Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/17/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, sich für einige Zeit von den Plätzen zu erheben. ({0}) Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied Otto Graf Lambsdorff, der am 5. Dezember im Alter von 82 Jahren in Bonn verstarb. Otto Graf Lambsdorff gehörte von 1972 bis 1998, also 26 Jahre, ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an. Als Abgeordneter wie als Mitglied der Bundesregierung und auch danach hat er herausragende Ämter und Aufgaben für unser Land wahrgenommen. Otto Graf Lambsdorff wurde am 20. Dezember 1926 in Aachen geboren. Nach dem Besuch von Schulen in Berlin und der Ritterakademie in Brandenburg an der Havel nahm er ab 1944 als junger Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. 1946 kehrte er schwer kriegsbeschädigt aus der Gefangenschaft zurück und machte noch im selben Jahr sein Abitur. Anschließend studierte Graf Lambsdorff in Bonn und Köln Rechts- und Sozialwissenschaften. Nach den beiden juristischen Staatsexamina und der Promotion war er von 1955 bis 1977 in verschiedenen Funktionen im Bank- und Versicherungsgewerbe tätig. Seit 1960 war Otto Graf Lambsdorff zudem als Rechtsanwalt zugelassen. 1951 trat er der FDP bei, in der er über viele Jahre an exponierter Stelle wirkte. Seit 1972 gehörte er dem Bundesvorstand und seit 1982 auch dem Präsidium seiner Partei an. Von 1988 bis 1993 war Graf Lambsdorff Bundesvorsitzender der FDP. Zudem stand er in den Jahren 1991 bis 1994 als Präsident der Liberalen Internationale vor. Nach der Aufgabe seiner Parteiämter wurde Otto Graf Lambsdorff 1993 zum Ehrenvorsitzenden der FDP sowie 1996 zum Ehrenpräsidenten der Liberalen Internationalen ernannt. Von 1995 bis 2006 war Graf Lambsdorff Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung. Von 1972 bis 1977, also gleich nach seiner Wahl in den Bundestag, sowie später von 1984 bis 1997 war Otto Graf Lambsdorff der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Fraktion. Von 1977 bis 1984 wirkte Otto Graf Lambsdorff als Bundesminister für Wirtschaft zunächst in der SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, dann ab 1982 in der Koalition aus CDU/CSU und FDP, an deren Bildung er maßgeblich beteiligt war, unter Bundeskanzler Helmut Kohl. Insbesondere in diesem Amt wurde Otto Graf Lambsdorff in der Nachfolge Ludwig Erhards zu einem der zweifellos profiliertesten Wirtschaftsminister unseres Landes. Er hat manchen politischen Streit angefacht und ist keiner Auseinandersetzung ausgewichen, schon gar nicht zu seiner Vorstellung von der Rolle des Staates in einer sozialen Marktwirtschaft. Im Zusammenhang mit der sogenannten Flick-Spendenaffäre trat Otto Graf Lambsdorff im Jahr 1984 von seinem Amt als Bundeswirtschaftsminister zurück. Weitere 13 Jahre blieb er als Abgeordneter eine markante Persönlichkeit der deutschen Politik. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag 1998 engagierte sich Graf Lambsdorff weiterhin in öffentlichen Angelegenheiten. Für die Wertschätzung seiner Person und seiner Arbeit ist bezeichnend, dass ihn ein sozialdemokratischer Bundeskanzler 1999 zu seinem Beauftragten für die Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ bestellte. Der Hartnäckigkeit und dem Verhandlungsgeschick von Otto Graf Lambsdorff ist es ganz wesentlich zu verdanken, dass es über 50 Jahre nach Kriegsende endlich möglich wurde, das Problem der Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter zu lösen. Weltweit erfuhr diese Leistung von Graf Lambsdorff große Anerkennung. Otto Graf Lambsdorff hat die Politik der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich geprägt. Über Parteigrenzen hinweg wurde seiner politischen Leistung und persönlichen Integrität höchste Anerkennung zuteil. Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Otto Graf Lambsdorff hat sich um unser Land große Verdienste erworben. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Ich spreche seiner Frau und seinen Kindern im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus. Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Maria Michalk hat am 6. Dezember ihren 60. Geburtstag gefeiert und der Kollege Michael Glos am vergangenen Montag seinen 65. Geburtstag. Beiden möchte ich im Namen des ganzen Hauses dazu auf diesem Wege noch einmal herzlich gratulieren und alles Gute wünschen. ({1}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ({2}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beitrittsverhandlungen mit Island aufnehmen - Drucksache 17/271 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3}) Auswärtiger Ausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte des Bundestages nach den Begleitgeset- zen zum Vertrag von Lissabon wahren hier: Einvernehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island herstellen - Drucksache 17/260 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Herstellung des Einvernehmens über die Auf- nahme von Verhandlungen über den Beitritt der Republik Island zur Europäischen Union - Drucksache 17/246 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Vorschlag der spanischen Regierung für die Änderung der Verträge in Bezug auf die Über- gangsmaßnahmen betreffend die Zusammen- setzung des Europäischen Parlaments - Her- stellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlungen über Vertrags- änderungen gemäß Artikel 48 EUV - Drucksache 17/235 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP 22 a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen - Drucksache 17/261 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 17/262 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 17/263 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 17/264 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 17/265 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 6 zu Petitionen - Drucksache 17/266 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 7 zu Petitionen - Drucksache 17/267 ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur Einführung einer Finanztranssaktionsteuer ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Lothar Binding ({11}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Innovative kleine und mittlere Unternehmen stärken - Ein nachhaltiges steuerliches ForPräsident Dr. Norbert Lammert schungs- und Entwicklungs-Förderkonzept ({12}) vorlegen - Drucksache 17/247 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten - Drucksache 17/241 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten - Drucksache 17/244 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({14}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ich darf außerdem auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam machen: Der in der 9. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Rechtsausschuss ({15}) und dem Ausschuss für Gesundheit ({16}) zur Mitberatung überwiesen werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken - Drucksache 17/121 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({17}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Der in der 9. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Rechtsausschuss ({18}), dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19}) und dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20}) zur Mitberatung überwiesen werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Petra Hinz ({21}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Brain Waste stoppen - Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher Qualifikationen umfassend optimieren - Drucksache 17/123 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({22}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung des Parlamentarischen Kontroll- gremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgeset- zes - Drucksache 17/208 - - Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes - Drucksache 17/209 - Zunächst stimmen wir ab über den gemeinsamen An- trag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/208 auf Einsetzung des Gremiums. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer möchte gegen diesen Antrag stimmen? - Wer möchte sich der Stimme enthal- ten? - Damit ist das Parlamentarische Kontrollgremium einvernehmlich eingesetzt und die Mitgliederzahl des Gremiums auf elf festgelegt. Bevor wir nun zur Wahl der Mitglieder des Parlamen- tarischen Kontrollgremiums kommen, darf ich Sie für ei- nen Augenblick um Aufmerksamkeit für das Wahlver- fahren bitten. Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tä- tigkeit des Bundes ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich ver- eint, das heißt, wer mindestens 312 Stimmen erhält. Die Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis. Sie be- nötigen für diese Wahl Ihren blauen Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, bitte Ihrem Stimmkar- tenfach in der Lobby entnehmen. Achten Sie bitte da- Präsident Dr. Norbert Lammert rauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Namen trägt. Die blauen Stimmkarten wurden bereits oder werden noch im Saal verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Sie haben auf diesen Stimmkarten elf Stimmen. Auf der blauen Stimmkarte können Sie elf Namensvor- schläge ankreuzen. Ungültig sind die Stimmkarten, die andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Die Wahl findet offen statt. Sie können die Namens- vorschläge also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführerinnen und Schriftführern an den Wahlurnen Ihren Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Wahlurnen alle besetzt? - Offenkundig sind jetzt alle Urnen ordnungsgemäß besetzt. Dann er- öffne ich den Wahlgang. Darf ich fragen, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir geben das Er- gebnis der Wahl später bekannt.1) Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit wir in die weitere Tagesordnung eintreten können. - Darf ich darum bitten, dass auch die informellen Verhandlungen zwischen Parlament und Regierung auf der Regierungsbank jetzt wieder dem üblichen geordneten Verfahren Platz machen? Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie die Zusatzpunkte 2 bis 5 auf: 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 10./11. Dezember 2009 in Brüssel und zur UN-Klimakonferenz vom 7. bis 18. Dezember 2009 in Kopenhagen ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beitrittsverhandlungen mit Island aufnehmen - Drucksache 17/271 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({23}) Auswärtiger Ausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike 1) Ergebnis Seite 914 D Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte des Bundestages nach den Begleitgesetzen zum Vertrag von Lissabon wahren hier: Einvernehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island herstellen - Drucksache 17/260 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt der Republik Island zur Europäischen Union - Drucksache 17/246 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Vorschlag der spanischen Regierung für die Änderung der Verträge in Bezug auf die Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments - Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 EUV - Drucksache 17/235 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich darf dazu Einvernehmen feststellen. Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({24})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 1. Dezember 2009 hat für die Europäische Union, aber auch für uns alle eine neue Ära begonnen, denn der Vertrag von Lissabon ist in Kraft getreten. Das ist für mich, für uns und, ich glaube, für jeden überzeugten Europäer ein Grund zur Freude. Lange genau hat es gedauert, dass wir an dieser neuen Vertragsgrundlage gearbeitet haben. Mit diesem Vertrag haben wir das am 25. März 2007 in der Berliner Erklärung gesteckte Ziel erreicht. Die Europäische Union steht jetzt auf einer erneuerten gemeinsamen Grundlage. Sie kann ihre ganze Kraft auf die großen politischen Herausforderungen richten. Sie kann damit genau das leisten, was die Bürgerinnen und Bürger von ihr erwarten: Statt sich unentwegt mit sich selbst zu beschäftigen, kann sie nun die Aufgaben und Probleme unserer Zeit anpacken. Der neue ständige Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, hat uns beim Europäischen Rat in der vergangenen Woche seine Überlegungen zu seiner Aufgabenwahrnehmung vorgestellt. Er wird und will für größere Kontinuität im Europäischen Rat sorgen. Gerade das war die Intention, über die rotierenden Präsidentschaften hinaus einen Präsidenten für zweieinhalb Jahre zu haben. Er wird auch darauf achten, dass sich der Europäische Rat auf strategische Fragen konzentriert. Herman Van Rompuy hat für diese Neuausrichtung meine volle Unterstützung und die der ganzen Bundesregierung. Auch die neue Hohe Vertreterin der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union hat eine große Verantwortung. Catherine Ashton muss dafür sorgen, dass die Europäische Union in der Welt einiger auftritt. Dazu dient auch der neue Europäische Auswärtige Dienst; er ist eine der wichtigsten Neuerungen des Vertrages. Für die Bundesregierung haben sowohl der Bundesaußenminister als auch ich Catherine Ashton für den Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes persönlich die tatkräftige Unterstützung Deutschlands zugesichert. Das wird eine harte Aufgabe, sicherlich auch einmal spannungsgeladen zwischen der Kommission und den schon für das Auswärtige zuständigen Beamten dort und dem Recht der Mitgliedstaaten; aber wir sind gewillt, diesen Prozess konstruktiv zu begleiten. Meine Damen und Herren, mit dem Vertrag von Lissabon sind wir auch, was die Bedeutung der nationalen Parlamente in der Europapolitik und damit natürlich auch die Bedeutung des Deutschen Bundestages angeht, in einer neuen Ära angekommen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes haben wir auch die innerstaatlichen Informations- und Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat deutlich gestärkt. Es ist nun noch sichtbarer, als das früher schon der Fall war: Der Deutsche Bundestag trägt eine besondere Verantwortung für die Zusammenarbeit in Europa. Er soll wachsam verfolgen, ob die Organe der Europäischen Union die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wirklich achten. Notfalls hat er zu widersprechen. Ohne Zweifel ist das eine Aufgabe, deren Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Die Bundesregierung sagt Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe jede Unterstützung zu. ({0}) Der Deutsche Bundestag wird aber noch mehr leisten müssen: Über die Subsidiaritätsprüfung hinaus wird er sich stärker als früher mit den laufenden europäischen Gesetzesvorhaben auseinanderzusetzen haben und darüber debattieren müssen. Erst dann können die Bürgerinnen und Bürger Europa besser verstehen. Dann - davon bin ich überzeugt - kann es auch gelingen, Europa transparenter zu machen; denn wenn der Bundestag Europas Politik zu seinem Thema macht, erhöht er auch die Legitimität deutscher Europapolitik. Ich will das hier ausdrücklich sagen. ({1}) Wenn der Bundestag klar Stellung bezieht, dann unterstützt er auch die deutsche Verhandlungsposition in Brüssel. Über wichtige Gesetzesvorhaben in Brüssel muss auch hier in diesem Hause intensiver als vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages debattiert werden. Das gilt selbstverständlich auch für die Themen, die am 10. und 11. Dezember 2009 im Europäischen Rat verhandelt wurden, gerade auch für die Fragen hinsichtlich der Erweiterung der Europäischen Union. Hier haben wir als Bundesregierung stärkere Unterrichtungspflichten und Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestages gesetzlich verankert. Der Europäische Rat hat angekündigt, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island und mit Mazedonien im nächsten Jahr auf der Tagesordnung stehen wird. Die Frage, welche Länder zur Europäischen Union gehören sollen, betrifft alle Bürgerinnen und Bürger. Das muss sich auch in unseren Debatten widerspiegeln, und ich denke, das wird es auch tun. Meine Damen und Herren, über ein Jahr nach dem Zusammenbruch der amerikanischen Bank Lehman Brothers hat der Europäische Rat in der vergangenen Woche auch eine wirtschaftspolitische Standortbestimmung vorgenommen und Lehren aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gezogen. Heute können wir feststellen: Durch das entschlossene Eingreifen der Politik konnte Schaden von unserem Land und auch von den anderen Ländern der Europäischen Union abgewendet werden. Der Zusammenbruch unserer Wirtschaft wurde verhindert - nicht mehr und nicht weniger. Es kann aber gar nicht oft genug gesagt werden: Die Krise ist keineswegs überwunden. Die einsetzende Erholung ist noch fragil, und deshalb werden wir die bis Ende 2010 angelegten Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung ohne Abstriche umsetzen. Deren Wirkung wird dann auch aus einer klaren Ausstiegsstrategie gespeist, über die wir auch schon gesprochen haben. Dabei wird sich Deutschland eng mit seinen Partnern abstimmen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Ganz besonders mit Blick auch auf den amerikanischen Markt sage ich, dass wir hier noch harte Verhandlungen vor uns haben, um zu einer gemeinsamen ExitStrategie im Rahmen der G 20 zu kommen. Für uns ist die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel auf der einen Seite genauso maßgeblich wie der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt auf der anderen. Wir sehen in Europa derzeit ganz deutlich, dass die Logik des Pakts bestätigt wird: Stabilität ist die Grundlage für Wachstum und Wohlstand. Der Pakt bildet den entscheidenden Rahmen, um das Vertrauen von Privathaushalten, Investoren und Anlegern in die öffentlichen Finanzen und die Stabilität des Euro zu sichern. Ich sage auch mit Blick auf einzelne Länder mit sehr hohen Defiziten: Jeder einzelne Mitgliedstaat ist verantwortlich für gesunde öffentliche Finanzen. ({2}) Das ist die Voraussetzung für langfristiges Wachstum für alle in Europa. An dieser Stelle will ich noch einmal darauf hinweisen, dass Deutschland in diesem Jahr mit einem gesamtstaatlichen Defizit von um die 3 Prozent - wir können es noch nicht genau sagen - in Europa eine Spitzenposition einnimmt. Das sollte in diesem Hause bei mancher Diskussion über die finanzielle Lage einmal berücksichtigt werden. Wir haben ganz andere Sorgenkinder in Europa. ({3}) Wir werden unsere Aufgaben zu erledigen haben. Für Deutschland heißt das, dass wir - ich zitiere aus den Empfehlungen des Rates der Wirtschafts- und Finanzminister vom 2. Dezember 2009 - 2011 mit der Konsolidierung zu beginnen und das übermäßige Defizit bis Ende 2013 zu beenden haben. Das bedeutet für uns: Unser Haushaltsdefizit muss dann wieder unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, wie es im Stabilitätsund Wachstumspakt für normale Zeiten vorgeschrieben ist. Meine Damen und Herren, wir werden die europäische Wachstumsstrategie, die bislang Lissabonner Strategie genannt wurde, nunmehr aber einen anderen Namen trägt, weil wir einen Lissabonner Vertrag haben - die Strategie heißt jetzt „EU 2020“ -, neu ausrichten. Darüber haben wir eine erste lebhafte Diskussion geführt. Wir haben im Augenblick im Rahmen der bisherigen Lissabon-Strategie 20 Ziele, von denen wir annehmen, dass sie kaum einer kennt und aufsagen kann. Deshalb wollen wir uns auf wenige klare Ziele konzentrieren: Erstens. Wir müssen Bedingungen schaffen, die unternehmerisches Handeln in Europa stärker fördern. ({4}) Zweitens. Wir müssen unsere Forschungs- und Innovationskapazitäten stärken. Drittens. Wir müssen den Übergang in eine kohlenstoffarme Wirtschaft organisieren, um die Klimakatastrophe zu vermeiden, aber auch, um moderne Exportchancen in der Europäischen Union zu stärken und zu entwickeln. Frühestens beim Europäischen Rat im Frühjahr 2010 werden wir dazu weitere Entscheidungen treffen. Es wird im Februar auch noch einen informellen Sonderrat dazu geben. Ich weiß, dass das ein ambitionierter Zeitplan ist. Aber wegen der Wirtschaftskrise ist es unabdingbar, sich rasch auf eine wirksame Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union zu verständigen. Wir haben uns beim Europäischen Rat auch erneut mit den Ursachen der Finanzmarktkrise befasst, um die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Wir sind uns einig: Eine solche Krise darf sich nicht wiederholen. Deshalb wurde die neue Architektur der europäischen Finanzaufsicht beschlossen und vom Rat noch einmal begrüßt. So wird die Kohärenz der nationalen Aufsicht verstärkt. Die neuen EU-Behörden können auch grenzüberschreitende Finanzgruppen besser beaufsichtigen. Das Europäische Parlament wird sich als Mitgesetzgeber jetzt damit befassen. Wir hoffen, dass die neue Finanzaufsicht schon im Laufe des kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen kann. Auch wenn es dem einen oder anderen inzwischen kaum noch passt, so haben wir beim Europäischen Rat dennoch zum wiederholten Male unterstrichen, dass eine Verantwortung für die Gesellschaft auch von den Banken getragen werden muss. ({5}) Das Verhalten an vielen Finanzplätzen lässt nicht darauf schließen, dass wir noch vor etwas mehr als einem Jahr vor einem wirklichen Abgrund standen. Auch wenn wir inzwischen die Talsohle der Krise erreicht haben, können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir entlassen die Banken nicht aus ihrer Verantwortung. Nach der Krise darf es nicht mehr so sein wie vor der Krise. Das ist nicht nur eine finanzpolitische Frage; das ist auch eine moralische Frage. Denn verantwortungsvolles Wirtschaften ist eine der unverzichtbaren Grundlagen unserer sozialen Marktwirtschaft. ({6}) Deshalb hat der Europäische Rat noch einmal das wiederholt, was wir schon auf dem G-20-Gipfel festgelegt haben, nämlich den Internationalen Währungsfonds zu bitten, bei der Erarbeitung von Konzepten zur Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Krisenbewältigung auch die globale Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen zu prüfen. Wir hoffen, dass uns auf dem G-20-Gipfel dafür Vorschläge gemacht werden. So etwas geht nur global. Es geht auf gar keinen Fall national oder innerhalb der EU. Aber es kann auch nicht so sein, dass alles einfach so weitergeht wie vorher, und wir müssen hier Lösungen finden. ({7}) Beim Europäischen Rat haben wir auch die Schwerpunkte der Justiz- und Innenpolitik für die nächsten fünf Jahre in Form des Stockholmer Programms festgelegt. Hier geht es vor allen Dingen darum, eine vernünftige Balance von Bürgerrechten, Sicherheit und Mobilität zu finden. Darauf hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen stets Wert gelegt, und ich glaube, wir können sagen: Wir haben dieses Ziel erreicht. Mit dieser Ausrichtung an den Rechten, den Bedürfnissen und den Interessen der Menschen kommen wir unserem Ziel eines bürgernahen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein großes Stück näher. Natürlich ist die Balance zwischen Sicherheit auf der einen Seite und Standards der Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite keine Frage eines Entweder-oders, sondern es muss uns gelingen, ein Sowohl-als-auch zu finden. Dabei wird Deutschland immer wieder um diese Balance ringen. Europa soll sicherer werden. Die Polizeibehörden werden in Zukunft enger zusammenarbeiten. Damit stärken wir auch europaweit die Bürgerrechte. Ich denke, das ist der richtige Weg. Nun kann ich diese Regierungserklärung nicht halten, ohne auf den Hauptpunkt des Europäischen Rates zu kommen, der heute und morgen eine entscheidende Rolle spielen wird. Das sind die Vorbereitung und die Durchführung der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen. Ich werde heute Mittag dorthin fahren. Die Nachrichten, die uns erreichen, sind nicht gut. Es ist im Augenblick kein vernünftiger Verhandlungsprozess in Sicht. Aber ich hoffe natürlich, dass die Anwesenheit von über 100 Staats- und Regierungschefs der ganzen Veranstaltung den Impuls gibt, der notwendig ist. Ich glaube, diese Kopenhagener Konferenz ist der herausragende Prüfstein dafür, ob es uns gelingen wird, einen neuen Pfad der globalen Entwicklung, einen überzeugenden Kurs der Nachhaltigkeit einzuschlagen. Viele Menschen auf der Welt werden auf uns schauen, ob dies gelingt und ob wir eine Lösung finden. ({8}) Wenn wir jetzt nicht - das ist unsere Überzeugung die notwendigen Weichenstellungen vornehmen, riskieren wir dramatische Schäden. Das wird dann besonders die ärmsten Staaten treffen. Aber keiner wird davon verschont sein. Es wird immer wieder so getan, als kostete der Klimaschutz viel Geld, aber selten darüber gesprochen, was Nichthandeln kostet. Alle wirtschaftlichen Berichte sagen uns klar voraus: Wenn es uns nicht gelingt, die Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, dann werden die Kosten für die eintretenden Schäden um ein Vielfaches höher sein als das, was wir mit einer Änderung unserer Lebensweise jetzt erreichen können. Das ist die Grundlage, auf der wir arbeiten. ({9}) Deshalb brauchen wir erstens eine für alle Staaten geltende Verpflichtung zur Einhaltung des 2-GradZiels, das heißt die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf maximal 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau. Gelingt es nicht, dies für alle als geltende Verpflichtung zu erreichen, dann, muss ich sagen, ist die Klimakonferenz in Kopenhagen gescheitert. Zu dieser Stunde weiß ich nicht, ob das gelingt. Ich darf Ihnen aber sagen: Ich werde zusammen mit unserem Umweltminister alles versuchen, dass es gelingt. Ich denke, wir haben die Unterstützung dieses Hohen Hauses dafür. ({10}) Die Verpflichtung auf das 2-Grad-Ziel bedeutet konkret, dass die Emissionen von Treibhausgasen bis 2050 im Vergleich zu 1990 mindestens halbiert werden müssen. Für die Industriestaaten heißt das, dass sie ihren Ausstoß bis 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren müssen. Das ist eine gewaltige Herausforderung. Zweitens. Wir müssen den Nachweis führen, dass wir schon heute einen Pfad einschlagen, auf dem wir dieses Langfristziel erreichen können; denn den Fortschritt im Klimaschutz können wir nicht erst 2050 bemessen. Wir brauchen vielmehr mittelfristige Ziele, das heißt vor allen Dingen verbindliche und quantitative Ziele für 2020, gegebenenfalls auch für die Zeit danach. Gemessen an den Empfehlungen des Klimarates, sind die bisherigen Zusagen der Industriestaaten noch nicht ausreichend. Der Klimarat sagt uns, dass wir bis 2020 schon an einem Punkt angekommen sein müssen, wo wir zwischen mindestens 25 Prozent und 40 Prozent Reduktion haben müssen. Aber wir sind bei den Zusagen noch nicht einmal bei den 25 Prozent angekommen. Es gibt allerdings - das will ich hier nicht verhehlen - bei vielen Industriestaaten im Laufe der letzten zwölf Monate deutliche Bewegungen. Aber diese reichen noch nicht aus. Die Europäische Union steht nach wie vor zu ihrem Angebot, die Emissionen bis 2020 um 20 Prozent zu verringern. Falls sich die anderen Staaten vergleichbare Ziele setzen, sagen wir: Wir können eine Minderung um 30 Prozent erreichen. Es fehlt im Augenblick nur an Angeboten der anderen Staaten. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ein Angebot der Vereinigten Staaten von Amerika zum Beispiel von minus 4 Prozent, bezogen auf 1990, ist an dieser Stelle nicht ambitioniert genug. ({11}) Drittens. Die Einigung von Kopenhagen muss auch die Klimaschutzmaßnahmen der großen Schwellenländer umfassen. Natürlich haben wir Industrieländer eine besondere Verantwortung. Wir müssen vorangehen. Wir tun dies auch. Deutschland hat immer wieder betont: Wir können 40 Prozent Reduktion bis 2020 schaffen. Wir wollen auch unserer besonderen Verantwortung als Hauptverursacher des Klimawandels in der gesamten Industriezeit gerecht werden. Aber richtig ist auch: Seit Verabschiedung der Klimarahmenkonvention im Jahre 1992 in Rio hat sich die Welt völlig verändert. Die Gewichte in der Weltwirtschaft haben sich erheblich verschoben. Ein globales Regime für die Begrenzung der Treibhausgase kann Länder wie China und Indien nicht ausklammern. China ist jetzt der größte Emittent weltweit und hat die Vereinigten Staaten von Amerika in diesem Jahr überholt. Selbst wenn wir in den Industrieländern die Treibhausgasemissionen um 100 Prozent reduzieren würden, die Schwellenländer aber einfach so weitermachen würden, wie sie es heute machen, würden wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen können. Dem müssen wir Rechnung tragen. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, dass in einem ersten Schritt der Zuwachs der jährlichen Emissionen der Schwellenländer begrenzt werden muss. Das wird in Verpflichtungen der Schwellenländer zum Teil in Form von Erhöhung der Energieeffizienz auch deutlich. China hat zum ersten Mal eine quantitative Verpflichtung auf den Tisch gelegt, die Energieeffizienz um 40 bis 45 Prozent zu erhöhen. Allerdings reicht das überhaupt nicht aus, weil es letztlich bei einem Wirtschaftswachstum von etwa 9 Prozent jährlich eine Reduktion um 1,5 Prozent ist. Daran sieht man, wie diese Lücke weiter aufgeht. Daran müssen wir noch weiter arbeiten. Spätestens 2020 brauchen wir auch von den Schwellenländern Reduktionsziele. Ansonsten können wir das Gesamtziel nicht erreichen. Viertens. Wir wissen, dass wir verlässliche Finanzierungsmechanismen zur Bekämpfung des Klimawandels, aber auch zum Technologietransfer brauchen. Deshalb brauchen wir einen schnellen Beginn. Die Europäische Union wird ihren Anteil an 10 Milliarden Dollar oder 7 Milliarden Euro leisten. Das haben wir auf dem EU-Rat beschlossen. Auch Deutschland leistet seinen Anteil. Aber wir brauchen vor allen Dingen einen langfristigen Finanzierungsmechanismus; denn ansonsten werden wir in Kopenhagen keinen Erfolg haben. Die Europäische Union hat sich zu diesen langfristigen finanziellen Zusagen bekannt. Das will ich ausdrücklich sagen. Aber den Entwicklungsländern reicht es natürlich nicht, wenn andere Staaten, zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika oder auch Japan, an dieser Stelle keinen Beitrag leisten. So wird es jetzt in den letzten Stunden der Kopenhagener Konferenz um das Thema Reduktion auf der einen Seite gehen, aber auf der anderen Seite vor allen Dingen darum, einen langfristigen Finanzierungsmechanismus zu finden, mit nur dessen Hilfe wir aus meiner Sicht erreichen können, dass sich alle zum 2-Grad-Reduktionsziel bekennen. Um diese Dinge muss es gehen. ({12}) - Herr Trittin, ich nehme Sie gerne mit. Wenn Sie andere überzeugen, ist es sehr schön. Ich werde mir allergrößte Mühe geben und auch herzliche Grüße von allen Fraktionen dieses Hauses ausrichten. Mal sehen, was es nützt. ({13}) Fünftens und letztens. Wir müssen uns in Kopenhagen über das Mandat und den Zeitplan für die Überführung der Kopenhagen-Ergebnisse in ein rechtlich verbindliches Abkommen verständigen. Hierbei wird vor allen Dingen notwendig sein - das ist ein großer Diskussionspunkt mit den Schwellenländern -, dass es einen einheitlichen internationalen Verifizierungs-, also Überprüfungsmechanismus gibt; denn es kann nicht sein, dass jeder eine Verpflichtung auf den Tisch legt, die nicht nach einheitlichen Maßstäben überprüft wird. Ich glaube, wir könnten es schaffen, bis Mitte des Jahres 2010 ein solches Abkommen zu erreichen. Auf jeden Fall muss es schnell gehen. Ich bin der festen Überzeugung: Klimaschutz ist auch bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise einer der Faktoren, die dazu beitragen, dass die Welt sagen kann: Wir haben die Lehren aus dieser weltweiten internationalen Krise gezogen. So wie wir bei G 20 gezeigt haben, dass es uns möglich ist, international zu kooperieren, bietet die Klimakonferenz jetzt die Chance, nicht nur mit 20 Staaten, sondern mit allen UN-Mitgliedstaaten zu zeigen: Jawohl, wir haben die Lektion verstanden. Es gibt eine Vielzahl von Problemen, die wir nur international gemeinsam lösen können. Deutschland ist bereit, hierzu seinen Beitrag zu leisten. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland hat eine große Tradition als treibende Kraft auf Klimaschutzkonferenzen. Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass Sie diese Rolle heute und morgen in Kopenhagen wieder übernehmen, und wir wünschen Ihnen dabei viel Erfolg. Ich erwähne das ausdrücklich, weil diese Bundesregierung zum ersten Mal zu einer Klimaschutzkonferenz fährt, ohne einen gemeinsamen beschlossenen Auftrag des Deutschen Bundestages für ihre Position zu haben. Der Grund dafür ist der Affront, den Bundesminister Niebel in der letzten Sitzungswoche hier vorbereitet hatte. Er hat in diesem Auftrag festschreiben lassen, dass Deutschland seine finanziellen Zusagen zum Klimaschutz abzieht von schon gemachten Zusagen zur weltweiten Armuts-, Hunger- und Seuchenbekämpfung. ({0}) Diesen brutalen Wortbruch haben wir im Plenum abgelehnt, und deswegen gibt es keinen gemeinsamen Auftrag. ({1}) Wir freuen uns über den breiten Widerstand in Deutschland gegen diesen Versuch, zwei Menschheitsherausforderungen gegeneinander auszuspielen. Wir haben erwartet, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie gemeinsam mit Bundesminister Röttgen Herrn Niebel in den Arm gefallen wären. Leider haben Sie nur zugeschaut. In Kopenhagen warten jetzt zwei Herausforderungen: Erstens: die Zurückhaltung der beiden größten Emittenten, USA und China. Die USA sind mit nur gut 4 Prozent der Weltbevölkerung für über 20 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. In der Tat, im Kongress wird schon über den Vorschlag des Präsidenten gestritten, obwohl dieser Vorschlag nur ein Zehntel der deutschen Klimaschutzverpflichtungen erfüllt. Wer Führungsmacht in der Welt bleiben möchte, muss auch führend darin sein, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Wir erkennen an, dass in den USA beim Klimaschutz manches in Bewegung gekommen ist. Der Größe der Herausforderung wird dieses Land nicht gerecht. Anders, aber nicht weniger wichtig ist der Fall China. Er ist exemplarisch für die großen Schwellenländer. Das Land China hat längst Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz und zum Klimaschutz ergriffen. Aufgrund des hohen Wachstums explodieren die Treibhausgasemissionen trotzdem. Das chinesische Angebot von 40 Prozent weniger Treibhausgasausstoß pro Einheit Bruttoinlandsprodukt reicht nicht; sonst hätte China bis 2020 Länder wie Deutschland auch beim Pro-Kopf-Ausstoß weit überholt. Das würde zur Erreichung des 2-Grad-Ziels nicht ausreichen. Wir erwarten daher eine schnellere Reduzierung des Anstiegs der Emissionen. Außerdem braucht es einen Zeitpunkt in den nächsten zehn Jahren, ab dem die Emissionen in großen Schwellenländern absolut sinken. China muss diesen Umstieg aber wesentlich schneller bewältigen, als es die alten Industriestaaten getan haben; deswegen hat China einen Anspruch auf technologische und finanzielle Unterstützung. Was für China gilt, gilt für die anderen Schwellen- und Entwicklungsländer, vor allem für die ärmsten Länder der Welt, umso mehr. Die zweite Herausforderung in Kopenhagen besteht darin, die Schwellen- und Entwicklungsländer zu überzeugen, uns beim Kampf gegen den Klimawandel, den sie nicht verursacht haben, zu unterstützen. Dafür sind Glaubwürdigkeit und die Bereitschaft, sich finanziell ausreichend zu engagieren, notwendig. ({2}) Diese Glaubwürdigkeit und diese Bereitschaft waren traditionell die deutschen Stärken auf Klimaschutzkonferenzen. Diese Stärken sind noch da; aber sie sind durch Fehler in den letzten Wochen beschädigt worden, allen voran durch Bundesminister Niebel, der sich selber zum Klimaschutzminister erklärt hat, aber gegenteilig handelt. ({3}) Ich nenne ein weiteres Beispiel dafür. Deutschland hat angeboten, 420 Millionen Euro jährlich als Anschubfinanzierung für diesen Umstieg der Schwellen- und Entwicklungsländer zur Verfügung zu stellen. Das sind 420 Millionen Euro jährlich für eine Aufgabe, die Bundesminister Röttgen an dieser Stelle am 3. Dezember 2009 als Überlebensfrage bezeichnet hat, 420 Millionen Euro für eine Aufgabe, bei der es nach Ihren Worten, Frau Bundeskanzlerin, um die Grundlagen unseres Lebens geht. Diese Aufgabe ist also 420 Millionen Euro wert. Allein die Subvention für einige Lobbyisten von Hotelketten ist Ihnen jährlich das Drei- bis Fünffache wert. ({4}) Da werden Sie heute und morgen in Kopenhagen nachlegen müssen. Stellen Sie bitte endlich klar, dass Deutschland sowohl zu seiner Zusage steht, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Armutsbekämpfung zu geben, als auch zu seiner Zusage, zusätzlich - ich wiederhole: zusätzlich - die Gelder für den Klimaschutz zur Verfügung zu stellen. ({5}) Diese dauernden „Niebel-Kerzen“ sind für Deutschland und für Kopenhagen eine Belastung. Diese Zusagen stammen nicht nur von Deutschland, sondern von Ihnen persönlich, Frau Bundeskanzlerin: 1997 im Rahmen der Konferenz von Kioto und 2007 im Rahmen der Konferenz von Bali in Ihren jeweiligen Funktionen. Zu diesen Zusagen gehört natürlich auch der Verzicht auf den Trick, die Ausgaben, die deutsche Firmen zur Erfüllung ihrer Klimaschutzaufgaben für Projekte im Ausland ausgeben, ein zweites Mal als Ausgaben für den internationalen Klimaschutz aufrechnen zu lassen. Diese Tricks haben die Entwicklungs- und Schwellenländer längst durchschaut und haben sie zu Recht satt. ({6}) Ich darf aus der Frankfurter Rundschau vom vergangenen Montag zitieren: Frau Merkel hat zwei Gesichter. Sie ist zu Hause eine große Ökologin, aber wenn es ums Geld für den Klimaschutz geht, steht sie auf der Bremse. Dieses Zitat stammt von Lumumba Di-Aping, dem Sprecher der G 77 genannten Gruppe der Entwicklungsländer. So erschreckend wird Deutschland mittlerweile wahrgenommen. Kopenhagen kann aber nur zum Erfolg werden, wenn die Entwicklungs- und Schwellenländer uns vertrauen. Deswegen muss Schwarz-Gelb im Klimaschutz wieder zum bewährten deutschen Konsens zurückfinden. ({7}) Ich habe Ihnen gut zugehört, Frau Bundeskanzlerin, als Sie über verlässliche Finanzierungsinstrumente gesprochen haben. Ich habe diese Aussage als eine Absage an die Absage von Herrn Niebel an diese Finanzierungsinstrumente verstanden. Diese erneute Zurechtweisung war dringend notwendig. Mit diesen unsinnigen und gefährlichen Alleingängen der letzten Wochen und Monate, mit dem öffentlich verkündeten Aus für die Zusammenarbeit im Klimaschutz mit China - jetzt soll sie 2010 kleinlaut auf Sparflamme fortgesetzt werden -, mit dem Verrechnen von Klimaschutz und Armutsbekämpfung und jetzt mit der Absage durch den dafür zuständigen Minister an Finanzierungsinstrumente für Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz haben Sie der Konferenz in Kopenhagen und Deutschland schwer geschadet. ({8}) Ihnen ist es zu verdanken, dass Deutschland auf einer Klimaschutzkonferenz erstmals mit dem peinlichen Negativpreis „Fossil of the day“ von etwa 450 Klimaschutzorganisationen ausgezeichnet wurde. Das war im Vorreiterland Deutschland beim Klimaschutz bisher undenkbar. ({9}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es in der Hand, morgen und übermorgen die Fehler von Schwarz-Gelb und die Fehler von Herrn Niebel wieder auszugleichen, wenn Sie Ihre Zögerlichkeit in dieser Frage aufgeben, die Sie überraschenderweise in den letzten Wochen gezeigt haben, nicht in der Zeit zuvor. Wenn Sie zu diesem bewährten deutschen Konsens zurückkehren, kann Deutschland helfen, Kopenhagen doch noch zu einem Erfolg für den Klimaschutz zu machen. Wir hoffen darauf. Wir wünschen Ihnen dabei besten Erfolg. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser erste Europäische Rat nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon war wichtig. Ich freue mich darüber, dass das Ziel, für das die FDP seit langem eingetreten ist, nämlich die EU demokratischer und handlungsfähiger zu machen, mit dem Vertrag von Lissabon ein großes Stück vorangekommen ist. ({0}) Nun gilt es allerdings auch, dass die neuen Spielregeln mit Leben erfüllt werden. Wir haben jetzt beispielsweise neu eine Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik. Das Ziel muss sein, dass Europa nach außen mit einer Stimme spricht. Es hat sich gerade in den letzten Wochen, gerade in der Vorbereitung auf die Konferenz von Kopenhagen, sehr deutlich gezeigt, wie wichtig das ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir beim Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes vorankommen und gemeinsam alles dafür tun, dass die Europäer weltweit gemeinsam auftreten. ({1}) Wir als Deutscher Bundestag haben jetzt auch mehr Informations- und Beteiligungsrechte. Das ist wichtig. Wir haben damit in diesem Hause auch eine größere Verantwortung für Europa. Das bedeutet, dass es notwendig ist, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag frühzeitig informiert. Ich bin dankbar, dass die Bundeskanzlerin hier heute Morgen diese Zusage gemacht hat. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben deutlich gemacht, dass Sie erwarten, dass der Deutsche Bundestag seine Verantwortung wahrnimmt. Ich kann Ihnen sagen: Wir werden unsere Verantwortung mit Sicherheit wahrnehmen. Wir werden sehr genau auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten. Das ist wichtig, auch für die Akzeptanz der Europapolitik bei den Bürgerinnen und Bürgern. ({3}) Wir beginnen damit bei den Schwerpunktthemen, die auf diesem Europäischen Rat beschlossen worden sind. Zunächst einmal ist da die europäische Wachstumsstrategie zu nennen. Die Europäische Kommission soll vor dem nächsten Europäischen Rat im Frühjahr ein Arbeitsdokument in Nachfolge der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung vorlegen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben hier heute Morgen schon gesagt, dass dieses Dokument anders heißen soll. Das ist gut so. Wir sind aber der Meinung, dass es künftig auch einen neuen Inhalt braucht. Mehr Wachstum und Beschäftigung bekommen wir nicht durch mehr staatliches Handeln, sondern dadurch, dass wir für bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen und damit für mehr Arbeitsplätze in Deutschland und Europa sorgen. ({4}) Deshalb darf es nicht um eine staatsgelenkte Industriepolitik, um Subventionitis und Umverteilung gehen, ({5}) sondern es muss darum gehen, ein besseres Umfeld zu schaffen durch bessere steuerliche Voraussetzungen, durch verbesserte Bildungs- und Forschungspolitik, durch die Ermöglichung von unverfälschtem Wettbewerb im Binnenmarkt und auch dadurch - ich sage das hier ganz ausdrücklich -, dass die Bemühungen zum Bürokratieabbau auf europäischer Ebene verstärkt werden. All das sind Punkte, die umgesetzt werden müssen. ({6}) Frau Bundeskanzlerin, die EU-Kommission hat ja auch den Auftrag erhalten, einen Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms zur EU-Justizund -Innenpolitik vorzulegen. Auch dazu haben Sie gesprochen. Ich sage Ihnen: Wir werden unsere Kontrollfunktion sehr genau wahrnehmen. Die FDP ist bei diesem Punkt der Meinung, dass es bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zum Beispiel im Rahmen von Europol vor allem darauf ankommt, dass ein hohes Datenschutzniveau sichergestellt und eine klare Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten vorgenommen wird. Das sind Dinge, auf die wir achten müssen, wenn in Europa die entsprechende Strategie beschlossen wird. ({7}) Das gilt auch für die Klimakonferenz in Kopenhagen. Diese Klimakonferenz ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einem verbindlichen Klimaabkommen. In der Tat müssen uns die Nachrichten, die uns zurzeit aus Kopenhagen erreichen, sehr traurig stimmen. Ich habe gerade eben eine Eilmeldung gelesen, nach der die dänische Regierung angeblich das Ziel eines umfassenden Abkommens aufgegeben hat. Das halte ich für bedenklich. Wir hätten uns gewünscht, dass es bereits jetzt in Kopenhagen zu einem verbindlichen Klimaabkommen kommt. Wenn das nicht gelingt, müssen wenigstens verbindliche Kernpunkte in Kopenhagen vereinbart werden. Es muss alles dafür getan werden, dass die Chance, die dieses Mal tatsächlich da ist, nachdem die USA einen Strategiewechsel in der Klimapolitik vollzogen haben, genutzt wird. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass sich vonseiten der Bundesregierung in Kopenhagen nicht nur der Umweltminister, sondern, Herr Kelber, auch der Entwicklungshilfeminister - dieser hat ja schon an der Konferenz teilgenommen ({8}) und ab heute auch die Bundeskanzlerin engagieren, die sich dann noch einmal dafür einsetzen wird, das umzusetzen. ({9}) Ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Deutschland kann glaubwürdig verhandeln. Unsere Koalition hat der Bundesregierung den Rücken gestärkt, indem wir in der letzten Sitzungswoche im Deutschen Bundestag einen Beschluss gefasst haben, der an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. ({10}) Die Selbstverpflichtung Deutschlands, Herr Kelber, bis 2020 die CO2-Emissionen auf nationaler Ebene um 40 Prozent zu reduzieren, auch wenn andere nicht so weit gehen, stellt ein CO2-Minderungsziel dar, das so klar noch niemals zuvor vom Deutschen Bundestag beschlossen worden ist, auch nicht während Ihrer Regierungszeit. ({11}) Darüber hinaus haben wir beschlossen, dass die Industrieländer eine Reduktion der CO2-Emissionen von mindestens 80 Prozent bis 2050 anbieten sollen. Das ist ein Entgegenkommen und ein Signal an die Entwicklungs- und Schwellenländer. Ebenso ist es ein wichtiges Signal, dass der Europäische Rat beschlossen hat, dass die EU-Mitgliedstaaten die Bemühungen der Entwicklungsländer beim Klimaschutz mit 2,4 Milliarden Euro per annum unterstützen. Das alles sind deutliche Signale, dass wir etwas erreichen wollen. Das wird auch anerkannt und ernst genommen. ({12}) Jetzt komme ich zu dem Vorwurf, den Sie hier gerade vorgetragen haben, Dirk Niebel würde diese Strategie in irgendeiner Weise konterkarieren. Ich will Ihnen nur einmal sagen, lieber Herr Kelber: Der Versuch in Ihrer Rede, die im Wesentlichen darin bestanden hat, sich am Entwicklungshilfeminister abzuarbeiten, ist jedenfalls keine glaubwürdige Strategie der SPD für eine Klimaschutzpolitik. ({13}) Entgegen dem, was Sie hier gesagt haben, werden die Gelder eben nicht mit der bisherigen Entwicklungshilfe verrechnet. Mit den Zusagen, die Deutschland im Europäischen Rat gemacht hat, stehen zusätzliche finanzielle Mittel für den Klimaschutz zur Verfügung. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Das, was Sie hier vorgetragen haben, sind Ausreden; denn Sie sind - anders als wir in der Vergangenheit - aus der Opposition heraus nicht bereit, Verantwortung mit zu übernehmen, und das gilt auch für die internationale Klimapolitik. ({14}) Wenn Sie hier über dieses Thema reden, lieber Herr Kelber, dann sagen Sie der interessierten Öffentlichkeit bitte auch, dass Klimaschutzmittel immer, wenn Sie an der Regierung beteiligt waren, selbstverständlich auf die ODA-Quote angerechnet worden sind. Das war bei Ihnen so, und das werden wir nicht ändern. Diese Mittel werden dazu beitragen, dass wir dem 0,7-Prozent-Ziel, das Sie eingefordert haben, näher kommen. Zur Wahrheit gehört auch, Herr Kelber, dass dieses 0,7-ProzentZiel seit den 70er-Jahren nicht erreicht wurde, auch nicht in den elf Jahren unter einer sozialdemokratischen Entwicklungshilfeministerin. ({15}) Das Ziel, in Kopenhagen weitere Länder ins Boot des internationalen Klimaschutzes zu holen, ist nicht gegen, sondern nur mit wirtschaftlicher Vernunft zu erreichen. Deswegen ist es wichtig, dass Klimaschutz auf internationaler Ebene als Hightechthema intoniert wird, nicht als Verzichtserklärung, sondern als zukunftsorientiertes Wachstumsthema für die internationale Wirtschaft. ({16}) Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen die Koalition im Deutschen Bundestag und die Bundesregierung die Klimaschutzpolitik als ein gesamtpolitisches Ziel an, als ein Ziel, das nicht allein vom Umweltministerium verfolgt, sondern von der ganzen Bundesregierung unterstützt wird. Dieser Ansatz hat auch die Unterstützung der Koalition im Deutschen Bundestag. Wenn Sie das nicht mittragen wollen, dann verweigern Sie uns die Unterstützung ({17}) für eine internationale Klimapolitik, die darauf angelegt ist, international voranzukommen und endlich ein Nachfolgeabkommen zu erreichen. Das ist unser Ziel, und wir werden, auch wenn Sie uns nicht unterstützen, alles dafür tun, dieses Ziel zu erreichen. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kelber. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Homburger, Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass Kritik an Ihnen oder einem Minister Ihrer Partei nicht eine Kritik an der Sache ist, sondern auf die Fehler der jeweiligen Person gemünzt ist. Sie haben zwei Vorwürfe in meine Richtung gemacht. Erstens haben Sie gesagt, in Zeiten sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung seien die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit nicht so gestiegen, wie wir das jetzt von Ihnen einfordern. Ich möchte Ihnen dazu kurz zwei nackte Zahlen präsentieren. Die eine betrifft den realen Haushalt des entsprechenden Ministeriums in diesem Jahr, der unter einer sozialdemokratischen Ministerin um 700 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist. Im Haushaltsentwurf unter einem Minister Ihrer Regierung sind es - das ist die zweite Zahl 40 Millionen Euro. Das ist nicht einmal ein Inflationsausgleich. Allein diese zwei nackten Zahlen widerlegen Sie. Der zweite Punkt - der ist wichtig -: Sie versuchen hier ein Wortspiel. Deutschland hat Vereinbarungen unterschrieben, und es gibt persönliche Zusagen der Frau Bundeskanzlerin, dass wir für den Anstieg der Entwicklungszusammenarbeit zusätzliche Mittel für den Klimaschutz bereitstellen. Sie haben gerade gesagt, gegenüber dem bisherigen Stand der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit legten Sie etwas drauf. Das ist aber nicht einmal die Hälfte der Mittel, die wir zugesagt haben. Damit haben Sie den Vorwurf nur bestätigt: Sie wollen die Zusage, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen, nicht einhalten, sondern die Mittel verrechnen. Vielen Dank für diese Bestätigung. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Frau Kollegin Homburger. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kelber, ich habe Ihnen nicht vorgeworfen, dass es nicht einen entsprechenden Aufwuchs gegeben hätte. Ich habe Ihnen vorgeworfen, dass das 0,7-Prozent-Ziel auch in elf Jahren Amtszeit einer sozialdemokratischen Entwicklungshilfeministerin nicht erreicht worden ist. Das war der Vorwurf. Dieser Vorwurf ist und bleibt richtig, auch wenn Sie sich dagegen verwahren. ({0}) Ich habe deutlich gemacht, dass wir selbstverständlich zusätzliche Mittel in die Hand nehmen. Ich habe das unterstrichen, was international zugesagt worden ist. Wir werden sogar über das hinausgehen, was im Haushaltsentwurf im Augenblick etatisiert ist, und zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen. Denn beim Europäischen Rat wurden von deutscher Seite, von der Bundeskanzlerin über 70 Millionen Euro zusätzlich zugesagt. Das zeigt Ihnen, dass wir das, was wir versprochen haben, sehr wohl umsetzen. Es wird zusätzliche Mittel für den Klimaschutz geben. Im Entwicklungshilferessort sind allein dafür 1 Milliarde Euro eingestellt. Das ist eine Hausnummer, die auch Sie, lieber Herr Kelber, nicht leugnen können. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Streit zwischen Frau Homburger und Herrn Kelber höre ich zwar gerne. Das Problem ist aber, dass bisher keine Regierung - egal welche - auch nur in die Nähe der Marke gekommen ist, die wir uns einmal international gesetzt hatten, nämlich 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für wirksame Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. ({0}) Ich mache Ihnen einen Vorschlag, wie wir den Streit schlichten könnten: Wir beschließen gemeinsam - wenn nicht heute, dann meinetwegen im Januar -, dass wir in einem jährlichen Rhythmus die Mittel erhöhen, sodass wir in vier Jahren am Ende dieser Legislaturperiode sagen können: Jetzt stellt Deutschland 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für wirksame Entwicklungshilfe zur Verfügung. Das könnten wir doch machen. Dann brauchten Sie sich gar nicht mehr zu streiten. ({1}) Die Frau Bundeskanzlerin - sie spricht gerade mit Herrn Niebel - hat völlig recht, wenn sie sagt, dass die drohende Klimakatastrophe das Überleben der Menschheit gefährdet und dass es um Menschheitsfragen geht. Ich muss zunächst darauf hinweisen: Es ist schon interessant, zu sehen, wie sehr sich unsere Bundesländer für die Menschheitsfragen interessieren. Ich bitte Sie, einmal einen Blick auf die Bundesratsbank zu werfen. Dann können Sie feststellen, welches große Interesse unsere Bundesländer an diesen Menschheitsfragen haben. ({2}) Es ist wahr: Wenn die Klimakatastrophe eintritt, wird es unbeschreibliche Katastrophen geben, auch, aber nicht nur den Untergang von Inselstaaten. Die Bekämpfung der Klimakatastrophe ist ebenso wichtig wie der weltweite Kampf gegen Armut, Elend und Unterdrückung, gegen Tod durch Hunger und gegen Tod durch fehlende medizinische Versorgung. Herr Niebel, wenn Sie anfangen, das gegeneinander aufzurechnen, machen Sie die Menschheit kaputt. Das kann nicht unsere Herangehensweise sein. ({3}) Den Schaden hinsichtlich des Klimas haben die Industriestaaten im fossilen Industriezeitalter angerichtet. Also haben sie doch eine besondere Verantwortung. Der Treibstoff für die Klimakatastrophe waren und sind Erdöl und Erdgas. Es geht - das muss man sich eingestehen - um eine neue Produktions- und Konsumtionsweise, um neue Technologien. Es geht weltweit um die soziale Frage und in gewisser Hinsicht sogar um die Systemfrage. Menschen müssen ein Interesse am Schutz und am Erhalt ihrer natürlichen Lebensgrundlage haben. Die These, dass wir die Natur zerstören, ist falsch. Das können wir gar nicht; so stark ist der Mensch nicht. Ich gebe Ihnen einmal ein ganz anderes Beispiel: Sie wissen ja, dass der französische Staat seine Atomwaffenversuche immer im Ozean in der Nähe des Bikini-Atolls durchgeführt hat. Dort kann von uns keiner mehr hin, weil dieses Gebiet stark kontaminiert ist. ({4}) - Nun warte doch mal, Frau Künast. Du wirst das auch noch verstehen. ({5}) Dokumentaristen sind dorthin gefahren und haben einen Film gedreht, weil sie sich dafür interessierten, ob es dort noch Tiere und Pflanzen gibt. Da stellte sich Folgendes heraus: Der Mensch kann dort nicht mehr existieren; er braucht riesige Schutzanzüge. Alle Pflanzen und Tiere, die es früher gab, gibt es nicht mehr. Aber es gibt andere Pflanzen und Tiere, denen es nichts ausmacht, schwer kontaminiert zu sein. Was ich erklären will, ist: Die Natur können wir gar nicht zerstören. Aber wir können die Natur in einem Grade beschädigen, dass wir, die Menschen, hier nicht mehr existieren können. Das ist das Problem. Deshalb brauchte man nur einen einigermaßen klugen Egoismus. Schon das würde ausreichen, um endlich etwas für den Klimaschutz zu tun. Leider haben wir so viele doofe Egoisten, die nicht einmal das begreifen. ({6}) Es geht beim Klimaschutz um unsere Kinder, unsere Enkel, unsere Urenkel. Es geht um die Verhinderung von Flucht, von Armut, von Naturkatastrophen und von neuartigen Kriegen. Es gibt viele Unternehmen, die sich dabei wohlfühlen und auf den Klimaschutz hoffen, und zwar nicht nur aus egoistischen Interessen, weil sie sich sagen: „Dann geht es meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln besser“, sondern auch deswegen, weil sie regenerative Energien und neue Antriebstechniken herstellen sowie energiesparende Maschinen produzieren. Das heißt, sie brauchen genau diese Entwicklung. Dann gibt es andere Unternehmen und Unternehmensverbände, die immer vor zu viel Klimaschutz warnen, weil sie höhere Kosten befürchten, und sie drohen uns mit dem Abbau von Arbeitsplätzen etc. Daran wundert mich - das muss ich hier wirklich einmal sagen -: Selbst wenn man ein Boss ist, der nur an Profite denkt, man aber Kinder hat, dann will man doch, dass auch die Urenkel noch leben können. Angesichts einer Menschheitsfrage muss doch einmal das kurzfristige Interesse an einem riesigen Profit zurücktreten können. Man muss doch einmal sagen: Ich will, dass meine Enkel und Urenkel hier noch leben können. ({7}) Frau Bundeskanzlerin, warum können Sie diesen Bossen nicht einmal erklären, nicht kurzfristig, sondern langfristig zu denken? Selbst jemand, der den Kapitalismus ganz toll findet, kann ihn nur erleben, wenn es die Menschheit noch gibt. Ich begreife es überhaupt nicht, warum sie so uneinsichtig sind. ({8}) Herr Kauder, ich habe es mitbekommen: Die Wirtschaft entscheidet, was die Politik macht. ({9}) Aber es gibt Unterschiede in der Wirtschaft. Man muss sich ja nicht nach der kurzfristigen und dümmsten Wirtschaft richten, sondern könnte sich nach den Leuten richten, die etwas weitsichtiger sind. Ich sage es noch einmal: Es gibt einen doofen und einen intelligenten Egoismus. Es ist nicht hinnehmbar, dass der doofe regiert. ({10}) Im Übrigen haben viele verstanden, dass es um Menschheitsfragen geht. Deshalb gibt es gewaltige Demonstrationen, nicht nur, aber auch in Kopenhagen. Ich stelle fest, dass die Polizei dort massiv und robust gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vorgeht. Vielleicht wäre es richtiger, robust und massiv gegen diejenigen vorzugehen, die den Schutz des Klimas verhindern. ({11}) Eigentlich sollte in Kopenhagen ein Nachfolgeabkommen zum 2012 auslaufenden Kioto-Protokoll abgeschlossen werden. Es sieht heute nicht danach aus, als ob es zustande komme. Es geht ja nicht nur um neue Ziele für die Minderung des Ausstoßes von Klimagasen in Industrieländern. Es geht auch um Minderungsziele für die Schwellen- und die Entwicklungsländer - darauf haben Sie hingewiesen, Frau Bundeskanzlerin - und auch um die Finanztransfers an Entwicklungsländer. Es geht also nicht nur um Klimaschutz, sondern auch um die Anpassung an die Folgen der Klimawende. Wir haben jetzt eine Spaltung von Nord-Süd erlebt, wie wir sie so direkt, so unmittelbar und so einheitlich schon lange nicht mehr bei einer UNO-Konferenz erlebt haben. Das sollte uns sehr nachdenklich machen. Die Vorreiterrolle liegt hier eigentlich bei der EU, auch bei Deutschland und übrigens auch bei den USA. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin: Wenn das Ganze nicht funktio914 niert, liegt das auch an den völlig unzureichenden Vorschlägen aus der EU. Dafür tragen Sie eine Mitverantwortung. ({12}) Was hat die EU vorgeschlagen? Finanztransfers von 7,2 Milliarden Euro ab 2020. Das ist lächerlich. Die Weltbank, keine linke Einrichtung, hat gesagt: Es müssen 100 bis 150 Milliarden Euro jährlich sein. Aber nichts davon hat die EU beschlossen. Was hat die EU gesagt? Sie will den Klimagasausstoß um 20 Prozent reduzieren und unter bestimmten Bedingungen - Sie haben sie genannt - sogar um 30 Prozent. Jetzt sage ich Ihnen: Heute entsprechen 30 Prozent den 20 Prozent von vor der Krise. Es ist keine gewaltige Leistung, die dort angeboten wird. Wir brauchen ein Minderungsziel von 40 Prozent bis zum Jahre 2020 gegenüber 1990. Anders werden wir die Klimakatastrophe nicht verhindern. Wenn wir diese Reduzierung nicht hinbekommen, werden wir eine Erderwärmung erleben, die sich nicht auf 2 Grad begrenzen lässt, sondern bei 3,5 Grad oder, wenn alle so weitermachen wie bisher, sogar bei 6,5 Grad liegen wird, was zu unbeschreiblichen Katastrophen führen würde. Frau Bundeskanzler, Sie haben ein langfristiges Ziel für den Zeitraum bis zum Jahre 2050 formuliert. Wenn aber bei den Verhandlungen in Kopenhagen für den Zeitraum bis 2020 nichts herauskommt, dann ist die Konferenz schon gescheitert; denn das Ziel bis 2050 ist viel zu langfristig. Dann werden wir das Ziel hinsichtlich der Verhinderung der Erderwärmung nicht erreichen. Nun sprechen wir einmal von Deutschland und dem Ziel, die Emissionen im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent zu mindern. Ich habe nichts dagegen, dass Sie dieses Ziel verkünden; aber der Ehrlichkeit halber hätten Sie, Frau Bundeskanzler, noch erwähnen können, dass die Emissionsminderungen wegen der Deindustrialisierung des Ostens hervorragend gelingen können. Nur deswegen sind solche Ziele für Deutschland überhaupt zu erreichen. ({13}) Ich sage noch einmal: Bei den Zahlungen an die Entwicklungsländer kann es nicht um eine einmalige Zahlung gehen. Es kann auch nicht, wie Herr Niebel meint, um eine Zahlung gehen, bei der man etwas, was schon einmal versprochen wurde, einfach umtütet. Vielmehr muss es um jährliche Zahlungen gehen. Wozu dient der Finanztransfer? Der Norden muss den Süden dafür bezahlen, dass dieser weniger ausstößt, als bei ungebremster Entwicklung wahrscheinlich wäre. Dafür gewinnen wir hier im Norden Zeit, die wir brauchen, um den ganzen Strukturwandel abfedern zu können. Um es klar zu sagen: Es geht nicht um Almosen an Entwicklungsländer. Texas bläst heute noch so viel Treibhausgase in die Luft wie ganz Afrika; das ist die Wahrheit. Die Entwicklungsländer müssen mithilfe der Industriestaaten bei ihrer Energieversorgung - im Unterschied zu Europa und Nordamerika - die fossile Phase überspringen oder sie wenigstens schnell hinter sich lassen, damit sie in Zukunft nicht derartige Umweltschäden anrichten, wie sie durch Europa und Nordamerika bereits angerichtet worden sind. Es geht also um Hilfe für die Menschheit, um Hilfe für uns selbst. Schon deshalb ist jede Zurückhaltung skandalös. ({14}) Die Beseitigung der durch Überflutungen und Versalzungen der Böden verursachten Schäden ist viel teurer als das, was wir jetzt an Geld einsetzen müssten, um die Klimakatastrophe zu verhindern. Es ist also unser Eigeninteresse, wie es auch unser Eigeninteresse ist, zu verhindern, dass die großen Urwälder dieser Erde für immer verschwinden. Hier gibt es einmal ein konkretes Angebot von Ecuador. Wo bleibt denn da die Antwort der Bundesregierung? Ecuador hat einen riesigen Urwald, darunter liegt sehr viel Erdöl. Das Land hat nun die Möglichkeit, das Öl zu fördern; dann wäre es ökonomisch versorgt. Ecuador ist das erste Land, das der internationalen Gemeinschaft einen anderen Weg anbietet und sagt: Wir lassen den Urwald stehen, wenn ihr uns den Schaden zahlt, den wir dadurch haben, dass wir das Erdöl nicht gewinnen. Wo bleiben die Antworten? Ich muss sagen, dass Frau Wieczorek-Zeul zumindest noch freundliche, wohlwollende Briefe geschrieben hat; von Herrn Niebel wage ich das gar nicht zu erhoffen. Das ist das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich bin sofort fertig. Die USA müssen klare Verbindlichkeiten eingehen. Wenn die USA dies tun, wird es China auch tun. Herr Röttgen, ich sage Ihnen als Umweltminister eins: Wenn Sie so weitermachen und denken, neue Kohlekraftwerke und die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke lösten unsere Probleme, dann sage ich Ihnen: Das Ganze geht schief. ({0}) Sie haben von den erneuerbaren Energien nichts verstanden; das ist das Problem. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will ich das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Parla- mentarischen Kontrollgremiums bekannt geben. Ab- gegebene Stimmkarten 572, alle gültig. Enthalten haben sich drei Kolleginnen und Kollegen. Von den gültigen Stimmen entfielen auf Peter Altmaier 528, Clemens Präsident Dr. Norbert Lammert Binninger 525, Manfred Grund 526, Stefan Müller 511, Michael Hartmann 504, Fritz Rudolf Körper 503, Thomas Oppermann 486, Christian Ahrendt 526, Hartfrid Wolff 517, Wolfgang Nešković 294, Hans- Christian Ströbele 326 Stimmen.1) Die gerade von mir genannten Kolleginnen und Kollegen sind mit Ausnahme des Kollegen Nešković alle mit der erforderlichen Mehrheit gewählt, die ich vorhin mitgeteilt habe. ({0}) Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes ist die Mehrheit von 312 Stimmen erforderlich. Diese hat der Kollege Nešković nicht erreicht. Wir setzen die Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck. ({1}) - Das machen wir dann sofort anschließend. Dann fahren wir mit möglichen Geschäftsordnungsüberlegungen fort. Der Kollege Christian Ruck hat nun das Wort. Bitte schön. ({2})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, ich fand Ihre Ausführungen nicht nur platt und konfus, Sie sind auch erstaunlich wenig informiert, wenn es um bestimmte Details geht. Zum Beispiel ist die Diskussion über den Urwald in Ecuador, die wirklich stattgefunden hat, vollkommen an Ihnen vorbeigegangen, und auch mit den letzten Beschlüssen des EU-Rates sind Sie nicht wirklich vertraut. Ich kann mir den Hinweis nicht verkneifen, dass bei jeder Klimadebatte zunächst einmal die klimapolitischen Altlasten des real existierenden Sozialismus ausgeräumt werden mussten. Da hatten wir einiges zu tun. ({0}) Einen Tag vor dem Ende der Kopenhagener Konfe- renz ist es in der Tat noch nicht klar, ob wir zu einem Abschluss kommen. Der Erfolg steht auf Messers Schneide. Es sind noch dicke Bretter zu bohren. Ich möchte die dänische Präsidentschaft ausdrücklich bitten, die Flinte nicht zum falschen Zeitpunkt ins Korn zu wer- fen, sondern alles zu tun, damit dieses Treffen der Staats- und Regierungschefs in seiner entscheidenden Phase doch noch ein Erfolg wird. Wir wünschen unserer Kanzlerin viel Fortune dabei, die Steine in gewohnter Erfolgsmanier aus dem Weg zu räumen. Wir haben mit unserer Delegation in Kopenha- gen gespürt, wie sehr die Hoffnungen in Kopenhagen 1) Namensverzeichnis der Teilnehmer der Wahl siehe Anlage 7 auf Ihnen ruhen, Frau Bundeskanzlerin, und wir wünschen Ihnen viel Erfolg. Aber den Erfolg müssen alle wollen, nicht nur die Deutschen und nicht nur die Europäer. ({1}) Die EU ist zweifellos Vorreiter in den Kopenhagener Klimaschutzverhandlungen. Die EU hat die weitestgehenden Vorschläge gemacht, die konkretesten Zahlen und auch die deutlichste Bereitschaft für eine politische Einigung vorgelegt. Wenn alle so mitziehen würden, dann könnten wir schon heute viel weiter sein, als wir es tatsächlich sind. Deutschland hat weltweit die anspruchsvollsten Klimaziele, nämlich eine Senkung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent bis 2020, vorgelegt, und, Herr Gysi, auch konkrete Sofortmaßnahmen für die Entwicklungsländer zwischen 2010 und 2013, nämlich zusätzlich 1,2 Milliarden Euro von Deutschland und 7,2 Milliarden Euro von der gesamten Europäischen Union. In der EU wurden auch konkrete Hilfen in Form eines 100-Milliarden-Pakets bis zum Jahr 2020 vereinbart. Das scheint an Ihnen bisher vorbeigegangen zu sein. Ich möchte auf die unselige Diskussion „Armut gegen Klima“ eingehen. Für Entwicklungspolitiker - auch nicht für die der letzten Großen Koalition, die in der Entwicklungspolitik nicht ganz erfolglos war - ist folgende Wahrheit nichts Neues: Klimaschutz und Armutsbekämpfung sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist völlig unsinnig, irgendwelche Zahlen wie eine Monstranz vor sich herzutragen und das eine gegen das andere auszuspielen. Die Wahrheit ist, dass man die notwendige Hilfestellung für Entwicklungsländer, um Armut zu bekämpfen und Klimaschutz in den Entwicklungsländern zu betreiben, bereitstellen muss. Man muss auch seriös mit der Frage umgehen: Wie viel Geld ist überhaupt nötig? Herr Kelber, in dieser Frage ging es in Kopenhagen drunter und drüber. Das haben auch die Mitglieder Ihrer Delegation festgestellt. Chávez und andere sagen: 300 Milliarden pro Jahr ab 2020. Andere gehen noch weiter. Ich glaube, wir sollten uns auf dieses postkoloniale Spiel nicht einlassen. Wir stehen zur ODA-Quote, und wir stehen zum Klimaschutz; aber wir sind dagegen, dass man immer wieder den Versuch unternimmt, das eine gegen das andere auszuspielen. ({2}) Was wir brauchen, ist eine realistische Einschätzung des Finanzbedarfs. Das ist schwierig. Auch für Fachleute ist es schwierig, den Finanzbedarf für 2020 einzuschätzen. Ich möchte davor warnen, Musterdemokraten wie Chávez oder der sudanesischen Regierung auf den Leim zu gehen. Ich glaube, das bringt nichts. Was wir brauchen, sind Verhandlungspartner, die verantwortungsbewusst sind, auch in den Entwicklungsländern. Natürlich dürfen wir uns den notwendigen Hilfen nicht verschließen. Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, was Ihr Noch-Kollege Verheugen gesagt hat - er hat in einer realistischen Abwägung die EU vor zu hohen Verpflichtungen beim UN-Gipfel gewarnt -: Die EU darf nicht durch ihre Vorreiterrolle beim Klimaschutz die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zerstören und sie zwingen, in andere Teile der Welt auszuwandern. ({3}) Sie sollten sich einmal mit Ihren eigenen Leuten beschäftigen, auch mit Kanzler Schröder bei Gazprom. ({4}) - Das nehme ich zur Kenntnis. Ich habe keinen Grund, Herrn Niebel zu widersprechen. ({5}) Warum soll ich ihm widersprechen, nachdem er mit China eine neue Zusammenarbeit in Sachen Klimaschutz vereinbart hat?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoppe?

