkeiten leider auch noch an der Tagesordnung sind. Diese
Religionsfreiheit in Deutschland setzt Toleranz und gegenseitiges Verständnis auf der einen Seite, aber auch
den selbstreflektierenden-kritischen Umgang mit der eigenen Religion auf der anderen Seite voraus. Insbesondere der jeweilige Religionsunterricht an staatlichen
Schulen trägt dazu bei, sich religiös zu bilden, den eigenen Glauben zu festigen und objektiv die eigene und
auch fremde Religionen zu verstehen.
Zum Islamunterricht an Schulen. Über den flächendeckenden Islamunterricht in Schulen wird bereits intensiv auf Länder- und auf Bundesebene diskutiert, viele
Bundesländer führen dazu bereits erfolgreich Modellversuche durch. Zukünftig werden wir für den islamischen Religionsunterricht staatlich ausgebildete Religionslehrer und Pädagogen benötigen. Genau deswegen
werden - mit Unterstützung der Bundesregierung - bereits islamische Zentren an staatlichen deutschen Hochschulen gegründet und gefördert. Auch die fundierte
Ausbildung alevitischer Religionslehrerinnen und -lehrer ist notwendig. Es ist wichtig, diese große Glaubensgemeinschaft in Deutschland zu berücksichtigen. Mit
den Vertretern der alevitischen Gemeinde in DeutschMarcus Weinberg ({0})
land findet übrigens seitens der Bundesregierung durch
Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich bereits
ein intensiver Austausch statt, was zeigt, welchen Stellenwert die Bundesregierung auch den Aleviten und ihren Vertretern zumisst.
Zur Ablehnung eines alevitischen Zentrums. Eine gesonderte Einrichtung eines Zentrums für alevitische Studien, wie in dem Antrag der SPD gefordert, betrachte
ich in der momentanen Situation skeptisch: Zum einen
müssen sich die alevitischen Gemeinden und Verbände
innerhalb ihrer Gemeinschaft darüber im Klaren werden, wie sie sich genauer religiös positionieren. Unter
anderem in dem Buch „Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora“ von Martin Sökefeld aus dem Jahr 2008 wird
deutlich, dass unter den Aleviten selbst offenbar keine
Einigkeit bzw. eine gewisse Unsicherheit darüber
herrscht. Dieser Prozess sollte zunächst abgeschlossen
werden.
Zum anderen sollten wir auch die Ergebnisse der
Forschungsgruppe „Islamische Religionsbedienstete.
Forschungsprojekt zur Gewinnung vertiefender Informationen über Imame und Dedes in Deutschland“ abwarten und auswerten. Aus diesem Projekt werden mit
Sicherheit noch viele Aspekte zur zukünftigen Ausbildung von islamischen Religionslehrern erwachsen.
Wie bereits Bundespräsident Christian Wulff in seiner
Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit im letzten
Jahr richtig anmerkte, gehört der Islam zu Deutschland.
Dem schließen wir uns an; denn Religionsfreiheit und
auch Religionsvielfalt in Deutschland sind uns als
Unionsparteien wichtig. Wir unterstützen den Dialog
der Bundesregierung mit der alevitischen Gemeinde in
Deutschland ausdrücklich. Es ist aber meiner Meinung
nach zu früh, um ein Zentrum für alevitische Studien einzurichten.
Insoweit können wir uns dem Antrag in dieser Form
so nicht anschließen. Wir sollten im zuständigen Ausschuss weiterhin über das weitere Vorgehen diskutieren.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aus der
SPD-Fraktion, dass sie mit ihrem Antrag ein Thema auf
die Tagesordnung gebracht haben, das uns gemeinsam
am Herzen liegt: Die Ausbildung alevitischer Religionsgelehrter und Pädagogen. Sie verweisen zu Recht
darauf, dass in unserem Land nach Schätzungen des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge circa
500 000 Menschen leben, die sich zum Alevitentum bekennen. Die alevitische Gemeinde Deutschlands weist
selbst noch höhere Zahlen aus und geht von bis zu
700 000 Aleviten in unserem Land aus. Selbstredend gilt
für sie - wie für alle Menschen, die einer Religion angehören - Art. 4 unseres Grundgesetzes, nach dem sie ihre
Religion ungestört ausüben dürfen. Daraus folgt, dass
dazu auch die Strukturen notwendig sind, die ihre Religionsausübung gewährleisten. Dazu gehört nicht nur
- wenn auch zentral - der Bau von Gotteshäusern, sondern sicherlich auch die Möglichkeit der religiösen Bildung. Aus diesem Grund sieht unsere Verfassung trotz
der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche die
Kooperation im Bereich des Religionsunterrichtes vor:
Gerade auch für eine Religionsgemeinschaft wie die
Aleviten, denen die Bildung, speziell ihrer Kinder, ein
Herzensanliegen ist, sollten wir diese Möglichkeiten
nutzen und fördern.
Den Wunsch von Eltern, die sich religiöse Bildung für
ihre Kinder wünschen, beantworten wir positiv. Die
Union engagiert sich aus diesem Grund nicht nur für
den Erhalt des konfessionellen christlichen Religionsunterrichtes - anders übrigens, als die meisten Ihrer Berliner Kolleginnen und Kollegen -, sondern wir fordern
seit langem den flächendeckenden bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht. Selbstverständlich
erheben wir diese Forderung auch für Religionsunterricht für Kinder der alevitischen Glaubensrichtung. Allerdings gebe ich auch zu: Es braucht einen langen
Atem, bis die strukturellen Voraussetzungen gerade in
unserem guten föderalen System dafür geschaffen sind.
Religionsunterricht, der verfassungsgemäß - in Art. 7
Abs. 3 - ordentliches Lehrfach an staatlichen Schulen
ist, braucht qualifiziertes Personal. Er muss von Lehrkräften erteilt werden, die eine Ausbildung, ein Studium
mit hohen Qualitätsstandards erfahren haben und die
mit der deutschen Sprache souverän vertraut sind. Religionslehrerinnen und Religionslehrer - das gilt umso
mehr noch für Dedes bzw. Anas, die auf die Sorgen ihrer
Gemeindemitglieder seelsorgerisch reagieren können
müssen - müssen die Lebenswirklichkeiten und die Fragen der Menschen, gerade der Jugendlichen, die hier leben, kennen. Es ist daher unweigerlich richtig: Unsere
Universitäten sind der richtige Standort für die theologische Ausbildung. Theologie als Wissenschaft, mittels derer Glaubensgrundsätze vermittelt, hermeneutisch-kritisch durchdrungen und in den Kontext der jeweiligen
Zeit hineininterpretiert werden können, ist eine wichtige
akademische Disziplin. Unsere staatlichen Universitäten, an denen dafür wissenschaftliche Qualitätsstandards, Forschungsfreiheit bei gleichzeitiger Bewahrung
der Glaubensgrundsätze und die Möglichkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit mit verwandten Fächern
gegeben sind, sind daher der richtige Ort für die theologische Wissenschaft. Hinzu kommt, dass die Theologie
in Deutschland zudem eine Tradition hat, auf die wir
stolz sein können.
Religion ist wichtig für unsere Kultur, sie ist wichtig
für die Identität des Einzelnen, also um der Angehörigen
der Religion selbst willen, und sie ist auch wichtig unter
dem Aspekt der Integration. Der Frieden und der respektvolle Umgang unter den Angehörigen der verschiedenen Religionen in unserem Land ist eine maßgebliche
Voraussetzung für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Gegenseitiges Verständnis als Grundlage von Toleranz und des gedeihlichen Zusammenlebens erfordert,
dass wir die religiösen Traditionen, die Glaubensgrundlagen des jeweils anderen kennen.
Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist
der richtige Ort, um hierfür die Grundlagen zu legen:
Junge Menschen lernen im bekenntnisorientierten Religionsunterricht - egal, ob katholisch, evangelisch, alevitisch-islamisch oder jüdisch etc. - am besten, sich mit
Zu Protokoll gegebene Reden
religiösen und ethischen Inhalten auseinanderzusetzen.
Für den Dialog mit anderen Religionen ist es notwendig,
sich mit dem eigenen, auch gelebten, Glauben zu befassen. Konfessioneller Religionsunterricht hilft jungen
Menschen, Orientierung zu finden und einen eigenen
Standpunkt auszubilden; gerade für junge Menschen,
die aufgrund ihrer Migrationserfahrung verstärkt auf
der Suche nach Heimat und Identität sein können, kann
der Religionsunterricht, wenn er mit geeignetem Personal durchgeführt wird, hierfür eine wichtige Stütze sein.
Theologisches Wissen erleichtert es, auch der eigenen
Religion gegenüber kritisch zu bleiben und fundamentalistischen Tendenzen zu widerstehen.
Wir wissen, dass wir für einen solchen Religionsunterricht, der diesen Anforderungen gerecht werden soll,
gut ausgebildete Religionslehrerinnen und -lehrer brauchen. Unsere Bundesregierung hat dies nicht nur wortreich bekundet, sondern hat dieser Erkenntnis längst Taten folgen lassen. So diskutieren wir beispielsweise im
Forum der Deutschen Islamkonferenz seit 2006 mit Vertretern der muslimischen Verbände sowie muslimischen
Einzelpersönlichkeiten darüber, wie dies im Fall der islamischen Theologie gelingen kann. Sie haben ausdrücklich begrüßt, dass unsere Bundesregierung der
Empfehlung des Wissenschaftsrates vom Januar 2010
gefolgt ist und die Gründung islamischer Zentren an
staatlichen Universitäten auch vom Bund gefördert
wird. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so deutlich machen, dass Sie diesen Schritt begrüßen. Ich freue mich,
dass wir uns hier über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Aufgabe einig sind.
Islamischer Religionsunterricht ist darüber hinaus in
der zweiten Runde der Islamkonferenz seit 2009 ein ausdrückliches Schwerpunktthema der Konferenz, die sich
in dieser Legislaturperiode noch stärker den Herausforderungen der Praxis widmet. Ich freue mich, dass die
Alevitische Gemeinde Deutschlands die Einladung unseres Bundesinnenministers in dieses Forum angenommen hat und dass sie - selbstverständlich unter dem entsprechenden Vorbehalt, den wir ernst nehmen - sich
auch bereit erklärt hat, in der Projektgruppe „Fortbildung von religiösem Personal“ der Deutschen IslamKonferenz mitzuarbeiten, die bereits einen „Leitfaden
für die gesellschaftskundliche und sprachliche Fortbildung von religiösem Personal und weiteren Multiplikatoren islamischer Gemeinden auf kommunaler Ebene“
erarbeitet hat.
Unser Bundesinnenminister, Dr. Hans-Peter
Friedrich, hat sich auch persönlich unmittelbar nach
seinem Amtsantritt bei einem Besuch der Alevitischen
Gemeinde in Deutschland Ende März mit den Vorsitzenden des größten Dachverbandes der Aleviten zum Austausch getroffen. Ich bin daher sicher, dass auch auf
dieser Ebene die Frage, wie wir die qualifizierte Ausbildung alevitischer Religionsgelehrter und Pädagogen
unterstützen können, konstruktiv weitergeführt wird. Als
Beauftragte meiner Fraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften bekunde ich ganz offen meine Sympathie
für die Forderung der Alevitischen Gemeinde Deutschland nach einem Lehrstuhl für alevitische Theologie. Ich
würde die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls - vielleicht wäre ja eine Stiftungsprofessur denkbar? - ausdrücklich begrüßen.
Aber ich möchte Sie doch um Zurückhaltung bitten,
was die - vielleicht vorschnelle - Forderung nach einem
alevitischen Zentrum betrifft. Ich möchte sie dazu auf
drei Anhaltspunkte verweisen, bevor ich zum Schluss
komme. So darf ich von der Homepage der Alevitischen
Gemeinde in Deutschland zitieren:
Für die Gewährleistung einer adäquaten Ausbildung ist die Schaffung eines ordentlichen Lehrstuhls für die alevitische Theologie unumgängliche
Voraussetzung. Es gibt zur Zeit in Deutschland
keine universitäre Möglichkeit, Lehrerinnen und
Lehrer für den alevitischen Religionsunterricht auszubilden. Die Ausbildung der alevitischen Lehrer
soll an einer Universität mit einem Erweiterungsfach erfolgen. Alevitische Studenten sollen die
Möglichkeit haben, das Zusatzfach Alevitische Religionslehre zu ihren zwei obligatorischen Studienfächern zu belegen.
Von einem Zentrum ist hier nicht die Rede. Zudem
sollten wir abwarten, was das Forschungsprojekt: „Islamische Religionsbedienstete - Forschungsprojekt zur
Gewinnung vertiefender Informationen über Imame und
Dedes“, das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert wird, ergibt. Dieses Forschungsprojekt
soll unter anderem bessere Kenntnisse über die Bildungsvoraussetzungen von Imamen und Dedes gewinnen, um den Bedarf der Aus- und Fortbildung zu eruieren und Bildungsangebote zielgruppengerecht gestalten
zu können. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes
sollten wir doch berücksichtigen, bevor wir uns nun bei
der Ausbildung alevitischer Religionsgelehrter nur an
dem - durchaus wichtigen - Bedarf an Religionslehrern
orientieren würden.
Zum anderen möchte ich, wie im Antrag der SPD
gefordert, auf die Erkenntnisse des Deutschen Wissenschaftsrates verweisen. Er stellt in seinen „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“
vom Januar 2010 für den Fall, dass Aleviten sich nicht
im Kontext des Islam verorten, ausdrücklich folgende
Überlegung an:
Sofern sich alevitische Gemeinden und Verbände
nicht im Kontext des Islam verorten, können sie
keine Akteure im Kontext der Islamischen Studien
werden. Dies schließt aber keineswegs aus, dass die
alevitische Glaubensrichtung in Lehre und Forschung in anderen Fächern wie zum Beispiel in der
Religionswissenschaft oder in der Turkologie wissenschaftlich begleitet werden kann.
Auch hier ist also von einer Forderung nach einem
speziellen Zentrum keine Rede.
Ob es für die Förderung der Ausbildung alevitischer
Religionsgelehrter eines eigenen Zentrums bedarf, um
darüber zu entscheiden, ist es zum jetzigen Zeitpunkt zu
früh. Über die Form, wie wir seitens des Staates die
Rahmenbedingungen unterstützen können, unter denen
alevitische Religionsgelehrte am besten ausgebildet
Zu Protokoll gegebene Reden
werden können, müssen wir noch weiter gemeinsam
nachdenken. Ich bitte Sie dafür um Ihre Unterstützung.
Nachdem der Wissenschaftsrat im Januar 2010 empfohlen hat, islamische Studien an Hochschulen zu etablieren, hat die Bundesregierung im Grundsatz richtig
reagiert: Es wurden Fördermittel zur Verfügung gestellt,
um die Bundesländer und Hochschulen bei der Einrichtung der neuen Zentren zu unterstützen. Inzwischen gibt
es vier Zentren, die von dieser Unterstützung profitieren.
Doch leider hat die Bundesregierung versäumt, auch
die Einrichtung eines Zentrums für alevitische Studien
zu fördern. Nach Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge leben in Deutschland zwischen
480 000 und 552 000 Menschen mit alevitischer Glaubensrichtung. Die Alevitische Gemeinde ist eine anerkannte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Für sie
muss der Gleichbehandlungsgrundsatz auch in dieser
Frage gelten. Zumal die zentralen Argumente, die für
die Einrichtung islamischer Studien gelten, auch hier
Bedeutung haben.
Bereits 2002 ermöglichte Berlin als erstes Bundesland alevitischen Religionsunterricht an öffentlichen
Schulen. Inzwischen wird in sieben Bundesländern alevitischer Religionsunterricht angeboten. In weiteren
Bundesländern laufen Vorbereitungen und Verhandlungen. Diese Entwicklung macht deutlich, dass eine Etablierung einer Ausbildung alevitischer Religionsgelehrter und Pädagogen an Hochschulen in Deutschland
notwendig ist und unterstützt werden muss.
Darüber hinaus geht es grundsätzlich darum, wie bei
anderen Theologien eine wissenschaftliche Beschäftigung in und mit dem Glauben zu organisieren. Das ist
Voraussetzung für einen vertieften Dialog über Grundlagen und Ausrichtung der Religionen und der Religionsgemeinschaften in Deutschland. Dies ist ein Zukunftsthema.
Die Religionen sollen Teil einer lebendigen, demokratischen und sozialen Gesellschaft sein - dafür liefert
die wissenschaftliche theologische Debatte unverzichtbare Grundlagen. Ohne gegenseitigen Respekt und Toleranz, ohne Gleichbehandlung und Akzeptanz ist gutes
Zusammenleben nicht erreichbar. Und dazu gehört eben
auch der Umgang mit dem anderen Glauben.
Gerade bei der gesellschaftlichen Debatte ebenso wie
bei der Vermittlung von Glaubensfragen müssen wir
weltoffen, pluralistisch und integrativ handeln. Der alevitische Glaube hat seine Rolle und Bedeutung. Das
muss durch die Einrichtung eines Zentrums für alevitische Studien an einer deutschen Universität verdeutlicht
und unterstützt werden. Wir fordern darum die Bundesregierung auf, einen Wettbewerb zur Einrichtung eines
solchen Zentrums auszuschreiben.
Mit unserem Antrag möchten wir ein klares Signal
setzen, dass auch Alevitinnen und Aleviten in unserem
Land willkommen sind und dass wissenschaftliche Forschung und Lehre über die alevitische Glaubensrichtung
dringend notwendig ist.
Lange hat es gedauert, bis die ersten Zentren für Islamische Studien an deutschen Hochschulen eingerichtet
wurden - das ist ein richtiger Schritt. Wir begrüßen es
außerordentlich, dass sich Ministerin Schavan zusammen mit den Ländern und den Universitäten auf vier
Standorte verständigt hat, an denen islamisch-theologische Nachwuchswissenschaftler, Religionslehrer und
Religionsgelehrte ausgebildet werden können. Die SPD
wollte solche Lehrstühle seit langem einrichten; schön,
dass es nunmehr geklappt hat.
Vor diesem Hintergrund fände ich es aber folgerichtig, auch ein Zentrum für Alevitische Studien an einer
deutschen Universität einzurichten. Laut Bundesbildungsministerin Schavan sind die neuen Lehrstühle dafür verantwortlich, die personellen Voraussetzungen für
einen bekenntnisgebundenen islamischen Religionsunterricht und für die Ausbildung von wissenschaftlichem
Nachwuchs zu schaffen. Schon heute gibt es genau diesen bekenntnisgebundenen alevitischen Religionsunterricht in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern. Daher ist ein Zentrum für Alevitische Studien, an
dem wissenschaftliche Forschung, Lehre und Diskurs
über das Alevitentum stattfinden und die Lehrkräfte für
den alevitischen Religionsunterricht ausgebildet werden
könnten, durchaus erforderlich.
Dass die Bundesregierung keine Initiative für so ein
Zentrum zeigt, ist ein eklatanter Widerspruch zu den
selbst gesetzten Zielen. Diese Herausforderung war
schon lange absehbar, wenn wir uns noch einmal vor
Augen führen, dass die Alevitische Gemeinde seit 2005
eine anerkannte Religionsgemeinschaft nach Art. 7
Abs. 3 des Grundgesetzes ist.
Als Antwort auf Frage 17 in unserer Kleinen Anfrage
auf Drucksache 17/3387 fiel der Bundesregierung lediglich ein, dass sie erwarte, dass das vielfältige Glaubensspektrum des Islam sich am besten dadurch abbilden
könne, dass die Bundesregierung keine Vorgaben dazu
macht, sondern den Ländern und Standorten die Möglichkeit gebe, unterschiedliche Konzepte zu verfolgen,
was die Besetzung der Beiräte und die Ausrichtung des
Angebots betrifft. Dies wird zurzeit richtigerweise kontrovers diskutiert. Wir müssen uns dann aber auch
fragen, wie die Lehrkräfte für den alevitischen Religionsunterricht ausgebildet werden sollen. Derzeitige Lösungen wie in Nordrhein-Westfalen mit zertifizierten
Kursen, angeboten durch die Alevitische Gemeinde
Deutschland e. V. selbst, sind ein erster Schritt, aber
nicht ausreichend. Für den Kurs benötigen interessierte
Lehrkräfte - in der Regel alevitischen Glaubens - eine
offizielle Abordnung durch die zuständige Schulbehörde,
was in der Vergangenheit wiederholt daran scheiterte,
dass die Schulen die Abordnung ablehnten, weil die
Lehrkraft an der Schule dringend gebraucht wurde und
unentbehrlich war.
Solange es kein Zentrum für Alevitische Studien gibt,
wird sich auch kein wissenschaftlich fundierter Diskurs
entwickeln. Lehre und Forschung an einem Zentrum
- angeschlossen an eine deutsche Universität - könnten
Zu Protokoll gegebene Reden
Aydan Özoðuz
auch das Verhältnis des Alevitentum zum sunnitisch und
schiitisch geprägten Islam in einem akademischen Diskurs untersuchen und thematisieren.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, unserem Antrag zu folgen und die Bundesregierung aufzufordern,
die Errichtung eines Zentrums für Alevitische Studien an
einer deutschen Universität auf den Weg zu bringen.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat die Initiative der
christlich-liberalen Bundesregierung von Anfang an gestützt, den Aufbau von Zentren für islamische Studien zu
fördern. Entsprechend der Empfehlung eines hochrangig besetzten Gutachterausschusses des Wissenschaftsrates wurden in zwei Auswahlrunden bereits insgesamt
vier Zentren für islamische Studien an deutschen Hochschulen eingerichtet. Im Herbst 2010 sind Tübingen und
Münster/Osnabrück und im Februar 2011 die Universitäten Erlangen-Nürnberg und Frankfurt/Gießen ausgewählt worden und erhalten seitdem eine Förderung aus
Bundesmitteln. Der Bund fördert für die nächsten fünf
Jahre Forschungsprofessuren, Mitarbeiterstellen und
Nachwuchsgruppen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, BMBF, stellt dafür pro Standort
bis zu 4 Millionen Euro zur Verfügung.
Man darf nicht vergessen, dass auf diesem Gebiet
jahrelanger Stillstand herrschte, sich kein Lüftchen
regte. Während elf Jahren sozialdemokratischen Tiefschlafs regte sich bei diesem wichtigen Thema nichts.
Und nun - ganz plötzlich - wird versucht, per Antrag
„Einrichtung eines Zentrums für Alevitische Studien fördern“ ein wenig Stimmung zu machen. Da passt natürlich, dass der Antrag der SPD-Fraktion sich als Potpourri unklarer und wenig durchdachter Forderungen
darstellt, alles nach dem Motto: in den Topf und kräftig
verrühren - wird schon eine rote Soße werden. - Etwas
Brauchbares kann dabei natürlich nicht herauskommen!
Zu den Inhalten: Man will zunächst einen „Wettbewerb“ anzetteln, um Bundesmittel für ein Zentrum an einer deutschen Universität loszueisen. Sehr kreativ! Das
Ganze wird damit begründet, dass die circa 500 000
Moslems alevitischer Prägung, die in Deutschland beheimatet sind, eine akademisch verwurzelte Anlaufstelle
benötigen. Das will ich gar nicht in Abrede stellen.
Leider wird das Vorhaben, auch auf Länderebene,
nicht so einfach umzusetzen sein, wie die SPD dies in ihrem Papier suggeriert. Man übersieht - ob wissentlich
oder nicht, soll hier einmal nicht interessieren, - dass
die alevitische Gemeinde nur in fünf Bundesländern als
„eine anerkannte Religionsgemeinschaft“ zählt. Dazu
gehören Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und
Nordrhein-Westfalen. In Bremen, Brandenburg oder
Rheinland-Pfalz, genau dort, wo die SPD seit Jahrzehnten das Zepter in der Hand hält, wird dies den alevitischen Gemeinschaften gerade nicht zuerkannt! Man
stelle sich unter diesen Umständen vor, wie ein Herr
Kurt Beck an der Johannes-Gutenberg-Universität in
Mainz ein solches alevitisches Zentrum eröffnet! Auch
sollte sich die SPD an die Nase fassen und nicht im
Glashaus mit Steinen spielen!
Die Gründung und Betreibung von Zentren für Islamstudien, wie sie erstmals von der christlich-liberalen
Bundesregierung vorangetrieben wird, ist Ausdruck einer offenen und toleranten Gesellschaft. Für uns Liberale leisten diese Zentren einen wichtigen Beitrag zur
Akzeptanz des Islams in Deutschland. Gerade die theologische Forschung und die Ausbildung von Religionslehrern und Imamen ist entscheidend für die Integration
von Muslimen in unserem Land. Der Islam kann in unserem Land von der hiesigen Bevölkerung nur dann als
Bereicherung angesehen werden, wenn er verfassungskonform ausgestaltet ist und unsere Werteordnung anerkennt. Wir haben uns in diesem Zusammenhang auch die
Frage gestellt, inwiefern die wesentlichen Strömungen
innerhalb des Islams hier gebündelt eine Heimat finden
können oder ob eine weitere Differenzierung zwingend
notwendig ist. Letztlich muss dies jedoch seitens der zuständigen Ebene entschieden werden.
Der Aufbau von Studiengängen liegt in der Zuständigkeit der Länder. Die Entscheidung über die Einrichtung von Zentren für islamische oder - wie von der SPDFraktion gefordert - alevitische Studien an deutschen
Hochschulen liegt grundsätzlich bei den Ländern. Bei
den islamischen Studien konnten sich diese um eine Förderung des BMBF bewerben, ohne dass das BMBF die
Inhalte der Studiengänge vorgegeben hatte. Für die Aleviten bestand und besteht die Möglichkeit, sich mit dem
Anliegen, die Etablierung der alevitischen Glaubensrichtung in Lehre und Forschung an deutschen Universitäten und die Ausbildung von alevitischen Geistlichen
in Deutschland voranzutreiben, an die vonseiten des
BMBF zur Förderung ausgewählten Standorte zu wenden. Das BMBF ist nach unseren Informationen in einem ständigen Austausch mit der Gemeinde der Aleviten
in Deutschland; insofern bedarf es hierfür keines Antrags aus den Reihen der Opposition.
Sollte unabhängig von der Etablierung der islamischen Studien in Deutschland ein landesseitig finanzierter Lehrstuhl für alevitische Glaubenslehre eingerichtet
werden, kann man aus unserer Sicht immer noch über
eine flankierende Bundesförderung nachdenken. Eine
spezielle Förderung für die Ausbildung alevitischer
Geistlicher im Rahmen der Etablierung islamischer Studien lässt sich mit Blick auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats und auf die Besonderheit der alevitischen
Glaubensrichtung in Bezug zum Islam jedoch nicht verwirklichen.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion kann eine institutionelle, solide und nachhaltige Finanzierung von
Hochschuleinrichtungen kaum „auf Basis eines Wettbewerbs“ sichergestellt werden. Wer eine dauerhafte Lösung sucht, muss ein gemeinschaftliches Vorgehen von
Bund und Ländern anstreben. Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag gaukelt den Betroffenen etwas
vor und findet daher nicht unsere Unterstützung.
In Deutschland lebt mehr als eine halbe Million Menschen der alevitischen Glaubensrichtung. Im vorliegenden Antrag stellt die SPD richtig fest, dass die alevitiZu Protokoll gegebene Reden
sche Gemeinde eine anerkannte Religionsgemeinschaft
ist. Die Fraktion Die Linke begrüßt daher den Antrag
der SPD nach der Einrichtung eines Zentrums für alevitische Studien.
Das wäre allein schon deshalb eine sinnvolle Maßnahme, weil es die Religionsfreiheit verlangt, dass der
Staat alle Religionsgemeinschaften gleich behandelt.
Die von der Bundesregierung angeregten Zentren für
Islamstudien würden dem nicht gerecht werden. Zwar
war deren Einrichtung ein guter und wichtiger Schritt.
Religiöse Vielfalt als Bereicherung zu verstehen und dabei mit aller Konsequenz für die Gleichbehandlung der
Religionen einzutreten bis hin zur Verankerung an den
Universitäten, in Forschung und Lehre, ist der nächste
wichtige Schritt.
Der Islam ist vielfältig ausgeprägt. Das ist zu erkennen und anzuerkennen. Gerade die alevitische Gemeinde
ist der Beweis dafür, dass es nicht den einen Islam gibt:
Genau wie bei Christen oder Juden gibt es sowohl konservative als auch liberale Erscheinungsformen ein und
derselben Religion. Die alevitische Gemeinde steht für
eine besonders liberale Ausprägung des Islam. Sie ist
damit ein lebendiges Gegenbeispiel für die stereotypen
Ressentiments, die immer wieder gegen die islamischen
Glaubensgemeinschaften - zum Beispiel aus den Reihen
der SPD durch Thilo Sarrazin - formuliert werden.
Alevitinnen und Aleviten bekennen sich zur unantastbaren Würde des Menschen, zur Gleichberechtigung von
Mann und Frau, zur Gewährleistung von Glaubens- und
Religionsfreiheit. Warum sollen wir also jenen unsere
Anerkennung und im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften gleichberechtigte Unterstützung verweigern?
An zahlreichen Schulen wird schon heute alevitischer
Religionsunterricht angeboten - der Antrag verweist auf
die Bundesländer Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen
und Bayern. Das ist gut, doch es mangelt gravierend an
speziell geschulten Lehrkräften. Die Nachfrage nach
alevitischem Religionsunterricht wird in den kommenden Jahren sogar weiter wachsen. Auch das spricht für
die Einrichtung alevitischer Zentren zur Ausbildung von
Lehrpersonal, zur Förderung von Wissenschaft und Forschung.
Die Regierungskoalition sollte sich daher ihrer Verantwortung stellen und der Einrichtung eines Zentrums
für alevitische Studien nicht verweigern.
Ich begrüße und unterstütze ausdrücklich die Initiative der SPD-Kolleginnen und -Kollegen, ein Zentrum
für alevitische Studien zu fördern. In Deutschland leben
inzwischen rund eine halbe Million Aleviten. Sie sind
überwiegend türkischer Herkunft und als Arbeitsmigrantinnen und -migranten nach Deutschland gekommen oder sind deren Nachkommen. In der Türkei leben
zwischen 13 und 22 Millionen Aleviten. Bis heute werden
die Aleviten vom türkischen Staat nicht als religiöse
Minderheit anerkannt, sondern immer noch diskriminiert und marginalisiert. Das hat zum Beispiel zur
Folge, dass alevitische Kinder am sunnitisch geprägten
Religionsunterricht teilnehmen müssen. Im Gegensatz
zur sunnitischen Glaubensrichtung erhalten sie auch
keine staatliche Unterstützung für die Ausübung ihrer
Religion, und ihre Versammlungshäuser sind nicht geschützt. Die Europäische Union hat die Diskriminierung
der Aleviten im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei mehrfach kritisiert.
Von orthodoxen sunnitischen Muslimen werden Aleviten als Häretiker und Ungläubige bezeichnet. Böswillige
Vorurteile gegen Aleviten sind bei türkischen Sunniten
noch heute verbreitet. In osmanischer Zeit wurde das
Alevitentum verfolgt, und bis in die jüngste Zeit gab und
gibt es in der Türkei Übergriffe und Pogrome gegen Aleviten vonseiten türkischer Nationalisten und sunnitischer Fundamentalisten. 1993 zündete in Sivas ein aufgebrachter Mob ein Hotel an, in dem sich zahlreiche
alevitische Künstler und Intellektuelle aufhielten.
37 Menschen starben in den Flammen.
Deutschland und die EU sollten die Beendigung der
Diskriminierung des Alevitentums von der Türkei unmissverständlich einfordern. Der deutsche Staat sollte
aber auch dazu beitragen, dass sich die Marginalisierung der Aleviten nicht auch noch in Deutschland fortsetzt. Deshalb ist es richtig, bei der Gestaltung des Religionsunterrichts und der Einrichtung von Zentren für
islamische Studien den alevitischen Glauben nicht einfach unter einem sunnitisch verengten Islam zu subsumieren, sondern seine Selbstbestimmung und Eigenständigkeit zu betonen.
Die Alevitische Gemeinde in Deutschland fordert seit
langem die Möglichkeit für alevitischen Religionsunterricht in deutscher Sprache an deutschen Schulen. Einige
Städte haben bereits damit angefangen. Dies setzt aber
die Ausbildung von geeignetem Lehrpersonal an deutschen Universitäten voraus.
Einige Aleviten sehen sich als Muslime, andere nicht.
Welcher Glaube zur muslimischen Religion gehört und
welcher nicht, kann und darf nicht die Politik entscheiden. Es muss den alevitischen Gemeinden und Verbänden überlassen bleiben, sich innerhalb des Kontexts des
Islam oder außerhalb zu verorten. Die Verortung können
die Gläubigen nur selbst vornehmen.
Diesem Spannungsverhältnis des Alevitentums im
Verhältnis zum Islam müssen auch die Institutionen
gerecht werden, die die Politik für die Herausbildung
theologischer Studien fördert. Deshalb ist es richtig, einerseits bei den Zentren für islamische Studien grundsätzlich keine Richtung islamischer Glaubenstradition
und Gelehrsamkeit auszuschließen, andererseits aber
auch parallel dazu ein Zentrum für alevitische Studien
einzurichten. Es geht dabei nicht nur um die Ausbildung
von Lehrpersonal für einen alevitischen Religionsunterricht. Das Alevitentum ist auch aus Forschungssicht ein
spannendes Feld mit seinen tiefen mystischen Wurzeln,
der herausragenden Bedeutung von Tänzen, Musik, Gedichten und Liedern, den vielen integrierten Elementen
des Sufismus bis hin zu besonderen Ausprägungen wie
den Derwischbruderschaften der Bektaschi. Die Aleviten in Deutschland haben aber auch aus politischer
Zu Protokoll gegebene Reden
Sicht Unterstützung nicht nur nötig, sondern auch verdient. Es handelt sich um eine tolerante Religion, in der
der Mensch und sein individuelles Verhältnis zu Gott im
Mittelpunkt stehen. Dogmatische Regeln wie Ritualgebete, Bedeckung oder Verschleierung von Frauen und
andere als oberflächliche Äußerlichkeiten bewertete
Vorschriften haben im Alevitentum keinen Platz. Die
Scharia wird abgelehnt. Männer und Frauen sind
gleichgestellt. Das Alevitentum ist eine humanistische
und universelle Religion, die zu liberalen und modernen
Gesellschaftsvorstellungen passt. Kein Wunder, dass die
Aleviten in Deutschland in der Regel gut integriert sind
und viele die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen
haben. Ein Zentrum für alevitische Studien wäre für die
gesamte deutsche Gesellschaft und nicht nur für die Aleviten ein Gewinn und könnte den Dialog der Weltreligionen um eine besondere Facette bereichern.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5517 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgrenzung stoppen - Alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Leistungsbezug
des Asylbewerberleistungsgesetzes in das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen
- Drucksache 17/6455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
„Ausgrenzung stoppen“ ist die plakative Überschrift
des vorliegenden Antrages der SPD-Fraktion. Sie implizieren, dass in unserem Land asylsuchende Kinder und
Jugendliche systematisch ausgegrenzt werden. Diesen
Vorwurf weise ich in aller Deutlichkeit zurück.
Bei der Lektüre Ihres Antrages ist aufgefallen, dass er
im Grunde deckungsgleich mit dem Bundesratsantrag
der Freien und Hansestadt Hamburg vom 14. Juni 2011
- Drucksache 364/11 - ist. Es freut mich, dass die SPD
in breiter Front antritt, aber führen Sie doch bitte keine
Scheingefechte.
Lassen Sie mich zur Thematik klar feststellen - und
Sie führen es in Ihrem Antrag auch an -: Die Kinder,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Leistungsbezug nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes,
AsylbLG, haben einen Anspruch auf die Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepaketes, das die Bundesregierung auf den Weg gebracht hat. Dies ist unstrittig. Sie
wissen auch, dass wir uns des Themas der jungen Menschen mit Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG bereits angenommen haben und der Sachverhalt geprüft wird. Daher kann ich die Notwendigkeit Ihres Antrages nicht
erkennen.
Sie verkennen komplett, dass die Problematik im
Fluss ist. Einerseits haben sich viele Kommunen der Herausforderung angenommen und gewähren den leistungsberechtigten Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen nach § 3 AsylbLG die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes im Rahmen ihrer Befugnisse
nach § 6 Abs. 1 AsylbLG. Andererseits beginnen die
Bundesländer, denen die Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes obliegt, eigene Regelungen zu erlassen. Beispielsweise beschloss der Berliner Senat im
April 2011, dass die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes allen Asylbewerberkindern gewährt werden.
Auch wenn Sie die Deutungshoheit über die Sozialpolitik gerne für sich in Anspruch nehmen, so müssen
Sie doch eingestehen, dass wir uns des Themas angenommen haben. Sie argumentieren in ihrem Antrag mit
der UN-Kinderrechtskonvention. Darf ich Sie daran erinnern, dass es gerade die christlich-liberale Koalition
war, die die UN-Kinderrechtskonvention vorbehaltlos
anerkannt hat? Wenn Ihnen das Thema so wichtig wäre,
hätten Sie die Jahre Ihrer Regierungsverantwortung
nutzen können, um dies abzustellen.
Durch Ihre Formulierung „bislang nicht vorgesehen“ müssen Sie einerseits erkennen, dass eine einheitliche Regelung angedacht und in Vorbereitung ist. Die
Bundesregierung teilte in ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion Die Linke ({0})
mit: „Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3
AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen für
Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfung der Bemessung der Leistungssätze. Diese Prüfung ist noch
nicht abgeschlossen.“
Andererseits impliziert „nicht vorgesehen“, dass Gewährung von Leistungen für Bildung und Teilhabe
schlicht und ergreifend verboten sei. Auf die Gefahr hin,
dass ich mich wiederhole: Es ist schon jetzt möglich und
vielfach auch gelebte Praxis, dass Kindern, die nach § 3
AsylbLG leistungsberechtigt sind, die Leistungen für
Bildung und Teilhabe als sonstige Leistungen nach § 6
Abs. 1 dritte Alternative AsylbLG gewährt werden.