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Ruck, ich stimme Ihnen völlig zu: Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz müssen zusammengeführt werden; eine gute Entwicklungszusammenarbeit ist gleichzeitig immer auch Klimaschutz. Hier geht es aber um die finanziellen Verpflichtungen. Ich möchte Sie um Klarheit bitten: Wir brauchen eine klare Auskunft, ob die Gelder, die bei den Klimaverhandlungen in Kopenhagen jetzt für den internationalen Klimaschutz zuzusagen sind, die ab 2013 verpflichtend werden, auf die ODA-Quote, die Teil der Millenniumsziele ist, angerechnet werden sollen. Ja oder nein?

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Hoppe, Sie kennen meine diesbezügliche Meinung. Ich wiederhole sie gerne noch einmal: Zuerst erfüllen wir die ODA-Quote mit all dem, was für die Entwicklungsländer notwendig ist; das bedeutet Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Klimaschutz. Ich sehe keinen Grund, angesichts der Finanzmittel, die wir bis zur Erreichung der ODA-Quote noch aufwachsen lassen müssen, schon jetzt zu sagen: Hinzu kommen die Klimaschutzmittel. Dafür sehe ich keinen Grund. Ich sage noch einmal: Wenn die ODA-Mittel für einen wirksamen Klimaschutz in den Entwicklungsländern nicht ausreichen, dann müssen wir natürlich die entsprechenden Mittel nachlegen. Aber warten Sie doch erst einmal ab, wie weit wir kommen. Ich habe Ihnen gerade gesagt - ich glaube, das ist auch Ihre Meinung -: Die Bandbreite der Vorstellungen, was für den Klimaschutz in den Entwicklungsländern ab 2020 notwendig ist, ist so groß, dass wir erst einmal seriöse Zahlen und Forschungsergebnisse brauchen; denn sonst können wir das jetzt, mehr als zehn Jahre vor 2020, nicht sagen. Dazu stehe ich. Ich glaube, das ist eine vernünftige Politik, auch im Sinne der deutschen Steuerzahler. ({0}) Meine Damen und Herren, zum Stichwort „deutscher Steuerzahler“ ist auch zu sagen: Wir können die Entwicklungsländer nicht aus einem transparenten Kontrollverfahren entlassen. Ich hoffe, auch dabei stimmen Sie mir zu. Der Finanzbedarf ist das eine, aber auch eine effiziente Anlage der Gelder ist Verpflichtung für uns. Es geht darum, die deutschen Steuergelder ordentlich zu verwalten. Deswegen müssen wir gegenüber den Entwicklungs- und den Schwellenländern darauf bestehen, dass es einen ordentlichen und transparenten Kontrollmechanismus gibt. Auch das muss als Signal von hier nach Kopenhagen gehen; denn auch diesbezüglich hakt es deutlich. Es muss noch ein anderes Signal geben - ich glaube, auch dabei sind wir uns einig -: Eine der kostengünstigsten und wichtigsten Methoden, CO2-Emissionen zu reduzieren, ist ein effizienter Waldschutz, gerade auch in den Entwicklungsländern. Auch hierum wird heftig gerungen; aber ich glaube, wir haben auch diesbezüglich in den letzten Jahren mit unseren Haushalten deutliche Signale gesetzt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon angesprochen worden: Wir werden keinen Erfolg, weder in Kopenhagen noch überhaupt, mit unserer langfristigen Klimaschutzpolitik haben ohne Einbeziehung der Schwellenländer und ohne Einbeziehung der USA. Wir haben uns mit einer Delegation aus dem brasilianischen Parlament getroffen. Wir alle waren beeindruckt, wie sehr die brasilianischen Parlamentarier Signale setzen und voranschreiten wollen mit ihrer Forderung an die eigene Reduktionspolitik. Da können sich sowohl die Inder als auch die Chinesen eine Scheibe abschneiden. An China gerichtet möchte ich auch sagen: Man kann nicht auf der einen Seite mit seiner Armut kokettieren und auf der anderen Seite Weltmachtansprüche stellen. Für eine Weltmacht, wie es China zweifellos ist, ist jetzt die Zeit, Verantwortung für das Klima zu übernehmen. ({1}) Aus diesen Gründen möchte ich sowohl an China als auch an Indien appellieren, diese Ansprüche in Verantwortung umzusetzen. ({2}) Das Gleiche gilt für die USA. Wer in anderen Teilen der Welt Führungsverantwortung beansprucht, muss jetzt auch in der Klimafrage Führung übernehmen. Deswegen hoffe ich, dass der amerikanische Präsident in Kopenhagen tatsächlich Führungsverantwortung bei dieser Schicksalsfrage übernimmt. Klimapolitik bietet für die Export- und Technologienation Deutschland eine Chance für ein qualitatives Wachstum. Umwelt ist die Wachstumsbranche des 21. Jahrhunderts. Das sehen übrigens auch die Chinesen und Inder so; das war ein deutliches Zeichen in unseren Gesprächen in Kopenhagen. Ganz besonders diese beiden Länder sind bereit, mit uns, mit unseren Firmen, mit unserer Wirtschaft, mit unserer Technologie, zusammenzuarbeiten. Hier ist Offensive angesagt. Frau Bundeskanzlerin, die Mehrheit dieses Hauses und alle wirklichen Klimaschützer drücken Ihnen für Ihre Mission in Kopenhagen die Daumen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin! Herr Ruck, ich glaube, Sie haben uns mit Ihrer Rede und Ihrer Gesundbeterei fast an die Grenze des Einschlafens gebracht. ({0}) Das ist angesichts dieses Themas schade. Da wir gerade über den Ticker erfahren, dass Regierungskreise in Dänemark sagen, die dänische Regierung habe das Ziel eines umfassenden Abkommens möglicherweise schon aufgegeben, will ich eines zur Debatte hier sagen: Ich glaube, allen voran Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben die Bedeutung von Kopenhagen nicht wirklich und wahrhaftig verstanden. Kopenhagen ist nicht nur die wichtigste Wirtschaftskonferenz, wo man die alten Lobbyisten befriedigen muss, damit es ein Weiter-so gibt und keine Wettbewerbsregeln, die hier, aber nicht anderswo gelten, sondern Kopenhagen ist vor allem die wichtigste Klima- und internationale Gerechtigkeitskonferenz. Das ist das Größte. Was Deutschland und die Europäische Union bisher vorgelegt haben, wird dem nicht annähernd gerecht. ({1}) Da darf es nicht wie in dem üblichen globalen Verhandlungszirkus zugehen, in dem man, bis man in der letzten Nacht nachgibt, immer sagt, man bewege sich nicht, in dem die reichen Länder ihre Privilegien bis zur letzten Nacht mit Klauen und Zähnen verteidigen. Ich fordere Sie auf: Machen Sie sich von dieser mentalen Schwerkraft frei. Begreifen Sie das Ganze als das, was es ist: die zentrale Gerechtigkeitsfrage für die, die schon heute existenziell unter dem Klimawandel leiden. Darin liegt auch eine zentrale Chance für uns, die wir noch nicht so viel leiden; denn wir haben die Möglichkeit, einen wirtschaftlichen Aufbruch statt einen wirtschaftlichen Niedergang zu organisieren. Das ist Kopenhagen! ({2}) Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Dieses Geziehe und Gezerre geht mir auf die Nerven. Außerdem läuft Ihr Norbert Röttgen wie der Malermeister der CDU mit einem großen Eimer Farbe durch das Land und tüncht alles grün. Immer wieder heißt es, wir müssten anders leben. Ich fordere Sie auf: Fangen Sie doch an, anders zu leben, anders zu wohnen, anders zu produzieren und zu transportieren! ({3}) Fangen Sie in Kopenhagen damit an! Sagen Sie: Kopenhagen ist für uns die Chance, endlich den notwendigen Strukturwandel der deutschen Wirtschaft, die geprägt ist von Überkapazitäten und Stellenabbau, einzuleiten. Es ist so, dass nicht nur der Klimawandel bedrohlich voranschreitet, sondern dass es gleichzeitig auch einen Wahnsinnsschub bei der Energietechnologieentwicklung gibt. Ich glaube, hier haben wir ökonomische Möglichkeiten. Wenn ich als Grüne dies zu begründen hätte - abgesehen vom Klimawandel und den Menschen, deren Existenz bedroht ist und die leiden -, würde ich sagen: Lösen wir in Deutschland, wir als Deutsche in und mit der Europäischen Union durch ein ganz gezieltes Erbringen von Vorleistungen und durch Voranschreiten einen Wettbewerbsdruck auf andere aus, statt immer zu sagen: China oder Obama haben sich noch nicht bewegt. - Wir könnten vorne sein, Arbeitsplätze schaffen und den Rest hinter uns herziehen, statt eine Schnecke zu sein. ({4}) Seien wir ein Leitmarkt! Sagen wir doch: Wir wollen eine Europäische Union der erneuerbaren Energien. Steigern wir unsere Produktivität durch den intelligenten Umgang mit Energie statt durch Lohndrückerei! Betreiben wir Kostenreduktion zu unserem eigenen Vorteil und für den Klimaschutz! Das wäre sinnvoll. Davon, Frau Bundeskanzlerin, habe ich von Ihnen aber kein einziges engagiertes Wort gehört. ({5}) Ich formuliere es einmal so: Ich habe von Ihnen kein mitleidendes Wort gehört über die Sorgen der Entwicklungsländer, die Sorgen Afrikas, die Sorgen der Länder mit großen Küstenregionen und der Inseln. Das 2-GradZiel ist für Afrika eine Zumutung. Für Afrika heißt das allgemeine 2-Grad-Ziel, dass es dort um ungefähr 4 Grad wärmer wird. Das führt dazu, dass sich nicht beackerbares Land, Dürren und Hunger weiter massiv ausbreiten. Trotzdem stellen Sie sich hier hin und sagen: Wir sind bereit, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu senken, aber erst dann, wenn sich auch andere bewegen. - In Afrika kann sich keiner bewegen, und den Afrikanern kann man nicht sagen: China bewegt sich nicht, deshalb bewegen auch wir uns nicht. - Bedenken Sie den Zusammenhang zwischen Klimagerechtigkeit und Wirtschaft! Bewegen wir uns endlich! Seien wir das Land, das den Wettbewerb um Effizienz und intelligente neue Lösungen antreibt, und profitieren wir notfalls sogar selbst davon! ({6}) Ich habe in den letzten Tagen an Michail Gorbatschow gedacht. Ich weiß nicht, ob Sie alle noch in Erinnerung haben, wie die Situation 1989 war - was damals erreicht wurde, kommt manch einem heute ja selbstverständlich vor -: 1989 lebten wir immer noch in einer Blockkonfrontation. Alles, was sich damals ereignete, zum Beispiel im heutigen Tschechien, insbesondere in Prag, oder an der ungarischen Grenze, hat uns richtig ins Herz getroffen. Jede und jeder von uns hatte Angst, dass zur Waffe gegriffen wird. Das gesamte Denken war damals von den zwei großen Blöcken und Systemen dominiert. Immer wieder traf es am Eisernen Vorhang aufeinander und hat sich in alten Kategorien bewegt. Michail Gorbatschow hat vor dem Fall der Mauer das Bild vom gemeinsamen europäischen Haus benutzt. Ich will dieses Bild weiterentwickeln. Dass wir den Klimawandel aufhalten, ist von solch existenzieller Bedeutung und ungefähr so beachtlich wie der Fall der Mauer, mit dem die Blockkonfrontation beendet wurde. So müssen wir an dieses Thema herangehen. Wir müssen sagen: Auf der einen Erde, die wir haben, wollen wir ein gemeinsames Haus bauen. Dabei darf nicht gezockt werden, dabei sind keine Bedingungen zu stellen, und dabei ist keine Zurückhaltung zu üben. Es darf auch nicht darum gehen, Brosamen vom Tisch der Reichen zu bekommen. Frau Merkel, ich will, dass Deutschland sagt: Wir werden anders wirtschaften, und wir werden den anderen bei ihrer Entwicklung helfen. ({7}) Frau Merkel, Sie sagen, es macht Sie nervös, ob das alles wirklich zu schaffen ist. Meines Erachtens ist die Wahrheit: Sie sind Teil der mentalen Schwerkraft, die gerade bleiern über Kopenhagen liegt. Schauen wir uns die beiden Hauptstränge der Verhandlungen einmal an: Das eine sind die Reduktionsziele, die die Industrieländer anbieten, das andere sind die Finanzhilfen, um globale Gerechtigkeit zu schaffen. Bei den Reduktionszielen frage ich mich: Wie kommt Herr Röttgen eigentlich dazu, mit Grandezza Obama und die USA zu kritisieren? Natürlich kann man sagen: Stimmt, die machen zu wenig. - Aber Hochmut kommt vor dem Fall. Wenn die USA Geld in die technologische Entwicklung investieren, wird das in einer Größenordnung losgehen, dass Sie in einem Jahr hier stehen und tränenden Auges danach fragen: Wo sind denn die deutschen technologischen Entwicklungen? - Halten Sie sich nicht damit auf, andere zu beschimpfen! Sorgen Sie lieber dafür, dass die Europäische Union selber das KiotoZiel erreicht; denn davon ist auch sie noch weit entfernt. ({8}) Frau Merkel, Sie haben in Meseberg große Ziele angekündigt. Sie haben im September 2007 gesagt: Wir richten unsere Energie- und Klimapolitik neu aus. Sie haben ein Paket von Maßnahmen entwickelt, die jetzt Schritt für Schritt umgesetzt werden sollen. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Paket noch nicht aufgegeben haben oder ob die Deutsche Bundespost wieder einmal versagt hat. ({9}) Von dem Paket, das Sie angekündigt haben, ist jedenfalls bis jetzt keine einzige Maßnahme in der Realität angekommen. ({10}) Außerdem sind das alles Peanuts, Frau Merkel. Das Wärmegesetz ist ein schlafender Riese. Vor kurzem haben Sie gesagt, man solle sich nicht ständig um die Ausnahmen kümmern, die es gibt, die Gebäudesanierung sei der viel größere Teil. Dann fangen Sie doch einmal an mit der Gebäudesanierung! Dachdämmung? Gestrichen. Nachtspeicherheizungen sollen bleiben. Die Gebäudeenergieausweise sind eine Farce. Sie haben sich beim Thema Energieeffizienz in die Situation manövriert, dass eine Richtlinie, die 2008 umgesetzt sein sollte, bis heute nicht umgesetzt ist. Im Verkehrsbereich vertreten Sie wie die Grottenolme die alten, leistungsstarken Autos, aber nicht Autos, die heute und morgen noch gekauft werden. Ja, wir haben Kurzarbeit, Kurzarbeit, Kurzarbeit. Das kommt aber nicht von ungefähr, meine Herren. Die Krönung ist, dass Sie bei der Frage einer Energiepolitik in Deutschland bis Oktober 2010 blankziehen. Ihre Methode hindert große und kleine Unternehmen in Deutschland momentan daran, in eine andere Energiepolitik zu investieren. Das ist der Malermeister Röttgen, das ist die Bundeskanzlerin. In NRW wollen Sie den Klimaschutz aus dem Gesetz herausstreichen, damit Sie in Datteln ein neues Kohlekraftwerk bauen können. Das ist keine Glaubwürdigkeit beim Thema Klimaschutz. ({11}) Bauen wir doch das gemeinsame Haus auf! Hören wir auf, auf Kosten anderer zu leben. Dazu, sage ich Ihnen, brauchen wir nicht nur ein Bekenntnis zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Wir brauchen einen zweiten Verhandlungsstrang: dass die historischen Verursacher endlich Verantwortung übernehmen. 8,5 Milliarden Euro machen Sie mal eben locker als Steuergeschenke für Hotels und Erben; aber nur 2,4 Milliarden Euro wollen Sie geben, um den Ärmsten der Armen, die existenziell unter dem Klimawandel leiden, zu helfen. Meine Damen und Herren, als Vertreter der größten Volkswirtschaft in der Europäischen Union sollten wir sagen: Wir toppen das, wir geben unhängig von der Gesamtsumme, die zustande kommt, mindestens 10 Milliarden Euro.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz: Wir werden Sie an dem C im Namen Ihrer Partei messen. Wir werden nicht zulassen, dass uns Herr Niebel in einer Vernebelungstaktik vorrechnen will, dass wir die ODA-Quote von 0,7 Prozent des BIP durch Klimaschutzmaßnahmen erfüllt hätten. Wir sind die Verursacher des Klimawandels. In Kopenhagen geht es um das Gemeinsame. Sperren Sie die armen Länder nicht aus! Gehen Sie endlich in Vorleistung und fangen Sie mit der ökologischen Modernisierung in Deutschland an. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Michael Link ist der nächste Redner für die FDPFraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Durch die Tatsache, dass es in der heutigen Debatte um zwei Themen geht, nämlich um den Europäischen Rat und um den Klimagipfel, wird nicht nur die kalendarische Zufälligkeit gezeigt, dass beide Termine übereinstimmen, sondern werden wir auch darauf hingewiesen, dass wir über beide Themen in der Regel erst dann reden, wenn es nicht klappt. Beim Klimaschutz ist das offensichtlich, aber auch mit der EU, mit Europa, beschäftigen wir uns immer dann wesentlich mehr, wenn wir Probleme haben, wenn wir in der EU einen Dissens haben und wenn es uns erst nach sehr langen Debatten gelungen ist, tatsächlich Verträge in Kraft zu setzen, wie das mit dem Vertrag von Lissabon der Fall ist. Die FDP begrüßt das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, wodurch die EU demokratischer und funktionsfähiger wird. ({0}) Herr Kollege Gysi, ich bin wirklich überrascht, dass Sie hier und heute kein einziges Wort zu Europa und nur etwas zum Klima gesagt haben. Das ist zwar ein wichtiges Thema, aber Sie haben kein einziges Wort zu Europa und zu diesem Vertrag gesagt, der in Kraft getreten ist. ({1}) Kollegin Künast, Sie sind Vertreterin - das kann ich nun wirklich sagen - einer überzeugten europäischen Partei, aber auch von Ihnen hätten wir uns gewünscht, dass Sie ein Wort dazu sagen, wie wir nach den Vorstellungen der grünen Fraktion mit diesen Regeln in Zukunft im Hohen Hause gemeinsam umgehen; ({2}) denn in der Tat: An der Art und Weise, wie wir hier im Bundestag miteinander umgehen und intern Fragen der europäischen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit diskutieren, muss sich vieles ändern. Manche werden sich erinnern: Der Bundestagspräsident hat in der Rede nach seinem Amtsantritt genau auf diese Frage Bezug genommen, nämlich darauf, wie wir damit umgehen, dass wir durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, durch den Vertrag selber und natürlich vor allem durch das Grundgesetz in die Pflicht genommen werden, an der Gestaltung der europäischen Politik mitzuwirken. Daran müssen wir arbeiten. Ich glaube, es ist das große Ziel der Kolleginnen und Kollegen im Europaausschuss, im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, in den Fachausschüssen und überall sonst, dass wir unsere Verfahren im nächsten Jahr so anpassen, dass wir das auch schaffen. Dass wir dabei an die Wichtigkeit der Subsidiarität erinnern, heißt nicht, dass wir ein Europa der Abgrenzungen wollen. Wir wollen kein Europa der Abgrenzungen, der Opt-outs und der Schutzklauseln. ({3}) Das ist auch unsere klare Linie bei den anstehenden Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien und Island. Eine Mitgliedschaft à la carte und eine Mitgliedschaft mit Rabatt kann es nicht geben. Wir wollen aber sehr wohl eine klare Kompetenzabgrenzung. Ich glaube, hier müssen wir, wie gesagt, intern noch gemeinsam an unseren Verfahren arbeiten. Der Vertrag von Lissabon ist nicht der große Wurf, wie es frühere große Verträge waren. An Maastricht und Amsterdam sei erinnert. Diese enthielten jeweils große, deutliche, weitere Visionen und Fortentwicklungen. Beim Vertrag von Maastricht war es der Binnenmarkt, beim Vertrag von Amsterdam war es die Wirtschaftsund Währungsunion - die Vollendung - und natürlich vor allem auch die Weiterentwicklung und Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Immerhin: Für Letzteres, für die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, bringt der Lissabon-Vertrag einiges. Vielleicht ist jetzt aber auch wirklich nicht die Zeit für große Visionen; denn davon haben die Bürgerinnen und Bürger in der Tat genug. Sie erwarten, dass wir handeln. Dazu steht die FDP-Bundestagsfraktion nach den neuen Regeln des Lissabon-Vertrages bereit. Wir freuen uns, dass die Bundesregierung ganz offensiv darangeht. Wir werden sie auch weiterhin daran erinnern. Vielleicht noch eine Bitte: Es wäre schön, wenn wir zu einer alten Tradition zurückkommen würden - Herr Präsident, ich komme zum Schluss -, nämlich zu der, dass wir vor oder nach jedem Europäischen Rat eine Regierungserklärung hören. Dann haben wir nämlich auch nicht das gleiche Problem wie heute, da verständlicherweise viele Themen geballt behandelt werden. Ich denke, Europa verdient es, dass wir bei jedem Europäischen Rat eine Regierungserklärung zu dem entsprechenden Thema hören. Michael Link ({4}) Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin hat gesagt, dass mit dem Lissabon-Vertrag eine neue, verbesserte Grundlage für die EU geschaffen worden ist. Sehr richtig! Es muss aber auch deutlich gesagt werden: Jetzt wird es auf uns hier im Deutschen Bundestag ankommen, dass wir diesen Vertrag mit Leben erfüllen und dass wir ihn in jedem einzelnen Bereich der europäischen Politik, in dem wir uns als Deutsche positionieren, im Geiste der EU und buchstabengetreu - auf Punkt und Komma genau - umsetzen. ({0}) Frau Bundeskanzlerin hat mit einem interessanten Versprecher begonnen. Sie hat gesagt: Die Bundesregierung hat dazu die Rechte des Deutschen Bundestages gesetzlich verankert. - Bei allem Respekt: Die Verbesserung der Rechte des Deutschen Bundestages durch das entsprechende Begleitgesetz, das Integrationsverantwortungsgesetz, haben wir erkämpft. Wir haben das - auch das muss man als Erfolg bezeichnen - in einem großen Einvernehmen in diesem Hause nicht mit allen, aber doch mit den meisten hinbekommen. Das ist ein Erfolg für dieses Haus. ({1}) Der Lissabon-Vertrag ist seit dem 1. Dezember in Kraft. Richten wir den Blick darauf, wie die bisherige Umsetzung läuft. Da muss man mit dem neuen Präsidenten, der Außenministerin, der Hohen Beauftragten, und dem deutschen EU-Kommissar beginnen. Das, was wir dort präsentiert bekommen haben, ist nicht die beste, sondern höchstens die erstbeste Lösung. Bei den Kandidatinnen und Kandidaten haben der Rat und auch Deutschland keinen Mut, sondern nur Kleinmut gezeigt. Man hat nicht einmal auf die guten Kräfte zurückgegriffen, die es in der christdemokratischen Parteifamilie gibt. Das war kein guter Start für die neue Kommission und die neue Spitze in der EU. ({2}) Wir haben gestern in einem Gespräch den designierten EU-Kommissar Oettinger befragen können. Das war wichtig. Ich hoffe in diesem Zusammenhang, dass wir nicht nur davon reden, in der Europäischen Union voneinander zu lernen und bestimmte Punkte weiterzuentwickeln. Es wäre besser, dass wir es nicht erst aus der Presse erfahren, wenn nach dem Rücktritt eines Ministers eine neue Ministerin präsentiert wird, sondern wenn eine Kandidatin vor ihrer Ernennung im Fachausschuss Rede und Antwort steht. Das ist ein gutes Verfahren im Europäischen Parlament, von dem wir als Deutscher Bundestag lernen sollten. ({3}) Der zweite Punkt ist SWIFT. Da müssen wir schon am 30. November ansetzen. Es war ein Affront gegenüber dem Europäischen Parlament, dass am 30. November über das Abkommen zur Weitergabe von Finanzdaten entschieden wurde, wohlwissend, dass das Europäische Parlament mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages mehr Rechte bekommen würde. Man hat also dem Parlament die Rechte, die es ab dem 1. Dezember hätte nutzen können, nicht gewährt, indem man am 30. November über das Abkommen entschieden hat. Das war unfair. Und es war für die Bundesregierung schlecht, dass die deutsche Position nicht deutlich wurde. Denn was die deutsche Position anging, stand die FDP auf der einen Seite und die CDU/CSU auf der anderen Seite. Das Ergebnis war Enthaltung. Enthaltung ist das Gegenteil von politischer Gestaltung, wie sich hier gezeigt hat. ({4}) Der dritte Punkt sind künftige Vertragsänderungen und Regierungskonferenzen. Eine Frage betrifft den möglichen Beitritt Islands. Eine andere Frage ist die Sitzzahl des Europäischen Parlaments. Das wird die Nagelprobe in diesem Hause. Es wird die Nagelprobe dafür, dass die Bundesregierung in diesem Punkt offensiv von sich aus alles unternehmen muss, um Einvernehmen mit dem Hohen Hause herzustellen, statt irgendeinen Weg zu finden, um die Regelung dieser Fragen herumzukommen. Das wird noch ein Kampf. Wir werden sehr genau darauf achten, wie dieses Verfahren läuft, weil es ein Präjudiz für alles andere ist, was wir in den nächsten Jahren machen, und weil es um die Umsetzung sowohl unserer Regelungen als auch dessen geht, was uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat. ({5}) Was Island angeht, bin ich sehr gespannt, wenn man bedenkt, was im Wahlkampf von der CDU/CSU zu diesem Thema gekommen ist. Die CDU/CSU vertritt die Meinung, wenn Kroatien beitritt, ist erst einmal Schluss. Für den Beitritt der Türkei gibt es sowieso keine Zustimmung, und Serbien will sie auch nicht. Selbst der Beitritt Islands wird infrage gestellt. Wir sind deshalb gespannt, wie die Linie der Bundesregierung aussieht. In einem anderen Punkt sind wir noch mehr gespannt. Dazu erwarten wir eine klare Aussage bis Januar. Das Europäische Parlament soll nach einer Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs - also einer ganz großen Konstellation - in dieser Legislaturperiode ausnahmsweise von 736 auf 754 Mitglieder aufgestockt werden. Das bedeutet, dass ein Parlament, das vertragsgemäß im Juni gewählt worden ist, im Dezember eine Änderung Axel Schäfer ({6}) seiner Zusammensetzung erfahren soll. Für die SPD stelle ich dazu fest: Wir halten das staatsrechtlich, europarechtlich und auch grundsätzlich nach unserem Wahlverständnis für höchst problematisch, vielleicht sogar verfassungswidrig. Das wird man noch prüfen müssen. ({7}) Wir halten es aber in besonderer Weise für inakzeptabel, Frau Bundeskanzlerin, dass in dem jetzt vorliegenden Entwurf vorgesehen ist, dass die 18 Kolleginnen und Kollegen entweder durch einen Wahlakt oder durch die Delegation von Abgeordneten der nationalen Parlamente ins Amt kommen können. Das ist ein Verstoß gegen unsere europäische Verfasstheit. Das ist ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 3 des EU-Vertrags, der klar festlegt: Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, freier, gleicher, direkter und geheimer Wahl gewählt und nicht von nationalen Parlamenten delegiert. Das werden wir hier nicht zulassen. ({8}) Ich appelliere an die Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU/CSU, Grünen und Linkspartei, dass dies das gemeinsame Anliegen des Deutschen Bundestages sein muss. Generationen von Vorvätern und -müttern haben in diesem Hause von 1951 bis 1976 für die Direktwahl des Europäischen Parlaments gekämpft. Wir dürfen jetzt nicht aufgrund dieser makaberen Konstellation fundamentale Verfassungsprinzipien aufgeben. Deutschland darf nicht zulassen, dass es Regelungen in Europa gibt, die es ermöglichen, dass Abgeordnete nicht direkt von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt werden. Dafür werden wir einstehen, und daran werden wir Sie messen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Thomas Bareiß ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich diese Debatte verfolge, ist mir wichtig, zu Beginn meiner Rede auf Folgendes hinzuweisen: Obwohl Sie, Frau Künast und Herr Kelber, zwanghaft versuchen, hier konträre Positionen aufzubauen, gibt es in der Bevölkerung eine klare Zielsetzung für mehr Klimaschutz. Diese klare Zielsetzung für weniger Emissionen und Ressourcenschonung ist vor allen Dingen ein Verdienst unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dafür sollten wir heute Morgen noch einmal Danke sagen. ({0}) Die klare Positionierung in der Bevölkerung, aber auch in Brüssel und im Europäischen Rat ist von entscheidender Bedeutung. Als wir hier vor zwei Wochen über die Anträge zu Kopenhagen diskutiert haben, wussten wir noch nicht, was in den letzten zwei Verhandlungstagen geschehen wird bzw. wer sich am Verhandlungstisch gegenübersitzen wird. Heute wissen wir, dass über 130 Staats- und Regierungschefs einschließlich des US-Präsidenten, des chinesischen Regierungschefs und des indischen Ministerpräsidenten dabei sein werden. Das ist für mich mehr als ein Hoffnungsschimmer. Ich glaube, dass wir in Kopenhagen die einmalige Chance haben, Großartiges zu erreichen. Wir sollten diese Chance nutzen. Die Messlatte liegt enorm hoch. Umweltminister Röttgen hat - genauso wie unsere Bundeskanzlerin heute Morgen - klar und deutlich unterstrichen, dass man nur dann von einem Erfolg sprechen kann, wenn sich alle 192 Teilnehmer - ich unterstreiche: alle 192 Teilnehmer auf eine Begrenzung der Erderwärmung um höchstens zwei Grad verständigen. Wir brauchen damit nachvollziehbare und sanktionierbare Reduktionsziele für alle. Wir brauchen eine faire Lastenverteilung. Wir brauchen auch vergleichbare Wettbewerbsbedingungen in der Welt. Ein Ziel kann noch so ambitioniert sein: Wenn die Hauptemittenten China, Indien und die USA nicht mitziehen, sind alle Ziele, die wir uns stecken, wenig wert. An diesem Anspruch müssen wir uns auch in Kopenhagen messen lassen. Lassen Sie mich das verdeutlichen. Der CO2-Ausstoß in Deutschland konnte im Jahr 2008 im Vergleich zum Vorjahr um rund 10 Millionen Tonnen reduziert werden. Dazu war eine große Kraftanstrengung notwendig, die uns sehr viel gekostet hat. Gleichzeitig wird aber in China jede Woche ein neues Kohlekraftwerk gebaut. Allein das Volumen der zusätzlichen CO2-Emissionen durch diese Kohlekraftwerke in den nächsten zwei Jahren entspricht dem kompletten CO2-Ausstoß des Exportweltmeisters Deutschland in einem Jahr. Das verdeutlicht, dass China, die USA und Indien mit im Boot sein müssen. Sonst bringen alle Zielsetzungen nichts. Ich sage es ganz deutlich: Eine Vorreiterrolle Deutschlands ist wichtig, ist vielleicht sogar notwendig, um unsere Glaubwürdigkeit als Industrienation unter Beweis zu stellen, aber ein Alleingang Deutschlands oder der Europäischen Union ist schädlich, nicht nur für die Wirtschaft und für unsere Arbeitsplätze, sondern auch für das globale Klimaschutzziel. Ich sage nur: Eine Abwanderung von energieintensiven Industrien in Schwellenländer wäre nicht in unserem Interesse. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat daher völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass sich kein Land aus der Pflicht stehlen kann. Klimapolitik ist gerade für Deutschland, das immerhin 26 Prozent der Wertschöpfung in der Industrie erzielt, in besonderem Maße Wirtschafts- und Industriepolitik. Klima- und Umweltschutz sind aber auch in besonderem Maße Energiepolitik. 40,7 Prozent der durch Menschenhand verursachten Treibhausgasemissionen in Deutschland stammen aus der Energieerzeugung. Deshalb werden wir in den nächsten Monaten gar nicht darum herumkommen, ohne ideologische Scheuklappen einen klimafreundlichen und ressourcenschonenden Energiemix der Zukunft zu bilden. Dabei werden die erneuerbaren Energien eine ganz große Rolle spie922 len. Wir haben schon heute einen Anteil der Windkraft von 6 Prozent. Das ist ein großer Erfolg der letzten Jahre. ({1}) Es müssen aber auch effiziente Kohlekraftwerke eine Rolle spielen. Ebenso muss die CCS-Technologie eine Rolle spielen, und eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken spielt gerade im Klimaschutz eine herausragende Rolle für uns. ({2}) Auch wenn wir alles dafür tun wollen - über das Ziel sind wir uns einig -, einen erheblichen Anteil der Energieerzeugung in den nächsten 40 Jahren auf erneuerbare Energien umzustellen, und wenn wir es schaffen, die Energieeffizienz um jährlich 3 Prozent zu steigern, was wir anstreben und was ein hohes Ziel ist, ({3}) müssen wir auch in den kommenden 30 Jahren - auch darin sind wir uns einig - die Grundlast unserer Energieerzeugung bezahlbar und verlässlich sicherstellen. ({4}) Ein Instrument für Klimaschutz ist für mich der Markt für Emissionszertifikate. Um nicht nur national, sondern auch international die Emissionen fair zu bepreisen, brauchen wir ein globales Handelssystem mit Emissionszertifikaten. Ich weiß, das ist nicht einfach. Aber auch das ist ein hohes Ziel, und wir müssen das Ziel angehen. Es gab im Vorfeld viele kritische Stimmen zum Kopenhagener Klimakongress. Ich habe die Meinung dieser kritischen Stimmen nie geteilt. Ich glaube, wir stehen vor einer einmaligen Chance, auf globaler Ebene ambitionierte und verbindliche Ziele und Abmachungen zu setzen. Ich denke, wir sollten diese Chance nutzen. Ich wünsche unserer Bundeskanzlerin dafür viel Erfolg. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Innerhalb von 14 Tagen treffen wir uns jetzt zum zweiten Mal, um über den Klimagipfel in Kopenhagen, über Maßnahmen und vor allem über die Reduzierung von CO2 miteinander zu diskutieren. Wir haben bereits vor 14 Tagen ehrgeizige Ziele gehört, Vorstellungen gehört, die Deutschland einbringen möchte, und wir haben schon vor zwei Wochen gehört, dass es um Finanzierungsfragen geht. Wenn ich mir das heute wieder anhöre, dann muss ich sagen: Von der Vorreiterrolle Deutschlands in dieser Diskussion ist in den letzten zwei Wochen leider wenig bis gar nichts zu sehen gewesen. ({0}) Wenn man ehrgeizige Ziele für sich und für andere formuliert, dann muss man sie auch mit Haushaltsmitteln hinterlegen. Wir als SPD-Fraktion haben vor zwei Wochen aus gutem Grund einen Antrag eingebracht, weil wir genau dieses tun wollten. Wir haben es getan und uns um die Finanzierungsfragen des internationalen Klimaschutzes und der Entwicklungszusammenarbeit gekümmert. Als Reaktion auf diesen Antrag wurde vonseiten der Union und der FDP - leider ist der Entwicklungsminister nicht mehr anwesend - eine Verschärfung ihres ursprünglichen Antrages eingebracht, nämlich die zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels notwendigen Mittel vollständig auf die Mittel zur Bekämpfung und Reduzierung von Armut anzurechnen. Wir haben heute gehört, wie viele Milliarden - dreistellige Milliardenbeträge! - nötig sind, um den Klimawandel wirksam bekämpfen zu können. Ich frage Sie: Wie kann man das tun, ohne gleichzeitig den Kampf gegen Armut aufzugeben, wie es vonseiten dieser Bundesregierung getan wurde? ({1}) Was hier passiert, ist eben nicht, wie der Kollege Ruck gesagt hat, das Leisten der notwendigen Hilfe, sondern das Ausspielen von Armut gegen Klimawandel, nichts anderes. ({2}) Was wir dringend brauchen, ist eine solide Finanzierung sowohl des Kampfes gegen Armut als auch der Reduzierung von CO2 und der Anpassungsmechanismen bei uns, aber auch weltweit. Die Kritik, dass es eine solche Finanzierung nicht gibt, wird nicht nur von uns, sondern auch von unzähligen Nichtregierungsorganisationen geäußert. Kollege Kelber hat bereits den Preis angesprochen, den Minister Niebel vor einer Woche bedauernswerterweise erhalten hat: „fossil of the day“. Ich darf den Generalsekretär der Welthungerhilfe zitieren - er sieht es so ähnlich, wie wir es in unserem Antrag formuliert haben -: Klimaschutz in armen Ländern ist keine Entwicklungshilfe in herkömmlichem Sinn, sondern vor allem die Rückzahlung von Klimaschulden, die die Industrieländer gemacht haben. Sehr richtig! ({3}) - Genau wie im Ausschuss. ({4}) Ich hätte am heutigen Tag an dieser Stelle sehr gerne einige deutliche Worte zur grundsätzlichen Frage der Finanzierung gehört. Wir haben gehört, was wir über die EU zur Verfügung stellen werden. Schön, es ist ein Anfang. Was wir nicht gehört haben, ist, wie die mittel- und langfristigen Ziele aussehen sollen, und vor allem, was konkret in den nächsten Haushalt eingestellt werden soll. Angesichts dessen, was ich gestern in der Presse darüber erfahren habe, welche Haushaltsmittel, zum Beispiel für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in den Haushalt eingestellt werden sollen, muss ich sagen: Da hat das Verrechnen offensichtlich schon begonnen. Wir haben es mit einem Haushaltsentwurf zu tun, der nicht nur mutlos ist, sondern von einem großen Desinteresse des Ministers an diesem Ressort zeugt. ({5}) Es ist uns über Jahre regelmäßig gelungen, den Etat für Entwicklungszusammenarbeit in einer Höhe von 500 Millionen bis 700 Millionen Euro zu steigern. Das war im Kampf gegen Armut, aber natürlich auch für eine bessere Gestaltung des Klimawandels richtig und nötig. Der gestern vorgelegte Haushaltsentwurf mit ganzen 44 Millionen Euro mehr als im vorherigen Haushalt zeigt doch eines: dass weder Mittel für Armutsbekämpfung noch für Klimamaßnahmen zur Verfügung gestellt werden können. Wo sind diese Mittel? Frau Homburger hat von 1 Milliarde Euro gesprochen. Diese Mittel sind weder im Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit noch im Umwelthaushalt. Diese Mittel müssen irgendwann einmal veranschlagt werden. Ich wünsche mir, dass Ihnen das noch bis zu den Haushaltsberatungen im Januar gelingt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass hier etwas zu diesen Finanzierungsfragen gesagt wird, vielleicht noch deutlicher, als die Frau Bundeskanzlerin zur Frage der Finanztransaktionsteuer gesprochen hat. Selbstverständlich wären hier eine ganze Menge Mittel für die Entwicklung, aber auch für den Klimawandel bereitzustellen. Das Ganze hätte den Charme, dass man die Verursacher weltweiter Krisen - sie haben die Entwicklungsländer mit in die Krise gerissen; die Entwicklungsländer tragen für diese Krisen in der Regel genauso wenig Verantwortung wie für die Folgen des Klimawandels; auch da sind sie nicht die Hauptverursacher - heranzieht und zusätzliches Geld - im Fachjargon heißt es „fresh money“ - für vernünftige Politik, für Entwicklungszusammenarbeit und für Klimaschutz zur Verfügung stellen kann. ({6}) Das hätte ich mir vor der Reise nach Kopenhagen gewünscht. In den letzten 14 Tagen ist Vertrauen zerstört worden; Vertrauen, das wir als Deutsche als Partner der Entwicklungsländer einmal genossen haben. Diese Koalition hat sich von den ODA-Zielen verabschiedet. Damit ist das Vorhaben, 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe bis zum Jahr 2010 auszugeben, obsolet. Das 0,7-Prozent-Ziel steht zwar noch im Koalitionsvertrag, aber wohlweislich ohne die Angabe, wann dies erreicht werden soll. Wer solche Signale aussendet und dann auf der Klimakonferenz in Kopenhagen von anderen Ländern konkrete und belastbare Zusagen fordert, der macht sich unglaubwürdig. ({7}) Sie wären an dieser Stelle gut beraten, korrigierend einzugreifen und sich deutlich zu diesen Zielen zu bekennen, und zwar mit belastbaren Zahlen, die andere nachvollziehen können. Nur so kann man einen wirklichen Beitrag im Sinne einer vernünftigen Finanzierung von Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Bekämpfung von Hunger und Armut leisten. Mittel für den Klimaschutz und Mittel zur Bekämpfung von Armut dürfen nicht gegeneinander ausgespielt und auch nicht miteinander verrechnet werden. Für den Klimaschutz bedarf es zusätzlicher Mittel. Danke. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die Unionsfraktion. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Köln gilt das Kölner Grundgesetz: Et es, wie et es. Et kütt, wie et kütt. Et es noch immer jot jejange. ({0}) Auch der Herr Westerwelle kennt das. - Meine Damen und Herren, man hat den Eindruck, dass so mancher auf der Klimakonferenz diesen Grundoptimismus anwendet und an die Sache nicht mit dem nötigen Nachdruck herangeht. Noch immer behaupten einige Wissenschaftler, dass die von den Menschen verursachten CO2-Emissionen nichts mit dem Klimawandel zu tun haben, und bestreiten, dass eine Klimakatastrophe bevorsteht. Mit diesem Problem müssen wir uns beschäftigen. Wir müssen vorne in der Kette der Ursächlichkeiten beginnen, die im Moment bei den Verhandlungen zu einem Stau führen. Viele Menschen, die wirtschaftliche Interessen verfolgen, haben ein Interesse daran, dass die Konferenz von Kopenhagen scheitert. Das muss man zunächst einmal erkennen. Für uns als verantwortlich handelnde Politiker können die Zweifel einiger Wissenschaftler, die diese teilweise durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauern können, nicht ausreichen, um zu sagen: Dann lehnen wir uns zurück, die Mehrheit der Wissenschaftler hat wohl unrecht. - Es besteht dringender Handlungsbedarf. Ich bin froh, dass insoweit hier in diesem Haus ein großer Konsens besteht. Die Europäische Union und insbesondere Deutschland haben beim Klimaschutz eine Führungsrolle über924 nommen. Der Ansatz der Europäischen Union, den Ausstoß von Emissionen um 30 Prozent zu reduzieren, wenn sich andere Industrieländer ebenfalls dazu verpflichten und sich auch die Entwicklungsländer daran beteiligen, hat Vorbildfunktion. Man kann jetzt natürlich sagen: Das reicht nicht, wir müssen noch etwas nachlegen. Aber die Kanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Selbst wenn die Europäische Union die Emissionen auf null senkt, reicht das noch lange nicht aus. Wir müssen doch gemeinsam versuchen, das angestrebte Ziel zu erreichen. ({1}) Herr Gysi, Sie haben gesagt, als Ziel müsse man anstreben, den Ausstoß von Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Sicherlich haben Sie recht: Grundsätzlich sollte das die EU anstreben. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass die Kanzlerin das ebenfalls gerne machen würde. Aber Sie müssen doch auch sehen, dass die Kanzlerin wesentlich daran mitgewirkt hat, dass wir in der Europäischen Union so weit sind, wie wir sind. Das sollte man doch einmal anerkennen. ({2}) Auch zur Forderung, die Mittel zur Soforthilfe für die Entwicklungsländer von 7,2 Milliarden Euro auf welchen Betrag auch immer zu erhöhen, kann ich nur sagen: Meine Damen und Herren, wir sind hier nicht auf einem Basar. Wir müssen mit den Mitteln, die wir im Haushalt haben, vernünftig umgehen, und wir dürfen kein Geld verschleudern. ({3}) Zunächst einmal müssen Projekte entwickelt werden. Es muss klar sein, für welche Ziele das Geld eingesetzt wird. ({4}) Wenn das feststeht, dann kann man darüber reden, die Mittel zu erhöhen. Dagegen hat niemand etwas. ({5}) Von einem erfolgreichen Klimaschutzabkommen kann man letztlich nur sprechen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens. Jedes Land muss absolute Emissionsreduktionsgrenzen mitteilen. Die Entwicklungsländer müssen mitteilen, um welchen Prozentsatz sie ihre Emissionen reduzieren wollen. Was nutzen uns denn Effizienzangaben? Wir wollen doch Ziele erreichen. Wir haben uns bis 2020 bzw. 2050 Ziele gesetzt. Die bloße Aussage, die Energie effizienter einsetzen zu wollen, reicht nicht; denn dann haben wir überhaupt keinen Maßstab. Hier muss China in jedem Fall deutlich nachbessern. Zweitens. Die beteiligten Staaten müssen den Klimaschutz engagierter angehen. Ich bin der Meinung, dass die USA im Moment leider nicht das machen, was im Rahmen ihrer Möglichkeiten wäre. Eine Reduktion um 4 Prozent im Vergleich zu 1990 ist nicht ambitioniert. Angesichts einer Pro-Kopf-Emission von über 19 Tonnen kann mir niemand sagen, dass man, wenn man da ambitioniert herangeht, die Reduktionsmenge nicht noch vergrößern könnte. Wenn die Staatengemeinschaft jetzt oder zumindest in sich unmittelbar anschließenden Folgeverhandlungen nicht die Kurve kriegt, dann wird die Natur zurückschlagen. Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln. Ich kann da den Amerikanern nur folgenden Gruß zurufen: Der American Way of Life kann sehr schnell zu einem American Way of Death werden. Das muss erkannt werden. Wir müssen jetzt handeln und dürfen Lösungen für diese Problematik nicht auf die lange Bank schieben. Drittens. Anerkannte und transparente Messverfahren sind einzusetzen. Es nutzt doch nichts, wenn wir Lippenbekenntnisse verkünden. Man muss auch prüfen können, was erreicht werden soll. Hierzu liegen bis dato keine vernünftigen Angebote der Entwicklungsländer vor. ({6}) Meine Damen und Herren, trotz allem Missmut, den ich auch bei anderen Themen als Neuling in diesem Hause in den letzten Wochen mitbekommen und kennengelernt habe, sollte man immer berücksichtigen, welche internationale Wirkung Äußerungen in diesem Hause haben, dass wir alle an einem Strang ziehen ({7}) und dass die Politik im Ergebnis in die richtige Richtung geht. ({8}) Jetzt rede ich auch gerne zu dem, was Frau Künast gesagt hat: Frau Künast, ich bin mir sicher, dass Deutschland mit der Bundeskanzlerin und dem Umweltminister Norbert Röttgen bestens aufgestellt ist. ({9}) Wenn ich eines in den letzten Wochen festgestellt habe, dann ist das Folgendes: Sie werden immer dann laut, Sie werden immer dann unsachlich, wenn unser Personal gut ist und wenn unsere Sachpolitik prima ist. ({10}) Ich jedenfalls kann der Bundeskanzlerin - damit komme ich auch zum Schluss; ich will ja meine Redezeit nicht überziehen - und ihrem Delegationsteam alles Gute wünschen. Ich weiß, wir haben mit ihr, dem Umweltminister und dem Delegationsteam genau die Richtigen nach Kopenhagen entsandt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Seif, das war Ihre erste Rede im Hohen Hause. Wir gratulieren Ihnen dazu recht herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit. ({0}) Das Wort hat Kollege Andreas Jung für die Unionsfraktion. ({1})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin heute früh, bevor sie selbst nach Kopenhagen aufbricht, hier im Bundestag noch einmal eindeutig die deutsche Position in der internationalen Klimapolitik dargestellt hat. Es ist deutlich geworden: Es handelt sich um eine ambitionierte Position, wir nehmen eine Vorreiterrolle ein. Es ist auch deutlich geworden: Wir wollen den Erfolg. Sie hat auch klar gemacht: Erfolg heißt, dass es kein Zurückfallen hinter die Marke des 2-Grad-Ziels geben darf. Ich glaube, das ist als Grundlage für diese Verhandlungen ganz entscheidend. ({0}) Ich finde, es ist auch richtig, dass die Bundeskanzlerin wie viele andere Staats- und Regierungschefs selbst nach Kopenhagen gereist ist, um sich dieses Themas anzunehmen. Sie zeigt damit wie ihre Kollegen: Das Thema ist Chefsache. Bisher - wir haben es in den letzten Tagen erleben können - verhandelt die deutsche Delegation unter der Führung des Bundesumweltministers mit einer drängenden Rolle, mit einer Vorreiterrolle, mit einer konstruktiven Rolle. Das wird in Kopenhagen in der Breite auch anerkannt. Die Konferenz - das haben wir heute Morgen den Tickermeldungen in aller Deutlichkeit entnehmen können befindet sich jetzt aber in einer Phase, in der die Verhandlungen stocken und es teilweise Blockaden gibt. Deshalb ist es richtig, dass die Staats- und Regierungschefs den Klimaschutz als internationales Topthema zur Chefsache machen, indem sie selber an den Verhandlungen mitwirken. ({1}) In der Tat ist dieser Einsatz notwendig. Er zeigt, Frau Künast, dass nicht aufgegeben wird, dass die Flinte nicht ins Korn geworfen wird. Die Kanzlerin wird auch in Kopenhagen deutlich machen, dass Deutschland die Vorreiterrolle einnimmt, die Sie einfordern. Sie haben einen Wettbewerb gefordert, in dem wir vorangehen sollen. Diesem Wettbewerb stellt sich die Bundesregierung. Sie wartet nicht ab, welche Reduktionsziele andere auf den Tisch legen. Sie macht ihre Position, wie es Rot-Grün und die Große Koalition noch gemacht haben, also nicht von dem abhängig, was andere in ein internationales Klimaschutzabkommen einzubringen bereit sind. Vielmehr sind wir bereit, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren, und zwar ohne Wenn und Aber. ({2}) Das zeigt, dass Deutschland seine Vorreiterrolle erfüllt. Frau Künast, ich wäre fast vom Stuhl gefallen, als ausgerechnet Sie ausgerechnet uns vorgeworfen haben, wir würden beim Thema Gebäudesanierung zu wenig tun. Ich will daran erinnern, was die Große Koalition, nachdem sie die rot-grüne Regierung abgelöst hat, getan hat: Sie hat die Mittel für die Gebäudesanierung um mehr als das Dreifache aufgestockt. Das wird jetzt fortgeführt. Wir machen also bei weitem mehr als Sie damals. Damit zeigen wir: Wir setzen uns Ziele und schreiten auch bei der Umsetzung offensiv voran. ({3}) Es ist wahr, dass jetzt die Industriestaaten in der Pflicht sind. Deshalb drängen wir darauf - auch die Bundeskanzlerin hat das heute früh getan -, dass auch die USA ihr Angebot aufbessern und einen größeren Beitrag leisten. Wenn in Kopenhagen überall plakatiert ist: „Welcome to Hopenhagen“, dann sind damit sicherlich in allererster Linie die Amerikaner und Präsident Obama gemeint; denn die gemeinsame Hoffnung ist darauf gerichtet, dass die USA die Blockade der Bush-Regierung in der Klimapolitik aufgeben und offensiv vorangehen. Frau Künast, Sie können sicher sein: Wenn Obama die Blockade aufgibt und die USA offensiv vorangehen, dann werden die Tränen, die fließen, Freudentränen sein; denn es wird Freude darüber herrschen, dass wir in einen konstruktiven Wettbewerb mit den USA und anderen um die Führungsrolle unter den Industriestaaten eintreten können. Ich will zum Thema China kommen, das bereits angesprochen worden ist. China versucht auf diesem Gipfel, sich zum Sprachrohr der Armen dieser Welt zu machen. Ich glaube, diesen Versuch können wir China, das zu einer Wirtschaftsmacht und zum weltweit größten CO2-Emittenten herangewachsen ist, nicht durchgehen lassen. Vielmehr müssen wir, wie es auch die EU tut, deutlich machen: Auch die Chinesen müssen am Ende ihren Beitrag leisten. ({4}) Das ist nicht nur unsere Position, sondern diese Position wird auch von den ärmsten Entwicklungsländern unterstützt, gerade von den Inselstaaten, die gegenüber China zum Ausdruck bringen: Wir spielen in einer anderen Liga, und deshalb müsst ihr euch zu eigenen Beiträgen verpflichten. Darauf hinzuwirken, wird die Aufgabe der Bundesregierung, aber auch der Europäischen Union sein. Beson926 Andreas Jung ({5}) ders Deutschland und die Bundeskanzlerin drängen darauf, dass die EU sich verpflichtet, den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 bis 2020 um 30 Prozent zu verringern. Ich will deutlich sagen: Für mich ist nicht vorstellbar, dass wir am Ende dieses Gipfels hinter diese Ankündigung zurückfallen; denn wir müssen unserer Vorreiterrolle, die auch die EU für sich beansprucht, gerecht werden. Ein weiterer Punkt ist die Finanzierung. Vonseiten der EU und der Bundesregierung gibt es ganz konkrete Angebote für die kurzfristige Perspektive bis 2012. Es wurde ganz konkret von der Bundesregierung gesagt und vom Bundesumweltminister vor Ort bestätigt, dass das Geld, das dort fließt, zusätzlich obendrauf kommt und nicht von dem Geld abgezweigt wird, das wir etwa für die Armutsbekämpfung einsetzen. Das ist die entscheidende Botschaft. ({6}) Herr Kelber, wenn Sie und andere jetzt sagen, man muss das 0,7-Prozent-Ziel erfüllen und man muss noch zusätzliches Geld obendrauf legen, dann verlangen Sie, dass die neue Bundesregierung in drei Monaten mehr macht als Ihre Entwicklungshilfeministerin in drei Wahlperioden. ({7}) Diesen Versuch halte ich für unredlich. Sie zünden Nebelkerzen und tragen mit diesen falschen Informationen dazu bei, dass nicht etwa Vertrauen wächst, das wir jetzt dringend brauchen, sondern dass eher Misstrauen gesät wird. Damit erweisen Sie dem Klimaschutz mit Sicherheit einen Bärendienst. ({8}) In den nächsten Tagen wird es um Folgendes gehen: ambitionierte Reduktionsziele und Beiträge für die Finanzierung, auch langfristige Beiträge, die die EU auf dem Europäischen Rat in Höhe von 100 Milliarden Euro bis 2020 gesehen hat. Wenn man sich heute früh die Äußerungen Äthiopiens anschaut, dann kann man durchaus eine Bewegung aufeinander zu feststellen. Das macht uns Hoffnung. Jetzt geht es darum, gemeinsam hinter der Bundeskanzlerin und dem Bundesumweltminister zu stehen. Wir hoffen auf einen Erfolg des Gipfels in Kopenhagen. Er darf nicht scheitern. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die Unionsfraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Letzten beißen bekanntlich die Hunde. Aber der Letzte hat die Möglichkeit, die gesamte Debatte etwas zusammenzufassen. Es war schon sehr interessant, die verschiedenen Standpunkte zu hören. Da gab es die grüne Märchenstunde von Frau Künast. Man muss sich schon fragen, warum Sie diese Polemik immer wieder vorbringen. ({0}) Ich möchte kurz auf die Regierungszeit von Rot-Grün eingehen. Frau Künast, Sie sollten sich diese Zahlen einmal anhören. In sieben Jahren rot-grüner Regierungszeit wurden die Aufwendungen für die Entwicklungszusammenarbeit um 300 Millionen Euro gesenkt, während in der Zeit der rot-schwarzen Regierung ein Aufwuchs von 3,9 auf 5,7 Milliarden Euro zu verzeichnen war. ({1}) Ein weiterer Punkt, den die SPD geflissentlich verschweigt: Der letzte Haushaltsentwurf der rot-schwarzen Regierung vom Juni wurde an der Stelle um noch einmal 44 Millionen Euro aufgestockt. ({2}) Da kann man doch wirklich nicht davon sprechen, dass die Regierung die Ziele der Entwicklungsarbeit aufgegeben hätte. ({3}) Herr Kelber, ich komme jetzt zu Ihnen. ({4}) Sie sprachen davon, dass die 420 Millionen Euro, die Deutschland zusätzlich für den Klimaschutz bereitstellen möchte, Peanuts wären.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Koczy?