Wir haben uns des Themas angenommen, und Sie wissen, dass wir und das BMAS den Sachverhalt zum Wohle
der Betroffenen prüfen. Ich möchte Sie daher auffordern, dass Sie Ihren Antrag zurückziehen. Das Thema ist
bereits auf der Agenda und auch für mich ein wichtiges
Anliegen. Da die Prüfung läuft, ist Ihr Antrag entbehrlich und daher von uns abzulehnen.
Wir behandeln den Antrag der SPD-Fraktion „Ausgrenzung stoppen - Alle Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene im Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes ({0}) in das Bildungs- und Teilhabepaket einbeziehen“.
Für mich als Christdemokratin ist es wieder sehr interessant, zu beobachten, dass ein solcher Antrag vonseiten der SPD gestellt wird. Dabei dürfte doch allen
Anwesenden bewusst sein, dass mit der Einführung des
Bildungs- und Teilhabepakets durch unsere Bundesregierung erst einmal das repariert werden musste, was
Rot-Grün seinerzeit bei der Einführung der ALG-IISätze vergessen hatte, nämlich einen Rechtsanspruch für
Kinder auf Bildung und aufs Mitmachen.
Nach einer für alle Seiten nervenaufreibenden Beratungs- und Umsetzungsphase, die vor allem seitens der
SPD immer wieder blockiert und unterbrochen wurde,
gab es für das Bildungspaket Ende März endlich den offiziellen Startschuss.
Bevor ich das AsylbLG ins Spiel bringe, möchte ich
noch einmal an die Idee des Bildungspaketes erinnern:
Kinder einkommensschwacher Familien sollen die Möglichkeit haben, Lern- und Freizeitangebote in Anspruch
zu nehmen. Anspruchsberechtigt sind Kinder und Jugendliche, deren Eltern leistungsberechtigt nach dem
SGB II sind, also Kinder, deren Familien Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag oder
Wohngeld beziehen.
Nun komme ich zum AsylbLG. Schon in der unglücklichen Titelwahl Ihres Antrags, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, der mit „Ausgrenzung stoppen“
beginnt, fragt man sich doch, ob der Leitgedanke des
Bildungs- und Teilhabepaketes richtig interpretiert
wurde. Kinder und Jugendliche, deren Familien rechtlich unter das AsylbLG fallen, können ebenfalls vom Bildungs- und Teilhabepaket profitieren.
Voraussetzung hierfür ist, dass ihre Eltern Leistungen
nach § 2 des AsylbLG beziehen. Ob dann aber ein
Anspruch auf die von der SPD infrage gestellten „sonstigen Leistungen“ vorliegt, ist eine Ermessensentscheidung. Dieses Ermessen obliegt - so sieht es der Gesetzgeber bei allen Verwaltungsakten wie auch bei diesem
vor - der jeweiligen Behörde vor Ort, sprich den Ländern und ihren Kommunen. Insgesamt sind für das Bildungspaket Summen von rund 1,6 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt worden. Diese kommen bundesweit
circa 2,5 Millionen Kindern zugute.
Sowohl bei der Umsetzung als auch bei den Ermessensleistungen im Einzelfall sind die Entscheidungsträger vor Ort gefragt. Da kann der Bund nicht bestimmen,
welche individuellen Bedürfnisse ein einzelner ALG-II oder AsylbLG-Empfänger in der Region XY aufzuweisen
hat. Der Bund kann auch nicht vorhersagen, welche besonderen Umstände in der Biografie oder der Region
des Leistungsempfängers dominieren und welche Handlungsansätze dort am besten geeignet sind.
Wir setzen deshalb auf das Vertrauen der Ansprechpartner vor Ort in den Ländern und Kommunen, die das
Bildungs- und Teilhabepaket an das Kind bringen. Denn
da sollen die Leistungen letztlich hin - zum Kind. Rot regierte Länder wie Berlin oder Hamburg haben das Bildungspaket bereits in den vergangenen Monaten auf Familien ausgeweitet, die einen Asylantrag gestellt haben.
Diese Entscheidung sollte man, wie diese Beispiele zeigen, durchaus den einzelnen Ländern überlassen. Vielleicht wäre es ja ganz interessant, wenn die SPD-Fraktion in einer Art Evaluation von ihren Erfahrungen in
den Ländern berichten könnte.
Als Harzer Christdemokratin kann ich aus persönlicher Erfahrung in meinem Wahlkreis sagen, dass dort
ein großartiges soziales Engagement, beispielsweise
seitens der Kirchen, vorhanden ist. Das ist in vielen Bereichen des sozialen Miteinanders der Fall. Bestimmte
Träger von Kindertagesstätten geben allen Kindern
- egal ob Leistungsempfänger oder nicht - ein kostenloses warmes Mittagessen.
Das Bildungspaket, das heißt die warme Mittagsversorgung, muss in diesen Fällen nicht beantragt werden.
Wir als Bund geben die Rahmenbedingungen, um die
freie Entfaltung der Persönlichkeit unserer Kinder vor
Ort zu gewährleisten, die dann von den Ländern und
Kommunen umgesetzt werden.
Der Bund kann nicht alles regeln. Länder und Kommunen vor Ort können und sollten im Interesse ihrer
Bürger in ihrem jeweiligen Bundesland Entscheidungen
und soziale Maßnahmen vor Ort regeln, und wir sollten
sie aus dieser sozialen Verantwortung nicht entlassen.
Heute haben wir mit unserem Antrag eine große und
wichtige Baustelle auf die Tagesordnung des Bundestages
gehoben. Es geht um die Bildungs- und Teilhabechancen
der Kinder in unserem Land. Die SPD-Bundestagsfraktion
setzt sich gemeinsam mit den sozialdemokratischen
Landtagsfraktionen dafür ein, dass endlich alle Kinder,
Jugendliche und junge Erwachsene einen Rechtsanspruch auf die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes bekommen. Dies ist bisher nicht der Fall.
Flüchtlingskinder, die weniger als vier Jahre in
Deutschland leben, haben keinen gesetzlichen Anspruch. Sie sind auf das Ermessen der jeweilig zuständigen Behörden angewiesen. Manche bewilligen, andere
nicht. Rund 40 000 Kinder sind betroffen, und es sind die
ärmsten der armen Kinder.
Kinder im Asylbewerberleistungsbezug müssen mit
bis zu 40 Prozent geringerer Regelleistung auskommen.
Sie sind deshalb in ganz besonderer Weise auf das Bildungs- und Teilhabepaket angewiesen. Doch sie werden
zu Bittstellern degradiert und bei Nichtgewährung
schlichtweg ausgegrenzt.
Wenn wir uns die Folgen einmal praktisch vorstellen,
kann die derzeitige gesetzliche Regelung dazu führen,
dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen, die zusammen in dieselbe Kita oder Schule gehen, von gemeinsamem Mittagessen, Ausflügen und Klassenfahrten ausgeschlossen ist und am Nachmittag nicht zum Sportverein
gehen kann. Diese bestehende Diskriminierung ist auch
mit der UN-Kinderrechtskonvention unvereinbar. Ein
unhaltbarer Zustand. Diese soziale Ungerechtigkeit
müssen wir schnellstens beenden. Die schulischen Erfolgschancen, insbesondere in höheren Klassen, werden
mangels Anspruch auf Lernförderung und Übernahme
der Schülerbeförderungskosten sowie den fehlenden
Zu Protokoll gegebene Reden
100 Euro jährlich für Schulbedarf ebenfalls stark verringert.
Welches Kind erreicht unter den ohnehin schwierigen
Bedingungen einer Flucht aus dem Heimatland in einem
fremden Land mit unbekannter Sprache ohne Unterstützung einen Schul- oder Berufsabschluss? Diesen jungen
Menschen wird auch noch die Hilfestellung des Bildungs- und Teilhabepaketes gerade in den wichtigen
ersten Jahren in Deutschland versagt, die wir anderen
Kindern aus sozial schwachen Familien zur Verbesserung ihrer Bildungschancen ermöglichen. Alle anderen
Gruppen, die derzeit Anspruch auf Bildungs- und Teilhabeleistungen besitzen, also Familien, die Grundsicherung, Sozialhilfe, Wohngeld oder Kinderzuschlag beziehen, haben - zumindest vergleichsweise - durchweg mit
weniger Schwierigkeiten zu kämpfen und größere finanzielle Möglichkeiten als diejenigen, die sich weniger als
vier Jahre im Leistungsbezug des Asylbewerberleistungsgesetzes befinden. Daher ist im Sinne der Gleichbehandlung von Kindern und Jugendlichen eine Gesetzesänderung unbedingt nötig.
Unsere sozialdemokratisch geführten Bundesländer
Berlin und Hamburg gewähren als Sofortmaßnahme
auch den aktuell ausgeschlossenen Kindern die Leistungen für Bildung und Teilhabe aus Landesmitteln. Sie tun
das, weil sie diese soziale Ungerechtigkeit zulasten von
Kindern nicht hinnehmen wollen.
Und wie sieht es auf Bundesebene aus? Mit dem
Motto „Mitmachen - Möglich machen!“ bewirbt Bundesarbeitsministerin von der Leyen das Bildungs- und
Teilhabepaket. Die große Gesetzeslücke, dass etwa
40 000 arme Flüchtlingskinder gar keinen Anspruch
aufs „Mitmachen“ haben, verschweigt sie. Korrigieren
will sie den Fehler aber bislang auch nicht. Es muss in
ganz Deutschland endlich eine klare und einheitliche
Regelung geben, die den Betroffenen Rechtssicherheit
gibt. Dafür müssen wir uns einsetzen.
In unserem vorliegenden Antrag, den Hamburg in
ähnlicher Form in den Bundesrat eingebracht hat, fordern wir die Bundesregierung daher auf, auch Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Asylbewerbern, die weniger als vier Jahre in Deutschland leben,
einen Rechtsanspruch auf Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets zu gewähren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
der Linken, Sie dürften keine Schwierigkeiten haben, unseren Anträgen im Bundestag und Bundesrat zuzustimmen. Sie haben ja beispielsweise im schleswig-holsteinischen Landtag kürzlich zusammen mit der SPD dafür
gestimmt, dass die Landesregierung allen Kindern aus
Asylbewerberfamilien die Bildungs- und Teilhabeleistungen gewähren soll. Leider ist dies an der schwarzgelben Regierungskoalition gescheitert. Ich bitte im Interesse der Flüchtlingskinder um Ihre Unterstützung.
Aber auch die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP lade ich ein, unseren Antrag zu unterstützen.
Meine Damen und Herren aus den Regierungsfraktionen, geben Sie sich einen Ruck und setzen Sie das Motto
„Mitmachen!“ Ihrer Ministerin von der Leyen endlich
aktiv in die Tat um.
Frau Ministerin von der Leyen, Sie stehen aber noch
viel stärker in der Bringschuld. Die Grundsicherungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes sind immer
noch verfassungswidrig und müssen schnellstmöglich
angepasst werden. Das wissen wir spätestens seit dem
Urteil zu den Regelsätzen im Sozialgesetzbuch II und XII
- also zum Arbeitslosgengeld II und der Sozialhilfe - im
Februar 2010, das natürlich auch für das Asylbewerberleistungsgesetz gilt. Dies habe ich bereits in zwei Reden
zum Asylbewerberleistungsgesetz im Juni 2010 und im
Januar dieses Jahres deutlich gemacht und Sie aufgefordert, endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die
derzeitige verfassungswidrige Leistungspraxis für Asylbewerber beendet. Wir haben diese Forderung am
2. März 2010 in unserem Antrag zur Neufestsetzung der
Regelsätze formuliert und in unserem Antrag zur transparenten Bemessung der Regelbedarfe vom 10. November 2010 erneuert. Geschehen ist seit bald eineinhalb
Jahren immer noch nichts. Frau von der Leyen, wann
handeln Sie endlich, um das Asylbewerberleistungsgesetz grundgesetzkonform und menschenwürdig auszugestalten?
Über 120 000 Menschen in Deutschland erhalten
Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Da sie
nicht arbeiten dürfen, sind sie zwangsläufig auf die
Grundsicherung angewiesen. Sie müssen aber mit deutlich weniger auskommen als Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und das, obwohl sie zum großen
Teil bereits viele Jahre in Deutschland leben. Allerdings
müssen nicht nur die Regelsätze selbst neu berechnet
werden, auch deren fortlaufende Aktualisierung muss
endlich sichergestellt werden. Denn seit Einführung des
Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 gab es keinerlei
Erhöhung der Regelsätze. Der Kaufkraftverlust beträgt
seitdem etwa 25 Prozent.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom Februar 2010 ausdrücklich eine transparente, menschenwürdige Grundsicherung und auch deren Anpassung an Preissteigerungen eingefordert. Dieses Urteil
unterscheidet nicht zwischen deutschen und ausländischen Menschen, die bei uns leben und auf Sozialleistungen angewiesen sind. Darüber hinaus sehen wir in weiteren Bereichen des Asylbewerberleistungsgesetzes
Handlungsbedarf und werden im Herbst einen dezidierten Forderungskatalog vorlegen. Das betrifft hauptsächlich das diskriminierende Sachleistungsprinzip
einschließlich der Gemeinschaftsunterkünfte, die medizinischen Leistungen, den Kreis der Leistungsberechtigten und die Dauer des Leistungsbezuges. Denn weder
Essenspakete noch Gutscheine für Kleidung oder Lebensmittel sind ein würdiger Umgang mit den Hilfebedürftigen, die zudem Mehrkosten durch den Verwaltungsaufwand verursachen.
Unmenschlich ist auch die teure Zwangsunterbringung in isoliert gelegenen Gemeinschaftsunterkünften.
Darüber hinaus muss der Kreis der Leistungsberechtigten überprüft und wieder auf den ursprünglich Personenkreis, für den das Asylbewerberleistungsgesetz 1993
geschaffen wurde, nämlich Asylsuchende und Flüchtlinge, reduziert werden, die unser Land voraussichtlich
wieder verlassen werden. Auch die Dauer des LeistungsZu Protokoll gegebene Reden
bezuges muss reduziert werden. Denn bei den derzeitigen vier Jahren kann nicht mehr von einem vorübergehenden Aufenthalt gesprochen werden.
Obgleich die sogenannte Residenzpflicht nicht im
Asylbewerberleistungsgesetz enthalten ist, sind Asylbewerberinnen und Asylbewerber von den damit verbundenen Mobilitätseinschränkungen betroffen. Deshalb
haben wir kürzlich einen Antrag zur Abschaffung der
Residenzpflicht und für mehr Bewegungsfreiheit für
Asylsuchende und Geduldete vorgelegt - Drucksache
17/5912. Auch hierfür werbe ich um Unterstützung.
Abschließend appelliere ich noch einmal an Sie: Der
Bildungs- und Teilhabeflickenteppich der deutschen
Kleinstaaterei beim Bildungspaket für Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern - wie es die „taz“ in
ihrer Ausgabe vom 8. Juni nannte - muss endlich ein
Ende haben. Handeln Sie im Sinne der 40 000 ausgegrenzten Flüchtlingskinder, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen in Deutschland, unterstützen Sie unseren
Antrag im Bundestag und wirken Sie auf Ihre Landtagsfraktionen ein, das Gleiche auf Landesebene zu tun. Nur
Bund und Länder gemeinsam können hier soziale Gerechtigkeit bewirken.
Mit der Leistungsreform des Sozialgesetzbuches II
haben wir am 25. Februar im Deutschen Bundestag
erstmalig einen Bildungs- und Teilhabeanspruch von
Kindern und Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen, geschaffen. Die bisherige Gesetzgebung und die bisherige Regelsatzverordnung sah keinerlei Anspruch auf diese Leistungen vor. Die christlichliberale Koalition war diejenige, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 ernst genommen und umgesetzt hat.
Wir haben uns dafür entschieden, im so wichtigen Bereich der Bildungsunterstützung von Kindern einen
Wechsel von Geldleistungen hin zu Sachleistungen zu
vollziehen. Wir wollen damit verhindern, dass Kindern
Chancen verwehrt bleiben, nur weil ihre Eltern aktuell
auf unsere Unterstützung und Solidarität angewiesen
sind.
Der Antrag der SPD verwundert mich aber doch ein
wenig. Zum einen haben wir die Leistungsreform des Sozialgesetzbuches II zusammen im Vermittlungsausschuss
beraten und gemeinsam im Bundestag und Bundesrat
beschlossen. Dabei haben wir auch Einigkeit über das
Bildungs- und Teilhabepaket hergestellt. Was mich aber
noch mehr verwundert, ist der genaue Inhalt Ihres Antrags. Sie haben in den Verhandlungen über einen Kompromiss bei der Leistungsreform des SGB II für eine
kommunale Lösung gestritten. Sie wollten, dass die
Kommunen die Verantwortung für die Erbringung des
Bildungs- und Teilhabepakets erhalten. Dadurch kann
jede Kommune unterschiedliche Wege beschreiten. Daher sollte es Sie nicht verwundern, dass wir nun kommunal unterschiedliche Lösungen und Herangehensweisen
haben. Das war Ihr Wunsch.
Der erste Vorschlag der Bundesregierung war, das
Ganze in der Hoheit der Bundesagentur für Arbeit zu
verorten. Daher sollten Sie jetzt auch nicht mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen. Sie wissen, das,
wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, die restlichen Finger auf einen selbst zeigen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar hat sich mit den Kindern befasst, deren Eltern Arbeitslosengeld II, den Kinderzuschlag oder Wohngeld
beziehen. Aussagen zum Asylbewerberleistungsgesetz
hat es nicht getroffen. Daher haben wir diesen Bereich
auch nicht gesetzlich geregelt. Es müsste doch in Ihrem
Sinne sein, dass die Kommunen jetzt über die Erbringung der Leistungen selbst entscheiden können. In § 6
Abs. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes heißt es:
„Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt
werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich, zur
Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten
… sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen … zu gewähren.“ Wir haben hier also schon eine gesetzliche Regelung. Zudem ist es schon heute so, dass der Großteil
der Kommunen die Leistungen auch für die Kinder aus
dem Rechtskreis des Asylbewerberleistungsgesetzes erbringt. Dabei werden es jede Woche mehr.
Ich möchte aber Ihren Antrag auch nutzen, um einen
anderen Aspekt in die Debatte einzuführen. Es steht für
die FDP-Bundestagsfraktion außer Frage, dass jeder,
der als Asylbewerber nach Deutschland kommt, das
Recht auf ein faires Verfahren und einen fairen Umgang
hat. Eines sollten wir aber nicht vergessen, dass es der
Wunsch fast aller Menschen ist, in ihrer Heimat glücklich, sorgenfrei und ohne Gefahr für Leib und Leben leben zu können. Um dies zu gewährleisten, hat diese Bundesregierung unter Bundesminister Dirk Niebel die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit deutlich verbessert. Unter dem Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe wollen
wir die Strukturen vor Ort so verbessern, dass die Lebenssituation für die Menschen in ihren Heimatländern
nachhaltig verbessert wird. Wir wollen die Menschen
befähigen, in ihrer Heimat ihre Situation zu verbessern.
Unsere wertegebundene Außenpolitik setzt einen
Schwerpunkt auf den Menschenrechtsdialog. Auch dies
ist im Sinne der Menschen, die in ihrer Heimat von absoluter Armut, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung bedroht sind.
Im Februar des vergangenen Jahres hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den ALG-II-Regelsätzen unterstrichen, dass das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums universale Gültigkeit besitzt. Das Verfassungsgericht hat außerdem die Anforderung formuliert, dass
dieses Existenzminimum auf Grundlage realitätsnaher,
transparenter und nachvollziehbarer Kriterien berechnet werden muss. Durch die Feststellung der universalen
Gültigkeit könnte man nun zu dem Schluss kommen, dass
die Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums auch
für Asylbewerberinnen und Asylbewerber bzw. Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, die bisZu Protokoll gegebene Reden
lang unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, gelten würde. Anders gesagt: Hätte die Bundesregierung
das Urteil zum Anlass genommen, eine verfassungskonforme Grundsicherung zu schaffen, müssten die damit
verbundenen Leistungen auch diesen Menschen zur Verfügung gestellt werden.
Die Realität aber sieht anders aus: Durch das Asylbewerberleistungsgesetz wird weder ein menschenwürdiges Existenzminimum gewahrt, noch liegen den Leistungssätzen nachvollziehbare Kriterien zugrunde. Die
Grundleistungen, die diesen Menschen zugebilligt werden, liegen mittlerweile über 30 Prozent unter den
Hartz-IV-Sätzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in besagtem
Urteil einer Gruppe von Betroffenen ganz besonders gewidmet: den Kindern. Es hat entschieden, dass das Existenzminimum von Kindern deren tatsächlichen Bedürfnissen entsprechend gesichert werden muss. Mit der
Neugestaltung der Regelleistungen in der Grundsicherung hat die Bundesregierung entschieden: Für Kinder
von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern oder aus
Familien mit ungesichertem Aufenthaltsstatus gilt dieses
Recht nicht. Dabei ist gerade ihre Situation alles andere
als ein Garant für eine bestmögliche Entwicklung. Auch
im Jahr 2011 ist ein Schulbesuch dieser Kinder erschwert, ist die Wohnsituation in maroden Sammelunterkünften eine zusätzliche und andauernde Belastung und
alles andere als kindgerecht. Ihre Familien haben in der
Regel keine Ansprüche auf familienpolitische Leistungen wie Kinder- oder Elterngeld und fallen nicht selten
auch nach längerem Aufenthalt in Deutschland aus dem
Bezug des Kinderzuschlages heraus, und dank der Bundesregierung besteht auch nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil kein Anspruch auf die Leistungen
des Bildungs- und Teilhabepaketes. Angesichts dieser
Situation wird wohl nur ein Zyniker noch von Teilhabe
an Bildung, Kultur oder Sport sprechen. An dieser Stelle
wird gern die Länderkompetenz ins Spiel gebracht, die
in diesem Fall auch kompetenter gehandelt haben, zumindest teilweise. Dieser Verweis aber ist falsch, denn
genau die Sicherung des Zugangs zu Bildung für alle
Kinder wurde vom Gericht eindeutig als Aufgabe des
Bundes definiert. Durch die Zuordnung im Asylbewerberleistungsgesetz schiebt die Bundesregierung genau
diese Verantwortung den Ländern zu. Ein unhaltbarer
Zustand.
Die Linke unterstützt die Forderung der SPD-Fraktion, auch Kindern und Jugendlichen, die Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, einen
Rechtsanspruch auf den Zugang zu den Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepaketes zu gewähren. Dies aber
kann nur ein erster Schritt sein. Die Linke fordert: Weil
das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums universale Gültigkeit besitzt, muss man es endlich auch den Menschen gewähren, die in der Bundesrepublik Zuflucht und Asyl suchen.
Für alle in unserem Land lebenden Kinder muss gelten:
Sie sind keine kleinen Erwerbslosen und keine kleinen
Asylbewerber. Sie sind Menschen mit eigenen Rechten
und Bedürfnissen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes muss umgesetzt werden. Dies ist bisher weder für
Menschen mit deutschem Pass noch für Flüchtlinge und
Asylbewerberinnen und Asylbewerber geschehen.
Bevor ich auf die berechtigte Forderung näher zu
sprechen komme, das Bildungs- und Teilhabepaket auch
den Kindern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zukommen zu lassen, möchte ich auf das Asylbewerbergesetz sowie das Bildungs- und Teilhabepaket eingehen.
Das Asylbewerberleistungsgesetz, AsylbLG, gehört
abgeschafft. Dies fordern wir Grüne schon seit Jahren,
ist es doch nicht ersichtlich, warum die Sozialleistungen
für erwachsene Asylsuchende um rund 38 Prozent niedriger sind als die sogenannten Hartz-IV-Regelsätze. Seit
Einführung des Gesetzes 1993 wurden die Leistungen
nach dem AsylbLG zudem kein einziges Mal an die Preisentwicklung angepasst. In einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales vom 7. Februar
2011 über unseren Gesetzentwurf für eine Aufhebung
des Asylbewerberleistungsgesetzes ({0})
sprach sich eine klare Mehrheit der Experten für unseren Gesetzentwurf aus. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 die Regelsätze des Arbeitslosengeldes II für verfassungswidrig erklärte, hat
dies nun unmittelbare Folgen für das AsylbLG.
Einzig eine Neuberechnung der Leistungen für Asylbewerberinnen und -bewerber greift aber zu kurz. Aus
unserer Sicht gelten die Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts nicht nur für Deutsche, sondern für alle
Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die
Bundesregierung verschleppt derweil die Neuberechnung und die Erhöhung der passiven Leistungen. Es ist
zu befürchten, dass sie wie schon bei den sogenannten
Hartz-IV-Regelsätzen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts wartet, bevor die Bundesregierung
selbst aktiv wird und das verfassungswidrige Gesetz abschafft.
Zum Bildungs- und Teilhabepaket. Der verfassungsrechtliche Zugang zu Bildung und Teilhabe hätte nach
dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts aus
dem Februar 2010 bequem im Kinderregelsatz oder in
Infrastrukturinvestitionen in Kitas und Schulen aufgehen können. Aufgrund der diskriminierenden Unterstellung, alle Eltern im SGB-II-Bezug würden ihre Gelder
verprassen, anstatt für das Wohl ihrer Kinder zu verwenden, wurde von Schwarz-Gelb die Umsetzung als Sachbzw. Dienstleistung beschlossen. Für diese Unterstellung gibt es im Übrigen keinerlei empirische Belege. Im
Gegenteil: Eine umfangreiche Studie aus diesem Jahr im
Auftrag des Diakonischen Werks Braunschweig und im
Auftrag der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
hat herausgefunden, dass Eltern mit geringem Einkommen zuallerletzt bei ihren Kindern sparen.
Im ursprünglichen Gesetzentwurf von Ministerin von
der Leyen sollten zudem nur Kinder aus Familien im
Hartz-IV-Bezug vom Bildungspaket profitieren. In den
zähen Verhandlungen zum Regelbedarfsermittlungsgesetz haben wir erreicht, dass der Kreis auch andere bedürftige Kinder umfasst. Außerdem haben wir dafür geZu Protokoll gegebene Reden
sorgt, dass die Kommunen und nicht die Jobcenter die
Umsetzung in die Hand nehmen können.
Ein wesentliches Problem bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakts stellt die extrem bürokratische
und vielschichtige Umsetzung dar. Zuständig für Antragstellung, Bewilligung und Abrechnung sind die Jobcenter, die Kommunen können durchführen. Es ist nicht
zu vermitteln, wie viel Mittel und Personal allein für die
Verwaltung aufgewendet werden muss. Das ist an Bürokratie kaum zu überbieten.
Ein weiteres Problem bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets stellt die Vielzahl an unbestimmten Rechtsbegriffen dar. So sind die Begriffe
„wesentliche Lernziele“ ({1}), „Mittagsverpflegung in schulischer Verantwortung“ ({2}) sowie „Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft“ in den Bereichen Sport, Spiel,
Kultur und Geselligkeit ({3}) nicht abschließend definiert. In der Praxis kommt es zur Rechtsunsicherheit, die schließlich wieder die Sozialgerichte
beschäftigen wird.
Zwar setzt das Bildungs- und Teilhabepaket den Anspruch auf Bildung und Teilhabe gesetzlich um, droht
aber aufgrund der genannten Probleme nicht hinlänglich in Anspruch genommen zu werden.
Anspruchsberechtigt auf Leistungen des Bildungsund Teilhabegesetzes sind neben dem schon genannten
Personenkreis Kinder nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten
Leistungen nach § 3 erhalten haben und die die Dauer
des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nicht anspruchsberechtigt sind nach bisheriger Gesetzeslage allerdings alle anderen Kinder nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz, obwohl diese natürlich auch zur Schule gehen und an kulturellen Aktivitäten teilhaben möchten.
Ein solcher Ausschluss ist nach unserer Auffassung
weder verfassungsrechtlich zulässig noch mit dem Umstand vereinbar, dass die Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern, die in großer Zahl auch künftig in
Deutschland leben werden, verbaut werden. Die Anhörung zum Asylbewerberleistungsgesetz im Arbeits- und
Sozialausschuss veranschaulichte diese Problematik. So
gab die Sachverständige Professor Dr. Frings etwa zu
bedenken, dass bei Kindern von Asylantragstellern und
Geduldeten, die in die normalen Strukturen, das heißt,
im Kindergarten oder in der Schule eingebunden sind,
„jede Sonderbehandlung gegenüber anderen Kinder zu
einer ausgesprochenen Stigmatisierung und Ausgrenzung führt“. Es sei ein Wertungswiderspruch, wenn es
einerseits eine Schulpflicht für diese Kinder gäbe sowie
einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, andererseits aber Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket vorenthalten werden. Eine solche Stigmatisierung und Ausgrenzung sei zudem teuer, wenn man
bedenke, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder langfristig in diesem Land blieben: „Wenn wir sie in dieser
Phase der ersten Jahre in dieser Weise ausgrenzen, dann
zerstören wir die Möglichkeit, dass sie zu unserem Humankapital beitragen und es ist auch volkswirtschaftlich
sehr bedauerlich, dass wir Hinderungsgründe setzen,
die erschweren, dass hier qualifizierte junge Menschen
heranwachsen können.“ Die Bundesregierung ist daher
aufgefordert, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Mit der Abschaffung des Gesetzes hätten konsequenterweise alle bedürftigen Kinder ausnahmslos
Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket. Geht sie
diesen Weg nicht, muss sie das Bildungs- und Teilhabepaket, trotz all seiner Tücken und Schwierigkeiten, auf
alle Kinder nach dem AsylbLG auszuweiten. Besser
wäre es dann aber auch, das Geld aus dem Paket in Infrastruktur und in höhere Kinderregelsätze zu investieren.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Halina Wawzyniak, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Chancen der Digitalisierung erschließen Urheberrecht umfassend modernisieren
- Drucksache 17/6341 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Angeblich leben wir ja im Zeitalter der Remix-Kultur,
und auch die Linke hat mit diesem Antrag ein so genanntes Remix oder auch Mash-up vorgelegt. Sie haben ihre
Handlungsempfehlungen, die für die Projektgruppe
„Urheberrecht“ in der Enquete-Kommission „Internet
und digitale Gesellschaft“ erarbeitet und dort weitgehend abgelehnt worden sind, in eine neue Form gebracht und als Antrag noch einmal hier im Plenum eingebracht. Wenn aber das Original nicht gut ist, dann
kann das Mash-up oder der Remix auch nicht gut sein.
Und genau darum geht es beim Urheberrecht - um
eine qualitativ anspruchsvolle und vielfältige Kulturlandschaft mit spannenden und immer wieder neuen
Ideen, die uns begeistern, unterhalten und inspirieren.
Dafür stellt das Urheberrecht den Urheber in den Mittelpunkt. Denn er ist es, der diese Ideen hat, umsetzt und
den Nutzern zur Verfügung stellt. Der Nutzer nutzt eben
dessen Kreativität, wenn er dessen Werk überarbeitet
und daraus ein Mash-up erstellt. Jedenfalls ist sein Kreativbeitrag in der Regel deutlich geringer. Der Antrag
der Linken verkennt dies, wenn sie einen „solidarischen
Gesellschaftsvertrag für die digitale Welt“ fordert. Sie
gibt vor, die Urheber zu stärken, aber eigentlich will sie
den Urheber zugunsten des Nutzers entmündigen, ent14102
eignen und entrechten. Sie fordern die Einführung unabdingbarer und von Verbotsrechten unabhängiger gesetzlicher Vergütungsansprüche. Damit bekämen die
Urheber grundsätzlich nicht mehr Rechte, sondern weniger. Denn über ihre jetzt bestehenden Rechte können
sie dann nicht mehr verfügen. Damit wird ihnen die
Möglichkeit genommen, ihre Werke zu monetarisieren
und ihre Investitionen zu amortisieren. Stattdessen würden sie pauschal vergütet. Das ist nichts anderes als eine
Abschaffung der Vertragsfreiheit und die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne. Zumindest wird damit schon in
Ihrer ersten Forderung das eigentliche Ziel Ihres Antrags klar: die Wiedereinführung des real existierenden
Sozialismus für die Kulturwirtschaft durch die Hintertür.
Auch die weiteren Forderungen lesen sich wie ein
Plädoyer für eine Egalisierung jeglichen Kreativschaffens. Die von Ihnen angesprochene Kulturflatrate führt
im Ergebnis dazu, dass der Markt ausgesetzt und die Urheber dazu gezwungen werden, ihre Werke gegen eine
Pauschalvergütung zur Verfügung zu stellen. Das ist für
den Nutzer vielleicht recht und vor allem billig, aber für
den Urheber ist dies der falsche Anreiz. Er möchte doch
in der Regel selbst bestimmen, wie sein Werk veröffentlicht wird, wer es nutzt und für welchen Betrag er bereit
ist, es zur Verfügung zu stellen. Sie treten hier nicht nur
die Eigentumsrechte, sondern vor allem das Persönlichkeitsrecht aller Kulturschaffenden in Deutschland mit
Füßen.
Auch die gesetzliche Konkretisierung des bislang unbestimmten Rechtsbegriffs der angemessenen Vergütung
in § 32 UrhG ist eine Bevormundung des Urhebers. Es
kommt eben auf den Einzelfall an, was angemessen und
was unangemessen ist. Eine gesetzliche Regelung kann
niemals jeden Fall erfassen, bleibt ungenau und ist daher nichts anderes als eine staatliche Preisfestlegung eine Wettbewerbsverzerrung. Genau das scheint es aber
auch zu sein, was Sie eigentlich wollen. Sie wollen keinen Wettbewerb und keinen freien Markt in der Kultur.
Sie wollen eine staatliche Kulturpolitik mit umfassender
Förderung. Dies birgt aber, wie wir aus 40 Jahren DDR
wissen, auch die Gefahr der staatlichen Einflussnahme
auf die Kultur. Dieser Ansatz hat sich nicht nur nicht bewährt - er ist geradezu eine Bedrohung für die Freiheit
aller Kulturschaffenden.
Ich halte es für richtig, dass sich jeder Kulturschaffende auch den Prinzipien des Marktes stellen muss. Es
ist nicht die Aufgabe des Staates, zu entscheiden, was
gute und was schlechte Kultur ist. Es soll die Gesellschaft als Ganzes entscheiden, was sie goutiert und was
nicht. Angebot und Nachfrage können dies sehr gut abbilden. Und ich finde es durchaus legitim, dass gute
Ideen und Werke belohnt werden. Konsequenterweise
müssen wir aber auch akzeptieren, dass manches Werk
nicht gelesen, gehört oder im Internet gedownloadet
wird. Dies mag daran liegen, dass das Werk seiner Zeit
voraus ist - oder eben, dass es einfach nicht gut genug
ist. Jeder Künstler muss damit leben, dass er nicht rezipiert wird - und dass er, wenn er nicht nachgefragt wird,
eben auch kein Geld bekommt. Ein Künstler ist eben
kein Arbeitnehmer, zu dem ihn der Antrag der Linke machen will; er ist kreativer Unternehmen.
Auch die Linke muss letztendlich damit leben, dass
ihr Mash-up, wenn es nicht gut genug ist, keine Zustimmung findet. Und nachdem das Original schon durchgefallen ist, wird die Kopie, auch wenn sie ein wenig abgeändert ist, trotzdem durchfallen.
Wir debattieren heute über die Anforderungen der digitalen Gesellschaft an eine Reform des Urheberrechts.
Ist das Urheberrecht wirklich „umfassend reformbedürftig“, wie die Fraktion Die Linke in ihrem heute vorgelegten Antrag behauptet? Müssen wir das Urheberrecht in seiner Substanz infrage stellen? Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke haben uns
heute ihre in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zur Abstimmung gestellten Handlungsempfehlungen zur Reform des Urheberrechts zur
Beratung vorgelegt. Ziel der Reform müsse eine grundlegende Neukonzeption des Urheberrechts sein.
Im Antrag findet sich eine Vielzahl von Vorschlägen,
die - so scheint es - auf den ersten Blick ganz auf die Interessen der Kreativen und Kulturschaffenden zugeschnitten sind. Einige davon sind diskussionswürdig, so
zum Beispiel die Forderungen nach zusätzlichen gesetzlichen Maßnahmen zur Stärkung des Anspruchs der Urheberinnen und Urheber auf angemessene Vergütung.
Teilweise schießen die Forderungen jedoch deutlich
über das Ziel hinaus. Wenn von einer Verkürzung der urheberrechtlichen Schutzfristen, einer Einschränkung
von Ausschließlichkeits- und Verbotsrechten und der
Einführung neuer Schrankenregelungen sowie der großzügigen Ausdehnung bestehender Schrankenbestimmungen die Rede ist, wird klar, wohin die Reise tatsächlich
gehen soll: Der Schutzzweck des Urheberrechts soll sich
vom Werkschöpfer lösen und die Interessen der Nutzerinnen und Nutzer in den Vordergrund rücken.
Das kann nicht Sinn und Zweck einer weiteren Urheberrechtsnovelle sein. Der Urheber selbst muss Mittelpunkt des Urheberrechts bleiben. Für eine Neuformulierung des Schutzzwecks des Urheberrechts besteht kein
Anlass.
Unbestreitbar ist: Das Urheberrecht unterliegt angesichts der rasanten technischen Entwicklung einem ständigen Anpassungsdruck. Die digitale Revolution hat die
Rahmenbedingungen für Werkschöpfer, Rechteinhaber
und Verwerter, aber auch für Nutzerinnen und Nutzer
grundlegend verändert. Das Internet erleichtert die Verletzung von Urheberrechten, und gleichzeitig stößt die
Verfolgbarkeit von Urheberrechtsverstößen im Internet
an ihre Grenzen. Rechteinhaber und Verwerter beklagen
dies nicht zu Unrecht. Auf der anderen Seite sieht die sogenannte Netzgemeinde das geltende Urheberrecht als
Hindernis für die Entfaltung des enormen kreativen Potenzials im Netz. In diesem Spannungsfeld bewegt sich
die Diskussion um die Zukunftsfähigkeit des Urheberrechts. Unbestritten ist auch, dass sich die bestehenden,
zu einem großen Teil auf die analoge Welt zugeschnittenen Regelungen des Urheberrechtsgesetzes nicht eins zu
eins auf die digitale Welt übertragen lassen. Daher
Zu Protokoll gegebene Reden
denke ich, wir sind uns einig, dass wir ein starkes Urheberrecht brauchen, auch und gerade im Internetzeitalter.