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Lämmel, weil es jetzt um die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit geht, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass Deutschland auch unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit war, zuzusagen, die Entwicklungsgelder auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens im Rahmen des europäischen Stufenplans aufzustocken, und dass Sie mit dieser von Ihnen angesprochenen Aufstockung um 44 Millionen Euro weit darunterliegen? Wahrscheinlich werden stattdessen bis 2010 3 Milliarden Euro in dem entsprechenden Haushalt fehlen.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Kollegin, mit den Quoten ist es immer so eine Sache. Für mich ist die Frage der Quantität noch lange nicht entscheidend für die Qualität. ({0}) - Herr Kelber, wir reden über Steuergeld. Es ist nicht Ihr Geld, sondern es ist das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland. ({1}) Bundeskanzlerin Merkel regiert immer noch. Das mag Ihnen zwar nicht gefallen; aber sie wird zu den Zusagen stehen. Man muss natürlich sehen, dass auch in Deutschland und Europa die Haushaltslage aufgrund der Wirtschaftsund Finanzkrise nicht besser geworden ist. Insofern erinnere ich Sie nur an Ihre Regierungszeit. Sie haben die Mittel immer weiter gesenkt, während wir sie in den letzten Jahren immer weiter angehoben haben. ({2}) Herr Kelber, jetzt zu Ihren 420 Millionen Euro, die zumindest Ihrer Meinung nach Peanuts sind. ({3}) Auch das ist Steuergeld; das muss man immer wieder sagen. Es muss erst einmal erwirtschaftet und erarbeitet werden, bevor wir mit einem lausigen Federstrich 420 Millionen Euro zusätzlich ausgeben können. Außerdem ist es scheinheilig, was Sie hier betreiben; denn Sie sagen nicht, dass die Aufwendungen Deutschlands für Klimaschutzmaßnahmen ein Vielfaches dieses Betrages ausmachen. Sie verschweigen zum Beispiel, dass die Verbraucher in Deutschland allein rund 27 Milliarden Euro aufbringen müssen, um im Rahmen der Energiewende den Solarstrom zu bezahlen. Mit diesen 27 Milliarden Euro leisten die deutschen Verbraucher - die Privatverbraucher genauso wie die Wirtschaft Entwicklungshilfe für China und Japan, weil der deutsche Markt mittlerweile zumindest zu 50 Prozent von asiatischen und damit auch chinesischen Solarmodulen beherrscht wird. Das haben Sie in Gang gesetzt. ({4}) Für uns gelten drei Kriterien, die außerordentlich wichtig sind, wenn man den Erfolg der Klimaschutzkonferenz in Kopenhagen messen will: Das Erste ist die Nachprüfbarkeit der Ziele. Darüber wurde heute schon diskutiert; dies ist enorm wichtig. Denn es spricht leider keiner mehr davon, dass Deutschland eines der wenigen Länder in der Welt überhaupt ist, das die im Rahmen des Kioto-Protokolls eingegangenen Verpflichtungen annähernd erfüllt hat. ({5}) Die anderen haben sich teilweise sehr bemüht, weitere haben sich heimlich vom Acker gemacht. Wir brauchen hier ein klares Ranking, das im Internet veröffentlicht wird, sodass jeder sehen kann, welche Verpflichtungen eingegangen und welche Verpflichtungen erfüllt worden sind. Das Zweite ist die Transparenz der Geldflüsse. Ich habe es schon gesagt: Es ist kein Wert an sich, über Millionen zu sprechen. Auch mir gehen 500 Millionen oder Milliarden schnell über die Lippen. Die Frage ist, wofür das Geld mit welcher Effizienz eingesetzt wird. Hier brauchen wir Transparenz. Wir müssen wissen, um was es überhaupt geht, welche Projekte damit finanziert werden können und ob dieses Geld dort ankommt, wo es seinen Effekt erzielen soll. Das dritte Thema ist die Wettbewerbsneutralität. Es ist klar, dass wir in Deutschland gewaltig in Vorleistung gegangen sind. Wir haben schon große Probleme zum Beispiel bei der stromintensiven Industrie, nämlich eine Belastung des Strompreises durch Sie, Herr Kelber; Sie sind ganz vorn mit dabei. ({6}) Wenn die stromintensive Industrie in andere Länder zieht und vielleicht Arbeitsplätze in Entwicklungsländer exportiert, dann steigen bei uns in Deutschland die Soziallasten. Sie sollten sich eines vor Augen halten: Wenn die Leistungsfähigkeit Deutschlands nicht so stark wäre, wie sie ist - das ist der deutschen Wirtschaft zu verdanken -, dann bräuchten wir uns doch überhaupt nicht über die Milliarden zu unterhalten, die wir für diese Programme zur Verfügung stellen können. Deswegen müssen wir die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten und die Arbeitsplätze in Deutschland sichern. Daher gilt es, im Rahmen des Klimaschutzabkommens gleiche Wettbewerbsbedingungen überall in der Welt zu garantieren. ({7}) Die vorhin genannten Kriterien gelten für uns. Wenn weltweit die gleichen Bedingungen eingehalten werden, dann entwickelt sich aus der Klimaschutzkonferenz ein Erfolg. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich in den Diskussionen der letzten Wochen zurückgehalten. ({0}) Aber da heute Morgen immer wieder Zahlen genannt worden sind, die verwirrend und falsch sind, will ich daran erinnern, wie der Stufenplan zur Steigerung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit entstanden ist. Das 0,7-Prozent-Ziel ist zum ersten Mal in den 70er-Jahren festgelegt worden, aber ohne jede zeitliche Festlegung, ohne einen Stufenplan, wie die Mittel gesteigert werden sollen. Es gibt nur eine vergleichbare Zahl: Official Development Assistance. Diese Quote wird von der OECD gemessen und ist für alle Länder vergleichbar. Am Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt lag diese Zahl bei 0,48 Prozent. Im Jahr 1998, am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl, lag der Wert bei 0,26 Prozent. Das ist der Stand, den ich im Jahr 1998 als neue Entwicklungsministerin vorgefunden habe. Im Jahr 2001, unter sozialdemokratischer Regierungsführung von Gerhard Schröder, haben wir zum ersten Mal einen Stufenplan entwickelt. Dadurch sind überhaupt erst Steigerungen zustande gekommen. Damals wurde gesagt, dass die Zahl bis 2005 EU-weit auf 0,33 Prozent steigen soll; das haben wir erreicht. Im Mai 2005, auch noch in Gerhard Schröders Regierungszeit, wurde der EU-Stufenplan festgelegt. Er sieht für den Zeitraum bis 2010 eine Steigerung der Zahl auf 0,51 Prozent vor; bis 2015 soll die Quote auf 0,7 Prozent steigen. Wir werden nun im Jahr 2009 - so wird vermutet - einen Wert von etwa 0,41 Prozent erreichen. Ich lege Wert darauf: Die Steigerung der Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit ist maßgeblich unter sozialdemokratischem Einfluss erfolgt. ({1}) Sie ist schrittweise erfolgt, gemäß dem Stufenplan, der jetzt von anderen gebrochen wird. ({2}) Das ist die Wahrheit; diese sollte einfach zur Kenntnis genommen werden. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Es ist jetzt eine wilde Aufrechnerei in Gang gekommen, ({0}) die im Übrigen von Ihrer Rednerin begonnen wurde. Keiner im Publikum kann überhaupt nachvollziehen, was Sie hier alles darstellen. Es bleibt festzuhalten, dass die Aufwendungen für die Entwicklungszusammenarbeit in der Zeit der Großen Koalition von 3,9 auf 5,7 Milliarden Euro angestiegen sind. Es bleibt festzuhalten, dass die Mittel in der Endphase der rot-grünen Koalition gekürzt wurden. ({1}) Es bleibt festzuhalten, dass das Ausgabevolumen im neuen Haushaltsentwurf der schwarz-gelben Koalition gegenüber dem Haushaltsentwurf der Großen Koalition um weitere 44 Millionen Euro gesteigert worden ist. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege Dirk Niebel das Wort.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Kollege, um die Verwirrung aus der Debatte zu nehmen, möchte ich Folgendes feststellen: Das 0,7-Prozent-Ziel ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Die Frau Bundeskanzlerin hat in der Regierungserklärung hier in diesem Hause festgestellt, dass bis zum Jahre 2012 das 0,7-Prozent-Ziel erreicht werden soll. ({0}) Sie hatte darüber hinaus festgestellt, dass Entwicklungszusammenarbeit keine Neben-, sondern eine Hauptsache für die neue Bundesregierung ist. Es bleibt festzustellen, dass die erreichte Quote im Jahre 2008 bei 0,38 Prozent lag, im Jahr 2009 vermutlich bei 0,37 Prozent liegen wird und das Ausgabevolumen im Haushaltsentwurf der neuen Bundesregierung für den Einzelplan 23 - Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - im Vergleich zum letzten Haushaltsentwurf der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Finanzminister Peer Steinbrück weiterhin anwächst, und zwar um 44 Millionen Euro Barmittel zusätzlich. Das ist weniger, als wünschenswert ist. Vor dem Hintergrund der größten Wirtschafts- und Finanzkrise ist es aber ein deutliches Signal, dass die entwicklungspolitische Zusammenarbeit für die neue Bundesregierung von hohem Stellenwert ist. Sie wird auch in Zukunft mit diesem hohen Stellenwert betrachtet. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eigentlich ist es nicht an mir, die Vertreter der jetzigen Regierungsmehrheit daran zu erinnern, was in ihrem Koalitionsvertrag steht. Im Koalitionsvertrag steht nämlich weder ein Zeitziel noch irgendein Stufenplan für die Steigerung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Entweder nehmen Sie den KoalitionsverHeidemarie Wieczorek-Zeul trag nicht ernst oder Sie haben sich nicht ausreichend um das Thema gekümmert. Ich will aus meiner eigenen Erfahrung nur sagen - ich weiß, dass es manchmal sehr schwierig war -: Das Einzige, was zählt, sind nicht allgemeine Erklärungen, sondern Koalitionsverträge und entsprechende Stufenpläne, die festgelegt sind. Wenn es schwierig wird, sind sie nämlich der Referenzpunkt in der Auseinandersetzung mit dem Finanzminister. Sie haben bei diesen Fragen keinen Schwerpunkt gesetzt und nicht aufgepasst, dass das entsprechend verankert wird. ({0}) Das wird sich rächen. Es tut mir leid, dass wir uns jetzt und hier darüber auseinandersetzen müssen, aber ich finde, Sie sollten Ihre Fehler auch einräumen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur gerade entstandenen Verwirrung: Ich empfehle uns allen, die Regeln zum Thema Kurzintervention und die Gründe, wann man zu einem solchen Mittel greifen kann, nachzulesen. Es geht einerseits um persönliche Ansprache, andererseits um Auseinandersetzungen mit Positionen. Insofern war es sicherlich möglich, der Kollegin Wieczorek-Zeul die Möglichkeit zur Erwiderung zu geben. Es wäre auch möglich gewesen, anderen die Möglichkeit einzuräumen. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Zusatzpunkten 2 bis 5. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/271, 17/260, 17/246 und 17/235 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag auf Unterbrechung unserer Sitzung zum Zwecke einer Fraktionssitzung gestellt. Ich unterbreche die Sitzung für circa 30 Minuten. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 17/182 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende - Drucksache 17/181 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Katrin Göring-Eckardt, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende ({3}) - Drucksache 17/206 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Ach, das ist billig, Herr Kolb. ({1}) - Herr Kolb, wenn Sie sonst nichts zu lachen haben in Ihrer Koalition, ist das vielleicht ein ganz guter Anlass. Es geht hier heute um ein ernsthaftes Thema. Es geht - Frau Ministerin von der Leyen, ich freue mich, dass zumindest Sie auf der Regierungsbank sind - um die Frage, wie wir in einem Jahr, 2010/2011, in dem die Massenarbeitslosigkeit droht zu steigen, in dem viele Menschen nicht mehr Arbeitslosengeld I, sondern Arbeitslosengeld II beziehen, mit der Arbeitsverwaltung, der Arbeitsvermittlung in diesem Lande umgehen. Frau von der Leyen, in diesem Zusammenhang ist mir angesichts Ihres Auftrittes vor der Presse am Montag nach der ASMK, nach der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, das schöne alte Lied von Herbert Grönemeyer und Hubertus Heil ({2}) den Fantastischen Vier eingefallen, in dem es heißt: Es könnte alles so einfach sein, ist es aber nicht. Worum geht es? Es geht darum, dass wir Ihnen heute einen Gesetzentwurf vorschlagen, durch den erreicht werden soll, dass es in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit nicht zu einem Chaos in der Arbeitsmarktpolitik zulasten von Langzeitarbeitslosen kommt. ({3}) Deshalb bitte ich darum, dass Sie einmal mit Ihren Landräten reden, ({4}) mit den Jobcentern, mit Ihren Arbeitsministern und sich ein altes Motto von Sir Karl Popper zu Gemüte führen, nämlich dass gute Politik nichts anderes ist als pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken. Wir präsentieren Ihnen heute einen Gesetzentwurf, der schon einmal Konsens war zwischen der damaligen Bundesregierung und allen Bundesländern. Er hat das Ziel, die Verfassung zu ändern, um Zentren für Arbeit und Grundsicherung zu schaffen. Wir wollen nicht zulassen, dass in diesen Zeiten mit Langzeitarbeitslosen Pingpong gespielt wird. Wir wollen und brauchen Hilfe aus einer Hand. Machen Sie den Weg dafür frei! ({5}) Das gilt auch für die Absicherung der 69 Optionskommunen. Wir sind bereit, das Grundgesetz zu ändern, um dies zu ermöglichen. Frau von der Leyen, Sie wissen sehr gut, dass es viele verfassungsrechtliche Bedenken dagegen gibt, die Entfristung in Bezug auf die 69 Optionskommunen untergesetzlich oder gesetzlich zu organisieren und nicht durch eine Grundgesetzänderung. Reden Sie mit dem Deutschen Landkreistag, reden Sie mit den Landräten von SPD und CDU bzw. CSU in Deutschland darüber, welche Zunahme an Bürokratie und Kosten zulasten der Kommunen es geben würde, wenn die getrennte Aufgabenwahrnehmung, die Sie wollen, Wirklichkeit würde. Ihr Vorschlag, nicht mehr Hilfe aus einer Hand, sondern Hilfe unter einem Dach zu organisieren, funktioniert deshalb nicht, weil es in dieses Dach, auch verfassungsrechtlich, reinregnet. Deshalb kann ich nur sagen: Frau von der Leyen, kommen Sie zurück auf einen vernünftigen Weg! ({6}) Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden Ihnen, wenn Sie dazu bereit sind, alle Unterstützung geben, weil wir in vielen Kommunen Verantwortung tragen und auch als Oppositionsfraktion Verantwortung für die Menschen in diesem Land, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, spüren. Unser Vorschlag ist dreistufig. Wir sind bereit, die Zusammenarbeit zwischen Arbeitsverwaltung und Kommunen dadurch verfassungsrechtlich abzusichern, dass wir Zentren für Arbeit und Grundsicherung organisieren. Wir sind bereit, das Optionsmodell verfassungsrechtlich abzusichern. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir sind sogar bereit, mit Ihnen über eine moderate Erhöhung der Zahl der Optionskommunen zu sprechen. ({7}) - Ja. Das ist ein Gesprächsangebot, das Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Ich habe mit einer Reihe von CDU-Landräten gesprochen. Ich kenne den einstimmigen Beschluss des Niedersächsischen Landtages - wir kommen beide aus Niedersachsen, Frau von der Leyen -, in dem genau dies gewünscht wird: nämlich dass dafür gesorgt wird, dass es keine getrennte Aufgabenwahrnehmung gibt, sondern eine Zusammenarbeit im Interesse der arbeitslosen Menschen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Verunsicherung der Menschen, die in der Arbeitsvermittlung arbeiten, die Verunsicherung der in den Kommunen Tätigen und vor allen Dingen die Verunsicherung der arbeitslosen Menschen sind eine Katastrophe. ({8}) - Herr Kolb, danke für Ihren Zwischenruf. Ich sage Ihnen: Wir hatten schon einmal eine Lösung. ({9}) Olaf Scholz hat eine Lösung organisiert, die mit allen Ländern besprochen war. Blockiert wurde sie von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({10}) Frau von der Leyen, ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit mehr Popper und weniger Kauder. Es geht nämlich um pragmatisches Handeln, nicht um die Ideologie der konservativen Führung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich erinnere daran, dass Herr Rüttgers und Herr Laumann durch die Arbeit dieser CDU/CSU-Bundestagsfraktion im letzten Jahr geradezu blamiert wurden. ({11}) Es gab einen Konsens, den Herr Rüttgers, Herr Beck und Herr Scholz ausgearbeitet hatten. ({12}) Wir machen Ihnen diesen Vorschlag in der Hoffnung, dass Sie im Januar nächsten Jahres zu Potte kommen. Ihre Eckpunkte stoßen auf keinerlei Akzeptanz. Frau von der Leyen, eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Nachdem Sie von den Arbeits- und Sozialministern der Länder zweimal eine Klatsche bekommen haben - einmal gab es einen fast einstimmigen Beschluss, mit dem sie sich im Grundsatz dagegen aussprachen; am Hubertus Heil ({13}) vergangenen Montag haben sie Anforderungen formuliert, die sich nicht mit Ihren Eckpunkten decken -, stellten Sie sich vor die Presse und sagten: Ich habe mich durchgesetzt. Alles ist in Ordnung. - Hier gilt Helmut Kohls Aussage: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit. - Diesen Satz hat der Mann einmal gesagt, und an diesem Punkt können wir diesen Satz beweisen. Ich bitte Sie ganz herzlich, nicht kleinkariert und parteitaktisch zu denken nach dem Motto: Wir wollen die Sozis nicht einbeziehen. - Wir brauchen eine Lösung, die verfassungsfest ist, die den Lebensrealitäten der Menschen und den Bedürfnissen der Kommunen entspricht. Deshalb legen wir Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, in dem zwei Grundgesetzänderungen vorgesehen sind. Wir wollen die Zentren für Arbeit und Grundsicherung ein für alle Mal absichern, damit nicht am 1. Januar 2011 in Zeiten steigender Massenarbeitslosigkeit Chaos ausbricht. ({14}) Sie stehen jetzt in der Verantwortung. Seien Sie bei diesem Thema klüger als Herr Jung - er hatte nicht viel Zeit -, ({15}) und gehen Sie einen vernünftigen Weg. Wenn man sich verlaufen hat, ist es keine Schande, dies einzugestehen und umzukehren. Wir laden Sie herzlich dazu ein. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas Dörflinger das Wort. ({0})

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heil, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Sie heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf einbringen, hätte ich erwartet, dass Sie auch etwas zu Inhalt und Struktur dieses Gesetzentwurfes sagen, ({0}) statt die Ihnen zur Verfügung stehenden sechs Minuten für persönliche Angriffe auf die Ministerin zu nutzen. Das war wenig überzeugend. ({1}) Ich habe einen Verdacht, weshalb das so und nicht anders geschehen ist, und habe mich an einen Werbespruch für einen Schokoriegel erinnert. Vor ungefähr 15 Jahren hieß es: „Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix.“ Sie wollen uns hier weismachen, die Arge heißt zukünftig ZAG, und sonst ändert sich nichts. Deswegen haben Sie in der Substanz nichts zu Ihrem Gesetzentwurf gesagt. Das Zentrum für Arbeit und Grundsicherung ist aber etwas völlig anderes als die Arge. Zu dieser Erkenntnis kommt man schon allein aufgrund der Tatsache, dass die Arge bzw. § 44 b SGB II als verfassungswidrig eingestuft worden ist. Wäre beides das Gleiche, wäre das ZAG logischerweise auch verfassungswidrig. Was Sie hier tun, ist: Sie bauen eine Bürokratie sondergleichen auf ({2}) mit schätzungsweise 350 neuen Behörden, ({3}) neuen Verwaltungsstrukturen, neuen Haushaltsverantwortungen, neuen Personalbedarfen. ({4}) Das dient weder den Interessen der Beschäftigten vor Ort, die gegenwärtig in einer Arge oder einer Optionskommune beschäftigt sind, noch dient es den Interessen derer, die sich gegenwärtig im ALG-II-Bezug befinden. ({5}) Sie haben den Beschluss der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 13. März 2009, wenn ich das Datum richtig im Kopf habe, erwähnt. Ich bitte um Verständnis, aber ich muss Ihnen sagen: Ich bin stolz darauf, dass wir den Scholz-Entwurf seinerzeit abgelehnt haben. ({6}) Ich habe nämlich an dem Freitag nach dieser Sitzungswoche mit dem Landrat in meinem Wahlkreis - Waldshut gesprochen. Tilman Bollacher hat mir gesagt - rufen Sie ihn an! -: Gott sei Dank habt ihr es abgelehnt. Wir halten das für keinen zukunftsfähigen Weg. ({7}) - Ich habe mit dem Deutschen Landkreistag geredet; das liegt keine drei Tage zurück. ({8}) Da war wenig Gegenliebe für den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf spürbar. Ich sehe durchaus die Berührungspunkte mit dem, was der Deutsche Landkreistag vertritt, und ich will darauf auch zurückkommen; aber zunächst noch einmal zu Ihrem Gesetzentwurf und zu dem, was an neuer Bürokratie und neuer Verwaltung entstünde. Schauen wir einmal in den Gesetzentwurf hinein! ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte schön. - Kollege Heil hat das Wort zu einer Zwischenfrage.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Kollege Dörflinger, danke, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. Mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitiere ich aus einem Brief des Niedersächsischen Landkreistages an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff: Der MK-Beschluss vom 25./26.11., dem auch Nieder-sachsen zugestimmt hat, bietet die Chance, eine breite Mehrheit der Länder für eine Verfassungsänderung für ein Argen-Nachfolgemodell zu gewinnen. Nachdem da-rüber hinaus erste Signale erkennbar sind, dass bei der SPD-Bundestagsfraktion auch Gesprächsbereitschaft für eine moderate Ausweitung der Option besteht, möchten wir im Namen unserer Mitglieder eindringlich bitten, sich aktiv für eine zukunftsgerichtete, befriedende und der sozialpolitischen Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen gerecht werdende Lösung einzusetzen. Können Sie bestätigen, dass das ein einstimmiger Beschluss des Niedersächsischen Landkreistages ist, dass also die kommunale Front vollständig gegen das steht, was Sie da vorhaben? Der Deutsche Landkreistag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Städtetag sind nicht Ihrer Meinung. Sie haben uns bisher auch noch nicht erläutert, was Ihr Modell sein soll. Was Sie anbieten, ist Chaos zulasten der Arbeitslosen, Herr Dörflinger. ({0})

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst einmal will ich der guten Ordnung halber bestätigen, dass es diesen einstimmigen Beschluss gegeben hat. Was die - wenn Sie mir diesen martialischen Sprachgebrauch erlauben - „Gefechtslage an der kommunalen Front“ angeht, nehme ich Bezug auf ein Gespräch mit dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages von vor drei Tagen. Professor Henneke hat in diesem Gespräch ausdrücklich erklärt, dass er bei dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit dem Eckpunktepapier skizzierten Weg an der einen oder anderen Stelle noch Gesprächsbedarf sieht. ({0}) - Ich sage gleich dazu, dass wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ebenfalls Gesprächsbedarf sehen. - Im Kern hat Professor Henneke den Vorschlag allerdings für eine tragfähige Grundlage für die weitere Beratung gehalten. Dass die SPD-Bundestagsfraktion auch für eine maßvolle Erweiterung der Anzahl der Optionskommunen eintritt, ist völlig neu und steht weder im Gesetzentwurf, noch war es Gegenstand der Beratungen. ({1}) - Frau Pothmer, immer mit der Ruhe! Ich habe das doch gar nicht kritisiert. ({2}) Ich habe nur gesagt, dass es völlig neu ist. Wenn das tatsächlich substanziell so gemeint ist, dann können wir gern darüber reden. ({3}) Ich fürchte bloß, dass das ein Windei ist. Herr Kollege Heil, lassen Sie mich noch einmal auf den Beschluss vom 13. März zurückkommen. Wir befinden uns in unserer Skepsis gegenüber dem seinerzeitigen Gesetzentwurf aus dem Hause Scholz in guter Gesellschaft; denn in einem Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 23. September 2008 - auch damals war Olaf Scholz schon Chef in jenem Hause - heißt es: Dieser Ansatz - das Zentrum für Arbeit und Grundsicherung wird … abgelehnt. Zur Begründung heißt es: Entscheidender Nachteil bei einer vollständigen Eigenständigkeit der ZAG wäre die Kleinteiligkeit des Verwaltungshandelns, wenn Fragen wie die der Personalbewirtschaftung, der Haushaltsplanung und der Liegenschaftsverwaltung dezentral in 370 Einheiten zu regeln wären, was insgesamt ineffizient wäre. Das war, wie gesagt, schon im September 2008 die Einschätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Einschätzung, dass Ihr Vorschlag nicht praktikabel ist, ist also keine Erfindung der CDU/CSUBundestagsfraktion, sondern wird offensichtlich vom federführenden Hause geteilt. Ich will ein Wort dazu sagen, wie wir uns die Eckpunkte der Neukonzeption des SGB II vorstellen. Das Ministerium hat ein Eckpunktepapier vorgelegt. In einigen Punkten dieses Eckpunktepapiers stimmen wir überein, zu einigen Punkten haben wir noch Gesprächsbedarf. ({4}) Erstens. Richtig ist - hierüber herrscht wohl großer Konsens in diesem Hause -, dass wir für eine Entfristung bei den bestehenden 69 Optionskommunen eintreten. ({5}) Zweitens. Wir wollen die Leistungen so gut wie möglich - soweit dies das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 hergibt - aus einer Hand, zumindest aber unter einem Dach organisieren. Ich glaube, dass das auch ohne eine Grundgesetzänderung möglich ist. ({6}) Ich sage an dieser Stelle: Ich will die Möglichkeit einer Grundgesetzänderung nicht für alle Tage ins Nirwana verweisen. Ich schlage keine Tür zu, Frau Pothmer, auch vor dem Hintergrund des heute vorgelegten Gesetzentwurfs von Bündnis 90/Die Grünen nicht, der, wenn ich richtig orientiert bin, nicht Gegenstand der Debatte ist. ({7}) Er traf erst gestern Abend bei mir ein. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn mir intensiv anzuschauen. Bei einem ersten kursorischen Durchsehen habe ich nur gewisse Unterschiede zu dem gesehen, was uns die Sozialdemokraten vorgelegt haben. ({8}) Ich sage von dieser Stelle aus zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich zu, dass wir uns diesem Vorschlag selbstverständlich mit der notwendigen Akribie widmen und ihn ernsthaft prüfen werden. Ich will keine Tür von vornherein zuschlagen. ({9}) Ich sage auch, dass uns vor dem Hintergrund, dass von 240 Kommunen, in denen sich gegenwärtig Arbeitsgemeinschaften befinden, sich 171 - Stand vorgestern schriftlich bereit erklärt haben, es den 69 bestehenden Optionskommunen gleichzutun und zu optieren, wenn es die Möglichkeit gäbe, die Pflicht auferlegt wird, die Frage, ob wir die Möglichkeit, zu optieren, nicht nur zeitlich verlängern, sondern auch quantitativ ausweiten, noch einmal intensiv zu prüfen, anstatt diesen Vorschlag einfach nur mit dem Argument vom Tisch zu fegen, das sei verfassungswidrig. ({10}) Herr Heil, Sie haben vorhin gesagt: Reden Sie mit Ihren Landräten. - Ja, das tun wir gerne. Ich sage: Reden Sie bitte auch mit Ihren Landräten; ({11}) denn ich gehe davon aus, dass die 171 Landräte nicht nur die Landräte der Union und der FDP sind, sondern dass auch sozialdemokratische Landrätinnen und Landräte dabei sind, die von Ihnen an dieser Stelle ein konstruktives Verhalten erwarten. Dieser Erwartung schließen wir uns an. ({12}) Ich sage dazu: Das ist ein kritischer Punkt im Hinblick auf das Eckpunktepapier des BMAS. Wenn wir die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts umsetzen - getrennte Aufgabenwahrnehmung, nach Möglichkeit unter einem Dach -, dann erwarten wir ein Begegnen von Kommune und Bundesagentur für Arbeit auf Augenhöhe. ({13}) Ohne zu sehr ins Detail einzusteigen, sage ich: Durch die Vorgaben, die auch in der dritten Version des Eckpunktepapiers geliefert werden, wird noch nicht das erreicht, was wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter einem Begegnen auf Augenhöhe vorstellen. ({14}) Hier herrscht noch Nachbesserungsbedarf; das will ich ausdrücklich sagen. ({15}) Zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Ich komme unter dem Stichwort „Verwaltungsaufbau und Bürokratie“ noch einmal im Detail auf den Gesetzentwurf zu sprechen. In Art. 1 § 5 ist die Trägerversammlung definiert; das ist unstrittig. Interessant wird es in Art. 2. In § 18 b geht es um einen Kooperationsausschuss, in § 18 c um einen Bund-Länder-Ausschuss, in § 18 d um örtliche Beiräte und in § 18 e - das ist immer noch Art. 2 - um Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, direkt bei der Geschäftsführung angesiedelt. ({16}) Man stelle sich vor, dass die Gleichstellungsbeauftragte in einem Landkreis zukünftig dem Kreistag berichtet, der es zusätzlich noch mit einem Beauftragten oder einer Beauftragten für Chancengleichheit zu tun hat, der bzw. die gegenüber der Geschäftsführung der ZAG verpflichtet bzw. rechenschaftspflichtig ist. Wie das mit Verwaltungsvereinfachung und Bürokratieabbau zu vereinbaren ist, ist mir völlig schleierhaft. Das ist kein Weg, den wir mitgehen werden. ({17}) - Die Art und Weise, wie Sie reagieren, zeigt mir, dass ich an dieser Stelle nicht ganz falsch liege; denn in der Regel ist es so: Wer schreit, hat unrecht. Es gilt auch der Satz, dass getroffene Hunde bellen. ({18}) Insgesamt erkenne ich durchaus an, dass durch den neuesten Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz vom 14. Dezember etwas Bewegung in die Diskussion gekommen ist. Die von Ihnen skizzierte einheitliche Front der Bundesländer gegenüber dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sehe ich zumindest nach diesem Beschluss nicht. Ich sehe vielmehr, dass von dort signalisiert wird, dass das, was das BMAS vorgelegt hat, durchaus als tragfähige Grundlage betrachtet werden kann, um für die Zukunft zu einer vernünftigen Regelung zu kommen. ({19}) Ich komme zum Schluss. Wenn wir ehrlich sind - das gilt für alle Fraktionen in diesem Hause -, dann waren die Konstruktion im SGB II und die Umsetzung des Hartz-IV-Gesetzes insbesondere deswegen nicht optimal, weil sie unter erheblichem Zeitdruck erfolgten bzw. erfolgen mussten. Das gilt sowohl für das Gesetzgebungsverfahren als auch für die Umsetzung vor Ort. Deswegen sage ich: Jetzt eilt zwar die Zeit, da die Argen bzw. die Optionskommunen nach dem 31. Dezember des kommenden Jahres nicht mehr zulässig sind. Aber auch wenn wir nur ein halbes Jahr Zeit für die Beratung im Deutschen Bundestag und in den Ausschüssen haben, dann sollten wir diese Zeit vernünftig nutzen, statt die Zeit zum obersten Prinzip unserer Arbeitsweise zu erklären. Insofern freue ich mich auf eine gute Beratung insbesondere der Eckpunkte aus dem BMAS. Der Gesetzentwurf, den uns die SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt hat, ist keine tragfähige Grundlage für die Zukunft. Herzlichen Dank. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem Verfassungsgerichtsurteil sind jetzt zwei Jahre vergangen, in denen keine übergreifende Einigung gelang, und wir haben noch ein Jahr bis zum Ablauf der Frist. Ein Jahr ist eigentlich viel zu kurz, um eine mögliche Umstrukturierung umzusetzen. Kurzum: Wir befinden uns quasi in einem Dilemma. Frau von der Leyen, Sie sind jetzt wahrlich nicht zu beneiden; denn selbst wenn es FDP und CDU/CSU gelänge, sich auf ein Modell zu einigen, dann wäre nicht auszuschließen, dass auch dieses Modell in ein, zwei Jahren vom Bundesverfassungsgericht gekippt würde. Das große Problem dabei ist, dass uns eine Suppe eingebrockt wurde, die am Ende andere auslöffeln müssen. Da von der Organisationsreform Millionen Menschen existenziell betroffen sind, ist äußerste Sorgfalt geboten. Ich möchte aus Sicht der Linken darstellen, was unserer Meinung nach auf gar keinen Fall passieren darf. Erstens darf die Bundesagentur auf keinen Fall einfach so weiteragieren wie bisher. ({0}) Im Zuge der Hartz-Gesetze wurde aus dem Arbeitsamt eine Agentur, in der alles betriebswirtschaftlich ablaufen sollte. Auf der Strecke geblieben sind dabei der sozialpolitische Auftrag und die innerbetriebliche Demokratie. Wir als Linke sagen: Die Bundesagentur muss wieder demokratisiert werden, und sie muss ihren sozialpolitischen Auftrag wahrnehmen. ({1}) Oberste Aufgabe der Bundesagentur ist es, dafür Sorge zu tragen, dass niemand unter die Räder kommt. Das heißt, es braucht eine andere Beratungsqualität. Heute stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufig unter dem Druck, Einsparungen vorzunehmen. Es gibt feste Einsparquoten, die zu erfüllen sind. Das ist in den Beratungsgesprächen maßgebend. Wir meinen jedoch, dass die Hauptaufgabe in den Beratungsgesprächen darin besteht, die Menschen über ihre Rechte aufzuklären und dafür Sorge zu tragen, dass niemand unter das Existenzminimum fällt. ({2}) Zweitens darf auf keinen Fall passieren, dass das drohende Chaos im Zuge einer möglichen Umstrukturierung am Ende auf dem Rücken der Erwerbslosen und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Argen ausgetragen wird. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es bei Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II um existenzielle Leistungen geht. Wenn das Finanzamt bei der Einkommensteuerberechnung mal einen Fehler macht, dann ist das ärgerlich, aber es hat keine existenziellen Folgen. Im Bereich von Hartz IV geht es aber um Menschen, die in der Regel kein finanzielles Polster haben, sodass jede ungerechtfertigte Leistungsverweigerung sofort existenzielle Wirkungen hat. Deswegen ist das Mindeste, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, was Sie angesichts dieses Dilemmas in die Wege leiten sollten, dass Widersprüche endlich eine aufschiebende Wirkung haben. ({3}) Bisher ist das nicht der Fall. Es wird aber zu einem Problem, wenn eine Leistung unrechtmäßig verweigert wird. Das kommt nicht selten vor. Wir alle wissen, dass ein Großteil der Widersprüche erfolgreich ist. Einem Drittel aller Widersprüche wird in Gänze stattgegeben. Nur noch zur Erinnerung: Wir reden hier über Menschen, die kein finanzielles Polster haben. Wie wir wissen, scheiden sich an Hartz IV oft die Geister, ideologisch und ganz grundsätzlich. Aber die angesprochene kleine Sofortmaßnahme ist nichts anderes als ein pragmatischer Schritt. Hier sollten Sie keine ideologische Abwehrfront aufbauen, sondern die Sache in Angriff nehmen. ({4}) Drittens. Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Um dieses Problem anzugehen, bedarf es bundesweit einheitlicher Standards. Auf keinen Fall darf das Problem der Erwerbslosigkeit auf die Kommunen abgewälzt werden. Vor allem darf sich der Bund nicht zunehmend aus seiner finanziellen Verantwortung stehlen, wie wir es erst vor wenigen Tagen bei den Abstimmungen über den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft erleben konnten. ({5}) Als Hartz IV eingeführt wurde, wurden Leistungen aus einer Hand versprochen. Nun droht möglicherweise eine Zersplitterung, wenn sich das Modell des Bundesministeriums durchsetzt. Das hieße im Grunde zwei Anlaufpunkte, zwei Anträge und jede Menge mehr Bürokratie. Es droht ein Streit über Zuständigkeiten. Gesetzt den Fall, dass es strittig ist, ob und welche Leistung jemand bekommt: Wer entscheidet dann? Die Kommune? Wie wir wissen, liegt die Fach- und Rechtsaufsicht bei den Ländern. Die Bundesagentur für Arbeit? Wie wir wissen, liegt hier im Zweifelsfall die Rechtsaufsicht beim Bund. Vor diesem Hintergrund eines drohenden Chaos warnt der Deutsche Sozialgerichtstag aus gutem Grund davor, dass dann, wenn sich das Modell des Bundesministeriums durchsetzt, mit einer Verdoppelung der Zahl der Verfahren vor den Sozialgerichten zu rechnen ist. Als ob die Sozialgerichte schon heute nur Däumchen drehten! ({6}) Der Dachverband unabhängiger Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen fordert vor diesem Hintergrund aus gutem Grund Folgendes: Wir fordern Leistungen aus einer Hand, nicht nur unter einem Dach. Wir fordern die Aussetzung jeglicher Diskriminierung und Sanktionierung der Betroffenen. - Mit beiden Forderungen hat der Dachverband recht. Es bedarf Leistungen aus einer Hand, und es muss mit den Sanktionen Schluss sein, wenn es um das Existenzminimum geht. ({7}) Die Debatte über die Organisationsstruktur der Jobcenter steht in recht engem Zusammenhang mit den Hartz-IV-Reformen. Diese sind nun fast fünf Jahre in Kraft. Insofern ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Das Bundesministerium selbst hat vor wenigen Tagen Bilanz gezogen. Wir meinen als Linke: Dieser Bilanz muss man eine alternative Bilanz entgegenstellen. Fünf Jahre Hartz IV bedeuten fünf Jahre Armut per Gesetz. Hartz IV hat die Armut wirklich verschärft. ({8}) Es gibt eine offizielle Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die klar besagt: 60 Prozent der ehemaligen Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher haben Verluste. Wir wissen zudem, dass die Regelleistung deutlich unter der Armutsrisikogrenze liegt. Hartz IV hat also die Armut verschärft. ({9}) Hartz IV hat aber nicht nur die Situation der Langzeiterwerbslosen verschlechtert. Hartz IV hat auch Auswirkungen auf die Situation derjenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben. Eine Studie des IAB hat uns das schwarz auf weiß verdeutlicht. Im Zuge von Hartz IV ist die sogenannte Konzessionsbereitschaft, das heißt die Bereitschaft, niedrigere Löhne und ungesündere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, deutlich gestiegen. Das Ganze läuft nach einem altbekannten Muster: Je schlimmer die Situation der Erwerbslosen ist und je stärker Erwerbslose stigmatisiert werden, desto eher sind diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben, bereit, alles zu tun, um nicht auch noch in die Erwerbslosigkeit zu fallen. Deswegen sagen wir: Die Kämpfe für gute Arbeit und die Kämpfe für garantierte Rechte für Erwerbslose gehören untrennbar zusammen. ({10}) Hartz IV verschärft auch die Abhängigkeiten zwischen Menschen, die zusammenleben und nach der Begrifflichkeit des Sozialgesetzbuches unter das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft fallen. Ich möchte Ihnen das an dem Fall einer alleinerziehenden Mutter skizzieren. Sie hat lange Zeit als Floristin gearbeitet und musste schon in dieser Zeit immer aufstockende Leistungen beziehen, weil ihr Einkommen nicht reichte. Sie hat zwei Töchter und hat vor kurzem ihren Job verloren. Die eine Tochter ist in der Pubertät, und die andere Tochter hat nun einen Ausbildungsplatz als Bürokauffrau bekommen. Als die Tochter den Ausbildungsplatz bekam, hat man sich gefreut, hat sogar ein bisschen gefeiert und geträumt. Als man dem Jobcenter aber den neuen Stand in der Familie mitteilte, bekam die Frau zur Information: Da die Tochter in der Ausbildung zur Bedarfsgemeinschaft gehört, wird die Ausbildungsvergütung voll angerechnet und werden die Leistungen des Jobcenters entsprechend verringert. Da die Tochter unter 25 Jahren ist, darf sie nicht ausziehen und eine eigene Bedarfsgemeinschaft begründen. - Was ist denn das für ein Signal an einen jungen Menschen, der sich gerade am Beginn seiner Ausbildung befindet? Frau von der Leyen, Sie haben in Ihrem alten Ministerium deutlich bewiesen, dass der Begriff Geschlechtergerechtigkeit für Sie kein Fremdwort ist. Sie haben auch im Ausschuss deutlich gemacht, dass Ihnen gerade die Situation der Alleinerziehenden sehr am Herzen liegt. Bei dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft besteht im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit unglaublich viel Handlungsbedarf. Wir als Linke meinen: Dieses Konstrukt gehört abgeschafft. ({11}) Hartz IV bedeutet auch Ausgrenzung und Stigmatisierung per Gesetz. Sie wissen, dass Sozialdetektive eingesetzt wurden, die den Erwerbslosen teilweise sogar bis in die Schlafzimmer nachspioniert haben. ({12}) Aus all diesen und vielen anderen Gründen mehr gilt für uns als Linke nach wie vor: Hartz IV muss weg, Hartz IV muss überwunden werden. ({13}) Es ist für uns nicht hinnehmbar, dass in diesem Land die Unterhaltszahlungen für Menschen gekürzt und diese sogar bis auf 0 Euro reduziert werden. Es ist für uns nicht hinnehmbar, dass über die Stigmatisierung von Erwerbslosen Druck auf die Löhne und damit auf die Beschäftigten ausgeübt wird. Wir haben Ihnen schon viele Vorschläge unterbreitet, wie man unserer Meinung nach Hartz IV überwinden kann. Wir haben Sie mit konkreten Alternativen wie einer sanktionsfreien Mindestsicherung konfrontiert. Das werden wir auch weiter machen. Für den womöglich eintretenden Fall, dass Sie sich im Laufe dieser Wahlperiode noch nicht für unser Modell der sanktionsfreien Mindestsicherung begeistern können, was ich sehr bedauern würde, möchte ich Sie an eine kleine Maßnahme erinnern, die ich bereits genannt habe: Sorgen Sie dafür, dass Widersprüche wenigstens eine aufschiebende Wirkung haben! Vor uns stehen viel Chaos und Unsicherheit. Sie haben jetzt die Verantwortung dafür, dass diese Politik nicht auf dem Rücken derjenigen ausgetragen wird, die wahrlich nichts dafür können, nämlich auf dem Rücken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Argen sowie dem der Erwerbslosen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel ist die Organisation der Grundsicherung und einer erfolgversprechenden und auch flexiblen Arbeitsvermittlung für Langzeitarbeitslose das derzeit wichtigste und, wie ich finde, auch das derzeit drängendste Problem im Fachgebiet Arbeit und Soziales. Wir werden diese Aufgabe zügig angehen. Ich will aber, bevor ich ins Detail gehe, wenigstens eines vorab als gemeinsamen Nenner festhalten, was nicht immer in diesem Hause unstrittig war. Ich glaube, dass man aus heutiger Sicht sagen kann, dass sich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Grundsatz bewährt hat. Daran sollten wir auf jeden Fall festhalten. Das ist das, was uns als gemeinsames Leitmotiv begleiten kann. ({0}) Allerdings müssen wir sehen, dass bei der Organisation der Argen Fehler gemacht wurden. Die müssen wir jetzt ausbügeln. Diese Fehler fallen in die Verantwortung eines SPD-Ministers. ({1}) Federführend war damals das SPD-geführte Arbeitsministerium, ({2}) und, Herr Heil, wir haben Zeitdruck, was nicht unwesentlich Ihre Schuld ist. ({3}) Wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts seit Dezember 2007. ({4}) - Ich weiß doch, was zwischenzeitlich passiert ist. Aber selbst wenn Sie sich auf den Beschluss der Unionsfraktion vom 13. März beziehen, waren es immer noch sechs Monate zwischen dieser Entscheidung und der Bundestagswahl, ein Sechstel der Gesamtfrist, die uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat. ({5}) Ich werfe Olaf Scholz vor, dass er mit dem Kopf durch die Wand wollte, sich versteift hat ({6}) und nicht seinem Auftrag und seinem Amtseid gemäß versucht hat, das Mögliche tatsächlich in einem Bundesgesetz zu formulieren. ({7}) - Das ist keine Geschichtsklitterung. ({8}) Wir müssen jetzt versuchen, in der verbleibenden Zeit, in den restlichen zwölf Monaten, das Problem zu lösen. Wir haben am 26. Oktober unsere Koalitionsvereinbarung unterzeichnet. Schon am 18. November hat das Kabinett in Umsetzung dieser Koalitionsvereinbarung das notwendige Verfahren auf den Weg gebracht. Am 26. November und am Montag dieser Woche haben sich die Arbeits- und Sozialminister der Länder zweimal mit einem ständig weiterentwickelten Eckpunktepapier des BMAS beschäftigt. Das Kabinett wird sich demnächst mit den neuen Zwischenergebnissen befassen. Dann wird die Ministerin diese Eckpunkte vorstellen. Wir werden zügig ein Gesetzgebungsverfahren einleiten. ({9}) Schneller kann man das nicht machen. Das will ich für uns hier ausdrücklich in Anspruch nehmen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Kolb, können Sie bestätigen, dass die Entwicklung des SGB II eine lange Geschichte ist, bei der die Länder entsprechende Mitbestimmungsrechte hatten, und dass der Kompromiss in einem Vermittlungsverfahren zustande gekommen ist? Sie erinnern sich an die Nachtsitzungen des Vermittlungsausschusses und die großen Sorgen, die dort geäußert wurden. Der Gesetzgeber hatte eine klare Ordnungsregelung vorgegeben, die die jeweiligen Zuständigkeiten eindeutig regelte. Die Länder hatten aber eine andere Auffassung, die sie im Vermittlungsausschuss einbrachten. Wie Sie wissen, hat das Bundesverfassungsgericht später gesagt: Diese Regelung ist so nicht verfassungskonform. - Daraufhin hat gerade Minister Scholz erneut Vermittlungsvorschläge erarbeitet, und zwar immer mit dem Ziel, ein solches Vermittlungsverfahren, das nicht korrigierbar ist, möglichst auszuschließen. Vor diesem Hintergrund haben alle Länder einen Vorschlag erarbeitet, der mit 16:0 Stimmen angenommen wurde und der auch die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion fand. Anders war es bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Sie signalisierte teilweise Unterstützung, teilweise nicht. Wollen Sie dem Minister unter diesem Gesichtspunkt nach wie vor unterstellen, nicht alles darangesetzt zu haben, in einem Kompromissverfahren zu einem Vorschlag zu kommen, der praktikabel ist und der sowohl für die Beschäftigten als auch für die Arbeitslosen Rechtssicherheit bietet? ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Brandner, der Ablauf, also die Historie, ist mir durchaus geläufig. Ich muss allerdings sagen: Knapp vorbei ist auch daneben - das ist eine Erfahrung, die man im Leben gelegentlich macht -, und einer hat den Hut auf. ({0}) In diesem Fall war das der Bundesminister für Arbeit und Soziales. Er muss versuchen, die Dinge zusammenzuführen. Da, wo man sieht, dass es Widerstände gibt und dass man nicht weiterkommt, muss man auch einmal ein Stück zurückgehen und einen neuen Anlauf nehmen. Dafür waren auch nach der Entscheidung der Unionsfraktion noch sechs Monate Zeit, und ein neuer Anlauf ist offensichtlich nicht versucht worden. ({1}) Stattdessen hat man den Entwurf in die Schublade gelegt, offensichtlich in der Hoffnung, dass durch Gärung etwas Besseres daraus wird. Aber nicht alles, was gärt, Herr Brandner, ist wie ein aufgehender Hefekuchenteig. Manchmal verbirgt sich dahinter auch ein ordinärer Misthaufen; das muss man sagen. Das eine vom anderen zu trennen, ist die Kunst, auf die es ankommt. ({2}) Was ich sagen will, ist, Herr Brandner - das muss uns jetzt auch leiten bei dem, was in den kommenden zwölf Monaten zu bewältigen ist -: Die Fäden müssen zusammengeführt werden. Das Eckpunktepapier ist - das sagt jedenfalls eine deutliche Mehrheit der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister - eine gute Basis für die jetzt beginnende Diskussion und für den Gesetzgebungsprozess. Es sollte unser gemeinsames Interesse sein, diesen Prozess in höchstens zwölf Monaten - ich bin dafür, dass es deutlich schneller geht - zu einem Abschluss zu bringen. Es ist falsch, Herr Heil, sich jetzt zu versteifen - das passiert heute in der ersten Lesung der von der SPD und den Grünen eingebrachten Gesetzentwürfe - und zu sagen: Die ZAG sind das allein Seligmachende. Die Grünen sagen: Wir wollen die Argen in ihrer heutigen Form absichern. Sie sind sogar offen dafür, das Modell der Optionskommunen auszuweiten. Die Mehrheit der Länder hat eine eigene Position. Wenn es so weitergeht, dass jeder auf dem beharrt, was er sich vorstellt, werden wir am Ende keinen Erfolg haben, und das ginge zulasten der arbeitsuchenden Menschen in Deutschland, die von der Grundsicherung leben müssen. ({3}) Das sollten wir nach Möglichkeit vermeiden. Dieser Meinung bin ich schon. ({4}) Sie haben heute immerhin - das will ich würdigen, Herr Heil - ein Signal gegeben, indem Sie gesagt haben: Wir sind am Ende sogar bereit, über eine moderate Erhöhung der Zahl der Optionskommunen zu reden. Aber das kann nicht die Lösung des Problems sein. Die Landesminister sehen das offensichtlich anders. Ich verstehe den am Montag gefassten Beschluss so, dass sie folgende Auffassung vertreten: Wir wollen denjenigen, die optieren wollen, das einmalig ermöglichen. Für alle anderen, Bundesagentur und Kommune, bleibt die getrennte Aufgabenwahrnehmung in Form einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe. - Sie müssen einmal erklären - Sie melden sich ja gerade zu einer Zwischenfrage, Herr Heil -, ob Sie unter einer „moderaten Erhöhung“ auch eine Erhöhung auf 170 oder 175 Optionskommunen verstehen. Wenn nein, ist die Frage, woran Sie die Möglichkeit der Option knüpfen wollen, welche Optionskommunen Sie zulassen wollen und welche außen vor bleiben müssen. Darüber müssen wir diskutieren. Wir können direkt in die Diskussion einsteigen, wenn Ihnen die Präsidentin eine Zwischenfrage erlaubt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wenn Sie mir die Chance geben, Sie zu fragen, ob Ihnen der Kollege Heil eine Frage stellen darf, werde ich das tun.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Logisch.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Kolb, danke für die Gelegenheit, dass Sie erlauben, dass die Präsidentin eine Zwischenfrage zulässt. Ich darf Sie daran erinnern und das in eine Frage kleiden: Haben Sie meine Rede dahin gehend richtig verstanden, dass wir drei Dinge als eine Einheit sehen: erstens eine grundgesetzliche Absicherung der Zusammenarbeit von Bundesagentur und Kommunen in Fortführung der gemeinsamen Arbeit über das ZAG, zweitens eine verfassungsrechtliche Absicherung der Möglichkeit, zu optieren, und drittens eine Diskussion über eine moderate Erhöhung der Zahl der Optionskommunen? Diese Punkte sind eine Einheit, bei der man sich nicht nur einen herauspicken darf. Ich frage Sie deshalb, ob Ihnen folgender Beschluss bekannt ist, nachzulesen im Heft Der Landkreis, herausgegeben vom Deutschen Landkreistag im Oktober 2009, der von allen kommunalen Spitzenverbänden getragen wird: Zur dauerhaften Absicherung einer rechtlich zweifelsfreien Aufgabenerfüllung votierten die kommunalen Spitzenverbände für eine Grundgesetzänderung, in der eine gemeinsame Aufgabenwahrnehmung von Kommunen und Arbeitsagenturen in den Arbeitsgemeinschaften ebenso ermöglicht werde wie die Erfüllung aller Aufgaben durch Optionskommunen … Das ist die Ansicht der kommunalen Familie. Wollen Sie ihr widersprechen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heil, ich will auf eines aufmerksam machen: Wir sind immer relativ schnell dabei, über Grundgesetzänderungen zu reden. Solange es nur pauschal um dieses Thema geht, sind alle dabei und sagen: Da machen wir mit. - Aber wenn man dann schaut, wo das Grundgesetz genau geändert werden soll, welche Regelung eingeführt werden soll, damit diese oder jene Konstruktion möglich wird, dann ist es relativ schnell vorbei mit der Einigkeit. So wird es aber nicht gelingen. Ich bin der Meinung, wir sollten - ein Stück weit verstehe ich den Beschluss vom Montag auch so - uns zunächst einmal fragen: Brauchen wir denn an der einen oder anderen Stelle überhaupt eine Verfassungsänderung? ({0}) - Nein, da sind Sie mir zu schnell, Frau Pothmer. ({1}) Sie haben schon in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben, dass Sie dies fordern, um die Existenz von Optionskommunen auf Dauer zu ermöglichen. Sie gehen davon aus, dass wir dafür eine Grundgesetzänderung brauchen. Mir liegen aber Stellungnahmen vor, in denen es heißt: Das kann man auch anders sehen. ({2}) Das muss ausgelotet werden. Ich habe große Bedenken, Frau Kollegin Pothmer, dass wir jetzt alle auf eine Grundgesetzänderung dringen, aber am Schluss feststellen: Es gibt gar keine Zweidrittelmehrheit für die eine allein selig machende Lösung. ({3}) Dann sind aber wieder ein paar Monate ins Land gegangen. Lassen Sie uns einmal sehen, was einfachgesetzlich geht. ({4}) Ich glaube, die Erhöhung der Zahl der Optionskommunen ist auch einfachgesetzlich möglich. ({5}) - Herr Heil, es gibt durchaus ernstzunehmende unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema. Sie kennen die vorliegenden Gutachten genauso gut wie ich. Ich glaube nicht, dass man sich schon auf das eine oder andere versteifen sollte. Wenn wir das tun, dann kommen wir am Ende nicht zusammen. ({6}) - Frau Kramme, Sie müssen Ihr Herz über die Hürde werfen. Bei dem Vorschlag einer moderaten Erhöhung der Zahl der Optionskommunen kommt zum Ausdruck, dass Sie über die Optionen nicht richtig glücklich sind; Sie waren es von Anfang an nicht. Sie wollten die Optionskommunen nicht, weil Sie das Bundessozialamt, die zentrale Lösung, wollen, wohingegen wir die individuelle Lösung im Interesse der Menschen vor Ort anstreben. ({7}) Diesen Unterschied kann ich zwischen uns feststellen. Die SPD gibt sich in Sonntagsreden immer gerne kommunalfreundlich. Aber wenn es dann um die Wurst geht - Butter bei die Fische -, wenn es darum geht, all diejenigen, die optieren wollen, auch optieren zu lassen, dann sind Sie für die zentralen, durchorganisierten Einheitsstrukturen. Genau an dieser Stelle treffen Sie auf unsere Bedenken. Wir wollen und tun das jedenfalls nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kolb, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, in diesem Fall von der Kollegin Pothmer? ({0}) - Das hat sich erledigt. Entschuldigung.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Schade. Die Zwischenfrage hätte ich gerne beantwortet. - Ich meine, wir sollten jetzt wirklich einmal mit dem Zusammenführungsprozess anfangen. ({0}) Die Diskussion darüber muss auf Basis des Eckpunktepapiers des BMAS erfolgen. ({1}) - Weil das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zuständig ist und die Ministerin an dieser Stelle - ich habe ja gesagt, irgendwer hat immer den Hut auf diejenige ist, die die Diskussion voranbringen wird. Ich finde, dass das Papier die Ausgangslage durchaus richtig beschreibt. Wir müssen das ernst nehmen, was die Mehrheit der Sozialminister beschlossen hat; wir müssen aber auch das ernst nehmen, was die Minderheit - fünf haben ja dagegen gestimmt; Mecklenburg-Vorpommern hat sich enthalten - vertritt. Wir müssen auch ein offenes Ohr für die Kommunen haben, die zu Recht befürchten - diese Befürchtung sollten wir ernst nehmen -, dass sie neben der übermächtigen BA ein Stück weit ins Hintertreffen geraten könnten. Im Papier stehen ja auch deutliche Prüfaufträge. Ich will einmal den aus meiner Sicht wichtigsten nennen, weil meine Redezeit trotz der Zwischenfragen jetzt langsam zu Ende geht: Da geht es um die Prüfung von Tatbestandsvoraussetzungen, die dann auch eine Bindungswirkung für die Kommunen hätten. ({2}) - Frau Kramme, Sie wissen schon wieder alles besser. Ich sage: Wir müssen das Problem ernst nehmen und schauen, wie man es lösen kann. ({3}) Das ist die Erwartungshaltung, die die Länder haben. Wenn wir angemessene Antworten finden, dann werden wir am Ende auch Mehrheiten in beiden Kammern, im Bundestag und im Bundesrat, bekommen. Wenn man jetzt wie Sie mit dem Kopf durch die Wand will und sich auf die Position zurückzieht: „Das wollten wir schon immer“, ({4}) dann wird das nicht funktionieren. Sie müssen dann auch Verständnis dafür haben, dass wir auf die Position eines Partners, der sich so verhält, im Hinblick auf eine mögliche Grundgesetzänderung nicht eingehen können. Sie zeigen bisher keine Flexibilität; diese lassen Sie vollständig vermissen. Das ist aus unserer Sicht dann auch ein Problem. ({5}) Ich finde, der Beschluss vom Montag verfolgt insgesamt eine gute Linie. In den Ziffern 3 und 4 werden ja wichtige Punkte aufgezeigt. Es heißt dort nicht nur, dass die Zahl der Optionskommunen erweitert werden soll, sondern auch, dass wir weiterhin bereit sind, über eine Verfassungsänderung zu diskutieren. ({6}) Das ist eine umfassende und breite Plattform, auf der wir uns alle zum Gespräch zusammenfinden können und sollten. ({7}) Die Art und Weise, wie SPD und Grüne heute ihre Vorschläge präsentiert haben, ({8}) nämlich nach dem Motto: „Wir wissen schon am besten, wie es geht“, ist jedenfalls am Ende weder effektiv noch zielführend. Deshalb fordere ich Sie auf: Gehen Sie in sich! Nehmen Sie das Gesprächsangebot an! Wir sind in den Ausschussberatungen zu Gesprächen bereit. Ich freue mich darauf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dörflinger, ich fand Ihre Rede sehr interessant, weil Sie hier deutlich gemacht haben, dass Sie durchaus bereit sind, über das hinauszugehen, was in der Koalitionsvereinbarung beschlossen worden ist. Das ist ein sehr wichtiges und ein sehr deutliches Signal. Das ist auch angekommen. Ich will hier nichtsdestotrotz noch einmal darüber reden, was diese Koalition eigentlich vorschlägt, also worauf Sie sich in ihrer Koalitionsvereinbarung verständigt haben, nämlich auf eine getrennte Trägerschaft mit der Möglichkeit freiwilliger Kooperation. Mit diesem Modell gehen Sie ins Rennen. Das heißt nichts anderes, als dass sich die Behörden trennen müssen, um dann wieder zusammenzuarbeiten. Übertragen auf ein Paar würde das bedeuten: Sie zwingen das Paar zur Scheidung, hinterher muss es dann aber zusammenwohnen, allerdings nicht unter den alten Bedingungen einer gleichberechtigten Partnerschaft, sondern unter den Bedingungen eines Patriarchats. Nach Ihrem Modell hat nämlich nur die BA das Sagen; die Schlüsselgewalt liegt allein bei der BA. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU - es sind ja immer mehr Kollegen bei Ihnen als Kolleginnen -, ich möchte Ihnen eines sagen: Nicht nur die Frauen lassen sich das nicht mehr bieten, ({0}) auch die Kommunen sind selbstbewusster geworden. Mit einem solchen Modell kommen Sie nicht durch. ({1}) Nein, eine getrennte Aufgabenwahrnehmung ist wirklich die denkbar schlechteste Lösung. Daran ändert auch die Möglichkeit zur freiwilligen Kooperation nichts. Sie ist schlecht für die Arbeitsuchenden. Sie schicken diese wieder von Pontius zu Pilatus. ({2}) Das ist endgültig das Ende der Hilfe aus einer Hand. Zugleich wird auf diese Weise eine Unmenge an Geld verschlungen. Berechnungen zufolge sind es 800 Millionen Euro jährlich mehr an Verwaltungskosten, Geld, das von der Verwaltung gefressen wird und das keinem Arbeitslosen und keiner Arbeitslosen zur Verfügung steht. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Peter Weiß?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Pothmer, weil Sie Ihre Rede mit einer dramatischen Trennungsgeschichte gestartet haben, ({0}) frage ich Sie: Würden Sie bitte den Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause und auch der Öffentlichkeit bestätigen, dass die sogenannte getrennte Aufgabenwahrnehmung nach dem Sozialgesetzbuch II bereits heute möglich ist und dass es in Deutschland eine ganze Reihe von Landkreisen gibt, ({1}) die sich freiwillig dazu entschlossen haben, keine Arge gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit zu gründen, sondern eine getrennte Aufgabenwahrnehmung zu verfolgen, ({2}) und würden Sie zweitens bestätigen, dass man, wenn man die Rankinglisten in Bezug auf die Aktivierung von Langzeitarbeitslosen und deren Vermittlung in den Arbeitsmarkt anschaut, feststellt, dass unter den Besten der Besten Argen, Optionskommunen und Landkreise mit getrennter Aufgabenwahrnehmung sind?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Weiß, ich bestätige gerne, dass es schon jetzt ungefähr 20 Kommunen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung gibt. Es ist allerdings nicht so, dass diese erst geschieden werden mussten; sie haben immer getrennt voneinander gelebt, Herr Weiß. Die Ergebnisse von deren Arbeit kommen allerdings nicht an die Ergebnisse der Arbeit der Argen und einiger Optionskommunen heran. ({0}) Ich weiß nicht, welche Untersuchungen Sie lesen. Eine Studie des IAQ jedenfalls kommt genau zu einer gegenteiligen Feststellung. Das ist ein weiterer Grund, warum wir sagen, dass die getrennte Trägerschaft keine Perspektive hat. - Ich danke Ihnen für Ihre Frage; das war meine Antwort. ({1}) Ich war gerade dabei, zu erläutern, warum die getrennte Aufgabenwahrnehmung eine schlechte Lösung ist. Ein weiterer Grund ist, dass sie unpraktikabel ist. An dem Papier der Ministerin können Sie sehen, was das für ein Gewürge wird. Das lässt sich verwaltungsmäßig überhaupt nicht vollziehen. Zudem ist es ein bürokratischer Irrsinn. Frau Kipping, Sie haben gesagt, die Zahl der Verfahren vor den Gerichten werde sich verdoppeln. Nein, die Zahl der Verfahren wird sich verdreifachen; ({2}) denn die Länder haben darauf bestanden, ebenfalls gegen die Bundesagentur für Arbeit klagen zu können. Das heißt, nicht nur die Betroffenen klagen gegen die Kommunen und die BA, sondern auch die beiden Träger befehden sich vor Gericht. Herr Kolb, jetzt müssten Sie mir einmal sagen, ob es das ist, was Sie unter Bürokratieabbau verstehen. ({3}) Außerdem wüsste ich gerne, ob Sie das meinen, wenn Sie sagen, die Arbeit der Jobcenter solle einfacher und wirksamer werden. Ich komme gleich wieder mit meiner Koralle, wenn das so weitergeht! ({4}) Im Übrigen hätten Sie die getrennte Aufgabenwahrnehmung längst haben können. In der letzten Legislaturperiode, unmittelbar nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, hat Herr Scholz dieses Konzept dem Hohen Hause vorgelegt, und wir haben es mit, wie ich finde, guten Gründen abgelehnt. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was der Kollege Niebel für die FDP zur getrennten Aufgabenwahrnehmung gesagt hat: Eine geteilte Verantwortung bedeutet Zuständigkeitschaos und doppelte Bürokratie. - Ein kluger Mann! Das gilt nicht für seine Position im Entwicklungsministerium; aber in dieser Frage hatte er einmal recht. ({5}) Man sieht ja auch: Die Allianz der Gegner wird immer breiter. Die Länder akzeptieren das ausdrücklich nicht. Es ist eine Falschinterpretation, Frau Ministerin, wenn Sie das anders darstellen. Die Kommunen sind strikt dagegen. Herr Kolb, 169 Kommunen ({6}) haben sich nach einer Umfrage des Landkreistages jetzt noch einmal für die Option entschieden - aber doch auch unter dem Damoklesschwert der getrennten Aufgabenwahrnehmung! Das muss man deutlich sagen. ({7}) Die Wohlfahrtsverbände sehen die Interessen der Arbeitslosen gefährdet. Nach der Rede, die wir heute von Herrn Dörflinger gehört haben, aber auch nach dem, was der von mir sehr geschätzte Kollege Karl Schiewerling ausgeführt hat, ({8}) nämlich dass sie die Hilfe aus einer Hand wollen, kann ich nur sagen: Auch in der CDU/CSU-Fraktion gibt es inzwischen Widerstand gegen den Vorschlag des Ministeriums. Frau Ministerin von der Leyen, ich frage Sie: Was bringt Sie zu der Annahme, dass Sie den Widerstand dieser breiten Allianz eher überwinden könnten, als Ihre eigene Fraktion zur Vernunft zu bringen? In Ihrer Fraktion gibt es doch auch vernünftige Leute. Glauben Sie wirklich, dass in Ihrer Fraktion alle Kolleginnen und Kollegen Nägel vor den Köpfen haben? ({9}) - Genau. Ich danke Ihnen, Herr Kolb. - Ich plädiere ausdrücklich für eine Grundgesetzänderung. Diese ließe sich auch viel schneller umsetzen als die angestrebte Trennung. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Aufgrund der größten Wirtschaftskrise, die wir jemals hatten, wird es im kommenden Jahr eine Zunahme der Zahl der Arbeitslosen geben. Darin sind sich alle einig. Aber genau in diesem Jahr wollen Sie die Jobcenter zur Großbaustelle machen. Da werden die Beschäftigten der Jobcenter mit sich selbst zu tun haben. Sie werden Akten kopieren, Liegenschaften einrichten, EDV-Programme anschaffen und Umzugskisten packen. Das ist aber nicht die Aufgabe, die jetzt ansteht. ({10}) Herr Weise hat doch vollkommen recht. Unter diesen Bedingungen laufen Ihnen die Beschäftigten in den Jobcentern weg; sie werden zu den Kommunen zurückkehren. Ich frage Sie einmal: Mit welchen Leuten wollen Sie die getrennte Aufgabenwahrnehmung dann noch umsetzen? Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und von der FDP, Sie ziehen die Kommunen tatsächlich durch den Kakao. In den letzten Jahren sind Sie alle herumgelaufen und haben gesagt, Sie wollten die Kompetenz der Kommunen in dieser Frage stärken. Ich finde, es ist wirklich ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass gerade die Koalition der selbsternannten Freunde der Kommunen jetzt damit ankommt - die FDP war geradezu besessen darauf, die BA abzuwickeln; die CDU/ CSU hat nur den Kommunen in der Arbeitsmarktpolitik etwas zugetraut -, die Machtansprüche der BA gegen die Kommunen durchzusetzen. ({11}) Sie fördern den Zentralismus und setzen die Kommunen an den arbeitsmarktpolitischen Katzentisch. Das werden die sich nicht bieten lassen - und wir uns schon gar nicht. ({12}) Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen; er richtet sich an die Verfassungsästheten. Sie sagen, dass man für so etwas keine Verfassung ändern könne. In den letzten 60 Jahren ist die Verfassung 60-mal geändert worden. Sie ist geändert worden, als es um die Neuverteilung der Einnahmen aus der Kfz-Steuer ging; sie ist geändert worden für Tod und Teufel. Auch Ihr Vorschlag, der jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht verfassungskonform. Ich prognostiziere Ihnen schon jetzt, dass es zu neuen Klageverfahren kommen wird. Das wird zu einem neuen Chaos führen. Das können Sie weder den Beschäftigten in den Arbeitsagenturen noch den Arbeitslosen zumuten. Jahrelange Debatten und Rechtsstreitereien - das dürfen wir nicht zulassen. Wir brauchen eine verfassungsgemäße Regelung. ({13}) Ich möchte jetzt noch etwas zu dem Vorschlag der Kollegen der SPD sagen. Wir sehen doch, dass Sie mit dem alten Vorschlag, nur die 69 Optionskommunen verfassungsgemäß abzusichern, nicht weiterkommen. Ich freue mich wirklich über das Signal und gehe davon aus, dass unsere sozialdemokratischen Freunde dem Vorschlag, den wir von der grünen Fraktion als Friedensangebot auf den Tisch gelegt haben, zustimmen und dass sich bei Ihnen von der CDU/CSU-Fraktion Kollegen wie Dörflinger und Schiewerling durchsetzen. Herr Kolb, Sie haben gesagt: Wir wollen zusammenführen. - Unser Vorschlag ist ein Friedensangebot und führt die unterschiedlichen Anforderungen tatsächlich zusammen. ({14}) Es gewinnen wirklich alle. Union und FDP können mit ihrem Beschluss doch nicht wirklich zufrieden sein. Wenn Sie unserem Vorschlag zustimmen, dann stärken Sie die Kommunen in ihren Kompetenzen. Die SPD könnte mit unserem Vorschlag ihr Konzept der Argen, das auch wir richtig finden, weiterführen. Die Kommunen hätten die Wahl, mithilfe welchen Konzepts sie ihre Arbeit machen wollen. Die Bundesagentur für Arbeit bekäme nicht lauter unwillige Bräute untergeschoben, sondern könnte sich weiterentwickeln und tatsächlich an ihrer Aufgabe wachsen. Die Arbeitslosen - das ist das Wichtigste - hätten weiterhin Hilfe aus einer Hand, und wir müssten nicht dauernd fürchten, dass es zu weiteren Verfassungsklagen kommt. Wir hätten endlich Sicherheit in dieser Frage. All diese Argumente sprechen für die Unterstützung unseres Vorschlages. Ich bitte Sie im Sinne der Arbeitslosen dringend: Springen Sie über Ihren Schatten, und tun Sie etwas für die Arbeitslosen! Frau Ministerin, das letzte Wort richte ich an Sie. Sie wissen, ich schätze Sie und auch Ihre Kampfkraft. Deswegen würde ich mich wirklich freuen, wenn Sie für die beste Lösung und nicht für die vermeintlich einfachere Lösung kämpfen würden. Ich danke Ihnen. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit den heute hier zu behandelnden Gesetzentwürfen der SPD sind wir bereits vertraut. Sie sind inhaltsgleich mit den Referentenentwürfen des damals noch SPD-geführten Bundesarbeitsministeriums vom Februar 2009. ({0}) Wie wir bereits gehört haben, verfolgen diese Entwürfe wie auch der Entwurf der Grünen das Ziel, die SGB-IITrägerschaft neu zu ordnen und damit das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 umzusetzen. Das will die Koalition im Ergebnis natürlich auch. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verstoßen die derzeitigen Regelungen im SGB II hinsichtlich der Zusammenarbeit von Bundesagentur und Kommunen als unzulässige Mischverwaltung gegen das Demokratieprinzip des Grundgesetzes. Die derzeitigen Regelungen sind deshalb nur noch bis zum 31. Dezember 2010 gültig. Nach den SPD-Entwürfen sollen die derzeit 346 Argen und 20 getrennten Trägerschaften als eigenständige Anstalten des öffentlichen Rechts mit eigener Personalhoheit und eigenem Haushalt im Grundgesetz als zulässige Form der Mischverwaltung verankert werden. Sie sollen zukünftig Zentren für Arbeit und Grundsicherung, ZAGs, heißen. Unsere Fraktion sieht ebenso wie die Kollegen der SPD dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich der Neuorganisation der SGB-II-Trägerschaften. Ihren Vorschlag, liebe Kolleginnen und Kollegen vom ehemaligen Koalitionspartner, lehnen wir jetzt aber genauso ab, wie wir das schon im März dieses Jahres getan haben. ({1}) Dies tun wir aus guten Gründen: Erstens. Es gilt, die Grundsätze der Verfassung zu beachten und die Verfassung nicht regelmäßig an unsere Wünsche anzupassen. Liebe Frau Kollegin Pothmer, auch wenn wir das in der letzen Legislaturperiode etliche Male tun mussten, hätte ich es geschätzt, wenn Sie gesagt hätten: Wir fummeln nicht jedes Mal an der Verfassung herum, wenn uns irgendein Ergebnis nicht passt. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat das heutige System der Zusammenarbeit zwischen Arbeitsagentur und Kommunen in den Argen als grundgesetzwidrig verworfen, weil es darin einen Verstoß gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes sieht. Für den Bürger ist nicht klar, welche politische Einheit - Bund oder Kommune für die Entscheidungen der heutigen Jobcenter letztlich verantwortlich ist. Das Wesen der Demokratie ist es aber, dass der Wähler seine Zustimmung oder Ablehnung konkreter staatlicher Entscheidungen auch auf seinem Wahlzettel mit der Wahl oder Abwahl von Parteien und Politikern dokumentieren kann. Die Mischverwaltung der Jobcenter lässt dies nicht zu. Die vorgeschlagene Grundgesetzänderung würde dieses Demokratiedefizit aber gerade nicht lösen. ({3}) Wenn die Hartz-IV-Verwaltung tatsächlich weder dem Bund noch den Ländern eindeutig zugeordnet würde, wäre eine zusätzliche neue staatliche Ebene zwischen beiden gegeben. Die Hartz-IV-Verwaltung hätte damit einen stärken Stand als unsere Städte und Gemeinden, die innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung als Teile der Länder gelten. Zweitens. Mit der Einrichtung der sogenannten ZAGs würde eine zusätzliche Bürokratie geschaffen, die die Kräfte in den Arbeitsgemeinschaften unnötig binden würde, und das genau in einer Zeit, in der aufgrund der Wirtschaftskrise mit schwierigen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen ist. Es müssten überall circa 370 neue Behörden gegründet werden; man müsste Geschäftsordnungen erlassen, Personalvertretungen und Geschäftsführer neu wählen, dazu noch neue Gremien gründen, besetzen und arbeitsfähig machen. Das kann aber nicht Sinn der Sache sein. ({4}) Die Arbeitsgemeinschaften sollen sich um die Arbeitslosen kümmern und sich nicht mit sich selbst beschäftigen. ({5}) Die jetzige Regierungskoalition geht anders an die Neuorganisation der SGB-II-Verwaltung heran. Das Bundeskabinett hat in der Klausurtagung von Meseberg am 16. und 17. November gemäß Koalitionsvertrag beschlossen: Die Neuorganisation der Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende soll erfolgen, indem die Aufgabenwahrnehmung und Finanzierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ohne Änderung des Grundgesetzes und ohne Änderung der Finanzbeziehungen gestaltet werden. Dazu werden die Erfahrungen der Länder und der Kommunen sowie der Bundesagentur für Arbeit in getrennter Aufgabenwahrnehmung genutzt. Die heutigen Optionskommunen sollen ihre Aufgaben dauerhaft wahrnehmen können. Weil bereits von einigen Vorrednern die Steigerung der Zahl der Optionskommunen angesprochen wurde: Ja, es gibt eine Umfrage, nach der ein Großteil der Kommunen zur Option tendiert. ({6}) Da muss man den Landräten aber auch mitteilen, zu welchen Konditionen, mit welchen Eckdaten die Option gezogen werden kann; auch das gehört zur Redlichkeit. ({7}) Wir folgen bei der Neuregelung der Trägerschaft folgenden Orientierungslinien: Das Gesetzgebungsverfahren muss transparent sein. Wir müssen mit allen Beteiligten sprechen - also mit Ländern, Kommunen, Arbeitnehmervertretern und der Bundesagentur für Arbeit -, um eine sachgerechte Lösung für die Zeit ab 2011 zu finden. Die künftige Lösung muss den Grundsätzen der Föderalismusreform I, dem Demokratieprinzip, dem Selbstverwaltungsrecht der Kommunen und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entsprechen. Um zu einer möglichst tragfähigen und differenzierten Lösung zu kommen, hat unsere Fraktion jetzt, nachdem die Bundesregierung die Eckpunkte für die Neuorganisation des SGB II vorgelegt hat, eine Projektgruppe ins Leben gerufen. ({8}) - Ja, natürlich, Herr Heil. Da sind wir schneller als der Kollege Scholz vor einem Dreivierteljahr. - Sie wird eine einheitliche politische Maßgabe für die Umsetzung der Reform erarbeiten. Erste Gespräche fanden bereits in der laufenden Woche statt. Wir nehmen die Kommunen mit. Herr Heil, darauf können Sie sich verlassen; Sie brauchen keine Bedenken zu haben. ({9}) - Nicht ins Nirwana. Die Zeiten, in denen die Kommunen ins Nirwana geführt wurden, sind vorbei. Die wesentlichen Ziele der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe waren und sind das Fördern und Fordern und der Zugang aller Hilfebedürftigen zu den Arbeitsmarktinstrumenten und der Arbeitsvermittlung der BA. Dieser Zusammenhang und die klare arbeitsmarktpolitische Ausrichtung des SGB II müssen gewahrt bleiben. Gerade jetzt, zum fünften Jahrestag der SGB-II-Gesetzgebung, zeigt sich der Erfolg dieses Prinzips. So hat die Frankfurter Rundschau gestern geschrieben: Der deutsche Arbeitsmarkt schafft mehr Stellen als in der Vergangenheit. Das scheinbare Naturgesetz, dass die Arbeitslosigkeit im Trend immer steigt, ist gebrochen. Weiter heißt es, dass „Hunderttausende den Weg zurück in die Berufswelt gefunden“ haben. Lieber Herr Heil, es war nicht alles falsch, was die SPD mit großer Zustimmung der Union damals auf den Weg gebracht hat. ({10}) - Sie hätten ruhig länger klatschen können. - Dieser große Erfolg wäre ohne die Arbeitsmarktreformen nicht möglich gewesen. Frau Kollegin Kipping, Sie haben eben in Ihrer Rede das dramatische Beispiel angeführt, dass die Ausbildungsvergütung auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird. Wir haben vor zwei Wochen hier in diesem Hause über die Anrechnung von Schüler- und Studentenjobs usw. auf Hartz-IV-Leistungen diskutiert. Wir haben zugesagt, bis zum Sommer zu prüfen, ob diese Erwerbseinkommen von der Anrechnung auf Hartz IV befreit werden. Auch hier gilt - ich wiederhole es gern -: Hartz IV ist ein lernendes System, das jetzt genau fünf Jahre alt ist. Da ist noch nicht alles perfekt; da muss nachjustiert werden. Das ist korrekt. Frau Ausschussvorsitzende, ich kann Ihrer Kritik in einigen Punkten etwas Positives abgewinnen. Bei der jetzt anstehenden Neuregelung der SGB-IIVerwaltung muss darauf geachtet werden, dass auch künftig kommunale Lösungen möglich sind und kommunale Belange berücksichtigt werden. Die Städte und Kreise verfügen über die notwendigen sozialen Kompetenzen, um gerade Personen mit komplizierten Vermittlungshemmnissen wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen und in Beschäftigung zu bringen. Den Kommunen, die sich dieser Aufgabe stellen wollen, muss die Möglichkeit einer eigenständigen Trägerschaft gewährt werden. Ein einheitlicher Bescheid über die passiven Geldleistungen war und ist nicht das ausschließliche Ziel des SGB II. Das beweisen schon die 20 Kommunen - Frau Pothmer, Sie würden sagen, sie leben in wilder Ehe zusammen -, ({11}) die schon heute auf freiwilliger Basis gut und konstruktiv mit den Arbeitsagenturen zusammenarbeiten. Den betroffenen Mitbürgern ist es wichtiger, dass ihnen geholfen wird, wobei es aus ihrer Sicht unerheblich ist, ob die Hilfe mit einem oder mit zwei Bescheiden gewährt wird. ({12}) Auch in diesem Fall kann zum Beispiel eine gemeinsame Antragstellung organisiert werden. Vor Gericht können Klagen gegen zwei Bescheide zu einem Verfahren verbunden werden. Für die Betroffenen entstehen hierdurch keine Nachteile. Statt der Hilfe aus einer Hand kann es daher künftig die Hilfe unter einem Dach geben. Unsere Leitlinien lauten wie folgt. Erstens. Die optimale Hilfe für arbeitsuchende Menschen muss an erster Stelle stehen. Das sage ich insbesondere für die vielen Zuschauer an den Fernsehgeräten, die wissen wollen: Wie wird mir geholfen? Wird mir auch in einem Jahr vernünftig geholfen werden können? Daran arbeiten wir. Zweitens. Die Trägerschaft der Optionskommunen muss auf jeden Fall entfristet werden. Dieses Modell hat sich bewährt. Für diese Kommunen und insbesondere ihre Mitarbeiter muss der Modellcharakter in eine feste, zukunftssichere Form gewandelt werden, um Planungssicherheit im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schaffen. ({13}) - Das habe ich Ihnen vorhin gesagt. Drittens. Die neue Organisation im SGB II muss gewährleisten, dass die arbeitslosen Menschen von den Trägern vor Ort in partnerschaftlichem Zusammenwirken durch den Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums effizient in Beschäftigung vermittelt werden können. Das gilt für die Zukunft mindestens ebenso wie für die letzten Jahre. ({14}) Ich bin sicher, dass wir gemeinsam mit der Bundesregierung auf dieser Grundlage ein tragfähiges Modell zustande bringen. Unter diesen Gesichtspunkten will ich auch eine eventuelle Kompromisslösung auf Grundlage der Gesetzentwürfe der SPD und der Grünen nicht von vornherein ausschließen. ({15}) - Ich bin ebenso aufgeschlossen wie die Kollegen Dörflinger und Schiewerling. Wir halten nicht stur und mit Scheuklappen an unserer Meinung fest, lieber Herr Heil. Auch wir lernen dazu. ({16}) Voraussetzung ist, dass für arbeitsuchende Menschen ein solcher Kompromiss, die optimale Hilfe aus einer Hand, so bürokratiearm wie möglich ist. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Anette Kramme für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Union! Es ärgert mich ein wenig, wenn Sie sich den Heiligenschein als vermeintliche Schützer des Grundgesetzes aufsetzen. ({0}) Dieses Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttreten unendlich oft geändert worden. Es beinhaltet die Ewigkeitsgarantie, die einen tatsächlichen Schutz bewirkt. Ich sage Ihnen: Es gab weitaus nichtigere Zwecke, für die wir das Grundgesetz geändert haben. Das IAB hat in den letzten Tagen eine Feststellung getroffen, die ich sehr wichtig finde, nämlich: Die Jobcenter funktionieren, die Langzeitarbeitslosigkeit ist reduziert worden, und die Arbeitsmarktinstrumente greifen grundsätzlich. ({1}) Was Sie von Union und FDP machen, ist dagegen unverantwortlich. ({2}) Sie wollen funktionierende Behördenstrukturen auseinanderreißen. Schade ist, dass nicht Sie die Leidtragenden sind, sondern die Arbeitsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland. Ich sage: Das kann und darf nicht sein. ({3}) Dabei könnte die Geschichte so einfach sein. Denken Sie an das Frühjahr 2009 zurück, als alle Ministerpräsidenten dem Gesetzentwurf von Olaf Scholz zugestimmt haben. Vielleicht erinnern Sie sich noch - obwohl ich vermute, es ist Ihnen unangenehm - an die Arbeitsministerkonferenz vom 25. und 26. November. Alle Bundesländer mit Ausnahme von Baden-Württemberg haben sich für das ZAG ausgesprochen. Auch wenn man den aktuellen Beschluss der Arbeitsministerkonferenz liest, stellt man fest: Im Prinzip ist keine andere Situation gegeben. ({4}) Der Beschluss ist für die Arbeitsministerin mehr Schein als Sein. Die Länder sagen, sie nähmen das Eckpunktepapier zur Kenntnis; es sei ein diskussionswürdiger Ansatz. Sie machen hohe Auflagen, die letztlich nur erfüllt werden können, wenn sie das ZAG umsetzen. Dann gibt es noch den kleinen Hinweis darauf, dass man weiterhin bereit ist, eine Verfassungsänderung mitzutragen. Ich sage: Lauer kann der Beifall für eine Arbeitsministerin nicht sein. ({5}) Halten wir uns vor Augen, was die Umsetzung Ihres Eckpunktepapieres bedeuten würde: Die Arbeitsuchenden bekommen zwei Bescheide. Im schlimmsten Fall müssen sie zwei Widerspruchsverfahren und zwei Klageverfahren durchführen. Wenn sie irgendwelche Informationen einholen wollen, dann haben sie nicht einen Ansprechpartner, sondern müssen sich grundsätzlich an zwei Behörden wenden. Viele Aufgaben müssen doppelt erledigt werden, beispielsweise die Außendienste oder der Forderungseinzug. Völlig unklar ist, was passiert, wenn Agentur und kommunale Träger zu einer unterschiedlichen Einschätzung einerseits der Erwerbsfähigkeit und andererseits der Hilfebedürftigkeit kommen. Man stelle sich auch vor, was bei einer einfachen Eingliederungsvereinbarung passiert - tagtägliches Geschäft -: Da sollen kommunale Leistungen einbezogen werden. Jedes Mal müssen die Telefone heißlaufen, damit die Zustimmung der Kommune eingeholt werden kann. Die kommunalen Träger, obwohl Sie sie so hoch hängen und sagen, deren Wissen sei entscheidend, werden keinen relevanten Einfluss auf die Arbeitsmarktpolitik mehr haben. Es gibt keine Lösung für die IT. Es ist auch sehr fraglich, ob kommunale Beschäftigte in der Übergangszeit der BA hinreichend zur Verfügung stehen. ({6}) Gerade in einer Arbeitsmarktkrise ist es eine Katastrophe, dass Sie die Funktionsfähigkeit dieses Ladens infrage stellen wollen. ({7}) All diese Punkte könnten gelöst werden, wenn sich die Bundesregierung zu dem Kompromiss zwischen Ländern und Bund vom Anfang dieses Jahres bekennen würde. Die bewährten Jobcenterstrukturen bleiben aufrechterhalten. Das ZAG bringt zusammen, was zusammengehört. Wir bieten den Arbeitsuchenden und den Beschäftigten verlässliche Kontinuität, den geringsten Grad an Bürokratie und letztlich deutlich weniger Kosten. ({8}) Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der Besinnlichkeit. ({9}) Ich hoffe, dass diese Regierung nicht nur besinnliche Weihnachtstage verbringt, sondern endlich auch zur Besinnung kommt. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Gabriele Molitor. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir von der FDP-Bundestagsfraktion nehmen soziale Verantwortung ernst, ({0}) und zwar so ernst, dass wir auch die Hausaufgaben erledigen, die andere aufbekommen haben. Es ist jetzt zwei Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht eine Neuorganisation der Argen gefordert hat. In der letzten Legislaturperiode hat es die Vorgängerregierung nicht vermocht, eine langfristig wirksame Neuregelung für die Jobcenter zu schaffen. ({1}) Wir stellen uns dieser Aufgabe; denn eine echte Reform tut dringend not. Wir sind es den Millionen Menschen, die arbeitslos sind, schuldig, und wir sind es der Solidargemeinschaft, bestehend aus Beitrags- und Steuerzahlern, schuldig. Eines ist doch klar: Viele Menschen, die schon lange arbeitslos sind, leiden unter ihrer Situation und möchten wieder selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Sie brauchen Betreuung, Beratung und Unterstützung. Dabei ist es wichtig, jeden einzelnen individuell zu fördern und auch zu fordern. ({2}) Als Stadtverordnete meiner Heimatstadt Erftstadt habe ich beobachtet, wie quälend lange es gedauert hat, bis die Arge endlich ihre Tätigkeit aufgenommen hat. ({3}) Das lag nicht an den Mitarbeitern. Eine Immobilie musste gefunden werden. Zeitgleich wurden Mitarbeiter rekrutiert. Es war gar nicht so einfach, aus Mitarbeitern aus der Stadtverwaltung, die häufig aus dem Sozialamt stammten, und Mitarbeitern aus der Bundesagentur ein Team zu bilden. Von den Schwierigkeiten bei der Datenverarbeitung will ich erst gar nicht reden. Für eine Neuregelung bleibt uns nicht viel Zeit. Deshalb begrüßen wir das Eckpunktepapier der Arbeits- und Sozialministerin als vernünftige Diskussionsgrundlage. ({4}) Folgende Punkte sind der FDP-Bundestagsfraktion dabei besonders wichtig: Wir brauchen klare Zuständigkeitsregeln. Wir wollen Hilfebedürftige nicht zu Bittstellern degradieren und sie von Amt zu Amt schicken. Wir wollen die Zahl der Vermittlungen in Arbeitsverhältnisse steigern, und wir wollen die Kompetenzen der Kommunen weiter stärken. ({5}) Gerade die letzte Forderung ist uns Liberalen besonders wichtig. Das Prinzip der gleichen Augenhöhe soll auch für die Zusammenarbeit von Kommunen und Bundesagentur gelten. ({6}) Die Kommunen sollen sich um die Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen kümmern können. Sie kennen den örtlichen Arbeitsmarkt, sie pflegen Kontakt zu den Arbeitgebern, zu den Wohlfahrtsorganisationen und zu den Weiterbildungseinrichtungen. ({7}) Diese Nähe hat Auswirkungen auf die Effizienz. Es muss doch darum gehen, das Problem Arbeitslosigkeit zu lösen und es nicht nur zu verwalten. ({8}) Es liegt im ureigenen Interesse der Kommunen, die Arbeitslosenzahl gering zu halten. Wir verstehen die Sorgen der Kommunen, angefangen bei der Angst vor mehr Bürokratie bei der Arbeitsvermittlung und fehlender Einflussnahme bei der Entscheidungsfindung von Bedürftigkeit bis hin zu der Angst vor finanziellen Mehrbelastungen. ({9}) Die Beschlüsse der Arbeits- und Sozialminister der Bundesländer verfolgen wir mit Interesse und begrüßen, dass das Eckpunktepapier des Ministeriums die Entfristung der Optionskommunen vorsieht. ({10}) Es wäre ein positives Signal, weiteren Kommunen die Möglichkeit zu geben, diesen Weg zu gehen. ({11}) Die skizzierte Konzeption macht eine Grundgesetzänderung unnötig. Deshalb werden wir den Gesetzentwürfen der Opposition nicht zustimmen. ({12}) Ein Zurechtbiegen des Grundgesetzes kann die substanziellen Probleme nicht lösen. Auch wenn die Zeit drängt, sind Schnellschüsse schlecht. ({13}) Wir brauchen ein konstruktives und tragfähiges Konzept, ohne dabei die Verfassung an das politische Tagesgeschäft anzupassen. ({14}) Bei allem, was wir tun, müssen wir darauf achten, Menschen in Arbeit zu bringen. Dabei sollten wir diejenigen nicht vergessen, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben: die Alleinerziehenden, die Geringqualifizierten, die Menschen mit Behinderung und die Menschen mit Migrationshintergrund. ({15}) Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und FDP festgeschrieben, eine einfachgesetzliche Lösung herbeizuführen. Dazu stehen wir. Bürokratische Doppelstrukturen sollen vermieden werden, die Leistungserbringung für den Bürger soll nachvollziehbar und effektiv sein. Die Arbeitslosen brauchen ein funktionierendes Hilfesystem und keine langwierige Diskussion über Organisationsformen. Dieser Aspekt sollte bei der Diskussion über Reformen immer im Hinterkopf sein. ({16}) Lassen Sie uns gemeinsam die Chance nutzen, eine Regelung zu finden, die den Betroffenen wirklich hilft. Vielen Dank. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Molitor, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute und viel Erfolg. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die Arbeitsgemeinschaften nach § 44 b SGB II verstoßen gegen unsere Verfassung. Jetzt schlagen Sie von der SPD - differenziert und auf einem anderen Weg auch die Grünen - und viele andere im Lande vor, die Verfassung zu ändern. Vereinfacht ausgedrückt: Was nicht passt, wird passend gemacht. Aber so einfach geht das in diesem Falle nicht. ({0}) Ich gebe zu, dass ein solcher Vorschlag durchaus leicht kommunizierbar ist. Aber wir müssen doch die Frage stellen: Um was geht es in diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil? Geht es da um ein verfassungstechnisches Problem, ({1}) um eine Regelungs- oder Zuständigkeitslücke, die man leicht schließen kann? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Urteil lesen, werden Sie feststellen: Es geht um einen Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes. Im Klartext: Es geht um einen Verstoß gegen die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen. Ich sage hier in diesem Hause: Da müssen bei jedem, der aus der kommunalen Familie kommt - das sind in allen Fraktionen viele -, die Alarmglocken läuten. ({2}) Es gibt Bereiche in unserer Verfassung, in denen wir keine Dammbrüche zulassen dürfen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Schutz unserer Gemeinden, Städte und Landkreise vor unzulässigen Eingriffsmöglichkeiten des Bundes bzw. die volle, transparente, umfängliche Verantwortung für eigene Aufgaben. Genau hier, bei der Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes, liegt auch der Lösungsansatz. Denn eines ist unbestritten: Unsere Kommunen sind die stärkste, innovativste und auch vielfältigste öffentliche Ebene. Diese Pluralität vor Ort macht auch die Stärke unseres Landes aus. Aus dieser Unterschiedlichkeit resultieren im Übrigen auch die bisher schon sehr unterschiedlichen Lösungen und Lösungsvorschläge. Es kommt nicht von ungefähr - in der heutigen Debatte wurden schon die verschiedensten Stellungnahmen genannt -, dass auch vonseiten der kommunalen Familie verschiedene Stellungnahmen vorliegen, querbeet und egal von welchen Fraktionen. Die Wirtschaftskraft ist vor Ort unterschiedlich, damit auch die Arbeitslosenquoten und die regionalen Strukturen, und auch die kommunale Selbstverwaltung ist je nach Selbstverwaltungsmodell durchaus unterschiedlich. ({3}) Aber eines verbindet die Kommunen: Sie sind die Ebene, die dem Bürger am nächsten steht und für die Kooperation schon seit Jahrzehnten kein Fremdwort ist. ({4}) Wenn jemand kooperieren und Verträge schließen kann, dann sind es die Kommunen. Was diese Kooperationsbereitschaft und Flexibilität angeht, kann sich der Bund von den Kommunen manchmal eine Scheibe abschneiden. ({5}) Die Lösung liegt auf der Hand. Wir brauchen nach Bund und Ländern gerade nicht eine quasi in der Verfassung verankerte dritte Ebene in Form einer erstmalig eingeführten Mischverwaltung. Wir brauchen vielmehr einen einfachgesetzlichen Rahmen für Kooperationsmöglichkeiten vor Ort unter einem Dach. ({6}) Wir brauchen Möglichkeiten der Kooperation zwischen Bundesagentur und Kommunen auf Augenhöhe. Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen - das ist in dieser Debatte noch nicht gesagt worden -, dass sich die Bundesagentur gerade in den letzten Jahren unter der Leitung von Frank-Jürgen Weise mit ihren vielen engagierten und kompetenten Mitarbeitern hervorragend und positiv entwickelt hat und gut aufgestellt ist. Deshalb muss es auch möglich sein, dass unsere Städte und Gemeinden mit viel Freiraum entscheiden können, wie die Kooperation mit der Bundesagentur ganz konkret aussieht. In einem Punkt bin ich mir ganz sicher: Wir werden bürgernahe und effiziente Lösungen für die Arbeitsuchenden finden. Frau Bundesministerin von der Leyen geht deshalb mit der Vorlage des Eckpunktepapiers in die richtige Richtung. ({7}) Wir sollten die Grundgesetzänderung nicht wie eine Monstranz ständig vor uns hertragen. Es gibt hier andere Wege. Wir müssen die Kommunen weiter stärken. Wenn Sie davon sprechen, dass Ihre Lösung die einfachere oder sogar die kostengünstigere ist, dann muss dem entgegengehalten werden, dass der Bundesrechnungshof schon damals, als es um den Gesetzentwurf ging, betont hat, dass Mehrbelastungen in Höhe von großen dreistelligen Millionenbeträgen im Raume stehen, die zusätzlich auf unsere Volkswirtschaft, auf die Kommunen zukommen. Noch ein Wort dazu, was Vereinfachung von Gesetzestexten bedeutet. Schauen Sie sich bitte einmal an, wie der Paragraf, in dem die Finanzierung aus Bundesmitteln geregelt ist - § 46 SGB II -, derzeit aussieht: Er geht über mehrere Seiten und hat neun Absätze. Es gibt mit Sicherheit einfachere Möglichkeiten, das zu regeln. ({8}) Es geht hier nicht - Frau Pothmer hat es, glaube ich, so genannt - um Verfassungsästhetik, aber es geht sehr wohl darum, dass die Verfassung eine Verfassung ist. Auch wenn wir, wie das Beispiel des § 46 SGB II zeigt, bei einfachen Gesetzen Formulierungen haben, die im Prinzip den Charakter von Rechtsverordnungen haben, können wir solche Formulierungen nicht in die Verfassung hineinschreiben. ({9}) In der letzten Legislaturperiode haben wir mit den Föderalismusreformen I und II sowohl bei den Aufgaben als auch bei den Finanzen gerade erst für mehr Klarheit in der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern in der Verfassung gesorgt. Eine verfassungsmäßige Verankerung einer absoluten Mischverwaltung würde dies nicht nur konterkarieren, nein, sie widerspräche, wie richtigerweise gesagt worden ist, auch dem Demokratiegebot. Lassen Sie mich sagen, dass es viele gute Gründe dafür gibt, dass, wenn es um unsere Verfassung geht, das Pippi-Langstrumpf-Prinzip - „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ - nicht zulässig ist. ({10}) Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, setzen wir auf Subsidiarität, auf Freiraum vor Ort, auf Vertragsfreiheit, auf die Kreativität unserer starken Kommunen zusammen mit einer gut aufgestellten Bundesagentur für Arbeit. Ich bin überzeugt davon, dass Kommunen und Bundesagentur für Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger, für die es schlichtweg um Existenzsicherung geht, praktikable Lösungen finden. Wir müssen ihnen hierzu nur den Freiraum geben. Ich bedanke mich. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika KrügerLeißner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Legenden unseres Kollegen Kolb haben mich ein wenig an das erinnert, was in diesem Jahr in puncto Reform der Jobcenter passiert ist. Als wir uns bereits im März dieses Jahres damit beschäftigten, ahnte ich schon Schlimmes; denn die Union sagte Nein zu unserem Vorschlag. Nein zu einem Kompromiss, den unser damaliger Arbeitsminister, Olaf Scholz, zusammen mit den Länderchefs und mit Zustimmung der Kanzlerin ausgehandelt hatte. Mit diesem Kompromiss hätte der Schwebezustand bei der Betreuung der Langzeitarbeitslosen, den wir seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben, endlich beseitigt werden können. Beseitigt hat die Union nicht diesen Schwebezustand, im Gegenteil, beseitigt hat sie sämtliche Hoffnungen, rechtzeitig eine dauerhafte, tragfähige und verlässliche Lösung für die Jobcenter zu schaffen. Die Lösung, die wir bereits im März aufgezeigt hatten und die wir heute hier einbringen, besteht in der Fortführung der bewährten Zusammenarbeit in den neuen Zentren für Arbeit und Grundsicherung verbunden mit einer Änderung des Grundgesetzes. Alle hier wissen, auch wenn sie es nicht aussprechen, dass es nur so geht. ({0}) Dieser Vorschlag wird von vielen Seiten unterstützt: vom Deutschen Städte- und Gemeindebund, vom Deutschen Städtetag, vom Deutschen Landkreistag, von den Ländern, vor allen Dingen aber - das scheint mir wichtig; denn um sie geht es - von den 346 Jobcentern. ({1}) Mit unserem Gesetzentwurf zeigen wir auf, dass Leistungen aus einer Hand möglich sind, und das mit dem geringsten Aufwand an Bürokratie und letztendlich mit weniger Kosten für Bund und Kommunen. Sehr geehrte Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie können das doch nicht einfach beiseiteschieben und mit Ihrem Eckpunktepapier wider besseres Wissen einen äußerst vagen und intransparenten Vorschlag auf den Tisch legen. Wenn das Wirklichkeit wird, dann - da muss ich Frau Pothmer wirklich zustimmen - haben wir Großbaustellen, und das auf lange Sicht. ({2}) Die Folgen wären weniger Arbeitsangebote, mehr Bürokratie und mehr Ärger und Frust aufseiten der Arbeitsuchenden und der Beschäftigten. Das wäre ein Rückschritt, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Sehr geehrte Ministerin, ich habe Sie gestern im Ausschuss erlebt und gespürt, dass auch Ihnen bei dieser Sache nicht wohl ist. Sie wissen genau, dass es die von Ihnen gewünschte freiwillige Zusammenarbeit nicht ohne Weiteres geben wird; denn nur mit einer Grundgesetzänderung wäre die bisher erfolgreiche gemeinsame Arbeit der BA und der Kommunen zu sichern. ({3}) Sie fahren hier aber einen Schlingerkurs, weil Sie ein enormes internes Problem haben, nämlich den Konflikt zwischen den Koalitionsfraktionen und den Erwartungen der Länder und Kommunen. ({4}) Weil das so ist und wir alle es wissen, stellen die Länder nun massive Forderungen. Wenn sie schon auf Ihr Modell der getrennten Aufgabenwahrnehmung eingehen, dann wollen sie pokern. Ich finde das sehr unanständig; denn wir wissen, dass die Hilfe und Betreuung der Langzeitarbeitslosen und die Sorgen der 55 000 Beschäftigten bei diesem Poker keine Rollen spielen werden. Was die Bundesländer mit ihren Kommunen wollen, kann man in drei Punkten zusammenfassen: Sie wollen erstens Leistungen aus einer Hand haben. Genau das steht in unserem Gesetzentwurf. Sie wollen zweitens Kooperation auf gleicher Augenhöhe. Genau das steht bei uns drin. Sie wollen drittens eine langfristige Absicherung der Optionskommunen. Das sichern wir ihnen zu. ({5}) Unter dem Strich entspricht unser Vorschlag also den Erwartungen der Bundesländer und der Kommunen. ({6}) Durch alle anderen Lösungen, Herr Kolb, zum Beispiel die in diesem Eckpunktepapier, wird eine Vielzahl von neuen Problemen aufgeworfen. Sehr geehrte Frau Ministerin, dass Sie gerade in diesen wirklich sehr schwierigen Zeiten in unserem Land, mitten in der größten ökonomischen Krise mit weiteren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, diesen Vorschlag machen, halte ich für verantwortungslos. Darum lassen Sie mich zum Schluss einige ganz persönliche Worte an Sie richten. Ich weiß, dass diese erste Gesetzesarbeit für Sie als Arbeits- und Sozialministerin eine wirklich große Herausforderung ist. Wir alle, alle Abgeordneten, werden diesen Prozess vor Ort im Wahlkreis begleiten. Ich bitte Sie: Schauen Sie sich die Arbeit in den Argen an, sprechen Sie mit den kommunalen Vertretern und der BA, diskutieren Sie mit ihnen unseren Vorschlag der Hilfe aus einer Hand und spielen Sie Ihre getrennte Aufgabenwahrnehmung mit den möglichen Folgen durch! Ich möchte Sie einladen, das mit mir vor Ort, vor den Toren Berlins, in der Arge Havelland in Nauen zu machen. Danke. ({7}) - Das wäre doch nicht schlecht, oder?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Astrid Voßhoff für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Hatten Sie schon einmal Zeit und Gelegenheit, die Erstausgabe des Grundgesetzes zu lesen? Falls nicht, kann ich es Ihnen nur dringend empfehlen. Im Gegensatz zur aktuellen Ausgabe ist sie von bestechender Klarheit und beeindruckender Kürze. Wie sagte Bundestagspräsident Lammert bei einer Veranstaltung anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Grundgesetzes in diesem Jahr so treffend: Das Grundgesetz ist in den vergangenen 60 Jahren deutlich länger geworden. Nach Auskunft von Experten … hat es inzwischen nahezu den doppelten Umfang gegenüber dem Text von 1949. Er konstatiert, dass zumindest die Frage erlaubt ist, ob es mit der erheblichen Erweiterung auch erheblich besser und präziser geworden ist. Vergleicht man das Grundgesetz mit einem Haus, so passt der Vergleich, dass das Grundgesetz natürlich nicht unter Denkmalschutz steht. Veränderte Aufgabenstellungen und veränderte Verfassungswirklichkeiten machen eine Anpassung immer wieder notwendig. Aber man kann den noch so gelungenen Grundriss eines Hauses durch immer neue An- und Umbauten irgendwann auch völlig verunstalten. Das Haus wird dann nicht unbedingt schöner; es wird unübersichtlicher. Der Bürger verliert in seinem eigenen Haus die Orientierung. ({0}) Nicht nur das: In einer verfassungsrechtlichen Untersuchung aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des Grundgesetzes findet sich unter dem Titel „Vom Altern einer Verfassung“ der aufschlussreiche Satz: Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen. Woran mag der Verfasser gedacht haben? Mir fallen dazu die Ergebnisse der ersten Föderalismuskommission ein, die gerade mal drei Jahre in Kraft sind und die von dem Willen getragen waren, Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen Bund und Land zu entflechten und klar zuzuordnen. Wir haben uns 2006 in der Föko I, der ersten der beiden großen Staatsreformen in der Geschichte Deutschlands, darauf verständigt, eine Entflechtung der Bund-Länder-Beziehungen vorzunehmen. Es ging dabei um eine klare Abgrenzung der Kompetenzen der Länder von den Kompetenzen des Bundes, und es ging um die Stärkung der Demokratie, damit die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft erkennen können, wer für was zuständig ist und wer die alleinige Verantwortung trägt. Dazu passt es dann auch, dass Professor Korioth in einem Aufsatz zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, über die wir heute bereits gesprochen haben, feststellt: Mit der Verfassungswidrigkeitserklärung der Arbeitsgemeinschaften nach § 44 b SGB II erweist sich wieder einmal das Bundesverfassungsgericht als diejenige Instanz, die folgerichtig den Gesetzgeber anmahnt und die Politik beim Wort nimmt. Wer die klare Verteilung von Verantwortung fordert, muss sich auch daran messen lassen. ({1}) Die Frage, wie künftig die Leistungsträgerschaft und die Kostentragung bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgestaltet werden soll, haben wir also im Lichte der Änderungen durch die Föderalismuskommissionen und den Entscheidungsspielraum zu beantworten, den uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat. Was macht die Opposition? Sie bringt heute zwei Gesetzentwürfe zur Änderung des Grundgesetzes ein. Über die Pläne der SPD ist bereits alles gesagt worden. Dem braucht man nichts hinzuzufügen. Die Unionsfraktion hat diese Pläne, die zu einem kostenintensiven und gigantischen Behördenaufbau führen, bereits nach dem ersten Bekanntwerden abgelehnt. Das wissen Sie. Das wurde heute schon hinreichend diskutiert. ({2}) - Herr Heil, da Sie das ZAG so vehement verteidigen: Selbst das BMAS unter SPD-Führung hat dieses Gesetzesvorhaben dem Grunde nach abgelehnt. Der Weg der Verfassungsänderung, der heute von der Opposition vorgeschlagen wird, sollte immer Ultima Ratio sein. Montesquieu hat so schön und plakativ formuliert. In leichter Abwandlung darf ich es wiederholen: Wenn es nicht nötig ist, die Verfassung zu ändern, ist es nötig, die Verfassung nicht zu ändern. ({3}) Es ist heute deutlich geworden, dass es immer wieder Neigungen gibt, das Grundgesetz zu ändern. Frau Pothmer hat gesagt, wir könnten doch schnell eine Änderung vornehmen. Vonseiten einer Kollegin aus der SPD hieß es vorhin, das könnte alles so einfach sein. Wer vorschnell und trotz Alternativen Grundgesetzänderungen einfordert, befördert die Tendenz, politische Gestaltungsabsichten nicht mehr der Mühsal einfachgesetzlicher Umsetzung auszusetzen, sondern gleich in den Verfassungsrang zu erheben. ({4}) Zu Recht hat Bundestagspräsident Lammert die Frage aufgeworfen, welche Folgen es hat, wenn immer häufiger neben Grundsätzen und Grundregeln politische Gestaltungsabsichten mit Verfassungsrang ausgestattet werden. Er fragt - ich darf zitieren -: Was das für die Spielräume künftiger Gesetzgeber, künftiger demokratisch legitimierter Mehrheiten bedeutet und damit auch für die Architektur eines politischen Systems, für das wir uns im Großen und Ganzen regelmäßig wechselseitig beglückwünschen und das mit gutem Grund, weil uns in unserer Geschichte selten Ähnliches ähnlich gut gelungen ist wie diese Verfassung. Deshalb stellt sich rechtspolitisch bei der Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils in beiden Fällen die Frage, ob eine Grundgesetzänderung unumgänglich ist oder ob sich das Problem, was heute mehrfach diskutiert worden ist, durch einfachgesetzliche Regelungen lösen lässt. Das gilt sowohl für den Bestand der gemeinsamen Grundsicherung als auch für die Regelung über die Optionskommunen. Ich finde, das Eckpunktepapier des BMAS bietet dafür eine gute Handlungsgrundlage, zumal darin auch der Versuch gestartet wird, es eben nicht zu einer Verfassungsänderung kommen zu lassen. Das halte ich für sinnvoll und zielführend. Das Bundesverfassungsgericht hat uns einen Gestaltungsspielraum gegeben. Wenn man das Urteil intensiv durchliest, findet sich nicht nur eine Lösung, sondern es gibt mehrere. Wenn eine verfassungskonforme Lösung gefunden werden kann, ohne die Verfassung zu ändern, dann sollten wir diese favorisieren, selbstverständlich mit dem Ziel, für die Arbeitsuchenden, um die es uns schließlich geht, eine effiziente Verwaltung auszugestalten. Meine Damen und Herren, abschließend will ich noch ein Problemfeld ansprechen. Darüber, inwieweit eine Entfristung bei den Optionskommunen oder eine Aufstockung der Zahl dieser Kommunen möglich ist, müssen wir in verfassungsrechtlicher Hinsicht ausreichend diskutieren; denn wir haben durch die Föderalismusreform I einen Satz in Art. 84 des Grundgesetzes aufgenommen, wonach es dem Bund verboten ist, den Kommunen Aufgaben zu übertragen. Hier gibt es sicherlich noch Diskussions- und Handlungsbedarf. Aber ich denke, das ist lösbar. Wenn man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts liest und sich vor Augen führt, was heute zum Thema Optionskommunen gesagt wurde, dann stellt man fest: Unabhängig davon, wie wir es regeln, sind die Optionskommunen im Zusammenhang mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ein Erfolgsmodell geworden. Die Tatsache, dass eine Vielzahl von Landkreisen künftig ebenfalls optieren will, zeigt, dass die Union von Anfang an mit den Optionskommunen auf das richtige Konzept gesetzt hat. ({5}) Ich bin sicher, dass wir nach Vorlage des Eckpunktepapiers des BMAS in den anschließenden Beratungen eine vernünftige und im Sinne der Verfassung notwendige Regelung in dieser Frage finden werden. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Woche ist Heiligabend. Wir sollten daher einen Blick auf die Bescherung unserer Regierung werfen. Sie folgt einer Logik, Herr Kolb, über die man sagen kann: Je größer der Baum, desto größer die Geschenke. Wer sich keinen Baum leisten kann, dem wird auch nichts geschenkt. Das will ich als Eingangsbemerkung einer Debatte voranstellen, die uns bislang viel Zeit gekostet hat. Ich zitiere den Minister für Arbeit, Familie und Gesundheit in Hessen, Jürgen Banzer, der in der FAZ vom 10. Dezember konsequent und richtig ausführt: Eine getrennte Aufgabenwahrnehmung wäre ein bedauernswerter Rückfall hinter den bereits erreichten Stand der Dinge und entspräche auch nicht den Ansprüchen an eine moderne, kundenfreundliche Verwaltung. ({0}) Worüber sprechen wir? Wir sprechen über etwas, das unter dem Tannenbaum des BMAS liegt. Frau Ministerin, um dieses Geschenk beneide ich Sie nicht. Unter dem Tannenbaum liegt ein Päckchen, bei dem es um die zukünftige Aufgabenwahrnehmung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende geht. Selbst die Schleife, die Sie daran mit Ihrem Eckpunktepapier gemacht haben, überzeugt nicht. Zu Recht wurde angesprochen: Die Folgen sind eine Großbaustelle, Selbstbeschäftigung und ein gigantischer Bürokratieaufbau, den Sie dann heldenhaft wieder abbauen werden. Das finden wir nicht hinnehmbar. ({1}) Denn wir sehen einer Zeit entgegen, in der die betreffenden Behörden Dienstleistungen für all diejenigen erbringen müssen, die Sorge um ihren Arbeitsplatz haben, ihn verloren haben und wieder in den Arbeitsmarkt wollen. Darauf muss die Arbeit der betreffenden Behörden gerichtet sein. Es ist Zeit, zu handeln. Wir legen einen Gesetzentwurf vor - auch für ihn gilt das Struck’sche Gesetz - und sind zu einer Debatte bereit, Herr Kolb. Wir denken allerdings, dass ein Gesetzentwurf eine bessere Arbeitsgrundlage darstellt als ein Eckpunktepapier, bei dem einem nur Zweifel kommen können. ({2}) Frau Voßhoff, ich verstehe Ihre Argumentation betreffend die Verfassung und schätze Sie als Kollegin sehr. Aber soll ich aus Ihren Worten schließen, dass wir vermutlich in dieser Legislatur überhaupt keine Verfassungsänderung haben werden? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es etwas gibt, was ebenso wichtig - oder sogar wichtiger - wie ein guter Service für Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ist, die einen Rechtsanspruch auf Hilfe haben. Meines Erachtens ist das ein sehr hohes Ziel, dem wir entsprechen müssen. ({3}) Warum sitzt uns die Zeit heute so im Nacken? Wenn wir ehrlich sind: Seit Frühjahr vergangenen Jahres hat es in der Fraktion der CDU/CSU ein Denk- und Entscheidungsverbot zu diesem Thema gegeben. Das ist die Ursache für die Zeitnot, in der wir uns nun befinden. ({4}) Wir sind gerne bereit, mit Ihnen über gute Lösungen zu diskutieren. Aber meine Kolleginnen und Kollegen haben in ihren Redebeiträgen schon sehr deutlich dargelegt, wo bei uns die Schmerzgrenzen liegen. Diese werden wir garantiert nicht unterschreiten, ({5}) weil wir im Interesse derer handeln, für die diese Dienstleistung erbracht wird. Herr Kolb, das unterscheidet uns vielleicht von Ihnen. ({6}) Abschließend gibt es zwei gute Nachrichten: Die eine gute Nachricht betrifft die Kollegin Pothmer. Ich glaube, unter Ihrem Weihnachtsbaum wird eine Koralle liegen. Die zweite gute Nachricht richtet sich an die Frau Ministerin: Weihnachtsgeschenke, die einem nicht behagen, kann man nach Weihnachten umtauschen. Dies ist eine Einladung. Wir haben eine Empfehlung. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/182, 17/181 und 17/206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a bis 22 d sowie zu den Zusatzpunkten 6 a bis 6 g. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 22 a: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung - Drucksache 17/245 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 22 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ({1}) ({2}) KOM-Nr. ({3}) 154 endg.; Ratsdok.-Nr. 14722/ - Drucksachen 17/136 A.30, 17/270 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Silberhorn Dr. Eva Högl Stephan Thomae Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/270, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 22 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) zu der Verordnung der Bundesregierung Sechsundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/14067, 17/28 Nr. 2, 17/161 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/161, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/14067 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 22 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({5}) Übersicht 1 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 17/129 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Zusatzpunkten 6 a bis 6 g. Das sind die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zusatzpunkt 6 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 1 zu Petitionen - Drucksache 17/261 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 1 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 6 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 2 zu Petitionen - Drucksache 17/262 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 2 ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 3 zu Petitionen - Drucksache 17/263 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 3 ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen. Zusatzpunkt 6 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 4 zu Petitionen - Drucksache 17/264 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 4 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zusatzpunkt 6 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 5 zu Petitionen - Drucksache 17/265 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 5 ist angenommen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen Fraktionen. Zusatzpunkt 6 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 6 zu Petitionen - Drucksache 17/266 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 6 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Zusatzpunkt 6 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 7 zu Petitionen - Drucksache 17/267 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 7 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 l auf. Dabei geht es um weitere Wahlen zu Gremien. Wir haben insgesamt zwölf Gremien zu besetzen. Vier Wahlen müssen wir mit Stimmkarte und Wahlausweis durchführen. Zunächst kommen wir zu vier Wahlen, die mittels Handzeichen durchgeführt werden. Tagesordnungspunkt 8 a: Gemeinsamer Ausschuss gemäß Artikel 53 a des Grundgesetzes - Drucksache 17/210 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/210 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 8 b: Ausschuss nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes ({5}) - Drucksache 17/211 - Auch dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Drucksache 17/211 vor. Wer stimmt für diese Wahl- vorschläge? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Wahlvorschläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 8 c: Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Absatz 2 des Wahlprüfungsgesetzes - Drucksache 17/212 - Auch dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Drucksache 17/212 vor. Wer stimmt für diese Wahl- vorschläge? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Wahlvorschläge sind einstimmig angenom- men. Tagesordnungspunkt 8 d: Gremium gemäß § 23 c Absatz 8 des Zollfahn- dungsdienstgesetzes - Drucksache 17/213 - Auf Drucksache 17/213 liegen dazu Wahlvorschläge aller Fraktionen vor. Wer stimmt für diese Wahlvor- schläge? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Wahlvorschläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkte 8 e und 8 f. Es sind nun zwei Wahlen mit Stimmkarten und Wahlausweisen durchzu- führen, und zwar zu den folgenden beiden Gremien: zum Ersten zum Wahlausschuss gemäß § 6 Abs. 2 des Bun- desverfassungsgerichtsgesetzes und zum Zweiten zum Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richterwahlgeset- zes. Denken Sie bitte daran, dass sich an diese beiden Wahlgänge noch vier Wahlen mittels Handzeichen und dann auch noch zwei Wahlen mit Stimmkarte und Wahl- ausweis anschließen werden. Nun muss ich Sie um Aufmerksamkeit für einige Hin- weise zu den beiden folgenden Wahlen bitten, auch wenn wir heute Morgen schon etwas Ähnliches durchge- führt haben. Die Stimmkarten in den Farben Grün und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Orange werden bereits im Saal verteilt. Sie benötigen außerdem Ihre Wahlausweise in den Farben Grün und Orange, die Sie, soweit Sie sie noch nicht entnommen haben, jetzt noch in Ihren Stimmkartenfächern finden. Bevor Sie die entsprechende Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren dazugehö- renden Wahlausweis einem der Schriftführer an den Wahlurnen. Die Schriftführer bitte ich, darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe der Wahlausweis übergeben wird. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Die Wahlen sind offen. Sie können die Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen. Zunächst Tagesordnungspunkt 8 e: Wahlausschuss gemäß § 6 Absatz 2 des Bun- desverfassungsgerichtsgesetzes - Drucksachen 17/214, 17/215, 17/216, 17/217, 17/218 - Dazu liegen Ihnen auf Drucksache 17/214 bis Druck- sache 17/218 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Für diese Wahl benötigen Sie die grünen Stimmkarten. Ich mache darauf aufmerksam, dass Sie auf dieser Stimmkarte nur einen Vorschlag ankreuzen dürfen. Demzufolge sind Stimmkarten ungültig, die mehr als ein Kreuz oder Zu- sätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann er- öffne ich die Wahl. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Wir warten noch einen Moment. Sind jetzt alle Stimmen abgegeben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Wahl und bitte, auszuzählen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 f: Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richter- wahlgesetzes - Drucksachen 17/219, 17/220, 17/221, 17/222, 17/223 - Hierzu liegen Ihnen auf den Drucksachen 17/219 bis 17/223 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Sie benötigen für diese Wahl die Stimmkarte und den Wahlausweis in der Farbe Orange. Auch hier mache ich darauf aufmerk- sam, dass Sie auf dieser Stimmkarte nur einen Vorschlag ankreuzen dürfen. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze an den Wahlurnen einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich er- öffne die Wahl. Darf ich diejenigen Schriftführerinnen und Schrift- führer, die nicht an den Urnen eingeteilt sind, bitten, in 1) Ergebnis Seite 991 A den Auszählraum zu kommen und dort ihren Kollegin- nen und Kollegen zur Seite zu stehen und zu helfen? Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich diese Wahl und bitte die Schrift- führer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. Auch dieses Ergebnis wird Ihnen später be- kannt gegeben.2) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen nun die Gremienwahlen fort. Dazu bitte ich Sie, Ihre Gespräche nach Möglichkeit einzustellen und die freien Plätze, von denen es genügend gibt, einzunehmen. Wir kommen zunächst zu vier Wahlen, die mittels Handzeichen erfolgen. Danach folgen zwei Wahlen mit Stimmkarte und Wahlausweis. Tagesordnungspunkt 8 g: - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung des Gremiums gemäß Artikel 13 Absatz 6 des Grundgesetzes - Drucksache 17/224 - - Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß Artikel 13 Absatz 6 des Grundgesetzes - Drucksache 17/225 - Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/224 vor. Wer stimmt für die- sen Antrag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- genommen. Damit ist das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes eingesetzt und die Mitgliederzahl auf neun festgelegt. Zu diesem soeben eingesetzten Gremium liegen Wahlvorschläge aller fünf Fraktionen auf Drucksache 17/225 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Wahlvor- schläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- nommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 h: - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung des Gremiums gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes - Drucksache 17/226 - - Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfonds- gesetzes - Drucksache 17/227 - 2) Ergebnis Seite 991 A Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Wer stimmt für den gemeinsamen Antrag auf Einsetzung des Gremiums auf Drucksache 17/226? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Damit ist das Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes eingesetzt. Wir kommen nun zur Wahl der Mitglieder. Wer stimmt für die gemeinsamen Wahlvorschläge auf Drucksache 17/227? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 i: Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ({6}) gemäß den Artikeln 1 und 2 des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates - Drucksache 17/228 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/228 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 8 j: Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau - Drucksache 17/229 Auch dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag auf Drucksache 17/229? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, muss ich Sie auf Folgendes aufmerksam machen: Die Stimmzettel für die nächste Wahl müssen korrigiert oder eventuell neu gedruckt werden. Wir wollen das jetzt klären. Ich bitte deshalb die Geschäftsführer, kurz zu mir zu kommen. Ich unterbreche die Sitzung für einige Minuten. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Sitzung ist wieder eröffnet. Wir haben folgenden Sachverhalt: Auf dem gelben Zettel, auf dem die Wahlvorschläge für das Vertrauensgremium enthalten sind, fehlt hinter dem Namen des Kollegen Heinz-Peter Haustein von der FDP-Fraktion der Kreis für das Kreuz. Das mag für den einen oder anderen zunächst einmal nicht allzu entscheidend zu sein. Aber dieser Kringel ist sehr wichtig, weil er die Stelle anzeigt, wo das Kreuz gemacht werden muss. Ohne ein Kreuz hinter seinem Namen kann der Kollege nicht gewählt werden. Dies ist also keine Kleinigkeit. Ich bitte deshalb um Aufmerksamkeit für die unter den Geschäftsführern vereinbarte Regelung. Aufgrund verschiedener Umstände haben wir die Zeit heute schon stark überzogen. Es bestand Einigkeit darüber: Wenn wir alle konzentriert wählen und die Wahlzettel so ausfüllen, als wenn der Kreis vorhanden wäre, dann müssten wir die Wahlzettel nicht neu drucken und könnten somit Zeit sparen. ({0}) Ich bitte im Interesse aller, nicht nur im Interesse des vorgeschlagenen Kollegen, dies zu beachten. Ich lasse Ihnen jetzt ein paar Minuten Zeit, damit Sie sich inner- halb der Fraktionen entsprechend informieren können. Ich weise darauf hin, dass das Kreuz auch dann gültig ist, wenn es ohne den Kringel bei dem genannten Namen steht. Damit rufe ich nun die Tagesordnungspunkte 8 k und 8 l auf: k) - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushaltsord- nung - Drucksache 17/230 - - Wahl der Mitglieder des Vertrauensgre- miums gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundes- haushaltsordnung - Drucksache 17/231 - l) - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes - Drucksache 17/232 - - Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes - Drucksache 17/233 - Zunächst kommen wir zu zwei Wahlen mit Stimm- karte und Wahlausweis. Das betrifft den soeben bespro- chenen Wahlvorgang. Es geht dabei um die Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bun- deshaushaltsordnung und des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes sowie um die Wahl der Mitglieder dieser beiden Gremien. Gewählt in diese Gre- mien ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint. Ich bitte Sie, darauf zu achten: Gewählt ist, wer die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens 312 Stimmen erhält. Die Stimmkarten in den Farben Gelb und Weiß wur- den verteilt. Sie benötigen außerdem, wie bei den ande- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt ren Wahlgängen auch, jeweils Ihre Wahlausweise. Auch hier gilt wieder: Bevor Sie die entsprechende Stimm- karte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren dazugehörenden Wahlausweis einem der Schrift- führer an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Auch diese Wahlen finden offen statt. Sie können also die Stimmkarten auch an Ihrem Platz ankreuzen. Zunächst kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 k und damit zum Vertrauensgremium gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung. Bevor wir die Mitglieder wählen, rufe ich den gemeinsamen Antrag der Fraktio- nen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/230 zur Einsetzung dieses Gremiums und zur Festlegung der Anzahl der Mitglieder auf. Wer stimmt für den An- trag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der An- trag ist damit einstimmig angenommen. Das Vertrauens- gremium ist damit eingesetzt und die Mitgliederzahl auf zehn festgelegt. Nun kommen wir zur Wahl der Mitglieder des Ver- trauensgremiums. Für diese Wahl brauchen Sie nun den gelben Wahlausweis und die gelbe Stimmkarte, über die vorhin gesprochen wurde. Sie können zehn Namensvor- schläge ankreuzen. Ungültig sind Stimmkarten, die an- dere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Das gilt auch für die im Anschluss folgende Wahl. Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, die Plätze einzunehmen. - Das ist erfolgt. Dann er- öffne ich die Wahl. - Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich diese Wahl und bitte, auszuzäh- len. Das Ergebnis wird Ihnen auch hier später bekannt- gegeben.1) Wir kommen schließlich zum Tagesordnungs- punkt 8 l, zunächst zum gemeinsamen Antrag der Frak- tionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Einsetzung des Gre- miums und zur Festlegung der Anzahl der Mitglieder. Wir stimmen nun über den gemeinsamen Antrag auf Drucksache 17/232 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Damit ist das Gremium gemäß § 3 des Bundesschuldenwesen- gesetzes eingesetzt und die Mitgliederzahl auf zehn fest- gelegt. Für die Wahl der Mitglieder benötigen Sie nun die weiße Stimmkarte und Ihren weißen Wahlausweis. Auf der Stimmkarte können Sie zehn Namensvorschläge an- kreuzen. Ich bitte nun die Schriftführer, zu diesem letz- ten Wahlgang die Plätze an den Urnen einzunehmen. - Wie mir signalisiert wird, ist das geschehen. Dann er- öffne ich die Wahl. 1) Ergebnis Seite 991 B Hat nun jeder Kollege und jede Kollegin seine bzw. ihre Stimmkarte abgegeben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich auch diese Wahl und bitte, auszuzählen. Die Ergebnisse aller Wahlen werden Ihnen dann später bekannt gegeben. Ich bitte diejenigen, die der weiteren Debatte nicht folgen wollen oder können, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals fortzuführen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPDFraktion. ({1})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat sich heute Morgen in ihrer Regierungserklärung zur internationalen Finanztransaktionssteuer bekannt. ({0}) Das ist löblich; denn diese Steuer muss ein Kernelement der Maßnahmen zur Herstellung von mehr Stabilität auf den Finanzmärkten sein. Eine internationale Transaktionssteuer ist ein wirksames Mittel, um die von der Realwirtschaft völlig losgelösten Spekulationen auf den internationalen Finanzmärkten spürbar einzudämmen. Aber ist die Bundesregierung in diesem entscheidenden Punkt zur Abwehr zukünftiger Krisen auf den Finanzmärkten wirklich handlungsfähig und auch handlungswillig? ({1}) Zieht in Zukunft die ganze Bundesregierung wirklich an einem Strang, oder bleibt es bei der Zerstrittenheit der vergangenen Woche? Die Frau Bundeskanzlerin spricht sich für diese Steuer aus, die Herren Minister Westerwelle und Niebel bekunden ihre Ablehnung. Im Ergebnis geschieht überhaupt nichts. Das ist typisch für diese Regierung. Genau das darf nicht passieren. ({2}) Wir wollen heute von Ihnen ein klares Bekenntnis zur Finanztransaktionssteuer hören, ein Bekenntnis nicht nur der Kanzlerin, sondern auch des Koalitionspartners FDP. Aber das ist wohl kaum zu erwarten. ({3}) - Ihr neuer Generalsekretär hat eine solche Steuer ja erst gestern als antiquiertes Denken abgetan. Ohne ein klares Bekenntnis der gesamten Koalition sind die schönen Worte von Frau Merkel von heute Morgen aber leider wieder einmal herzlich wenig wert. ({4}) Wir haben damit schon in der Großen Koalition Erfahrungen gemacht. Diese Worte sind genauso wenig wert wie ihre dauernden Mahnungen in Sachen Bankerboni, denen man regelmäßig die Ablehnung konkreter Maßnahmen folgen lässt, zuletzt bezogen auf eine Bonusabgabe, wie sie in Großbritannien vorgesehen ist. Das Bekenntnis der Bundeskanzlerin zu dieser Steuer ersetzt doch nicht konkrete Maßnahmen gegen den Bonuswahnsinn. Mit ihren Statements hat sie diesen Eindruck nämlich erweckt. ({5}) Das kann man doch nicht gegeneinander ausspielen und sagen: Gegen die Boni brauche ich nichts zu tun, weil ich für die Transaktionsteuer bin. Nein, wir brauchen ein ganzes Bündel von Maßnahmen, das gezielt gegen sämtliche Ursachen der Finanzkrise wirkt. ({6}) Wir Sozialdemokraten haben bereits am Jahresanfang in einem 14-Punkte-Katalog von Herrn Steinbrück und Herrn Steinmeier skizziert, wie ein solch umfassender Ansatz aussehen könnte. Die Finanztransaktionssteuer und klare Begrenzungen für Bonuszahlungen gehören dazu, reichen aber nicht aus. Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dass ein Versagen der Politik im Umgang mit der Finanzkrise, mit ihren Ursachen und Folgen nicht nur eine ökonomische Dimension hat, sondern eine reale Gefahr für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und für die Akzeptanz unserer Demokratie bedeutet. Das hat nicht nur einen moralischen Aspekt, wie Frau Merkel heute sagte. Diesen Aspekt mag das auch haben, aber der soziale Zusammenhalt, der eh schon brüchig ist - das sieht man, wenn man ganz kritisch darauf schaut -, wird durch Meldungen wie die, die wir in den letzten Tagen erhalten haben, weiter untergraben: Es wurden noch einmal 3 Milliarden Euro Steuergelder in die balkanesischen Abenteuer der Bayern LB versenkt, und am nächsten Tag hat Herr Ackermann das Gewinnziel für seine Bank mit 10 Milliarden Euro angegeben, von denen die eine oder andere Milliarde selbstverständlich in den Bonustöpfen seiner Börsenhändler landen wird. Das ist einfach unerträglich. ({7}) Wir wollen hier nicht zündeln, ganz im Gegenteil. Das hält unsere Gesellschaft auf Dauer nicht aus, und das müssen alle politischen Akteure in diesem Hause endlich kapieren. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß, obwohl Sie hier konstatieren, dass Sie nicht zündeln wollen, hat die Opposition die Lunte bei diesem Thema doch schon längst angesteckt. ({0}) - Das wollte ich gerade in Erinnerung bringen. Sie distanzieren sich teilweise von dem, was wir in der Großen Koalition gemeinsam auf den Weg gebracht haben. ({1}) Das muss natürlich in einer gewissen Kontinuität stehen. Man darf Sie durchaus daran erinnern, was wir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben: ({2}) Finanzmarktstabilisierungsgesetz, -ergänzungsgesetz und -fortentwicklungsgesetz. Das waren Reaktionen auf die Finanzkrise. Wir haben einen Rahmen für die Institute geschaffen, um die soziale Marktwirtschaft in Deutschland erhalten zu können. Es bringt nichts, wenn Sie jetzt in diesem forschen Stil Dinge interpretieren, die die Kanzlerin heute Morgen in ihrer Regierungserklärung, aber auch durch ihr Verhalten auf den Gipfeln nicht zum Ausdruck gebracht hat. ({3}) Wenn ich noch einmal zitieren darf, was der Europäische Rat beschlossen hat: Der Europäische Rat fordert den IWF auf, bei seiner Überprüfung die gesamte Bandbreite von Optionen einschließlich Versicherungsprämien, Abwicklungsfonds, Vereinbarungen über bedingtes Kapital … sowie eine globale Steuer auf Finanztransaktionen in Betracht zu ziehen. Wir haben also mehrere Optionen. Es ist nicht so, wie Sie unterstellen, dass dies schon das Bekenntnis zur Finanztransaktionssteuer ist. ({4}) Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Das ist eine von vielen Möglichkeiten. ({5}) Aber wenn Sie das gemeinsam machen wollen, müssen Sie alle Optionen offenhalten. Die Beauftragung an den IWF ist gegeben; Vergleichbares ist auch in Pittsburgh beschlossen worden. Jetzt warten Sie doch einmal ab, was der IWF feststellen wird. Man kann sich doch nicht für ein System entscheiden, wenn man nicht durch weltweite Erhebung überblicken kann, wie die Wirksamkeit solcher Maßnahmen ist. Wir sind ja bereit - das ist immer unsere Forderung gewesen -, Teile des Finanzsektors, der uns in die Krise geführt hat, an den Kosten zu beteiligen. Nur muss man dann auch ein wirksames Instrumentarium haben und nicht nur vollmundige Erklärungen abgeben, durch die man im Grunde nichts erreicht. ({6}) Ich hätte erwartet, Herr Kollege Poß, dass Sie heute etwas dazu sagen, was in Ihrem Programm steht, nämlich dass Sie im nationalen Alleingang eine Börsenumsatzsteuer für Finanzprodukte an der Börse einführen wollen. ({7}) Das ist ein einseitiger Vorgang, der dazu führen würde, dass sich diese Umsätze vom deutschen Finanzmarkt zu anderen verlagern. Ich hätte erwartet, dass Sie dazu Stellung beziehen, dass Sie solche Alleingänge machen wollen, ({8}) die nur vielleicht die sozialdemokratische Seele befriedigen, aber der Lösung des Problems nicht Rechnung tragen. Dem wollen wir uns widmen. Eine Finanztransaktionssteuer, wenn man es vom theoretischen Ansatz her betrachtet, ist möglicherweise durchaus ein Instrumentarium, spekulative Umsätze teilweise zu erschweren, indem man sie mit zusätzlichen Kosten belegt. Das ist die Theorie. Die Frage ist: Trägt dann der Finanzsektor diese Kosten, oder werden sie nur überwälzt, sodass der Anleger, der Kunde, der Investmentsparer, der Riester-Sparer dann für die ganze Chose zahlt und der Finanzsektor, den wir eigentlich beteiligen wollten, wiederum außen vor ist? Wenn das sozialdemokratische Politik ist, dann herzlichen Glückwunsch zu diesen Vorgaben. ({9}) Wir müssen die Wirksamkeit sehen. Es hilft im Endeffekt auch nicht, wenn nur Europa das beschließt, sondern es muss weltweit gelten, ({10}) wenn es wirksam sein soll. ({11}) Da muss man auch noch fragen: Was beziehen wir in die Bemessung ein? Nur die Börsenumsätze oder auch die außerbörslichen, also Over-the-Counter-Geschäfte? Wie wollen Sie die erfassen, sodass dann die jeweilige Branche diese Kosten selber trägt und nicht überwälzt? Das ist also ein breites Spektrum. Kollege Poß, da ist mit Schnellschüssen nicht gedient, ({12}) sondern die Kanzlerin steht hier zur Verantwortung, das auf europäischer Ebene etwas beschlossen wird. Diese Steuer ist eine von vielen Optionen. Beschreiten Sie doch den Weg, den wir gemeinsam angefangen haben, mit, dass wir uns um die Regulierung von Märkten und Produkten weltweit kümmern ({13}) und das Zeitfenster, das noch offen ist, nutzen. Da ist die Aufsicht gefragt. Da sind manche Finanzprodukte gefragt. Das ist der wirksamere Weg, kurzfristig zu Erfolgen zu kommen. Wir müssen dieses Zeitfenster nutzen, sonst geht es so weiter, wie es im angelsächsischen Bereich teilweise schon wieder praktiziert wird, wo man annehmen muss, dass sie nichts daraus gelernt haben. Wir sind bereit, verantwortungsvoll den Weg zu gehen, der von den vielen Optionen bestimmt wird. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Axel Troost für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen es natürlich außerordentlich, dass die SPD eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hat, weil auch wir es für sehr wichtig halten. ({0}) Ich persönlich habe diese Steuer vor zehn Jahren im Zusammenhang mit der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ im Memorandum 2000 schon gefordert. Damals haben wir das noch Kapitalverkehrsteuer oder -steuern genannt. Es ging auch schon damals darum, die abgeschaffte Börsenumsatzsteuer, ergänzt um außerbörsliche Aktivitäten mit der Devisentransaktionsteuer, also der Tobin-Steuer, zu verbinden zu einer einheitlichen Gesamtkapitalverkehr- oder heute Finanztransaktionssteuer. ({1}) Ziel und Zweck dieser Steuer war damals wie heute erstens - das ist erwähnt worden -, Finanztransaktionen, wie man das so schön sagt, zu entschleunigen, also minimal zu verteuern - darauf komme ich gleich noch einmal -, um letztlich ganz kurzfristige Spekulationen etwas unattraktiver zu machen und damit Entschleunigung zu bewirken. Zweitens geht es aber auch darum, ganz erhebliche Einnahmen zu erzielen; das ist hier noch gar nicht erwähnt worden. Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung in Wien hat im Sommer letzten Jahres eine Studie vorgelegt, in der die Folgen der Einführung dieser Steuer simuliert wurden. Man kam zu dem Ergebnis, dass bei einem Steuersatz von 0,01 Prozent pro Transaktion in der Bundesrepublik Deutschland Einnahmen in Höhe von 13 bis 15 Milliarden Euro alleine aus Wertpapiergeschäften und europaweit Einnahmen von weiteren 20 Milliarden Euro aus Devisentransaktionsgeschäften entstehen. Es geht also um sehr viel Geld, das wir auch verwenden könnten, um die Kosten, die die Finanzmarktkrise verursacht hat, zumindest zum Teil zu kompensieren. Weil es letztlich um den Steuersatz geht, wenn man versucht, diese Steuer national oder europaweit relativ schnell einzuführen, möchte ich, weil gleich mit Sicherheit das Argument der privaten Sparer angeführt wird, darauf hinweisen, was ein Steuersatz von 0,01 Prozent bedeutet. Ein Steuersatz von 0,01 Prozent heißt: Wenn ein Privatanleger ein Depot mit Aktien oder festverzinslichen Wertpapieren im Wert von 100 000 Euro anlegt, muss er einmalig 10 Euro bezahlen. Die Bankgebühren für dieses Depot betragen allerdings zwischen 1 000 und 2 000 Euro. Das möchte ich einmal deutlich machen. Die Einführung dieser Steuer hätte Einnahmen von insgesamt 13 Milliarden Euro zur Folge, und das, obwohl bereits simuliert wurde, dass es zu einem Rückgang der Zahl der Transaktionen kommen würde. Insofern glaube ich, dass sehr viel für die Einführung dieser Steuer spricht und dass man dieses Thema jetzt entschieden angehen sollte. ({2}) Ich bin in dieser Debatte leider sehr früh an der Reihe, sodass ich später nicht mehr reagieren kann. Wahrscheinlich wird im weiteren Verlauf der Diskussion neben dem Argument der Sparerinnen und Sparer auch argumentiert: Eine solche Steuer kann man nur weltweit einführen, ({3}) eventuell in einem Schlag europaweit, am besten aber weltweit. - Das heißt letztlich, dass man sich hinter der Welt versteckt und keine eigenen Aktivitäten entwickelt. Das Mindeste, was uns gelingen muss, ist, dass wir ähnlich wie das belgische und das französische Parlament einen Vorratsbeschluss fällen, der lautet: Wenn diese Steuer europaweit eingeführt werden sollte, dann ist Deutschland dabei. Belgien und Frankreich haben dies beschlossen. Ein solcher Beschluss würde Mut machen, in den internationalen Gremien, in der EU für eine Umsetzung zu kämpfen. Ich sage noch einmal: Dies ist die einzige Möglichkeit, die Finanzmärkte und ihre Akteure wieder vernünftig in die Finanzierung der öffentlichen Haushalte einzubeziehen und gleichzeitig zu verhindern, dass das Geschäft mit spekulativen Wertpapieren so weiterläuft wie bisher. Ich bitte Sie, diesen Ansatz zu prüfen. Im nächsten Monat, im Januar 2010, wird die Linke einen entsprechenden Antrag einbringen, der seinen parlamentarischen Gang nehmen wird. Ich hoffe, dann wird in der Debatte deutlich, dass sich eine große Mehrheit dieses Hauses, vielleicht mit Ausnahme der FDP, die Einführung einer solchen Steuer vorstellen kann. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Frank Schäffler für die FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bleiben Sie ruhig, Herr Kuhn. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP bekennt sich zu dem, was im September dieses Jahres vereinbart wurde, schon allein aus Verantwortung für die Verpflichtungen, die wir international eingegangen sind. Wir unterstreichen das, was Herr Dautzenberg gesagt hat: Es handelt sich um einen Prüfauftrag. Dennoch entlässt uns dieser Prüfauftrag nicht aus der Verantwortung, zu hinterfragen, welche Wirkung eine Finanztransaktionssteuer hat. Nicht ohne Grund haben Länder wie Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, Österreich, Schweden, Spanien und letztendlich Deutschland - die FDP gemeinsam mit der Union - 1991 die Börsenumsatzsteuer abgeschafft: Sie war nachteilig für den jeweiligen Börsenplatz, sie hat der Aktienkultur und damit auch der privaten Altersvorsorge geschadet, ({0}) und sie hat die Kapitalaufnahme von Unternehmen über die Börse verteuert. ({1}) Alle statischen Einnahmerechnungen stimmen nicht, sie stimmten nie. Eine Steuer auf Finanztransaktionen verhindert auch keine Investitionsblasen und keine Finanzkrisen. Sie kann Investitionsblasen und Finanzkrisen nicht verhindern, weil die Ursachen für ihre Entste960 hung nichts mit dem Umfang von Finanztransaktionen oder mit ihrer Geschwindigkeit zu tun haben. Eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Investitionsblasen und Finanzkrisen liegt in der falschen Geldpolitik der Notenbanken, ({2}) insbesondere der amerikanischen Fed, die mit billigem Geld Spekulationsblasen erst ermöglicht hat. ({3}) Diese Politik des billigen Geldes, das nicht auf Ersparnissen beruht, ist die Ursache dafür, dass wir immer wieder eine Abkopplung des Finanzbereiches von der Realgüterwirtschaft feststellen müssen. Das war im Kern auch die Ursache der Weltwirtschaftskrise von 1929. Wir befürchten, dass der Ruf nach dieser neuen Steuer auf Finanztransaktionen schlicht ein Ablenkungsmanöver ist. Übrigens befürchten nicht nur wir das: Noch in der vergangenen Legislaturperiode hat sich die SPD selbst gegen diese Steuer ausgesprochen. ({4}) Die Berichterstatterin der SPD für den Finanzmarkt, Frau Nina Hauer - leider nicht mehr im Parlament; Sie haben sie nicht früh genug auf die Liste gesetzt -, hat die Ablehnung eines Antrages zur Einführung einer Börsenumsatzsteuer ({5}) noch mit den Worten begründet - ich zitiere -: Sie treffen mit der Börsenumsatzsteuer nur die kleinen Sparer, die ihr erarbeitetes Vermögen oder ihre erwirtschafteten Gewinne, ihre Altersversorgung an der Börse anlegen. ({6}) Sie sehen: Die SPD hat sich kurz vor der Wahl umorientiert und ist jetzt letztendlich dabei, dem gemeinen Populismus hinterherzurennen. ({7}) Ich will zur Ehrenrettung unseres Koalitionspartners zitieren, dass der bayerische Finanzminister Fahrenschon und der CDU-Generalsekretär Pofalla - so berichtet die Welt vom 18. September 2009 - vorgerechnet haben, dass ein Riester-Sparer, der heute 30 000 Euro brutto verdient und den für die maximale Förderung notwendigen Betrag einzahlt, durch eine solche Steuer in 20 Jahren um 4 700 Euro gebracht wird. ({8}) Es trifft also - anders als von verschiedener Seite dargestellt wird - die kleinen Sparer. ({9}) Dies alles kann man nicht mit der Aussage wegwischen: Es kann nicht weitergehen wie bisher. Das stimmt zwar; aber es ist aus meiner Sicht zu wenig. Man müsste letztendlich die Ursachen angehen: Die heutige Weltwirtschaftskrise ist eine Krise der Überschuldung von Banken und Staaten. Das Kernproblem besteht darin, dass im heutigen Geldsystem Kredite gewährt werden, die nicht durch Ersparnisse gedeckt sind. ({10}) Solch ein aus dem Nichts geschaffenes Geld produziert nicht nur immer schwerere Wirtschafts- und Finanzkrisen, sondern führt auch in eine Überschuldungssituation, die unsere Wirtschaftsordnung und letztendlich auch die freiheitliche Gesellschaft ruiniert. ({11}) Deshalb ist es, glaube ich, zu einfach, populistisch nach einer neuen Steuer zu rufen. Entscheidend ist, dass wir künftige Krisen durch eine marktwirtschaftliche Geldordnung verhindern. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat jetzt Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Rechnung, die Herr Schäffler gerade aufgestellt hat, einmal für die intransparenten Bankprovisionen machen würde, dann kämen wir auf eine ganz andere Größenordnung. ({0}) Deswegen finde ich, wäre es eine gute Politik - das ist genau das, was wir vorschlagen -, für einen richtigen Anlegerschutz zu sorgen; denn dann würde der Nettogewinn für den Anleger so groß sein, dass wir noch ganz andere Steuersätze festlegen könnten, und dann würde man den Banken wirklich einmal etwas abfordern und wirklich etwas für die Kunden tun. Bei dem Punkt hat die FDP in der letzten Zeit aber immer gekniffen. ({1}) Stattdessen war sie an der Stelle die Lobby für die Banken, Versicherungen und Fonds, um es intransparent zu lassen. Das werden wir ja noch einmal sehen. ({2}) In einem aber hat der Kollege Schäffler natürlich recht: Vorgeschaltet vor die Frage der Haltung der Bundesregierung könnten wir auch eine Aktuelle Stunde zur Haltung der SPD zur Finanzumsatzsteuer durchführen. ({3}) Sie unterlag in den letzten Monaten einer gehörigen Schwankung. Herr Schäffler hat hier völlig richtig zitiert. ({4}) Zu einem Zeitpunkt, als Herr Steinmeier und Herr Steinbrück schon für eine Börsenumsatzsteuer und eine weltweite Finanzumsatzsteuer waren, wurde hier im Bundestag noch argumentiert, so eine Steuer schade dem kleinen Sparer. ({5}) Plötzlich ist man jetzt doch dafür. Ich habe eine Bitte an die nächsten Rednerinnen und Redner der SPD: Erklären Sie uns einmal, was jetzt wirklich Ihre Position ist. ({6}) Nun aber zur Regierung; hier sind wir uns ja einig. Die Kanzlerin hat heute Morgen gesagt, das sei auch eine moralische Frage. ({7}) Ich würde sagen: Es ist jetzt vor allem eine politische Frage, ob die Bundesregierung das wirklich unterstützt oder ob hier ins Blaue hinein ein Prüfauftrag erteilt wird, bei dem ein Minister dieser Regierung direkt sagt: Daraus soll nie etwas werden. - So geht es aber nicht. ({8}) Mit dieser Art der Unterstützung wird daraus international nie etwas. Sie tun genau das: National sagen Sie: „Es geht nicht“, über Europa verlieren Sie kein Wort, und global versuchen Sie, dies in ein politisches Nirwana zu schicken, damit nichts herauskommt. ({9}) Die Idee ist zu gut, als dass Sie sie einfach ins Off katapultieren können. ({10}) Gerade in der Europäischen Union besteht eine wirkliche Chance, hier etwas zu tun. Nicht nur aus den kontinentaleuropäischen Ländern, deren Parlamente schon gesagt haben: „Wir machen das mit, wenn die anderen mitmachen“, sondern auch aus Großbritannien kommt erstmals eine Unterstützung dafür. Diese historische Chance nicht zu nutzen, um einen wirklichen Finanzierungsbeitrag der Finanzindustrie zu den Finanzierungen öffentlicher Aufgaben und vor allem zur Tragung der Krisenlasten einzufordern, ist ein massives Versäumnis, das wir Ihnen vorwerfen. ({11}) Es geschieht ja nicht so häufig, dass sich Bürgerinnen und Bürger aktiv für die Einführung einer neuen Steuer einsetzen, wie das gerade mit der Petition für eine Finanzumsatzsteuer geschehen ist. Das zeigt, dass es hier eine grundlegende Ungerechtigkeit und etwas gibt, was die Menschen nicht verstehen. Warum wird auf jeden Schrank, den der Schreiner baut, auf jedes Brötchen, das der Bäcker backt, und auf jede Friseurdienstleistung eine Umsatzsteuer erhoben, während das nicht geschieht, wenn es um die Umsätze beim Finanzhandel in Frankfurt geht? Warum ist das so? Diese Frage müssen Sie uns einmal beantworten. Das ist eine Privilegierung der Finanzbranche, die wir abschaffen müssen, um einen fairen Finanzierungsbeitrag zu haben. ({12}) - Wenn man sich anschaut, welche Konsolidierungsbedarfe Sie haben, dann erkennt man, dass das ein sehr relevanter Ansatzpunkt ist. Da Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, internationale Zusagen der Bundesregierung zur Finanzierung der Entwicklungshilfe einzuhalten, stellt sich vielleicht die Frage, wie wir die Finanzlasten in Zukunft verteilen. ({13}) Dass das alles ökonomisch überhaupt nicht gehen soll, ist interessant. In den USA unterstützen 200 renommierte Wirtschaftswissenschaftler die Einführung einer moderaten Finanzumsatzsteuer, wobei die gleichen Steuersätze gelten sollen, die wir auch vorschlagen. Man müsste sich vielleicht einmal ernsthaft damit auseinandersetzen. ({14}) Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu handeln und zu nutzen, dass die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass hier etwas schiefläuft und zu korrigieren ist, und dass auch in Großbritannien entsprechend gedacht wird, wo der Chef der Finanzaufsicht, Turner, sagt: Ganz viele Produkte, die am Finanzplatz London gehandelt werden, sind volkswirtschaftlich unnütz. ({15}) Diese Situation kann man jetzt nutzen, um politisch eine Initiative zu ergreifen. Das würde die Frage nach der volkswirtschaftlichen Wirkung beantworten, die nämlich darin besteht, dass die volkswirtschaftlich unproduktiven Umsätze unterbleiben. ({16}) Das ist die Aufgabe der jetzigen Regierung. Darauf sollten Sie sich verständigen, statt sich gegenseitig zu blockieren. Ich mache mir nämlich Sorgen, dass die Bundesregierung jetzt, wo die ganze Welt den richtigen Drive hat, die Finanzbranche zu kontrollieren und etwas Neues anzufangen, durch die Blockade zwischen der CDU/CSU auf der einen Seite und der FDP auf der anderen Seite international schwach aufgestellt ist, statt das Thema Neuaufstellung der Finanzmärkte zum Schwerpunkt zu machen, wie es die Bürgerinnen und Bürger und auch die Unternehmerinnen und Unternehmer dieses Landes dringend fordern. Das wäre Ihre Aufgabe. Tun Sie es! ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk. ({0})