Deshalb ist unerklärlich, warum die Bundesregierung
ihren Ankündigungen, das Urheberrecht zügig fortzuentwickeln, keine Taten folgen lässt. Seitdem Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger am 14. Juni
2010 in ihrer Berliner Rede die Vorstellungen der Bundesregierung für einen „Dritten Korb Urheberrecht“
vage skizziert hat und Kulturstaatsminister Neumann im
November 2010 mit einem Zwölfpunktepapier zum
Schutz des geistigen Eigentums im digitalen Zeitalter
nachgelegt hat, herrscht nahezu Stillstand. Ebenso unklar ist, welche konkreten Maßnahmen die Koalition im
Rahmen ihrer Reform vorlegen wird und in welchen Bereichen sie gänzlich von Veränderungen absehen wird.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, schnellstmöglich einen Referentenentwurf für den „Dritten
Korb“ vorzulegen.
Aus SPD-Sicht müssen wir uns vor allem Gedanken
darüber machen, wie wir die Rechte der Kreativen, insbesondere den Anspruch auf „angemessene Vergütung“,
in der Praxis besser als bisher verwirklichen können.
Urheberinnen und Urheber müssen in ihrem Anspruch
auf angemessene Vergütung gestärkt werden. Gemeinsame Vergütungsregeln sind bisher in weit geringerem
Umfang zustande gekommen als vom Gesetzgeber erwartet. Woran liegt das? Welche Umstände erschweren
das Zustandekommen gemeinsamer Vergütungsregeln in
der Praxis? Muss das Schlichtungsverfahren verändert
werden? Oder müssen in Anlehnung an die ursprüngliche Fassung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und
ausübenden Künstlern Verfahren geschaffen werden,
wonach eine Vergütungsregel erzwungen werden kann?
Bisher hat sich die Bundesregierung diese Fragen noch
nicht einmal gestellt, geschweige denn Lösungsvorschläge entwickelt. Aus Sicht der SPD müssen die Regeln des Urhebervertragsrechts deshalb - wie bereits
von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
angeregt - evaluiert und dort nachgebessert werden, wo
die Mechanismen des Gesetzes nicht richtig greifen.
Unklar ist auch, mit welchen konkreten Maßnahmen
die Bundesregierung eine effektivere Rechtsverfolgung
gewährleisten will. Sicher ist nur eines: Die Provider
sollen mehr Verantwortung für den Schutz des Urheberrechts übernehmen und die Haftung für Hostprovider
gegebenenfalls erweitert werden. Dazu sagen wir: Eine
effektive Rechtsverfolgung darf nicht auf Kosten der Informationsfreiheit erfolgen. Es ist notwendig, nicht nur
von Internetsperren Abstand zu nehmen, sondern auch
vom sogenannten Warnhinweismodell, denn Warnhinweise sind ohne Datenerfassung und Inhaltskontrolle
technisch nicht denkbar. Auch von grundlegenden Änderungen des TMG-Haftungsregimes für Provider halten
wir wenig. Klarstellungen in Bezug auf die Haftung für
Hostprovider sind diskussionswürdig, wenn das Geschäftsmodell des Providers offensichtlich darauf ausgerichtet ist, von Urheberrechtsverletzungen anderer
wirtschaftlich zu profitieren. Änderungen müssen sich
unseres Erachtens aber an der geltenden Rechtsprechung zur Haftung von Hostprovidern orientieren, die zu
Recht darauf hinweist, dass die auf dem sogenannten
Cloud Computing basierenden Dienste eine Vielzahl von
legalen Nutzungsmöglichkeiten bieten, an denen ein beträchtliches technisches und wirtschaftliches Interesse
besteht. Etwaige Prüfungspflichten müssen daher zumutbar sein. Darüber hinaus halten wir schärfere Sanktionen nicht für sachgerecht.
Außerdem brauchen wir dringend eine rechtssichere
Grundlage für die Nutzung von verwaisten und vergriffenen Werken, damit diese Werke im digitalen Zeitalter
nicht aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden und
für die Deutsche Digitale Bibliothek nutzbar gemacht
werden können. Wir haben dazu die Vorschläge von VG
Wort und VG Bildkunst aufgegriffen und einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, den wir nach der
Sommerpause im Rechtsausschuss beraten werden.
Außerdem ist aus unserer Sicht die Einführung eines unabdingbaren Zweitverwertungsrechts für wissenschaftliche Urheberinnen und Urheber geboten. Auch dazu liegt
dem Bundestag ein Gesetzentwurf der SPD zur Beratung
vor. Urheberrechtliche Abmahnungen, gerade in Bagatellfällen, werden zunehmend von den Bürgerinnen und
Bürgern als missbräuchlich wahrgenommen. Abmahnungen sind grundsätzlich ein legitimes Instrument der
Rechtsverfolgung, sie dürfen aber nicht selbst zum „Geschäftsmodell“ werden. Daher halten wir es für sachgerecht, weitere Maßnahmen zur Eindämmung missbräuchlicher Abmahnungen zu prüfen.
Die jüngsten Abstimmungen in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ zu den Handlungsempfehlungen der Projektgruppe Urheberrecht
zeigen deutlich, wie vielschichtig die Problemfelder
sind, die sich im Zusammenhang mit der Digitalisierung
im Urheberrecht stellen, aber auch, dass sich - mitunter
überraschende - Mehrheiten für Lösungsansätze finden
lassen. Deshalb hoffen wir, dass die Bundesregierung
ihre Vorstellungen zum „Dritten Korb“ alsbald konkretisiert und wir möglichst nach der Sommerpause die
Diskussion auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs zum
Dritten Korb weiterführen können. Wir sind bereit, uns
an der Debatte intensiv zu beteiligen.
Wir brauchen ein Urheberrecht, das nicht versucht,
jahrhundertealte Strukturen zu konservieren. Wir brauchen ein Urheberrecht, das anpassungsfähig ist, sowohl
an die heutige Zeit wie auch an eine noch unbekannte
Zukunft. Wir sollten zurück zum Gedanken eines reinen,
gegenüber Geschäftsmodellen blinden Rechtsrahmens,
nicht aber zum Festschreiben und Bewahren von etablierten Strukturen, die sich bald wieder überholt haben.
Das kann nicht unsere Aufgabe sein.
Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass die
Interessen und die Vergütung der Urheber wie auch die
Rechte der Konsumenten in Einklang gebracht werden.
Gerade in der Musikbranche wurde bewiesen, dass es
sehr wohl tragfähige Vertriebsmodelle für Musik geben
kann, ohne dass diese einen Kopierschutz aufweisen
muss. Wer sich durchsetzen kann, ist also eine Frage des
intelligenten, modernen und vor allem adaptiven GeZu Protokoll gegebene Reden
schäftsmodells, nicht aber des Gesetzgebers. Nicht zuletzt deswegen halte ich die Überlegungen für ein Leistungsschutzrecht für Verleger auch für unglücklich. Es
wird uns bzw. den Verlegern nichts bringen, Alleingänge
zu unternehmen. Grundsätzlich stellt sich bei nationaler
Gesetzgebung rund um das Internet immer die Frage der
Tauglichkeit.
Wir müssen auf die Veränderungen, die die Digitalisierung gebracht hat, eingehen und uns erlauben, infrage zu stellen, ob vorhandenes Recht noch zeitgemäß
ist. Es muss ein Interessenausgleich gefunden und zwischen den beteiligten Akteuren gesichert werden. Dieser
Ausgleich könnte durch eine Neuorientierung der Urheberrechtsschranken ermöglicht werden. Diese reflektieren heute exklusiv die Position des Urhebers, ohne dem
Nutzer eigene Interessen oder Motivationen zuzugestehen. Der Nutzer wird so in die Rolle des Konsumenten
ohne Möglichkeit zur Interaktion mit dem Werk gezwängt. Ich halte das für nicht mehr zeitgemäß. Die Urheberrechtsschranken der Zukunft könnten sich weg von
grundsätzlichem Verbot der Verwertung mit wenigen
Ausnahmen hin zu einer Definition von Freiräumen entwickeln, die den Nutzern einen verlässlichen Rechtsrahmen für die öffentliche Rezeption und die Weiterentwicklung von Content stellt.
Vom digitalen Wandel sind alle Branchen betroffen,
deren Produkte sich einfach digitalisieren lassen. Raubkopien sind ja kein ganz neues Phänomen. Manchmal
hat die Bedrohung durch Piraterie aber sogar zu neuen
Ideen geführt. Public-Domain- oder Open-Source-Software stellen für viele Unternehmen ein tragfähiges Geschäftsmodell dar. Es wird nicht mehr das eigentliche
Geisteswerk auf einem Datenträger verkauft, sondern
oft eine Dienstleistung im Umfeld.
Es wird in Zukunft schlicht und einfach nur sehr eingeschränkt Bedarf für die Mittelmänner geben, die Content auf einen physikalischen Träger bannen und diesen
dann verkaufen. Die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei.
Dementsprechend muss das Urheberrecht auch reformiert werden.
Trotz allem Reformbedarf muss es aber auch im Internet möglich sein, unter Einhaltung des Datenschutzes
bestehende ({0})Rechte konsequent und effektiv
durchzusetzen. Künstler, Musiker, Kreative müssen für
ihre Leistung angemessen entlohnt werden, daran kann
gar kein Zweifel bestehen. Hierfür brauchen wir Lösungen. Insofern gibt es also für mich durchaus im vorliegenden Antrag auch Ansätze und Ideen, die diskussionswürdig sind. Trotzdem können wir ihm nicht zustimmen.
Meine Damen und Herrn von der Linken, Sie vermischen in ihrem Antrag Netzsperren mit digitalem Rechtemanagement. Sie werfen in den Topf, was gerade zur
Hand ist. So kann man kein modernes Urheberrecht aufziehen. Sie pauschalisieren und überzeichnen, wo Sie
nur können: Natürlich fällt nicht „jede Meinungsäußerung im Netz“ unter das Urheberrecht. Dazu müsste Sie
schon besonders originell sein, da der Urheberschutz
durch kreativen Gehalt erlangt wird und nicht durch
bloße Öffentlichkeit. Wenn die Dinge so wären, wie Sie
behaupten, hätte sich kein einziges Onlineforum entwickeln können. Sie beschreiben Notsituationen, die so
nicht existieren, um ihren überzogenen Forderungen
mehr Gewicht zu verleihen. Es ist keineswegs so, dass
„breite Bevölkerungsschichten“ ihre „partizipatorische
Kreativität“ nicht ausleben können, weil ihnen das Urheberrecht im Wege steht. Sie malen hier den Teufel an
die Wand, und dabei sollten doch gerade Sie wissen,
dass der gar nicht existiert.
Verstehen Sie, warum eines der strengsten Urheberrechte der Welt in Deutschland dazu führt, dass Urheberinnen und Urheber hier im Durchschnitt noch schlechter verdienen als in Ländern mit weniger strengen
Regeln? Können Sie mir darlegen, was Urheberinnen
und Urheber davon haben, dass ihre Werke bis 70 Jahre
nach ihrem Tod vor freier Nutzung geschützt sind? Ein
Schutz übrigens, der für alle urheberrechtlich geschützten Werke vom großen Roman über kleinste Computerprogramme mit wenigen Zeilen Code bis hin zur Struktur
von Datenbanken gilt. In der Regel profitieren noch
nicht einmal die Urenkel der Urheberinnen und Urheber
von diesem außergewöhnlichen Erbrecht. Die Rechte an
den Werken haben nämlich meist Verlage und andere
Verwerter den eigentlichen Urheberinnen und Urhebern
abgekauft.
Hier zeigt sich, dass das geltende Urheberrecht heute
viel mehr ein Verwerterrecht ist. Es gibt den Urheberinnen und Urhebern kaum Instrumente an die Hand, über
ihre Rechte souverän zu verfügen und von ihrer Arbeit
zu leben.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag umfassende
Änderungen im Urhebervertragsrecht. Urheberinnen
und Urheber brauchen endlich wirksame Mittel, um für
sich angemessene Vergütungen gegen die Medienindustrien durchzusetzen. Sie müssen auch wirksam davor
geschützt werden, dass ihnen Rechte dauerhaft und unwiederbringlich abgeknöpft werden.
Aber das geltende Urheberrecht krankt nicht nur daran, dass es Urheberinnen und Urhebern nicht bietet,
was es verspricht. Es ist gleichzeitig auch noch altersschwach. Als im 19. Jahrhundert die Tradition unseres
heutigen Urheberrechts begann, betraf es wissenschaftliche, künstlerische und journalistische Texte. Für diese
Druckwerke wurden bestimmte Exklusivrechte gewährt,
um sie besser vermarkten zu können. Heute umfasst das
Urheberrecht darüber hinaus Aufnahmen und Aufführungen von Musik, unzählige Aspekte der Filmproduktion, Computerprogramme, Design und vieles mehr. Die
Verbreitung der betroffenen Werke geschieht nicht mehr
nur über Papier, sondern über Tonträger, Kinos, Radio,
Fernsehen und eben schon seit längerer Zeit auch digital.
So sehr dies im Einzelnen bei vergangenen Novellierungen bedacht wurde, eine umfassende Anpassung an
die neue Zeit fand nicht statt. Vor allem aber dienten
viele Anpassungen dazu, die Werknutzung im digitalen
Zeitalter zu erschweren. Ein gekauftes Buch aus Papier
darf ich problemlos weiterverkaufen. Ein E-Book, das
ungefähr gleichviel kostet, kann ich bei bestimmten AnZu Protokoll gegebene Reden
bietern nach einer begrenzten Anzahl von Lesevorgängen noch nicht einmal selbst weiter verwenden. Eine CD
für den privaten Gebrauch zu kopieren ist in Ordnung,
aber eine Musikdatei auf der Festplatte oder gar im Internet zu kopieren, kann illegal sein. Das ist eine absurde Situation.
Vergessen wir nicht, dass Werknutzung gerade in einer digitalen Umgebung oft auch bedeutet, dass vorgefundenes Material kreativ bearbeitet und weiterverbreitet wird: Nutzer werden selbst zu Urhebern. Doch schon
das Einbetten eines Youtube-Videos im eigenen Blog
kann Fans von Künstlerinnen und Künstlern in urheberrechtliche Probleme stürzen. Erst recht werden kreative
Techniken wie das Zitieren, Remixen oder Samplen erschwert. Die Beschneidung solcher Nutzungsmöglichkeiten beschneidet also gleichzeitig das Produktionspotenzial der Urheberinnen und Urheber selbst. Auch dies
sind nur Beispiele dafür, warum es dringend nötig ist,
hier zeitgemäße Regelungen für die Nutzung urheberrechtlich relevanter Werke zu finden.
Eine einfachere Verbreitung kreativer Werke führt übrigens nicht zwangsläufig zur Entwertung der dahinter
steckenden Arbeit, wie gerade die Medienindustrie
gerne behauptet. Doch während diese oder die großen
Wissenschaftsverlage früher die Verbreitung von Kulturgütern erst ermöglichten, sind sie heute vielfach dabei,
diese Verbreitung künstlich zu verknappen. Hier müssen
wir dringend umsteuern.
Das gesellschaftliche Interesse an möglichst freier
und intensiver Auseinandersetzung mit Text, Bild und
Ton jeglicher Art und die Bedürfnisse der Kreativen
nach ideeller wie finanzieller Anerkennung ihrer Leistungen lassen sich nur zusammenbringen, wenn wir mutig und ergebnisoffen auch neue Vertriebs- und Vergütungswege diskutieren und ausprobieren. Das Urheberrecht sollte diese neuen Wege unterstützen und nicht blockieren.
Wissen und Information, deren Verbreitung zu wesentlichen Teilen durch das Urheberrecht geregelt wird,
sind Hauptressourcen unserer Gesellschaft, manche
sprechen auch vom Öl des 21. Jahrhunderts. Digitalisierung und Internet bieten eine großartige Chance zur
Verbreitung von Wissen und Kultur, eine Chance für
mehr Bildung und Prosperität, und doch werden Digitalisierung und Internet in manchen gesellschaftlichen
Kreisen auch als Gefahr wahrgenommen.
Um dieser vermeintlichen Gefahr vorzubeugen, werden zurzeit unterschiedlichste Initiativen auf europäischer, internationaler und nationaler Ebene auf den Weg
gebracht. Die EU arbeitet an gesetzgeberischen Initiativen, die sich den Schutz geistigen Eigentums auf die
Fahnen geschrieben haben. International wird an multilateralen Handelsabkommen zur Erweiterung der Verfolgungsbefugnisse gegenüber Urheberrechtsverletzungen gearbeitet, und auch die deutsche Bundesregierung
versucht sich in Gedankenspielen um Warnhinweis- und
Sperrmodelle zur Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen.
Mit einer deutlich ausgewogeneren Herangehensweise hingegen hat sich die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ in den zurückliegenden
zwölf Monaten intensiv und teilweise höchst kontrovers
mit dem Urheberrecht auseinandergesetzt. All das zeigt
immerhin: Das Urheberrecht ist im Fokus der politischen Debatte.
Wir befinden uns bei gesetzgeberischen Fragen rund
um das Urheberrecht in einem Spannungsfeld zwischen
individuellen - überwiegend wirtschaftlich motivierten und kollektiven Interessen. Das ursprüngliche Ziel des
Urheberrechts, einen Ausgleich zwischen den Interessen
von Urheberinnen und Urhebern, Allgemeinwohl und
Verwertern herzustellen, ist ein Ehrenwertes: Die Konstruktion des Urheberrechts, ein oftmals systembedingt
vorauszusetzendes Vertragsungleichgewicht auszugleichen, ist förderlich für Rechtsfrieden und Wohlstand.
Der Interessenausgleich wird dabei durch Schrankenregelungen, Regelungen zur Privatkopie, zur angemessenen Vergütung etc. erreicht, und dieses System stellte in
seiner deutschen Ausprägung lange ein Musterbeispiel
gelungener Interessenabwägung in Europa dar. Kein anderes Land hatte ein solch ausdifferenziertes und auf
Ausgleich bedachtes Schrankensystem wie Deutschland.
Ein Rückblick auf vergangene Urheberrechtsreformen aber zeigt, dass mit jeder Novelle Verschärfungen
zulasten der Allgemeinheit, Einschränkungen der urheberrechtlichen Ausnahmen und eine Stärkung wirtschaftlicher Interessen einhergingen. Auch und insbesondere die Regelungen zur Privatkopie wurden immer
weiter eingeschränkt und dies, obwohl sich die Regelung zur Privatkopie sowohl rechtlich als auch finanziell
für die Urheberinnen und Urheber und Nutzerinnen und
Nutzer bewährt hat. Auf der einen Seite fließen Gelder in
Milliardenhöhe über die Leergeräte- und Speichermedienabgabe an die Urheberinnen und Urheber. Auf der
anderen Seite konnten Verbraucher davon ausgehen,
sich nicht strafrechtlich verantworten zu müssen, wenn
sie ihren Familienangehörigen die Kopie einer CD
schenkten.
Dessen ungeachtet lassen Diskussionen um die in
Kürze zu erwartende Urheberrechtsnovelle, den sogenannten Dritten Korb, vermuten, dass es zu weiteren
Verschärfungen des Urheberrechts zulasten der Allgemeinheit kommen wird. Allein schon die Pläne der Koalition zur Schaffung eines besonderen Leistungsschutzrechts für Presseverleger lassen für diese Legislaturperiode wenig Hoffnung für eine am Gemeinwohl orientierte Urheberrechtsreform. Während sich die Regierung um die Bedienung ihrer Klientel sorgt, bleibt der
Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext solcher
Reformüberlegungen auf der Strecke. Wir Grüne sehen
uns verpflichtet, auch im Feld des Urheberrechts eine
den berechtigten Interessen aller Beteiligten Rechnung
tragende Lösung vorzulegen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich den Antrag der
Linken bewerten. Lassen Sie mich kurz auf einige Punkte
eingehen: Zutreffend an dem Antrag ist, dass es etwas
Zu Protokoll gegebene Reden
mehr als vereinzelter Maßnahmen bedarf, um eine Gesamtstrategie für eine prosperierende Wissens- und Informationsgesellschaft zu entwickeln. In dieser Richtung
hat insbesondere die Projektgruppe „Urheberrecht“ bereits einzelne wichtige Anregungen und Vorschläge erarbeitet. Gerade vor diesem Hintergrund aber ist der
vorliegende Antrag oberflächlich und zu kurz gegriffen.
Es reicht nicht aus, vereinzelte Handlungsempfehlungen
aus der Enquete-Kommission abzuschreiben und uns
dann hier im Plenum als Antrag vorzulegen. Es ist gerade im Zusammenhang mit urheberrechtlichen Fragestellungen erforderlich, den Gesamtkontext gesetzgeberischer Aktivitäten in den Gestaltungswillen mit einzubeziehen. Nehmen wir die Forderung nach einem unabdingbaren Zweitverwertungsrecht für wissenschaftliche Autorinnen und Autoren. Dadurch sollen die Autorinnen und Autoren von sich aus ihre Werke unter OpenAccess-Bedingungen veröffentlichen können. Wir unterstützen eine solche Forderung zweifelsfrei. Ist es damit
aber allein schon getan, dass Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler diejenigen Rechte behalten können, die
sie nach jetziger Rechtslage - mit Ausnahme der Unabdingbarkeit - ohnehin bereits haben, damit aber die
Fortentwicklung von Open Access allein in die Hände
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst gelegt wird? Wir treten für eine umfassendere Förderung
von Open Access ein und erwarten neben der einzuführenden Garantie eines unabdingbaren Zweitverwertungsrechts für Autorinnen und Autoren von der Bundesregierung eine Gesamtstrategie zu Open Access, die alle
Beteiligten einbezieht und ein durchdachtes Konzept anbietet, das der Bedeutung dieses für unsere Wissensgesellschaft so zukunftsweisenden Themas angemessen
Rechnung trägt.
Die Linke gibt mit ihrem Antrag zu erkennen, dass ihr
die Fortentwicklung im Feld des Urheberrechts teilweise auch schwer fällt. Die zum Teil kaum durchdachten Forderungen erinnern an ihr Bundestagswahlprogramm von 2009, in dem sie nach einem Fair-WorkSiegel auf Spiele, Programme und andere geistige Leistungen rufen. Das ist eine nette, plakative Forderung.
Aber werden Urheberinnen und Urheber dadurch tatsächlich gestärkt, dass ihre Leistungen Gütesiegel erhalten?
Diskussionswürdig und aus unserer Sicht auch und
vor allem noch weiterer Begründung bedürftig ist die
Dauer der urheberrechtlichen Schutzfristen. Der Antrag
enthält nur die unscharfe Bitte, die Schutzfristen nicht
weiter zu verlängern. Stets sind in den Reformbestrebungen der Vergangenheit allerdings Verlängerungen
durchgeführt worden. Wir führen die Diskussion also auf
einem hohen, unseres Erachtens zu hohen Niveau der
Schutzfristen. Klar ist uns allen, dass Schutzfristen, die
weit über die Lebensdauer der Urheberinnen und Urheber hinausreichen, das gemeinwohlschädliche Verwaisen von Werken fördern können. Deshalb geht der Antrag in die richtige Richtung. Die Bemessung der Fristen
muss aber im Hinblick insbesondere auf die Ungewissheit der Verwertbarkeit abgewogen werden. Vor diesem
Hintergrund fordern wir eine klare Verkürzung der
Schutzfristen. Hier erscheint eine Orientierung an den
Verwertungszyklen der Werke sinnvoll, denn längst nicht
jedes Werk lässt sich beliebig lange gewinnbringend am
Markt absetzen. Das würde bewirken, dass der Verkauf
von Werken solange urheberrechtlich geschützt ist, wie
dies für die Urheberinnen und Urheber umsatzfördernd
und refinanzierend wirkt. Der vorliegende Antrag begnügt sich damit, weitere Verlängerungen der Schutzfristen zu verhindern. Eine über den Verwertungszeitraum hinausgehende Abschottung der Teilhabe durch
die Allgemeinheit ist aber unter Abwägung der verschiedenen Interessen unter Einbeziehung des legitimen Interesses an einer Verwertung der Werke und einer Amortisation der Investitionen nicht gerechtfertigt.
Was in diesem Antrag ganz und gar fehlt, ist der Blick
über den Tellerrand in die Zukunft der Digitalisierung
und des Internets. Ein im Vergleich zu Tauschbörsen wesentlich aktuelleres Thema ist das des Filehostings oder
die Tatsache, dass die Inanspruchnahme von Datenclouds mit jeder neuen Gerätegeneration zunehmen
wird. Der Antrag der Linken enthält keinerlei Lösungsoptionen angesichts dieses technologischen Fortschritts. Auf nationaler und internationaler Ebene wird
in diesem Zusammenhang heftig über technische Maßnahmen zur Kontrolle dieser internetbasierten Innovationen und Geschäftsmodelle diskutiert. Digitalisierung
und Internet werden zum Anlass genommen, das Urheberrecht weiter zu verschärfen und nach Maßnahmen zu
suchen, Urheberrechtsverletzungen zu bekämpfen. Hier
werden Vorschläge von Netzsperren über Vorratsdatenspeicherung bis hin zu Warnhinweismodellen diskutiert,
die an Gefährlichkeit für die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, aber auch an Naivität nicht zu überbieten sind. Hacker aller Länder vereinigen sich längst und
oft mit Erfolg, wenn es darum geht, nationale bzw. staatliche Maßnahmen zur Überwachung der urheberrechtskonformen Nutzung des Internets zu umgehen und den
nationalen Regierungen ihre Grenzen aufzuzeigen. Der
Gesetzgeber läuft dann Gefahr, sich mit im Ergebnis
wirkungslosen Vorstößen selbst zu diskreditieren. Ihm
verbleibt dann lediglich die Rolle als wenig geachteter
Symbolgesetzgeber.
Hintergrund der unterschiedlichsten und oft schon
verzweifelt anmutenden gesetzgeberischen Anstrengungen ist, dass Digitalisierung und Internet den potenziellen Verbreitungsgrad von urheberrechtlich relevanten
Werken ins schier Unendliche erhöhen können. Klar ist,
dass die Verbreitung eines einmal im Netz befindlichen
Werkes kaum kontrollierbar ist. Daran besteht auch kein
Zweifel. Allerdings ist die von vielen gezogene Schlussfolgerung falsch: Die Verbreitung neuer kreativer
Schöpfungen ist nicht per se urheberrechtsgefährdend.
Es ist vielmehr geradezu im Sinne - das wage ich pauschal zu behaupten - aller Urheberinnen und Urheber,
wenn sie ihre Werke über das Internet verbreiten und bekannt machen können. Die Verwertungsindustrien sind
dagegen oftmals diejenigen, die negative Effekte und
Untergangsszenarien für Kultur und Gesellschaft überzeichnen. Sie erliegen dem mit keinerlei Empirie untermauerten Fehlschluss, der Verkauf etwa von Tonträgern
ginge allein dadurch in die Knie, dass die Werke auch
digital Verbreitung finden. Dieser Zusammenhang entZu Protokoll gegebene Reden
behrt aber, wie einschlägige Studien aus der Musikwirtschaftsforschung belegen, schon deshalb jedweder Logik, weil erste Voraussetzung für den Umsatz von
Werken ist, dass dem Käufer die Existenz der Werke
überhaupt bekannt ist, diese also bereits vorgestellt und
verbreitet wurden.
Lassen Sie mich zu der Frage zurückkommen, wie die
Chancen von Digitalisierung und Internet im Sinne einer prosperierenden Gesellschaft auch urheberrechtlich
wahrgenommen werden können. Ich wage die Behauptung aufzustellen, dass es keine andere adäquate gesetzgeberische Reaktion auf das technische Know-how und
die technische Versiertheit von Internetnutzerinnen und
nutzern gibt, als sie bei ihrer grundlegenden Bereitschaft, für kulturelle Werke auch im Internet zu bezahlen, ernst zu nehmen. Nutzerinnen und Nutzer sind nicht
nur bereit, für urheberrechtlich relevante Inhalte zu zahlen, sie suchen geradezu nach Möglichkeiten, die es ihnen erlauben, mit urheberrechtlich geschützten Werken
zu arbeiten, diese zu verbreiten. Sie geben mehr Geld
denn je für Musik, Filme, Konzerte etc. aus. Warum
sollte der Gesetzgeber diese großartige Chance nicht
wahrnehmen? Die Einführung der Leergeräte- und
Speichermedienabgabe hat in den 60-er Jahren in einer
vergleichbaren Situation für Rechtsfrieden gesorgt. Die
pauschale Vergütung hat große Beträge in die Kassen
der Urheberinnen und Urheber gespült. Warum sollte
dieses System nicht auch im Internet funktionieren?
Digitalisierung und Internet fordern kreativen Tribut.
Wir müssen durchsetzbare Vergütungsmodelle erfinden.
Eine Alternative der Totalüberwachung ist weder kreativ
noch gewinnbringend für uns alle. Aus diesem Grund
wurde unsere Kulturflatrate in der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ ausgiebig diskutiert. Die Enquete-Kommission hat daraufhin letzten
Endes empfohlen, Urheberinnen und Urheber einen Anspruch auf Vergütung gegen Provider einzuräumen, der
auf die Nutzerinnen und Nutzer umgelegt werden kann.
Hiermit haben wir ein Vergütungsmodell der Zukunft
aufgezeigt und sichergestellt, dass diese Vergütungsansprüche auch durchgesetzt werden können, ohne das Internet mit einer flächendeckenden Überwachungsinfrastruktur zu überziehen.
Die Tatsache, dass der technologische Fortschritt
nicht aufzuhalten ist, sollte uns in der Entscheidung bestärken, jetzt das Richtige zu tun, um eine sinnvolle Reform des Urheberrechts voranzubringen, die den berechtigten Interessen aller Beteiligten ausreichend
Rechnung trägt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6341 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich fixieren
- Drucksachen 17/4855, 17/5657 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Horst Meierhofer
Markus Tressel
Im Tourismus haben wir in Deutschland schon heute
ein hohes Verbraucherschutzniveau erreicht. Das deutsche Recht gewährt Reisenden einen Schutz, der über
geltenden europäischen Standard hinausgeht. Wichtige
Grundlagen sind: das Pauschalreiserecht, die Fluggastrechte und die Verordnung zu den Passagierrechten im
Eisenbahnverkehr. Bald kommen die im Verfahren inzwischen abgeschlossenen EU-Verordnungen über die Passagierrechte im See- und Binnenschifffahrtsverkehr sowie über die Passagierrechte im Busverkehr hinzu.
Wir setzen uns für einen möglichst umfassenden Verbraucherschutz ein. Der Verbraucher soll sich leicht informieren können, er soll gut beraten und seine Interessen sollen gut vertreten werden. Deshalb haben wir auch
im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle
für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff gesetzlich verankert wird. Am 1. Dezember 2009 hat die
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr
({0}) ihre Arbeit aufgenommen. Seither ist die söp-Anlaufstelle für all die Verbraucher, deren Beschwerden bei
einem Verkehrsunternehmen nicht erfolgreich waren
oder nicht ihren Erwartungen entsprochen haben. Wir
haben uns in mehreren Gesprächen mit Vertretern der
söp über die Arbeit dieser Schlichtungsstelle informiert
und sind zu dem Ergebnis gekommen: Ihre erfolgreiche
Tätigkeit stärkt den Verbraucherschutz im Tourismus.
Es gibt viele gute Argumente für eine außergerichtliche Streitbeilegung. Die söp weist zu Recht darauf hin,
dass „nicht immer der Weg zum Gericht die einzige
Möglichkeit ist, um verbriefte Rechte durchzusetzen“.
Der söp zufolge werden zwar bereits die meisten Beschwerden von den Verkehrsunternehmen selbst zur Zufriedenheit der Kunden geregelt. Der Bundesverband der
Deutschen Fluggesellschaften ({1}) gibt zum Beispiel
an, dass im Flugbereich 99 Prozent aller Kundenbeschwerden außergerichtlich durch Ausgleichsangebote
der Fluggesellschaften zufriedenstellend beigelegt wurden. Dennoch kennen wir sicher alle Einzelfälle, wo dies
nicht zutrifft. Die Mehrheit der bei der söp bisher eingegangenen Fälle betrifft Bahnreisen. Die söp wünscht
sich eine Beteiligung der deutschen Fluggesellschaften.
Diese lehnten jedoch bislang eine Mitgliedschaft ab. Neben anfänglichen grundsätzlichen Zweifeln werden nun
insbesondere Kostengründe genannt.
Natürlich wollen auch wir eine breite Beteiligung aller Verkehrsträger an Schlichtungsverfahren, um den
Verbraucherschutz im Tourismus weiter zu stärken und
Reisenden die Durchsetzung ihrer Rechte zu erleichtern.
Ich denke, darüber besteht große Einigkeit bei allen
Fraktionen. Dies muss aber nicht unbedingt heißen,
dass sich alle Verkehrsträger an einer einzigen übergreifenden Schlichtungsstelle beteiligen.
Noch weniger zielführend erscheint uns die Forderung im vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen soll, der die Teilnahme aller Verkehrsträger an
einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung unter
dem Dach der Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr erzwingt. Ein solcher Zwang zur Beteiligung widerspricht dem Gedanken einer freiwilligen
Schlichtung und lässt sich auch nicht aus dem Koalitionsvertrag ableiten.
Die Deutschen Fluggesellschaften sind nach langem
Zögern endlich zu einer Teilnahme an Schlichtungsverfahren bereit. Das begrüßen und unterstützen wir. Wie
sie wissen, streben die Fluggesellschaften allerdings die
Einrichtung einer separaten Schlichtungsstelle für den
Luftverkehr an. Dagegen haben wir keine grundsätzlichen Bedenken. Für die Kunden von Verkehrsunternehmen ist es letztlich unerheblich, welche Schlichtungsstelle sich um ihre Anliegen kümmert. Hinzu kommt: Für
die Verbraucher könnte trotzdem sogar ein einheitlicher
Zugang zu Schichtungsverfahren gewährleistet werden,
beispielsweise indem ein gemeinsamer Internetauftritt
der söp mit dieser Spezialschlichtungsstelle sowie einer
gemeinsamen telefonischen Anlaufstelle geschaffen
würde. Anschließend könnte eine Weiterleitung an die
einzelnen Stellen erfolgen.
Wir setzen auch in Zukunft auf eine freiwillige Mitwirkung der Luftverkehrsunternehmen an Schlichtungsverfahren. Die Streitbeilegung muss einvernehmlich
erfolgen. Bei einer gesetzlichen Verpflichtung zur Teilnahme an einer Schlichtung bestünde die Gefahr, dass
die Unternehmen Schlichtersprüche aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen. Damit wäre den Verbrauchern nicht geholfen. Sie stünden erneut vor der Entscheidung, ob sie ihre Ansprüche vor Gericht geltend
machen sollen. Zudem können die Fluggesellschaften
auch nicht verpflichtet werden, einen Schlichterspruch
zu akzeptieren.
Seit mehreren Monaten gibt es intensive und inzwischen weit fortgeschrittene Gespräche zwischen der
Bundesregierung und den Deutschen Fluggesellschaften
über die Einzelheiten der Ausgestaltung einer freiwilligen Schlichtungsstelle für den Luftverkehr. Offensichtlich sind fast alle Punkte geklärt. Dem Ergebnis dieser
Gespräche sollten wir nicht vorgreifen. Wichtig für uns
ist, dass diese Einzelheiten so geregelt werden, dass sich
möglichst alle Fluggesellschaften - auch ausländische beteiligen, damit eine Wettbewerbsverzerrung zulasten
deutscher Unternehmen vermieden wird.
Allerdings wünschen wir uns von der Bundesregierung, dass diese Gespräche nun zügig zum Abschluss
geführt werden, damit wir möglichst schnell einen noch
besseren und umfassenderen Verbraucherschutz im Tourismus erreichen.
Im Grunde genommen ist es sehr zu begrüßen, wenn
auch der Opposition die Umsetzung unseres Koalitionsvertrages am Herzen liegt. Das ist implizit eine schöne
Bestätigung unserer Ziele und zeigt, dass die Koalition
eine gute Politik für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land macht. Auch die ersten Erfahrungswerte,
die wir aus der Arbeit der Schlichtungsstelle gewonnen
haben, bestätigt dies ganz nachdrücklich. Wir haben damit also ganz richtig in unserem Koalitionsvertrag die
Einrichtung einer „unabhängigen, übergreifenden
Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn,
Flug und Schiff“ festgeschrieben und dies zum 1. Dezember 2009 auch schon umgesetzt.
Die konkreten Forderungen der Grünen gehen aber
nun deutlich an unseren Vorstellungen vorbei und schießen weit über das Ziel hinaus. Insbesondere zwei Forderungen sind es, die den vorliegenden Antrag inakzeptabel machen.
Zum einen ist es die zwingende Beteiligung aller Verkehrsträger, welche die Grünen mit ihrem Antrag verlangen, sicherzustellen. Besonderes Kennzeichen einer
Schlichtung ist aber gerade die Freiwilligkeit, mit der
die beiden Parteien eine gütliche Einigung im Streitfall
anstreben. Diese Freiwilligkeit ist jedoch nicht mehr erreichbar, wenn die eine Seite hierzu verpflichtet wird.