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat den Staat gezwungen, mit Beträgen von bislang unbekannter und ungeahnter Größenordnung das internationale, das europäische, aber auch das deutsche Bankensystem zu stützen. Es ist unbestritten, dass diese Stützungsmaßnahmen alternativlos waren. Niemand möchte sich ausmalen, was passiert wäre, wenn wir auch in Deutschland systemrelevante Bankinstitute nicht aufgefangen hätten. ({0}) So haben wir das Schlimmste verhindert. Richtig ist aber auch: Der Schuldenstand der öffentlichen Hand ist durch diese Rettungsmaßnahmen sprunghaft gestiegen, und noch - ich glaube, auch in diesem Punkt müssen wir nüchtern sein - sind nicht alle Risiken in unseren Haushalten manifestiert. Neben den privaten Verlusten durch die Finanzkrise, die viele Bürger erlitten haben, und dem Schicksal drohender Arbeitslosigkeit sehen sich die Steuerzahler jetzt mit einem immensen öffentlichen Schuldenberg konfrontiert. Deshalb stellen die Bürger zu Recht die Frage, wer die Verursacher der Krise sind und ob diese auch finanziell zur Rechenschaft gezogen werden. Angesichts einer öffentlichen Diskussion über frühere Bankmanager, die die Auszahlungen ihrer Boni für die Zeit der offensichtlich ruinösen, ja sogar systemgefährdenden Geschäftspolitik einklagen, und aktueller Meldungen über schon wieder steigende Bonuszahlungen im Banksektor sind diese Fragen unserer Bürger sicherlich nachvollziehbar. Es gibt keinen Zweifel: Das Verursacherprinzip muss auch hier zur Anwendung kommen. Wenn die Märkte eine überzogene Risikoneigung nicht ausreichend bestrafen können und der Staat zur Abwendung der Folgen rettend eingreifen muss, dann muss der Staat auch bei der Kostenverteilung an die Verursacher denken. ({1}) Deshalb ist die Bundesregierung davon überzeugt, dass wir den Finanzsektor an den Kosten beteiligen müssen, die durch die staatlichen Interventionen zur Krisenbewältigung entstanden sind. ({2}) Mit genau dieser Frage setzt sich auch auf Initiative der Bundesregierung die internationale Gemeinschaft bzw. die Europäische Union auseinander. Die Staats- und Regierungschefs der G-20-Staaten haben bei ihrem Gipfeltreffen in Pittsburgh im September auch auf deutsche Initiative den Internationalen Währungsfonds beauftragt, einen Bericht zu dieser Problematik zu erarbeiten. Der Europäische Rat hat auch auf deutsche Initiative in der letzten Woche unterstrichen, dass sich diese Prüfung auf mehrere Möglichkeiten erstrecken soll. Eine dieser Optionen ist eine internationale Finanztransaktionssteuer. Daneben werden aber auch andere Lösungen diskutiert. So führt beispielsweise Schweden Ende dieses Jahres eine Stabilitätsabgabe ein. Diese ist von den Finanzinstituten zu entrichten und fließt in einen Sicherungsfonds, aus dem künftig anfallende Kosten zur staatlichen Stützung des Finanzsektors finanziert werden sollen. Auch derartige Alternativen müssen gründlich geprüft werden. Dabei geht es zum einen um die Auswirkungen auf die Finanzmärkte und Volkswirtschaften. Zum anderen müssen wir aber auch die Belastungen des Finanzsektors im Blick haben, solange die Krise noch nicht vollständig überwunden ist. Optimal wäre sicherlich eine Lösung, die gleichzeitig einen Anreiz zur Verringerung hochriskanter Geschäfte gibt, aber andererseits einen spürbaren finanziellen Beitrag zur Bewältigung der Krisenkosten leistet. Ich halte es für fraglich, ob der Finanzsektor heute bereits in der Lage ist, neue Belastungen zu schultern. ({3}) So weit sind wir in den Stabilisierungsbemühungen noch nicht. Man kann sich das aber für das Jahr 2011 und die Folgejahre sicherlich vorstellen. ({4}) Die Analyse des Internationalen Währungsfonds und die weitere internationale Diskussion müssen wir abwarParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk ten. Eine nationale Entscheidung über die zu diskutierenden Instrumente wäre sicherlich verfrüht. Die Finanztransaktionssteuer ist dabei - das hat die Bundesregierung deutlich gemacht - eine der zu prüfenden Möglichkeiten. Ich sage sehr deutlich: Bei der Ausgestaltung einer derartigen Steuer wird sehr scharf darauf zu achten sein, dass ihr Hauptziel der Dämpfung spekulativer Exzesse einerseits und der Stärkung stabilisierender Investitionen in die Finanzmärkte andererseits nicht konterkariert wird. ({5}) Auf jeden Fall erscheint eine solche Steuer - das muss man deutlich sagen; darüber sollte es auch in der SPD keinen Streit geben - überhaupt nur international denkbar. Jeder nationale Alleingang wäre völlig untauglich. ({6}) Das wäre schon allein wegen des Standortwettbewerbs und der vorhersehbaren Ausweichreaktionen nicht vertretbar. Sinnvoll erscheint nur eine international abgestimmte Lösung. Lieber Herr Schick, wir begleiten als Bundesregierung die europäische Diskussion sehr engagiert. Natürlich gibt es in Europa Länder - Frankreich, Österreich und Großbritannien -, die sich bereits öffentlich für eine Finanztransaktionssteuer ausgesprochen haben. Aber auch diese Länder setzen allein auf eine internationale und nicht auf eine national isolierte Lösung. Auch diese Länder wollen den IWF-Bericht abwarten. Deshalb strebt die Bundesregierung auf jeden Fall ein gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen der Euro-Gruppe an. Die Bundesregierung wird dieses Thema auf dem nächsten Ecofin-Treffen weiter diskutieren und befördern. Wenn wir es schaffen, eine international abgestimmte, tragfähige Lösung zur finanziellen Beteiligung des Finanzsektors zu erreichen, wäre das auch ein gutes Ergebnis für die deutsche Volkswirtschaft. Dabei sind wir im Vorfeld nicht auf eine bestimmte Lösung festgelegt. Die diskutierte internationale Finanztransaktionssteuer ist eine von mehreren möglichen Lösungen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Barbara Hendricks für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Wochen haben sich mehr als 50 000 Menschen in einer Petition für die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer eingesetzt. ({0}) Diese Petition ist beim Deutschen Bundestag eingegangen. Sie verfolgt das Ziel, die Kosten der Krise mit den Einnahmen, die mit einer solchen Steuer zu generieren sind, abzumildern. Das soll sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene geschehen. Spätestens wenn sich der Petitionsausschuss - 50 000 Unterschriften liegen vor - in öffentlicher Sitzung mit diesem Thema befassen muss, muss auch die rechte Seite des Hauses Farbe bekennen. ({1}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben, anders als das heute zum Teil zum Ausdruck gebracht wurde, schon seit dem Jahr 2005 Initiativen dazu ergriffen, eine internationale Finanztransaktionssteuer einzuführen. Viele werden sich vielleicht nicht mehr daran erinnern, aber Bundeskanzler Gerhard Schröder hat dies im Februar 2005 auf dem internationalen Wirtschaftstreffen in Davos und im Sommer 2005 auf dem G-7- bzw. G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles - die Briten waren die Gastgeber - vorgeschlagen. Allerdings waren unsere angelsächsischen Freunde im Jahr 2005 noch nicht einmal bereit, darüber nachzudenken. Das Fenster der Gelegenheit war noch nicht offen, oder der historische Moment war noch nicht da, wie es Kollege Schick ausgedrückt hat. Aber nach den Erfahrungen der internationalen Finanzkrise seit dem Herbst des Jahres 2008 ist genau diese historische Gelegenheit da, und die gilt es jetzt zu ergreifen. ({2}) Das haben sozialdemokratische Politiker beherzt getan. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück haben nämlich im Frühsommer dieses Jahres ein Papier vorgelegt. Es ist gerade Peer Steinbrück gewesen, der dieses Thema auf die G-20-Sitzung in Pittsburgh getragen hat, und die Kanzlerin hat sich dieses Thema zu eigen gemacht. Das will ich hoch anerkennen. Es ist von Deutschland vorgetragen worden, aber es war die Initiative von Peer Steinbrück. ({3}) Ich wundere mich eigentlich, dass Kollege Leo Dautzenberg nicht dazu stehen will, was die Kanzlerin heute Morgen gesagt hat. ({4}) Aber es lohnt sich jedenfalls, nachzulesen, was die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung am 10. November dieses Jahres gesagt hat. ({5}) Jetzt kommen wir zu dem Punkt. Es ist in Pittsburgh verabredet worden, dieses dringliche Thema solle beför964 dert werden. Der IWF ist beauftragt worden, ein Gutachten zu erstellen, und er wird seine Vorschläge im April vorlegen. Der nächste G-20-Gipfel im Juni wird sich damit befassen. ({6}) Wenn aber in der Zwischenzeit diese Koalition toter Mann spielt, weil sie sich nicht einigen kann, dann wird das das Thema nicht befördern, und dafür tragen Sie die Verantwortung. ({7}) Nehmen wir doch einmal die Äußerungen der letzten Tage. Der vor wenigen Tagen neu ernannte Generalsekretär der FDP ({8}) hat ein Interview in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gegeben. Gut, dass der hochgelobte junge Mann den Unterschied zwischen der Tobin-Tax und der internationalen Finanztransaktionssteuer nicht so richtig kennt, interessiert eigentlich nur die FDP. Aber dass dieser junge Kollege, der seit drei Tagen kommissarisch benannt ist, sich traut, als Generalsekretär einer Koalitionspartei die Kanzlerin frontal anzugreifen, sollte schon die hier vertretenen Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung interessieren. Das interessiert nicht mehr nur noch die FDP. ({9}) Minister Niebel hat in der Ausschusssitzung am 2. Dezember, von mir darauf angesprochen, gesagt, was die Kanzlerin darüber denke, interessiere ihn nicht. ({10}) - Gut, dann haben Sie vielleicht das Protokoll geschönt. Aber ich war dabei, und es gibt genügend Zeugen. Denn das stehe nicht im Koalitionsvertrag. Das war die Aussage von Minister Niebel dazu. Das werden die Mitglieder des Ausschusses bestätigen können. Genauso war es. ({11}) Minister Niebel ist für - ich will es einmal freundlich ausdrücken - ein breites Lächeln von einem Ohr bis zum anderen bekannt. Dass er bei der Überreichung der Urkunde durch den Bundespräsidenten offenbar diese Ohren auf Durchzug gestellt hat, ist allerdings zu bedauern; denn der Bundespräsident hat am 28. Oktober aus Anlass der Überreichung der Urkunden an die Mitglieder der Bundesregierung gesagt: Ich halte es auch für richtig, wenn sich Deutschland mit Nachdruck für eine Abgabe auf internationale Finanztransaktionen einsetzt. ({12}) Dieses sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Frau Merkel kann natürlich heute Nachmittag nicht hier sein - das ist selbstverständlich -, aber es bleibt ihre Aufgabe, endlich für Ordnung in ihrem Kabinett zu sorgen, nicht nur, aber auch an dieser Stelle. ({13}) Wir setzen darauf, dass wir die internationale Finanztransaktionssteuer mit einem erheblichen Aufkommen werden durchsetzen können. ({14}) Dies dient zum einen dazu, die Folgen der Krise hier vor Ort finanziell abzumildern. Natürlich haben wir das gemeinsam gemacht, aber die Kosten sind da, und es geht darum, diese Kosten zu minimieren und diejenigen an den Kosten zu beteiligen, die die Krise verursacht haben. Dies gilt national, aber insbesondere auch international.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Wir werden die größten Probleme haben, die Millenniumsziele zu erreichen. Die Bundesregierung hat sich gerade für das Jahr 2010 von den Zwischenzielen verabschiedet. Wir werden die größten Probleme haben, auch das noch zu finanzieren, was auf dem Klimagipfel zu Recht wird verabschiedet werden müssen und was hoffentlich verabschiedet wird. Noch daneben und darüber hinaus sind die Folgen der Finanzkrise gerade für die ärmsten Länder zu minimieren. Das ist unsere Aufgabe, wenn wir in Verantwortung vor Gott und den Menschen handeln. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Carl-Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Hendricks, wenn man Sie hört, dann kann man sich gar nicht vorstellen, dass die SPD bis vor sieben Wochen elf Jahre lang den Bundesfinanzminister in diesem Land gestellt hat; schließlich hat kein Finanzminister der SPD in dieser Zeit irgendetwas unternommen, um eine solche Steuer einzuführen. ({0}) Bei Ihnen scheint wirklich absolute Vergesslichkeit vorzuherrschen. Das bezieht sich bei den Grünen auch auf sieben Jahre Koalition Rot-Grün. Ich möchte einen zweiten Punkt feststellen. Sie hätten hier heute einen Antrag einbringen können. Das haben Sie nicht gemacht; Sie haben nur eine Aktuelle Stunde beantragt. Das ist eigentlich ein bisschen dünn, wenn man meint, das Ganze sei so wichtig. ({1}) Ich möchte auf einen dritten Punkt eingehen, insbesondere weil Sie, Frau Kollegin Hendricks, Schottland angesprochen haben. Ich verweise auf etwas, was der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück, SPD, gesagt hat. In der Süddeutschen Zeitung stand im Januar 2006 - Zitat -: Die sogenannte Tobin-Steuer auf Finanzspekulationen verglich Steinbrück mit dem Ungeheuer von Loch Ness, das regelmäßig auftauche. ({2}) Insofern bitte ich Sie, sich einfach einmal auf das zu konzentrieren, was Sie wirklich wollen, und dafür einzutreten, dass unser Land eine vernünftige Zukunft hat. Das ist unsere Aufgabe, gerade in der Wirtschafts- und Finanzkrise, die immer noch nicht bewältigt ist, die aber bewältigt werden muss. ({3}) Der Finanzsektor ist nach dem Verständnis der FDP dienendes Element einer Volkswirtschaft. Der Finanzsektor war auch nicht in Gänze verantwortlich für die Finanzkrise. ({4}) Insofern gilt es aus unserer Sicht, den Finanzsektor differenziert zu betrachten. Nicht jeder war Täter. Wir wollen, dass sich eine Kasinomentalität, also übermäßiges Spekulieren mit geliehenem Geld, nicht wiederholt. Wir stehen für Freiheit in Verantwortung, und deshalb dürfen nach unserer liberalen Auffassung Finanzgeschäfte bzw. Finanzprodukte zukünftig nicht ohne Eigenkapital oder Eigenhaftung gehandelt werden. Das ist der entscheidende Punkt. ({5}) Wir brauchen verantwortliches Handeln derjenigen, die am Markt tätig sind. Eines sage ich aber auch ganz deutlich: Die Räder müssen sich wieder drehen können. Die hochentwickelte Weltwirtschaft, der wir gerade als Exportnation unseren Wohlstand verdanken, ist ohne einen effektiven Finanzmarkt absolut undenkbar. Kein Markt ist so reguliert wie der Finanzmarkt. Die Regulierung hat versagt. Aus unserer Sicht muss hier angesetzt werden. Dabei müssen die Fragen gestellt werden: Ist die Finanzmarktsteuer hier als Regulierungsmittel überhaupt geeignet? Kann sie das Verhalten von Betroffenen ändern? Wenn sowohl gefährliche als auch ungefährliche Anlagen gleichermaßen teurer werden: Was hat das eigentlich für eine Lenkungswirkung, um Fehlallokation zu verhindern? Was ändert sich dann eigentlich? Es muss auch die Frage erlaubt sein: Wen würde eine solche Steuer treffen, und wer muss sie eigentlich zahlen? Zahlen muss nicht der Börsenmakler oder der Börsenmanager, sondern der Kunde, der Kleinanleger, der Sparer, aber eben auch der Riester-Rentner. Wir alle wissen, dass unsere im Umlageverfahren finanzierten sozialen Sicherungssysteme durch die demografische Entwicklung Probleme bekommen. Daher ist für die FDP vollkommen klar: Wir brauchen eine zusätzliche Kapitaldeckung für die Altersvorsorge. ({6}) Wenn wir eine Finanzmarktsteuer erheben, um für eine zusätzliche Kapitaldeckung zu sorgen, dann verteuern wir die Kapitaldeckung oder schmälern den Ertrag der Kapitalanlagen, die als Altersvorsorge dienen sollen. Das kann nicht das Ziel sein. ({7}) Problematisch ist auch die Bemessungsgrundlage. Es wurde die Frage gestellt, ob sie nur für Devisentransaktionen oder für alles gelten soll. Ich bin gespannt, was der Internationale Währungsfonds vorlegen wird und ob es dafür überhaupt ein Modell gibt. Ohne klare Bemessungsgrundlage ist eine solche Steuer nämlich überhaupt nicht administrierbar. Wenn sie käme, dann müsste sie international administrierbar sein; denn ein nationaler Alleingang ist - das hat das Beispiel Schweden gezeigt; das hat sich auch in anderen Ländern gezeigt - ein reines Phantom. Dadurch wird Kapital aus dem Land verjagt; dadurch werden Arbeitsplätze in unserem Land vernichtet. Wenn das Ganze käme, müsste es international angelegt sein, mit klarem Regelwerk und strengen Kontrollen. Dass das erreichbar ist, daran haben wir erhebliche Zweifel. In der Vergangenheit hat das schon nicht funktioniert. Lassen Sie uns einmal schauen, wie es jetzt kommt. Aber ich glaube, hier wird ein Phantom aufgebaut, das einmal kritisch gesehen werden muss. Wir halten derzeit nichts von diesem Gedanken. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die Fraktion der SPD.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen machen offenkundig die Ordnung auf dem Hühnerhof zum Grundprinzip ihres politischen Handelns. ({0}) Jeder macht, was er will, keiner, was er soll. Gelegentlich muss einer zurücktreten. Dabei erweist sich Herr Niebel wiederholt als einer der Problembären dieser Koalition. ({1}) Unterstützt wird er dabei von dem neuen Generalsekretär der FDP. ({2}) Ich darf einfach einmal zitieren: Schade, dass sich eine kluge und umsichtige Frau wie die Kanzlerin an der Exhumierung dieser überkommenen Theorie beteiligt. Das sind die Worte von Herrn Lindner. ({3}) Dann weiter: Diese Koalition wird weder Steuern erhöhen, noch neue Steuern einführen. So weit Herr Lindner. Wenn man das liest, dann weiß man, dass Jugend allein kein Verdienst ist. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere gemeinsame Aufgabe muss darin bestehen, die richtigen Lehren aus der größten Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit zu ziehen und alles zu tun, damit sich so eine Katastrophe nicht wiederholt. Was wir brauchen, ist eine deutliche Kampfansage an gierige Banker und ungezügelte Kapitalmärkte. Die Grundfrage lautet: Wie können wir die Verursacher dieser schwersten Krise der Nachkriegszeit an den Kosten der Krise beteiligen? Eine der Antworten lautet: mit einer internationalen Finanzmarktsteuer. Genau gegen diese internationale Finanzmarksteuer polemisiert die FDP. Herr Niebel und Herr Lindner, andere auch, wollen die Steuerzahler die Krise bezahlen lassen, nicht die Verursacher in den Banken. Damit betreiben sie hier genauso ungeniert Klientelpolitik wie etwa bei der Beglückung von Hoteliers im Schuldenaufbaugesetz; so muss dieses angebliche Wachstumsbeschleunigungsgesetz eigentlich genannt werden, denn das Wachstum wird damit um keinen Deut beschleunigt. ({5}) Die Grundidee ist alt. Tobin hat sie bereits Anfang der 70er-Jahre als eine Steuer auf Devisentransaktionen entwickelt. ({6}) - Lieber Kollege Fuchs, die internationale Finanzmarktsteuer ist keine Tobin-Steuer; das muss man wirklich wissen. ({7}) Sie bezieht alle Arten von Finanztransaktionen ein. Sie würde bei Geschäften an Börsenhandelsplätzen und im außerbörslichen Handel erhoben. Sie betrifft ausschließlich den Finanzsektor. Bei jedem Kauf und Verkauf von Finanzprodukten würde eine ganz geringe Steuer fällig. Je häufiger gekauft und verkauft würde, je teurer würde das. Das ist keine neue Idee; das habe ich gesagt. Nach dem britischen Beispiel der Stamp Tax wurden hier in Deutschland mit dem Reichsstempelgesetz von 1881 die Urkunden bestimmter Wertpapieranschaffungen reichseinheitlich mit einer Stempelabgabe belastet. ({8}) - Ihre Position ist bekannt, ich habe sie bewertet. Nun hat es den Vorschlag der Europäischen Union und der G 20 gegeben, zur Eindämmung von Spekulationen eine solche Finanztransaktionssteuer einzuführen. Ich sage noch einmal sehr deutlich: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten begrüßen diesen Vorschlag ausdrücklich. ({9}) Dieser Vorschlag ist aus unserer Sicht geeignet, spekulativ völlig heißgelaufene Märkte zu beruhigen. Nach einer Berechnung des bereits genannten Wiener Institutes würde es gelingen, das Handelsvolumen besonders an den Derivatemärkten deutlich zu verringern, Überliquiditäten aus den Märkten zu nehmen und die Volatilität dieser Märkte deutlich zu verringern, und zwar bei einem ganz geringen Steuersatz von 0,05 Prozent. Dass so etwas dringend notwendig ist, zeigt die Tatsache, dass der Devisen- und Derivatehandel im Jahr 2007 das 70Fache des Weltsozialproduktes betrug. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Transaktionssteuer betrifft nicht den kleinen Riester-Sparer, ({10}) wie immer wieder gern behauptet wird. Allein mit mathematischen Grundkenntnissen à la „Hauptschule Sauerland“ lässt sich das sehr leicht errechnen und feststellen. ({11}) Eine solche Steuer im Rahmen der G 20 einzuführen, würde bedeuten, 92 Prozent des weltweiten Aktienhandels und 76 Prozent des Anleihehandels zu erfassen. In dieser Einschätzung werden wir im Übrigen von den 50 000 Unterzeichnern der Petition unterstützt. Die Kanzlerin hat mehrfach ihre Unterstützung für ein solches Instrument signalisiert. ({12}) Vonseiten der FDP wird dagegen erklärt, das sei nicht zu machen. Wenn diese Bundesregierung so Politik machen will, wie es die FDP vorschlägt, dann sollten Sie doch gleich das Grundgesetz ändern. Sie könnten die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin aus Art. 65 des Grundgesetzes streichen und stattdessen hereinschreiben: Das Nähere regelt der Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb; im Zweifelsfall entscheiden Herr Niebel und Herr Lindner. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Michael Fuchs für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Während ich mir diese Debatte anhörte, wurde mir wieder klar, warum die SPD mittlerweile bei 19 Prozent angekommen ist. ({0}) Ich habe wirklich das Gefühl, dass Sie bis jetzt nichts aus der Wahlniederlage gelernt haben und so weitermachen wie zuvor. Lieber Kollege Poß, Ihnen ist wieder nichts anderes eingefallen, als neue Steuern zu fordern. ({1}) Das zeigt, dass Sie nichts, aber auch gar nichts gelernt haben. ({2}) Ich gebe der Bundeskanzlerin völlig recht. Sie hat heute Morgen gesagt: Deshalb hat der Europäische Rat noch einmal das wiederholt, was wir schon auf dem G-20-Gipfel festgelegt haben, nämlich den Internationalen Währungsfonds zu bitten, bei der Erarbeitung von Konzepten zur Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Krisenbewältigung auch die globale Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen zu prüfen. ({3}) Das geht nur global. Es geht auf gar keinen Fall national oder im Rahmen der EU. Recht hat die Bundeskanzlerin. Genau das wollen auch wir. ({4}) Nebenbei bemerkt: Die Kollegin Hendricks hat vor drei Jahren im Deutschen Bundestag in einer Fragestunde gesagt, Devisenumsatzsteuern seien nicht konsensfähig. Ich weiß nicht, wer jetzt bei Ihnen das Sagen hat, Frau Hendricks oder Herr Poß. Man muss sich aber einmal überlegen, wie unterschiedlich die Meinungen sind. ({5}) Sie haben das hier im Deutschen Bundestag gesagt. Damit zeigen Sie, dass Sie selbst nicht wissen, was Sie wollen. In einer Fragestunde des Deutschen Bundestages sagten Sie, dass eine Devisenumsatzsteuer international nicht konsensfähig ist. Ihr Zitat habe ich dabei. ({6}) Für mich steht fest: Wir können mit einer solchen Transaktionssteuer nur dann etwas erreichen, wenn wir sie international aufstellen, wenn alle Player mitspielen. Leider haben sich die Kanadier und auch die Amerikaner bisher in der Form dazu geäußert, dass sie nicht bereit sind, das mitzumachen. ({7}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, diese Koalition wird den Finanzplatz Deutschland nicht kaputtmachen. Die Börsenumsatzsteuer hat damals plus/minus 400 Millionen Euro eingebracht. Wir haben sie 1991 deswegen abgeschafft, weil durch sie der Finanzplatz Deutschland erheblich beschädigt wurde. Die Schweden haben das dann später auch gemerkt und diese Steuer auch abgeschafft. Eine solche Steuer ist eben nur möglich, wenn sie global erhoben wird. Da hat die Bundeskanzlerin völlig recht. ({8}) Wenn wir es global hinbekommen, können wir es auch machen. Wir haben nach wie vor vor, die Bürgerinnen und Bürger nicht mit einer solchen Steuer zu belasten. Die Börsenumsatzsteuer - ich bin ja ein wenig älter als Sie; deswegen kann ich mich daran erinnern - in Höhe von 0,05 Prozent wurde auf jede Transaktion erhoben. Wer hat sie denn bezahlt: die Banken? Nein, die Banken haben diese Steuer eins zu eins an die Kunden weitergegeben. Wenn jemand eine Aktie gekauft hat, hat er diese Steuer bezahlen müssen. ({9}) Für mich steht fest: Das würde natürlich auch der Fall sein, wenn das kommt, was Sie jetzt fordern. Die Banken geben nämlich Kosten, die ihnen durch nationale Regulierungen auferlegt werden, zu 100 Prozent weiter. Deshalb wollen wir so etwas nicht. ({10}) Dazu kommt: Wenn wir das in Deutschland isoliert machten, dann würde es keinen IPO und keine Transaktionen an der Frankfurter Börse mehr geben. Die Deut968 sche Börse selbst würde dann sehr schnell aus dem DAX verschwinden. Auch das würden wir dann erleben müssen. ({11}) Wir haben schon in allen anderen Ländern feststellen können, dass man so etwas nicht mehr national regeln kann. Dafür sind die Märkte viel zu volatil. Eben hat mir Kollege Kuhn erklärt, dass die Grünen besonders fähig seien, was das Internet angeht. Also sind sie auch fähig, internationale Transaktionen dort vorzunehmen, wo sie keine zusätzlichen Steuern zahlen müssen. Darüber müssen wir uns im Klaren sein: Wenn es uns nicht gelingt, Plätze wie beispielsweise Singapur einzubinden, dann werden unsere Möglichkeiten beschränkt sein. ({12}) Deshalb wollen wir das gemeinsam mit dem IWF und den G 20 schaffen. Wenn wir das hinbekommen, kann man das machen, aber nur dann. ({13}) Alles andere schadet dem Standort Deutschland. Das entspricht nicht unserer Vorstellung. Wir werden in dieser Koalition alles tun, um den Standort Deutschland zu stärken. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Werner Schieder für die SPD-Fraktion.