Einer beidseitigen Anerkennung der Schlichtersprüche
wäre damit nicht gedient. Eine Verpflichtung zur
Schlichtung konterkarierte damit gerade den besonderen Vorzug der privaten, außergerichtlichen Streitbeilegung. Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus zu
erwarten, wenn die Flugunternehmen diese Schlichtungsergebnisse grundsätzlich nicht akzeptierten; denn
der Weg einer verpflichtenden Einigung steht schließlich
mit dem Klageweg immer offen.
Zum Zweiten ist es die verbindliche Vorgabe der
Schlichtungsstelle. Auch hier ist es einer gütlichen
Streitbeilegung nicht dienlich, wenn der Schlichter den
Parteien gesetzlich vorgeschrieben wird; denn auch an
dieser Stelle darf die Freiwilligkeit der Schlichtung nicht
eingeschränkt werden. Die Akzeptanz der Schlichtungsstelle ist hierfür aber eine maßgebliche Voraussetzung.
Die deutschen Fluggesellschaften haben bislang aus
unterschiedlichen Gründen insbesondere aufgrund der
Kosten eine Beteiligung an der Schlichtungsstelle für
den öffentlichen Personenverkehr, söp, abgelehnt.
Grundsätzlich zeigen sie aber schon die Bereitschaft,
sich an entsprechenden Schlichtungsverfahren zu beteiligen.
Hier haben in der vergangenen Zeit auch konstruktive und zielführende Gespräche stattgefunden, und das
nicht zuletzt, da auch den Flugunternehmen ganz klar
ist, dass jede Schlichtung im Grunde genommen eine
Win-win-Situation bedeutet. Denn eine Schlichtung ist
eine schnelle und unbürokratische Hilfe. Sie ist kostengünstiger als ein Gerichtsverfahren und bringt für die
Zu Protokoll gegebene Reden
Anita Schäfer ({0})
Unternehmen eine höhere Kundenzufriedenheit und einen deutlichen Imagegewinn. Daher, denke ich, kann die
Einrichtung einer eigenen Schlichtungsstelle für den
Luftverkehr eine klar zielführende Lösung sein. Auf diesem Weg wird die Akzeptanz und die Freiwilligkeit im
Schlichtungsverfahren gewahrt. Letztlich kann nur auf
diesem Weg eine regelmäßig gütliche Einigung und damit eine erfolgreiche Verhinderung des Rechts- und Klageweges erreicht werden.
Aber auch aus einem anderen Grund ist der sich abzeichnenden Lösung einer eigenen Schlichtungsstelle
für den Flugverkehr der Vorzug zu geben. Grundsätzlich
sollte hier eine europaweit einheitliche Lösung angestrebt werden. Mit einer rein nationalen Verpflichtung
wäre diesem Ziel nicht ausreichend gedient; denn im
Unterschied zum monopolartig strukturierten Eisenbahnverkehr ist der Luftverkehr ein globaler Markt mit
nationalem wie auch internationalem Wettbewerb, und
dieser fordert auch wettbewerbsneutrale Regelungen.
Mit einer verbindlichen Verpflichtung zur Schlichtung
entstünde den Unternehmen wie dem Standort Deutschland ein weiterer zu kalkulierender Kostenfaktor und damit ein Wettbewerbsnachteil.
Dabei sind es aber gerade auch ausländische Fluggesellschaften, die immer wieder mit einem deutlich höheren Prozentsatz an Kundenbeschwerden konfrontiert
sind als die deutschen. Von daher werden wir gerade vor
dem Hintergrund eines stetig zunehmenden Flugreiseverkehrs auf die Dauer eine EU-weite Regelung anstreben. Nicht ohne Grund sind auch die Fluggastrechte im
europäischen Rahmen definiert, und auch in der
Schlichtungsfrage darf ein möglichst weitgreifender
Verbraucherschutz nicht an den nationalen Grenzen
haltmachen.
In den Beratungen ist gegen eine eigene Schlichtungsstelle für den Luftverkehr aber auch das Argument
vorgebracht worden, dass viele Reisende während ihrer
Reise den Verkehrsträger wechselten und demzufolge in
der Schlichtung unterschiedlichen Ansprechpartnern
gegenüberstünden. Das ist in sich aber nicht stichhaltig.
Erhebt der Reisende seine Beschwerden gegen unterschiedliche Verkehrsträger, so bedeutet das, dass er sich
ohnehin schon mit mehreren Ansprechpartnern auseinanderzusetzen hat. Erhebt er sie gegen einen Pauschalreiseanbieter, der für eine Reise unterschiedliche
Verkehrsträger verpflichtet hat, so ist gemäß des Pauschalreiserechts dann auch nur dieser der Ansprechpartner. Und das liegt auch in der Natur der Sache:
Einen Regressanspruch kann ich nur einmal geltend machen - und demzufolge auch nur bei einem Ansprechpartner.
Darüber hinaus ist auch aus der Dokumentation der
Arbeit der söp von 2009 bis 2010 ersichtlich, dass dies
nur in einem von den 3 311 von der Schlichtungsstelle
dokumentierten Beschwerden der Fall war.
An all dem wird deutlich, dass wir mit der von der
Koalition eingerichteten Schlichtungsstelle eine unbürokratische und zielführende Einrichtung geschaffen
haben, um auf nationaler Ebene zu einer schnellen außergerichtlichen Streitbeilegung zu kommen. Davon
profitieren die Reisenden. Davon profitiert aber auch
der Tourismusstandort Deutschland. Es ist aber auch
deutlich geworden, dass eine außergerichtliche Streitbeilegung im Flugverkehr komplexer ist und damit einen
umfassenderen Ansatz benötigt, dem jedoch der vorliegende Antrag der Grünen keine Rechnung trägt.
Zu Beginn meiner Ausführungen darf ich den Koalitionsvertrag zitieren:
Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus,
Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.
Dies haben CDU/CSU und FDP Ende 2009 so festgelegt. Dies schlägt auch der uns vorliegende Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen so vor. Es ist bekannt, dass dies
auch im Sinne der SPD-Bundestagsfraktion ist. Daher
erhält der Antrag unsere volle Unterstützung.
Es sieht nicht danach aus, als ob die Fluggesellschaften sich freiwillig an einer Möglichkeit der außergerichtlichen Einigung beteiligen wollen. Vielmehr war
im „Handelsblatt“ vom 8. März dieses Jahres zu lesen,
dass unsere Bundesjustizministerin LeutheusserSchnarrenberger in Zusammenarbeit mit den Fluggesellschaften ein Eckpunktepapier verfasst hat. Inhalt:
Lufthansa und Air Berlin sowie das Bundesministerium
der Justiz wollen eine gesonderte Schlichtungsstelle
gründen. Der Clou: Die Beiträge werden nicht von den
Fluggesellschaften getragen, sondern von den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Sie sollen Eintrittsgebühren leisten.
Als Tourismus- und Verbraucherpolitiker, vor allem
aber als Sozialdemokrat kann und werde ich solche Forderungen nicht akzeptieren. Vor allem aber frage ich
mich: Was ist mit der Aussage der Bundesregierung im
Koalitionsvertrag? Dort sprechen Sie von einer verkehrsübergreifenden Schlichtungsstelle, nicht etwa von
einer separaten.
Die Bundesregierung wendet sich ein weiteres Mal
gegen die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich möchte nur darin erinnern,
dass auch die Verbraucherschutzministerkonferenz der
Länder am 17. September 2010 einen eindringlichen Appell an die Fluggesellschaften gerichtet hat, sich an den
Schlichtungsverfahren der söp zu beteiligen. Die Minister für Verbraucherschutz der Länder haben die Bundesregierung aufgefordert, bei einer weiteren Weigerung
der Luftfahrtsunternehmen die Teilnahme an und die
Mitgliedschaft in der söp für alle in Deutschland tätigen
Reiseverkehrsunternehmen gesetzlich festzuschreiben.
Auch die Verbraucherzentralen auf Länder- und Bundesebene fordern eine gesetzliche Regelung für ein verbindliches Schlichtungsverfahren.
In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom Februar dieses Jahres führt die Bundesregierung aus - ich
darf zitieren -:
Mit Inkrafttreten eines Gesetzes, das eine Schlichtung von Verbraucheransprüchen im Luftverkehr
Zu Protokoll gegebene Reden
einführt, werden Ansprüche gegenüber Luftfahrtunternehmen, die vor deutschen Unternehmen eingeklagt werden könnten, dieser Schlichtung unterfallen. Nehmen Fluggesellschaften nicht freiwillig teil,
so ist beabsichtigt, sie zur Schlichtung zu verpflichten.
Mit Blick auf die zeitliche Nähe zum Artikel im „Handelsblatt“ scheint es, als führe die Bundesregierung
zweigleisig: hier die gesonderten Verhandlungen für
eine gesonderte Schlichtungsstelle, dort die Zusage einer gesetzlichen Verpflichtung. Wieder ein Beispiel für
den Einfluss der Lobbyisten und ein klassischer Fall der
oft zitierten Klientelpolitik dieser Bundesregierung!
Die Fluggesellschaften weigern sich beharrlich, der
söp beizutreten. Ich selbst konnte mich in Gesprächen
mit Vertretern einiger Fluggesellschaften davon überzeugen, dass sie beabsichtigen, bei dieser Meinung zu
bleiben. Also muss eine andere Lösung her!
Wir Sozialdemokraten machen Politik für den Verbraucher. Dies ist unsere Klientel. Daher wollen wir
bessere Reiserechte, bessere Fahrgastrechte, bessere
Fluggastrechte - und eine bessere Durchsetzung dieser
Rechte. Für uns ist die außergerichtliche Streitschlichtung generell die beste Lösung.
Wir haben seit 2009 die Schlichtungsstelle öffentlicher Personenverkehr - kurz söp genannt. Unsere damalige Bundesjustizministerin, Brigitte Zypries, hat sie
auf den Weg gebracht. Sie ist als Schlichtungsstelle
weitgehend anerkannt. Im Jahr 2010 gab es mehr als
3 600 Anträge auf Durchführung eines Schlichtungsverfahrens. Diese Zahlen sprechen für sich. Eine Schlichtungsstelle ist notwendig. Die Schlichtungsquote im
Bahnverkehr betrug 2010 rund 90 Prozent. Auch diese
Zahl spricht für sich: Die Schlichtungsstelle ist erfolgreich.
Bahnfernverkehrs-, Bahnnahverkehrs- und Busunternehmen sind bisher an der Schlichtungsstelle beteiligt.
Sie wird von den Verbraucherinnen und Verbrauchern
gut angenommen. Auch Flugreisende müssen eine Anlaufstelle zur Schlichtung ihrer „Streitfälle“ bekommen.
Eine Umfrage der Verbraucherzentrale Bundesverband von Herbst 2010 hat aufgezeigt, wie notwendig
eine Schlichtungsstelle für den Luftverkehr ist. Die Umfrage legte offen, dass Reisende häufig nicht frühzeitig
über Flugstörungen informiert, nicht mit angemessenen
Betreuungsleistungen versorgt und rechtlich geschuldete Ausgleichszahlungen nicht geleistet werden. Die
von den Reisenden erhobenen Beschwerden wurden zögerlich bearbeitet. 32 Prozent erhielten erst nach mehr
als einem Monat eine Antwort, 22 Prozent erhielten
keine. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die Rechtsdurchsetzung reibungslos. Bei solchen Umfrageergebnissen muss ich mich fragen, wie viel Wert die Fluggesellschaften eigentlich auf Kundenzufriedenheit legen
und wie viel Wert die Bundesregierung darauf legt, diese
Missstände endlich im Sinne der Verbraucher zu beenden.
Wir befürworten, ebenso wie unsere grünen Kollegen,
eine verkehrsübergreifende Schlichtung. Die Fluggesellschaften müssen ohne Wenn und Aber eingebunden werden. Viele Reisende wechseln die Verkehrsmittel während ihrer Reise. Ob Bus, Bahn, Schiff oder Flugzeug bei einer verkehrsübergreifenden Schlichtungsstelle haben sie alles unter einem Dach. Das ist verbraucherfreundlich.
Wir halten es auch für erforderlich, dass ausländische Luftverkehrsunternehmen an der Schlichtungsstelle
beteiligt werden. Dies ist für die Verbraucher ebenso
wichtig wie für die Luftfahrtunternehmen. Sollte es weiterhin bei der beharrlichen Weigerung der Luftfahrtunternehmen bleiben, sehen wir zu einer gesetzlichen Verpflichtung keine Alternative.
Daher richte ich an dieser Stelle einen eindringlichen
Appell an die Regierungsparteien, diesem Antrag zuzustimmen. Bei der Vielzahl der Argumente können Sie
sich der Einsicht über die Notwendigkeit einer verkehrsübergreifenden Schlichtungsstelle nicht entziehen.
Wer kennt das nicht: Der lang ersehnte Urlaub steht
vor der Tür, die Vorfreude ist groß, und dann passiert
das, wovon man nicht zu träumen gewagt hätte. Man
steht am Flughafen, und der Flug in das Land der
Träume hat eine Verspätung von fünf Stunden. Und als
wäre das nicht schon genug: Wenig später wird der Flug
womöglich sogar annulliert, und erst am nächsten Morgen, nach einer unbequemen Nacht auf einer Sitzbank in
der Flughafenhalle, kann der Urlaub endlich starten. Zu
allem Überfluss ist nach der Landung auch noch das
Gepäck beschädigt. Dies ist leider keine Seltenheit. Aber
was tun, wenn der Flug Verspätung hat, der Flug ausfällt oder der gebuchte Flug überbucht ist? Eigentlich
ist die Sachlage eindeutig: Nach der Fluggastrechteverordnung EG Nr. 261/2004 haben die Fluggäste bei einer
Verspätung bzw. der Annullierung des Fluges einen Entschädigungsanspruch. Der Entschädigungsanspruch
umfasst Ausgleichszahlungen in der Höhe von 250 bis
600 Euro sowie Unterstützungs- und Betreuungsleistungen. Es besteht auch kein Unterschied zwischen Linienflug, Charterflug oder Billigflug, auch wenn das manche
Fluglinien ihren Passagieren weismachen wollen.
Unsere Erfahrung zeigt allerdings, dass sich die
meisten Fluggesellschaften bei der Entschädigung der
Passagiere in der Vielzahl der Fälle kulant zeigen und
sogar bereit sind, die Kunden über das rechtlich vorgesehene Maß hinaus zu entschädigen. Es gibt aber leider
auch schwarze Schafe unter ihnen. Insbesondere die Billigfluggesellschaften, die mit billigen Preisen den Wettbewerbsdruck erhöhen, versuchen bei Entschädigungsfällen möglichst wenig oder gar nichts zu zahlen, um
ihre Gewinnmargen nicht zu beschädigen. Hier guckt
der geschädigte Fluggast leider ganz schnell in die
Röhre. Diesen Fluggästen bleibt nur die Durchsetzung
ihrer Ansprüche auf dem Klageweg, der teilweise sehr
langwierig und vor allem kostspielig ist. Die Gerichtskosten sind im Verhältnis zu den Entschädigungskosten
so horrend hoch, dass manch ein Fluggast den Aufwand
und die Kosten lieber scheut und die Angelegenheit im
Zu Protokoll gegebene Reden
Sande verlaufen lässt - letztlich zum Wohle der Fluggesellschaft.
Um in solchen Fällen für eine bessere Rechtsdurchsetzung zu sorgen, haben wir auch im Koalitionsvertrag
geregelt, „die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger
Bus, Bahn, Flug und Schiff“ gesetzlich zu verankern.
Dadurch wollen wir die Rechte der Fluggäste stärken
und teure und lange Verfahren in Zukunft vermeiden.
Dass die außergerichtliche Streitbeilegung wichtig und
zielführend ist, hat der Einsatz der söp, der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Nahverkehr, bereits bewiesen. Im ersten Jahr sind bei der söp 3 311 Fälle zur
Schlichtung eingegangen. Davon konnten 90 Prozent
der Fälle mit einer erfolgreichen Schlichtung abgeschlossen werden, alles zum Wohle der Verbraucher, der
beteiligten Unternehmen und auch der Gerichte, denen
dadurch eine Menge Arbeit erspart werden konnte. Außerdem konnte mit der außergerichtlichen Streitbeilegung nicht nur die Servicequalität der Nahverkehrsträger, sondern auch eine erhöhte Kundenzufriedenheit
erreicht werden.
Die Fluggesellschaften haben sich der söp leider
nicht angeschlossen. Eine Teilnahme aller Verkehrsträger an einer verkehrsübergreifenden Schlichtung unter
dem Dach der söp wird es daher auch nicht geben. Deshalb hat die schwarz-gelbe Koalition bei den Fluggesellschaften dafür geworben, sich an einer eigenen
Schlichtungsstelle für den Flugverkehr zu beteiligen.
Nach zähen Gesprächen wird die Bundesregierung nun
eine entsprechende Initiative umsetzen und eine Schlichtungsstelle für den Flugverkehr ins Leben rufen, der sich
die Fluggesellschaften nun anschließen können. Allerdings sage ich auch ganz deutlich: Sollten sich manche
Fluggesellschaften weigern, werden wir diejenigen, die
sich der Schlichtungsstelle nicht freiwillig anschließen,
gesetzlich dazu verpflichten, so wie wir es im Koalitionsvertrag auch verankert haben. Denn eine Schlichtungsstelle macht nur dann Sinn, wenn sich der Schlichtung
nicht nur die nationalen Fluggesellschaften unterwerfen, sondern alle Fluggesellschaften, die in Deutschland
starten und landen. Ich halte dies für einen großen Fortschritt.
Eine alle Verkehrsträger übergreifende Schlichtungsstelle, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern, ist aus meiner
Sicht nicht nötig. Auch Ihre Begründung, eine gemeinsame Schlichtungsstelle bedeute geringere OverheadKosten, überzeugt mich nicht. Denn es ist ohne Weiteres
möglich, die Kosten gering zu halten, indem wir für alle
Fahrgäste zum Beispiel eine gemeinsame Internetplattform schaffen, auf der der Kunde im Hauptportal entweder die Schlichtungsstelle des öffentlichen Nahverkehrs
oder die Schlichtungsstelle für Fluggäste auswählt.
Diese gemeinsame Plattform ist eine übersichtliche und
kosteneffiziente Lösung für die Verbraucherinnen und
Verbraucher. Bei der Behandlung der Fälle halte ich
eine getrennte Struktur für sinnvoller. Denn dadurch
können sich die Mitarbeiter der jeweiligen Stelle viel
besser auf einen Verkehrsträger spezialisieren und auf
diese Weise die Fälle mit größerer Expertise bearbeiten.
Damit lässt sich aus meiner Sicht sogar der Bearbeitungszeitraum der Schlichtungsfälle verkürzen. Deshalb
halte ich den von der schwarz-gelben Regierungskoalition eingeschlagenen Weg für absolut zielführend und
eine große Verbesserung für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Es ist geradezu symptomatisch für die gegenwärtige
Politik der schwarz-gelben Bundesregierung und den
Zustand der Regierungskoalition, dass es die Opposition
ist, die immer wieder auf die Erfüllung von Versprechen,
aber auch konkreten Verpflichtungen hinweisen muss,
die aus dem Lager der Regierungsparteien selbst gekommen sind. Das betrifft unter anderem auch das
Thema „Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung“.
Hatten Sie sich, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, nicht vorgenommen, eine unabhängige, übergreifende Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff gesetzlich zu
verankern? Ist Ihnen Ihre eigene Koalitionsvereinbarung gar nichts mehr wert?
Unsere Fraktion hatte Sie in einem Antrag bereits vor
einem Jahr aufgefordert, nationale Handlungsspielräume zu nutzen und sich gegenüber der Europäischen
Union und im Rat der Europäischen Union dafür einzusetzen, vor allem den Fluggästen die Anrufung einer
wirksamen Schlichtungsstelle zu ermöglichen. Zu unseren weiteren Forderungen gehörte damals, die Beteiligung von Fluggesellschaften an der Schlichtungsstelle
gesetzlich festzuschreiben und gleichzeitig die Unabhängigkeit der Schlichtungsstelle zu gewährleisten.
Im September vorigen Jahres stimmten die Verbraucherschutzminister der Länder einstimmig für eine verpflichtende Teilnahme der Fluggesellschaften an der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr
e. V., söp. Das hatten die Verbraucherschutzminister bereits im Jahr davor auf ihrer Konferenz angeregt. Die
Bundesregierung wurde gebeten, ich zitiere:
durch geeignete Maßnahmen dafür zu werben, dass
die deutschen Fluggesellschaften der Schlichtungsstelle Personenverkehr beitreten.
Die Bundesregierung hatte aber ihre Koalitionsvereinbarung offenbar völlig aus dem Auge verloren. Dabei
gab es aus eigenen Ministeriumskreisen ernstzunehmende Aufforderungen. Der Leiter des Referats Schadensersatzrecht des Justizministeriums, Hans-Georg
Bollweg, schrieb 2010 in einem Aufsatz:
Der Koalitionsvertrag hat der neuen Bundesregierung … die gesetzliche Verankerung einer unabhängigen und übergreifenden Schlichtungsstelle für
die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff auf
die Tagesordnung gesetzt.
Ihre Fachjuristen wissen also sehr genau, was eigentlich auf der Tagesordnung stehen müsste, auch wenn Sie,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
sich hier im Parlament nach wie vor dagegen sperren
und eine Lösung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen, und dies nicht aus juristischen Gründen oder anderen vorgeschobenen Ausflüchten, sondern
Zu Protokoll gegebene Reden
aus politischem Kalkül: Auf dem Rücken der Fluggäste,
also der Verbraucherinnen und Verbraucher, wollen Sie
den deutschen Fluggesellschaften Wettbewerbsvorteile
einräumen. Anders kann man das Argument der FDP
aus der Debatte im Ausschuss gegen den heute zur Abstimmung stehenden Antrag, es müssten sich aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit auch die internationalen
Fluggesellschaften an dem Verfahren beteiligen, nicht
werten. Das ist im Übrigen die gleiche schäbige Politik,
die Sie seit Jahren auf lohn- und sozialpolitischem Gebiet im sogenannten Interesse des Standortes Deutschland betreiben und für deren Resultate die Bundesrepublik erst gerade wieder von der UNO scharf kritisiert
wird.
Dass wir als Linksfraktion dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag von Bündnis 90/Den Grünen
unsere Zustimmung geben werden, hat mehrere Gründe.
Zu den bereits genannten möchte ich noch folgende hinzufügen:
Anfang 2009 hat die Schlichtungsstelle öffentlicher
Personenverkehr söp ihre Arbeit aufgenommen. Bis zum
31. März 2011 wurden insgesamt 4 513 Fälle bearbeitet,
davon betrafen 1 667 Fluggesellschaften, 91 Prozent
konnten erfolgreich abgeschlossen werden. Die Schlichtungsstelle ist anerkannt, hat bei den Verbraucherverbänden, den Fachjuristen und nicht zuletzt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern einen guten Ruf und
ist in der Lage, Schlichtungen für alle Verbraucher und
Verkehrsträger in hoher Qualität und mit geringen Kosten durchzuführen. Von den Fluggesellschaften wurde
argumentiert, die Mitgliedschaft bei der söp sei für sie
zu teuer. Dieses Argument ist zumindest fadenscheinig.
Nach mir vorliegenden Informationen hat die söp den
Fluggesellschaften ein so günstiges Angebot unterbreitet, dass sie selbst eine eigene Schlichtungsstelle nicht
preiswerter installieren könnten.
Wenn eine übergreifende Schlichtung nicht zustande
kommt, hat dies also ausschließlich politische Gründe.
Dazu sollten Sie sich, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, dann aber auch öffentlich bekennen.
Wir Linke haben mit unserem Antrag auf Drucksache
17/2021 „Fluggastrechte stärken“ unseren Willen für
einen umfassenden Verbraucherschutz auf diesem Gebiet bekundet und halten daran fest.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist sinnvoll
und richtig. Er liegt im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher. Sie von der Regierungskoalition sollten ihm deshalb auch zustimmen und damit den Weg für
eine verkehrsübergreifende Schlichtungsstelle endlich
frei machen.
Es ist schon paradox: Wir haben hier einen Antrag
vorliegen, der eine Passage aus dem Koalitionsvertrag
aufgreift. Letztlich geht es um folgenden Satz, den ich Ihnen, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus
der Koalition, in Erinnerung rufen möchte:
Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus,
Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.
Es wäre gut, wenn auch Ihre Ministerinnen und
Minister das wollten, oder? Denn von der gesamten Opposition findet das Zustimmung. Doch leider nicht mehr
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition. Wer soll Ihnen eigentlich noch irgendetwas abnehmen? Selbst Ihre Vertragsgrundlage wird nicht mehr
eingehalten. Ihnen ist der ordnungspolitische Kompass
anscheinend wirklich vollkommen abhanden gekommen.
Dass es Ihnen nicht um die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern geht, sondern um reine Lobbypolitik, haben wir nun unlängst feststellen können.
Aber gut: Ich möchte Ihnen noch einmal inhaltlich erklären, worum es hier geht. Denn das scheint wichtig.
Bislang haben das bei Ihnen offensichtlich nur Fluggesellschaften machen dürfen. Im Ausschuss war Ihnen
diese Debatte ja auch sichtlich unangenehm. Selten
habe ich Sie so wortkarg erlebt.
Einig sind wir uns alle, dass es sinnvoll erscheint,
eine außergerichtliche Streitbeilegung für Reisende anzubieten, um ihnen zu ihrem Recht bei Verspätungen,
Annullierungen, Nichtbeförderung oder Ähnlichem zu
verhelfen. Verbraucherschützer bemängeln, in keinem
Rechtsbereich sei die Diskrepanz zwischen Anspruch auf
Recht und Rechtsdurchsetzung so eklatant wie im Bereich der Fluggastrechte. Auch die Europäische Kommission hat die Bundesregierung sechs Jahre nach
Inkrafttreten der Verordnung jüngst ganz schön durchgeschüttelt. Aber das scheint an Ihnen abgeperlt zu sein
wie an einer Teflonpfanne. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen ihre Rechte auch verkehrsträgerübergreifend durchsetzen können. Lieber Herr Döring, das
hatten Sie ja auch richtigerweise in der vorletzten Sitzungswoche, als es hier zwar um Verkehrsstatistiken und
nicht um Schlichtung ging, festgehalten. Dann zeigen
Sie mal, wie es geht, und bringen Sie Ihre Kolleginnen
und Kollegen auf Spur. Aber ich muss kein Prophet sein,
um zu wissen, dass Sie mit Ihrem Votum gleich zeigen,
wie schnell Sie Ihre Meinung wieder ändern können.
Neben gesetzlich definierten Fahr- und Fluggastrechten und der Möglichkeit ihrer gerichtlichen Durchsetzung ist die Schlichtung für Verkehrsteilnehmer eine
wichtige Ergänzung bei der niedrigschwelligen Klärung
von streitigen Sachverhalten im Personenverkehr.
Niedrigschwellig ist ein Schlüsselwort. Denn wer ist
denn schon bereit, diesen Spießrutenlauf bei Behörden
und Airlines einzugehen? Die Airlines wissen das ganz
genau, offenbar auch besser als Sie. Denn so haben sie
es geschafft, dass das Justizministerium zunächst bereit
war, eine Eingangsgebühr von 50 Euro zuzulassen. Niemand wusste aber, ob und wann der Reisende diese
50 Euro jemals wieder sehen würde, beispielsweise
wenn die Airline den Schlichterspruch nicht annimmt.
Erst auf massiven Mediendruck zeigte sich Ministerin
Leutheusser-Schnarrenberger einsichtig. Ich hoffe inständig, dass es dabei bleibt. Denn sowohl für Unternehmen als auch für die Reisenden hat sich das Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung bewährt. Es
Zu Protokoll gegebene Reden
erhöht die Servicequalität der teilnehmenden Unternehmen und führt zu mehr Kundenzufriedenheit.
Nachdem die unter Verbraucherministerin Renate
Künast eingerichtete Schlichtungsstelle Mobilität nicht
mehr fortgeführt worden ist, gibt es dafür seit Dezember
2009 die Schlichtungsstelle für öffentlichen Personenverkehr e.V., söp. Die söp ist verkehrsträgerübergreifend
konzipiert und bemüht sich durch diverse Angebote an
die Verkehrsträger, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Während nahezu alle Bahnunternehmen und auch vermehrt Nahverkehrsanbieter, wie zum Beispiel die BVG,
als Träger der söp die Vorteile dieses Verfahrens anerkennen, weigern sich die Flugunternehmen weiterhin.
Die Schlichtungsquote von über 90 Prozent und die unabhängige Arbeit spricht eigentlich schon für sich. Mitunter auch ein Grund dafür, dass die Verbraucherschutzminister der Länder auch aufgrund des besonders
hohen Beschwerdepotenzials bei Flugreisen bereits am
17. September 2010 - einstimmig, also auch Minister
und Ministerinnen von Union und FDP - für eine verpflichtende Teilnahme der Fluggesellschaften bei der
söp votierten.
Aber was ist nun Stand der Dinge? Die Airlines wollten nie eine Schlichtung, ihre Servicezentren seien gut
genug. Wussten Sie, dass Condor alle Beschwerdeschreiben an eine Anwaltskanzlei übergibt und so den
sogennannten Customer Support abwickelt? Nachdem
der Druck durch die Medien - und teilweise auch durch
die Politik - auf die Airlines stark erhöht wurde, sehen
sie sich nun offenbar genötigt, eine eigene Schlichtungsstelle aufzubauen, eine Schlichtungsstelle ganz nach ihren Vorstellungen, eine Schlichtungsstelle von den Airlines ausschließlich für unzufriedene Fluggäste, nicht
für andere Verkehrsträger. Diese spezielle Behandlung
einzelner Sektoren sei im Versicherungswesen auch der
Fall, meinten die Airlines. Das kostet nicht nur viel
Geld, sondern auch Zeit. Die Airlines wissen das. Sie
wissen auch ganz genau, was sie mit einer nach ihren
Vorstellungen ausgestalteten Schlichtungsstelle an Geld
sparen können, um die Verordnung weiterhin nur unzureichend umzusetzen und Reisende bei Beschwerden oftmals gezielt zu verwirren.
Ganz im Ernst, jenseits des politischen Diskurses gibt
es außer Lobbyinteressen der Airlines eigentlich keine
Argumente für eine separate Schlichtungsstelle. Eine
unabhängige und verkehrsträgerübergreifende Streitbeilegung in einer einzigen Schlichtungsstelle ist für ein
zeitnahes Ergebnis im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher wichtig. Für eine verkehrsträgerübergreifende Lösung spricht neben intermodalen Angeboten
wie zum Beispiel Rail-and-Fly-Tickets vor allem die
Neutralität gegenüber den verschiedenen Verkehrsträgern. Die Airlines sprachen immer davon, dass die söp
zu teuer sei. Ich würde zu gerne deren Kalkulationen sehen. Denn eine einzige Stelle bedeutet neben dem Vermeiden von Parallelstrukturen auch betriebswirtschaftliche Skaleneffekte, die die Kosten für eine Schlichtung
so niedrig wie möglich halten. So sind die sogenannten
Overheadkosten bei einer zentralen Stelle deutlich geringer, als wenn man verschiedene, sektorspezifische
Stellen einrichtet. Zugleich steigen aber Effizienz und
Effektivität von Werbemaßnahmen. Das wichtigste Argument sind dabei aber die Reisenden: Sie sollten sofort
wissen, an wen sie sich mit Verbraucherbeschwerden
richten können - ganz unabhängig davon, welchen Verkehrsträger sie nutzen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5657, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4855 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Liebich, Dr. Dietmar Bartsch, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einhalten - Umgang mit Gefangenen in palästinensischen Gefängnissen verändern
- Drucksache 17/6340 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Heute müssen wir uns mit einem Antrag der Fraktion
Die Linke beschäftigen, der sich - ganz ungewohnt von
dieser Seite - gegen die Zustände in den Gefängnissen
der palästinensischen Autonomiebehörde richtet. Inhaltlich bietet uns der Antrag aber keine neuen Erkenntnisse, und es wird auch nichts von der Bundesregierung
gefordert, was sie nicht bereits umsetzt.
Genau dies ist auch der Grund, warum wir den Antrag ablehnen, obwohl er in der Sache genau die Probleme benennt, die wir in der Koalition seit Langem und
immer wieder ansprechen. Schon mit dem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“, Drucksache 17/257 aus
dem Dezember 2009, hat die Koalition, zusammen mit
SPD und Grünen, die Bundesregierung aufgefordert,
sich weiterhin konsequent für die Menschenrechte in
allen Politikbereichen einzusetzen und in ihrem Regierungshandeln auch zukünftig auf die weltweite Abschaffung von Todesstrafe, Folter und unmenschlicher Behandlung hinzuwirken. „Die Todesstrafe weltweit
ächten und abschaffen“, Drucksache 17/2331, war der
nächste Antrag der Koalition im Juni 2010. Als letzten
Antrag mit zugegebenermaßen starker europäischer Ausrichtung möchte ich noch auf die Drucksache 17/3423
verweisen, die im Oktober 2010 von der Koalition, zusammen mit SPD und Grünen, aus Anlass der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Menschenrechtskonvention
verabschiedet worden ist.
Dass die Bundesregierung auch ganz konkret die zum
Teil menschenrechtswidrige Lage der vielen Menschen
in palästinensischen Gefängnissen, in der Westbank wie
in Gaza, stets im Blick hat und sich nachhaltig damit beschäftigt, ist gleich mehreren Dokumenten zu entnehmen:
Zum einen heißt es im Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung, dass immer wieder in den Gesprächen
mit den Behörden im Gazastreifen auf die Einhaltung
der Menschenrechte gedrängt und eine Abschaffung, zumindest jedoch eine Aussetzung der Todesstrafe gefordert wird.
Zum anderen hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke
vom 1. März 2011, Drucksache 17/4993, zu diesem
Thema dargestellt, dass vor allem die Situation großer
Teile der palästinensischen Sicherheitskräfte im Westjordanland defizitär sei. Die Tätigkeit der Sicherheitskräfte im Gazastreifen werde als Ganzes kritisch gesehen. Vor allem dort, aber auch im Westjordanland
komme es regelmäßig zu politisch motivierten Festnahmen und Beeinträchtigungen der Medien- und Versammlungsfreiheit.
Die Bundesregierung hat zugleich aber auch Verbesserungen in der Lage Gefangenen, vor allem im Westjordanland, erkannt und darauf hingewiesen, dass Menschenrechtsorganisationen in den letzten Monaten von
einem deutlichen Rückgang von Folter und herabwürdigenden Behandlungen berichten. Es würde diese positiven Entwicklungen zweifellos eher gefährden als stützen, wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt durch Anträge wie
den Ihren den Druck auf die Palästinenser noch einmal
erhöhten.
Die Forderungen, die von der Fraktion Die Linke im
heutigen Antrag aufgestellt werden, sind somit weder
notwendig noch der guten Sache förderlich. Durch die
schlichte Wiederholung von Aufforderungen an die Bundesregierung, die von den anderen Parteien schon formuliert worden und die seit längerem dezidiert in die
Politik der Regierung eingegangen sind, soll lediglich
der - falsche - Eindruck erweckt werden, Regierung und
Regierungskoalition wären sich der bedrückenden Lage
der in den Palästinensergebieten inhaftierten Menschen
nicht bewusst oder würden sich nicht klar und oft genug
gegen die dort geschehenden Menschenrechtsverletzungen und die Todesstrafe aussprechen. Dies sind Unterstellungen, die im Gewand der Sorge um eine gute Sache
daherkommen, die ich aber entschieden zurückweisen
muss.
Diesem Antrag liegt aber ein weiteres, noch weniger
edles Motiv zugrunde; und meines Erachtens ist dies
auch das eigentliche Motiv, das sich allerdings erst
durch einen Blick hinter die Parteikulissen erschließt:
Wir kennen alle die öffentlichen wie parteiinternen Debatten über die antisemitischen und antizionistischen
Strömungen und Traditionen in der Partei Die Linke, die
den inneren Zusammenhalt der Partei gefährden und
ihre Umfragewerte sinken lassen. Diesen Antrag verstehe ich deshalb wohl nicht zu Unrecht als den Versuch
einer in Panik geratenen Fraktion, sich mit einem Rundumschlag aus einer misslichen Lage zu befreien. Mit ihrer Kritik an der Lage der Gefangenen in den Palästinensergebieten, die sie nach meinem Gefühl etwas zu
plötzlich als kritikwürdig entdeckt haben, versucht die
Linke nun mit Macht, die in der Öffentlichkeit inzwischen vorherrschende Wahrnehmung zu korrigieren,
dass Antizionismus und Antisemitismus in dieser Partei
immer noch ein gewisses Heimatrecht genießen, das zu
Besorgnis Anlass gibt. Kurz: Dieser Antrag dient auch
dazu, das durch diese Debatte nicht unerheblich ramponierte Ansehen der Partei wiederherzustellen. Parteipolitisch ist dies zwar verständlich, politikethisch aber,
da es für diese Erneuerungskur ganz offensichtlich konkrete, bedrückende Menschenrechtsprobleme instrumentalisiert, höchst bedenklich. So sehr ich als Sprecher
meiner Fraktion in Menschenrechtsfragen und als Abgeordneter Nürnbergs, das sich als Stadt der Menschenrechte versteht, jedes Engagement für die weltweite
Durchsetzung der Menschenrechte von Herzen begrüße:
Einer solchen Instrumentalisierung kann ich, können
wir nicht folgen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
in Menschenrechtsfragen überzeugt und konsequent hätten handeln wollen, dann hätten Sie zum Beispiel, um regional im Nahen Osten zu bleiben, in der Gilad-SchalitDebatte mit Union, FDP, SPD und Grünen dazu hinreichend Gelegenheit gehabt. Dass Ihr durch Ideologien
belastetes Herz für Menschenrechtsfragen im Israel-Palästina-Konflikt aber recht einseitig und nachhaltig für
die Palästinenser schlägt, haben Sie damals in Ihrem eigenen Antrag durch den Satz, die Freilassung Schalits
würde ein „humanitäres Zeichen“ für die Entlassung
„palästinensischer politischer Gefangener“ sein, mehr
als eindringlich deutlich gemacht.