Werner Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der bisherige Verlauf dieser Debatte zeigt mir, dass die Vertreter der neuen Koalition offenbar nicht begriffen haben - oder besser gesagt: nicht verstehen wollen -, worum es in diesem Zusammenhang eigentlich geht. Ich möchte deshalb den Versuch machen, in vier Punkten zusammenzufassen, worauf es ankommt. Erstens kommt es auf den sozialen Lastenausgleich in der Krise an. Mit zig Milliarden Euro sind auch in Deutschland die Banken und damit die Finanzmärkte gestützt worden. Ein großer Teil dieser Gelder wird - das ist schon angeklungen - unwiederbringlich sein. Das bedeutet, dass die Kosten der Krise an den vielen normalen Steuerzahlern hängenbleiben werden. Wir müssen diese Lasten daher auch auf die Schultern derjenigen verteilen, die maßgeblich Verursacher der Finanzkrise sind. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit. ({0}) Das sind wir den normalen Steuerzahlern, den vielen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben oder verlieren werden, und den Firmen, die in der Krise sind, schuldig. Zweitens. Wir müssen die Finanzmärkte redimensionieren. Die Finanzmärkte sind überdimensioniert; sie sind zu groß. Um Ihnen eine Zahl zu nennen: In den letzten gut 20 Jahren bis zum Ausbruch der Krise hat sich das Volumen der weltweit handelbaren Wertpapiere auf 55 Billionen verzehnfacht, während die reale Wirtschaft sich im gleichen Zeitraum gerade einmal verdoppelt hat. Den größeren Teil der Ausweitung dieser Finanzmarktaktivitäten nehmen dabei rein spekulative Bewegungen ein, bis hin zu den absurden Carry-Trade-Versionen und vielem anderen. Quasi im Minutentakt jonglieren Großbanken und Fonds mit Millionensummen, immer in der Erwartung exorbitanter Gewinne. Diese Spiele sind für die reale Wirtschaft an sich ohne jede Bedeutung. Vielmehr gehen sie auf Kosten der Realwirtschaft und haben fatale Auswirkungen auf Investitionen und Arbeitsplätze, was man heute nicht mehr beweisen muss, denn es ist ja geschehen. ({1}) Eine Steuer auf Finanztransaktionen - es ist nicht die einzige Maßnahme - trifft gezielt gerade die Kurzfristspekulation. Diese wird nämlich sehr teuer und dadurch weniger interessant. Erst dann wird es wieder interessanter, das Geld in reale Investitionen, in unternehmerische Investitionen zu stecken. Genau darauf kommt es an. Ich glaube, das verstehen Sie nicht. Investitionen statt Spekulationen, das ist das Prinzip, um das es hier geht. ({2}) Drittens kommt es darauf an, nicht nur schön zu reden, sondern zu handeln. Überall lese ich schöne Überschriften und höre nette Appelle der Bundesregierung. Von Einsicht und Selbstverpflichtungen der Banken ist die Rede. Aber wir brauchen kein unverbindliches Geschwätz, sondern klare Regeln. Darum geht es. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, HansJürgen Papier, hat einmal gesagt, der Unternehmer habe die Pflichten, die das Gesetz ihm auferlegt - nicht mehr. Was ist also mit den Pflichten und speziell mit den Solidaritätspflichten der Finanzmarktakteure? Es reicht nicht, sich in hilflosen Appellen zu erschöpfen; genau das macht die jetzige Bundesregierung. Wir brauchen Taten. Diese vermissen wir bei der neuen Koalition. ({3}) Viertens. Setzen Sie doch den SPD-Vorschlag zur Einführung einer nationalen Börsenumsatzsteuer als ersten Schritt um! Tun Sie doch dort etwas, wo Sie selber und unmittelbar zuständig sind! Das wird andere ermutigen; denn Deutschland hat auch in diesem Fall eine Vorreiterrolle. ({4}) Des Weiteren fordere ich Sie auf: Ergreifen Sie im Ecofin-Rat die Initiative für eine europaweite Finanztransaktionssteuer! Das Klima dafür ist durchaus günstig. Das wäre ein wichtiger und auch glaubwürdiger Schritt. Solange Sie das aber nicht tun, müssen wir gelegentliche Zustimmungssignale zu einer internationalen Finanztransaktionssteuer aus Ihren Reihen als das begreifen, was sie wirklich sind: Lippenbekenntnisse und Placeboworte zur Beruhigung des Publikums. Darum geht es Ihnen nämlich am Ende. Werner Schieder ({5}) ({6}) Meine letzte Anmerkung. Wer über konkrete Schritte in Deutschland und über eigene europäische Initiativen nicht reden will, der soll besser schweigen, wenn es um internationale Visionen geht. Der Verweis darauf ist nur die Flucht vor der eigenen unmittelbaren Verantwortung in Deutschland und Europa. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns in dieser Debatte einig sein, dass eine Diskussion um eine faire Verteilung der Lasten infolge der Finanzmarktkrise durchaus angebracht ist und dass die G-20-Initiative neue Fehlentwicklungen verhindern soll. Ich glaube, das ist ein Ansatz, über den man fachlich und sachlich reden sollte. Eine Beteiligung des Finanzsektors an den sicher hohen Kosten der Krisenbewältigung ist fachlich auf alle Optionen, auf Effektivität, auf Sinnhaftigkeit und natürlich auch auf die ökonomischen Auswirkungen zu prüfen. Deswegen müssen wir folgende Fragen beantworten: Welche Vorschläge gibt es? Haben wir die Dinge bisher richtig behandelt? Ich kann für die CDU/CSUFraktion festhalten, dass wir in den letzten Monaten für die Rettung des Finanzmarktes erfolgreiche Arbeit geleistet haben. ({0}) Das ist die Wahrheit, und diese darf durch Aktuelle Stunden, durch Anträge oder durch was auch immer nicht verbogen werden. Wir haben gemeinsam einen Erfolg erreicht. Deswegen wundere ich mich schon, dass Sie, wenn Sie etwas anderes wollen als das, was es in der Vergangenheit gab, eine Aktuelle Stunde beantragen, statt einen Antrag einzubringen. ({1}) Sie können natürlich auch sagen, dass wir auf internationaler Basis einen Prüfauftrag haben, den die Bundeskanzlerin heute Morgen angesprochen hat. Wir stimmen zu, dass man das intensiv prüfen kann. Man muss die fachlichen Vor- und Nachteile bewerten. ({2}) Darum geht es und nicht um Schnellschüsse. Für mich stellen sich in Bezug auf eine Finanztransaktionssteuer folgende Fragen: Können damit überhaupt spekulative Kapitalbewegungen eingedämmt und kurzfristige Devisentransaktionen gewissermaßen unrentabel gemacht werden? Können mit der Finanztransaktionssteuer Wechselkursschwankungen, die nicht auf fundamentalen Wirtschaftsdaten basieren, überhaupt begrenzt werden? ({3}) Es gibt für mich wichtige Gründe, die letzten Endes maßgeblich sind: Die Steigerung der Kapitalproduktivität - das müssen wir bedenken - wird durch eine Börsenumsatzsteuer beeinträchtigt. Die Kapitalmärkte haben - dies hat bei Ihnen vielleicht einen ideologischen Hintergrund - aus meiner Sicht die dienende Funktion, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen mit Finanzprodukten in diesem wichtigen Bereich der Wirtschaft zu versorgen; das muss man deutlich machen. ({4}) Wenn wir eine solche Steuer einführten, würde die steigende Volatilität an den Märkten für die Wirtschaft sicher zu einer Verteuerung der Kapitalbeschaffung führen; auch das muss man bedenken. Die Attraktivität der Aktie als Kapitalanlage auch für private Kleinanleger würde bei Einführung einer Börsenumsatzsteuer sinken, da die erzielbaren Renditen im Vergleich zur börsenumsatzsteuerfreien Anlage gemindert würden. Hier kann es Wettbewerbsverzerrungen geben. Wir müssen auch abwägen, dass die Nachteile für Wettbewerb, Wachstum und Arbeitsplätze, gemessen am fiskalischen Nutzen, besonders groß sind. Wir müssen prüfen, ob man mit dieser Steuer etwas Positives bewirken kann oder ob es Wettbewerbsverzerrungen, Wachstumseinschränkungen oder Arbeitsplatzverluste gibt. ({5}) Auch das muss bedacht werden; das ist ein wichtiger Aspekt. ({6}) Abschließend möchte ich deutlich machen: Die vier Punkte, die mein Vorredner, Herr Schieder, seitens der SPD eingebracht hat, stellen keinen substanziellen Antrag dar. Sie sind ein Placebo. Das ist Schaufensterpolitik, die Sie selbst anscheinend nicht überzeugt; ansonsten hätten Sie einen substanziellen Antrag eingebracht. Für mich ist sinnbildlich, dass Sie sich aus Ihrer positiven Arbeit im Rahmen der Finanzmarktkrise völlig verabschieden. Ich kann nur darauf hinweisen, dass sich Ihr Bundesfinanzminister a. D. in der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde in die letzte Reihe gesetzt hat. ({7}) - Ich höre, dass er das Plenum sogar schon verlassen hat. Wahrscheinlich konnte er es nicht mehr ertragen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für Kollegen Werner Schieder, der zuvor geredet hat, war es die erste Rede im Plenum. Herzliche Gratulation und alles Gute für die weitere Arbeit! ({0}) Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich dem Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Parlamentsneuling habe ich gerade lernen können, dass es nicht das erste Mal ist, dass sich die Politik mit diesem Thema beschäftigt. Viele Argumente dafür und dagegen sind in der Vergangenheit ausgetauscht worden. Im Übrigen ist das Urteil über diese Steuer bisher fraktionsübergreifend bei vielen Beteiligten eher negativ ausgefallen. Nichtsdestotrotz ist es gut, dass wir dieses Thema heute wieder auf der Tagesordnung haben. Ich halte es für richtig, dass die Bundeskanzlerin die Börsenumsatzsteuer in mehreren Regierungserklärungen angesprochen hat. Ich halte es auch für richtig, dass der Europäische Rat den IWF aufgefordert hat, über eine globale Finanztransaktionssteuer nachzudenken. Es ist bemerkenswert und sehr richtig, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger im Rahmen einer Onlinepetition den Bundestag auffordern, über dieses Thema zu sprechen. Ich begrüße das ausdrücklich, weil es meinem Verständnis von Politik entspricht, dass man seine eigenen Positionen ständig hinterfragt, mit der Realität abgleicht und gegebenenfalls korrigiert. ({0}) Die Wahrnehmung der Realität ist heute eine andere als bei vielen der letzten Debatten zu dieser Steuer hier im Bundestag. Denn es ist ernst zu nehmen, wenn der Europäische Rat erklärt, dass der Wirtschafts- und Sozialvertrag zwischen Finanzwirtschaft und Gesellschaft erneuert werden muss. Es ist genauso ernst zu nehmen, wenn gefordert wird, dass die Finanzwirtschaft an den Kosten der Finanzkrise beteiligt wird. ({1}) Weniger gut ist - da gebe ich den Kollegen von der FDP recht -, dass wir wieder über eine neue Steuer sprechen. Ich bin bei der Einführung von neuen Steuern grundsätzlich sehr skeptisch. Neue Steuern stellen eine Belastung für den Wirtschaftskreislauf und damit auch für die Bürgerinnen und Bürger dar. Abgaben, einmal in der Krise eingeführt, werden, wenn die Krise überwunden ist, in der Regel nicht wieder abgeschafft. Wir haben das gerade in der jüngsten Vergangenheit lernen müssen. ({2}) Was kann eine Finanztransaktionssteuer leisten? Steuern können entweder einen Lenkungszweck verfolgen oder aber einem Fiskalzweck, das heißt der Einnahmenerzielung, dienen. Beides zugleich gelingt leider sehr selten. Das sollten wir einmal öffentlich festhalten. ({3}) Ich halte die Lenkungsfunktion der Finanztransaktionssteuer im Übrigen für bedenklich. Ich kann nur davor warnen, aus normativen Gründen zwischen guten und schlechten Finanztransaktionen zu unterscheiden und damit den Kapitalmarkt auszubremsen. ({4}) Im Ergebnis kann dies nämlich dazu führen, dass die optimale Allokation von Kapital und damit das Funktionieren der Märkte behindert werden. Das kann dazu führen, dass die dringend notwendige Erhöhung der Eigenkapitalausstattung der Wirtschaft behindert wird. ({5}) Das kann wiederum dazu führen, dass wichtige Sicherungsgeschäfte, die gerade für unsere exportorientierte Wirtschaft entscheidend sind, verteuert werden. Das kann niemand ernsthaft wollen. ({6}) Aus fiskalischen Gründen halte ich es für durchaus legitim, über diese Steuer zu reden. Wir haben ein Defizit, das durch die internationale Finanzkrise verursacht worden ist. Wir sollten nur bei der Diskussion keinen Schaum vor dem Mund haben. ({7}) Wir sollten nicht mit einer Einstellung herangehen, als ginge es um ein Lieblingsspielzeug, das man immer haben wollte. Wir sollten sehr sachlich damit umgehen. Dabei sind zwei Dinge zu beachten: Erstens. Hier greife ich die Onlinepetition auf: Ich halte nichts von einer Zweckbindung der Steuereinnahmen. Es ist durchaus ehrenwert und nachvollziehbar, wenn wir eine Steuer gegen Armut, für Bildung oder gegen den Klimawandel beschließen, nur begeben wir uns damit haushaltspolitisch auf Glatteis. Wir haben eine Gesamtverantwortung. Deswegen ist eine Zweckbindung abzulehnen. Zweitens. In der fachlichen Diskussion über die Steuer ist Folgendes zu beachten - ich werbe ausdrücklich für eine fachliche Diskussion -: Eine Finanztransaktionssteuer sollte entscheidungsneutral sein; das ist hier bisher noch überhaupt nicht angeführt worden. Realwirtschaftliche Entscheidungen sollten so weit wie möglich nicht durch Steuern beeinflusst werden. Da muss man sich fragen, wie man das erreicht. Bei einer Finanztransaktionssteuer gelingt dies nur, wenn der Steuersatz so gering ist, dass die Bewegungen des Kapitalmarkts, die insbesondere für die Finanzierung von Investitionen und Unternehmen notwendig sind - das müssen wir anerkennen -, nicht behindert werden. ({8}) Die Steuer muss so ausgestaltet werden, dass sie zu keiner Wettbewerbsverzerrung führt und keine Umgehung erfolgen kann, sei es durch die Wahl anderer Produkte, anderer Märkte oder - das ist das Wichtigste - durch Steuerflucht in andere Länder und auf andere Finanzplätze. ({9}) Im Ergebnis heißt dies, dass wir entweder die Steuer, wie in Großbritannien, mit vielen Ausnahmen und wenig Einnahmen ausgestalten müssen - dann ist das Fiskalziel nicht erreicht - oder eine internationale Lösung unter Beteiligung der wichtigsten Finanzplätze der Welt organisieren müssen, das heißt unter Beteiligung der USA und insbesondere der asiatischen Länder, die hier noch nicht angesprochen wurden. ({10}) Es ist daher zu begrüßen, dass die Bundeskanzlerin und der Europäische Rat ein international abgestimmtes Modell prüfen lassen wollen. Wir werden diesen Weg weiterhin konstruktiv, hin und wieder auch kritisch begleiten. Ich denke, dies wird nicht die letzte Debatte im Plenum zu diesem Thema sein. Ich freue mich darauf. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 g auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP Menschenrechte weltweit schützen - Drucksache 17/257 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Nein zur Todesstrafe in den USA - Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal verhindern - Drucksache 17/236 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebeabkommen aufkündigen - Drucksache 17/237 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({3}), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens - Drucksache 17/68 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck ({5}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsame menschenrechtliche Positionierung der EU gegenüber den Ländern Lateinamerikas und der Karibik einfordern - Drucksache 17/157 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Menschenrechte als entwicklungspolitische Querschnittsaufgabe fortführen - Drucksachen 17/107, 17/272 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Marina Schuster Volker Beck ({8}) g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({9}) zu dem Antrag Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse der Abgeordneten Ute Koczy, Volker Beck ({10}), Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte in Sri Lanka stärken - Drucksachen 17/124, 17/273 Berichterstattung: Abgeordne Jürgen Klimke Serkan Tören Katrin Werner Volker Beck ({11}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es gibt keine Einwände. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion das Wort.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Dezember jährte sich der Internationale Tag der Menschenrechte. Er geht auf das Vertragswerk zurück, das 61 Jahre nach seiner Unterzeichnung noch immer die Grundlage für die Verwirklichung von Freiheit, Sicherheit und Frieden in der Welt ist, nämlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Deswegen ist es wichtig, dieses Datum zum Anlass zu nehmen, hier eine Menschenrechtsdebatte zu führen. Die Einhaltung der Menschenrechte ist das Fundament unserer Politik. Wir wissen: Unsere Glaubwürdigkeit in der Welt hängt auch davon ab, wie wir uns für die Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen. Ich bin deshalb froh, dass es unter Schwarz-Gelb gelungen ist, deutliche Wegmarken für die nächsten vier Jahre zu setzen. Auch die Vorgängerregierungen, die schwarz-rote und die rot-grüne, haben das Thema Menschenrechte angesprochen. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag ein eigenes Menschenrechtskapitel, auf das wir bauen können. ({0}) Wir wollen die Politik der Regierung unterstützen. Unser Antrag legt das Fundament. In ihm geht es um die Verantwortung und die Zielsetzung in der Menschenrechtspolitik. Selbstverständlich werden wir uns auch um die einzelnen Länder kümmern. Ein Beispiel, das uns schon bei verschiedenen parlamentarischen Frühstücken beschäftigt hat, ist die dramatische Situation der Frauen in der DR Kongo; denn sie sind seit vielen Jahren Opfer von Gewalt und Vergewaltigungen. Rebellengruppen und auch andere haben unbeschreibliches Leid über die Dörfer gebracht, gerade im Osten des Landes. Fast keine dieser Frauen hat Gerechtigkeit erfahren. Deshalb ist es ein erster und wichtiger Schritt, dass es gelungen ist, die Drahtzieher der Gewalt im Kongo, die bisher unbehelligt in Deutschland gelebt haben, zu verhaften. Es hat sich auch gezeigt, dass mit dem Völkerstrafgesetzbuch Lücken in der Strafverfolgung von internationalen Verbrechen geschlossen werden konnten. Das ist ein echter Erfolg im Kampf gegen die Straflosigkeit. ({1}) Ein weiterer Meilenstein, den wir in unserem Antrag auch erwähnen, ist die Tätigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs. Er hat in seinem siebenjährigen Bestehen aufgezeigt, wie wichtig es ist, dass Täter schwerster Menschenrechtsverletzungen vor Gericht kommen und bestraft werden, seien es Verbrechen in Liberia, Darfur, in der DR Kongo, aber auch im ehemaligen Jugoslawien. Es macht Mut, dass die schlimmsten Gräueltaten geahndet werden, die Opfer Gerechtigkeit erfahren und diejenigen abgeschreckt werden, die sich außerhalb des Gesetzes glauben. ({2}) Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine stärkere politische Unterstützung von internationalen, aber auch regionalen Strafgerichtshöfen. Es darf sich international keine Kultur der Justizmüdigkeit breitmachen. Deswegen stellen wir uns klar hinter die Arbeit der Gerichtshöfe. Ein weiteres Anliegen, das auch in unserem Antrag erwähnt wird, ist die Abschaffung der Todesstrafe. Das ist eine besondere Herausforderung; denn nicht nur autoritäre Regime vollstrecken die Todesstrafe, sondern auch Länder wie Japan oder Bundesstaaten der USA. Es bleibt deswegen wichtig, dass sich Deutschland zusammen mit den europäischen Partnern für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt; denn es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund, der die Todesstrafe rechtfertigt. ({3}) Ein weiterer Fall, der uns bereits in der letzten Sitzungswoche im Plenum beschäftigt hat, ist eine Gesetzesvorlage in Uganda. Ich freue mich, dass Herr Minister Niebel und auch Herr Staatssekretär Beerfeltz aktiv geworden sind; denn diese Gesetzesvorlage ist unfassbar. Es ist geplant, für Menschen mit mehrmaligen homosexuellen Kontakten, aber auch für homosexuelle HIV-Infizierte die Todesstrafe in ein Gesetz zu schreiben. Es ist wichtig, dass sich die Bundesregierung und Minister Niebel positioniert haben. Wenn ein Partnerland Menschenrechtsverletzungen begeht, dürfen wir nicht tatenlos zusehen. Das ist sehr wichtig. ({4}) Bei dieser Debatte ist es auch wichtig, sich um die Ursachen zu kümmern. Ich habe es bereits erwähnt: Es gibt Staaten mit funktionierender Staatlichkeit, die trotzdem aus unterschiedlichen Gründen beginnen, staatliche Gewalt zu missbrauchen. Es gibt Staaten mit nicht funktionierender Staatlichkeit, die die Menschenrechte verletzen. Es ist in beiden Fällen die Pflicht der Bundesregierung, solche Menschenrechtsverletzungen sowohl bilateral als auch international anzusprechen. Das ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten, ganz im Gegenteil: Das wird der Universalität der Menschenrechte gerecht. Das ist es, was die AllgeMarina Schuster meine Erklärung der Menschenrechte quasi in unser Stammbuch geschrieben hat, und dafür setzen wir uns ein. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat jetzt Christoph Strässer für die SPDFraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Schuster, ich habe Ihnen sehr gerne zugehört. Alles, was Sie gesagt haben, war richtig, bis auf das, was Sie ganz zu Beginn gesagt haben. Da haben Sie gesagt, die neue Koalition habe mit ihrem Koalitionsvertrag Benchmarks für das gesetzt, was sie in Sachen Menschenrechtspolitik in den nächsten vier Jahren erledigen will. Die Enttäuschung der Opposition über das, was Sie da hineingeschrieben haben, ist in der letzten Debatte schon deutlich geworden. Ich hätte mir gewünscht - darauf haben wir ein Stück weit gehofft -, dass das, was im Koalitionsvertrag steht, durch den von Ihnen auf den Weg gebrachten Antrag ein klein wenig konkretisiert worden wäre. Aber nach intensiver Lektüre dieses Antrages müssen wir feststellen, dass das nicht der Fall ist. Sie haben vieles hineingeschrieben, das richtig ist, aber Sie haben nicht hineingeschrieben, welche konkreten Maßnahmen Sie auf dem Weg zu den Zielen, die Sie beschrieben haben, einsetzen wollen. ({0}) - Ich werde darauf gleich noch einmal zurückkommen. An einer Stelle haben Sie etwas Richtiges gesagt: Einmischung ist richtig, Solidarisierung ist auch richtig. - Ich darf Sie daran erinnern - ich tue das ganz bewusst zu Beginn meines Beitrages -, dass wir gestern Abend im Menschenrechtsausschuss eine sehr gute Gelegenheit hatten, Solidarität zu beweisen. Ich darf Sie daran erinnern, dass der Vorsitzende des Ausschusses einen Vorschlag für eine Erklärung zum Hungerstreik einer Frau vorgelegt hat, die nichts weiter will, als in ihre Heimat zurückzukehren. Ich fand es wirklich sehr bitter, dass der Menschenrechtsausschuss es nicht hinbekommen hat, in diesem Fall eine klare Solidarisierung zum Ausdruck zu bringen und dadurch deutlich zu machen, dass wir es nicht hinnehmen, wenn ein Staat es einem Menschen verweigert, in seine Heimat, in das Land, in dem er zu Hause ist, zurückzukehren. Das hätten wir machen können. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuster?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Strässer, möchten Sie Kenntnis von der Pressemitteilung nehmen, die meine Fraktion zu dem Fall Haidar veröffentlicht hat? Sie ist der Ihrigen ähnlich. Ich möchte zitieren, weil Sie sie wahrscheinlich nicht parat haben. Wir haben klar gefordert: Es muss jetzt ein Zeichen der Menschlichkeit von den marokkanischen Behörden erfolgen, damit Aminatou Haidar ihren Hungerstreik beendet. Die verhärteten Fronten zwischen der marokkanischen Regierung und der Menschenrechtsaktivistin müssen im Sinne einer humanitären Lösung aufgebrochen und ihr muss die Einreise nach Marokko gestattet werden. Es folgen noch weitere Punkte. Ich möchte Sie fragen: Nehmen Sie das zur Kenntnis?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie mich so fragen, dann kann ich Ihnen nur antworten: Natürlich nehme ich das zur Kenntnis. ({0}) Aber darum geht es überhaupt nicht. Liebe Frau Kollegin Schuster, es geht um etwas ganz anderes. Uns wurde gestern in einem Ausschuss, der sich exakt mit diesem Thema befasst, ein Vorschlag unterbreitet. Sie haben zum Beispiel eingewendet, man könne sich nicht mit Einzelfällen befassen. ({1}) - Lassen Sie mich einfach einmal zu Ende reden. Wir haben des Weiteren über den Einwand diskutiert, man könne sich nicht einmischen, weil es um Grenzund Statusfragen gehe; Frau Kollegin Steinbach hat das angesprochen. Es geht aber nur um eines: Es geht darum, dass der für diese Fragen zuständige Ausschuss des Deutschen Bundestages aufgefordert war, eine Erklärung bezogen auf die Verwirklichung eines ganz konkreten Menschenrechtes abzugeben. Das haben Sie gestern verhindert. Das ist das, was ich gerne zur Kenntnis geben möchte. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wollen Sie noch einmal nachfragen? ({0}) - Ich will nur darauf hinweisen, dass wir bereits eindreiviertel Stunden hinter dem Zeitplan unserer Tagesordnung liegen. Ich sage das nur, damit Sie das wissen. ({1})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich mache es auch ganz kurz. - Herr Kollege Strässer, nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass wir angeboten haben, das im Kreis der Obleute zu besprechen. Der Punkt ist - das habe ich mit Herrn Koenigs besprochen -: Dem Menschenrechtsausschuss stehen mehrere Instrumente zur Verfügung. Man kann mit dem Botschafter reden oder überfraktionell einen Brief schreiben. Man kann verschiedene Sachen machen. Wir wollten einfach nur, dass das vorab geklärt wird. Ich denke, das ist legitim.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will das noch einmal auf den Punkt bringen. Es gibt Erklärungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Erklärungen des Europäischen Parlaments und Erklärungen aus der ganzen Welt, in denen man sich für diese Frau einsetzt. Ich denke, es ist nicht nur das gute Recht, sondern auch die Pflicht des deutschen Parlaments, sich jetzt zu äußern. Sie wissen, dass Frau Haidar kurz vor ihrem Tod steht. Wir können nicht lange abwarten und schauen, wie sich das entwickelt. Frau Haidar steht wegen des Hungerstreiks kurz vor dem Exitus. Deshalb müssen wir jetzt etwas tun. Ich hoffe, dass wir das heute hinbekommen und ein Zeichen der Solidarisierung setzen. ({0}) Frau Kollegin Schuster, ich will da keinen falschen Eindruck entstehen lassen. Ich spreche Ihnen überhaupt nicht ab, dass Sie das genauso wollen wie wir. Aber wenn Sie für die Koalition in Anspruch nehmen, dass Sie ganz konkrete Benchmarks der Menschenrechtspolitik setzen, hätten wir gestern im Ausschuss damit anfangen können. Das haben Sie verhindert; nichts anderes kritisiere ich. Dabei bleibe ich. ({1}) Ich möchte an zwei konkreten Punkten in Ihrem Antrag deutlich machen, wo Probleme liegen. Da muss man nacharbeiten, wozu wir vielleicht noch Gelegenheit haben. Aus meiner Sicht ist das größte Manko, dass in diesem Antrag vieles Richtige aufgeschrieben worden ist - ich sage es noch einmal -, vieles, was wir schon gemacht haben, vieles, was in der Menschenrechtspolitik selbstverständlich ist, dass aber ein großer Teil komplett ausgeblendet worden ist. Das ist die Innenpolitik. Ich hätte darauf gesetzt, dass gerade von Ihnen als Bürgerrechtspartei etwas genannt wird, was man auf den Weg bringen will. Das eine ist die Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. ({2}) Sie fordern von anderen Ländern, die den Pakt noch nicht gezeichnet und ratifiziert haben, dies zu tun. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir sind dabei - die alte Bundesregierung hat es auf den Weg gebracht -, ein Zusatzprotokoll zu verabschieden, das ein Individualbeschwerderecht enthält, das es beim Pakt über bürgerliche und politische Rechte seit langem gibt. Ich hätte mir jetzt gewünscht, dass man an dieser Stelle nicht nur andere Länder auffordert, endlich diesen Pakt zu unterzeichnen, sondern dass Sie geschrieben hätten, wie Sie in Deutschland, in der Bundesregierung, im deutschen Parlament mit diesem Zusatzprotokoll zu den WSK-Rechten umgehen wollen. Darauf hätte ich eine Antwort erwartet. Aber ich weiß ja, dass die WSK-Rechte bei Ihnen nicht den gleichen Stellenwert haben wie die bürgerlichen und politischen Rechte. ({3}) Daher würde ich Sie einfach bitten, das nachzuholen. Sagen Sie uns bitte - auch die Bundesregierung möge darüber Auskunft geben -: Wie geht es mit dem Individualbeschwerdeverfahren weiter? Das war der eine Punkt, den ich kritisieren möchte. Der zweite Punkt - das wird gleich leider ein bisschen persönlich, weil ich glaube, dass man da auch emotional argumentieren kann und muss - betrifft die Würde von Menschen, die in unserem Land leben. Ich sage das jetzt mit einer ganz persönlichen Note: Seit Montag dieser Woche werden vom Bundesland Nordrhein-Westfalen Familien der Roma in das Kosovo abgeschoben. In meiner Heimatstadt, in Münster, gibt es im Moment 68 Betroffene, die jetzt wahrscheinlich im Flugzeug sitzen und dorthin gebracht werden. Von denen hat mehr als die Hälfte dieses Land noch nie gesehen und spricht die Sprache nicht. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir als Deutscher Bundestag dazu eine Position beziehen könnten. ({4}) - Dazu komme ich gleich. - Das Problem ist sehr einfach. Ich glaube, für die betroffenen Menschen ist es ziemlich egal, wer für welche Form der Abschiebung zuständig ist. In NRW hat nicht etwa der Ministerpräsident oder der Integrationsminister Laschet verhindert, dass es eine vernünftige Regelung gibt, sondern - deshalb sage ich das - verhindert hat es der liberale Innenminister Ingo Wolf. Das möchte ich hier gerne zur Kenntnis bringen. ({5}) Ich würde Sie alle bitten, an dieser Stelle nicht einfach wegzuschauen, sich nicht wegzuducken. Es sind im Rat der Stadt Münster - das ist einmalig - mittlerweile acht politische Gruppierungen vertreten. Dort ist von allen beteiligten Gruppen einstimmig eine Resolution verabschiedet worden, die vorsieht, eine Petition an die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zu richten, in der steht, bitte dafür zu sorgen, dass unter diesen Umständen, wie sie jetzt bestehen, nicht abgeschoben wird. In das Kosovo ist im Winter überhaupt noch nie abgeChristoph Strässer schoben worden; das kommt ja noch hinzu. Die Betroffenen kommen in eine Situation, die absolut unerträglich, die nicht menschenwürdig ist. Ich bitte um Solidarität auch des Deutschen Bundestages. Es sollte klargestellt werden, dass der Deutsche Bundestag eine Abschiebung dieser Menschen in das Kosovo unter diesen Umständen nicht mitträgt. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Erika Steinbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strässer, die Abschiebung von Menschen geschieht in Deutschland nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern es gibt Rechtsgrundlagen, die von diesem Parlament beschlossen wurden, und es gibt Vereinbarungen der Innenministerkonferenz, die das gemeinsam so verabredet haben. ({0}) Das muss man sehen. Wir leben in einem Rechtsstaat und nicht in einem Unrechtsstaat. Darauf möchte ich deutlich hinweisen. ({1}) Menschenrechte sind universell, sie sind unteilbar, und sie sind unveräußerlich. Wir beschäftigen uns - das ist vielleicht auch ein gutes Zeichen - alljährlich im Dezember aus Anlass des Internationalen Tages der Menschenrechte intensiv mit dieser Thematik, die weltweit im Argen liegt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strässer?

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Steinbach, Sie haben recht: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Und das ist auch gut so. Ihnen ist wahrscheinlich bekannt, dass heute vom Bundesverfassungsgericht der achte Fall entschieden worden ist, in dem es darum geht, dass von diesem Rechtsstaat Menschen nach Griechenland abgeschoben werden sollen. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen. Zweitens möchte ich Sie etwas fragen. Wir reden hier über Menschenrechte und Menschenwürde. Nach meinem Rechtsstaatsverständnis steht die Würde des Menschen an allererster Stelle. In einer Situation, in der Menschen, aus welchen Gründen auch immer, 12, 13 oder 14 Jahre nicht abgeschoben werden konnten, ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, dass diese Menschen in einem menschenwürdigen Zustand in Deutschland bleiben können. ({0}) Das betrifft nur wenige Familien. Diese Familien brauchen allerdings unsere Hilfe. Diese Menschen jetzt, in einer Zeit, in der in Deutschland gerade der Weihnachtsfriede ausbricht, abzuschieben, das finde ich besonders zynisch. Ich bitte Sie, mir zu sagen, ob Sie meiner Auffassung in dieser Frage zustimmen.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Strässer, darin, dass die Weihnachtsund Adventszeit vielleicht nicht die richtige Zeit dafür ist, gebe ich Ihnen recht. ({0}) Ich glaube, auch Ihre Anmerkung, dass sich das Bundesverfassungsgericht zu solchen Themen äußert, zeigt, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist. ({1}) Bei uns wird nicht willkürlich mit Menschen umgegangen, und das ist auch gut so. ({2}) Ich bedanke mich für Ihre Frage. Wir stellen weltweit fest: Auch im 61. Jahr der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen ist die Achtung der Menschenrechte weltweit noch längst keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, es liegt sehr vieles im Argen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Volker Beck.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, der Herr Kollege Beck nervt mich im Ausschuss immer genug. ({0}) In zahlreichen Ländern unseres Erdballes haben die Menschenrechte noch nicht Fuß gefasst, oft selbst dann nicht, wenn internationale Erklärungen unterschrieben wurden. In anderen Ländern wiederum ist die Umsetzung der Menschenrechte häufig rückläufig. Täglich sind wir mit Berichten darüber konfrontiert und müssen dies schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Eines der Themen, die besonders im Argen liegen, ist die Religionsfreiheit. Ich finde es gut, dass wir uns gestern in der Obleutebesprechung im Ausschuss auf Vorschlag des Vorsitzenden, Herrn Koenigs, darauf verständigt haben, dass wir uns dieses Themas auch in einer Anhörung annehmen. Aus Anlass der Schweizer Minarettentscheidung steht dieses Thema auch hier im Mittelpunkt, und es bewegt die Menschen nicht nur in der Schweiz, nicht nur in Europa, sondern auch weit darüber hinaus. Eines will ich nachdrücklich feststellen: Es geht in dieser Debatte, die von der Schweiz auch nach Deutschland gedrungen ist, nicht um ein Verbot, Gebetshäuser zu errichten. Es geht auch nicht darum, dass der Glaube und die Ausübung des Glaubens untersagt sind. Es geht einzig und allein um den Bau von Minaretten an Moscheen. Der Bau von Moscheen ist nicht verboten. ({1}) Deshalb ist die Grundfrage der Religionsfreiheit davon praktisch nicht berührt. Ich habe mit dieser in der Schweiz demokratisch getroffenen Entscheidung kein Problem, ({2}) da die Religionsausübung davon nicht betroffen ist. Erstaunlich ist für mich aber, dass gerade diejenigen hier im Lande besonders hart mit der Schweizer Entscheidung ins Gericht gehen, die sonst immer für Volksabstimmungen sind, Herr Kollege Beck. ({3}) Wenn man Volksabstimmungen zulassen will, dann muss man das ertragen. ({4}) Erstaunlich ist auch, dass gerade diejenigen, die die Glaubensfreiheit in ihren eigenen Ländern nicht dulden und sie unterdrücken, versuchen, diese Debatte in einem aggressiven Ton zu führen und zu beherrschen. Wenn ich höre, dass der türkische Ministerpräsident Erdogan sagt, er nehme in Europa eine zunehmend rassistische und faschistische Haltung wahr - er sprach sogar von Verbrechen gegen die Menschlichkeit -, dann muss ich tief durchatmen. Wie steht es denn in der Türkei mit der Religionsfreiheit? Wie wir wissen, gibt es in der Türkei in der Praxis keine Religionsfreiheit. Der Bau von Kirchen ist praktisch unmöglich. Christliche Würdenträger begeben sich in Lebensgefahr, wenn sie Symbole ihres Glaubens offen tragen. ({5}) Ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, und predigen dürfen sie auch nur an ganz bestimmten Tagen. Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung, der noch in den 1950er-Jahren etwa 20 Prozent betrug, ist auf 0,15 Prozent geschrumpft. Das allein spricht Bände. Das heißt, die christliche Minderheit wird gezielt unterdrückt und mundtot gemacht. Der Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche hat mir in diesen Tagen einen Brief geschrieben und mitgeteilt, dass dem Pfarrer der syrisch-orthodoxen Kirche in Diyarbakir angedroht wurde, dass er getötet werde. Sogar in Istanbul, das ja mit einem halben Bein auf europäischem Boden steht, wurde ein Pfarrer - der Pfarrer der adventistischen Gemeinde; diese Gemeinde ist winzig, sie besteht aus gerade einmal 20 Gläubigen - mit dem Tode bedroht. Man kann die Debatte also einmal aus einer anderen Perspektive beleuchten. In mindestens 50 von 200 Staaten werden Menschen aufgrund ihres christlichen Glaubens diskriminiert. Keine andere Religionsgemeinschaft wird weltweit intensiver verfolgt. ({6}) 80 Prozent aller wegen ihrer Religion verfolgten Menschen sind Christen. Das Ausmaß der Diskriminierung reicht vom Iran über Saudi-Arabien, Indien, Pakistan und Ägypten bis Nigeria, und es nimmt leider zu; das ist das Tragische. ({7}) - Aber es gibt drastische Verfolgungen mit Mord und Totschlag; das wissen Sie aber auch. ({8}) - Das sind Christen, selbstverständlich. Das geschieht in ganz bestimmten Regionen. In einem gebe ich Ihnen recht: Es ist keine staatliche Verfolgung. Aber in einem bestimmten Bereich Indiens werden Christen verfolgt. ({9}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit unserem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ auf, den kontinuierlichen weltweiten Einsatz für Religionsfreiheit fortzusetzen und dabei besonderes Augenmerk auf die Lage der christlichen Minderheiten zu legen, aber auch auf die Situation kleiner religiöser Gruppen wie zum Beispiel der Bahai, die im Iran unter ungeheuren Pressionen existieren und von denen sich viele deshalb entschließen, auszuwandern. Ich begrüße sehr, dass sich Bischöfin Käßmann dazu entschlossen hat, dass die evangelischen Christen vom kommenden Jahr an den „Tag der verfolgten Christen“ begehen. Wir sehen, dass weltweit Menschen unterdrückt werden. Eines der für mich schwierigsten Themen ist der Menschenhandel. Offiziell ist die Sklaverei abgeschafft. Menschen dürfen, sollen keine Ware sein. Die Realität sieht erschreckend anders aus: Sklaverei und Menschenhandel florieren heute mehr denn je. Diese Verbrechen sind nicht, wie mancher glauben mag, ein Thema der Vergangenheit, sie gehören zu den drängendsten Problemen unserer Zeit, und sie spielen sich nicht nur in entfernten Regionen ab. Herr Kollege Strässer, Sie sagten, wir sollten uns auch mit Deutschland beschäftigen. Gerade Menschenhandel ist ein Thema, das uns in Deutschland intensiv berührt. Auf und zwischen allen Kontinenten werden Menschen gehandelt wie Ware. Auch Europas Staaten sind Herkunfts-, Transit- und Zielländer dieses modernen Sklavenhandels, auch Deutschland. Mit Sklavenhandel wird heutzutage mehr Geld verdient als mit Drogenhandel. Hauptsächlich findet Menschenhandel im Bereich der sexuellen Ausbeutung statt. Vorwiegend sind Frauen und Mädchen betroffen. Aber auch Menschen, die als Zwangsarbeiter eingesetzt werden, Menschen, die als lebende Ersatzteillager für menschliche Organe missbraucht werden, Zwangsverheiratete und Zwangsadoptierte werden ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt. Wir müssen Mittel und Wege finden, um diesen barbarischen Geschäftemachern das Handwerk zu legen. Wir haben es mit einem komplexen System zu tun. Eines müssen wir wissen: Ohne Nachfrage gäbe es keinen Markt für Zwangsprostitution. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns dafür ein, dass, um den Markt auszutrocknen, Freier, die Zwangsprostituierte benutzen, bestraft werden. ({10}) Unsere Gesellschaft muss dafür sensibilisiert werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der Partei Die Linke?

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, vielen Dank. Ein anderes Thema ist der sexuelle Missbrauch von Kindern. Die betroffenen Kinder, die sexuell missbraucht werden, erleiden Traumata, die sie ihr Leben lang verfolgen. Da dürfen wir nicht wegsehen. Wir müssen versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Debatte um Kinderpornografie im Internet lässt das Ausmaß erahnen, in dem Kindesmissbrauch geschieht. Hier ist ein Markt zu vernichten, der eine Klientel bedient, die den Handel mit diesem abscheulichen „Werbematerial“ überhaupt erst ermöglicht, die dafür Geld bezahlt und damit der Täter hinter den Tätern ist. Wir müssen sehen, wie wir dieser Menschen habhaft werden. In diesem Zusammenhang würde ich schon gerne wissen, wie die Fraktion der Grünen dazu steht, insbesondere der Kollege Volker Beck, der seinerzeit für das Buch Der pädosexuelle Komplex einen Artikel verfasst hat, in dem er schrieb: Eine Entkrimininalisierung der Pädosexualität ist angesichts des jetzigen Zustandes ihrer globalen Kriminalisierung dringend erforderlich, nicht zuletzt weil sie im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen aufrechterhalten wird. Dazu interessiert mich Ihre Meinung, die Meinung der Grünen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, wollen Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zulassen?

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das tue ich gerne, Herr Kollege Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist sehr schön, dass Sie, wenn Sie hier jemanden beschuldigen, ihm wenigstens die Chance zur Erwiderung geben.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe nur aus dem Buch zitiert, für das Sie den Artikel verfasst haben.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen - vielleicht kann Ihr Büro auch einmal bei Google nachschauen; es gibt zu diesem Buch auch Fragen auf www.abgeordnetenwatch.de -, dass das ein verfälschter und in dieser Form nicht autorisierter Artikel von einem Herausgeber war, der unter einem Pseudonym gearbeitet hat? Er nennt sich Angelo Leopardi. In Wirklichkeit war es ein Herr Hohmann. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich mich mehrfach davon distanziert habe und dass ich mich in der Vergangenheit dafür eingesetzt habe, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern bestraft wird? Unter anderem geht die Vorschrift des § 176 a StGB auf einen Vorschlag von mir zurück, wonach der schwere sexuelle Missbrauch von Kindern ein eigenständiger Verbrechenstatbestand ist. Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen? ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, ich muss sagen: Ihre Aussage freut mich wirklich. ({0}) Dadurch wird der Sachverhalt geklärt. Es war mir nicht bekannt, dass das eine Fälschung ist. ({1}) Ich freue mich, dass Sie diesen Standpunkt, den Sie eben dargestellt haben, vertreten. Es ist gut, dass Sie mich aufgeklärt haben. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden noch viel über Menschenrechte debattieren. Es gibt so viele Themenkreise, die noch nicht angeschnitten wer978 den konnten, weil die Zeit nicht reichte. Ich glaube, es ist nötig, dass wir den Themen „Menschenrechte“ und „Verletzung von Menschenrechten im Inland und im Ausland“ intensiv nachgehen. Es ist ein weites Feld. Man kann hin und wieder resignieren, weil man immer nur einen winzigen Stein bewegen und nicht das ganze Elend auf einmal beheben kann. Es ist aber nötig, dass wir immer wieder darüber sprechen. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als nächste Rednerin hat Kollegin Annette Groth von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Strässer, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie auf den äußerst kritischen Zustand von Frau Haidar hingewiesen haben. Sie wissen aber vielleicht nicht, dass die geplante Debatte über Aminatou Haidar heute von der Tagesordnung des Europäischen Parlaments genommen worden ist - ich habe heute Nachmittag eine Meldung aus Brüssel erhalten -, und zwar auf Initiative Ihres Parteikollegen, Herrn Martin Schulz. ({0}) Martin Schulz hatte dies beantragt, damit die Gespräche der EU mit Marokko in diesem Fall nicht gestört werden. Ich finde das wirklich geradezu skandalös. Grüne, Liberale und GUE/NGL hatten sich vergeblich gegen eine Absetzung ausgesprochen und protestieren gerade in Straßburg. So viel dazu. Die Menschenrechte werden in diesem speziellen Fall zurzeit also wirklich mit Füßen getreten. ({1}) - Sie sagen es. Nun aber zu den Anträgen. Die Menschenrechtslage in Sri Lanka hat sich nach dem Sieg über die LTTE für die Tamilen keineswegs verbessert. Unter internationalem Druck durften seit Ende Oktober mehr als 100 000 Tamilen in ihre Heimatdörfer zurückkehren, wo die Mehrheit allerdings unter höchst ärmlichen Bedingungen lebt. 160 000 Menschen vegetieren immer noch in Flüchtlingslagern. Um Druck auf die Regierung Sri Lankas auszuüben, fordert Bündnis 90/Die Grünen, die erweiterten europäischen Handelspräferenzen auszusetzen. Die Linke unterstützt diese Forderung und stimmt darum dem Antrag zu. ({2}) Nun zum Antrag der SPD. Die SPD lobt in ihrem Antrag die ehemalige CDU/CSU-SPD-Regierung, weil sie entwicklungspolitische Aktionspläne für die Menschenrechte vorgelegt hat, durch die die Menschenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit eine viel stärkere Rolle spielen sollten als bisher. Tatsache ist aber - das wissen Sie so gut wie ich -, dass sich Armut und auch die Menschenrechtslage in vielen Ländern weiter verschärft haben. ({3}) Gegen die starken Proteste von Regierungen und Bevölkerung der sogenannten Entwicklungsländer hat die damalige Große Koalition in der EU-Kommission auf die Durchsetzung der umstrittenen EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks und der EU-Freihandelsabkommen gedrängt. Darum wird sich die Linke in der Abstimmung über den Antrag enthalten. Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu Lateinamerika können wir nicht zustimmen. Die spanische Regierung hat sich für ihre Bemühungen um bessere Beziehungen zu Kuba und zu Venezuela den Widerstand der konservativen Regierungen in der EU eingehandelt. Wollen sich Bündnis 90/Die Grünen dieser Kritik anschließen? Der Antrag suggeriert dies vor allen Dingen in dem Begründungsteil über Kuba und Venezuela.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raabe?

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ungern, aber ja.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich will Ihnen nur die Zustimmung zu unserem Antrag leichter machen, weil Sie sagten, Sie würden sich nur wegen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen enthalten. Wir haben in unseren Anträgen die Bundesregierung mehrmals aufgefordert - das haben wir auch im Bundestag gemeinsam beschlossen -, dass in diesen Partnerschaftsabkommen die Fragen der Menschenrechte und der ökologischen und sozialen Standards eine besondere Rolle spielen sollen und dass es keine reinen Wirtschaftsabkommen sein sollen. Von daher ist das eine Frage der Handelspolitik der Europäischen Union. Aber der Deutsche Bundestag und die Sozialdemokratische Partei haben sich auch in der Großen Koalition immer dafür eingesetzt, dass diese Aspekte eine Rolle spielen. Dabei haben wir die Bedenken der Zivilgesellschaft immer sehr ernst genommen; dies werden wir auch weiterhin tun. Jetzt können Sie unserem Antrag in Ruhe zustimmen.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, das stimmt nicht, lieber Herr Raabe. Ich kenne mich in der Handelspolitik ziemlich gut aus, wie Sie vielleicht wissen. Wenn man Länder zu weiteren Marktöffnungen für europäische Produkte und zu weiteren Zollsenkungen zwingt, dann ist die Spirale nach unten vorprogrammiert. Genau darauf haben die Regierungen der AKP-Staaten und die Organisationen der Zivilgesellschaft immer wieder hingewiesen, und deshalb haben sie einen totalen Stopp der Verhandlungen gefordert. Das hat Ihre damalige Ministerin, Frau Wieczorek-Zeul, aber nicht zugelassen. Sie hat sich im Gegensatz zu anderen Regierungen der EU nie dafür eingesetzt. ({0}) Ich komme noch einmal darauf zu sprechen, weil es auch in dem Antrag der Grünen darum geht. Wir kritisieren schon seit langem die ganzen Assoziierungs-, Freihandels-, Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und wie sie alle heißen, vor allen Dingen mit den Staaten Lateinamerikas und Zentralamerikas. Wie ich eben bereits gesagt habe, lehnen wir die Verhandlungen ab, weil die von der EU angestrebten Freihandelsabkommen eine eigenständige Entwicklung dieser Länder verhindern. Buchstäblich alle Ressourcen wie Flüsse und Bodenschätze könnten dann von europäischen Konzernen kontrolliert werden. Damit würde der einheimischen Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen. Jetzt komme ich zu unserem eigenen Antrag „Nein zur Todesstrafe in den USA - Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal verhindern“. Mit diesem Beispiel wollen wir an die Tausenden von Menschen erinnern, die in den Todeszellen schmachten. Die Todesstrafe negiert das elementare Menschenrecht auf Leben. Wir sind der Überzeugung, dass sich die Einhaltung der Menschenrechte und die Verhängung der Todesstrafe gegenseitig ausschließen. Am 9. Dezember vor 28 Jahren wurde der Afroamerikaner Mumia Abu-Jamal für einen Mord, der nie aufgeklärt wurde, zum Tode verurteilt. ({1}) Seit 28 Jahren schreibt er in der Todeszelle gegen Rassismus, Krieg und ein diskriminierendes Justizsystem. Aus der Todeszelle hat Mumia eine persönliche Nachricht an den Deutschen Bundestag geschickt. Ich zitiere: An die ehrenwerten Mitglieder des Deutschen Bundestages: Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, zum Tode verurteilt zu sein? Können Sie sich vorstellen, dass man Ihnen mitteilt, wie Sie hingerichtet werden, dass Sie aber Jahr um Jahr auf den Tod warten müssen? Dies ist die Situation von mehr als 3 000 Menschen, die sich in den US-Todestrakten befinden, und von über 20 000 Männern, Frauen und Kindern, die weltweit auf ihre Hinrichtung warten. Ich warte jetzt schon fast drei Jahrzehnte darauf, meinem Henker zu begegnen. Rassismus durchzieht meinen Fall seit meiner Verhaftung im Jahr 1981 bis heute.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben schon deutlich überzogen.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber durch die Zwischenfrage hat sich meine Redezeit verlängert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nein, ich habe die Zeit während der Zwischenfrage angehalten.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte wenigstens das Zitat von Mumia AbuJamal zu Ende bringen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nein, Sie müssen zum Ende kommen.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich zitiere weiter: Die Todesstrafe ist ein Unrecht für jeden Menschen und muss abgeschafft werden. Wir in den Todestrakten brauchen Ihre Hilfe. Mumia Abu-Jamal, 15. Dezember 2009. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie sehen: Menschenrechtspolitik ist konkret und aktuell. In unserem Antrag beziehen wir uns auf einen sehr aktuellen Vorgang, nämlich auf Äußerungen des spanischen Außenministers. Spanien übernimmt im nächsten Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Der spanische Außenminister hat sich im Oktober dieses Jahres dafür ausgesprochen, sich vom gemeinsamen Standpunkt der EU gegenüber Kuba zu verabschieden. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie will er sich verabschieden, und was will er verabschieden? Der gemeinsame Standpunkt stellt völlig zu Recht eine politische und wirtschaftliche Annäherung an eine Stärkung der Menschenrechte und an eine demokratische Öffnung Kubas dar. So sehr wir überzeugt sind, dass dieser Standpunkt von 1996 überarbeitungsbedürftig ist: An diesem Punkt darf er nicht überarbeitet werden. Ein Politikwechsel der EU darf nicht auf Kosten der Menschenrechte gehen. ({0}) Noch heute sitzen etwa 200 politische Gefangene in kubanischen Gefängnissen. Ihre Verbrechen waren unter anderem, friedlich zu demonstrieren, eine andere Meinung zu vertreten oder - man höre! - am Tag der Menschenrechte auf der Straße Kopien der universellen Er980 klärung der Menschenrechte zu verteilen, die Kuba akzeptiert hat; Kuba gehört sogar zu den Erstunterzeichnern. Ich weiß, dass viele Rechte in Kuba besser umgesetzt und vertreten werden können - zum Beispiel die Rechte auf Bildung und Gesundheit - als irgendwo in Amerika. Das ist aber kein Freibrief oder eine Entschuldigung dafür, Freiheitsrechte einzuschränken. ({1}) Die WSK-Rechte gegen die Freiheitsrechte aufzurechnen, ist falsch; denn Menschenrechte sind unteilbar. ({2}) Ich sage aber sehr deutlich: Die Menschenrechtslage ist nicht nur in Kuba prekär. Margaret Sekaggya, Sonderberichterstatterin über die Lage der Menschenrechtsverteidiger, hat Kolumbien im September bereist. Sie berichtet von außergerichtlichen Hinrichtungen und Fällen des Verschwindenlassens. Präsident Uribe begründet das Vorgehen mit der terroristischen Bedrohung durch die Guerilla im Land. Vor diesem Hintergrund ist mir übrigens folgende Äußerung von Minister Niebel in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst völlig unverständlich: „Mit Kolumbien sollten wir ideologiefreier umgehen.“ Weder der Minister noch die EU dürfen bei Menschenrechtsverletzungen einfach verlegen wegsehen oder sich hinter dem hohlen Prinzip der Nichteinmischung oder gar der Ideologiefreiheit verstecken; ({3}) denn Menschenrechte sind ideologiefrei und universell. Die spanische Ratspräsidentschaft hat sich glücklicherweise vorgenommen, den Blick auf Lateinamerika zu werfen. Dort sind viele Länder interessant. Im Koalitionsvertrag der Regierung heißt es: Die Glaubwürdigkeit Deutschlands steht in direktem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten für die Menschenrechte in der Außen- und Entwicklungspolitik. Das sind große Ziele. Jetzt kommt es aber auf die konkrete Umsetzung an, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Deshalb müssen Menschenrechtsstandards integraler Bestandteil von bilateralen und multilateralen Handelsverträgen Deutschlands und von allen gemeinsamen Standpunkten der EU sein. Darauf müssen wir bestehen. ({4}) Abschließend bedanke ich mich bei Herrn Strässer für den Hinweis auf die Solidarität mit Frau Haidar. Dass es dem Menschenrechtsausschuss nicht gelungen ist, diesen Fall auf die Tagesordnung zu setzen, empfinde ich als sehr beschämend. Das verdanken wir der Koalition. Danke sehr. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als Nächster spricht Serkan Tören für die FDP-Fraktion. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtslage in Ländern wie Sri Lanka und auch Syrien ist uns allen sehr wohl bekannt. Ich möchte an dieser Stelle keine beschönigenden Worte hierfür finden. In Sri Lanka ist der Bürgerkrieg heute offiziell beendet, und doch ist insbesondere die Lage der tamilischen Bevölkerung im Lande kritisch und beunruhigend. Das gilt ebenso für Syrien. Hier finden regelmäßig willkürliche Verhaftungen und Urteile gegen Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle statt. Die Lage der kurdischen Bevölkerung ist dabei besonders prekär. Und doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Problematisch in diesem Zusammenhang bleiben die Forderungen nach generellen Abschiebestopps bzw. der Aufkündigung des Rücknahmeabkommens mit Syrien. ({0}) Lassen Sie mich grundsätzlich sagen: Ein Abschiebestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute Krisenentwicklungen. Das trifft weder auf die aktuelle Lage in Sri Lanka noch auf die in Syrien zu. Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps immer gewissenhaft geprüft werden, und genau das tun wir auch; denn es ist mitnichten so, wie die lieben Kolleginnen und Kollegen von der Linken es gerne darstellen. Mit der Unterzeichnung eines Rücknahmeabkommens wird kein Freiflugschein für alle Flüchtlinge in ihre jeweiligen Heimatländer unterschrieben ohne Rücksicht darauf, in welche Umstände die jeweiligen Personen zurückgeschickt werden. Richtig und wichtig ist doch, zu sagen, dass asylrechtliche Vorschriften durch dieses Rücknahmeabkommen nicht berührt werden. ({1}) Das bedeutet, dass individuelle Prüfungen bereits jetzt möglich sind und durchgeführt werden. Ausländern, denen in ihren Herkunftsländern politische Verfolgung, Folter und konkrete Gefahr für Leib und Leben drohen, erhalten in Deutschland Asyl, Flüchtlingsschutz oder auch subsidiären Schutz. ({2}) Das wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem ordentlichen Asylverfahren festgestellt. Also noch einmal: Abschiebestopp ist immer das letzte Mittel. Die Einzelfallprüfung steht im Vordergrund. ({3}) Wir sagen hier also ganz klar: Dauerhafte Probleme mit der Menschenrechtslage, wie sie zweifelsfrei in Syrien bestehen, können mit einem generellen Abschiebestopp als politischem Instrument nicht gelöst werden. Dazu ist das Asylrecht das richtige Instrument. ({4}) Ich plädiere in dieser Debatte für etwas mehr Differenziertheit und Würdigung des bestehenden Asylrechts, das die menschenrechtliche Lage der einzelnen Personen durchaus im Blick hat. ({5}) Aber ich will hier nicht nur als Innenpolitiker sprechen und auf die Problematik der Forderungen nach generellen Abschiebestopps in diesem Zusammenhang eingehen. Die Rechte der Menschen in Sri Lanka und insbesondere in Syrien bedürfen weiterhin kritischer Aufmerksamkeit. Ich möchte an dieser Stelle auch die aktuellen Bemühungen und Entwicklungen nicht unerwähnt lassen, die meiner Meinung nach Potenzial haben und Hoffnung wecken. Grundlegend ist, dass unbequeme Fragen nicht ausgeblendet werden. Deutschland sowie die EU kritisieren regelmäßig willkürliche Verhaftungen und Urteile. Auch unter deutscher Ratspräsidentschaft wurden im Frühjahr 2007 mehrere harte Urteile gegen syrische Bürgerrechtler in EU-Erklärungen kritisiert. Außerdem thematisiert die Bundesregierung regelmäßig die unbefriedigende Menschenrechtslage in Syrien und auch Einzelfälle in bilateralen Gesprächen. Auch die deutsche Kulturpolitik ist ein wichtiger Baustein, um mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu kommen und zur Stärkung der Zivilgesellschaft beizutragen. So hat beispielsweise im Oktober dieses Jahres wieder der Mediendialog stattgefunden, diesmal in Damaskus. Dort haben sich deutsche und arabische Journalisten, Publizisten und Politiker getroffen und sich über aktuelle Themen ausgetauscht. Menschenrechtspolitik, die Beförderung von Menschenrechten, ist ganz klar, wie wir es auch in unserem Antrag deutlich gemacht haben, eine Angelegenheit über alle Politikbereiche hinweg. ({6}) Ich will an dieser Stelle auch das Assoziierungsabkommen der EU mit Syrien erwähnen. Hier hat die EU eine Menschenrechtsklausel eingebaut. Der Kompromiss zwischen den 27 EU-Staaten sieht vor, dass das Abkommen wieder ausgesetzt werden kann, falls Syrien gegen Menschenrechte verstößt. Das ist ein eindeutiges Signal. Neben der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit soll es einen intensiven politischen Dialog geben, in dem über Partizipation, Zivilgesellschaft und Menschenrechte gesprochen werden soll. Das gehört zum Abkommen, und das wissen die Verantwortlichen auch. Nun gibt es Stimmen, die fordern, das Abkommen erst dann zu unterzeichnen, wenn sich die Menschenrechtslage in Syrien verbessert hat. Es gibt aber auch andere Stimmen, insbesondere aus der syrischen Zivilbevölkerung selbst. Sie bezeichnen dieses Abkommen als die Chance zum Dialog und den Dialog als die Voraussetzung, sich langsam anzunähern, Vertrauen aufzubauen und die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft zu erweitern. Leider hat Syrien nicht, wie geplant, im Oktober unterschrieben. Die Zeichnung soll voraussichtlich im ersten Halbjahr 2010 unter spanischer Ratspräsidentschaft stattfinden. Ich kann nur hoffen, dass es so kommen wird. Es ist wichtig, dass dieser Dialog fortgeführt wird und sich all die Bemühungen nicht nur auf die wirtschaftliche und soziale Lage positiv auswirken, sondern vor allem auf die politische Situation und die Lage der Menschen vor Ort. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Steinbach, zu einer vernünftigen Menschenrechtspolitik gehört meiner Ansicht nach auch, dass man sich entschuldigt, wenn man einen solchen Fauxpas begangen hat, wie Sie ihn eben gegenüber dem Kollegen Beck begangen haben. ({0}) Wir können das Thema „Religionsfreiheit“ bei der Anhörung und den Beratungen im Ausschuss sehr detailliert diskutieren. Deswegen möchte ich auf das, was Sie dazu vorgetragen haben, jetzt nicht eingehen. Wir begehen den Tag der Menschenrechte hier jedes Jahr im Dezember mit einer Debatte. Das ist auch gut so; denn die menschenrechtliche Lage ist in vielen Ländern - das zeigen die Anträge, die heute gestellt werden - eindeutig verbesserungswürdig. Es gibt auch im eigenen Land Vorgehensweisen, die wir mit Recht hinterfragen müssen; Herr Strässer hat das Thema „Lage der Sinti und Roma“ angesprochen. Wenn man die Abschiebung bestimmter Personen befürwortet - Sie haben gesagt, sie seien rechtens -, dann muss man bedenken, welche Konsequenzen damit verbunden sind. Zum Beispiel werden junge Frauen in Regionen zurückgeschickt, in denen sie Opfer von Menschenhandel werden. ({1}) So viel zum Thema „Vorgehensweise im eigenen Land“. Angelika Graf ({2}) Die Anträge zur Praxis der Abschiebung nach Syrien, die die Grünen und die Linken gestellt haben, machen deutlich: Die Menschenrechtslage in Syrien ist schlecht, insbesondere für Minderheiten; für nichtarabische Volksgruppen ist sie prekär. Muslimische und yezidische Kurden leiden ganz besonders unter dieser Situation. Christliche Assyro-Aramäer werden ebenfalls zwangsarabisiert. All das muss man wissen, wenn man einem Abkommen über die Rückübernahme nach Syrien das Wort redet. Wir werden uns damit im Ausschuss sicherlich noch genauer beschäftigen. Ich denke, es lohnt sich, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es wirft ein Licht darauf, wie wir in Deutschland mit diesen Dingen umgehen. Lassen Sie mich auch ein Wort zu dem Antrag der Koalition sagen. Es ist schon erwähnt worden: Vieles, was darin steht, ist nicht wirklich neu. Auch in schwarzroten Zeiten gab es über viele Themen, die in diesem Antrag angesprochen werden, durchaus Konsens. Geächtet werden sollen die Todesstrafe, die Straflosigkeit, Menschenrechtsverletzungen an Frauen, an religiösen und sexuellen Minderheiten. So weit, so gut. Ich bin auch ganz bei Ihnen, wenn Sie feststellen, dass die Terrorismusbekämpfung nicht als Vorwand für Menschenrechtsverletzungen dienen darf, oder wenn Sie die Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs fordern. Zu Ihrer in diesem Antrag aufgestellten Forderung, die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen, darf ich Sie beglückwünschen; ({3}) folgen Sie doch damit den langjährigen Forderungen der SPD-Fraktion und anderer Fraktionen dieses Hauses, welche die Union in der letzten Legislaturperiode ausdrücklich abgelehnt und damit blockiert hat. Die damaligen Begründungen sind aus meiner Sicht hanebüchen. Überhaupt darüber zu reden, wurde von der Kollegin Granold am 22. März 2007 als Scheindebatte bezeichnet. Die Kollegin Landgraf hat am 6. April 2006 in diesem Hohen Hause festgestellt, dass die Vorbehaltserklärung sachgerecht sei, weil - ich zitiere einzelnen Bestimmungen der Konvention nunmehr größere Bedeutung, wenn nicht gar unmittelbar innerstaatliche Wirkung zukäme. Sie hat zum Beispiel Erschwernisse bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht Minderjähriger befürchtet. Wie gesagt, ich freue mich über Ihren Sinneswandel; denn wie heißt es so schön: Im Himmel ist mehr Freude über die Rückkehr eines reuigen Sünders denn über Tausend Gerechte. ({4}) Wichtig ist für uns in der SPD-Fraktion der Menschenrechtsansatz in der Entwicklungszusammenarbeit. Er wurde in den letzten fünf Jahren - das ist schon deutlich gesagt worden - mit mehreren entwicklungspolitischen Aktionsplänen ausgebaut; darauf wird der Kollege aus dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sicherlich noch eingehen. Viele der Empfänger von Entwicklungshilfe haben die grundlegenden Menschenrechtskonventionen gezeichnet und sich damit zu ihrer Umsetzung verpflichtet. Darin liegt ein großes emanzipatorisches Potenzial des Menschenrechtsansatzes. Aus benachteiligten Menschen werden Rechtsträger, die ihre legitimen Ansprüche einfordern. Das sollte übrigens gerade dann geschehen, wenn es menschenrechtliche Defizite in der Regierungsführung des Empfängerstaates gibt. Personengruppen, die benachteiligt sind, also Frauen, Angehörige ethnischer Minderheiten oder indigener Gruppen, Homosexuelle oder auch Jugendliche, sind die besten Anwälte für eine Verwirklichung der Menschenrechte. Selim Caliskan, die Bereichsleiterin Menschenrechte von Medica Mondiale, hat gestern beim „Informationsfrühstück Afghanistan“, bei denen etliche von Ihnen waren, formuliert: Frauen sind Motoren für den Rechtsstaat. Mir ist dieser Aspekt sehr wichtig. Er macht nämlich deutlich, dass Frauen nicht nur Opfer sind, sondern in den Transformationsprozessen auch eine aktive und positive Rolle innehaben. Viele Frauen, denen Unrecht geschehen ist, sind mutig und stark. Im Ostkongo zum Beispiel helfen sie ihren Geschlechtsgenossinnen, die Traumata nach Vergewaltigungen zu überwinden. In Afghanistan übernehmen derzeit Afghaninnen die Arbeit von internationalen Mitarbeiterinnen der besagten Hilfsorganisation Medica Mondiale in der Rechtsberatung für weibliche Opfer von Gewalt. Frauen kämpfen für ihre Rechte. Deswegen möchte ich noch einmal auf das Aminatou Haidar eingehen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion bleiben dabei: Wir hätten uns sehr gewünscht, dass Sie sich dieser Debatte im Menschenrechtsausschuss nicht verweigert hätten. Eine entsprechende Entschließung hätte verabschiedet werden müssen; das sehen wir für unbedingt notwendig an. ({5}) Ich glaube, wir haben eine große Chance vertan. Ich sage Ihnen eines: Ein Obleutegespräch kann eine Ausschusssitzung nicht aufwerten. Da haben Sie einen falschen Ansatz in Ihrem demokratischen Verständnis in diesem Parlament. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meinen Sie nicht manchmal, wir seien etwas anmaßend, wenn wir glauben, wir könnten die Probleme, vor allen Dingen die Menschenrechtsprobleme der Welt, hier in Deutschland lösen? ({0}) Wo sie zu lösen sind, liebe Freunde, ist vor Ort in den betreffenden Ländern. Wir müssen uns überlegen: Was können wir da tun? Wir haben zum einen Möglichkeiten der Diplomatie. Aber wenn wir hier im Parlament sind, müssen wir uns überlegen: Was können wir als Parlamentarier tun? Wir können natürlich Resolutionen verabschieden. Wir können auch Einzelfälle behandeln. Das kann man machen. Aber wenn wir wirklich etwas machen wollen, müssen wir das Ort tun. Wir sind alle mehr oder weniger auf Delegationsreise, vor allen Dingen in Ländern, wo wir Probleme sehen, wo es Probleme mit Menschenrechten und der Behandlung von Frauen und Ähnlichem gibt. Das ist unsere Aufgabe, das ist unser Job. Liebe Freunde, wir können da etwas machen. Ich spreche hier aus eigener Erfahrung; wir machen es nämlich schon. Kollege Hartwig Fischer zum Beispiel - wir alle kennen ihn - geht auf keine Delegationsreise, ohne in dem entsprechenden Land auch ein Gefängnis zu besuchen. Machen wir uns nichts vor: Damit schafft er sich nicht sehr viele Freunde bei seinen Gesprächspartnern von den Regierungen, den Regimen oder was auch immer. ({1}) Das sorgt nicht für eine freundliche Aufnahme, und damit macht er sich auch keine Freunde. Das ist etwas, was wir persönlich machen können, jeder von uns. ({2}) Das ist, wie ich finde, das Wichtige bei dem Ganzen. Alles andere wäre eine Scheindebatte. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber ja doch.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich halte es für einen außerordentlich guten Ansatz, wenn wir uns fragen, was wir konkret machen können. Allzu oft werden bei solchen Menschenrechtsdebatten ja Feiertagsreden gehalten, in denen man zum Ausdruck bringt, dass man für das Gute und gegen das Schlechte in der Welt ist. Sie sprechen in Ihrem Antrag die Themen Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung an. Das sind alles schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie denn auch bereit wären, das zu tun, was wir als Deutscher Bundestag konkret tun könnten. Wir könnten nämlich dafür sorgen, dass die Opfer solcher Unrechtsmaßnahmen in Zukunft eine Aufenthaltsgarantie für Deutschland bekommen. ({0}) Es ist doch besser, dass sie hier als Zeuginnen und Klägerinnen gegen die Schergen zur Verfügung stehen, die diese Menschenrechtsverletzungen begehen, statt sie in die Länder und in die Strukturen zurückzuschicken, in denen ihnen diese Menschenrechtsverletzungen widerfahren sind. Ist die CDU/CSU-Fraktion mit Ihnen der Meinung, dass wir in diesem Punkt das tun sollten, was wir tun können?

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, Herr Kollege Beck: Wir als CDU/CSU haben zusammen mit der SPD auch das Thema Genitalverstümmlung in den Bundestag gebracht. ({0}) - Versuchen Sie doch, mich zu verstehen. Ich kann ja noch einmal sagen, was ich eben gesagt habe. Wir dürfen doch nicht so anmaßend sein, zu meinen, wir könnten hier vor Ort die Probleme der Welt lösen. Das ist mein Ansatz, ein anderer Ansatz als Ihrer. ({1}) - Wir sind hier, genau. Wir müssen uns überlegen, was wir tun müssen und was wir tun können. Frau Kollegin Graf hat, um auf das Thema zurückzukommen, etwas Wichtiges gesagt. Sie hat uns davor gewarnt, zu unterschätzen, welche Aufgabe Frauen haben Frauen in der Entwicklungspolitik, Frauen in Entwicklungsländern, Frauen in den Gesellschaften überhaupt. Liebe Freunde, mein Thema, auf das ich jetzt gerne zu sprechen kommen möchte, lautet: Frauenrechte sind Menschenrechte. Hier müssen wir, wie ich glaube, manchmal noch wesentlich genauer hinschauen. ({2}) Frauen sind in einigen Gesellschaften die schwächsten Glieder. Aber auch da können wir etwas tun, und zwar vor Ort. Vielleicht erinnern sich ja noch einige Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung daran, dass letztes Jahr bei uns Monira Rahman zu Besuch war. Sie hat 2005 den Menschenrechtspreis von Amnesty International bekommen. Monira Rahman kümmert sich in Bangladesch um Frauen, die mit Säure verätzt worden sind. Als ich sie in ihrem Krankenhaus in Bangladesch besuchte und sah, welch grauenvolle Dinge es gibt, wurde mir plötzlich klar, dass es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen von Menschenrechtsverletzungen gibt. ({3}) Angesichts der Argumente, die dafür angeführt werden, warum Frauen mit Säure verätzt werden, wird deutlich, dass wir noch ganz viel Überzeugungsarbeit zu leisten haben. Gemäß Art. 16 der UN-Menschenrechtskonvention gilt zwar auch dort, dass Frauen bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung die gleichen Rechte wie Männer haben; Säureattentate werden dort aber zum Beispiel aufgrund von Eifersucht, aufgrund von „inadäquater“ Mitgift - das muss man sich einmal vorstellen -, aufgrund von Streitigkeiten innerhalb der Familie verübt. Dass solche Gründe dafür angeführt werden, warum dort Frauen mit Säure verätzt werden, finde ich unglaublich. ({4}) Deshalb reicht es nicht aus, Konventionen zu erarbeiten und Papiere zu erstellen, wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass sich die Gesellschaft in bestimmten Ländern ändert. Dafür können wir bei den Regierungsverhandlungen - das ist schon angesprochen worden -, beim Abschluss von Verträgen mit den entsprechenden Regierungen oder wo auch immer etwas tun. Etwas anderes finde ich ebenfalls grauenvoll, liebe Kolleginnen und Kollegen, nämlich wenn Frauen in Kriegen als Waffe benutzt werden. Das ist absolut verwerflich. Wenn ich mir vorstelle, dass das damals im Balkankrieg vor unseren Augen passiert ist - wir haben eine ganze Weile zugeschaut, bis wir eingegriffen haben -, dann habe ich noch heute ein Schamgefühl; denn wir haben es gewusst, wir haben es gesehen, es ist uns erzählt worden, aber wir haben nichts dagegen getan. Das finde ich furchtbar. Menschenrechte werden in manchen Ländern, vor allen Dingen dort, wo die Scharia regiert, nur bedingt und nur unter Vorbehalt eingehalten. 60 Länder der Organisation der Islamischen Konferenz haben die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam 1990 verabschiedet. Aber eines fehlt dort, nämlich das Verbot von Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Religion, anders als es in Art. 2 der UN-Menschenrechtskonvention steht. So wird Frauen in islamisch geprägten Ländern oft die Schulbildung vorenthalten, die gesellschaftliche Teilhabe wird ihnen verweigert, sie haben nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstieges, und sie werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Dies geschieht unter dem Deckmantel der Religion, des Islam, und der Kultur. Das halte ich für verwerflich. ({5}) Denn alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen bekennen sich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und deshalb muss man auf diese Diskrepanz aufmerksam machen. Wir können und dürfen eine Einschränkung von Menschenrechten nicht hinnehmen, sondern müssen etwas dagegen unternehmen. Es ist richtig, dass wir zumindest darüber debattieren und diskutieren. Dass wir nicht allein eine Lösung finden können, ist ebenfalls richtig. Dass die Folge einer Einschränkung der Menschenrechte, vor allen Dingen in islamischen Ländern, die Legitimation von Folter und Gewalt ist, darf nicht sein. Das geht uns alle an. Als langjährige Entwicklungspolitikerin weiß ich sehr genau, worum es geht. Ich weiß, dass Armut, Krieg und Menschrechtsverletzungen auch mit der Entwicklung eines Landes zusammenhängen. Wenn wir das beachten und in die Entwicklung investieren, zur Schaffung von Frieden beitragen und dafür sorgen, dass Menschenrechte nicht verletzt werden, werden wir Stabilität, Aufschwung, Frieden und Zukunft der Menschen fördern. Das ist uns wichtig. Deshalb ist es gut, dass der Titel unseres Antrags lautet: „Menschrechte weltweit schützen“. Das ist unsere Verpflichtung; aber es sollte auch eine Selbstverständlichkeit sein. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen von der CDU/CSU und der FDP! Ihr Antrag heißt: „Menschenrechte weltweit schützen“. Das bedeutet, auch vor der eigenen Haustür zu kehren und eine ehrliche Bilanz hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte in Deutschland zu ziehen. Dazu finde ich in Ihrem Antrag aber absolut nichts. ({0}) Das halte ich für unehrlich. Ich möchte heute an einem Beispiel zeigen, dass Sie mit Ländern Rückübernahmeabkommen geschlossen haben, die Menschenrechte zutiefst verletzen, nämlich am Beispiel Syrien. Dazu haben wir auch einen Antrag eingebracht. Das Rückübernahmeabkommen mit Syrien wurde geschlossen, obwohl die Bundesregierung ganz genau weiß, dass dort massive Menschenrechtsverletzungen insbesondere gegen die Kurden, die Eziden und jegliche politische Opposition stattfinden. In der Regel bedeutet das in Syrien Diskriminierung, aber auch Verschleppung, Folter, wie wir wissen, Gefängnis und Tod. Dass die Bundesregierung darüber Kenntnis hat, zeigt sich an der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken. Sie haben ein Rückübernahmeabkommen - das ist ein besseres Wort für Abschiebeabkommen - geschlossen, durch das etwa 8 350 Menschen aus Syrien, die hier keinen regulären Aufenthaltsstatus haben, sowie mindestens 3 000 staatenlose Menschen abgeschoben werden sollen. Das ist wirklich ein Novum, dass man Menschen, die staatenlos sind, in ein Land zurückschickt, von dem man ganz genau weiß, dass sie dort absolut rechtlos sind, dass sie beispielsweise keinen Zugang zu Bildung oder zu den Sozialsystemen haben, dass auch die Kinder keine Bildungschancen haben. Das bestätigt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage, die ich bereits angesprochen habe. Trotzdem ist dieses Abkommen weiterhin in Kraft. Es ist erst wenige Tage her, dass der Menschenrechtler Mustafa Ismail, der syrisch-kurdischer Herkunft ist, in Syrien verschleppt wurde. Es gibt eine entsprechende Pressemitteilung der Gesellschaft für bedrohte Völker, worin aufgerufen wird, Solidarität zu üben. Ich möchte noch zwei weitere Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit nennen, die zeigen, dass Menschen nach ihrer Abschiebung - Abschiebungen gab es auch schon vor dem Rückübernahmeabkommen - an der syrischen Grenze festgenommen wurden. Am 1. September wurde ein Kurde festgenommen. Weil er in Deutschland Asyl beantragt hatten, wurde ihm vorgeworfen, „falsche Informationen über Syrien“ verbreitet zu haben. Im Oktober dieses Jahres wurden eine 55-jährige Witwe und ihre vier Kinder zwischen 19 und 22 Jahren inhaftiert und verhört. Die Bundesregierung sagt dazu, dass es nur eine Befragung über wenige Stunden gegeben habe. Das halte ich für einen absoluten Skandal, da man doch weiß, dass diese Menschen tageund wochenlang inhaftiert werden. Es handelt sich um Menschenrechtsverletzungen vonseiten der syrischen Regierung. ({1}) Ich möchte noch einige Bemerkungen zu den Staatenlosen machen. In den 60er-Jahren sind durch die Arabisierungspolitik des Baath-Regimes Menschen ausgebürgert worden. In Syrien leben 200 000 staatenlose Kurden und doppelt so viele staatenlose Palästinenser. Wenn die Menschen hier bei uns einen Asylantrag stellen, wird ihnen zum Vorwurf gemacht, dass sie nicht ausreichend bei ihrer Identitätsfeststellung mitwirken, weil sie keine Pässe und keine Ausweisunterlagen besitzen. Deswegen werden ihre Asylanträge häufig abgelehnt. Auch da muss im Asylrecht, was die Menschenrechte betrifft, etwas verändert werden. Man kann nicht so tun, als seien unsere Gesetze vollkommen in Ordnung. Hier bestehen Lücken, und es muss daran gearbeitet werden, ein Asylrecht zu schaffen, das diesen Menschen Schutz vor den Ländern gewährt, die die Menschenrechte verletzen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Jelpke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme gleich zum Schluss. - Der Höhepunkt ist für mich, dass Syrien - auch das weiß die Bundesregierung - weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch internationale Abkommen zum Schutz von Staatenlosen unterzeichnet hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Jelpke!

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mein allerletzte Punkt: Menschen in ein Land abschieben zu wollen, das diese Abkommen noch nicht einmal unterzeichnet hat, ist nicht hinzunehmen. Wir fordern einen sofortigen Abschiebestopp und die sofortige Aussetzung des Rückübernahmeabkommens mit Syrien. Ich danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht jetzt Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will einen Gedanken der Kollegin Pfeiffer aufgreifen, die gesagt hat, wir sollten uns das vornehmen, was wir tatsächlich beeinflussen können, und wir sollten nicht so tun, als ob wir durch solche Debatten die gesamte Welt verändern könnten. Das halte ich für richtig. Wir sollten auch etwas demütig sein gerade an einem Tag, an dem Deutschland von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu Recht verurteilt wurde. Wir wurden verurteilt, weil das, was wir im Bereich der Sicherheitsverwahrung machen, nicht den rechtsstaatlichen Standards entspricht. Wir haben Menschen aufgrund eines neuen Gesetzes nachträglich eine zusätzliche Strafe aufgedrückt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat klargestellt, dass Sicherungsverwahrung eine Strafe ist. Die Menschenrechte sind auch im Falle von Sexualstraftätern, Terroristen oder anderen Schwerverbrechern zu achten, auch wenn es schwerfällt. An diesen Fragen zeigt sich die menschenrechtliche Qualität eines Landes. Hier können wir noch einiges dazulernen. ({0}) Frau Steinbach, Sie reden hier immer über die Christenverfolgung. Das ist in der Tat ein wichtiges Thema. In vielen Ländern werden Christen massiv verfolgt. In China ist es die katholische Kirche, die Rom-treu ist. In Usbekistan sind es die Zeugen Jehovas und Evangelikale. Zurzeit sitzen in Usbekistan vier Zeugen Jehovas im Gefängnis. Aber was machen wir da, wo wir etwas tun können, gegenüber der usbekischen Regierung? Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in der EU dafür eingesetzt, dass die letzten Embargomaßnahmen, die lediglich Einreiseverbote für Mitglieder der Staatsführung beinhalten, aufgehoben wurden, weil wir militärpolitische Interes986 Volker Beck ({1}) sen in Termes haben. Konkrete Menschenrechtspolitik misst sich daran, dass sie dort, wo sie Einfluss auf Beziehungen hat, konsistent handelt und dass nicht wie in einem Wolkenkuckucksheim über das Schlechte in der Welt geredet wird. ({2}) Meine Damen und Herren, ich denke, Sie leisten den verfolgten Christen in aller Welt einen Bärendienst, wenn Sie deren Problem als Christenverfolgung und nicht als Rechte religiös verfolgter Minderheiten bezeichnen. Man kann sich nicht in der Türkei dafür einsetzen, dass es in Tarsus ein Pilgerzentrum geben soll, wie es Kardinal Meißner aus Köln zu Recht will - ich bin sehr dafür -, ohne gleichzeitig über die desolate Situation der Aleviten und Jesiden in der Türkei zu sprechen. ({3}) Das ist nicht fair. Wenn Sie sagen, 80 Prozent der religiös Verfolgten seien Christen, was sagen Sie dann den Bahai, einer winzigen religiösen Minderheit, von denen viele im Iran in der Vergangenheit bereits ermordet worden sind? Was soll dieser quantitative Ansatz? Es geht darum, dass jeder sein Recht auf Religionsfreiheit subjektiv und kollektiv ausüben kann. Dazu gehören übrigens Kirchtürme wie Minarette gleichermaßen. Die Mehrheit hat nicht das Recht, die Menschenrechte per Volksabstimmung oder parlamentarischer Gesetzgebung zu beschneiden. ({4}) Ansonsten wird Gesetzgebung zu einer Tyrannei der Mehrheit im Sinne von de Tocqueville. Das wollen wir nicht. Die Demokratie hat ihre Grenzen im Rahmen der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Das gilt für uns und für den Volksgesetzgeber. ({5}) Wir haben gerade über das Thema „Flüchtlingsschutz im Falle von Syrien“ gesprochen. Wenn in Deutschland Syrer - meist sind es kurdische Syrer, die dort verfolgt werden - vor deutschen Gerichten um Schutz nachsuchen und das Asylverfahren abgelehnt wird - Frau Steinbach, vielleicht lernen Sie etwas dazu; Flüchtlinge interessieren Sie ja weniger; die Achtung der Menschenrechte ist für Sie nur im Ausland interessant -, ({6}) dann wird ihnen das Asylverfahren bei einer Abschiebung in die Syrische Republik als Bezichtigung im Sinne falscher Informationen nach § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vorgehalten, so im September 2009 mit einem 31-jährigen syrischen Kurden aus Frankfurt am Main geschehen. Er wurde nach der Abschiebung vom Geheimdienst in Syrien einbestellt und ist danach verschwunden. Jetzt sitzt er in Haft und ist verurteilt. Das passiert reihenweise. Man kann angesichts einer solchen Staatspraxis in Syrien doch nicht systematisch sagen: Wir schließen mit einem solchen Staat ein Rückführungsabkommen ab. - Da macht man sich doch zum Helfershelfer der Schergen in syrischen Gefängnissen, wo gefoltert wird, wo es keine rechtsstaatlichen Verfahren gibt und wo bestimmte religiöse, ethnische und sprachliche Minderheiten unterdrückt werden. ({7}) Ich denke, da können wir zeigen, dass wir das tun, was wir beeinflussen können. Wir können die Verhältnisse in Syrien nicht aus den Angeln heben; aber den Menschen, die von dort zu uns kommen und des Schutzes bedürfen, können wir helfen und ihnen Schutz gewähren. Ich möchte Ihnen, weil ja bald Weihnachten ist,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Beck!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- angesichts dieser Fragen ein Bibelwort mit auf den Weg geben ({0}) - denn Sie reden immer nur über die Christen und diejenigen, die Ihnen am nächsten stehen -: Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn empfangen? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren christlichen Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Deshalb: Werden Sie vollkommen, wie es in Matthäus 5 weiter heißt, und bemühen Sie sich um ein vollständigeres Bild der Menschenrechte! ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Nächste ist der Kollege Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Diese verbundene Debatte soll auch etwas Verbindendes haben, Herr Kollege Beck. Insofern muss man sagen: Ein Credo für die Unteilbarkeit der Menschenrechte schließt natürlich auch die Tatsache ein, dass wir bis ans Ende dafür kämpfen, dass Sie Ihre Meinung hier äußern dürfen. Auch wenn sie falsch ist, muss man sie trotzdem ertragen. ({0}) Ich will in Hinblick auf die Religionsfreiheit nur eines richtigstellen: Ein Hinweis auf die Tatsache, dass 80 Prozent der Verfolgungen solche von Christen sind, macht es nicht falsch oder überflüssig, darauf hinzuweisen, dass auch andere Verfolgungen aus Religions- und Glaubensgründen falsch sind. Zudem ist es notwendig, Folgendes deutlich zu machen - das darf ich an dieser Stelle als Abgeordneter aus Nürnberg, einer Stadt, die sich nicht umsonst Stadt des Friedens und der Menschenrechte nennt -: Wir müssen dem Anspruch der Geltung von Menschenrechten im modernen Verfassungsstaat nicht nur dadurch gerecht werden - Kollegin Pfeiffer hat darauf hingewiesen -, dass wir hier gerne darüber reden und dies frei tun; wir müssen vielmehr auch belegen, dass wir unsere Forderungen in den Institutionen umsetzen und die entsprechenden Verfahren durchführen können. Was wir in Bezug auf Menschenrechte fordern dürfen, hängt maßgeblich von unserer Handlungsfähigkeit ab. ({1}) Der Antrag der CDU/CSU spricht eine deutliche Sprache, wie wir sie nicht oft genug verwenden können. Er richtet sich gegen Todesstrafe, Folter, Sklaverei und Ausbeutung und spricht sich für den Schutz der Religions-, Presse- und Meinungsfreiheit aus. Gerade hier gilt, was ich schon gesagt habe: Wir müssen die Einhaltung der Menschenrechte leisten können; wir müssen Institutionen und Instrumente schaffen, damit wir das, was wir hier fordern, umsetzen können. Auch deshalb ist mir die bessere Durchsetzung des Völkerstrafgesetzbuches ein besonderes Anliegen. Ich bin froh, dass der Koalitionsvertrag hierauf eingeht. Völkerrecht braucht ein Völkerstrafrecht, um überhaupt glaubwürdig zu sein und durchgesetzt werden zu können. ({2}) Darauf muss man eindeutig hinweisen. Ich möchte nun die ordnungspolitische Sichtweise einnehmen - auch Kollege Tören hat das schon getan und auf die Frage des deutsch-syrischen Rückführungsabkommens eingehen. Man muss sagen, dass es keine Gründe gibt, dieses Abkommen einfach auszusetzen. Hier geht es nämlich darum - dafür ist das Abkommen nun einmal da -, gesetzwidrige Zuwanderungen rückgängig zu machen und zu verhindern. Es geht darum - wir haben es oft genug gehört; man müsste vielleicht einmal zuhören -, deutlich zu machen, dass das Asylrecht für alle anderen Fälle genügend Rechtsschutz vorsieht. Das Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge überwachen die Einhaltung und Durchsetzung der asylrechtlichen Bestimmungen. Die Bundesländer sind hier die richtigen Ansprechpartner; wir hatten dieses Thema heute schon. Die Innenminister sind tatsächlich in der Lage, einen gemeinschaftlichen Beschluss umzusetzen und durchzusetzen. Das zeigt das Beispiel Sri Lankas: Hier hat die Bundesregierung aus unserer Sicht richtig reagiert; sie hat die richtigen Entscheidungen getroffen. Es gibt den partiellen Abschiebestopp schon seit 2007; auch das haben wir heute schon gehört. Man darf nicht glauben - ich bin der Kollegin Pfeiffer dankbar, dass sie darauf hingewiesen hat -, dass man alle Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Boden klären oder heilen kann. Das ist ein Irrweg. An dieser Stelle zitiere ich gerne Karl Kraus, einen Satiriker und Schriftsteller: Es gibt Dinge, die sind so falsch, da stimmt noch nicht einmal das Gegenteil. ({3}) Hier geht es um genau diesen Denkansatz: Es kann nicht sein, dass die Menschenrechtspolitik eine Pflicht zu einem generellen Individualschutz auf diesem Boden vorsieht. Das würde nämlich zu einem regellosen Bleiberecht führen. ({4}) Ein regelloses Bleiberecht würde eine Zuwanderungspolitik durch die Hintertür sein. Vielleicht geht es der Linken genau darum, unter dem Deckmäntelchen der Menschenrechte eine bestimmte Zuwanderungspolitik zu verfolgen. Darauf muss man leider hinweisen. ({5}) Es ist ein ehrenwertes Anliegen; aber die parteipolitische Zielrichtung ist nun einmal zu erkennen. Wir müssen deutlich sagen: Es gibt einen ausreichenden rechtlichen Rahmen für die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Wir haben das gesetzlich geregelt; wir müssen und werden die Gesetze anwenden. Die Zuwanderungspraxis in Deutschland ist an dieser Stelle ausreichend ausgestaltet. ({6}) Es geht um Einzelfälle, die wir anprangern können und müssen. Natürlich gibt es einen Grund, auf jeden Einzelfall hinzuweisen, in dem die Todesstrafe droht. Trotzdem sollten wir nicht den Eindruck erwecken, dass wir alle Probleme lösen können. Ich bitte darum, den Einsatz für die Menschenrechte nicht immer mit einem parteipolitischen Kalkül zu verbinden. Das ist mit Sicherheit der völlig falsche Weg. Bei den Anträgen der Opposition fällt auf, dass es komischerweise einen Zusammenhang gibt zwischen den Berichten über Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern und der Tatsache, dass man doch immer wieder darauf hinweist, dass sie kulturell bedingt seien. ({7}) Man kann das kulturrelativistische Kritik nennen. Das bedeutet, dass die Kritik immer dann etwas leiser ist, wenn es um Länder geht, wo Menschenrechtsverletzungen nicht in das parteipolitische Kalkül hineinpassen. Die Stichworte China, Nordkorea und Kuba sind alle schon gefallen. ({8}) Damit tun wir der Debatte in diesem Land für die Durchsetzung dessen, was wir in anderen Ländern leisten müssen, keinen Gefallen. Ich glaube, dass es die Menschen dieser Welt verdient haben, dass wir es mit dem Thema Menschenrechte ehrlich meinen, dass wir den Einzelfall betrachten und das tun, was wir tun können. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Burkhard Lischka ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während ich diese Debatte verfolge, drängt sich mir zwangsläufig die Frage auf: Ist es denn so schwer, sich gemeinsam hinter einem Ziel zu versammeln? Die Einhaltung der Menschenrechte ist auch in Zukunft die Messlatte der deutschen Entwicklungspolitik. Darum geht es uns in unserem Antrag, der heute zur Abstimmung steht. Wirkt Entwicklungshilfe? Sie wissen, diese Frage wird teilweise sehr heftig diskutiert. Entwicklungshilfe wirkt vor allen Dingen dort gut, wo sie zum einen gute Regierungsführung unterstützen kann und wo sie sich zum anderen auf gute Regierungsführung stützen kann. Auf Dauer kann kein Entwicklungsprojekt besser sein als die Rahmenbedingungen, in die es eingebettet ist. Wenn Menschenrechte, wenn Freiheitsrechte mit Füßen getreten werden, dann kann Entwicklungspolitik langfristig nicht zu positiven Ergebnissen führen. ({0}) Wenn Menschen beispielsweise zum Abbau von Bodenschätzen von den Ländereien vertrieben werden, die ihre Lebensgrundlage bilden, dann kann sich Entwicklungspolitik mühen, wie sie will: Sie wird Stückwerk bleiben. Sie wird nicht nachhaltig dazu beitragen können, dass sich die Lebenssituation der Betroffenen verbessert. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist auf mündige Betroffene angewiesen, auf Akteure, die ihre eigene Entwicklung mitgestalten können; denn solche Akteure vor Ort wissen am besten, wo angesetzt werden muss, damit sich ihre Situation verbessert. Weil das so ist, sind die Menschenrechte auch in der Entwicklungspolitik das A und O. Für einen Analphabeten und einen hungernden Menschen ist beispielsweise die Pressefreiheit zunächst kein primäres und existenzielles Grundrecht. Dennoch lässt sich belegen, dass es in Staaten, in denen es Pressefreiheit gibt, seltener zu schweren Hungersnöten kommt. Wo jede Form öffentlicher Kritik fehlt, haben die Herrschenden nicht zu befürchten, dass sie die Konsequenzen für ihr Versagen bei der Verhinderung von Hungersnöten tragen müssen. Das ist der Zusammenhang, um den es heute ebenfalls geht. Nach wie vor gilt: Armut und Verletzung von Menschenrechten sind zwar zwei Farben, aber in ein und demselben Bild. ({1}) Weltweit leiden 3 Milliarden Menschen unter bitterster Armut und müssen mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag ums Überleben kämpfen. 4 Milliarden Menschen, das sind zwei Drittel der Menschheit, haben keinen Zugang zur Justiz. Zwischen diesen Zahlen bestehen Zusammenhänge: Wer tagtäglich ums Überleben kämpft, wer nicht lesen und schreiben kann, dem wird es schwerfallen, seine Rechte einzuklagen und sein Leben in Not zu überwinden. Andersherum ist Armut häufig die Folge von Diskriminierung, eines ungerechten Zugangs zu Ressourcen und das Ergebnis einer ungerechten Verteilung. Insofern ist Armut vielerorts gleichzeitig Ursache und Folge von Menschenrechtsverletzungen. Das heißt aber auch: Armut ist kein Schicksal, sondern von Menschen gemacht. Sie ist häufig die Folge eklatanter Menschenrechtsverletzungen. Dagegen kann man etwas tun. Dagegen wollen wir etwas tun. Deshalb haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt. ({2}) Für uns Sozialdemokraten muss Entwicklungszusammenarbeit deshalb immer wieder versuchen, Auswege aus politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unterdrückung zu eröffnen. Sie muss dazu dienen, Hunger zu bekämpfen, aber auch Ausbeutung und Ressourcenzerstörung. Sie muss Freiheits- und Bürgerrechte unterstützen. Sie muss soziale Mindestnormen und soziale Gerechtigkeit einfordern. Menschenrechtspolitik bedeutet aber auch, außerhalb der Entwicklungspolitik diese Ziele zu verfolgen. Fortschritte in Entwicklungsländern sind sehr häufig auch von äußeren Faktoren abhängig, wie beispielsweise einer fairen Weltwirtschaft. Hier tragen die großen Industrieländer eine besondere Verantwortung, weil sie die internationalen Spielregeln maßgeblich bestimmen. Entwicklungspartnerschaft darf sich aber nicht dann in Wohlgefallen auflösen, wenn die Eigeninteressen der Industrieländer tangiert sind. Hier sollten Chancengleichheit und Fairness unser Kompass sein. Ich hoffe, dass die Koordinaten dieser Politik nicht durcheinandergeraten, wenn in Zukunft die Außenwirtschaftsförderung nach dem Willen der Koalition stärker das Maß der Dinge auch in der Entwicklungspolitik ist; denn wo Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungspolitik miteinander verquickt werden, da können Menschenrechte sehr schnell ins Hintertreffen geraten. Das ist unsere große Sorge. ({3}) Hinter Erreichtes sollten wir nicht zurückfallen. Deshalb appelliere ich an die Bundesregierung, insbesondere an den zuständigen Minister Niebel: Setzen Sie den Aktionsplan für Menschenrechte, der bis zum Jahr 2010 Gültigkeit hat, ohne Wenn und Aber um und entwickeln Sie einen Folgeplan! Das sind Sie den vielen Millionen Menschen, die hungern und unter Menschenrechtsverletzungen leiden, schuldig. Danke schön. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sabine Weiss ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Anträge und der Verlauf der Debatte zeigen glücklicherweise immer noch: Das Thema Menschenrechte ist grundsätzlich unser gemeinsames Thema. Quer durch die Fraktionen besteht Einigkeit darin: Die Durchsetzung der Menschenrechte weltweit ist unsere gemeinsame Aufgabe. Die verbale Einigkeit stimmt mich hoffnungsvoll, dass dies auch in der laufenden Legislaturperiode so bleibt. Von daher will ich nicht polarisieren oder Gräben aufreißen. Dazu ist dieses Thema viel zu wichtig. ({0}) Viele der Forderungen in dem SPD-Antrag betrachten wir in der Tat als gemeinsame Übereinkunft. ({1}) Viele der aufgestellten Forderungen werden in der alltäglichen Praxis bereits verwirklicht: Stärkung guter Regierungsführung, Stärkung der Eigenverantwortung und Stärkung der Selbsthilfekräfte der Entwicklungsländer. Gerade das sind doch die Schlüsselbereiche deutscher Entwicklungszusammenarbeit. ({2}) Die nachhaltige Bekämpfung von Armut und Strukturdefiziten im Sinne der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen steht im Koalitionsvertrag, und der ist nun einmal die Richtschnur für unser Regierungshandeln. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Zweifel am Willen der schwarz-gelben Regierung haben, erinnern Sie sich doch einfach daran: Es war unsere Kanzlerin Angela Merkel, die nach den Jahren von Rot-Grün das Thema Menschenrechte erstmals wieder offen und klar in die deutsche Außenpolitik eingebracht hat. ({3}) Ich sage es noch einmal: Dieses Thema ist unser gemeinsames Thema. Wir müssen uns bei diesem Thema von der SPD aber nicht extra anschieben lassen. Auch die Kolleginnen und Kollegen von der Linken täten meiner Ansicht nach gut daran, sich bei dem Thema ein wenig in Demut zu üben. ({4}) Wenn Sie in Antrag und Debatte einen so forschen und selbstgerechten Ton anschlagen, ({5}) könnte man mit Blick auf Ihre Parteivergangenheit schnell zum Bild vom Glashaus und den Steinewerfern kommen. ({6}) Die Worte Frieden, Freiheit und Menschenrechte aus Ihrem Munde kämen glaubwürdiger herüber, wenn sie mit etwas mehr Nachdenklichkeit und Selbstreflexion über die SED-Vergangenheit Ihrer Partei ausgesprochen würden. ({7}) Die universellen freiheitlichen Menschenrechte gehören zu den Grundlagen unserer Zivilisation. Wir wollen sie in größtmöglicher Einigkeit durchsetzen und verteidigen. ({8}) Wir sollten das Thema auch nicht auf den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit einengen; natürlich gehört es auch da hin. Das fängt bei so klaren Fällen wie ausbeuterischer Kinderarbeit an und geht bis zu dem großen Begriff von Good Governance, der alle Bereiche staatlichen Handelns umfasst. Es schließt aber auch das privatwirtschaftliche Engagement ein. Wir wissen, dass gerade das mittelständische Engagement in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern für Arbeitsplätze, Bildung und verbesserten Wohlstand sorgt. ({9}) Damit dies nicht auf Kosten der Menschen vor Ort passiert, wollen wir die Unternehmen unterstützen, die sich in ihrem Rahmen für bessere und gerechtere Produktionsbedingungen engagieren. ({10}) Entwicklungsrelevanz ist hier der Schlüsselbegriff. Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte müssen wir zusammen sehen, und das sieht die Regierung auch so. Unser Antrag und die entsprechenden Passagen des Koalitionsvertrages zeigen dies ganz klar und deutlich. Der Antrag der Opposition reflektiert eher die letzten Regierungsjahre der Sozialdemokraten, ein rotes Best990 Sabine Weiss ({11}) of. Aber das Thema ist umfassender. Deshalb haben wir unseren Antrag wesentlich breiter angelegt. Nach meiner Auffassung schließen wir damit das Anliegen des SPDAntrages ein, stellen das Ganze aber in einen größeren Zusammenhang. Die Menschenrechte gehören weltweit geschützt, nicht aber eng fokussiert auf die Entwicklungszusammenarbeit. Uns geht es - das ist angeklungen - unter anderem um die Todesstrafe, und zwar überall, in den USA genauso wie in China oder im Iran. Uns geht es um den Schutz von Kindern, Frauen und Homosexuellen. Über Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung und Todesstrafe für Homosexuelle wie im Iran oder möglicherweise bald in Uganda dürfen wir nicht als Frage der kulturellen Identität diskutieren und es damit einfach hinnehmen. ({12}) Uns geht es um elementare Freiheitsrechte, Religionsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit, Schutz vor Diskriminierungen. Da blicken wir kritisch in alle Richtungen: nach Guantánamo genauso wie nach Kuba. Wir befürworten den Bau von Moscheen und Hindutempeln in unserem Land. Aber wir wollen auch, dass christliche Kirchen überall auf der Welt ohne Angst errichtet werden können. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir, einen Aspekt zu nennen, der mir persönlich sehr wichtig ist. Wir fordern zu Recht Good Governance von den internationalen Partnern, die von uns Hilfe und Unterstützung erwarten. Wir wenden uns zu Recht gegen Teppiche, an denen das Blut von unzähligen Kinderhänden klebt, um es einmal plastisch auszudrücken. Wir fordern zu Recht, dass Menschenhandel, Sklaverei und Ausbeutung geächtet werden. Ich selbst habe als Anwältin etliche Prozesse zum Thema Menschenhandel geführt und dabei mitbekommen, dass es überhaupt nicht ausreicht, mit dem Finger ins Ausland zu zeigen und dort nach staatlichen und wirtschaftlichen Verbesserungen zu rufen. ({14}) Die Teppiche, an denen Blut klebt, die Grabsteine aus Sklavenarbeit und die verschleppte, zur Prostitution gezwungene Frau zum Beispiel aus Fernost haben eines gemeinsam: Es gäbe sie nicht, wenn es hier nicht auch den Markt und die Käufer gäbe. ({15}) Da wird der Schutz der Menschenrechte weltweit zu einem Problem ganz nah. Da müssen wir mentale Entwicklungshilfe im eigenen Land betreiben. Auch dies gehört zum Thema dazu. Am 10. Dezember wurde der Tag der Menschenrechte begangen. Aus diesem Anlass nehmen wir uns Gott sei Dank die Zeit, im Deutschen Bundestag über dieses Thema zu diskutieren. Die Regierungsfraktionen haben dazu einen Antrag gestellt, der ebenso deutlich wie umfassend die Position markiert, mit der Deutschland in der Weltgemeinschaft sowohl in der Entwicklungszusammenarbeit als auch darüber hinaus in allen anderen Politikfeldern auftreten und handeln will. Von daher werbe ich um Zustimmung zu unserem Antrag. Mehr noch werbe ich aber um Ihre Hilfe, Ihren Mut und Ihren Einsatz, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. Schönen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Liebe Frau Weiss, das war Ihre erste Rede hier im Plenum. Dazu gratulieren wir Ihnen, verbunden mit dem Hinweis, dass wir die Redezeit normalerweise einigermaßen einhalten. ({0}) Beim zweiten Mal wird Ihnen das sicher besser gelingen. Alles Gute für Ihre Arbeit hier! ({1}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/257, 17/236, 17/237, 17/68 und 17/157 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 9 f. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Menschenrechte als entwicklungspolitische Quer- schnittsaufgabe fortführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/272, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/107 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Frak- tionen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Dage- gen haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die SPD-Fraktion und einige Mitglieder der Fraktion Die Linke gestimmt; andere Mitglieder der Fraktion Die Linke haben sich enthalten. Tagesordnungspunkt 9 g. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechte in Sri Lanka stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/273, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/124 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschluss- empfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt tionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen. Ich komme jetzt zurück zu den Gremienwahlen und gebe Ihnen die Ergebnisse bekannt. Zunächst zur Wahl der Mitglieder des Wahlausschus- ses gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesver- fassungsgericht: Abgegebene Stimmen 589, gültige Stim- men 586, Enthaltungen 1, ungültige Stimmen 3. Auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU entfielen 230 Stimmen, auf den der Fraktion der SPD 132 Stim- men, auf den der Fraktion der FDP 92, auf den der Frak- tion Die Linke 67 und auf den der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen 64 Stimmen.1) Ich komme zur Wahl der Mitglieder des Richterwahl- ausschusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes: Abge- gebene Stimmen 584, gültige Stimmen 583, Enthaltun- gen 1, ungültige Stimmen 1. Von den gültigen Stimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/ CSU 229 Stimmen, auf die der Fraktion der SPD 132 Stimmen, auf die der Fraktion der FDP 90, auf die der Fraktion Die Linke 67 und auf die der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 64 Stimmen.2) Bei der Wahl des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung sind 587 Stimmkar- ten abgegeben worden. Gültig waren 587. Von den gülti- gen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Norbert Barthle 480 Stimmen, auf den Abgeordneten Herbert Frankenhauser 480 Stimmen, auf den Abgeordneten Jürgen Herrmann 473 Stimmen, auf den Abgeordneten Klaus- Peter Willsch 478 Stimmen, auf die Abgeordnete Petra Merkel 497 Stimmen, auf den Abgeordneten Carsten Schneider 506 Stimmen, auf den Abgeordneten Christian Ahrendt 491 Stimmen, auf den Abgeordneten Heinz- Peter Haustein 502 Stimmen, auf den Abgeordneten Steffen Bockhahn 388 Stimmen und auf den Abgeordne- ten Alexander Bonde 483 Stimmen. Ich gratuliere an die- ser Stelle insbesondere dem Kollegen Haustein.3) ({2}) Zur Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes. Abgegebene Stimmkar- ten 587, davon gültig 587. 2 Enthaltungen hat es gegeben. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordne- ten Norbert Barthle 480, auf den Abgeordneten Norbert Brackmann 472, auf den Abgeordneten Alexander Funk 468, auf den Abgeordneten Bartholomäus Kalb 484, auf den Abgeordneten Johannes Kahrs 462, auf den Abge- ordneten Carsten Schneider 499, auf den Abgeordneten Otto Fricke 503, auf den Abgeordneten Joachim Spatz 484, auf die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch 414 und auf den Abgeordneten Alexander Bonde 484 Stimmen.4) Ich habe offenbar vergessen, etwas zu verlesen; das muss ich gerade noch nachholen. Ich muss noch verkün- 1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 8 2) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 9 3) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 10 4) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 11 den, dass nach dem Höchstzahlverfahren von d’Hondt auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 5 Mitglieder, der Fraktion der SPD 3 Mitglieder, der Fraktion der FDP 2 Mitglieder, der Fraktion Die Linke 1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1 Mitglied entfallen. Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht sind die Mitglieder des Wahlausschusses in der Reihenfolge gewählt, in der ihr Name auf dem Wahlvorschlag erscheint. Die Namen der Gewählten entnehmen Sie bitte den Drucksachen 17/214 bis 17/218. Jetzt komme ich noch einmal zum Richterwahlausschuss; da fehlte die gleiche Verkündung. Nach d’Hondt entfallen auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/ CSU 7 Mitglieder, der Fraktion der SPD 4 Mitglieder, der Fraktion der FDP 2 Mitglieder, der Fraktion Die Linke 2 Mitglieder und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1 Mitglied. Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die Mitglieder und ihre Stellvertreter in der Reihenfolge gewählt, in der ihre Namen auf den Wahlvorschlägen erscheinen. Hier entnehmen Sie die Namen der gewählten Mitglieder und deren Stellvertreter bitte den Drucksachen 17/219 bis 17/223. Jetzt komme ich zu Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze - Drucksachen 17/23, 17/204 Berichterstattung: Abgeordneter Sebastian Blumenthal Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich gebe als Erstem dem Kollegen Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({4})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte diesem Antrag, in dem es um die Kinderregelsätze geht, gleich den Wind aus den Segeln nehmen. Wenn wir über Kinder reden, reden wir über ein Thema, das für die Zukunft dieses Landes von überragender Bedeutung ist. Deshalb sollten wir sachlich reden. Zur Sachlichkeit gehört aber, darauf hinzuweisen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in diesen Tagen mit der Frage der Regelsätze beschäftigt. Wir erwarten jetzt für Anfang des Jahres ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht. Im Oktober gab es schon eine Anhörung. Bei dieser Anhörung kam heraus - ich habe das zumindest so verstanden; auch zwischen den Zeilen -, dass das Bundesverfas992 sungsgericht die Regelsatzbemessung überprüft. Diese Überprüfung sollten wir abwarten. Es macht keinen Sinn, jetzt über Kommissionen zu debattieren, wenn wir gar nicht wissen, welche Vorgaben es gibt. Deshalb werden wir, die CDU/CSU-Fraktion, diesen Antrag der Fraktion Die Linke schlicht und einfach ablehnen. ({0}) Lassen Sie mich an dieser Stelle gerne auch eine grundsätzliche Bemerkung zu diesem Thema machen. Wenn Sie das Thema Kinderregelsätze ansprechen, geht es natürlich auch um das Kernproblem Kinderarmut in Deutschland. ({1}) Wenn wir über Kinderarmut reden, dann heißt das für uns, für die Christlich Demokratische Union, nicht nur Kinderarmut im finanziellen Sinne, sondern auch im nichtfinanziellen Sinne: die Nichtteilhabe an der Gesellschaft, das Ausgeschlossensein, das Nicht-partizipierenKönnen. Dieses Problem gehen wir an und müssen wir angehen. Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass die Eltern dieser Kinder oftmals von Leistungen nach dem SGB II leben. Ich will Ihnen nur einmal eine Zahl „vor die Füße werfen“: Rund 50 Prozent der Kinder, deren Eltern von Leistungen nach dem SGB II leben, befinden sich in Kinderarmut oder sind von Kinderarmut bedroht, während es nur - ich bitte, das „nur“ in ganz große Anführungsstriche zu setzen - 8 Prozent der Kinder sind, bei denen zumindest ein Elternteil in Vollzeit arbeitet. Das heißt, der Schlüssel liegt vor allem bei den Eltern. Wir müssen versuchen, die Betroffenen wieder in Arbeit zu bringen, damit wir aus dieser Situation herauskommen. ({2}) Ich sage Ihnen jetzt auch noch etwas ganz offen und ohne Parteipolitik: ({3}) Wir müssen uns noch stärker als bisher um die spezifischen Probleme dieser Arbeitslosen kümmern, und das werden wir auch tun. Frau von der Leyen war im Ausschuss, und wir haben mit ihr gesprochen. Sie wird uns dabei unterstützen. Es gibt Probleme, beispielsweise bei den Alleinerziehenden. Rund 40 Prozent der Alleinerziehenden beziehen Leistungen nach dem SBG II. Das sind zu viele. Dieses Problem müssen wir angehen - das hat Frau von der Leyen erkannt, und das hat auch unsere Fraktion erkannt -, ({4}) das werden wir auch verlässlich und konsequent tun. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns mit Beiträgen dabei unterstützen würden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kinderregelsätze müssen neu bemessen werden. Da stimmen wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, zu. Es ist nicht in Ordnung, dass die Bedarfe für Kinder pauschal von denen eines alleinlebenden Erwachsenen abgeleitet werden. ({0}) Dies haben wir schon in der letzten Legislaturperiode bemängelt, und wir haben das Ministerium aufgefordert, eine bessere Lösung vorzulegen. ({1}) Ich erinnere an die Anhörung vom 16. Juni 2008 zu diesem Thema. Die Experten waren sich durchweg einig, dass wir eine genauere Bemessungsgrundlage für die Kinderregelsätze benötigen. Wie aber sollte diese aussehen? Es gab eine große Übereinstimmung, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die für die Ermittlung der Erwachsenenregelsätze zugrunde gelegt wird, auch bei den Kindern anzuwenden. Das ist der richtige Ansatz, wenn man in der Systematik der bisherigen Bemessung der Grundsicherung bleiben will. Leider wird die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe nur alle fünf Jahre erhoben. Das ist ein zu langer Zeitraum. Auch darin waren wir uns einig. Die letzte Erhebung stammt aus dem Jahr 2003. Wir haben das Ministerium gebeten, trotzdem probeweise eine Neubemessung der Kinderregelsätze auf Grundlage der vorhandenen Daten durchzuführen. Das Ministerium hat das hinbekommen und die Kinderregelsätze auf Grundlage einer EVS-Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes neu berechnet. Da es bei einigen Verbrauchspositionen, zum Beispiel bei Lebensmitteln, schwierig ist, den genauen Kindsbedarf herauszurechnen, wurden die Ausgaben für Kinder mittels eines von Wissenschaftlern entwickelten Verteilungsschlüssels ermittelt. ({2}) Es stellte sich heraus, dass nachjustiert werden musste. Die Kinderregelsätze wurden erhöht, und es wurde eine dritte Altersstufe für die 6- bis 13-jährigen eingefügt. Hiervon haben rund 810 000 Kinder in der Grundsicherung und 13 000 Kinder in der Sozialhilfe profitiert. ({3}) Auf unseren Druck wurde in der Großen Koalition auch das Schulbedarfspaket von 100 Euro pro Schuljahr bis zum Abitur für Schülerinnen und Schüler aus hilfsbedürftigen Familien auf den Weg gebracht. ({4}) Ein weiterer wichtiger Schritt unter Schwarz-Rot war die Erhöhung und Neuberechnung des Wohngeldes. In Kombination mit dem Kinderzuschlag haben wir für viele Familien eine Besserstellung erreicht. Wenn wir uns darauf verständigen, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe langfristig Grundlage für die Bemessung der Kinderregelsätze sein soll, dann müssen wir Druck auf die neue Regierung machen, dass erstens der Erhebungszeitraum für die EVS verkürzt, zweitens der tatsächliche Verbrauch für Kinder genauer erfasst und drittens die nötige Transparenz bei der Bewertung von Verbrauchspositionen geschaffen werden. Auch die Wiedereinführung von Einmalhilfen für besondere Bedarfe sollte aus meiner Sicht geprüft werden. ({5}) Dass wir dafür tatsächlich eine Kommission benötigen, wie Sie sie fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, glaube ich eher nicht. Wer sollte diese Kommission einsetzen? Wie groß sollte sie sein? Wer sollte dieser Kommission angehören? ({6}) Im Übrigen - darauf hat auch der Kollege von der CDU/ CSU schon hingewiesen - wird voraussichtlich schon im Januar oder Februar das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze und auch über die Bedarfsermittlung für Kinder urteilen. Wir sollten dieses wichtige Urteil abwarten. Angemessene Kinderregelsätze sind das eine. Ebenso wichtig ist es aber auch, die Infrastruktur für Kinder in Deutschland insgesamt zu verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie zitieren in Ihrem Antrag einen Bundesratsbeschluss vom 7. November 2008. Die Länder fordern die Bundesregierung hierin auf, die Regelleistungen für Kinder neu zu bemessen und auch die Mittagsverpflegung an Ganztagsschulen und das Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag bei den Regelsätzen zu berücksichtigen. Wenn ich ein Bundesland wäre, würde ich es vielleicht genauso machen. Denn so kann man bequem die eigene finanzielle Verantwortung an andere weiterreichen. Das sollten wir den Ländern nicht durchgehen lassen. ({7}) Richtig ist aber auch, dass die Länder und Kommunen die erforderliche Finanzausstattung benötigen, um ihren Verpflichtungen nachkommen zu können. Ich komme aus Schleswig-Holstein, einem wunderschönen, aber leider auch bettelarmen Bundesland. Hier hat die Landesregierung aus CDU und FDP erkannt, was die Steuersenkungspläne ihrer Parteikollegen auf Bundesebene für Schleswig-Holstein und die anderen Bundesländer bedeuten. Es ist ganz richtig, dass sich Ministerpräsident Peter Harry Carstensen mit aller Macht gegen diese Pläne stemmt. 4 Milliarden Euro werden die Länder durch dieses kontraproduktive Gesetz weniger in der Kasse haben. Dieses Geld fehlt für die Kinder, und vor allem für die Kinder, die am wenigsten haben. ({8}) Eines ist klar: Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird dazu führen, dass die Schulden beschleunigt weiter wachsen. Haushaltskonsolidierung wird so unmöglich gemacht, aber die Schuldenbremse steht als riesiges Schuldenstoppschild im Grundgesetz. Lieber Ministerpräsident Peter Harry Carstensen aus meinem schönen Schleswig-Holstein, lassen Sie sich Ihren Schneid nicht abkaufen! Bleiben Sie stark, und sagen Sie morgen im Bundesrat Nein zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz! ({9}) Wir haben das im Bundestag übrigens schon getan; denn natürlich wird es dem Bund nicht besser als den armen Bundesländern ergehen. Ab 2010 kostet das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Staat jedes Jahr insgesamt rund 8,5 Milliarden Euro. Eine Erhöhung der Regelsätze wird kommen; da bin ich mir sicher. Aber auch diese hat natürlich ihren Preis. Allein der Vorschlag des Paritätischen Gesamtverbandes für die Kinderregelsätze würde nach eigenen Angaben etwa 3 Milliarden Euro kosten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat darüber hinaus berechnet, dass eine Erhöhung der Regelleistung bei Erwachsenen von 358 auf 420 Euro den Bundeshaushalt mit weiteren rund 10 Milliarden Euro belasten würde. Ich bin gespannt, wie die schwarz-gelbe Regierung im Bund und wie die Länder ihrer sozialen Verpflichtung nachkommen wollen. Nach der Landtagswahl in NordrheinWestfalen werden wir schlauer sein; denn dann wird die Bundesregierung ihre Einsparkarten auf den Tisch legen. Die SPD-Fraktion wird sehr genau, aber auch sehr genau darauf achten, dass nicht die Armen in unserer Gesellschaft und erst recht nicht die Kinder diese Zeche zahlen müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, auch wir wollen, dass es wirksame, rechtssichere und eigenständige Kinderregelsätze in Deutschland gibt. Die Forderungen in Ihrem Antrag teilen wir aber nicht. Wir halten die Einsetzung einer Kommission und Ihre vorgeschlagene Zwischenlösung für nicht zielführend. Die SPDFraktion wird Anfang nächsten Jahres einen eigenen Vorschlag auf den Tisch legen, der so überzeugend sein wird, dass dann alle zustimmen können. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Reiner Deutschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kinder sind die Zukunft unseres Landes. So einfach diese Feststellung ist, so bildet sie doch die Grundlage unserer Diskussion. Wir alle wollen - ich denke, darüber herrscht Konsens -, dass unsere Kinder sorgenfrei und gut aufwachsen. Da dies nicht in allen Fällen gewährleistet ist, haben wir ein soziales Netz geschaffen. Gerade wenn es um Kinder geht, sollten wir an uns selbst hohe Anforderungen stellen. ({0}) Wir sollten uns die Zeit nehmen, eine Regelung zu finden, die bedürftigen Kindern eine ausreichende Unterstützung zukommen lässt. Wir sollten eine Regelung finden, die einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhält. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es ratsam ist, einen Sachverhalt auch einmal etwas aus der Distanz zu betrachten. Wenn man Deutschland aus der Entfernung betrachtet, dann findet man ein Land vor, das ein Netz der sozialen Absicherung aufweist, welches wir nur in sehr wenigen Ländern dieser Welt vorfinden. ({1}) Unsere soziale Marktwirtschaft vereint marktwirtschaftliche Mechanismen mit dem Sozialstaat. Ein Blick in den jeweiligen Bundeshaushalt zeigt die Intensität der sozialen Fürsorge unseres Staates. Nicht umsonst ist der Sozialetat der mit Abstand größte Haushaltsposten. Ich finde, dies sollte man wertschätzen, anstatt sich immer nur im Klein-Klein populistischer Kritik zu verlieren. ({2}) Gerade deshalb bekennt sich die FDP-Bundestagsfraktion ohne Wenn und Aber zur sozialen Marktwirtschaft. In unseren Augen gibt es hierzu keine Alternative. ({3}) Das schließt aber nicht aus, dass bestimmte Regularien verbesserungswürdig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat uns in der mündlichen Verhandlung vom 20. Oktober 2009 deutlich gemacht, dass wir einen Fehler beseitigen müssen. Schon das Bundessozialgericht hatte in der Vorinstanz die pauschalierte Berechnung der Kinderregelsätze gerügt. Diese Feststellung hat die FDP begrüßt. Klar ist, dass die prozentuale Ableitung des Regelsatzes für Kinder vom Satz des Erwachsenen von Anfang an nicht den Anforderungen an eine Bedarfsermittlung entsprach. ({4}) Wir Liberale haben schon immer die Ermittlung des tatsächlichen Bedarfs für zwingend erforderlich gehalten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nicht das erste Mal, dass sich der Deutsche Bundestag mit der Höhe der Hartz-IV-Regelsätze befasst. Es ist auch nicht das erste Mal, dass wir auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten. Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Linken als selbsterklärtes soziales Gewissen dieses Landes mit einem Antrag vorpreschen, bevor überhaupt klar ist, was der Deutsche Bundestag konkret unternehmen kann und muss. ({5}) Dabei krankt der Antrag der Linken an mindestens zwei sehr grundlegenden Problemen. Erstens ist überhaupt nicht klar, welche Vorgaben das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber, also uns, machen wird. Das Urteil wird im ersten Quartal 2010 erwartet. Vorher wissen wir schlicht und ergreifend nicht, wie die Kinderregelsätze zukünftig berechnet werden müssen. Allein das Gebot einer effizienten Gesetzgebung erfordert von uns, dass wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zunächst einmal abwarten und dann die Konsequenzen daraus ziehen. ({6}) Die Linke fordert zuerst Konsequenzen und wartet dann die tatsächliche Rechtslage ab. So kann und so wird Gesetzgebung mit uns nicht funktionieren, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion. ({7}) Zweitens basiert die geforderte Erhöhung auf den Berechnungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands - Gesamtverband. Grundlage sind aber veraltete Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, EVS, von 2003. Wir meinen, dass wir die Ergebnisse der EVS 2008 abwarten sollten, die 2010 veröffentlicht werden. Auf dieser Basis ließe sich der Bedarf von Kindern sicherlich weitaus präziser berechnen. Darüber hinaus berücksichtigt die Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für den Zeitraum von 2005 bis 2008 eine Erhöhung des Regelsatzes, die sich an der allgemeinen Preisentwicklung orientiert. Renten, Löhne und Gehälter orientieren sich dagegen an der allgemeinen Lohnentwicklung. Diese bleibt aber seit Jahren hinter der Preisentwicklung zurück. Damit würde die Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu einer Ungleichbehandlung in unserem Lande führen. Ein Solidarsystem lebt aber essenziell davon, dass es gerecht zugeht. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Sie ist den Menschen nur vermittelbar, wenn sie transparent, angemessen und gerecht erfolgt. ({8}) Das ist der Kitt der Solidarität, den wir nicht vernachlässigen sollten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch kurz zwei Anmerkungen zum Antrag der Fraktion Die Linke machen. Wir sollten uns fragen, wer die Berechnung des Kinderregelsatzes zukünftig durchführen sollte. Die Fraktion Die Linke orientiert sich in ihrem Antrag an den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Bei aller Wertschätzung der Leistungen des Paritätischen: Auch bei ihm handelt sich um eine Interessenvereinigung, die ganz bestimmte Partikularinteressen vertritt. ({9}) Wir Liberale finden, dass die Berechnung der Kinderregelsätze neutralen Stellen überlassen bleiben sollte. Die veraltete Datenlage und die noch nicht bekannten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts lassen auch die von den Linken geforderte umgehende Einrichtung einer Kommission zur Bedarfsermittlung als Schnellschuss erscheinen. Auch hier gilt es, zunächst die Rahmenbedingungen zu kennen, bevor wir ein Expertengremium zu einer teuren, aber letztlich nicht zielführenden Selbstbefassung veranlassen. ({10}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, Ihr Antrag gleicht einem Scheinriesen. Auf den ersten Blick erscheint er mächtig und groß, ({11}) aber auf den zweiten, näheren Blick zeigt sich, wie klein er wirklich ist, ({12}) dass er mit heißer Nadel gestrickt wurde und einer soliden Grundlage entbehrt. Unsere Fraktion wird diesen Antrag ablehnen. Danke. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Lieber Herr Deutschmann, das war Ihre erste Rede hier im Haus - mit perfektem Zeitmanagement. Herzlichen Glückwunsch dazu und viel Erfolg weiterhin! ({0}) Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Diana Golze für die Fraktion Die Linke. ({1})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Adventskalender meiner Kinder waren vier Türchen geöffnet, als die schwarz-gelbe Mehrheit in diesem Hause das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet hat, das hier schon mehrfach zur Sprache gekommen ist. Unter anderem - auch das wurde schon gesagt - hat dieses Gesetz zur Folge, dass zum Beispiel ich durch den Kinderfreibetrag für jedes meiner beiden Kinder bis zu 37 Euro mehr bekommen kann, dass meine Mitarbeiterin für ihre Tochter 20 Euro mehr Kindergeld bekommt, dass aber Millionen von Kindern in diesem Land von der Regierung zu Weihnachten gar nichts geschenkt bekommen. Diese Kinder sind auf den Kinderregelsatz oder auf den Unterhaltsvorschuss angewiesen. Auf beide Leistungen wird das Kindergeld voll angerechnet. Den Regierenden fällt nun nichts Besseres ein, als diesen Kindern zu erklären - ich zitiere - „dass sich Leistung in dieser Nation, in Deutschland, wieder lohnen muss“ und dass eine „steuerliche Entlastung … von Familien nach dem Leistungsprinzip der richtige Weg“ ist. So begründete es der Redner Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion in der Debatte über dieses Gesetz. ({0}) Ich frage: Wer gibt ihnen das Recht, zu sagen: „Kinder, ihr habt einfach die falschen Eltern. Ihr müsst von 3 Euro am Tag satt werden, und das Spielzeug zu Weihnachten könnt ihr euch auch nicht kaufen, weil dafür nun einmal nur 62 Cent im Monat vorgesehen sind. Ihr habt einfach Pech gehabt.“? Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Sozialgesetzbuch I beginnt mit den Worten: Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, … gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen … und besondere Belastungen des Lebens … abzuwenden oder auszugleichen. Genau das leistet der derzeit geltende Regelsatz für Kinder nicht. ({1}) Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Die Regelsätze für Kinder müssen sich am Leben von Kindern und an deren Bedürfnisse ausrichten. Sie dürfen nicht 60, 70 oder 80 Prozent eines schon ohnehin zu geringen Regelsatzes für Erwachsene betragen. Sie müssen sich vielmehr auf den Bedarf der Kinder beziehen. Genau das hat der Paritätische Wohlfahrtsverband in seiner Expertise gemacht. Ich zeige sie Ihnen noch einmal, weil ich die Befürchtung habe, dass einige in diesem Haus sie noch immer nicht kennen. Ich bitte Sie, sie sich einmal genau anzuschauen. Es sind belastbare und nachvollziehbare Zahlen. ({2}) Nun haben Sie im Ausschuss - das gilt auch für alle drei Vorrednerinnen und Vorredner - deutlich gemacht, warum Sie unseren Antrag ablehnen wollen. Unter anderem wurde argumentiert, dass Sie erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im nächsten Jahr abwarten wollen, bevor Sie eventuell eine Änderung bei den Kinderregelsätzen vornehmen. Schließlich könne es ja sein, dass das Gericht nur die Art der Berechnung, nicht aber die Höhe der Regelsätze bemängelt. Dies finde ich vor dem Hintergrund der Aussage eines weiteren Redners der Unionsfraktion in der Debatte zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz sehr bezeichnend. Dort sagte nämlich der Kollege Leo Dautzenberg zu den Änderungen beim Kinderfreibetrag und beim Kindergeld Folgendes - ich zitiere -: Dazu sind wir verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, sondern wir gehen sogar über die Vorgaben hinaus. Es ist unserer politischer Wille, darüber hinauszugehen und nicht immer durchs Verfassungsgericht getrieben zu werden, wenn wir der Entwicklung, was das Existenzminimum anbelangt, hinterherhinken. Wir tun genau das, was wir als politische Zielvorstellung haben. ({3}) Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, das tun Sie. Sie geben ohne Not den Vermögenden mit vollen Händen und warten bei den Ärmsten, bis das Bundesverfassungsgericht Ihnen aufgibt, wenigstens Almosen zu verteilen. Das ist Ihre politische Zielstellung. ({4}) Deshalb weigern Sie sich, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, die den Kinderregelsatz berechnet, wie es unser Antrag vorsieht. Deshalb weigern Sie sich, bis es diese Expertenkommission gibt und sie einen Vorschlag gemacht hat, die Kinderregelsätze auf das Niveau des Vorschlages des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes anzuheben. Deshalb wird es unter Schwarz-Gelb keinen Weg aus der Kinderarmut geben, und es wird kein Ende der schreienden Ungerechtigkeit bei der Behandlung von Kindern geben. Dagegen werden wir weiterhin etwas unternehmen müssen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt insbesondere von den Vertretern der Koalitionsfraktionen wortreiche Erklärungen gehört, warum sie die Anhebung der Regelsätze für Kinder in Haushalten von Langzeitarbeitslosen nicht wollen. ({0}) Der Tenor war: Abwarten! Abwarten, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat. Abwarten, bis die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ausgewertet ist. Abwarten, bis genug überlegt worden ist. Ich sage Ihnen: Wir sind der Gesetzgeber. Wir sind nicht gewählt worden, um abzuwarten, bis das Bundesverfassungsgericht ein Urteil spricht. ({1}) Das zeigt doch nur eines: Wenn es um Geldleistungen für Langzeitarbeitslose geht, sind Sie alle, wie Sie da sitzen, passive Klötze. ({2}) Wenn es allerdings darum geht, Familien mit sehr hohem Einkommen zu begünstigen, dann haben Sie offensichtlich weniger Schwierigkeiten, etwas zu tun. Ich zitiere, was Wolfgang Schäuble am 12. November dieses Jahres, also vor einem Monat, im Deutschen Bundestag zur Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes gesagt hat. Er sagte - Zitat -: Das ist wirklich eine sozial ausgewogene Maßnahme, die auch der Stärkung der privaten Nachfrage dient. ({3}) Es ist schon ein sehr merkwürdiges Verständnis von sozialer Ausgewogenheit, ({4}) wenn einerseits Spitzenverdiener gut 400 Euro netto im Jahr mehr haben und andererseits ALG-II-Bezieher, die für Kleinkinder gerade einmal 215 Euro pro Monat bekommen, keinen Cent mehr erhalten. Es ist ein sehr merkwürdiges und eigentümliches Verständnis von sozialer Ausgewogenheit beim Finanzminister und der Koalition, wenn einerseits ein Luxushotel wie das „Adlon“ durch die Mehrwertsteuerermäßigung jetzt 1,9 Millionen Euro pro Jahr Zusatzgewinn macht und andererseits die Reinigungskraft desselben Hotels, die wegen ihres niedrigen Lohns ergänzendes ALG II bezieht, für sich und ihre Kinder nicht einen Euro von der Kindergelderhöhung sieht. ({5}) Meine Damen und Herren, es ist beinahe schon dreist, wenn derselbe Herr Schäuble, der die Staatskassen zugunsten der gutbetuchten schwarz-gelben Klientel leeren will, heute verbreiten lässt, ab 2011 werde richtig gespart. So wie Sie von Union und FDP heute als Bedenkenträger gegen die Erhöhung von Kinderregelsätzen aufgetreten sind, kann man sich schon heute denken, wer dann wieder sparen muss, nämlich diejenigen, die bereits jetzt nur wenig Spielräume und Chancen haben. Wenn dank Ihrer Steuergeschenke im kommenden Jahr das Defizit beängstigend ansteigt, dann ahne ich schon jetzt, wer gemeint ist, wenn es dann heißen wird: Ja, jetzt müsse man sich wirklich einmal Gedanken darüber machen, was wir uns in Deutschland überhaupt noch leisten können. Meine Damen und Herren von der Koalition, wir sind uns sicherlich einig, auch mit einigen Sozialdemokraten, dass passive Leistungen alleine nicht ausreichen. Dennoch bleiben diese Voraussetzung für Teilhabe und auch für Aktivierung, auch wenn ich das Wort „Aktivierung“ mittlerweile nur noch sehr ungern in den Mund nehme; denn die Rede von der Aktivierung bleibt schal, wenn wirksame individuelle Hilfen ausbleiben. Wenn, wie das IAB vorgestern bestätigte, mehr als die Hälfte der Alleinerziehenden über drei Jahre ununterbrochen im ALG-II-Bezug stecken bleibt, dann stimmt offensichtlich etwas mit der individuellen Hilfegewährung nicht. ({6}) Gegenüber diesen Müttern, gegenüber diesen Alleinerziehenden sagen Sie dann: Ihr erhaltet nicht den Betrag, den ihr für den notwendigen Lebensunterhalt der Kinder bräuchtet. ({7}) Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie sind die letzten Mohikaner. Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, die Arbeits- und Sozialministerkonferenz haben festgestellt - künftig vermutlich sogar das Bundesverfassungsgericht -, dass die Festsetzung der Kinderregelsätze nicht in Ordnung ist. Nur Sie stehen noch allein in der Landschaft. Machen Sie das, was auch wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen: endlich einen klaren Schnitt. Wir Grüne wollen die Regelsätze für Kinder so anheben, dass sie der Lebenswirklichkeit näher kommen. Wir wollen des Weiteren einen eigenständigen Kinderregelsatz und in einem zweiten großen Schritt eine armutsfeste Kindergrundsicherung. Das sind klare Perspektiven - und nicht so ein jämmerliches Suchen nach Ausflüchten, wie Sie es hier darbieten. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Welche Erkenntnisse hat uns die heutige Debatte in Bezug auf die Frage gebracht: In welchem Umfang soll man diejenigen unterstützen, die selbst nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen können, insbesondere wenn es sich um Kinder handelt? Eine große Verantwortung liegt auf uns, die wir diese Frage beantworten müssen. Darüber sind wir uns sicherlich einig, ebenso darüber, dass wir diese Frage nie zur Zufriedenheit aller beantworten werden. Sie von der Linken fordern, die Regelsätze für Kinder anzuheben, und zwar nicht etwa um 2 oder 5 Prozent, sondern um 28 bis 32 Prozent, je nach Alter des Kindes. Das bedeutet für die 6- bis 14-jährigen Kinder zum Beispiel eine Erhöhung um 81 Euro auf 332 Euro im Monat. Klingt doch toll, oder? ({0}) Für mich ist das eine Politik nach dem Motto: „Wer bietet mehr?“, die die aktuelle Haushaltslage völlig ausblendet. Das ist nicht seriös. ({1}) Wir haben zwar bald Weihnachten, und Sie, liebe Kollegin Golze, haben ja berichtet, dass bei Ihnen das eine oder andere Türchen schon geöffnet wurde. Aber an dieser Stelle habe ich doch Zweifel an der Großzügigkeit und auch an der Leistungsfähigkeit unseres Christkinds. Wer wird die 2 Milliarden Euro aufbringen, die Ihre Forderung Jahr für Jahr kosten wird? ({2}) Das müssen unsere Bürger bezahlen. Das Bundesverfassungsgericht hat im zurzeit laufenden Verfahren Kritik vor allem an der Art der Ermittlung der Regelsätze geäußert. Was das Gericht über die Höhe der Regelsätze sagen wird, ist noch völlig offen. Mit dem Urteil ist - Sie haben es erwähnt - im ersten Quartal nächsten Jahres zu rechnen. Ich bin gespannt, welchen Weg das Gericht vorschlagen wird. Erst aus diesen Vorschlägen können wir neue Regelsätze ableiten; denn wir wollen eine verfassungsfeste Regelung. ({3}) Mir ist aus eigener Erfahrung mit drei Kindern in den letzten 19 Jahren klar, wie schwierig es sein wird, einen tatsächlichen Bedarf zu ermitteln. Dieser hängt nicht nur von der Zahl der Kinder und von deren Tages- und Wochenform ab, sondern auch von den Lebensgewohnheiten der Familie. Für den einen ist ein Wickeln fünfmal am Tag Standard; andere möchten unbedingt zwölfmal am Tag wickeln. ({4}) Für den einen sind Cola und Saft im Haus tabu; andere würden einen Verzicht darauf als Zumutung empfinden. So sieht das wahre Leben aus. Werte- und Konsumvorstellungen sind in Familien eben unterschiedlich. Wir sollten uns an dieser Stelle hüten, anderen vorschreiben zu wollen, wie sie leben und was sie ihren Kindern an materiellen Dingen zukommen lassen - im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, auch wenn diese Mittel von uns, vom Staat, zur Verfügung gestellt werden. Das passt nicht in mein und auch nicht in unser Menschenbild. Die Bundesregierung hat die Regelsätze für Kinder bisher mithilfe einer vergleichbaren Bevölkerungsgruppe festgelegt. Das bedeutet, Leistungsberechtigte sind nach den Sozialgesetzen heute so gestellt wie etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Leistungsberechtigte können somit ein Leben führen wie andere, die nicht von Sozialleistungen abhängig sind. Dieser Staat beweist damit als Sozialstaat hohe Qualität. ({5}) Tatsache ist: Die Daten, die den bisherigen Regelsätzen zugrunde liegen, basieren auf der größten Erhebung dieser Art innerhalb der Europäischen Union. Immerhin wurden die Aufwendungen von 75 000 Haushalten erfasst. Tatsache ist auch, dass es eine Sonderauswertung durch das Statistische Bundesamt gibt. Sie beruht auf der Studie „Kosten eines Kindes“ des Bundesfamilienministeriums. Die Regelsätze wurden zum 1. Juli dieses Jahres stärker nach dem Alter der Kinder differenziert. Kolleginnen und Kollegen, man muss die Frage auch in dem Kontext sehen, was der Staat an anderer Stelle für Kinder getan hat. Die Situation von Familien mit Kindern hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Ich erinnere an das Schulbedarfspaket und auch an den Kinderbonus in Höhe von 100 Euro, der dieses Jahr einmalig ausgezahlt wurde. Aber das Wichtigste ist: Wir sollten unsere Anstrengungen darauf richten, die Eltern, vor allem aber die alleinerziehenden Mütter, wieder unabhängig von staatlichen Leistungen zu machen. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht spricht eine deutliche Sprache: Armut bekämpft man am effektivsten dort, wo man die Menschen in Arbeit bringt. Die Zahlen sind eindrucksvoll - Dr. Carsten Linnemann hat bereits darauf hingewiesen -: In Haushalten, in denen kein Elternteil arbeitet, sind 48 Prozent der Kinder armutsgefährdet. Arbeitet ein Elternteil in Vollzeit, sind es nur noch 8 Prozent der Kinder. Wenn beide Eltern die Möglichkeit haben, Vollzeit zu arbeiten, beträgt das Risiko der Kinder, arm zu sein, nur noch 4 Prozent. Es gibt also eine Senkung des Armutsrisikos von 48 auf 4 Prozent alleine dadurch, dass beide Eltern die Chance haben, zu arbeiten. Verwenden wir also unsere Kraft dazu, Arbeit und Wachstum zu schaffen. ({6}) Dann werden in Zukunft mehr Menschen Leistungsträger sein und weniger Menschen von staatlichen Transferleistungen abhängig sein. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag der Linken ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Heil, das war auch für Sie die erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der wir Ihnen herzlich gratulieren. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit im Deutschen Bundestag. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/204, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/23 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Die Fraktion der SPD hat sich enthalten. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814 ({2}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({3}) vom 2. Juni 2008, 1838 ({4}) vom 7. Oktober 2008, 1846 ({5}) vom 2. Dezember 2008, 1897 ({6}) vom 30. November 2009 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union vom 10. November 2008 und dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2009 - Drucksachen 17/179, 17/274 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({7}) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/276 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven Kindler Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Verabredet ist, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Joachim Spatz für die FDP-Fraktion. ({9})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am 30. November dieses Jahres die völkerrechtliche Grundlage zur Piratenbekämpfung an der somalischen Küste verlängert. Am 8. Dezember hat auf dieser Grundlage die Europäische Union die Verlängerung von Atalanta beschlossen. Das Mandat dieser Operation bleibt im Wesentlichen das alte. Die Änderungen, die vorgenommen werden sollen, betreffen die Zusammenarbeit der somalischen Behörden mit den Atalanta-Kräften bei der Bekämpfung der illegalen Fischerei. Dies ist ein Thema, das schon bei der ersten Lesung angesprochen worden ist. Auf der Grundlage dieser Beschlusslage hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag ersucht, das Mandat zu verlängern, und zwar bis zum 18. Dezember nächsten Jahres. Nach einem Jahr kann man Zwischenbilanz ziehen. Wir sind der Auffassung: Die Operation ist ein voller Erfolg. 90 Piratenverdächtige konnten festgenommen werden. 88 davon wurden nach Kenia, 2 nach Spanien überstellt. Übrigens, 23 von ihnen sind durch die Besatzungen deutscher Schiffe aufgebracht worden. Alle Schiffe, die für das World Food Programme im Einsatz waren, sind durchgekommen. Die Sicherung der Handelsrouten ist verbessert worden. ({0}) Es gab zwar keinen Rückgang der Zahl der Versuche, aber einen Rückgang der Zahl der erfolgreichen Kaperungen, und das ist ein wichtiges Indiz. An dieser Stelle ein Wort zu den Linken. Sowohl bei Atalanta als auch bei Althea ist nach meiner Auffassung deutlich geworden, dass das kategorische Nein, das Sie auch bei diesen Mandaten vertreten, vielleicht bei so umstrittenen Entscheidungen wie jenen zu Afghanistan diskutabel ist. An dieser Stelle macht es aber eines klar: Sie argumentieren ergebnisbestimmt. Das heißt, Sie haben eine Parteilinie, die darauf abzielt, pazifistisch orientierte Menschen von den Grünen, der SPD oder wem auch immer abzuziehen. Da ist jedes Argument recht, das dazu führt, ein Nein zu begründen, sei es gerechtfertigt oder nicht. ({1}) Wenn Sie als Alternative zum militärischen Geleitschutz der World-Food-Programme-Schiffe zivilen Geleitschutz vorschlagen, kann ich dazu nur sagen: Damit schrecken Sie vielleicht Playmobil-Piraten ab, aber keine echten Piraten. ({2}) Das ist unseriös. Sie haben sich insbesondere bei der Debatte über Atalanta oder Althea aus der Seriosität verabschiedet und sich in die parteipolitische Taktiererei verirrt. ({3}) Natürlich sehen auch wir, dass die Wurzeln der Piraterie beseitigt werden müssen. Deshalb müssen wir den somalischen Staat wieder konsolidieren. Dabei müssen wir helfen. Denn jedem ist klar: Die Übergangsregierung allein kann das nicht schaffen. Wir unterstützen AMISOM, die Friedenstruppe der Afrikanischen Union, und wir werden, wie schon mehrfach gesagt, die Ausbildung von 2 000 somalischen Soldaten in Uganda vorantreiben. Sie betonen, dass die Ursachenbekämpfung wichtig ist, um die Piraterie im Kern zu treffen. Dabei ist eines von Bedeutung: Auch der militärische Einsatz vor Ort, der verhindert, dass es erfolgreiche Auszahlungen von Lösegeldern gibt, blockiert dadurch, dass weniger Geld ins Land fließt, die Erstarkung destabilisierender Kräfte, seien sie verbrecherischer oder terroristischer Art. Auch hier leisten wir also durch militärischen Beistand einen Beitrag zur Lösung des eigentlichen Problems, auch wenn wir wissen, dass politische Komponenten hinzukommen müssen. ({4}) Ein weiterer Punkt ist die Zusammenlegung der Mandate; auch das wurde gefordert. Das ist eines der Themen, die die FDP durchgesetzt hat. Die Bundesregierung arbeitet daran. Immerhin - das muss man wissen -: Nur 8 von 35 Schiffen, die dort operieren, gehören zu Atalanta. Sowohl NATO- als auch Nicht-NATO-Länder sind beteiligt. Sie alle zu integrieren, wird naturgemäß - auch Länder wie Indien oder China sind beteiligt - dazu führen, dass diese Koordination nicht so leicht zu bewerkstelligen sein wird, dass sie von heute auf morgen funktioniert. Aber auch hier bemüht sich die Bundesregierung um eine bessere Koordination. Das Fazit: Aus unserer Sicht ist die Mission erfolgreich. Sie ist aus politischer und humanitärer Sicht geboten. Unterlassene Hilfeleistung ist hier ein schlimmes Vergehen. ({5}) Weil es politisch und humanitär geboten ist, stimmen wir der Verlängerung des Mandates um ein Jahr zu. Ich bedanke mich. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Spatz, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen dazu sehr herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg. ({0}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn etwas sagen, was mir persönlich sehr wichtig ist: Egal ob wir, der Deutsche Bundestag, wie in der vergangenen Sitzungswoche über die Verlängerung der Mandate von ISAF und OEF oder wie heute von Atalanta und Althea entscheiden, egal wie stark der jeweilige Einsatz im Fokus des öffentlichen Interesses steht, egal ob wir für oder gegen die Verlängerung dieser Einsätze stimmen, eines sollte dieses Hohe Haus einen - ich sage das bewusst unter dem Eindruck der gestrigen Debatten -: der Respekt, die Wertschätzung und die Unterstützung für unsere Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien, die wir gemeinsam in solch schwere Auslandseinsätze schicken. ({0}) Wir alle haben eine Verantwortung wahrzunehmen, gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch bei Debatten hier im Haus. Das hohe Gut der Parlamentsarmee können wir gar nicht hoch genug schätzen. Es ist unsere Verpflichtung als Abgeordnete, mit dem hohen Gut der Parlamentsarmee verantwortungsvoll umzugehen, dieses Prinzip zu stärken und zu verteidigen. Bei einer Parlamentsarmee gehört es dazu, dass wir Abgeordnete nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Gerade deshalb haben wir das Recht und - ich betone - auch die Pflicht, alle Informationen einzufordern und dort, wo wir nicht ausreichend informiert wurden, aktiv zu werden. ({1}) Herr Minister zu Guttenberg, vor diesem Hintergrund will ich in aller Deutlichkeit sagen: Ich bin von Ihrem gestrigen Versuch enttäuscht, das Hohe Haus in seiner gemeinsamen Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten zu spalten; das lassen wir nicht zu. Wir Abgeordnete stehen gemeinsam zu unserer Verantwortung; wir stehen hinter unseren Soldatinnen und Soldaten, egal ob sie in Kunduz oder am Horn von Afrika im Einsatz sind. Die Sozialdemokratie wird ihrer Verantwortung auch dadurch gerecht, dass sie heute der Verlängerung des Atalanta-Mandats zustimmen wird. Dieser Einsatz ist nicht frei von Kritik; aber ich sehe ihn als notwendig an. Die humanitäre Situation in Somalia ist noch immer katastrophal; wir dürfen nicht wegsehen. Deswegen ist es richtig, dass wir begonnen haben, zu handeln. Atalanta ist ein Garant dafür, dass Hilfslieferungen die leidende Bevölkerung erreicht haben und die Situation auf der See stabilisiert wurde. Die Piraterie hat allerdings kein Ende genommen. Deswegen müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden. Lassen Sie uns also aufhören, zivile und militärische Maßnahmen gegeneinanderzustellen. Der Militäreinsatz verschafft Luft zum Handeln, wenn es darum geht, zivile Maßnahmen zu ermöglichen; die militärische Präsenz schreckt ab und dämmt ein. Zur Wahrheit gehört auch, dass die organisierte Piraterie nicht in die Opferrolle gesteckt werden darf. Wo Kriminalität begangen wird, muss sie konsequent und schnell bekämpft werden. Natürlich ist auch klar: Militärische Maßnahmen sind nicht die Lösung des Problems der Piraterie, erst recht nicht im Hinblick auf die Herausforderungen in Somalia. Ziel muss es sein, die Grundlage für eine friedliche Existenz in der Region zu schaffen. Deswegen brauchen wir eine ernsthafte politische Strategie, die Somalia eine Perspektive aufzeigt. Der Kampf gegen Hunger muss durch eigenständige Entwicklung ermöglicht werden. Der Aussöhnungsprozess in Somalia muss aktiv begleitet werden. Die Grundlagen für staatliche Strukturen in Somalia sind zu schaffen. Nur ein solch umfassender Ansatz kann dazu führen - das will ich betonen -, dass die somalische Bevölkerung eigene Verantwortung übernehmen kann. ({2}) Wir müssen mit den Anrainerstaaten an einer regionalen Sicherheitsstruktur arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Anrainerstaaten aktiv an der Piratenbekämpfung beteiligen und dass sie auch aktiv daran beteiligt sind, wenn es darum geht, die Entwicklung Somalias voranzutreiben. Militärisches Engagement ist kein Ersatz für Staatlichkeit und die innere Entwicklung Somalias. Deshalb ist zu begrüßen, dass die spanische Regierung angekündigt hat, während ihrer EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zu ergreifen, die einen umfassenden Sicherheitsbegriff beinhaltet. Ich betone es noch einmal: Das militärische Engagement muss dazu führen, dass sich die Staaten der Region ihrer Verantwortung stellen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich intensiv für die Schaffung eines internationalen Seestrafgerichtshofs einzusetzen, damit eine Verfolgung der Piraten stattfinden kann. ({3}) Wenn Straftaten begangen werden, muss sichergestellt sein, dass rechtsstaatliche Verfahren stattfinden können und auch Konsequenzen haben. Auch die Reedereien müssen wir stärker an ihre Verantwortung erinnern. Der Atalanta-Einsatz bedeutet auch, dass wir deutschen Unternehmen helfen, indem wir zivile Schifffahrts- und Handelswege sichern, aber das darf kein Freifahrtschein für diese Unternehmen sein. Deswegen müssen wir unsere Erwartungen an die Reedereien klar und deutlich formulieren. Lassen Sie uns an die Reedereien appellieren: Ihr habt selbst an eurer Sicherheit mitzuarbeiten, mit ausreichend technischen Maßnahmen, mit ausreichend Personal und vor allem dadurch, dass ihr euch an die vorgegebenen Routen und auch an die Konvoiplanung haltet. Alle haben eine Verantwortung, wenn es darum geht, der Piraterie entgegenzutreten. Deswegen müssen sich alle an die vereinbarten Spielregeln halten. ({4}) Wie meine Vorredner gestern und heute weise ich darauf hin, dass wir diese Mission noch optimieren können. Wir haben mit OEF, Active Endeavour, Atalanta und vielen nationalstaatlichen Missionen eine Parallelität an Einsätzen, die wir besser koordinieren müssen. Wir fordern deswegen die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass zumindest eine ständige Planungskonferenz aller beteiligten Seestreitkräfte und internationalen Akteure installiert wird, um eine Verbesserung der Koordination zur Bekämpfung der Piraterie zu erreichen. Die SPD-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Ich bitte Sie um die Unterstützung für unseren Entschließungsantrag. Nutzen Sie in der Regierung die breite Mehrheit hier im Parlament, aber auch international, um Atalanta in eine umfassende Sicherheitsstrategie einzubetten. Nur so kann die Piraterie bekämpft werden, nur so kann ihr der Nährboden entzogen werden, und nur so eröffnen wir Somalia eine Perspektive. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir an Piraten denken, dann kommen uns Karibik, Palmen, weiße Strände, Kokosnüsse, malerische Piratennester am Mittelmeer oder das Piratenschiff auf den Kinderspielplätzen in den Sinn. Aber mit all dem hat Piraterie überhaupt nichts zu tun. Piraterie ist ein brutales, organisiertes Verbrechen wie Drogenhandel, Menschenhandel und Schutzgelderpressung. Piraterie gibt es so lange, wie es Seefahrt gibt. Solange es Piraterie gibt, gibt es auch die Bekämpfung der Piraterie. In den 90er-Jahren gab es ein großes Piratenproblem in der Straße von Malakka. Weil 14 asiatische Staaten gemeinsam entschlossen gegen die Piraterie angekämpft haben, konnte sie dort erfolgreich zurückgedrängt werden. Auch am Horn von Afrika beteiligt sich eine große Zahl von Ländern an der Piratenbekämpfung, neben den Ländern der EU und NATO beispielsweise China und Russland. Dieser Antipirateneinsatz ist eine sehr bemerkenswerte Koalition zur Bekämpfung dieser Form des organisierten Verbrechens. Im Grunde kann man sagen: Die gesamte Weltgemeinschaft kämpft gegen die Piraterie, mit Ausnahme der Linken im Deutschen Bundestag, die die Brisanz offensichtlich noch nicht erkennen. ({0}) Lassen Sie mich die zwei Kernanliegen der Mission Atalanta unterstreichen. Zum einen ist der Einsatz der deutschen Marine unter humanitären Gesichtspunkten unverzichtbar. Wir haben bereits vom ersten Redner gehört, dass die Hilfsgüter für das Welternährungsprogramm meist mit Schiffen befördert werden, die sicher somalische Häfen erreichen. Im letzten Jahr waren es mehr als 300 000 Tonnen Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter. Damit konnten über 3 Millionen Menschen versorgt werden, die sonst möglicherweise verhungert wären. Die Teilnahme Deutschlands ist also moralisch geboten. Aber die Operation hat auch eine wirtschaftliche Grundlage. Für eine Exportnation wie Deutschland sind freie Handelswege unverzichtbar. ({1}) - Handel ist aber nichts Verbotenes, liebe Kollegen der Linken. Freie Handelswege helfen allen in der Welt. Ich weiß gar nicht, wo das Problem der Linken liegt. ({2}) Von diesem freien Seehandel hängen in der Exportnation Deutschland viele Arbeitsplätze ab, und davon hängt natürlich auch unser Wohlstand ab; denn wenn wir weder Produkte importieren noch exportieren, dann können wir nichts verbrauchen und brauchen auch nichts zu produzieren. ({3}) Deutschland ist eine große Seefahrernation. Das ist den Menschen, die mit ein bisschen Abstand zur Küste wohnen, gar nicht bewusst. ({4}) Mit 3 500 Schiffen hat Deutschland die drittgrößte Handelsflotte der Welt; außerdem hat Deutschland weltweit die größte Containerflotte. Diese Zahlen machen uns die Abhängigkeit von freien Seewegen klar. ({5}) Die Mission Atalanta liegt daher in unserem ureigenen Interesse. Es ist unbestritten, dass der militärische Einsatz auf See begleitet und durch politische Maßnahmen langfristig überflüssig gemacht werden muss. Aber auch dabei hilft diese Mission: Jeder von Piraten erpresste Euro, der nach Somalia fließt, macht die Lage dort instabil; denn jeder, der dadurch sein Geld verdient - ich meine nicht die Piraten, die armen Handlanger, sondern die Hintermänner, die reich werden -, hat überhaupt kein Interesse an stabilen Verhältnissen in Somalia. Jeder durch Piraterie erpresste Euro destabilisiert die Lage im Land, macht die Menschen arm und ist letztendlich die Grundlage des Hungers und der Gewalt in Somalia. Auch darum brauchen wir diese Mission. ({6}) Daher unterstützen wir selbstverständlich alle Maßnahmen und Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die den Aufbau legitimer staatlicher Strukturen in Somalia befördern. Zum Schluss möchte ich an die Besatzung erinnern, an die Männer und Frauen, die dort ihren Dienst tun. Zurzeit ist die Fregatte „Bremen“ vor Ort. Ich möchte aber auch an die Familien der Soldatinnen und Soldaten erinnern und ihnen danken. Im Grunde fahren die Frauen der Soldaten, die Männer der Soldatinnen und ihre Kinder mit in den Einsatz. Auch sie sollten wissen, dass wir ihnen danken und an sie denken. ({7}) Herr Minister, wir sollten darüber nachdenken, die Anerkennung der Leistungen der Soldatenfamilien auszuweiten. Bei der Marine bedeutet ein Einsatz häufig mehr als ein halbes Jahr Abwesenheit von der Familie. Wenn das Schiff, das die Fregatte ablösen soll, irgendein Problem hat, dauert ein Einsatz schnell noch einen Monat länger. Die Familien machen das mit. Wer zur See fährt, weiß, dass er länger abwesend ist. Trotzdem sollten wir hier eine Anerkennungskultur schaffen. ({8}) Lassen Sie uns diesen wichtigen Einsatz mit großer Mehrheit verlängern. An die Linken gerichtet, sage ich: Überlegen Sie noch einmal, ob Ihre Position wirklich richtig ist. Herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Christine Buchholz hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In ihrem Antrag beklagt die Bundesregierung die fehlende Staatlichkeit in Somalia; ({0}) das war schon in vielen bisherigen Beiträgen Thema. Fehlende Staatlichkeit ist die Folge genau jener neoliberalen Weltwirtschaftsordnung, ({1}) die Sie laut Koalitionsvertrag mit Ihrer Außen- und Verteidigungspolitik absichern wollen. Die Weltwirtschaftskrisen der 70er- und 80er-Jahre und die Zins- und Schuldenpolitik des Westens haben Somalia ökonomisch ruiniert und politisch destabilisiert. Die vom Internationalen Währungsfonds durchgesetzten Strukturanpassungsprogramme haben zu Massenentlassungen im öffentlichen Dienst Somalias geführt. Erst dadurch ist die Küstenwache aufgelöst worden, die Sie nun wieder aufbauen wollen. ({2}) Die ehemaligen Polizisten stellten neben ehemaligen Fischern in den letzten 20 Jahren den Hauptteil der Piraten. Es waren westliche Interventionen, bis hin zum direkten US-Einmarsch, die einen Bürgerkrieg angeheizt haben, der bis heute anhält. ({3}) Als sich ab dem Jahr 2000 eine Staatlichkeit zu entwickeln begann, haben europäische Regierungen alles getan, um diese zu zerstören; denn sie befürchteten, dass der neue Staat unter den Einfluss von China und Iran geraten könnte. ({4}) Deshalb verbündeten sich die Europäer mit den Warlords. Zu diesem Zweck unterstützte auch die Bush-Regierung 2006 die äthiopische Invasion. Dabei sind 40 000 Somalis getötet worden, und es gab keinen Aufschrei der Empörung seitens der Bundesregierung. ({5}) Ihnen geht es nicht um Staatlichkeit als solche. Die Staatlichkeit soll prowestlich sein, und wenn das gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden muss, dann sind Sie wieder einmal bereit, mit verbrecherischen Warlords zusammenzuarbeiten, wie auch in Afghanistan. ({6}) Somalia ist Spielball der Interessen der Weltmächte. Kurt Bodewig von der SPD hat als Maritimer Botschafter der Europäischen Union kürzlich betont, die wirtschaftliche Bedeutung der Region könne daran gemessen werden, dass es sich um einen der meistbefahrenen Seewege der Welt handele, über den die Hälfte der weltweiten Öllieferungen transportiert werde. Die Leidtragenden sind die Menschen in Somalia. Die Arbeit der humanitären Hilfsorganisationen in Somalia ist wichtig. Ich zolle deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Respekt, die unter schwersten Bedingungen ihre Arbeit machen, auch zu Weihnachten und weit weg von zu Hause. ({7}) Aber die Entwicklungs- und Hilfsorganisationen lesen nur die Scherben auf, die andere verursacht haben. Die Urheber dieser Scherben sind dieselben, die nun die ArChristine Buchholz beit der Hilfsorganisationen zum Vorwand nehmen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. ({8}) Wenn es Ihnen nur um den Schutz der Nahrungstransporte gehen würde, würden Sie kleine Gruppen von Bewaffneten die Schiffe schützen lassen. Das macht zum Beispiel die französische Regierung, um französische Thunfisch-Trawler zu schützen. Aber Ihnen geht es um etwas ganz anderes. Vielleicht geht es Ihnen darum, die neue Form der internationalen Seekriegsführung zu testen, besonders die Koordination von Luft-, Land- und Seestreitkräften aus verschiedenen Ländern. ({9}) Ist das auch der Grund dafür, dass der Europäische Rat jüngst beschlossen hat, die Zusammenarbeit zwischen der Operation Atalanta und der Operation Enduring Freedom zu intensivieren? ({10}) Im Strategiepapier der deutschen Marine Zielvorstellung Marine 2025+ heißt es - ich zitiere -: Eine sich absehbar verschärfende Konkurrenz um den Zugang zu Rohstoffen und anderen Ressourcen erhöht das zwischenstaatliche Konfliktpotential. Konventionelle, reguläre Seestreitkräfte regionaler Mächte können dabei den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage des deutschen und europäischen Wohlstands ebenso gefährden wie kriminelle oder terroristische Bedrohungen der maritimen Sicherheit. Das ist, mit Verlaub, eine neue Umschreibung der alten kolonialen Kanonenbootpolitik. ({11}) Sie betreiben die Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Sie betreiben die Militarisierung der Europäischen Union. Daran werden wir uns nicht beteiligen, egal in welchem humanitären Gewand Sie daherkommen. ({12}) Deshalb lehnt die Linke Atalanta ab. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Kerstin Müller das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Buchholz, wenn die Welt so einfach wäre … ({0}) Ich dachte, die Zeit der K-Gruppen hätten wir hinter uns gelassen; aber ich fühlte mich ein Stück weit zurückversetzt. ({1}) Da war ich noch ein bisschen jung, aber gut. Meine Fraktion wird der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes jedenfalls mit großer Mehrheit zustimmen. ({2}) Wir meinen im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken - ich versuche doch noch einmal, zu argumentieren -: Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Ich ziehe einmal einen Vergleich zur Innenpolitik: Selbst Sie sind dafür, dass es mehr Polizei auf der Straße gibt, und fordern gleichzeitig ({3}) - hören Sie doch einmal zu! -, dass man die Ursachen von Kriminalität weiter bekämpft. Genau darum geht es hier. Im Grunde geht es um einen quasipolizeilichen Einsatz, der mit Soldaten durchgeführt werden muss. Atalanta ist notwendig, um die Piraterie einzudämmen und um die humanitäre Versorgung der Menschen in Somalia sicherzustellen. Niemand behauptet, dass man mit diesem Einsatz die Ursachen der Piraterie, die an Land zu suchen sind, bekämpfen kann. ({4}) Wir müssen beides tun: die Kriminalität und die Ursachen an Land bekämpfen. ({5}) Die Piraterie ist ganz klar ein Ergebnis dauerhafter Armut und fehlerhafter Staatlichkeit in Somalia, nicht zuletzt deshalb, weil dort seit 1991 ein Bürgerkrieg tobt und die humanitäre Lage verheerend ist. Die UNO spricht von 3,7 Millionen Hilfsbedürftigen und 1,5 Millionen Binnenvertriebenen, also vom größten humanitären Krisengebiet weltweit. Daran konnte auch die schwache Übergangsregierung unter Sheikh Sharif nichts ändern. Ich möchte an dieser Stelle den internationalen Helfern, die dort in einer sehr schwierigen Lage Hilfe leisten und immer wieder massiven Angriffen, gerade von Islamisten, ausgesetzt sind, im Namen des Hauses danken. Sie leisten dort eine sehr schwierige Arbeit, die allerdings überaus wichtig ist. ({6}) Kerstin Müller ({7}) Ich meine trotzdem, dass sich Deutschland und die Europäische Union hinter diesem Piraterieeinsatz nicht verstecken dürfen. Unsere Interessen dürfen nicht nur dem freien Handel gelten, sondern wir müssen die Menschen in Somalia in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Da gibt es einiges zu kritisieren. So haben zum Beispiel alle Staaten, auch Deutschland, auf der internationalen Geberkonferenz in Brüssel im Mai 2009 Somalia viel versprochen, bisher aber leider nur wenig gehalten. Ich will ein Beispiel nennen. Nur etwa 30 Prozent der international zugesagten Finanzmittel für AMISOM, für die Mission der Afrikanischen Union, sind dort bis heute angekommen. Seit April dieses Jahres erhalten die AMISOM-Soldaten keinen Sold mehr. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht erklären, was das bedeutet. An die Bundesregierung gerichtet, sage ich ganz klar: So geht das nicht. Zusagen muss man einhalten. ({8}) Wenn man die Afrikanische Union stärken will, dann ist so etwas ein verheerendes Signal. Fest steht auch: Militär und Polizei können Friedensprozesse bestenfalls unterstützen und Zeitfenster für die zivile Krisenbewältigung schaffen, nicht aber den Frieden selbst. Diese Erkenntnis hat sich meines Erachtens weder in Berlin noch in Brüssel noch in der SomaliaKontaktgruppe wirklich durchgesetzt. Für eine nachhaltige Bekämpfung der Ursachen der Krise in Somalia reicht es nicht aus, die schwache Übergangsregierung und AMISOM als ihren Beschützer zu unterstützen. Was brauchen wir? Nachhaltige Ursachenbekämpfung verlangt, dass sich die internationale Gemeinschaft als ehrlicher und neutraler Friedensmakler einsetzt. Hier könnte Deutschland übrigens, auch was Äthiopien und Eritrea betrifft, eine wichtige Rolle spielen. Deutschland könnte dazu beitragen, dass in Somalia lokale Clanchefs, die Führungseliten von Somaliland und Puntland und die Zivilgesellschaft mit starken Frauengruppen für einen Versöhnungsdialog gewonnen werden. AMISOM muss vor allem die Menschen schützen und darf nicht nur die Übergangsregierung verteidigen. Nachhaltige Politik verlangt auch, dass die Finanzströme von Piraten und al-Schabab ausgetrocknet werden, dass man dem Waffenschmuggel einen Riegel vorschiebt und - hier stimme ich Ihnen zu, Herr Außenminister - dass der Rechtsstaatsaufbau in Somalia intensiv unterstützt wird. Sie haben gesagt: Der Rechtsstaat ist wichtig. Ich füge hinzu: Vom Rechtsstaatsaufbau alleine werden die Menschen nicht satt. Deshalb muss weiterhin Ursachenbekämpfung betrieben werden. ({9}) Als eine Ursache der Piraterie müssen wir die Armut bekämpfen. Darüber hinaus müssen wir die humanitäre Grundversorgung sichern, Alternativen zur Einkommensquelle Piraterie erschließen und endlich auch die illegale Raubfischerei an der Küste Somalias wirksam bekämpfen. Ich habe die ganz klare Erwartung an die EUKommission, dass sie hier handelt. Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist. Wir brauchen einen regionalen Lösungsansatz für das Horn von Afrika. Die Europäische Union hat jetzt zwar eine Gesamtstrategie beschlossen, aber diese Strategie wird, so fürchte ich, ein Papiertiger bleiben. Unsere Erwartung ist, dass die Bundesregierung und alle Staaten der EU sagen, was sie zu tun bereit sind, um diese Strategie mit Leben zu füllen. Ich glaube, nur so können wir zeigen, dass es uns um die Menschen geht und nicht nur um die Handelswege. ({10}) Eine letzte Anmerkung, und zwar zur EU-Ausbildungsmission - mein Vorredner hat sie angesprochen -: Mich hat erstaunt, dass sich der Außenminister dazu gestern im Plenum sehr positiv geäußert hat. Ich will Ihnen klar sagen: Wenn man nicht sicherstellen kann, dass dann die gut ausgerüsteten und ausgebildeten Sicherheitskräfte nicht zu den Piraten und den gewaltbereiten Islamisten überlaufen, dann darf es von deutscher Seite für die EU-Ausbildungsmission, die ein französisches Projekt ist, keine Zustimmung geben. Das wird dann keinen Erfolg haben. ({11}) Ich glaube, dass die Bundesregierung in ihrer Somalia-Politik nach wie vor zu viel auf Sicherheit und zu wenig auf politische Lösungen setzt. Die Menschen in Somalia brauchen Aussöhnung, sie brauchen Perspektiven, aus der Armut zu kommen. Wenn Atalanta Sinn machen soll, dann müssen wir diese eklatante Schieflage der Politik korrigieren. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Müller, ich möchte mich zunächst einmal dafür bedanken, dass die Grünen dem Antrag der Bundesregierung mehrheitlich zustimmen werden. Als Abgeordneter, der gewissermaßen relativ neu in Verantwortung ist, möchte ich darauf hinweisen, dass manche Kritikpunkte, die Sie zu Recht angebracht haben, durch die neue Beschlussfassung des Mandats ausgeräumt werden. Sie haben darüber gesprochen, was im Zusammenhang mit AMISOM zu tun sein wird, zum Beispiel dass Bezahlung notwendig ist. Das steht in der Begründung des Antrags genau so drin. Ich bitte das Hohe Haus auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Auswärtige Amt kurzDr. Guido Westerwelle fristig 1,5 Millionen Euro zugesagt hat und einzahlen wird. Schneller kann eine Regierung nicht handeln. ({0}) Ich möchte zum Zweiten darauf aufmerksam machen - es ist mir wichtig, dass alle Kolleginnen und Kollegen das hier noch einmal hören, weil das ja ein wichtiger Einsatz ist -, dass ich im Auswärtigen Ausschuss mitgeteilt habe, ({1}) dass wir allein jetzt 6,2 Millionen Euro für somalische Partnerorganisationen und humanitäre Hilfe bereitstellen. Das ist in die Begründung dieses Antrags aufgenommen worden. Es ist also eine Menge getan worden. Wenn hier der Eindruck erweckt wird, wir hätten nur das Militärische im Sinn und würden nicht an das Humanitäre gehen und würden nicht an die Ursachen der Entwicklung gehen, möchte ich das als Abgeordneter der neuen Regierungskoalition nicht stehen lassen. Ich möchte ausdrücklich sagen, Frau Kollegin: Wir haben beides genau im Blick, weil wir wissen, dass das Militärische und das Zivile, das Humanitäre, Hand in Hand gehen müssen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung, wenn Sie wollen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Abgeordneter Westerwelle, ich habe den Antrag der Bundesregierung natürlich sehr genau gelesen, weil ich beabsichtige, ihm zuzustimmen. Ich habe nicht verneint, dass für die AMISOM Mittel bereitgestellt werden. Im Gegenteil: Ich habe in meiner Rede gesagt, dass eine Geberkonferenz stattgefunden hat, auf der alle Staaten, auch Deutschland, etwas zugesagt haben. Nur, es gibt ein Problem bei der AMISOM: Seit April erhalten die Soldaten keinen Sold mehr. Was glauben Sie, was das bedeutet? ({0}) Die werden entweder überlaufen, oder das Projekt AMISOM - das diskutiert man ja schon in den Vereinten Nationen - wird über kurz oder lang zu Ende sein. Dann wird dort gar nichts mehr sein zur Stabilisierung. Es wird auch darüber diskutiert, wie die AMISOM in eine UN-Mission übergehen könnte. Da traut sich aber keiner ran, weil es schwierig ist. Ich behaupte gar nicht, dass es einfache Lösungen gibt. Ich sage aber - auch Herr Fischer weiß das als Afrika-Politiker -: Wir sind auf die Probleme am Horn von Afrika, auf die Probleme in Somalia, auf die Probleme, die zum Beispiel von Äthiopien herrühren, erst aufmerksam geworden, als unsere Handelswege bedroht waren. Äthiopien ist ein zentraler, strategisch wichtiger Staat am Horn von Afrika. Sie werden das als Außenminister noch kennenlernen: Es gibt kaum ein Land in der Welt, das so gute Beziehungen zu Äthiopien hat. Warum nutzen wir diese Beziehungen nicht, um positiv Einfluss zu nehmen, um den Äthiopiern klarzumachen, dass sie - was sie bis heute nicht machen - eine strategisch positive Rolle am Horn von Afrika spielen müssen? Viele Punkte wären hier anzusprechen. Worauf ich hinauswill: Wir wissen, dass das, was dort in der Region passiert, erst wahrgenommen wurde, als unsere Handelswege und die Schiffe des World Food Programme bedroht waren. Das war zu spät. Wir müssen uns jetzt den Ursachen zuwenden. Wir müssen gemeinsam mit den Partnern der internationalen Gemeinschaft versuchen, mit einer Gesamtstrategie für das Horn von Afrika die Ursachen anzugehen. Ich erwarte und hoffe, dass Deutschland hier eine Rolle spielt. Wir werden dort nämlich als möglicher wichtiger Partner gesehen. Das war mein Appell. Ich hoffe, dass die Bundesregierung das so machen wird. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hartwig Fischer für die Unionsfraktion. ({0})