Für die Realpolitik der Linkspartei mag es ohne Belang sein, ob sie im Bundestag mal Menschenrechte in
Palästina kritisiert oder mal eben die Färöer-Inseln aufs
Festland verlegen möchte. Nur würde sie sich mit der
zweiten Forderung lächerlich machen, während sie mit
der ersten ihren Anhängern Toleranz und der Öffentlichkeit gelungene Entideologisierung vorgaukelt. Hier werden wir nicht mitmachen. Eine Partei, die daheim nicht
einmal in der Lage ist, vernünftige innenpolitische Vorschläge zu machen, sondern sich einseitig auf Umverteilung und Gleichmacherei versteift, sollte sich, wenn sie
ernsthaft an Menschenrechtsfragen im Nahostkonflikt
mitarbeiten will, erst einmal konsequent von ihren ideologischen Spätlasten, erst recht aber von ihrer Neigung
zu parteipolitischen Kurzschlussaktionen lösen.
Sehr geehrte Damen und Herren der Linken: Wenn es
Ihnen allein um die gute Sache, die Menschenrechte, gegangen wäre und nicht zugleich auch um das Kitten interner Zersplitterungen und das Aufpolieren des eigenen
Images, dann hätten Sie schon damals den von mir genannten Anträgen der Koalition zustimmen können, ja
müssen.
In ihrem Antrag, der Gegenstand der heutigen Debatte ist, thematisiert die Fraktion Die Linke die Situation von Häftlingen, die in palästinensischen Gefängnissen einsitzen. Auch die CDU/CSU-Fraktion beklagt die
Zu Protokoll gegebene Reden
offensichtlichen Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und
Einhaltung der Menschenrechte in den unter der Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde, PA,
stehenden Gebieten.
Die Staatlichkeit in Gaza und im Westjordanland ist
stark eingeschränkt. Die jahrelangen Konfrontationen
zwischen den rivalisierenden Kräften der Hamas und
der Fatah haben die Staatlichkeit und die Stabilität in
der Region zusätzlich beschädigt. Nach wie vor werden
Menschen in den palästinensischen Gebieten zum Tode
verurteilt. Sicherheitskräfte der von der Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde nehmen im
Westjordanland Anhänger der Hamas fest. Die Hamas
handelt in gleicher Weise in Gaza mit Verhaftungen von
Personen, denen sie Verbindungen zur Fatah vorwirft.
In Gaza sind nach Angaben von Amnesty International 2010 mindestens elf Todesurteile ausgesprochen
worden, fünf Menschen wurden bislang hingerichtet. In
keinem der Fälle haben die Gerichtsverfahren den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren
entsprochen. Sowohl im Westjordanland als auch in
Gaza haben die Sicherheitskräfte weitreichende Befugnisse. So können sie beispielsweise Personen auf den
bloßen Verdacht einer Zusammenarbeit mit Israel hin
inhaftieren. Die Unabhängige Kommission für Menschenrechte, ICHR, zählte mehr als 1 400 Beschwerden
wegen willkürlicher Festnahmen im Westjordanland
und über 300 Beschwerden im Gazastreifen. Die Verantwortlichen für Folter und andere Misshandlungen
bleiben in den meisten Fällen straffrei.
Die Situation in den palästinensischen Gefängnissen
ist dramatisch. Diese Zustände sind nur Ausdruck der
eigentlichen und viel weiter reichenden Problematik. Es
geht hier primär um die bislang nicht gelungene Umsetzung einer Zweistaatenlösung, also der Errichtung eines
eigenständigen, demokratischen und souveränen palästinensischen Staates und der Aussöhnung der Palästinenser untereinander. Die deutsche Bundesregierung
spricht sich deutlich für diesen Schritt aus. Die Entwicklungen der vergangenen Monate geben Anlass zur Hoffnung: Am 4. Mai dieses Jahres unterzeichneten Vertreter
der verfeindeten Gruppierungen Hamas und Fatah ein
Versöhnungsabkommen. Dieses birgt die Chance, die
Spaltung der palästinensischen Gebiete zu beenden und
Wahlen durchzuführen. Das Abkommen sieht eine Übergangsregierung vor, die als Hauptaufgabe die Vorbereitung von Wahlen koordiniert. Zudem soll die Blockade
des Gazastreifens überwunden werden. Die Demokratisierungsprozesse des „arabischen Frühlings“ könnten
diese Entwicklung zusätzlich positiv beeinflussen.
Die Bundesregierung hat bereits viel unternommen,
um die Verhandlungen um den Nahostkonflikt neu zu beleben und konstruktiv weiterzuführen. Sie unterstützt
auch den Aufruf von US-Präsident Barack Obama an Israel und die Palästinenser, die Wiederaufnahme des
Friedensprozesses voranzutreiben. Das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas ist ein erster
Schritt in die richtige Richtung. Der nächste Schritt
muss sein, dass die Hamas vor den entscheidenden Verhandlungen der Gewalt gegen Israel abschwört.
Vergangene Woche wurde im Plenum ein Antrag der
Linken debattiert, der eine einseitige Anerkennung des
palästinensischen Staates durch die Generalversammlung der UN im September dieses Jahres fordert. Dieses
Vorgehen dient dem Anliegen, den Friedensprozess voranzutreiben, nicht. Der Friedensprozess kann nur fortgeführt werden, wenn beide Konfliktparteien wieder in
direkte Verhandlungen miteinander treten. Einseitige
Schritte würden im Nahostfriedensprozess in eine Sackgasse führen und die Positionen gegebenenfalls zusätzlich verhärten.
Es ist für den weiteren Verlauf der Verhandlungen
wichtig, dass beide Seiten vor der UN-Versammlung im
September wieder in einen direkten Dialog treten. In
diesem Zusammenhang ist auch eine gemeinsame Position der Länder der Europäischen Union unabdingbar.
Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen muss sein, dass durch die Existenz eines
palästinensischen Staates die Sicherheit Israels nicht
beeinträchtigt wird. Hier trägt Deutschland eine besondere historische Verantwortung, die Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel in ihrer Rede in der Knesset im März
2008 als „Teil der Staatsräson meines Landes“ bezeichnet hat, die nicht verhandelbar sei.
Die Koalitionsfraktionen haben mit ihrem Antrag
„Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen“ deutlich
gemacht, dass die Todesstrafe eine inakzeptable Form
der Bestrafung ist. Sie ist eine besondere Form von Menschenrechtsverletzung und mit unseren Werten in keiner
Weise vereinbar. In ihrem Antrag „Menschenrechte
weltweit schützen“ fordern die Koalitionsfraktionen die
Ächtung der Todesstrafe in den betreffenden Ländern
und sprechen sich für ein absolutes Folterverbot aus.
Leider hat die Fraktion Die Linke keinen der beiden Anträge unterstützt. Der vorliegende Antrag der Linken
muss daher im Kontext der vorangegangenen parlamentarischen Debatten gesehen werden, weshalb wir ihm
nicht zustimmen werden.
Bevor ich zum vorliegenden Antrag zur Situation von
Gefangenen in den palästinensischen Gefängnissen
komme, möchte ich zwei kurze Vorbemerkungen machen:
Erstens. Palästina ist in einer entscheidenden Phase
für seine Zukunft angekommen. Wie in vielen arabischen
Nachbarstaaten hat der Druck von der Straße die
Machthaber zu Zugeständnissen gezwungen. Dabei
spielten insbesondere junge Menschen eine Rolle. Im
Falle Palästinas forderten sie Fatah und Hamas auf,
eine einheitliche Regierung für Gaza und das Westjordanland zu schaffen, weil sie der Spaltung ihrer Regierung und ihres Landes überdrüssig waren und ein Entwicklungshemmnis für sich darin sahen.
Zweitens. Palästina ist völkerrechtlich noch immer
kein souveräner Staat. Diese Aussage soll nichts entschuldigen, doch ist es ein Unterschied, ob man den Umgang eines souveränen und international anerkannten
Staates oder den Umgang einer Autonomiebehörde mit
ihren Inhaftierten kritisiert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir sehen seitens der SPD-Bundestagsfraktion im
aktuellen Ringen der Palästinenser um ihre politische
Neuordnung und ihre Souveränität eine Chance, den
Nahost-Friedensverhandlungen neuen Schwung zu verleihen, wie es in unserem in der letzten Woche debattierten Antrag heißt. Ich hoffe darüber hinaus, dass sich mit
den aktuellen politischen Veränderungen auch Chancen
zur Verbesserung der Situation von Gefangenen in palästinensischen Gefängnissen ergeben. Und damit
komme ich zu Ihrem Antrag:
Grundsätzlich unterstützen wir seitens der SPD-Bundestagsfraktion die Forderungen des hier debattierten
Linken-Antrages. Auch für uns steht es außer Frage,
dass Menschen- und Bürgerrechte beachtet werden,
keine willkürlichen oder politisch motivierten Verhaftungen erfolgen, keine Todesurteile mehr gefällt und
vollstreckt bzw. verhängte Todesurteile in Haftstrafen
umgewandelt werden, Gefangene gemäß internationaler
Rechtsnormen nicht misshandelt und gefoltert werden
und Sicherheitskräfte und Justizbehörden in die Lage
versetzt werden, die einschlägigen internationalen und
palästinensischen Rechtsstandards für ordentliche Verfahrensabläufe und korrekte Behandlung von Betroffenen einzuhalten. Da sind wir ganz nahe beieinander. Die
Anwendung der Todesstrafe verurteilen wir seitens der
SPD-Bundestagsfraktion auf das Schärfste, und nicht
nur gegenüber Palästinensern.
Ich weiß nicht, welchen Beitrag die Linksfraktion und
ihre Vorgänger in der Vergangenheit zum Aufbau von
rechtsstaatlichen Strukturen in den palästinensischen
Gebieten geleistet haben. Die SPD hat jedenfalls in ihrer Regierungsverantwortung in Bund und Ländern eine
ganze Reihe von Projekten zum Verwaltungsaufbau und
zur Förderung rechtsstaatlicher Strukturen im Westjordanland initiiert - und zwar unter den schwierigen Voraussetzungen der Besatzung.
Doch wir dürfen wohl nicht davon ausgehen, dass
jegliche Gefangenschaft in den Palästinensergebieten
innerhalb der beginnenden und schwachen staatlichen
Strukturen organisiert wird. Und an dieser Stelle leidet
Ihr Antrag an einem analytischen Mangel. Er tut so, als
finde der Justizvollzug so wie bei uns in Deutschland im
Rahmen der Verwaltung der Autonomiebehörde statt.
Dies ist jedoch wahrscheinlich nur bei einem Teil der
Gefangenen der Fall. Niemand von uns weiß zum Beispiel genau, wie viele Gefangene sich in Gewahrsam der
Hamas befinden und wie diese dort mit ihren Gefangenen umgeht. Ich ahne hier nichts Gutes. Mehr als Ahnungen hierzu sind auch in Ihrem Antrag nicht zu finden.
Und genau dies ist das Problem: Es gibt vor allem im
Gazastreifen leider kaum nachvollziehbare Verantwortlichkeiten im Justizvollzug. Dies müsste als Erstes geändert werden. Insofern liegt im Aufbau eines rechtsstaatlichen Justizvollzugs für die Zukunft ein sehr wichtiges
Kooperationsfeld.
Zum Schluss noch einige Sätze zum Kontext ihres Antrages: Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass die
Fraktion Die Linke im Oktober 2010 einen Antrag zur
Situation palästinensischer politischer Häftlinge in
israelischen Gefängnissen vorlegt und es ihr über ein
halbes Jahr später auffällt, dass auch in Palästina selbst
- insbesondere im Gazastreifen - unhaltbare Verhältnisse herrschen. Kann es sein, dass diese plötzliche Horizonterweiterung mit der aktuellen innerparteilichen
Positionsfindung der Linkspartei zu Israel, den Vorwürfen des Antisemitismus gegen einzelne Mitglieder und
ihrer bisherigen Fixierung auf Palästinenser als Opfer
zusammenhängt?
Wir beschäftigen uns zum wiederholten Male mit der
Lage im Nahen Osten, und das ist auch richtig so. Dieser Konflikt enthält viele unterschiedliche Aspekte und
regionale Komponenten. Einen davon greifen die Kolleginnen und Kollegen von der Linken auf. Lassen Sie
mich sagen, dass ich froh bin, dass Sie auch einmal auf
die andere, die palästinensische Seite schauen und Forderungen an sie stellen. Wir alle kennen die Auseinandersetzungen ihrer Fraktion über den Staat Israel. Es ist
sogar so weit, dass Gregor Gysi vorschlagen musste,
das Existenzrecht Israels im Parteiprogramm von der
Linken festzuschreiben.
Die Bundesregierung und auch das Parlament haben
bei verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen,
dass sie den Aufbau eines unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen Staates Palästina als ein zentrales Element bei der dauerhaften Lösung des Nahostkonfliktes sehen. Deshalb ist die Bundesregierung
schließlich der größte bilaterale Geber für den palästinensischen Staatsaufbau innerhalb der Europäischen
Union. Deshalb legt sie die Schwerpunkte des deutschen
Engagements auch auf gute Regierungsführung und das
Training und gerade die Unterstützung der palästinensischen Polizei als bürgernahen Garanten von staatlicher
Ordnung.
Um die Palästinenser bei dem Aufbau ihres Staates zu
unterstützen, hat die Bundesregierung schon im letzten
Jahr den deutsch-palästinensischen Lenkungsausschuss
eingerichtet. Ein Ergebnis dieses Instruments sind die
Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung ganz konkret bei dem Aufbau der Polizei in der West Bank mitarbeitet. Die GIZ ist für den Bau von vier Polizeistationen
im Raum Jenin und einer „Modellwache“ in Jericho
verantwortlich. Es wurden Funkgeräte und Streifenwagen besorgt sowie ein System zur automatischen Fingerabdruckidentifizierung angeschafft. Bis Ende des Jahres
werden 15 Millionen Euro für den Polizeiaufbau abgeflossen sein.
Das Auswärtige Amt hat das Programm „Zukunft für
Palästina“ eingerichtet. Als Teil dieses Programms nehmen palästinensische Polizisten an Lehrgängen teil.
Diese Lehrgänge finden sowohl in den palästinensischen Autonomiegebieten als auch in Deutschland statt.
Anfang dieses Jahres haben zum Beispiel palästinensische Polizisten den Umgang mit Fingerabdrücken in
Oranienburg gelernt. Die Bundesregierung legt großen
Wert darauf, dass die Vermittlung rechtsstaatlicher Standards Teil dieser Lehrgänge ist.
Das deutsche Engagement bei dem Aufbau der Polizeiinfrastruktur in den palästinensischen Gebieten ist
Zu Protokoll gegebene Reden
derart erfolgreich, dass es in den USA und den Niederlanden als Vorbild gilt.
Über den deutsch-palästinensischen Lenkungsausschuss hinaus engagiert sich Deutschland als Mitglied
der Europäischen Union ebenfalls für die Errichtung eines unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen
Staates Palästina, der seinen Bürgerinnen und Bürgern
rechtstaatliche Grundsätze garantiert. Das EU-Programm EUPOL COPPS bietet Training und Beratung
an, um den Palästinensern bei dem Aufbau tragfähiger
Polizeistrukturen zu helfen.
Der Nahostkonflikt beschäftigt uns hier immer wieder. Das ist auch gut, denn darin kommt die besondere
Verantwortung Deutschlands für eine sichere Heimstadt
der Jüdinnen und Juden in Israel zum Ausdruck. Wir
wissen um unsere Verantwortung, die aus der Vergangenheit unseres Landes resultiert. Zahlreiche Facetten
des Konfliktes standen und stehen im Fokus der Debatten. Ein Thema scheint mir jedoch unterbelichtet, das ist
die innere Verfasstheit der palästinensischen Gesellschaft. Diese Frage ist jedoch für ein friedliches Miteinander der Bürgerinnen und Bürger in dem im Werden
befindlichen Staat sehr wichtig. Und wenn es endlich
eine Friedensregelung in der Region geben sollte, dann
nur auf Basis einer Zweistaatenlösung, das heißt mit einem lebensfähigen Staat Palästina. Dieser Staat muss
seinen Bürgerinnen und Bürgern politische und soziale
Grundrechte ermöglichen. Und hier liegt einiges im Argen. Zur nachhaltigen äußeren Konfliktregelung gehören aber immer auch innerer Ausgleich, soziale und
wirtschaftliche Perspektiven für die Palästinenserinnen
und Palästinenser einerseits und Partizipation andererseits; davon bin ich überzeugt. Und da wir nicht mit
zweierlei Maß messen, sprechen wir dies hier genauso
klar an wie in anderen Regionen der Erde.
Die Freiheit der Meinungen, der politischen Entscheidungen, der Medien sind im Gazastreifen und der
Westbank unter dem Eindruck einer Bürgerkriegssituation - vorsichtig formuliert - eingeschränkt. Leidtragende von Gewalt, der Klientelwirtschaft, Paternalismus, der Nichtachtung der Würde des Menschen sind
Palästinenserinnen und Palästinenser. Ein trauriger
Tiefpunkt der Entwicklungen war der opferreiche Bruderkrieg zwischen Hamas und Fatah. Mit der jüngst gefundenen Vereinbarung zwischen diesen Kontrahenten
ist es jedoch nicht getan. Der minimale Interessenausgleich der beiden mächtigsten Fraktionen innerhalb der
palästinensischen Gesellschaft mag eine Machtteilung
sein, aber er führt nicht automatisch zu Versöhnung,
Transparenz oder gar Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Hier bleibt noch viel zu tun. Dem soll unser Antrag
dienen.
Wir sprechen hier einen Aspekt an, der allen Abgeordneten des Bundestages am Herzen liegen dürfte: der
Umgang mit Gefangenen. Hier zeigt sich besonders, ob
die Verantwortlichen eines Staates in der Lage und gewillt sind, Grundrechte durchzusetzen. Und das gilt
auch für die palästinensischen Autoritäten.
Das aktuelle Bild ist allerdings bedrückend. Vor allem die palästinensisch-israelischen Auseinandersetzungen, aber auch der Kampf zwischen Fatah und
Hamas führten und führen dazu, dass Palästinenserinnen und Palästinenser wegen Verdachts der Kollaboration verhaftet, länger als zu lässig inhaftiert, in Haft
misshandelt, ja sogar zum Tode verurteilt und auch hingerichtet werden. Bestehende palästinensische Rechtsgrundlagen für Haftvoraussetzungen oder Normen, die
Misshandlung ausschließen sollen, werden nicht eingehalten.
Ein Beispiel. Nach palästinensischem Recht ist eine
Unterschrift des Präsidenten der Autonomiebehörde erforderlich, um Todesurteilen - die wir ja generell ablehnen - Rechtskraft zu verleihen. Und obwohl es diese
nicht gab, sind mehrere Todesurteile im Gazastreifen
vollstreckt worden, gerade erst wieder vor einigen Wochen.
Die Berichte von Amnesty International, aber auch
von palästinensischen Bürgerrechtsorganisationen
selbst zeigen viele weitere massive Menschenrechtsverletzungen auf. Adressaten hierfür sind sowohl die Autoritäten im Gazastreifen, aber auch der Westbank.
Uns ist es wichtig, auf die Versäumnisse, Probleme
und Fehlentwicklungen hinzuweisen. Natürlich wissen
wir, dass die Besatzungs- und Bürgerkriegssituation ein
schwieriges Umfeld abgibt. Wir finden aber eben auch,
dass dies nicht zur Relativierung von Verletzungen der
Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser herangezogen werden darf. Gerade auf dem Weg zu einem
eigenen Staat muss von Anfang an die politische Partizipation gesichert sein und müssen die Menschen- und
Grundrechte eingehalten werden.
Deutschland hat im bilateralen Verhältnis, aber auch
über die Europäische Union Einflussmöglichkeiten, um
demokratische und rechtsstaatliche Entwicklungen zu
unterstützen und entsprechende Strukturen zu entwickeln. Ich bitte um wohlwollende Beratung unseres Antrags in den zuständigen Ausschüssen und dann um ihre
Zustimmung.
Ich finde, wir sollten uns in grundlegenden Menschenrechtsfragen mit möglichst großer Mehrheit an internationale Partner wenden. Das verliehe unseren Forderungen ein größeres Gewicht. Und das wäre in diesem
Fall, da bin ich mir sicher, ein Beitrag zu einem nachhaltigen Frieden und einem guten Zusammenleben der
Menschen in Israel und seinen Nachbarstaaten der Region.
Ich bin sehr froh, dass der Antrag der Fraktion Die
Linke „Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einhalten - Umgang mit Gefangenen in palästinensischen Gefängnissen verändern“ ein Thema aufgreift, dem in der
Regel bei der Auseinandersetzung um den israelisch-palästinensischen Konflikt viel zu wenig Aufmerksamkeit
geschenkt wird. Die UNO, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds haben der palästinensischen AuZu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
tonomiebehörde bescheinigt, sie erfülle die Vorausset-
zungen, um einen unabhängigen Staat regieren zu
können. Über die Absicht der Palästinenser, die Frage
der Anerkennung eines palästinensischen Staates vor
die UNO zu bringen, haben wir hier in der vergangenen
Woche debattiert. Das Thema der Behandlung palästi-
nensischer Gefangener in palästinensischen Gefängnis-
sen ist eindeutig ein Defizit beim bisherigen Staatsauf-
bau in den palästinensischen Gebieten. Nicht zuletzt ist
die besorgniserregende Situation in den Gefängnissen
auch ein Ausdruck der innerpalästinensischen Spaltung
zwischen Fatah und Hamas. Denn diese hat sich negativ
auf die Behandlung von Gefangenen in der Westbank
und im Gazastreifen ausgewirkt.
Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al
Haq veröffentlichte im Juli 2008 einen Bericht mit dem
Titel „Torturing Each Other: The Widespread Practices
of Arbitrary Detention and Torture in the Palestinian
Territory“. Darin wird nach der Machtübernahme von
Hamas im Gazastreifen eine deutliche Zunahme der Fol-
ter von Gefangenen in Gefängnissen sowohl im Gaza-
streifen wie in der Westbank beschrieben, Folter wurde
zu einem Instrument der Rache an dem vermeintlich
politischen Gegner. Nach dem Amnesty-International-
Report 2010 halten schwere Menschenrechtsverletzun-
gen bis heute an.
Wer sich mit offiziellen israelischen und palästinensi-
schen Vertretern trifft und dabei das Thema Menschen-
rechtsverletzungen anspricht, wird immer wieder und
zum Teil fast wortgleich mit folgenden Argumenten kon-
frontiert: Sie müssen verstehen, dass wir uns im Nahen
Osten, in einer Krisenregion befinden und nicht in der
Schweiz oder in Norwegen. Von palästinensischer Seite
wird meist noch auf die andauernde israelische Besat-
zung verwiesen. Kann dies eine Rechtfertigung für den
Umgang mit Gefangenen sein, wenn rechtsstaatliche
und Menschenrechtsprinzipien eklatant verletzt wur-
den? Nein, selbstverständlich nicht! Eine Rechtfertigung
für Menschenrechtsverletzungen gibt es grundsätzlich
nicht. Denn Menschenrechte sind universell, Und sie
dürfen weder durch sogenannte kulturelle Eigenheiten
noch durch besondere Konfliktlagen relativiert werden.
Im Gegenteil: Die Einhaltung von Demokratie- und
Menschenrechtsstandards ist zwingende Voraussetzung
für einen erfolgreichen Staatsaufbau. Und dazu gehört
auch die Verbesserung der Lage der Gefangenen in pa-
lästinensischen Gefängnissen.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist der stockende
Prozess der Gesetzgebung. Denn seit dem Wahlsieg von
Hamas im Januar 2006 und der anschließenden Verhaf-
tung zahlreicher der Hamas angehörenden Parlamenta-
rier durch Israel ist das palästinensische Parlament in
seiner Arbeitsfähigkeit stark eingeschränkt. Es gibt fak-
tisch keinen Gesetzgebungsprozess mehr. Auf die damit
verbundenen Probleme hat schon vor zwei Jahren der
damalige Leiter der auch von Deutschland unterstützten
European Union Police Coordinating Office for Palesti-
nian Police Support, EUPOL COPPS, hingewiesen. Aus
diesem Grund wurde nach dem Amtsantritt des palästi-
nensischen Ministerpräsidenten Fayad das EUPOL-
COPPS-Mandat erweitert. Es wurden zahlreiche Juris-
ten aus verschiedenen EU-Staaten hinzugezogen, die
Vorschläge zu Gesetzesbestimmungen zur Frage der
Verteidigung von Angeklagten, den Rechten der Polizei,
polizeilichen Ermittlungen usw. erarbeitet haben, Die
Verabschiedung dieser Gesetze scheitert aber bislang
daran, dass es kein funktionsfähiges Parlament gibt.
Es ist zu begrüßen, dass Fatah und Hamas vor dem
Hintergrund des arabischen Frühlings im April eine
Versöhnungsvereinbarung getroffen haben und die Bil-
dung einer Übergangsregierung mit dem Ziel der Aus-
richtung von Wahlen beschlossen haben. Aber klar ist
auch: Beide Seiten und auch eine neue Einheitsregie-
rung müssen sich tatsächlich daran machen, Demokra-
tie und Rechtsstaat aufzubauen. Erst die Einhaltung von
Menschenrechten durch palästinensische Behörden ist
Voraussetzung für eine tatsächliche innerpalästinensi-
sche Versöhnung und eine nachhaltige Entwicklung des
Landes. Die Bundesregierung sollte die Palästinenser
hierbei unterstützen. Denn die Einhaltung dieser grund-
legenden Prinzipien sind letztlich auch Voraussetzung
für eine Friedenslösung zwischen Palästinensern und Is-
raelis im Sinne einer Zweitsaatenlösung auf der Basis
der Grenzen von 1967.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6340 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald
Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zucht mit Schweinen mit Maligne-Hyperthermie-Syndrom ({0}) verhindern
- Drucksache 17/6344 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Dr. Harald Terpe, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dokumentation der Antibiotika-Vergabe in
der Tierhaltung transparent gestalten - Son-
derregelungen für die Geflügelindustrie strei-
chen
- Drucksache 17/6443 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Friedrich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Intensive Nutztierproduktion überprüfen
- Drucksachen 17/5047, 17/5574 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Hans-Michael Goldmann
Friedrich Ostendorff
Wir beraten heute einmal mehr drei Anträge der Grünen, die primär zum Ziel haben, die Mehrheit der deutschen Tierzüchter zu stigmatisieren. Um es Ihnen gleich
zu sagen: Wir lehnen Ihre Anträge ab!
Nutztierhaltung in Deutschland erfolgt heute fachlich, hygienisch und in Bezug auf Tierschutz auf sehr hohem Niveau. Das gilt für jede Haltungsform und hat mit
der Anzahl der Tiere, die in einem Stall gehalten werden,
rein gar nichts zu tun. Ich will noch einmal für meine
Fraktion sagen: Wir überlassen es im Rahmen der Gesetze und Vorschriften der unternehmerischen Freiheit
der Landwirte, wie viele Tiere sie halten möchten, ob sie
dies konventionell oder als Biobetrieb, intensiv oder extensiv tun. Sicher ist aber, dass jeder Weg seine Bestätigung am Markt und am Ende beim Verbraucher finden
muss. Die Politik muss die Rahmenbedingungen setzen
und die Einhaltung kontrollieren.
Von einer Intensivierung der Nutztierhaltung, wie die
Grünen sie beklagen, kann flächendeckend keine Rede
sein. So ist der Tierbesatz in Deutschland seit der Wiedervereinigung zurückgegangen. Dies betrifft vor allem
die neuen Bundesländer. Hier muss man von einer geringeren Intensität der Nutztierhaltung sprechen. Wie wir
schon in den Ausschussberatungen angeführt haben,
wünschen wir uns eine Zunahme der Veredelung in diesen Regionen, um auch hier attraktive Arbeitsplätze im
Umfeld der Landwirtschaft zu erhalten und neu zu schaffen und die meist geringe Wertschöpfung in diesen Räumen zu erhöhen.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag eine bundesgesetzliche Lösung, um Tierhaltungsbetriebe in den Kommunen zu verhindern. Ich frage mich, ob dies nur von
wenig kommunalpolitischer Erfahrung zeugt oder einfach ein weiterer Punkt des Anprangerns der Tierhalter
ist. Die Kommunen, die Stadt-, Gemeinde- und Ortschafträte sind auch heute schon ausreichend in die
Lage versetzt, den Bau von Ställen maßgeblich zu steuern. Wir brauchen hier keine weiteren Regelungen.
Es ist schon erstaunlich, dass dieselben Kollegen, die
Geruchs- und Lärmbelästigung durch Mastbetriebe beklagen, auch jedesmal das Bauen im Außenbereich infrage stellen. Es ist immer auch im Sinne der Landwirte,
dass eine gute Nachbarschaft und eine hohe Akzeptanz
vor Ort gegeben ist. Deshalb unternehmen die Bauern
und im Normalfall auch die Behörden viele Maßnahmen, um mögliche Beeinträchtigungen zu minimieren.
Von den Gegnern wird dann wieder unterstellt, man
wolle im Verborgenen handeln. Dem ist nicht so! Unser
Baurecht umfasst maximale Transparenz. Wir brauchen
aber auch Rechtssicherheit.
Als praktizierender Landwirt, der über 30 Jahre einen
eigenen Betrieb führt, weiß ich, dass der Tierschutz in
unseren deutschen Ställen noch nie auf höherem Niveau
war. Trotzdem gibt es immer wieder neue Erkenntnisse
darüber, was tiergerecht ist und wo Verbesserungen nötig oder möglich sind. Hier müssen wir auch weiter am
Ball bleiben. Daher begrüßen wir die Initiative unserer
Ministerin Ilse Aigner, die den Tierschutz weiter vorantreiben will. Es ist aber für die Konkurrenzfähigkeit unserer Betriebe wichtig, immer die europäischen Standards im Blick zu haben und weiter zu entwickeln und
nicht nationale Alleingänge zu unternehmen. Ich erinnere nur an die Situation bei der Legehennenhaltung,
die uns einen Absturz beim Selbstversorgungsgrad bei
Hühnereiern auf 50 Prozent beschert hat, der noch vor
fünf Jahren bei über 70 Prozent lag. Das hat Existenzen,
Arbeitsplätze und Wertschöpfung gekostet und für den
Tierschutz nichts gebracht.
Ich bin sicher, dass die Bundesregierung in Brüssel
immer für europaweite Regelungen eintreten wird. Ich
bin auch davon überzeugt, dass die überwältigende Anzahl der Tierhalter ihre Tiere mögen, ihnen mit Achtung
begegnen und sie schützen! Nur gut gehaltene Tiere
bringen die entsprechende Leistung.
Es nützt uns nichts, wenn Sie die Bevölkerung weiter
verunsichern! Auch in den Medien wird in diesem Bereich nicht immer objektiv berichtet. Öffnen dann aber
Schweinezüchter oder etwa, wie in der Fernsehsendung
„Panorama“ zu sehen, in dieser Woche Ferkelproduzenten bereitwillig die Stalltüren, sind die Menschen überrascht, wie sauber, unaufgeregt und tiergerecht moderne
Schweinehaltung heutzutage ist. Wenn wir weiter an der
Fortentwicklung von Standards arbeiten und in der
Landwirtschaft das hohe Ausbildungsniveau beibehalten, wird auch in Zukunft eine tiergerechte, konkurrenzfähige Nutztierhaltung möglich sein, die den Verbraucher mit gesunden, schmackhaften Lebensmitteln zu
akzeptablen Preisen versorgt und mit Umwelt und Nachbarschaft in Einklang ist. Das ist nicht nur eine Floskel!
Noch nie waren Landwirte an ein so umfangreiches Regelwerk gebunden! Noch nie waren Standards so hoch
wie heute!
Meine Damen und Herren von den Grünen: Ihre Anträge beruhen nicht etwa auf dem Streben nach Verbesserung. Sie wollen aus purer Ideologie den uralten
Kampf „Bio gegen konventionell“ und „romantische
Hobbybetriebe gegen die bösen Mastbetriebe, aus denen
sich oft kaum eine Familie ernähren kann“ weiter anfachen. Wie erklärt sich sonst auch Ihr Antrag zum Malignen-Hyperthermiesyndrom bei der Schweinerasse
Piétrain?
Jeder Fachmann kann bestätigen, dass diese Krankheit in der Praxis keine Rolle spielt. Jeder Landwirt
kann mit einem Blick wissen und entscheiden, ob der
eingesetzte Eber reinerbig stressunempfindlich, misch14120
erbig stressunempfindlich oder stressempfindlich ist.
Niemand hat ein Interesse, kranke Tiere weiter zu züchten und wird schon zur Gesunderhaltung seines Tierbestandes darauf achten, dass dies nicht vorkommt. Sicher
gibt es Zuchtlinien, in denen die Krankheit vorkommen
kann. Eine Weiterzucht wird in der Praxis aber vermieden. Bei jeglicher Zucht geht es vorrangig um gesunde
Tiere. Alles andere wäre Unsinn. Die Zuchtergebnisse
müssen wirtschaftlich sein, und die Tiere müssen Stress
vertragen können. Wir sehen hier keinen Handlungsbedarf. Es ist schon im Interesse der Schweinezüchter, ihre
Linien gesund zu halten. Die Vergangenheit hat gezeigt,
dass hier große Erfolge erzielt wurden. Fleischfülle und
Stressunempfindlichkeit wurden erfolgreich vereint, was
sich züchterisch früher ausschloss.
Sicher ist Ihr Antrag Arbeitsbeschaffung vor der
Sommerpause. Gleiches sehe ich auch bei Ihrem Antrag
zur Dokumentation von Tierarzneimitteln. Hier wurden
die Dokumentationspflichten gerade verschärft, und die
Bundesregierung hat Ihnen bereits geantwortet, dass im
Rahmen der Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie
weitere Maßnahmen einen Überblick über dieses Thema
geben werden. Hier sehen wir ebenfalls keinen Handlungsbedarf, und deshalb lehnen wir auch diesen Antrag
ab. Wir brauchen hier nicht noch mehr Bürokratie, die
niemandem - weder Tier noch Tiergesundheit, weder
Verbrauchern noch Bauern - nutzt! Weniger wäre hier
mehr!
Die Verantwortlichen in der Schweinezucht haben bereits seit Jahrzehnten ein besonderes Augenmerk auf das
Maligne-Hyperthermiesyndrom gerichtet, und dies hat
mehrere Gründe: Zum einen steigt durch diesen Gendefekt die Mortalitätsrate bei reinrassigen Merkmalsträgern erheblich an. Das bedeutet: Bis zu einem Zehntel
der reinrassigen Piétrain-Eber sterben frühzeitig, weil
ihnen in entsprechenden Stresssituationen der Stoffwechsel entgleitet. Sie verenden in einem Krampfzustand, ohne dass es eine sinnvolle Therapiemöglichkeit
gibt. Zum anderen bleibt festzuhalten, dass dieser Gendefekt sich auch negativ auf die Fleischbeschaffenheit
auswirkt. Die Korrelation zwischen der mangelnden
Fleischqualität und der Fähigkeit, schnell Fleisch anzusetzen, ist bekannt.
Früher wurden die stressresistenten Tiere umständlich mit dem Halothantest selektiert. Heute sind die Gensequenzanalyseverfahren so ausgereift, dass wir genau
wissen, in welchen Populationen und Zuchtlinien sich
dieser Gendefekt häuft. Eine genaue Identifikation ist
wichtig. Denn nur so lässt sich das Ziel der weiteren
Zucht umsetzen: Weg mit dem Gendefekt!
Die Züchtervereinigungen und Zuchtunternehmen
müssen ihre Zuchtziele neu definieren, damit sie den
Gendefekt aus ihren Zuchtlinien und Populationen herauszüchten. Aus meiner Sicht muss die Zucht derjenigen Schweine grundsätzlich verboten werden, die stressanfällig sind. Die gegenwärtige Zuchtausrichtung wirft
aber nicht nur beim Hausschwein Fragen auf. Wir müssen auch andere, nicht wünschenswerte Entwicklungen
in der Zucht unserer landwirtschaftlichen Nutztiere kritisch hinterfragen. An dieser Stelle sind die Zucht auf
einen größtmöglichen Brustansatz bei Puten, die maximale Legeleistung bei Hennen oder die höchste
Milchleistung unserer Kühe zu nennen.
Ich bin natürlich für eine leistungsorientierte Zucht,
aber der Leistungsbegriff kann sich nicht nur auf ein Immer-mehr und Immer-größer beschränken.
Nach meiner Überzeugung muss sich die Zucht langfristig an einem erweiterten Leistungsbegriff orientieren. Wir müssen darauf achten, dass am Ende die Leistungsfähigkeit unserer landwirtschaftlichen Nutztiere
nicht dauerhaft überschritten wird.
Wir müssen eine breite Debatte darüber führen, was
überhaupt noch erstrebenswert und ethisch vertretbar
ist. Es kann nicht sein, dass wir unsere landwirtschaftlichen Nutztiere während ihrer Lebenszeit überfordern
und ihre gesamte Konstitution auf die maximale Wirtschaftlichkeit trimmen. Das erfreut zwar den Tierarzt,
aber erhöht das Leiden der Tiere. Ein erweiterter Leistungsbegriff muss beispielsweise das Ziel der Langlebigkeit bei Rindern stärker in den Fokus rücken. Die
Zuchtziele müssen neu definiert und dann im deutschen
Tierzuchtgesetz verankert werden. Gleichzeitig müssen
wir eine europaweite Initiative für dieses wichtige Anliegen starten. Wir Sozialdemokraten werden dieses Thema
in Zukunft auch unter dem Aspekt des Tierschutzes aufgreifen. Heute stimmen wir dem vorgelegten Antrag zu.
Die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beschriebene Situation in einigen Regionen Deutschlands ist uns
bewusst. Die zunehmende Ansiedlung großer Tierhaltungsanlagen ist als äußerst problematisch zu bewerten,
und wir erkennen dringenden Handlungsbedarf.
„Intensive Nutztierproduktion“, wie Sie es nennen,
hat negative Auswirkungen auf viele Bereiche. Die Tiere
leiden aufgrund hoher Besatzdichte zum Teil unvorstellbare Qualen. Ihnen werden Schwänze und Schnäbel gekürzt, damit sie sich nicht gegenseitig verletzen. Die
Umwelt wird mit Gülle und Mist überfrachtet. Die Menschen kritisieren die Verschandelung der Landschaft
und leiden an dem Ausstoß von Aerosolen.
Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass Tierschutz
Staatsziel und somit Staatsaufgabe ist. Im Tierschutzgesetz ist festgehalten, dass niemand Tieren ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen
darf. Daran müssen wir uns halten.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten artgerechte Haltungsformen. Im Jahr 2007 bezeichneten in
einer Emnid-Umfrage 93 Prozent der Befragten eine
tiergerechte Haltung als wichtigste Aufgabe in der
Landwirtschaft. Professor Dr. Spiller von der Universität Göttingen kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Unsere Verbraucherinnen und Verbraucher legen immer mehr Wert auf hochwertige Lebensmittel, eine umweltverträgliche Landwirtschaft und eine artgerechte
Tierhaltung. Dies beweisen auch die zahlreichen ZuZu Protokoll gegebene Reden
schriften, die mich tagtäglich erreichen. Bündnis 90/
Die Grünen fordern ebenso eine Koppelung der staatlichen Zahlungen an eine solche Landwirtschaftsform.
Daran sollten wir uns messen.
Daher ist die Bundesregierung aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Tiergerechte Haltung,
mehr Handlungsspielräume für die Kommunen bei der
Ansiedlung großer Tierhaltungsanlagen, mehr Schutz
für unsere Böden und Gewässer - nur so können wir in
der Bevölkerung eine breite Akzeptanz für unsere Landwirtschaft erreichen.
Wir unterstützen Ihren Antrag daher in vielen Punkten. Allerdings sind uns Ihre Forderungen nicht konkret
genug. Daher haben wir einen eigenen Antrag eingereicht. Er benennt ganz konkret die notwendigen Änderungen im Tierschutz, im Bau- und Planungsrecht und
im Umweltrecht. Wir fordern mehr Tierschutz. Wir fordern damit die Stärkung der Verbraucherinteressen. Wir
unterstützen die Interessen der Landwirte und der Bürger. Wir achten auf unsere Umwelt. Mit unserem Antrag
stellen wir vollkommen neue Weichen für landwirtschaftliche Tierhaltung.
Niedersachsen hat die Zeichen der Zeit bereits erkannt. Mit dem Tierschutzplan macht Landwirtschaftsminister Lindemann einen großen Schritt in die richtige
Richtung. Er hat erkannt, dass man - ich zitiere - „die
Tiere nicht an die Bedingungen, sondern die Bedingungen an die Tiere anpassen muss.“ Er hat unsere volle
Unterstützung.
Ich fordere Frau Aigner auf, dem Beispiel Niedersachsens zu folgen. Im Agrarpolitischen Bericht dieses
Jahres bekennen Sie sich eindeutig zu verbesserten Haltungsbedingungen. Und ich sage Ihnen: Handeln, nicht
reden!
Der Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung ist
seit zehn Jahren im Arzneimittelgesetz - 11. AMG-Novelle - mit einer Beschränkung der Abgabe verankert.
Mit der Novelle wurde die Verabreichung von Antibiotika
an eine tierärztliche Untersuchung gebunden: 7-TageRegelung, 30-Tage-Regelung. Damit sind wir schon mal
auf einem guten Weg.
In erster Linie gilt es einen verantwortungsvollen
Umgang mit Arzneimitteln zu garantieren und die prophylaktische Anwendung ohne tierärztliche Untersuchung zu unterbinden. Dabei können wir stark auf die
Mithilfe der Tierärzte hoffen, die sich selbst die Antibiotikaleitlinien auferlegt haben. Hierbei geht es neben
ganz praktischen Fragen der Dosierung und der Auswahl des Medikaments auch um die Frage des gewissenhaften Einsatzes von Antibiotika. Auch im Ausschuss haben wir uns ausführlich darüber informiert und
festgestellt, dass die Bildung von Antibiotikaresistenzen
vor allem auch ein humanmedizinisches Problem ist.
Zur besseren Überprüfung und Rückverfolgbarkeit wurden Maßnahmen ergriffen im Rahmen der Deutschen
Antibiotikaresistenzstrategie, DART, und des Deutschen
Instituts für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI. An diesem Thema bleiben wir auch weiterhin dran.
Die Erfassung und das Monitoring über die Abgabe
von Antibiotika in der Nutztierhaltung dienen der Bekämpfung und Beobachtung von Antibiotikaresistenzen.
Dabei sind pharmazeutische Unternehmen und Großhändler aufgefordert, bis Jahresende die Abgabemengen
je Tierarzt in Kombination mit der Benennung der ersten
zwei Ziffern der Postleitzahl des Tierarztes abzugeben.
Die Tierarzneimittelsicherheit macht dabei entgegen Ihrer Aussage keine Ausnahme bei der Geflügelhaltung.
Dass im Geflügelbereich, statt der ersten beiden
Postleitzahlziffern, nur die Einsatzmenge an Antibiotika
genannt wird, erfolgt aus datenschutzrelevanten Gründen. In Deutschland sind nur wenige Veterinäre ausschließlich für die Behandlung von Geflügelbeständen
zugelassen. In schwach besiedelten Regionen könnten
Tierärzte bei der Zulassung von ausschließlich für Geflügel zugelassenen Arzneimitteln bei Nennung der ersten beiden Postleitzahlenziffern womöglich eindeutig
identifiziert werden. Das ist aber nicht Sinn und Zweck
des DIMDI. Vielmehr geht es uns ja darum, einmal eine
gründliche Übersicht zu erhalten, um die Gefahr der Antibiotikaresistenzen besser in den Griff zu bekommen,
und nicht einzelne Regionen oder Tierärzte an den Pranger zu stellen. Zudem dürfen wir dabei nicht die Handlungsfreiheit der Tierärzte gefährden.
Nicht gefährden sollten wir auch die Stimme der Vernunft und Fachlichkeit, wenn es um den Tierschutz bei
unserer Landwirtschaft geht. Deshalb kann ich den Anträgen der Grünen zur Nutztierhaltung in der derzeitigen Situation, wo wir dabei sind, die Fachlichkeit zur
Grundlage unserer Entscheidung zu machen, nichts Gutes abgewinnen. Die Überschrift des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Intensive Nutztierproduktion überprüfen“ macht das deutlich. Wir wollen nicht
überprüfen, sondern wir wollen auf der Basis der
Facherkenntnis handeln. Es ist doch bekannt, dass FDP
und CDU/CSU in Zusammenarbeit mit dem Ministerium
Arbeitsaufträge erteilt haben, die Rahmenbedingungen
für intensive Nutztierproduktion den aktuellen Erkenntnissen aus der Forschung anzupassen und zu erarbeiten.
Im Antrag wird unter anderem gefordert, Mindestanforderungen an die Haltung von Mastkaninchen in die
Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufzunehmen,
während wir im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bereits mehrmals über
das Thema beraten haben. Es wurde auch deutlich gemacht, dass entsprechende Anforderungen entwickelt
werden, basierend auf Untersuchungsergebnissen und
Erfahrungen aus anderen Ländern. Mögliche Eckpunkte
der Regelung wurden schon erarbeitet und werden nun
mit Tierschutzorganisationen und Vertretern der Wirtschaft diskutiert.
Warum also wird etwas gefordert, woran schon intensiv und fachlich gearbeitet wird? Der Antrag ist nicht
nur politisch unklug, sondern zeugt auch von einer nur
wenig fachlichen und praxisbezogenen Einstellung des
Antragstellers. Wie kann man unverzügliche Lösungen
für den Umgang mit den nichtkurativen Eingriffen an
Zu Protokoll gegebene Reden
Nutztieren fordern, wenn dies bereits im Tierschutzgesetz geregelt ist und der Vollzug den zuständigen Länderbehörden obliegt? Amputationen sind in Deutschland grundsätzlich verboten, die Durchführung ist nur
im Ausnahmefall zulässig.
Für meine Fraktion ist klar, dass wir keine Qualzucht
akzeptieren. Unsere Landwirte müssen die Haltungssysteme den Tieren anpassen. Die Grundlage unseres Handelns ist gute fachliche Praxis. Die Umsetzung dieses
praktischen Handelns liegt in der Hand fachlich hochqualifizierter Bauern und Landwirte. Wir brauchen
mehr Vertrauen in vorhandene Fachlichkeit, wir brauchen keine unausgegorenen Gesetze. Wir brauchen sicher keine Gesetze, wenn wir die Untersuchungsergebnisse unserer Fachaufträge für den besseren Tierschutz
noch nicht haben. Als Beispiel sei hier das Schnabelkupieren bei Geflügel oder das Kupieren der Schwänze in
der Schweinehaltung zu nennen. Wir wissen, dass bei
nicht kupierten Tieren zum Beispiel vermehrtes Federpicken und Kannibalismus auftreten können. Die Forschungsergebnisse liegen noch nicht vor, wie wir das
Problem lösen können. Deshalb ist kluge Fachlichkeit
vor Aktionismus angesagt. Deshalb werden wir die
populistischen und unfachlichen Anträge der Grünen
ablehnen.
Die Liberalen werden sich weiterhin für praxisorientierte Fortschritte im Tierschutz, besonders bei der
Nutztierhaltung, einsetzen.
Der vorliegende Antrag „Intensive Nutztierproduktion prüfen“ ist, wie der Name schon sagt, vor allem ein
Prüfauftrag an die Bundesregierung. Die Regierung soll
prüfen, inwiefern Intensivtierhaltung mit den Bedürfnissen von Mensch und Tier in Einklang steht bzw. zu bringen ist. Anders formuliert geht es darum, den tierschutzpolitischen Ankündigungen von Frau Aigner bezogen
auf die Nutztiere Taten folgen zu lassen. Daher riecht
dieser Antrag fast nach einem interfraktionellen Antrag.
Sind die Forderungen, die Prüfaufträge in dieser Vorlage nicht auch Anliegen Ihrer Agrarministerin, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP?
Der Antrag berücksichtigt in Punkt II Förderung des
ländlichen Raumes, Stärkung der Demokratie, Stärkung
der Kommunen, gesundheitspolitische Aspekte, umweltpolitische Aspekte und vor allem Belange des Tierschutzes. Auch bezüglich des Antrags „Zucht mit Schweinen
mit Maligne-Hyperthermie-Syndrom verhindern“ könnte
man eigentlich mit einer übergroßen Mehrheit rechnen.
Heute müssen wir keine Halothan-Tests mehr machen,
MHS kann auf genanalytischem Weg festgestellt werden.
Und mit solchen Tieren dann zu züchten, ist faktisch ein
Verstoß gegen das Tierschutzgesetz.
Im dritten Antrag, den wir beraten, geht es um die
Dokumentation der Antibiotikavergabe in der Tierhaltung. Der mißbräuchliche Einsatz von Antibiotika widerspricht den Grundsätzen des Tierschutzes und fördert
die Bildung von Resistenzen. Genau das wollen wir mit
der Nationalen Antibiotikaresistenzstrategie ja verhindern. Deshalb ist die Streichung der Ausnahmen bei der
Meldepflicht für den Antibiotikaeinsatz folgerichtig.
Kurzum: Die Zielrichtung dieser drei Anträge ist völlig richtig. Wir werden ihnen deshalb zustimmen. Damit
wäre alles gesagt, ist es aber nicht. Denn ein Punkt fehlt
uns. Und für uns Linke ist das ein entscheidender Punkt.
Auch der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss berücksichtigt werden. Und natürlich muss es
einen Mindestlohn auch in der Agrarwirtschaft geben.
Die Linke lehnt Tierhaltungsformen ab, bei denen
ausschließlich ökonomische Interessen im Vordergrund
stehen. Bei der Tierhaltung muss es für uns eine gleichwertige Abwägung von sozialen, ökologischen - hier natürlich auch Tierschutz - und ökonomischen Aspekten
geben, dies auch aus Gründen internationaler Solidarität und internationaler Ernährungssicherung. Dennoch
kaufen die Menschen gern im Supermarkt das billige
Fleisch. Aber warum ist das eigentlich so, möglichst naturnahe Landwirtschaft fordern und gleichzeitig das billige Fleisch kaufen wollen? Ich werde Ihnen sagen,
woran das liegt: Rot-Grün fing mit radikalem Lohndumping und Hartz IV an, Schwarz-Gelb macht da weiter. Es
ist eben schwierig, sich von circa 350 Euro ökologisch
und nachhaltig zu ernähren. Die Leute haben nach
20 Jahren Lohndumping einfach kein Geld mehr. Die
Griechinnen und Griechen kriegen es gerade zu spüren:
Deutschland wird immer mehr Billiglohnland und ist daher Exportweltmeister. Und all dies hat auch mit heimischer Tierhaltung und Fleischerzeugung zu tun. Dabei
zeigt sich wieder einmal deutlich: Die ökologische
Frage ist wichtig. Aber sie darf niemals und nimmer abgekoppelt werden von der sozialen Frage.
Meine Damen und Herren von den Grünen, die soziale Frage taucht in Ihrem Antrag zur Nutztierproduktion nicht auf. Sie klingt allenfalls in Punkt 4 an. Das
überrascht nicht, denn die soziale Frage spielt bei Ihnen
ja keine große Rolle mehr. Die Linke denkt beim Thema
Nutztierhaltung nicht nur an die Tiere, wir denken auch
an die Menschen, an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, an Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei allen
möglichen und tatsächlichen Differenzen untereinander
unterscheidet uns Oppositionsfraktionen eines aber
ganz deutlich von der Regierungskoalition: Wir sind
nicht die Lobby der Agrarkonzerne. Wir sind nicht die
Lobby der Lebensmittelindustrie.
Wir, die Linke, vertreten die Interessen der Menschen
im ländlichen Raum, der Bäuerinnen und Bauern, der
Familienbetriebe und der Mehrfamilienbetriebe. Wir verteidigen das Staatsziel Tierschutz und die Interessen der
Menschen gegen die Angriffe des Kapitals. Wir stellen fest,
das sich binnen 20 Jahren der Bestand an Truthühnern
verdoppelt hat, von 5 Millionen Truthühnern 1990 auf
11 Millionen 2007. Auch beim Schweinefleisch kam es zu
einer erheblichen Steigerung von 3 602 000 Tonnen auf
4 985 000 Tonnen. Agrarkomplexe mit Größenordnungen von rund 90 000 Schweinen, 800 000 Legehennen
und 500 0000 Masthähnchen befinden sich in Genehmigungsverfahren oder bereits in Betrieb. Mithilfe der EU,
der Bundes- und Landesregierungen sowie von Verbänden der Agrar- und Ernährungsindustrie wachsen TierZu Protokoll gegebene Reden
haltungskonzerne heran, deren Kern außerlandwirtschaftliche Investoren bilden. Die EU importiert
Futtermittel, für deren Produktion etwa die Anbaufläche
Frankreichs, über 25 Millionen Hektar, benötigt wird.
Und wofür das alles? Für den Export! Schon längst fällt
der Fleischkonsum in Deutschland weit hinter die Erzeugung zurück. Dagegen gibt es Widerstand. Und wir
müssen uns nicht nur fragen, ob all dies tiergerecht ist.
Wir müssen uns vor allem fragen: Ist das menschengerecht? Nein. Wir wollen eine andere Tierhaltung, eine
menschen-, umwelt- und tiergerechte Lebensmittelproduktion.
Im Februar dieses Jahres vermittelte uns Ministerin
Aigner einen Hauch von Hoffnung auf einen verbraucher- und agrarpolitischen Frühling. Der Dioxinskandal hatte gerade das agrarindustrielle System mit seinen
undurchschaubaren Lebens- und Futtermittelketten infrage gestellt. Das ließ auch Frau Aigner nicht unbeeindruckt. In einer großen Medienoffensive kündigte sie
eine Tierschutzoffensive an. Es sollte Schluss sein mit
tierschutzwidrigen Haltungsbedingungen, Schluss mit
der Käfighaltung bei Hühnern, Schluss mit dem Abschneiden von Schweineschwänzen, Schluss mit dem
Schenkelbrand bei Pferden.
Nun ist der Frühling längst vorbei, und es ist mal wieder bei den Ankündigungen geblieben. Die Regierung
macht bis zum heutigen Tag keinen einzigen Vorschlag,
wie sie einen Rahmen für eine artgerechte Nutztierhaltung schaffen will. Entsprechende Initiativen kommen
nur aus dem Bundesrat - von NRW oder wie zur bevorstehenden Bundesratssitzung am 8. Juli von der rheinlandpfälzischen Landesregierung, die die Bundesregierung an
die Umsetzung des vom Bundesrat beschlossenen Schenkelbrandverbots erinnert und eine Abschaffung der Käfighaltung bei Legehennen als Konsequenz aus dem
Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Oktober 2010 fordert.
Auch bei der Einführung eines Tierschutzlabels ist es
nicht die Bundesregierung, die vorangeht. Statt dessen
setzt zum Beispiel der Deutsche Tierschutzbund in Kooperation mit der Wirtschaft - mit Vion, Netto und Coop - mit
dem „Tierwohllabel“ dankenswerterweise erste wichtige
Standards bei der Tierschutzkennzeichnung. Frau
Aigner, es sind eigentlich Sie, die von den Bürgerinnen
und Bürgern gewählt worden ist, um entsprechende Regelungen zu schaffen. Wenn Sie das nicht tun, dann stehen Sie aber dazu und verkünden der Öffentlichkeit: Wir
brauchen keinen Tierschutz. Es ist gut so, wie es ist.
Mit unserem Antrag zur Nutztierhaltung bauen wir
Ihnen doch eine Brücke. Wir fordern genau das ein, was
Sie in den letzten Monaten angekündigt haben, Frau
Aigner. Aus unserer Sicht sind das nur Mindestforderungen. Eigentlich müssten wir noch viel weiter gehen. Die
grüne Bundestagsfraktion hat den Handlungsbedarf in
einem Positionspapier zur Nutztierhaltung einmal zusammengefasst. Drei Punkte möchte ich hervorheben:
Erstens. Die Haltungsbedingungen müssen endlich
tiergerecht gestaltet werden. Missstände bei Tiertransporten und an Schlachthöfen müssen beseitigt werden.
Zweitens.Wir müssen wirksam gegen Qualzuchten
vorgehen. Es kann nicht sein, dass wir Tiere züchten, bei
denen Gesundheitsprobleme vorprogrammiert sind. Eigentlich ist Qualzucht durch den § 11 b Tierschutzgesetz
untersagt. Die Praxis hat aber leider gezeigt, dass eine
Durchsetzung des § 11 b äußerst schwierig ist. Hier
müssen wir zu grundsätzlichen und praktikablen Änderungen kommen. Aber es gibt auch Fälle, bei denen
bereits heute nach bestehender Rechtslage gehandelt
werden kann, wie bei der Schweinerasse Piétrain, die
hauptsächlich in Süddeutschland eingesetzt wird. Es ist
wissenschaftlich unbestritten, dass es sich beim Gendefekt MHS - dem Malignen Hyperthermie-Syndrom -,
das bei dieser ausschließlich auf Fleischmasse gezüchteten Rasse auftritt, um ein zuchtbedingtes Problem handelt. Alle Tatbestände des § 11 b sind erfüllt. Handeln
Sie endlich.
Drittens. Gerade in Zeiten von Lebensmittelkrisen
müssen wir dringend die Antibiotikavergabe in der Tierhaltung in den Blick nehmen. Wir wissen, dass gerade in
der Intensivtierhaltung mit ihren engen Besatzdichten
präventiv und permanent Antibiotika eingesetzt werden.
Das kann wiederum zur Bildung von multiresistenten
Keimen wie dem MRSA-Bakterium führen. Zurzeit werden die Übertragungswege dieser Keime von Tier zu
Mensch näher untersucht. Experten wie Professor
Kaufmann vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie weisen immer wieder darauf hin, dass sie in der industriellen Massentierhaltung ein erhebliches Potenzial
für die Ausbreitung und Übertragung von multiresistenten Keimen sehen. Das zeigt uns doch, dass wir einen
genauen Überblick darüber brauchen, wo, wie viel und
wie oft Antibiotika in der Tierhaltung vergeben werden.
Wir begrüßen deshalb auch, dass nach jahrelangem Hin
und Her 2010 endlich die DIMDI-AMV auf den Weg gebracht wurde, sodass ab März 2012 die Anwendung von
Tierarzneimitteln beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information dokumentiert werden muss. Völlig unverständlich ist aber, warum die Verordnung der Bundesregierung eine Sonderregelung für
die Geflügelindustrie vorsieht. Für alle Medikamente
muss die abgegebene Gesamtmenge unter Angabe der
ersten beiden Postleitzahlen des behandelnden Tierarztes dokumentiert werden, nur nicht für Medikamente, die
ausschließlich für Geflügel zugelassen sind. Als Begründung macht die Regierung Datenschutzgründe geltend.
Das versteht kein Mensch, Frau Aigner. Das versteht
auch nicht der Datenschutzbeauftragte, der auf Anfrage
von „NDR-Info“ bestätigt hat, dass er keine Datenschutzrelevanz für die Sonderregelung erkennen kann.
Vielmehr gewichtet er die Transparenz für die Verbraucher deutlich stärker. Wir Grünen teilen diese Sicht. Wir
fordern deshalb: Schluss mit dem Lobbyismus. Wir fordern eine restlose Streichung aller tierartenspezifischen
Sonderregelungen in der DIMDI-AMV. Im Gegensatz zu
Ihnen, Frau Aigner, sieht Ihr CDU-Kollege Lindemann
aus Niedersachsen das inzwischen genauso und unterstützt die Initiative von NRW im Bundesrat, um diese
Zu Protokoll gegebene Reden
fachlich und sachlich falsche Sonderregelung für die
Geflügelindustrie zu beenden.
Ich denke, es ist deutlich, dass wir im Bereich der
Nutztierhaltung einen gewaltigen Reformstau haben.
Frau Aigner spricht immer wieder einzelne Punkte an,
setzt sie aber nicht um. Ob sie nicht will oder nicht kann,
wissen wir nicht. Das ist auch letztlich nicht wichtig. Die
Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik und
zumal von der Bundesregierung, dass sie sagt, was sie
tut, und dass sie tut, was sie sagt. Genau das leisten Sie
nicht, Frau Aigner.
Wir Grünen beziehen deutlich Position. Wir haben
klar dargelegt, welche Nutztierhaltung wir wollen.
Tiergerecht. Bäuerlich. Transparent. Das ist unser
Ansatz. Dieser Ansatz prägt auch unsere parlamentarischen Initiativen. Wir erwarten Ihre Unterstützung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6344 und 17/6443 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 43 c. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5574, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5047 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung
der SPD.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Caren Lay, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nährwert-Ampel bundesweit einführen
- Drucksachen 17/2120, 17/2961 Berichterstattung:
Abgeordnete Carola Stauche
Iris Gleicke
Karin Binder
Ulrike Höfken
Die Linken fordern in ihrem Antrag eine sehr plakative Darstellung des Nährstoffgehalts in Lebensmitteln:
grün, gelb, rot. Gesund, neutral, ungesund? So einfach
ist gesunde Ernährung aber nicht, wie es eine Ampel
suggeriert! Nach diesem System würde gutes Olivenöl
zusammen mit anderen Fetten auf der roten Liste landen. Dabei ist die gesundheitsfördernde Wirkung dieses
Pflanzenfettes - in Maßen genossen - unumstritten.
Stellen wir den Gehalt an Fetten, ungesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz in Farben dar, ist das für die
Verbraucher kaum hilfreich. Denn die Spannen im Ampelsystem für die Kennzeichnung mit den einzelnen Farben sind sehr groß. Bei Fett wird die Farbe Gelb für einen Gehalt von 3 bis 20 Gramm Fett je 100 Gramm
Lebensmittel vergeben. Zwischen 3 Gramm Fett und
20 Gramm Fett pro 100 Gramm Nahrung liegen ernährungsphysiologisch Welten.
Um zu wissen, wie viel Gramm Fett, Zucker oder Salz
nun genau im Produkt sind, benötigt der interessierte
Verbraucher zusätzliche Informationen, Informationen,
wie sie das „1 plus 4“-Modell des Verbraucherschutzministeriums und die gestern vom Europaparlament verabschiedeten Kennzeichnungsvorschriften für Lebensmittel bereits vorsehen. Dieser gestrige Entschluss des
Europaparlaments macht unabhängig von der schlechten Eignung der Ampel den Antrag der Linken überflüssig.
Das Europaparlament macht mit der neuen Lebensmittelinformations-Verordnung verbindliche Vorgaben
für die 27 EU-Staaten. Damit ist dem Verbraucher viel
mehr gedient als mit einem nationalen Alleingang, was
die Kennzeichnung anbelangt. Ein nationaler Alleingang würde für die Unternehmen zusätzliche Kosten für
die Verpackung bedeuten und somit für die Verbraucher.
Zudem findet sich der Urlauber im europäischen Ausland schlicht besser zurecht, wenn die Kennzeichnung
die gleiche ist.
Erstmals wird die Angabe der Nährwerte in einem
Nährwertkästchen verpflichtend. Diese müssen bezogen
auf 100 Gramm oder 100 Milliliter angegeben werden.
Was dabei für die Verbraucher wichtig ist: Alle Informationen müssen gut lesbar sein. Dafür sorgen eine
verbindliche Mindestschriftgröße abhängig von der Packungsgröße sowie weitere Kriterien wie etwa der Kontrast zwischen Schrift und Hintergrund.
Auch wird es die wachsende Zahl von Allergikern zukünftig leichter haben, geeignete Lebensmittel zu erkennen. Denn Allergene müssen im Zutatenverzeichnis fett
hervorgehoben werden, selbst bei nicht verpackten Lebensmitteln, sogenannter loser Ware.
Verbraucher können sich auch darüber freuen, dass
Imitate, Klebefleisch und irreführende Angaben strenger
gehandhabt werden. Die Verwendung von Pflanzenfett
in Analogkäse muss zum Beispiel in unmittelbarer Nähe
des Produktnamens angegeben werden, und zwar in einer Schriftgröße, die mindestens 75 Prozent derjenigen
des Markennamens ausmacht. Auch „Klebefleisch“
muss künftig mit dem Hinweis „aus Fleischstücken zusammengefügt“ deutlich kenntlich gemacht werden.
Ein weiteres Ärgernis für Verbraucher wird es in Zukunft nicht mehr geben: schöne, frische Früchte auf der
Verpackung, die dann nur Aromen und künstliche Farbstoffe enthält. Bekanntestes Beispiel: Erdbeerjoghurt,
auf dessen Verpackung tolle Erdbeeren prangen, der
aber keine einzige davon enthält. Diese Irreführung wird
unterbunden.
Ein enormer Fortschritt ist es, dass der Herkunftsort
von frischem Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügelfleisch nun deklariert wird, wie dies schon bereits seit
2000 bei Rindfleisch der Fall ist. Dies ist übrigens der
Verdienst von Ministerin Aigner, die mit vier weiteren
Kollegen dafür gekämpft hat. Ursprünglich wollten die
meisten EU-Verbraucherminister nur den Verpackungsort von Fleisch aufführen. Ob eine Herkunftskennzeichnung für andere Produktkategorien, wie Milch und
Milchprodukte, Fleisch in verarbeiteten Erzeugnissen
und Lebensmitteln, die im Wesentlichen aus einer
Hauptzutat bestehen, sinnvoll durchzuführen ist, wird
die Kommission zunächst evaluieren. Es stellt sich die
Frage, ob es bei den heutigen Handelsströmen tatsächlich machbar ist und welche Zusatzkosten daraus folgen.
Eine Molkerei müsste dann für die Milch aus jedem
Land einen eigenen Tank vorhalten.
Insgesamt ist die Lebensmittelinformations-Verordnung ein ausgewogener Kompromiss und ein bedeutender Fortschritt für aufgeklärte Verbraucher. Diese können viel differenzierter entscheiden, welches Produkt sie
kaufen und konsumieren wollen, als dies die Ampelkennzeichnung leisten könnte.
Deshalb lehnen wir den Antrag der Linken ab.
Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind,
sondern ein Antrag zum Thema Nährwertampel. Den
von der Linksfraktion gestellten Antrag - es wird wenige
überraschen - lehnen wir auch dieses Mal ab.
Bereits ziemlich genau vor einem Jahr, am 17. Juni
2010, haben wir den Antrag der Linksfraktion gemeinsam mit einem Antrag der Grünen behandelt, und schon
damals habe ich gesagt: Im Land des Autos sind wir uns
der Bedeutung von Ampeln durchaus bewusst, allerdings
gehören diese an Kreuzungen und nicht auf Lebensmittel. Auf der Straße helfen sie, den Verkehr zu regeln, auf
Lebensmitteln führen sie dazu, den Verbraucher zu verwirren. Dieser Ansicht bin ich auch noch heute.
Ich bin noch immer der Überzeugung, dass die Ampelkennzeichnung nichts anderes als Aktionismus und
Alibipolitik ist und nichts anderes tut, als die Verbraucherinnen und Verbraucher zu bevormunden. Das hat
nichts mit dem mündigen Verbraucher zu tun, den wir an
der Ladentheke stehen sehen wollen. Die Koalitionsfraktionen sehen es immer noch als ihre Aufgabe an, zu
informieren und nicht zu verwirren. Wir trauen den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu, dass sie sich selbst
über ihre Lebensmittel und deren Inhalt informieren.
Das kann zum einen beim Einkauf selbst geschehen,
aber auch das Internet bietet vielfältige Möglichkeiten,
sich zu informieren, und das nicht nur beim Anbieter von
Lebensmitteln. Das heißt, dass wir auch in diesem Jahr
der Meinung sind, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher selbst darüber entscheiden sollen, was sie zu
sich nehmen und was nicht.
Die Ampel kann unserer Meinung ernährungsphysiologische Fragen, etwa in welcher Menge und Zusammensetzung Lebensmittel dem Organismus zuzuführen
sind, damit dieser Organismus je nach Alter, Geschlecht
und Lebensbedingungen einen optimale Ernährung erhält, nicht hinreichend gewährleistet werden. Die Ampelkennzeichnung differenziert zu wenig und ist irreführend. Ich bringe das Beispiel des Cola-Getränks mit den
drei grünen und nur einem roten Punkt gerne immer
wieder vor. Aber all das haben wir im letzten Jahr schon
diskutiert.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, wir verstehen die Notwendigkeit Ihrerseits, in
jedem möglichen und unmöglichen Antrag Kapitalismuskritik unterbringen zu müssen. Wir jedoch sehen
nicht hinter jedem Unternehmer ein böses Monster, das
für seine Kunden nur das Schlechteste möchte, sondern
verantwortungsvolle Marktteilnehmer, denen einiges
daran liegt, auch zu einem späteren Zeitpunkt ihre Produkte an möglichst viele Kundinnen und Kunden verkaufen zu dürfen. Deshalb haben wir die GDA-Kennzeichnung als Schritt in die richtige Richtung angesehen. Das
Europäische Parlament anscheinend auch, wenn man
sich die Entscheidung von gestern ansieht. Das EU-Parlament hat die geäußerten Bedenken hinsichtlich der ungenauen Mengenangaben bei dieser Kennzeichnung
erkannt. Das wird daran deutlich, dass ab 2014 vorgeschrieben ist, dass die Mengenangaben auf 100 Milliliter oder 100 Gramm zu erfolgen haben. Auch Angaben
in Portionsmengen sind möglich. Es ist also nicht so,
dass die Industrie auf dem komplett falschen Weg gewesen ist, wie Sie uns das immer erklären wollten.
Wie auch im letzten Jahr lehnen die Koalitionsfraktionen den Antrag auf Einführung einer Ampelkennzeichnung für Nahrungsmittel ab.
Die Geschichte der Nährwertampel ist ein Trauerspiel. Umfragen haben immer wieder sehr deutlich gezeigt: Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die
Ampel. Mit den Farben Rot, Gelb und Grün ist sie
schnell erfassbar, leicht verständlich und vergleichbar eine alltagstaugliche Entscheidungshilfe beim Einkauf.
Trotzdem hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung
- unter dem starken Einfluss der Lobby der Lebensmittelindustrie - ihre ablehnende Haltung gegenüber der
Ampel sogar schon in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Für eine Nährwertkennzeichnungspflicht
nach dem Ampelsystem gab es breite Unterstützung von
vielen Organisationen aus dem Verbraucherbereich und
dem Gesundheitsbereich. Die SPD tritt seit langem für
die Ampel ein. Um die 70 Milliarden Euro pro Jahr müssen für ernährungsbedingte Krankheiten aufgewendet
werden. Hinter diesen Zahlen stehen erschütternde Einzelschicksale von Betroffenen, und das sind immer
häufiger Kinder und Jugendliche. Der Kampf gegen ernährungsbedingte Krankheiten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und jede Chance muss genutzt werden. Die Ampelkennzeichnung hätte dabei eine wichtige
Hilfestellung sein können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber es kam anders: Die Industrie machte Druck auf
die EU-Abgeordneten und investierte laut einem Bericht
der Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe Observatory über 1 Milliarde Euro, um die Nährwertampel zu
verhindern und das Gegenmodell GDA zu etablieren.
Wie groß muss die Angst dort gewesen sein, dass Verbraucher endlich in alltagstauglicher Form erfahren,
was sie essen, und womöglich bestimmte Produkte nicht
mehr kaufen?
Gestern nun hat das EU-Parlament nach jahrelangen
Diskussionen darüber, welche Informationen Verbraucher in Zukunft im Supermarkt bekommen sollen, die
Lebensmittelinformationsverordnung verabschiedet.
Fazit: Die Ernährungsindustrie hat sich mit den meisten
Forderungen durchgesetzt. Keine Angaben zum Nährwert auf der Vorderseite, keine realistischen und leicht
nachvollziehbaren Portionsgrößen als Berechnungsgrundlage, keine Informationen über die Herkunft außer
bei Frischfleisch. Und die CDU/CSU feiert in ihrer
Presseerklärung die „endgültige Absage an eine Ampelkennzeichnung, die wir stets abgelehnt hatten“.
Die Geschichte der Nährwertampel ist eine Geschichte des Scheiterns des Verbraucherschutzes und
des Einknickens von CDU/CSU und FDP von dem
Druck der Lobbyisten. Wir sind weiterhin von der Idee
der Nährwertkennzeichnung nach dem Ampelsystem
überzeugt, werden uns aber zum Antrag der Linken enthalten: Er hat sich leider erledigt, vorläufig. Es werden
auch wieder bessere Tage für die Verbraucherinnen und
Verbraucher kommen: wenn diese Bundesregierung abgetreten ist.
Eine Ampelkennzeichnung auf Lebensmitteln wäre
nur dann akzeptabel, wenn ihre Empfehlungen für alle
Menschen gelten würden und wenn sie eindeutig wären.
Beides ist bei der Nährwertampel nicht der Fall, und
deswegen lehnt die FDP sie ab.
Mit der sogenannten Nährwertampel werden die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur über den
Nährwertgehalt eines Lebensmittels informiert, sie erhalten gleichzeitig mit den Farben der Verkehrsampel
eine Empfehlung. Die Bewertung des Nährwertgehalts
mit roten, gelben, grünen Punkten stellt die Empfehlung
dar, denn die Farben der Verkehrsampel geben einen
eindeutigen Verhaltenshinweis. Der Warnhinweis auf
der Zigarettenpackung gilt für alle Menschen. Rauchen
ist ungesund. Aber der rote Punkt bei der Kalorienangabe eines Lebensmittels kann für einen übergewichtigen Menschen ein richtiger Hinweis sein, für einen magersüchtigen Jugendlichen ist dies jedoch genau der
falsche Verhaltenshinweis. Essstörungen wie Bulimie
und Magersucht sind gerade bei jungen Frauen, mittlerweile aber auch bei jungen Männern weit verbreitet.
Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem
Jahr 2006 hat jedes dritte Mädchen von 11 bis 17 Jahren
Essstörungen und Krankheiten wie Magersucht, EssBrech-Sucht oder Fettsucht. Bei Jungen im gleichen Alter sind es immerhin noch 15,2 Prozent. Diese jungen
Menschen führt die Nährwertampel in die Irre. Keine
Ernährungsempfehlung kann die individuelle Ernährungs- und Lebenssituation eines jeden Käufers berücksichtigen.
Die Nährwertampel ist außerdem nicht eindeutig.
Wenn die Ampel an der Kreuzung rot zeigt, sagt die Straßenverkehrsordnung, dass jeder stehen bleiben muss.
Was ist aber zum Beispiel mit dem Matjesfilet? Wegen
des hohen Fett- und Kaloriengehalts würde es zwei rote
Punkte tragen und wegen des hohen Gehalts an ungesättigten Fettsäuren und des Fehlens von Zucker außerdem
zwei grüne Punkte. Empfehlenswert oder nicht empfehlenswert? Das Beispiel zeigt: Die Ampelkennzeichnung
bei Lebensmitteln ist anders als die Ampel im Straßenverkehr nicht eindeutig. Rot, Gelb und Grün auf Lebensmitteln würden im Straßenverkehr gleichzeitiges
Bremsen und Gasgeben bedeuten. Das ist keine gute
Verhaltensempfehlung.
Viele Menschen in Deutschland haben Übergewicht.
Dieser Befund wird unter anderem als Argument für die
Nährwertampel genannt. Dies ist in der Tat ein Problem.
Aber die Nährwertampel bietet keine Lösung. Allein
schon durch die Diskussion über die Nährwertampel
wird den Menschen mit Übergewicht suggeriert, eine
Ampelkennzeichnung könnte ihr Gewichtsproblem lösen. Das ist nicht der Fall. Die Diskussion über die
Nährwertkennzeichnung verdeckt, dass das beobachtete
Übergewicht nicht allein durch die Umstellung der Ernährung aufgefangen werden kann. Das Bewegungsverhalten der Menschen hat sich in den letzten Jahren verändert. Kinder spielen weniger draußen, sitzen mehr am
Computer, und auch Erwachsene bewegen sich wesentlich weniger als früher. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig. Der Vergleich des Energie- und Zuckerkonsums von sechs- bis elfjährigen
Jungen und Mädchen in den Jahren 1985 - Nationale
Verzehrstudie - und 2006 - Studie zur Gesundheit von
Kindern und Jugendlichen in Deutschland - zeigt jedoch, dass sowohl die Aufnahme von Energie als auch
von Zucker in den letzten 20 Jahren in dieser Altersgruppe gesunken ist. Dies macht deutlich: Kinder essen
nicht mehr als früher, sondern sie bewegen sich weniger.
Bewegung, die Beherrschung des eigenen Körpers,
Sport in der Gemeinschaft machen Spaß, bringen Lebensfreude. Bewegungsmangel bedeutet somit nicht nur,
dass weniger Kalorien verbraucht werden, mit der
Folge von Übergewicht, sondern bedeutet auch einen
Verlust an Lebensfreude. Der damit verbundene Stress
macht krank.
Für die Ausbildung von Diabetes Typ II - und dieser
ist schon bei Kindern zu beobachten - ist nicht nur das
Übergewicht von Bedeutung, sondern auch der Bewegungsmangel. Bewegung hat eine positive Auswirkung
auf den Zuckerhaushalt, weil durch die Muskeltätigkeit
die Zellen empfindlicher für Insulin werden. Der Ausbildung einer Insulinresistenz und damit der Ausbildung
von Diabetes Typ II wird entgegengewirkt. Zu einer gesunden Lebensführung gehört nicht nur eine gesunde
Ernährung, sondern auch eine ausreichende Bewegung.
Wer das verschweigt, führt die Menschen in die Irre.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Nährwertampel ist bereits vor über einem Jahr
im Europaparlament mehrheitlich abgelehnt worden,
und das zu Recht. Trotzdem setzt die Linke diesen überholten Antrag erneut auf die Tagesordnung. Sie betreibt
damit umfrageorientierte Politik - egal welches Thema,
wenn man sich populistisch einen Vorteil davon verspricht, wird es immer und immer wieder hervorgeholt,
selbst wenn das Thema bereits längst abgeschlossen ist.
Um sich ausgewogen und gesund ernähren zu können, brauchen die Verbraucherinnen und Verbraucher
genaue Informationen für eine bewusste Entscheidung.
Bereits jetzt tragen 80 Prozent der verpackten Lebensmittel eine Nährwertkennzeichnung. Dies ist eine gute
Entwicklung.
Nicht nur die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
hat sich gegen die Nährwertampel ausgesprochen, sondern auch die Lebensmittelwirtschaft. Dies wurde von
den Befürwortern der Nährwertampel als Lobbyismus
gebrandmarkt. Zwei plus zwei ist vier; jeder weiß das.
Ist diese wahre Aussage automatisch dann falsch, wenn
ein Lobbyist sie bestätigt? Mir haben die von mir persönlich angeschriebenen Krankenkassen keine wissenschaftliche Studie nennen können, die belegt, dass die
Nährwertampel die Gesundheit fördert. Die Tatsache,
dass Verbraucherverbände sich für die Nährwertampel
ausgesprochen haben, ist kein wissenschaftlicher Beleg
dafür, dass sie die angesprochenen Probleme lösen hilft.
Die FDP tritt ein für eine sachliche Nährwertkennzeichnung ohne farbliche Bewertung, wie sie inzwischen
auf sehr vielen Lebensmitteln zu finden ist. Für eine
wirksame Bekämpfung von Fehlernährung sind zudem
Ernährungswissen und Ernährungsbildung, eine ausgewogene Ernährung sowie ausreichende Bewegung und
Sport notwendig. Initiativen wie das Schulobstprogramm, der „Ernährungsführerschein“ der Landfrauen
oder „peb“, die Plattform für Ernährung und Bewegung, helfen dabei.
Gestern beschloss das Europäische Parlament die
Lebensmittelinformationsverordnung. Sie ist nicht mehr
als ein schlechter Kompromiss. Die Entscheidung der
EU kam unter massivem Störfeuer der Lebensmittellobby zustande, unter dem auch die schwarz-gelbe Bundesregierung einknickte.
Zunächst die gute Botschaft aus Brüssel: Zucker und
Salz, Fett und gesättigte Fettsäuren müssen mit ihrem jeweiligen Anteil in 100 Gramm des fertigen Produktes
angegeben werden. Das ist wichtig, denn die „dicken
Vier“ werden von der Lebensmittelindustrie immer häufiger im Übermaß als Geschmacksanreger eingesetzt.
Damit wurde und wird wohl auch weiterhin die Minderwertigkeit anderer oder das Fehlen wertvollerer Zutaten
übertüncht.
Das wars dann auch schon. Jetzt kommt der Kritikteil. Künftig werden trotz vieler Hinweise und anderslautender Forderungen von Experten, Verbänden und
Institutionen die Pflichtangaben für Zucker, Salz und
Fette kaum lesbar in 1,2 Millimeter kleiner Schrift auf
der Rückseite der Verpackung angebracht sein. Auf der
Vorderseite hingegen prangen gut lesbar die sogenannten Portionsangaben der Hersteller. Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden damit vorsätzlich getäuscht.
Mit diesen willkürlichen Portionsgrößen werden die
Dickmacher extra „schlankgerechnet“. Bei 14 Gramm
Salami, 30 Gramm Pizza oder 40 Gramm Müsli kann
niemand zunehmen. Fett-, Zucker- und Salzgehalt
schrumpfen wie durch Zauberhand. Diese vorsätzliche
Verbrauchertäuschung ist Gift für eine ausgewogene Ernährung, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
Die Linke fordert deshalb nach wie vor die Einführung
einer Nährwertampel, um eine gesunde und ausgewogene Ernährung zu unterstützen.
Unabhängige Experten wie der Potsdamer Ernährungswissenschaftler Hans-Georg Joost, Direktor des
Deutschen Instituts für Ernährungsforschung, Dife,
Krankenkassen, Bundesärztekammer, Kinder- und Jugendärzte und natürlich Verbraucherschützerund Verbraucherschützerinnen sprechen sich einhellig für die
Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln aus. Denn die
Gesundheit leidet, wenn Dickmacher und zu viel Salz im
Essen hinter Werbung versteckt werden.
Mit der Nährwertampel werden der Gehalt von Fett,
gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz auf der Vorderseite der Verpackung angegeben und farblich unterlegt:
Grün für „gering“, gelb für „mittel“ und rot für „hoch“.
Damit alle Produkte miteinander vergleichbar sind,
müssen sich die Angaben einheitlich auf 100 Gramm
oder 100 Milliliter beziehen. So können Verbraucherinnen und Verbraucher auf den ersten Blick erkennen, was
darin steckt und Schummelwerbung umgehen.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Essen und Gesundheit gehören zusammen. Wir alle wissen, dass der
Biss in einen Apfel gesünder ist als die Currywurst von
der Imbissbude. Doch Essen ist auch Genuss. Und deshalb muss man auch einmal Fünfe gerade sein lassen.
Mann/Frau muss nicht immer Kalorien zählen.
Wenn aber Übergewicht zum Problem wird oder man
sich bewusst und gesund ernähren möchte, ist es wichtig, über den Gehalt von Fett, Zucker und Salz im Essen
Bescheid zu wissen. Beim Blick ins Supermarktregal
verliert man aber schnell den Überblick. Die Lebensmittelindustrie tut alles, um Dickmacher und Geschmackszusätze kleinzurechnen und hinter bunter Werbung zu
verstecken: ein „gesunder“ Kindermilchdrink, der mehr
Zucker enthält als die gleiche Menge Cola; „Vital“Müsli, das zur Hälfte aus Zucker und Fett besteht; Fertigpizza „wie vom Italiener“ mit mehr Salz als täglich
empfohlen. Aber wenn es nach der Bundesregierung
geht, sind die Verbraucherinnen und Verbraucher selbst
schuld, wenn sie darauf hereinfallen.
Bereits mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Europa gilt als übergewichtig oder fettleibig. Jedes fünfte
Schulkind ist zu dick. Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen können die Folge sein. Die Werbelügen der
Lebensmittelindustrie tragen ihren Teil dazu bei: Nach
Ansicht von Ärzten und Krankenkassen ist falsche ErZu Protokoll gegebene Reden
nährung durch versteckte Dickmacher ein Hauptgrund
für viele unserer Zivilisationskrankheiten. Und: Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen ist eine
Folge ernährungsbedingter Gewichtszunahme.
Damit muss Schluss sein. Ich lasse nicht locker und
fordere die Bundesregierung auf, sich aus der Umklammerung der Lebensmittelindustrie zu lösen. Die Nährwertampel ist und bleibt das beste Modell zur verbraucherfreundlichen Kennzeichnung von Lebensmitteln.
Übergewicht entwickelt sich mehr und mehr zur Epidemie. Seit 1985 gibt es einen dramatischen Anstieg von
Menschen mit Übergewicht und Adipositas. In Deutschland sind knapp 40 Millionen Menschen zu dick und
damit schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken oder
Beeinträchtigungen ausgesetzt. Die im Januar 2008 veröffentlichten Ergebnisse der Nationalen Verzehrsstudie II
bestätigen, dass 58 Prozent der Männer und immerhin
41 Prozent der Frauen übergewichtig sind. 12 bis
15 Prozent davon gelten sogar als adipös. Die Kindergesundheitsstudie KIGGS geht von 1,9 Millionen übergewichtigen und 800 000 ({0}) adipösen Kindern und Jugendlichen aus. Über 20 Prozent unserer
Kinder sind also zu dick.
In einer aktuellen Studie der Deutschen Angestellten
Krankenkasse, DAK, erklären 95 Prozent der befragten
Kinderärzte, dass Übergewicht bei Kindern in den vergangenen zehn Jahren zugenommen hat. Ungesunde Ernährung ist entgegen allen Behauptungen interessierter
Kreise die Hauptursache für Übergewicht. Verbraucher
haben bisher keine praktikable Möglichkeit, sich zuverlässig und verständlich über den Nährwertgehalt von
Lebensmitteln zu informieren. In vielen Fällen täuschen
die Hersteller durch die Aufmachung und Etikettierung
ihrer Produkte über deren tatsächlichen Inhalt hinweg.
Die Einführung der Nährwertampel würde es allen
Verbraucherinnen und Verbrauchern erleichtern, schnell
und unkompliziert zu erfassen, welche Lebensmittel zucker- und fettreiche Dickmacher sind oder zu viel Salz
enthalten. Das ist der entscheidende Vorteil gegenüber
dem Modell der Lebensmittelindustrie, dem GDA-Modell. Die Fachhochschule Münster hatte im direkten Vergleich zwischen Nährwertampel und der GDA-Kennzeichnung der Industrie herausgefunden, dass mit der
Ampelkennzeichnung 95 Prozent der Befragten erkennen
konnten, welches von zwei vergleichbaren Lebensmitteln
weniger Zucker enthält. Mit der Industriekennzeichnung
schätzten weniger als die Hälfte der Testpersonen den
Zuckergehalt richtig ein. Diese Desinformation ist von
den Herstellern durchaus gewollt, verstellt sie doch die
kritische Sicht auf viele Nahrungsmittel, die als gesunde
Mahlzeiten beworben werden, in Wahrheit jedoch voller
Zucker und Fett stecken.
Während die meisten Verbraucher wissen, dass man
Schokolade oder Sahnetorte nur dosiert genießen sollte,
erkennt kaum jemand auf den ersten Blick, dass handelsübliche Saftschorlen zu viel Zucker enthalten, um als alleiniger Durstlöscher zu dienen, oder dass ein Riegel mit
einer Füllung aus „Magermilchjogurt und Erdbeeren“
eine fettige Süßigkeit ist und mitnichten schlanker als
gewöhnliche Schokolade. Wer würde seinen Kindern
wohl noch Frühstücksflocken auf den Tisch stellen, die
in ihrer Nährwertstruktur am ehesten Keksen vergleichbar sind? Welcher Hersteller möchte schon, dass die
vollmundigen Werbebotschaften für „reichhaltige“ Zutaten und „leichte Zwischenmahlzeiten“ durch rote
Punkte bei Fett- und Zuckergehalt entlarvt sehen? Die
Nährwertampel erlaubt einen kritischen Blick auf die
Rezepturen von Lebensmitteln; deshalb wurde sie von
der Industrie bekämpft. In Großbritannien hat die Einführung der Ampel zu Veränderungen bei den Rezepturen geführt, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher
gesündere Optionen nachfragen, wenn sie sie auf den
ersten Blick erkennen können.
Die fehlende Umsetzung der Nährwertampel bestärkt
die Verbraucherdesinformation; damit werden die nationalen Programme zur Bekämpfung von Übergewicht
und Fehlernährung ad absurdum geführt - mit fatalen
Folgen auch für die Gesundheitssysteme, die heute
schon etwa ein Drittel ihrer Gesamtausgaben für die Bekämpfung ernährungsbedingter Folgeerkrankungen
aufwenden. Es ist unverantwortlich, dass die Europäische Kommission und die schwarz-gelbe Bundesregierung hier dem Lobbydruck gefolgt sind, statt auf den Rat
von Ernährungsexperten, Krankenkassen, Verbraucherverbänden und Kinderärzten zu hören.
Die meisten Menschen wollen sich und ihre Kinder
gesund ernähren, aber kaum jemand hat Zeit und Lust,
beim Einkauf komplizierte Rechenleistungen zu vollbringen. Deshalb brauchen wir ein einfaches, transparentes Instrument. Wir fordern die Bundesregierung auf,
endlich eine Ernährungs- und Verbraucherpolitik zu machen, die ihren Namen verdient. Entwickeln Sie eine
farbliche Kennzeichnung der Inhaltsstoffe, setzen Sie
sich für Werbebeschränkungen von Süßigkeiten im Umfeld von Kindersendungen ein. Wälzen Sie den flächendeckenden Ausbau der Kindergarten- und Schulernährung nicht allein auf die Länder ab, sondern gehen Sie
über ein Bund-Länder-Aktionsprogramm mit in die Verantwortung und Finanzierung.
Daher gilt: Wir brauchen dringend eine transparente
und leicht verständliche Information über den Nährwertgehalt von Lebensmitteln. Unausgewogene Ernährung führt erwiesenermaßen zu großen gesundheitlichen
Problemen und hohen gesellschaftlichen Kosten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/2961, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2120 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 45 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Armuts- und Reichtumsbericht zum Ausgangspunkt für Politikwechsel zur Herstellung
sozialer Gerechtigkeit machen
- Drucksache 17/6389 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der Armuts- und Reichtumsbericht dient dazu, Hinweise zu arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen von
Vertretern der Länder, Kommunen, Verbände, Institutionen und Betroffenenorganisationen zu erhalten. Die
Linke aber betreibt mit ihrem Antrag unter dem Vorwand
einer Verbesserung der künftigen Armuts- und Reichtumsberichte sozialpolitischen Klamauk. Auf einige
Punkte möchte ich mit der gebotenen Kürze eingehen.
Die Linken beschwören mit ihrem Antrag eine bevorstehende sozialpolitische Apokalypse in unserem Land
herauf. Ich bin der Meinung, mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft sind wir in der Bundesrepublik
Deutschland gut gefahren. Es schützt diejenigen davor,
durch das soziale Netz zu fallen, die unverschuldet in
eine soziale Notsituation geraten sind. Die Mechanismen unseres Sozialstaates kultivieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt - sie sind deshalb richtig und
wichtig. Wir tragen als Politiker aber auch eine Verantwortung dafür, dass soziale Leistungen von Einzelnen
nicht ohne Gegenleistungen in Anspruch genommen
werden dürfen. Eine solche Gegenleistung manifestiert
sich beispielsweise darin, dass SGB-II-Empfänger aktiv
nach einer Beschäftigungsmöglichkeit suchen. Das
Prinzip des Förderns und Forderns ist prioritär. Die
Leistungen nach dem SGB II orientieren sich deshalb
eng an einem menschenwürdigen Leben. Hierfür haben
wir bei der Neubemessung nachvollziehbare Berechnungen angestellt, um vor allem einem Ziel gerecht zu werden: einer Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die
Forderung der Linken nach einer Anhebung der Regelsätze auf 500 Euro folgt keiner Arithmetik und ist völlig
losgelöst vom Ziel einer Integration der Erwerbslosen in
den Arbeitsmarkt. Sie ist daher abzulehnen.
Eine weitere altbekannte Forderung der Linken ist
die nach einem Mindestlohn. Sie findet auch in diesem
Antrag Niederschlag. Allerdings bleibt die Linke hier
eine Erklärung schuldig: Warum 10 Euro pro Stunde?
Warum nicht - wie sie es lange gefordert hat 8,50 Euro? Oder, wie ich auch schon in Papieren der
Linken lesen konnte, 11 Euro und mehr? Man könnte
beinahe glauben, für jeden Antrag würde die Höhe des
Mindestlohnes neu gewürfelt. Erst gestern berichtete
mir der Kollege Mierscheid von seinen Erfahrungen bei
der Aufzucht geringelter Haubentauben. Die Expansion
der FE-Abteilung seines Taubenzuchtvereins in das
Mecklenburgische Stolpe sei durch einen von der Linkspartei gewürfelten Mindestlohn arg gefährdet. Nicht zuletzt wären dadurch auch seine geleisteten Forschungen
umsonst, aus der geringelten Haubentaube eine gekräuselte Schneppenhaubentaube herauszuzüchten.
Während die Linken am Mindestlohn würfeln, hat die
christlich-liberale Koalition zum 1. Mai 2011 die gesetzlichen Grundlagen für einen Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche geschaffen. Dies ist ein Schritt, für den ich
und viele meiner Kollegen aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon lange gestritten haben. Persönlich
wünsche ich mir, dass in absehbarer Zeit auch nicht
mehr durch Ausnahmeregelungen vom Equal-PayGrundsatz abgewichen werden darf. Grundsätzlich gibt
es bereits eine sogenannte Equal-Pay-Klausel in der
Zeitarbeit. Ich möchte an dieser Stelle keine parteipolitischen Schlammschlachten beginnen; denn dafür ist das
Thema zu ernst. Aber es waren SPD und Grüne, welche
die Möglichkeit geschaffen haben, vom Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit abzurücken.
Die CDU-Sozialausschüsse haben sich auf ihrer Bundestagung im Mai 2011 für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in der Höhe des Mindestlohns in der
Leiharbeit ausgesprochen. Dabei soll nach wie vor der
Vorrang der Tarifautonomie gelten, genauso wie es die
Möglichkeit geben muss, tarifliche Mindestlöhne über
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen auf Unternehmen einer Branche auszudehnen, die nicht Mitglied im
Arbeitgeberverband sind. Ich sehe den Staat dort in der
Pflicht, wo Tarifverträge die Arbeitnehmer nicht schützen können. In diesen Fällen muss künftig ein Mindestlohn greifen. Der gesetzliche Mindestlohn soll dabei ein
nachgelagerter Mindestlohn sein, der vor allem die
Menschen in quasi gewerkschaftsfreien Branchen vor
unfairem Lohngebaren schützen muss. Ein solcher Mindestlohn entspricht im Übrigen auch dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und zerstört keine Arbeitsplätze. Wir wollen die Tarifpartner dabei nicht aus
ihrer Verantwortung entlassen, denn einseitig festgelegte Löhne sind ungerechte Löhne. Die Tarifvertragsparteien müssen auch in Zukunft für die Lohnfindung zuständig sein. An diesem Grundsatz wollen wir festhalten.
Zuletzt möchte ich noch kurz auf das obsessive Mantra der Linken eingehen, die Rente mit 67 rückgängig zu
machen. Auch dieses Ansinnen entbehrt jedweder Logik.
Die demografische Entwicklung lässt sich eben - trotz
künftiger Produktivitätssteigerungen und steigender
Löhne - nicht ausblenden. Sicherlich können höhere
Beitragszahlungen auch demografische Entwicklungen
bis zu einem bestimmten Grad abfedern. Das werden sie
auch müssen. Die steigende Lebenserwartung sorgt aber
dafür, dass die meisten Menschen erfreulicherweise länger Rente beziehen können als je zuvor. 1960 betrug die
durchschnittliche Rentenbezugsdauer noch 9,9 Jahre.
Heute liegen wir bei mehr als 17 Jahren. Nach allen
Prognosen wird die Lebenserwartung und damit die
Rentenbezugsdauer weiter steigen. 2029 wird die Lebenserwartung nochmals um drei Jahre länger sein als
heute. Die Erwerbsfähigen in Deutschland werden zukünftig deutlich weniger und erheblich älter sein. Bis
2030 wird die Zahl der 20- bis 64-Jährigen um über
6 Millionen sinken, während die Zahl der über 64-Jährigen um mehr als 5 Millionen zunehmen wird. Das Ver14130
hältnis der über 64-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen
wird von derzeit eins zu drei auf eins zu zwei Personen
sinken. Dies ist ein ganz entscheidender Unterschied,
warum Produktivitäts- und Lohnsteigerungen allein die
demografische Entwicklung nicht so werden kompensieren können, wie dies bisher der Fall war.
Die Rahmenbedingungen müssen daher so gestaltet
werden, dass trotz einer schrumpfenden und älteren Erwerbsgesellschaft ein Höchstmaß an Produktivität und
Innovationsfähigkeit erreicht wird. Dazu müssen Betriebe, Sozialpartner und die Politik dafür sorgen, dass
die Arbeitsorganisation und die Arbeitsgestaltung auf
die spezifischen Fähigkeiten und Kompetenzen älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgerichtet werden.
Die in dem vorliegenden Antrag zitierten Daten, die
einen Anstieg der Einkommensarmut und ein steigendes
Armutsrisiko in Deutschland belegen sollen, erfassen
die negativen Wirkungen der internationalen Finanzund Wirtschaftskrise, aber nicht den positiven Trend des
derzeitigen Konjunkturaufschwungs. Im letzten Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, der im
Sommer 2008 vorgestellt wurde, finden sich jedenfalls
keinerlei Daten, die auf eine Verschärfung des Armutsproblems hierzulande hinweisen.
Armut entzieht sich einer eindeutigen Messung. Die
Orientierung des Armutsbegriffs am Durchschnittseinkommen beispielsweise wäre lebensfremd. Wenn das
Durchschnittseinkommen steigt, würde gleichzeitig die
statistische Zahl der Armen steigen. An deren Situation
hätte sich aber in Wahrheit nichts geändert. Die Armutsund Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung
orientiert sich daher an einem umfassenden Analyseansatz, der die Risiken für Armut und soziale Ausgrenzung
beschreibt. Im letzten Bericht wurde das Konzept der relativen Einkommensarmut zugrunde gelegt, das heißt,
Armut gilt als eine auf den mittleren Lebensstandard bezogene Benachteiligung und spiegelt so den durchschnittlichen Wohlstand der Gesellschaft wider.
Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht wies gleichzeitig aber darauf hin, dass die größte Bedeutung zur
Armutsvermeidung wirtschaftliches Wachstum und damit steigende Beschäftigung haben. Wir haben in den
vergangenen Jahren die Rahmenbedingungen für das
Wachstum der Wirtschaft durch strukturelle Reformen
verbessert und gemeinsam mit den Tarifpartnern, die
unsere Instrumente zur Krisenbewältigung genutzt haben, dafür gesorgt, dass Deutschland gestärkt aus der
Krise hervorgegangen ist. Die Unternehmen können
Innovationen vorantreiben, ihre Wettbewerbsfähigkeit
steigern und Beschäftigung schaffen. Die Krise ist überwunden.
Im Februar 2005 waren 5,29 Millionen Personen arbeitslos. Damit erreichte die Arbeitslosenquote mit
14,1 Prozent den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung Deutschlands. Seit Mai dieses Jahres liegt die Arbeitslosigkeit unter der 3-Millionen-Marke, auf dem
niedrigsten Stand seit den 90er-Jahren. Im europäischen
Vergleich liegt Deutschland mit einer Arbeitslosenquote
von 6,9 Prozent im besten Drittel. Dieser Beschäftigungsaufschwung ist nachhaltig. Rund 700 000 Menschen haben innerhalb des vergangenen Jahres eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden,
davon deutlich mehr als die Hälfte, nämlich 440 000 in
Vollzeit. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung lag im März 2011 bei 28,09 Millionen und ist
damit trotz Krise wieder höher als vor zehn Jahren, als
sie 27,71 Millionen betrug. Und dieser Beschäftigungsaufschwung kommt bei allen an. Allein 282 000 Menschen haben es im abgelaufenen Jahr aus Langzeitarbeitslosigkeit und Hartz-IV-Bezug heraus geschafft.
Dies ist im Vergleich zu früheren Konjunkturzyklen eine
neue Entwicklung.
Kern sozial gerechter Politik, wie wir sie verstehen,
ist es, ökonomische und soziale Teilhabe- und Verwirklichungschancen für alle Mitglieder in der Gesellschaft zu
gewährleisten. Politik, die dazu beitragen will, Armut
und soziale Ausgrenzung zu verhindern, kann sich daher
nicht in der Sicherung von Grundbedürfnissen erschöpfen, wie es der vorliegende Antrag vorsieht. Dauerhafte
Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge führt zur Verfestigung von Armut und muss vermieden werden. Entscheidend ist es, den Betroffenen Angebote zu eröffnen
und sie zu befähigen, mit einer angemessen entlohnten
Erwerbstätigkeit so weit wie möglich vom Bezug von
Transferleistungen unabhängig zu werden. Alle müssen
die Chance erhalten, ihre individuellen Möglichkeiten
auszuschöpfen, Grundbedingung dafür sind wirtschaftliches Wachstum und die damit einhergehenden Beschäftigungsmöglichkeiten.
Eine solch leistungsfähige und eine im globalen Wettbewerb erfolgreiche Wirtschaft, die dauerhaft Wohlstand für alle sichert, erwarten wir auch für die nähere
Zukunft. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren eine wachsende Wirtschaft und eine weiter rückläufige Arbeitslosigkeit. Die Wachstumsprognosen für
2011 liegen derzeit zwischen 3,5 und 3,7 Prozent Wachstum in diesem Jahr. Einen solchen Wert hat Deutschland
seit dem Ende der 1980er-Jahre - bedingt durch die
Lasten der Wiedervereinigung - nicht mehr erreichen
können.
Wir haben gute Voraussetzungen geschaffen, um Armutsrisiken weiter zu vermindern und Teilhabechancen
zu verbessern. Die Reform der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente wird den Aufschwung unterstützen. Auch
wenn Lohnsteigerungen, dem üblichen Konjunkturmuster folgend, erst in der Spätphase des Aufschwungs realisiert werden, sind wir zuversichtlich, dass wir weiter
hohe Tarifabschlüsse und eine gute Arbeitsmarktentwicklung haben werden.
Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht aus dem
Jahr 2008 ist hier im Hause ebenso wie die beiden vorangegangenen Berichte intensiv diskutiert worden. Alle
Fraktionen hatten die Gelegenheit, ihre Schlüsse daraus
zu ziehen. Das Gleiche gilt für das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales, das uns in Beantwortung einer
Zu Protokoll gegebene Reden
Kleinen Anfrage im August letzten Jahres ausführlich
über den Stand der Vorbereitungen des vierten Berichtes
informiert hat.
Es hat seitdem wichtige Fortschritte gegeben: Erstens hat eine kluge und kreative Wirtschaftspolitik die
Bundesrepublik Deutschland in eine weltweit anerkannte Wachstumsphase geführt. Damit haben sich die
Lebensbedingungen zahlreicher Familien weitaus stärker verbessert, als es durch nachsorgende Sozialmaßnahmen jemals möglich wäre.
Zweitens hat die Bundesrepublik Deutschland inzwischen zu ihrem Sozialsystem einen zusätzlichen Baustein
ergänzt, nämlich das Bildungs- und Teilhabepaket im
Zuge unserer Hartz-IV-Reform. Damit haben wir aus
der wichtigsten Schlussfolgerung, die der dritte Armutsund Reichtumsbericht uns nahelegte, konkrete gesetzgeberische Schritte folgen lassen.
Die Chancengerechtigkeit in Deutschland wächst.
Und ich füge hinzu: Die bei der kommunalen Umsetzung
des Bildungs- und Teilhabepakets aufgetretenen Probleme sind nicht so überraschend und auch nicht so
schlimm, wie es interessierte Kritiker beschreiben, abgesehen vielleicht vom Land Berlin, wo die zuständige Senatsverwaltung bis heute nicht in der Lage ist, ihren Ämtern einheitliche Umsetzungsregelungen und Software
zur Verfügung zu stellen. Dafür sind aber weder die
Bundesregierung noch der Gesetzgeber verantwortlich
zu machen.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke ist
weder sachgerecht noch angemessen. Er enthält Thesen
und baut auf Voraussetzungen auf, die für Sozialisten
oder Kommunisten akzeptabel sein mögen, aber nicht
als Entscheidungsgrundlage für das Parlament eines
freiheitlichen Staates. Schon der Verweis auf sogenannte
wissenschaftliche Erkenntnisse der zwei Epidemiologen
Pickett und Wilkinson kann doch nicht allen Ernstes zur
Beschlussgrundlage des Deutschen Bundestages gemacht werden. Dass ich als Liberaler deren These von
der Ungleichheit als Ursache gesellschaftlicher und
speziell gesundheitlicher Probleme für absurd halte,
wird niemanden wundern. Auch Abgeordnete weniger liberaler Fraktionen werden dem nicht folgen können. In
freien Ländern lebt es sich nachweislich gesünder als
etwa in Nordkorea. Und unter den Ungerechtigkeiten
und durchaus auch negativen gesundheitlichen Folgen
der DDR leiden viele Menschen bis heute.
Die breit ausgeführte Behauptung, erst habe RotGrün, dann Rot-Schwarz, dann Schwarz-Gelb die soziale Ausgrenzung vorangetrieben, ist unsinnig. Allein
schon der Versuch, sich derart plump von allen anderen
Fraktionen zu distanzieren, macht deutlich, dass dieser
Antrag überhaupt nicht auf Unterstützung angelegt ist.
Die Linke will isoliert bleiben. Das ist ihr Konzept. Dazu
dient auch die ständig wiederholte These von der bewusst herbeigeführten sozialen Spaltung.
Im Übrigen trägt der Antrag in weiten Teilen Eulen
nach Athen, wenn er Forderungen beinhaltet, die schon
in früheren Armuts- und Reichtumsberichten berücksichtigt wurden. Alle Forderungen, die nicht ideologisch
gefärbt, sondern objektiv nachvollziehbar sind, wurden
in den früheren Berichten längst umgesetzt. Die spezielle Situation von Kindern und Jugendlichen spielte
zum Beispiel schon in den früheren Berichten eine zentrale Rolle. Und auch die Laeken-Indikatoren, EU-SILC,
waren schon 2008 Grundlage. Die erwähne ich, weil der
Antrag der Linken suggeriert, das erfordere alles deren
Aufforderung.
Die Diskussion über Armut leidet unter den völlig unterschiedlichen Armutsbegriffen, die man ihr zugrunde
legen kann. Das soziokulturelle Existenzminimum ist etwas anderes als der am Existenzminimum orientierte
Steuerfreibetrag. Das menschenwürdige Existenzminimum unter Berücksichtigung der soziokulturellen Teilhabe nach dem SGB II darf nicht mit der Armutsrisikogrenze verwechselt werden. Und diese ist in der
Vergangenheit so unterschiedlich berechnet worden,
dass sie nach dem zweiten Armutsbericht 11 256 Euro
betragen hätte und nach dem dritten Armutsbericht nur
noch 9 372 Euro.
Der übliche relative Armutsbegriff täuscht über die
faktische Verbesserung der Lebensverhältnisse aller
Menschen in Deutschland hinweg. Alle Haushalte mit
weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens für armutsnah zu erklären und solche
mit weniger als 50 Prozent pauschal für arm, ist ebenso
schlau wie eine Weltbank-Studie von 1980, in der festgestellt wurde, dass fast die Hälfte aller Amerikaner Hunger leide, weil sie weniger als 50 Prozent der durchschnittlichen Kalorienzahl zu sich nahm.
Ich zitiere aus einer Broschüre „Statistische Probleme bei der Armutsmessung“ der Bundesregierung,
die dieses Thema bereits 1997 sehr gut aufbereitete.
Dort steht auf Seite 36: „Es gibt keine allseits anerkannte, weltweit akzeptierte Art der Armutsmessung.
Insbesondere ist die Unterstellung unzutreffend, das
Festmachen an der Hälfte des Durchschnitts wäre die
,von führenden Armutsforschern’ unisono anerkannte
Art der Armutsmessung; anders als die von DGB und
Wohlfahrtsverbänden alimentierten Armutsstudien immer wieder unterstellen, wird diese Art der Armutsmessung von den wirklich führenden Armutsforschern weltweit unisono als verfehlt verworfen. Indem wir Armut
als den Abstand von den anderen messen, machen wir
das Ausrotten dieser Armut fast definitionsgemäß unmöglich.“
Der nächste Armuts- und Reichtumsbericht kann insofern wiederum nur Fakten, Erfahrungen und Tendenzen zusammenstellen. Sein wissenschaftlicher Wert darf
nicht überschätzt werden. Ich bleibe auch bei meiner
Meinung, er sollte besser durch ein neutrales Institut
und nicht durch die Bundesregierung aufgestellt werden.
Bei der Zusammenstellung bedarf die Bundesregierung jedenfalls keiner Aufforderung der Fraktion Die
Linke, um das Selbstverständliche zu tun. Bundesregierung und Bundestag benötigen erst recht kein Wahlprogramm der Linken, um ihre Politik daran zu orientieren.
Selbstverständlich werden wir auch den Versuch ablehnen, mit diesem Antrag durch die Hintertür flächendeZu Protokoll gegebene Reden
ckende gesetzliche Mindestlöhne oder verdoppelte
Hartz-IV-Sätze einzuführen.
Für mich bleibt unbegreiflich, dass tatsächlich jemand glaubt, dieser Staat könne gesetzliche Mindestlöhne erzwingen, die Lebensarbeitszeit senken, die Renten erhöhen, Investitionsprogramme auflegen, Hartz-IVSätze massiv anheben, Kindergeld und Kinderzuschläge
erhöhen, Wohngeld erhöhen, öffentlich geförderte Arbeitsplätze zuhauf anbieten und gebührenfreie Kindertagesbetreuung einführen - alles Forderungen, die auf einer von drei Seiten des Antragstextes aufgelistet sind und das alles durch die sogenannte Reichensteuer finanzieren, die in Wirklichkeit Facharbeiter und große Gruppen der Angestellten und Beamten trifft.
Arbeitsplätze, die im Markt entstehen und keiner
staatlichen Subvention bedürfen, sind die beste Prävention gegen Armut. Darauf konzentrieren wir unsere Politik. Und ergänzend sorgt die christlich-liberale Koalition dafür, unser Sozialsystem so aufzustellen, dass es
auf lange Sicht stabil und bezahlbar bleibt.
Abschließend möchte ich betonen, dass noch wichtiger als die Befassung mit materieller Armut eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der sozialen Armut ist, die
insbesondere Kinder und Jugendliche erleiden. Einsamkeit, mutwillige Ausgrenzung und andere krankmachende Lebensumstände haben viel mehr mit Erziehungs- und Bildungserfahrungen zu tun als mit
berechenbaren Geldbeträgen. Eine Politik, die mehr an
die Wahrnehmung persönlicher Verantwortung für sich
und andere appelliert und dafür Freiräume schafft, tut
mehr gegen Armut als noch so viel umverteiltes Steuergeld.
Ich zitiere die Einleitung des dritten Armuts- und
Reichtumsberichtes der Bundesregierung aus dem Jahr
2008: „Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen mit
vielen Gesichtern. Es entzieht sich deshalb einer eindeutigen Messung.“ Und ich ergänze mit Blick auf die antragstellende Fraktion: Armutsbekämpfung entzieht sich
auch der einfachen Lösung durch politische Entscheidungen.
Schon bei der Vorstellung des dritten Berichtes habe
ich darauf hingewiesen, dass seine Politisierung nicht
sachdienlich ist. Auch deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag 17/6389 ab.
Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist ein
wichtiges Instrument zur Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutschland. Sie zeigt uns insbesondere auf, wie
erschreckend viele Menschen, darunter besonders häufig Kinder, in diesem reichen Land in Armut leben oder
von Armut bedroht sind. So zeigt das Statistische Bundesamt auf der Grundlage der EU-SILC-Daten einen
Anstieg der Einkommensarmut von 12,7 Prozent im Jahr
2005 auf 15,5 Prozent im Jahr 2008. Einen Anstieg der
Armut weist in längerer Perspektive auch das DIW auf
der Grundlage des sozio-oekonomischen Panels aus:
Danach lag das Risiko von Einkommensarmut Anfang
der 90er-Jahre bei rund 12 Prozent und stieg seitdem bis
2008 auf 14 Prozent an. Dies entspricht etwa 11,5 Millionen betroffenen Personen.
Allein an diesen Zahlen lässt sich erkennen, wie wichtig es ist, diese Berichte fortzuführen. Aber sie müssen in
wesentlichen Bereichen dringend qualitativ verbessert
werden. Gleichzeitig lässt aber auch die Berichterstattung über den Bestand und die Entwicklung des Reichtums erheblich zu wünschen übrig. Zukünftig müssen
wesentlich mehr Indikatoren und Befunde zu diesen Themen präsentiert werden.
Ein Problem, welches sowohl in den Berichten als
auch in den politischen Debatten hingegen fast vollständig ausgeblendet wird, ist verdeckte Armut. Auch hierzulande gibt es Menschen, denen keine oder nur ganz geringe Mittel zur Verfügung stehen und die insofern einen
Anspruch auf soziale Leistungen haben, diesen aber
nicht realisieren. Die notwendigen Analysen zum Ausmaß und zu Ursachen verdeckter Armut in allen Grundsicherungssystemen und zur Nichtinanspruchnahme von
anderen Sozialleistungen, wie beispielsweise Kinderzuschlag oder Wohngeld, fehlen bislang in der Armutsund Reichtumsberichterstattung. Nach einer Untersuchung der Wissenschaftlerin Dr. Irene Becker, deren
Kompetenz die Bundesregierung auch bei der Erarbeitung des letzten Armuts- und Reichtumsberichts sehr zu
schätzen wusste, lebten im Jahr 2007 etwa 2,7 Millionen
Menschen in Deutschland in verdeckter Armut. Das
heißt, sie hätten zwar laut Gesetz Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, stellen aber keinen Antrag. Da
stellt sich natürlich die Frage: Warum? Die Bundesregierung ist der Meinung, sie verzichten freiwillig, weil
sie den Bezug von Sozialleistungen vermeiden wollen.
Die Forschungsergebnisse von Frau Becker zeigen allerdings ein anderes Ergebnis: Die Menschen verzichten
nicht nur aus Bescheidenheit; die Gründe reichen vielmehr von Angst vor Stigmatisierung über schlechte Erfahrung mit Behörden bis hin zur Unkenntnis. So glauben irrtümlicherweise 57 Prozent der verdeckt Armen,
man müsste Sozialhilfe dann zurückzahlen, wenn sich
die persönlichen Verhältnisse gebessert haben.
Ebenso fehlt bislang eine Analyse der sozialen Kosten
und Verwerfungen, die durch Armut und soziale Ungleichheit produziert werden. Hier rate ich, die wissenschaftlichen Ausführungen und Erkenntnisse von Kate
Pickett und Richard Wilkinson zu den sozialen Folgekosten sozialer Ungleichheit, die sie beispielsweis in ihrem
Buch „Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“ dargelegt haben, zur
Kenntnis zu nehmen und im Rahmen der Armuts- und
Reichtumsberichterstattung auf die sozialen Verhältnisse in Deutschland zu beziehen.
Und leider wird die Armuts- und Reichtumsberichterstattung bis heute auch nicht genutzt, um konkrete politische Instrumente und Maßnahmen in Hinblick auf ihren Beitrag zur Entwicklung von Armut und sozialer
Ausgrenzung zu untersuchen sowie endlich ein umfassendes Programm zur Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung auszuarbeiten und vorzulegen. Die
Durchführung des Europäischen Jahres gegen Armut
und soziale Ausgrenzung in 2010 oder das regierungsZu Protokoll gegebene Reden
amtliche Kleinrechnen des menschenwürdigen Existenzminimums zeigen aktuell die Ignoranz der amtierenden
Regierung gegenüber den Problemen von Armut und sozialer Exklusion. Die praktische Politik der Haushaltskonsolidierung wirkt - ganz im Gegenteil zum eigentlich
Notwendigen - noch armutsfördernd und ausgrenzend.
Mit den Maßnahmen des sogenannten Haushaltsbegleitgesetzes wird massiv bei den Ärmsten - insbesondere bei
Hartz-IV-Leistungs-Beziehenden - eingespart, während
Vermögende, Banken und Unternehmen geschont werden. Um den Sozialabbau zu verschleiern, werden für
Kinder und Jugendliche im Rahmen des angepriesenen
Bildungspakets ein paar Gutscheine verteilt. Die Bundesregierung spaltet durch solche Maßnahmen willentlich und wissentlich die Gesellschaft. Aktuell haben ja
auch gerade eben die UN Deutschland für ihre schweren
Versäumnisse in der Sozialpolitik - beispielsweise die
anhaltend hohe Kinderarmut, die Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten sowie Asylberwerberinnen
und Asylberwerbern oder die unzureichende Existenzsicherung durch Hartz IV - massiv kritisiert und endlich
wirksame Maßnahmen eingefordert.
Vor diesem Hintergrund strebt Die Linke eine Umverteilung der materiellen Ressourcen von oben nach unten
an und will soziale Sicherheit und Teilhabe am gesellschaftlich geschaffenen Reichtum sowie eine langfristige Lebensperspektive für alle realisieren.
Es ist gut, dass sich nun auch die Linksfraktion dem
Thema „Armuts- und Reichtumsbericht“ widmet. Wie
schon in meiner Rede zum Antrag der SPD aus dem Februar dieses Jahres betont, ist es wichtig, die Datengrundlage für den Bericht zu erweitern, die Daten des
sozio-oekonomischen Panels zu verwenden sowie die
Reichtumserfassung zu verbessern. Good Governance
ist erst auf der Grundlage einer ausgewogenen und vollständigen Berichterstattung möglich. Zwar ist die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise in den letzten
Jahren etwas zurückgegangen. Mittlerweile wachsen die
Einkommen und Vermögen im obersten Bereich allerdings wieder überproportional. Die erwarteten wirtschafts- und haushaltsstrukturellen Veränderungen
werden vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung aller Voraussicht nach einen weiteren Anstieg
der Einkommens- und Vermögensungleichheit nach sich
ziehen.
Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den Systemen sozialer Sicherung zu. Sie können bei entsprechender Ausgestaltung einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die bundesdeutschen
Sozialversicherungssysteme stehen ihrerseits jedoch vor
diversen Herausforderungen. Nicht nur die demografischen Veränderungen setzen die Systeme unter Druck.
Immer wieder wird das angeblich zu hohe Leistungsniveau kritisiert. Dabei ist soziale Sicherung in Deutschland heute viel mehr als die klassische Sozialversicherung Bismarck’scher Prägung, die zuvörderst eine
Antwort auf die Bedürfnisse der sich entwickelnden Industrie darstellte. Letztere war zunehmend auf verlässliche Arbeitskräfte angewiesen, die ohne eine Absicherung gegen das elementare Risiko „Erwerbsunfähigkeit
durch Krankheit oder Unfall“ nicht dauerhaft zu binden
waren. Nicht zufällig markieren die Kranken- und Unfallversicherung den Beginn des gegliederten Systems
der sozialen Sicherung in Deutschland.
Das heutige System der sozialen Sicherung beschränkt sich nicht mehr allein auf ein System von Lohnersatzleistungen. Der moderne Wohlfahrtsstaat stellt mit
seinem breit gegliederten Sozialrechtssystem aus Entschädigung, Vorsorge, Förderung und Hilfe längst eine
wesentliche Voraussetzung für soziale und wirtschaftliche Entwicklung dar. Leider ist diese Erkenntnis der
Produktivitäts- und Stabilisierungsfunktion sozialer
Sicherung in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten. Es ist seit geraumer Zeit von einer Krise des Sozialstaats die Rede, die weniger die - in der Tat zu kritisierende - Institutionenfokussierung in den Blick nimmt
als vielmehr die fiskalischen Auswirkungen eines angeblich zu hohen Leistungsniveaus. Die Senkung der Sozialabgaben ist dabei zu einem neuen Mantra wirtschaftlichen Wachstums und der Arbeitsplatzschaffung
geworden. Außerdem wirkten sich, so die Gegner eines
angeblich überbordenden Sozialstaats, soziale Transfers
wettbewerbsverzerrend und letztlich hemmend auf Leistungsanreize aus. Eine solch einseitige Diskussion über
die kurzfristigen Kosten reduziert die Sozialpolitik nicht
nur auf die Gewährung von Lohnersatzleistungen. Sie
zeigt dabei auch, dass Systeme sozialer Sicherung einem
enormen Rechtfertigungsdruck unterliegen, mit dem es
sich gilt, stets aufs Neue auseinanderzusetzen.
Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Sozialausgaben die Risikobereitschaft und damit auch das
wirtschaftliche Wachstum positiv beeinflussen. Auch
jüngste Studien der Prognos AG aus dem Jahr 2009 zu
Kosten und Nutzen medizinischer Rehabilitation, eine
Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus
dem Jahr 2010 zur beruflichen Rehabilitation in den
deutschen Berufsbildungswerken, BBW, sowie eine Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin, WZB, aus
diesem Jahr zu den Wohlfahrtsverlusten aufgrund mangelnder beruflicher Qualifikation von Jugendlichen belegen den volkswirtschaftlichen Investitionscharakter
von Sozialausgaben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie das Bewusstsein hierüber sind allerdings sehr überschaubar. Auch die vergleichende Wohlfahrtsforschung, bei der Wohlfahrtsstaaten oft nur von
ihrer Leistungsseite betrachtet werden, tut sich mit den
wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Sozialpolitik recht schwer. In der Folge ist und bleibt es
schwer, sich gegenüber solchen Kräften zu behaupten,
die soziale Leistungen vorrangig als Kostenfaktor
brandmarken.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, auf der Grundlage einer die Realität abbildende Armuts- und Reichtumsberichterstattung die sozialen Sicherungssysteme
im Sinne zu stärken und gegen Angriffe zu verteidigen.
Allerdings überfrachtet der Antrag der Fraktion Die
Linke die Armuts- und Reichtumsberichterstattung mit
ihren parteipolitischen Forderungen. Würde man diesem Vorschlag folgen, würde der Armuts- und ReichZu Protokoll gegebene Reden
tumsbericht eher geschwächt als gestärkt. Eine Berichterstattung, die sich dem Verdacht aussetzt, tendenziös zu
sein, kann keine politische Durchschlagskraft entfalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 46 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Cornelia Möhring, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Arbeit familienfreundlich gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
„Kinder, Küche und Karriere“ - Vereinbarkeit für Frauen und Männer besser möglich
machen
- Drucksachen 17/3189, 17/3203, 17/5088 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({1})
Miriam Gruß
Katja Dörner
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eines der
wichtigsten Themen zurzeit und mit dem demografischen
Wandel und dem damit einhergehenden Fachkräftemangel wird es in den kommenden Jahren noch ein viel bedeutenderes Thema werden. Deshalb freut es mich sehr,
dass das Bewusstsein dafür in den Unternehmen merklich gestiegen ist, und das nicht nur aus altruistischen
Gründen. Unsere Firmen kalkulieren hart und haben
verstanden: Familienfreundlichkeit zahlt sich aus - gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. So bestätigen
vier von fünf Unternehmen, dass Familienfreundlichkeit
konkrete betriebswirtschaftliche Vorteile bringt. Dazu
passen die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage
unter Arbeitnehmern, die besagt, dass vier von fünf sich
vorstellen können, für eine verbesserte Vereinbarkeit
von Familie und Beruf den Arbeitgeber zu wechseln.
Ob Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Telearbeit, Betriebskindergärten oder sei es nur der Bügelservice, der
die Hemden und Anzüge wieder herrichtet: Bundesweit
erleben wir, wie sich unsere Firmen auf familiäre Bedürfnisse einstellen, landauf und landab. Diese freiwillige Selbsterkenntnis ist es, die wir meiner Meinung
nach nicht durch überzogene Gesetze erdrücken dürfen.
Ich sage das mit Blick auf die Vorschläge der Linken in
ihrem Antrag. Ein Kündigungsschutz bis zur Vollendung
des sechsten Lebensjahres eines Kindes ist schlichtweg
übertrieben. Wir sollten Politik immer an den realistischen Bedingungen vor Ort und am Machbaren ausrichten. Das hilft den Menschen, überzogene politische Forderungen hingegen helfen niemandem.
In den vergangenen Jahren hat sich bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einiges getan, zum Beispiel bei der Gewährleistung einer möglichst guten Betreuungsinfrastruktur. Ich weiß sehr gut, wovon ich
spreche; denn das Thema ist bei mir im ländlichen Raum
besonders aktuell.
Die Bundesregierung hat viel Geld in die Hand genommen, um ein hohes Versprechen einlösen zu können:
den gesetzlich garantierten Anspruch auf einen Platz in
einer Kita ab dem Jahre 2013. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dieses Ziel zu erreichen. Und ja, es gibt
Unterschiede zwischen den Ländern beim Ausbau der
Betreuungsplätze. Aber es liegt nicht am Bund, dass einige Länder hinterherhinken. Werden die Mittel wie geplant eingesetzt, dann sind auch Fortschritte zu sehen.
Auf Platz eins beim Ausbau liegt mein Heimatland, das
Saarland, trotz bekanntermaßen knapper Kassen. Es
geht also, wenn man will. Gemeinsam können wir das
Ziel 2013 erreichen.
Eine umfassende Betreuungsinfrastruktur alleine
reicht aber noch nicht aus. Merklich verbesserte Familienfreundlichkeit, diese umfasst auch noch andere Maßnahmen. Der Ausgangspunkt muss dabei immer die individuelle Situation des Arbeitnehmers vor Ort sein.
Daraus leiten sich die nächsten Schritte ab: die gemeinsame Organisation von Babypausen, Fortbildungsangebote während der Elternzeit oder konkrete Unterstützung
beim Wiedereinstieg in den Beruf nach der Babypause.
Hinzu kommt immer mehr die Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf. Die geplante Familienpflegezeit ist ein Vorzeigestück an Flexibilität und Praxisnähe, an dem deutlich wird, wie sich die anfangs genannten Zeitkonflikte
auflösen lassen, wenn alle Beteiligten zusammenarbeiten.
Auch um die flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten
werden wir nicht herumkommen. Bislang kennen wir vor
allem Vollzeit und Halbzeit. Junge Familien empfinden
hingegen eine Arbeitswoche von 30 bis 35 Stunden als
optimal. Weshalb sollte man das und andere innovative
Modelle nicht aufgreifen? Das Familienministerium tut
dies mit der Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“
gemeinsam mit der Wirtschaft - eine lohnenswerte Alternative.
Die Wirtschaft ist - anders als in diesem Hause vonseiten der Opposition oftmals dargestellt - ebenfalls an
Kooperationen interessiert. So bündeln Spitzenverbände
der deutschen Wirtschaft, Gewerkschaften und Stiftungen ihre Erfahrungen im Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“. Die erfolgreichen Unternehmen
werden dann mit dem Audit Beruf und Familie zertifiziert und sind damit auch Vorbild für andere - eine
Nadine Schön ({0})
nachhaltige und gute Initiative, der sich hoffentlich noch
viele Unternehmen anschließen werden!
Gleichzeitig liegt es aber auch an jedem einzelnen
Arbeitnehmer, initiativ zu werden und sich für die Verbesserung seiner Situation einzusetzen. Für Frauen, die
nach einer längeren Erwerbspause wieder ins Berufsleben eintreten wollen, hat das Familienministerium das
Aktionsprogramm „Perspektive Wiedereinstieg“ entwickelt und jüngst noch verbessert. Auf dem neuen Internetportal können sich Frauen und Familien noch leichter darüber informieren, wie ein Wiedereinstieg ins
Berufsleben am besten organisiert werden kann und inwieweit er sich für die Familie auszahlt. An dieser Stelle
wollen wir weiterarbeiten und den Wiedereinstieg ins
Berufsleben erleichtern.
Alle Regelungen und Verpflichtungen, alle Gesetze,
Vorschriften und Hilfestellungen werden die Familien
nicht dauerhaft glücklicher machen, solange sich nichts
an der Einstellung ändert: an der Einstellung der Mitarbeiter, der Chefs und im Ganzen der Gesellschaft, was
den Stellenwert von Familienfreundlichkeit in unserer
Arbeitswelt angeht.
Meiner Meinung nach werden diese weichen Faktoren besonders bei unserer Anwesenheitskultur deutlich.
Denn solange die junge Mutter oder der junge Vater belächelt oder schief angeschaut wird, wenn sie oder er um
17 Uhr das Büro verlässt, um sich um die Kinder zu
kümmern, so lange werden sich junge berufstätige Eltern nicht akzeptiert fühlen. Familienfreundlichkeit darf
nicht nur proklamiert werden, sie muss gelebt und vorgelebt werden.
Ich ende mit eine positiven Nachricht: Im Juni lief die
Meldung über die Ticker, dass immer mehr Väter Elternzeit nehmen. Besonders in Sachsen und in Bayern ist die
Auszeit vom Beruf zur Unterstützung der Familie sehr
beliebt. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass
sich etwas tut in Sachen Familienfreundlichkeit. Und
vielleicht dringt diese Nachricht auch bis in die Reihen
der Opposition vor. Ich würde das jedenfalls sehr begrüßen.
Wieder einmal diskutieren wir die Schwierigkeiten für
Frauen und Männer, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können. Fakt ist: Nach wie vor sind wir in
Deutschland von einer guten Vereinbarkeit sowie einer
partnerschaftlichen Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit weit entfernt. Aber genau diese brauchen wir.
Unser Ziel muss es daher sein, Frauen ökonomische
Unabhängigkeit und Chancengleichheit im Beruf zu ermöglichen und Männern mehr Familienzeit zu geben.
Vereinbarkeit heißt eben nicht entweder Familie oder
Beruf, sondern beides.
Als Erstes ist dazu sicherlich ein Wandel der Arbeitskultur notwendig, hin zu mehr Familienfreundlichkeit
und einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und
Männern am Arbeitsmarkt. Die Gleichstellung von
Frauen im Erwerbsleben muss endlich vorangehen. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat hierzu bereits im Februar
2010 einen Antrag vorgelegt, Drucksache 17/821. Die
freiwillige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung
und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft im
Jahr 2001 hat keinen gleichstellungspolitischen Fortschritt gebracht. Sie ist kläglich gescheitert. Damit ist
der letzte Beweis erbracht: Es bedarf klarer gesetzlicher
Regelungen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung bleibt
allerdings weiterhin untätig.
Betrachten wir nur einmal die Frauenerwerbsquote.
Sie ist inzwischen auf weit über 60 Prozent gestiegen.
Aber bei genauem Hinsehen bleibt festzustellen, dass
das Arbeitszeitvolumen - das heißt die geleisteten Arbeitsstunden - trotz erhöhter Erwerbsquote von Frauen
sogar gesunken ist. Denn immer mehr Frauen sind in
Teilzeit beschäftigt oder haben Minijobs - häufig ungewollt, wie Umfragen zeigen. Unzureichende soziale Sicherung ist die Folge. Und junge Frauen sind zunehmend - zu fast einem Drittel - befristet beschäftigt. Dies
entspricht aber nicht den Vorstellungen und Wünschen
junger Menschen.
Ökonomische Unabhängigkeit von Frauen heißt
auch, dass Arbeit gerecht bezahlt werden muss. Die Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern bei gleicher und gleichwertiger Arbeit ist nicht länger hinzunehmen. Jedes Jahr, am Equal Pay Day, wird auch
anhand der zahlreichen Aktionen deutlich: Wir brauchen endlich konkrete Lösungen. Notwendig sind
verbindliche gesetzliche Regelungen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits Eckpunkte für ein Entgeltgleichheitsgesetz verabschiedet.
Ein Wandel der Arbeitskultur ist auch notwendig im
Hinblick auf das Thema „Frauen in Führungspositionen“. Wenige der gut ausgebildeten Frauen schaffen einen Aufstieg bis in die Führungsetagen, gar in die Aufsichtsräte und Vorstände von Aktiengesellschaften. Dies
zu ändern, dafür brauchen wir eine gesetzliche Quote
von mindestens 40 Prozent. Die geplante Besetzung im
Vorstand der Telekom mit zwei Frauen, wie sie diese Woche angekündigt wurde, ist zu begrüßen. Aber sie ist
eben nicht mehr als ein Signal bzw. ein Tropfen auf den
heißen Stein.
Für eine wirklich bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf brauchen wir auch flexible familienfreundliche Arbeitszeitmodelle. Mütter wollen mehr und Väter
oft weniger arbeiten. Lassen Sie uns also über moderne
und innovative Arbeitszeitmodelle reden. Arbeitszeitmodelle wie die sogenannte Große Teilzeit mit circa
30 Stunden Wochenarbeitszeit für Männer und Frauen.
Verschiedene Lebensphasen bestimmen die Wünsche zu
Arbeitszeit und -volumen. Männer wie Frauen brauchen
endlich mehr Optionen, ihre Arbeitszeit an ihren Lebenslauf anpassen zu können, die Arbeit kurzfristig unterbrechen und ohne Probleme zurückkehren zu können.
Das Sachverständigengutachten zur Erstellung des
Gleichstellungsberichts gibt der Bundesregierung viele
gute Lösungsvorschläge an die Hand. Jetzt ist die Bundesregierung aufgefordert zu handeln.
Leider ist Stillstand das Motto der Bundesregierung,
vor allem bei der Familienministerin. Die angekündigte
Weiterentwicklung des Elterngeldes - ein sinnvolles InZu Protokoll gegebene Reden
strument zur besseren Vereinbarkeit - ist auf Eis gelegt.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass wir endlich andere Rahmenbedingungen
im Steuerrecht brauchen. Bisher zementiert dieses alte
Rollenbilder und trägt somit nicht zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und
Frauen bei. Anstelle des Ehegattensplittings müssen
Ehepartner zukünftig individuell besteuert werden. Die
Steuerklassenkombination III/V gehört abgeschafft. Bei
der Individualbesteuerung wollen wir Unterhaltsverpflichtungen der Ehegatten und entsprechende Bestandsschutzregelungen berücksichtigen.
In den beiden vorliegenden Anträgen der Grünen und
der Linken, die wir heute abschließend debattieren, ist
die beschriebene Problemanalyse überwiegend zutreffend. Der notwendige Dreiklang von Zeit, Geld und Infrastruktur in der Familienpolitik muss gelingen und mit
Leben gefüllt werden. Nach wie vor gibt es große Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil
es zu wenige, zu unflexible und nicht ausreichend lange
Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Die viel beschworene Wahlfreiheit existiert in der Wirklichkeit nicht. Wir
brauchen mehr Kinderbetreuungsangebote, vor allem
fehlen Krippenplätze und Ganztagsangebote in Kitas
und Schulen. Es ist wichtig, dass für jedes Kind ein bedarfsgerechter und qualitativ hochwertiger Betreuungsplatz zur Verfügung steht. Vor allem in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder entscheidet sich für Eltern die
Verteilung der Familien- und Erwerbsarbeit für einen
langen Zeitraum. Deswegen ist der Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren von besonderer
Bedeutung. Denn nach wie vor kehren Mütter nur zu
14 Prozent nach der Geburt des ersten Kindes wieder
zurück in eine Vollzeiterwerbstätigkeit, Väter hingegen
kehren in der Regel nach kurzer Elternzeit zurück in ihre
Vollzeiterwerbstätigkeit.
Auch die steigende Zahl der älteren Menschen mit
Betreuungs- und Pflegebedarf erfordert neue Rahmenbedingungen in der Arbeitswelt und eine bedarfsgerechte Pflegeinfrastruktur. Betonen möchte ich: Pflegearbeit ist eine gesamtgesellschaftliche und keine
ausschließlich private Aufgabe. Wo Pflegearbeit aber
familiär übernommen wird, muss dies gelingen können,
aber nicht mit einseitig den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern übertragenem Lohnverzicht, den sich überhaupt nur wenige leisten könnten. Vielmehr brauchen
Beschäftigte flexible Regelungen zur Arbeitszeitgestaltung, Rückkehrrechte in Vollzeit nach Arbeitszeitreduzierung, mit einem bezahlten kurzfristigen Freistellungsanspruch von zehn Tagen.
Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und Frauen effektiv zu verbessern, bleibt noch viel
zu tun. Lassen sie es uns gemeinsam voranbringen.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie liegt auch
der christlich-liberalen Regierungskoalition sehr am
Herzen. Wie die Grünen in ihrem Antrag richtig festhalten, fehlen bislang immer noch ausreichende Betreuungsplätze und teilweise flexible Arbeitszeiten.
Aber: Wir tun sehr viel dafür, dies zu ändern! Und die
Zahlen sprechen für uns: Der Ausbau der Kinderbetreuung bis 2013 kommt gut voran. Mein Bundesland Bayern hat bereits all seine Investitionsmittel abgerufen wir sind damit Vorreiter im Ausbau der Kinderbetreuung. Die Betreuungsquote ist um 118 Prozent gestiegen!
Aber auch die anderen Länder ziehen nach. Ich bin hier
sehr zuversichtlich.
Allerdings fällt vieles, was Sie ansprechen, in den Zuständigkeitsbereich der Länder und Kommunen - die
Sprachausbildung in den Kindergärten beispielsweise.
Trotzdem leistet der Bund mit der Sprachförderung in
den 4 000 Schwerpunktkitas wichtige Arbeit. Die „Offensive Frühe Chancen“ genauso wie das „Aktionsprogramm Kindertagespflege“ wirken.
Der Bund beteiligt sich mit 4 Milliarden Euro am
Ausbau einer bedarfsgerechten, qualitätsorientierten
Kindertagesbetreuung. Sie können uns also einiges vorwerfen - Untätigkeit jedoch nicht! Im Gegenteil: Wir
engagieren uns in einem Maße für die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie wie noch keine Regierung zuvor.
Ich kann die Zielsetzung der beiden Anträge gut
nachvollziehen; auch wenn sie sich teilweise erübrigen.
Was ich nicht verstehen kann, ist die Staatsgläubigkeit,
die aus ihnen deutlich wird. Zum Antrag der Grünen: Es
braucht nicht unbedingt einen Rechtsanspruch auf
Ganztagesbetreuung! Lassen Sie uns erst einmal den
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz erproben, Nicht alles muss auf diesem Wege gelöst werden! Sie fordern
mehr Teilzeitlösungen für junge Eltern. Flexible Arbeitszeiten sind in der Tat ein wichtiger Punkt. Die Ergebnisse des Familienmonitor 2010 zeigen: 60 Prozent der
Väter wollen mehr Zeit für ihre Kinder. Und Bertelsmann stellte vor kurzem fest: Für sechs von zehn Deutschen ist der männliche Alleinverdiener ein Auslaufmodell.
Wir setzen Anreize, um Teilzeitarbeit für Mann und
Frau attraktiver zu gestalten. Manche Eltern wollen
vielleicht 20, andere 25 Stunden arbeiten. Sie werden in
Zukunft die Möglichkeit dazu haben.
Dass dies funktioniert, zeigt ein Beispiel aus meiner
Heimat: Unternehmen wie MTU bieten ihren Mitarbeitern mehr als 50 verschiedene Arbeitszeitmodelle an.
Das ist bedarfsgerecht und entspricht den tatsächlichen
Bedürfnissen von Eltern. Die Unternehmen haben selbst
ein großes Interesse an einem familienfreundlichen
Klima. Sie wollen und müssen gute Angestellte halten.
Mehr Zwang und Bürokratie sind da aber der falsche
Weg. Was die Linke fordert, entbehrt wieder einmal jeglicher Wirtschaftskenntnis: Sechs Jahre Kündigungsschutz oder das Recht darauf, seine Arbeitszeiten selbst
zu setzen, wird Eltern nicht nützen, sondern nur schaden. Die Unternehmer vor Ort wissen meist am besten,
was ihre Angestellten brauchen, und schaffen passende
Lösungen. Als Regierung unterstützen wir diesen Prozess.
Allerdings sollte unser Schwerpunkt nicht auf Teilzeitmodellen liegen. Wie Sie in allen Studien zum Fachkräftemangel in Deutschland nachlesen können, hat
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland die höchste Quote von Frauen in Teilzeitbeschäftigung in Europa - und dazu noch mit der geringsten Wochenstundenzahl! Wir müssen es daher noch
mehr Frauen ermöglichen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, auch wenn sie junge Kinder haben. 2011 muss
unser Ziel doch lauten, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen.
Das bringt mich gleich zu zwei weiteren Punkten: Sie
fordern den Mindestlohn. Man kann es nicht oft genug
betonen: Politisch festgelegte Mindestlöhne bedrohen
Arbeitsplätze. Uns geht es aber darum, Arbeitsplätze zu
schaffen und zu sichern. Und das zeichnet uns aus: Wir
haben gegenwärtig den niedrigsten Arbeitslosenstand
seit langem!
Beide Anträge fordern die Verbesserung der Wiedereinstiegsmöglichkeiten nach der Familienphase. Diesen
Ansatz teilen wir als schwarz-gelbe Regierung. Deshalb
legen wir auch ein umfassendes Wiedereinstiegsprogramm vor. Ein „Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle“,
wie in den zwei Anträgen gefordert, halte ich aber für
kontraproduktiv. Es darf doch nicht zu einem Risiko für
die Unternehmen werden, junge Menschen einzustellen.
Nein, Zwang ist der falsche Weg!
Eltern müssen die Wahlfreiheit haben, Familie und
Job nach ihren Vorstellungen vereinbaren zu können.
Dafür setzen wir uns mit ganzer Kraft ein. Die „bundesgläubigen“ Lösungen, die in den beiden Anträgen vorgeschlagen werden, lehnen wir deshalb ab.
Wir wollen eine wirkliche „Vereinbarkeit“ von Beruf
und Familie - kein Gegeneinander von Wirtschaft und
Familien, sondern ein Miteinander. Alles andere geht
auch an der Wirklichkeit der Arbeitnehmer draußen vorbei.
Trotz des 7. Familienberichtes liegen im Bereich der
Zeitpolitik wenig zielführende Vorschläge für die politische Ausgestaltung einer modernen Familienpolitik vor.
Noch immer ist eine Entscheidung für ein Kind eine Entscheidung über die Erwerbstätigkeit der Frau. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, wie intensiv in letzter
Zeit über eine familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt geredet wird. Es werden Allianzen für Familien ins Leben gerufen, es finden sich Impulsgruppen
von Wirtschaft, über Gewerkschaft bis hin zu wissenschaftlich begleiteten Initiativgruppen. Es werden Studien, Expertisen und Beraterverträge in Auftrag gegeben, siehe Drucksache 17/6032, Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Was aber ist konkret passiert bzw. was soll noch konkret passieren? An dieser Stelle sei mir ein Rückblick gestattet: Am 12. Dezember 2007 hat meine Fraktion den
Antrag „Arbeit familienfreundlich gestalten - Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter lebbar machen“ - Drucksache16/7482 - eingereicht. 2008
wurde er im Ausschuss bearbeitet, am 5. März 2009 im
Plenum diskutiert und abgestimmt. Sie alle haben erwartungsgemäß - in gewohnter Manier - den Antrag
abgelehnt. Die Gründe für ihre Ablehnung lassen sich
wie folgt fassen: Die Forderung, die Arbeitswelt familienfreundlich zu gestalten, könne man noch unterstützen. So weit, so gut; aber den im Antrag geforderten
Maßnahmen zum Kündigungsschutz, zur Berufsrückkehr
und zur Arbeitszeitgestaltung könne man nicht folgen.
Am 6. Oktober 2010 hat meine Fraktion erneut einen
Antrag - Drucksache 17/3189: „Arbeit familienfreundlich gestalten“ - eingereicht. Im Ausschuss wurde er am
16. März 2011 von CDU/CSU und FDP abgelehnt. SPD
und Grüne haben sich diesmal der Stimme enthalten.
Das ist interessant. Auch ein entsprechender Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wurde von der Koalition abgelehnt.
Die CDU/CSU kommt in der Begründung ihrer Ablehnung unseres Antrages zu dem Schluss - ich zitiere
aus Drucksache 17/5088 -: „Der im Antrag zum Ausdruck kommende Staatsdirigismus“ wird abgelehnt.
Weiter: „Es erscheint beispielsweise sehr fraglich, ob
man jungen Eltern mit einem Kündigungsschutz von
sechs Jahren tatsächlich nützt oder eher schadet.“ Die
FDP bemängelt dagegen in unserem Antrag eine immanente Bundesgläubigkeit. Der Bund könne nun einmal
nicht alles regeln. Die Forderung nach Einführung eines
Mindestlohnes wird strikt abgelehnt.
Das Kuriose an der ganzen Sache erschließt sich mir
in der Antwort der Bundesregierung auf die schriftlich
eingereichte Frage meiner Fraktion - ich zitiere -:
Anknüpfend am hohen Bedarf berufstätiger Eltern
hat das BMFSFJ in Kooperation mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag am
29. Oktober 2010 die Initiative „Familienbewusste
Arbeitszeiten“ gestartet. Damit werden Arbeitgeber
motiviert und dabei unterstützt, mehr flexible und
familienfreundliche Arbeitszeitmodelle anzubieten,
die Müttern mehr Karrierechancen und Vätern
mehr Familienzeit ermöglichen.
Dazu passt dann auch noch der O-Ton der Bundesministerin Kristina Schröder - ich zitiere -: „Zeit ist die
Leitwährung moderner Familienpolitik“. Hört, hört!
Welche interessante Wende in der politischen Argumentation.
Die in diesem Zusammenhang unterzeichnete Charta
für familienbewusste Arbeitszeiten zwischen der Bundesregierung, den Spitzenverbänden der Wirtschaft und
den Gewerkschaften soll im Frühjahr 2013 Bilanz ziehen. Was soll man davon halten, frage ich Sie?
Mein Fazit zu Ihren politischen Spitzfindigkeiten und
Taktiken - ich wiederhole mich ungern, aber an dieser
Stelle ist es angebracht -: Wenn wir, die Linke, mit Geduld abwarten, dann finden sich unsere Forderungen in
Ihren Anträgen wieder. Genau dies habe ich Ihnen schon
einmal nachweisen können, und ich werde nicht müde
dabei, es weiter zu tun. Immerhin, so kommen die Forderungen der Linken doch zum Zuge, wenn auch zeitversetzt. Wir sind halt der Zeit immer ein wenig voraus.
Zu Protokoll gegebene Reden
„Wir wollen familien- und kinderfreundliche Rahmenbedingungen durch eine familienfreundliche Kultur
und Infrastruktur sowie eine familiengerechte Arbeitswelt schaffen.“ Das ist nicht etwa ein Zitat aus unserem
Antrag, sondern entstammt dem Koalitionsvertrag der
Parteien, die unseren Antrag zur Förderung familienfreundlicher Rahmenbedingungen und einer familiengerechten Arbeitswelt im Ausschuss abgelehnt haben.
Sicherlich können wir geteilter Auffassung sein, was
genau denn unter der Verbesserung von Rahmenbedingungen für Kinder und Familien zu verstehen ist. Wir
Grünen gehen davon aus, dass die Durchsetzung des
Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz zentral ist, und wir
wollen, dass die Qualität dieser Kitaplätze verbessert
wird. Der Bericht der Bundesregierung zum Ausbau der
Kindertagesbetreuung belegt, dass der Personaleinsatzschlüssel vielerorts „unter fachlichen Gesichtspunkten
als bedenklich“ und als „verbesserungswürdig“ einzustufen ist. Warum ihn dann nicht verbessern und damit
die Qualität der Kinderbetreuung steigern? An der mangelnden Erkenntnis liegt es offensichtlich nicht, viel eher
am politischen Willen.
Es ist absolut richtig: Für eine gute Vereinbarkeit von
Beruf und Familie braucht man Zeit, Infrastruktur und
Geld.
Zu familienfreundlichen Rahmenbedingungen gehört
dann auch die Weiterentwicklung des Teilelterngeldes.
Wenn heute beide frischgebackenen Elternteile nach der
Geburt eines Kindes in Teilzeit arbeiten, dann verlängert sich der Bezugszeitraum des Elterngeldes eben gerade nicht. Verglichen mit einem Paar, bei dem ein Elternteil zu Hause bleibt und der andere weiter Vollzeit
arbeitet, bekommen diese Eltern insgesamt also weniger
Elterngeld. Das ist ungerecht und meiner Meinung nach
auch unzeitgemäß. Viele Eltern wollen sich Erwerbsarbeit und Familienarbeit fair und partnerschaftlich teilen. Deshalb brauchen wir endlich ein flexibles Teilelterngeld ohne doppelten Anspruchsverbrauch.
Diese richtige Idee hatte die Ministerin ja auch schon
einmal, aber wie fast alle anderen familienpolitischen
Maßnahmen, die groß im Koalitionsvertrag angekündigt
waren, ist auch das auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden. Damit die Ministerin mit „mehr Vereinbarkeit“ einmal ernst machen könnte, darf sie eben
keine Ankündigungsministerin bleiben.
Trotz eines zunehmenden Problembewusstseins - auch
in der Bundesregierung - gibt es noch immer zahlreiche
Hindernisse auf dem Weg zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eltern benötigen neben guter
Infrastruktur eine familienfreundliche Arbeitswelt.
Leider setzt die Familienministerin hier statt auf solide Regelungen auf politische Appelle. Angesichts der
Erfahrungen mit freiwilligen Vereinbarungen ist auch
bei der im Februar 2011 unterzeichneten „Charta für familienbewusste Arbeitszeiten“ zu befürchten, dass es
sich dabei letztlich nur wieder um einen „zahnlosen Tiger“ handelt. Eltern brauchen bezogen auf ihren Arbeitsplatz Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Nach
der Elternzeit in erzwungener Teilzeit und auf einer wenig qualifizierten Stelle stecken zu bleiben - das ist ein
realer Erfahrungswert vieler junger Eltern, insbesondere von Müttern. Deshalb ist es absolut überfällig, das
Recht auf Teilzeit, das wir heute schon im Teilzeit- und
Befristungsgesetz verankert haben, um ein Rückkehrrecht auf eine Vollzeittätigkeit zu ergänzen. Gleichzeitig
halte ich die Forderung, die sachgrundlose Befristung
und die Befristung auf Probe abzuschaffen - auch im
Zusammenhang mit unserer heutigen Debatte -, für ausgesprochen wichtig und vielversprechend.
Es ist bedauerlich, dass unsere Vorschläge von den
Regierungsfraktionen so einfach vom Tisch gewischt
werden; dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass
die Regierung jedes Engagement in der Frage vermissen
lässt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/5088. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/3189 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3203. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir haben es vor 23 Uhr geschafft.
({0})
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Juli 2011, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.