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass solche Kurzinterventionen nicht dazu führen, dass der außerordentlich positive Einsatz von Atalanta und das, was unsere Soldatinnen und Soldaten dort leisten, zerredet werden. Dieser Einsatz ist dringend notwendig. Frau Buchholz, ich habe eben in unser vorläufiges Abgeordnetenhandbuch gesehen und gelesen, Sie sind wissenschaftliche Mitarbeiterin gewesen. Ich kann nur sagen: Es ist enttäuschend. Ich glaube, wir können erwarten, dass Sie sich mit der Geschichte des Landes, um das es geht, und mit den Realitäten vorher beschäftigen und sich keine Sozialromantik aufbauen. ({0}) Wenn Sie sich mit der Geschichte beschäftigen, dann wissen Sie, dass sowjetische Truppen dort gewesen sind, um Barre zu unterstützen, dann wissen Sie, dass er die sowjetischen Truppen und 6 000 Berater herausgeschmissen hat, dann wissen Sie, dass sich dort Rechtlosigkeit aufgebaut hat, und dann haben Sie gesehen, dass es einen UN-Einsatz gegeben hat, von dem man leider sagen muss, dass er gescheitert ist, und dass danach absolute Rechtlosigkeit für die Menschen herrschte. Es hat eine Hungerkatastrophe und eine humanitäre Katastrophe gegeben. Danach hat es einen erneuten Einsatz - AMISOM - gegeben, mit dem man versucht hat, die1006 Hartwig Fischer ({1}) ses Meucheln im Land zu unterbinden. In dieser Situation ist die Piraterie hinzugekommen. Es geht nicht um die Weltwirtschaftskrise, die sich auf manche Entwicklungsländer auswirkt, ({2}) sondern es geht um das pure Verbrechen im Rahmen der organisierten Kriminalität, mit dem bestimmte Gruppierungen versuchen, Geld zu bekommen. ({3}) Unter den Auswüchsen leiden inzwischen auch die Nachbarstaaten wie Kenia, in denen diese Gelder - zum Beispiel in Nairobi - angelegt werden, indem gesamte Straßenzüge gekauft werden, um daraus wieder einen Profit zu erzielen. Wenn dies, wie von Ihnen geschildert, Piraten in Robin-Hood-Manier wären, dann würden sie das Geld doch anlegen, um den Menschen in ihrem eigenen Land zu helfen, und nicht, um Waffen, neue Schiffe und Ähnliches zu kaufen. ({4}) Meine Damen und Herren, wer eine solche falsche Analyse erstellt, der handelt auch falsch. ({5}) Das, was die Linke hier betreibt - Herr Liebich hat im Ausschuss ja ähnlich argumentiert -, ist für mich militanter Pazifismus, ({6}) das ist Verantwortungslosigkeit in der Außenpolitik, das ist Verantwortungslosigkeit in der Entwicklungspolitik, und das ist Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen, die in diesem Land täglich leiden. Am 3. Dezember dieses Jahres - daran wird doch die grauenhafte Situation dort deutlich - hat man nicht nur drei Minister in die Luft gesprengt, sondern man hat auch 19 Medizinstudenten, die dort waren und gerade ihren Abschluss dort gemacht hatten, mit in die Luft gesprengt. Die Verantwortlichen dafür sind diejenigen, die versuchen, dieses Land zu destabilisieren. ({7}) Atalanta ist eine humanitäre Operation. Der Kollege Grübel hat darauf hingewiesen: 300 000 Tonnen Lebensmittel konnten im Rahmen des World Food Programme dorthin geliefert und unter dem Schutz von AMISOM zu großen Teilen verteilt werden. Das bedeutet das Überleben von 3,5 Millionen Menschen. Und Sie gehen einfach darüber hinweg und sagen: kein Militär! Wie sollen die Entwicklungshelfer in Zukunft dort überhaupt aufbauen können, wenn für sie keine Sicherheit geschaffen wird? ({8}) Die Menschen dort leben mit Rechtlosigkeit und ohne jede Chance, von irgendeiner Seite außer von AMISOM unterstützt zu werden. Es gilt in diesem Staat das Recht des Stärkeren oder der stärkeren Gruppe und das Recht desjenigen, der in diesem Staat Waffen besitzt. Auch deshalb ist die Operation Atalanta in Verbindung mit AMISOM wichtig, um diesen Staat langfristig wieder aufzubauen. ({9}) Frau Buchholz, deshalb erwarte ich von gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern einfach, dass sie einen solchen humanitären Einsatz nicht einfach aus ideologischen Gründen ablehnen. Deshalb sage ich: Die Begleitmaßnahmen sind richtig, und die Ausbildung von 1 000 somalischen Polizisten in Äthiopien ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Stabilisierung in Somalia. Ich bedanke mich bei allen, die diesem Mandat zustimmen. Wenn Sie heute nicht zustimmen, dann hoffe ich, dass Sie sich einmal in Äthiopien und in Dschibuti informieren. Oder gehen Sie auch einmal nach Somaliland, wo Sie sich derzeit unter bestimmten Sicherheitsbedingungen bei den Menschen vor Ort informieren können. Dann sehen Sie das Elend, und dann sehen Sie, wie dankbar die Menschen für das sind, was gemeinsam getan wird. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Karin Roth. ({0})

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Verlängerung der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias zu. ({0}) Es wäre noch besser, wenn nicht nur wir dem Antrag der Bundesregierung zustimmen würden, sondern wenn gleichzeitig die Regierungskoalition auch dem vorliegenden Entschließungsantrag der SPD zustimmen könnte. ({1}) - Ich weiß, Herr Kauder, dass das ein bisschen viel verlangt ist. Aber es wäre richtig. Karin Roth ({2}) Wie notwendig dieser Einsatz im letzten Jahr war, zeigen auch die Piratenüberfälle, die in der ersten Jahreshälfte von 114 auf 240 weltweit zugenommen haben. Insbesondere haben die Piratenangriffe im Golf von Aden zugenommen. Viele Schiffe, die den Golf von Aden durchqueren wollten, wurden im vergangenen Jahr erheblich bedroht. Dazu gehören auch die deutschen Schiffe. Ohne die militärische Hilfe hätten sie nicht sicher durchkommen können. Wichtig war aber nicht nur, die Schiffe der internationalen Handelsflotte zu sichern, sondern vor allen Dingen, durch die erhöhte maritime Präsenz die Nahrungsmittellieferung im Rahmen des Welternährungsprogramms für 3,3 Millionen Menschen in Somalia zu gewährleisten. Das ist ebenso wichtig, und deshalb ist dieser Einsatz vor Ort notwendig. 300 000 Tonnen Lebensmittel wurden nach Somalia transportiert. Mit dieser Aktion wurden Menschenleben gerettet. ({3}) Denn die humanitäre Situation in Somalia ist weiterhin katastrophal. Ohne die Nahrungsmittel aus dem Ausland würden Millionen Menschen verhungern. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass das Auswärtige Amt Mitte Oktober unter Führung des damaligen Außenministers Steinmeier eine Soforthilfe von 4 Millionen Euro veranlasst hat. Heute hat die EU-Kommission weitere 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um die Katastrophe am Horn von Afrika zu bekämpfen und dem Hunger in dieser Region zumindest einigermaßen zu begegnen. Dafür danken wir auch der Europäischen Kommission. ({4}) Es geht darum, dass diese Menschen vor Ort Hilfe bekommen, und es geht vor allen Dingen darum, dass diese Hilfe auch ankommt. Ich denke, es ist gut, dass das alles geleistet wird. Aber gleichzeitig ist eine gemeinsame EU-Strategie notwendig, die sich nicht nur auf die humanitäre Hilfe beschränkt, sondern wir brauchen eine politische Strategie zum Aufbau der staatlichen Strukturen. Die Piraterie wird nur dann effizient bekämpft, wenn die Piraten einerseits verfolgt werden, wie das Beispiel Kenia zeigt, aber andererseits auch die Staatlichkeit in diesem Land wiederhergestellt wird und die organisierte Kriminalität aufhört. Das heißt, wir müssen Möglichkeiten schaffen, die organisierte Kriminalität zu zerschlagen. ({5}) In dem Entschließungsantrag der SPD wird daher zu Recht darauf hingewiesen, dass der Aufbau legitimer, staatlicher Institutionen in Somalia dringend notwendig ist, um die Rechtssicherheit und die Strafverfolgung gewährleisten zu können. Der politische Prozess des Aufbaus der Staatlichkeit muss vorangebracht werden, indem die bilaterale Ausbildung von Polizisten ebenso unterstützt wird wie die Aussöhnung des vom Bürgerkrieg gekennzeichneten und geplagten Landes. Wir brauchen also einen ganzheitlichen Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Dazu gehört vor allen Dingen die Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschen in Somalia. Wenn nach Angaben der UNO Somalia jährlich 320 Millionen Dollar durch illegale Fischerei verliert, dann müssen wir versuchen, die illegale Fischerei in dieser Region zum Thema zu machen und zu bekämpfen. Es ist gut und richtig, dass die Erarbeitung eines Fischereiabkommens seitens der EU - auch mit unserer Unterstützung - vorankommt; denn es geht nicht nur um humanitäre Hilfe, sondern auch um wirtschaftliche Möglichkeiten, die diesem Land bisher nicht gegeben werden. Die illegale Fischerei vor Ort muss daher aus unserer Sicht sanktioniert werden. ({6}) Es ist gar keine Frage, die Entwicklungszusammenarbeit ist notwendig. Herr Minister Niebel, Sie müssen sich den damit verbundenen Fragen stärker zuwenden. Der Etat für die Entwicklungszusammenarbeit enthält leider nicht die notwendigen Mittel, die Sie so großspurig angekündigt haben. Von den von Ihnen geforderten zusätzlichen 300 Millionen Euro sind gerade einmal 44 Millionen Euro übrig geblieben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie das auf internationaler Ebene und im Rahmen der Europäischen Union verabredete Ziel, 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe einzusetzen, im Etat 2010 durchgesetzt hätten. Das ist Ihnen nicht gelungen. Sie sind grandios gescheitert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Roth, achten Sie bitte auf die Zeit.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wünsche mir, dass Sie in den bevorstehenden Etatberatungen nachlegen, damit die Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik nicht schon von Anfang an durch Sie infrage gestellt wird. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß sehr wohl, dass der eine oder die andere noch Mangel an Tischen und Stühlen im Büro verspürt. Allerdings ist hier im Plenarsaal für jede Kollegin und für jeden Kollegen eine Sitzgelegenheit vorhanden. Ich bitte Sie, diese zu nutzen, damit wir auch dem letzten Redner in dieser Debatte mit Respekt folgen können. Dann kommen wir zu einer namentlichen Abstimmung Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es erfreulich, dass in dieser Debatte sehr deutlich geworden ist, welche Ziele wir am Horn von Afrika vor Somalia verfolgen. Ich kann nur eindringlich vor jedem Versuch einer Heroisierung der Piraterie warnen, so wie sie uns einst in Kinder- und Jugendbüchern begegnet ist. Wir haben es mit schwerer Kriminalität zu tun, die eine Herausforderung für die gesamte internationale Gemeinschaft darstellt. Wir sind vor Ort, weil wir das gewichtige humanitäre Ziel verfolgen, die Ernährung der Bevölkerung von Somalia sicherzustellen. Das wäre ohne eine Sicherung der Seewege für die Schiffe des Welternährungsprogramms nicht machbar. ({0}) Ja, wir sind natürlich auch vor Ort, um unsere ökonomischen Interessen zu vertreten. Wir sind die größte Exportnation, eine der wichtigsten Handelsnationen und eine der größten Schifffahrtsnationen der Welt. Wer, wenn nicht wir, muss sich dafür einsetzen, dass die Freiheit der Handelswege und die Sicherheit der Seewege gewährleistet sind. Deswegen ist es richtig, dass wir auch militärische Mittel für ökonomische Zwecke einsetzen. ({1}) Die Mission Atalanta leistet einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Lage am Horn von Afrika. Wir stehen hier nicht alleine. Viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind beteiligt. Die NATO ist vor Ort. Das OEF-Mandat wird unter Führung der USA eingesetzt. Auch zahlreiche nationale Marinekräfte sind vor Ort. Wir sollten uns allerdings darum bemühen, die Vielzahl der Akteure möglichst gut und vielleicht auch besser als bisher zu vernetzen und zu koordinieren. Dass es mittlerweile - auch unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland - eine internationale Kontaktgruppe gibt, in der sich mittlerweile 44 Staaten in der Pirateriebekämpfung engagieren, ist ein erfreuliches Zeichen. Es wäre schön, wenn wir bei der Mandatierung zu einer besseren Koordinierung unter dem Dach der Vereinten Nationen kämen. Immerhin hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dieses Atalanta-Mandat direkt erteilt. Wir sind vor Ort, weil die somalische Übergangsregierung ausdrücklich darum gebeten hat und uns der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diesen Auftrag erteilt hat. Das zeigt: Atalanta ist in einen stabilen internationalen Rahmen eingebettet. Wir dienen damit also nicht nur unseren nationalen wirtschaftlichen Interessen oder den humanitären Interessen dieses Landes, sondern Atalanta ist auch Ausdruck der internationalen Verantwortung, der wir uns hier stellen. ({2}) Die Bilanz nach diesem ersten Jahr Atalanta fällt durchweg positiv aus. Die Zahl der Piratenangriffe - das ist schon angesprochen worden - ist insgesamt spürbar zurückgegangen. Alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben ihre Zielhäfen in Somalia sicher erreicht. Damit ist die Hauptaufgabe dieser Mission in vollem Umfang erfüllt worden. Ich möchte aber schon erwähnen, dass es eine gewisse Mitverantwortung anderer beteiligter Akteure vor Ort gibt. Das betrifft insbesondere die Reeder und die Forderung, dass sie die Durchfahrt ihrer Schiffe melden und dass sie sich den Konvois, die von Atalanta begleitet werden, anschließen. Hier muss die Eigenverantwortung der Reeder weiter eingefordert werden. Es ist erstaunlich, wie mutig sich viele Touristen am Horn von Afrika bewegen. Jedes Jahr sind es allein aus Deutschland mehrere Tausend, die auf zivilen Kreuzfahrtschiffen durch den Golf von Aden fahren. Dazu kann ich nur sagen: Eine solche Selbstgefährdung ist zwar nicht strafbar, aber sie ist auch nicht klug. Ich wünsche mir hier weniger Abenteurertum und mehr Verantwortlichkeit. Wir haben mit der Pirateriebekämpfung natürlich nur an den Symptomen gearbeitet und nicht die Wurzeln des Übels beseitigt. Die Wurzeln liegen nämlich zu Land, und deswegen ist dieses militärische Vorgehen nur als Teil eines politischen Gesamtansatzes sinnvoll. Wir müssen für den Aufbau der staatlichen Strukturen in Somalia einen Beitrag leisten. Das tut Deutschland genauso wie die Europäische Union insgesamt. Allein bis 2013 stellt die Europäische Union 215 Millionen Euro an Entwicklungshilfe bereit. Allein 2008 waren es weitere 46 Millionen Euro an humanitärer Soforthilfe. Auch das Auswärtige Amt und das BMZ stellen Hilfe bereit und engagieren sich in der Ausbildung und Ausrüstung von somalischen und afrikanischen Polizisten. Sie engagieren sich auch bei der Überwachung und Verwaltung des Fischfangs. Das zeigt: Atalanta ist Teil eines umfassendes Gesamtansatzes von nicht nur militärischen, sondern auch zivilen Mitteln. Ich halte es für einen richtigen Ansatz, dass die Europäische Union nun eine Ausbildungsmission startet. Über die Einzelheiten wird man sich unterhalten müssen. Aber die Zielsetzung, dass somalische Sicherheitskräfte in die Lage versetzt werden, selbst für den Schutz vor Piraterie zu sorgen, ist richtig. Insoweit haben wir noch einiges an Arbeit vor uns. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass Atalanta weiter ein Bestandteil dieses gesamtpolitischen Ansatzes bleibt. Ich bitte um Ihre Unterstützung und Zustimmung. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta. Mir liegt eine Erklärung des Kollegen Sven Christian Kindler nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor und eine Erklärung der Kollegen Hans-Christian Ströbele, Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Beate Müller- Gemmeke, Winfried Hermann, Dorothea Steiner und Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn ebenfalls gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung. Wir nehmen sie entsprechend unserer Vereinbarung zu Protokoll.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/274, den Antrag der Bundesre- gierung auf Drucksache 17/179 anzunehmen. Es ist na- mentliche Abstimmung verlangt. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, ihre Plätze einzunehmen. Ich bitte alle Kollegin- nen und Kollegen, bevor Sie abstimmen, noch einmal zu überprüfen, ob Ihr Name auf der Abstimmungskarte steht, die Sie jetzt einwerfen wollen. Sind alle Plätze mit Schriftführern besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Wir setzen die Abstimmung mit den Abstimmungen über die Entschließungsanträge fort. Bevor ich dies tue, bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an diesen Abstimmungen und weiteren Beratungen nicht mehr teilnehmen wollen oder können, den Saal zu verlassen und uns dadurch zu ermöglichen, die Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei festzustellen. Das macht sich sehr schlecht, wenn Sie hier im Gang stehen. Wir fahren nun fort mit der Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion die SPD auf Drucksache 17/279? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/280? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/281? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 8 auf: 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({0}), Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen durch Steuergutschrift für Forschungen stärken - Drucksache 17/130 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und 1) Anlage 4 und 5 2) Siehe Seite 1012 C Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Federführung strittig ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Lothar Binding ({3}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Innovative kleine und mittlere Unternehmen stärken - Ein nachhaltiges steuerliches Forschungs- und Entwicklungs-Förderkonzept ({4}) vorlegen - Drucksache 17/247 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal über einen Antrag der Grünen zur steuerlichen Forschungsförderung. Eigentlich gibt es ja - theoretisch zumindest eine Mehrheit für dieses Instrument. Wir wollen jetzt dieser theoretischen Mehrheit zu einer praktischen Mehrheit verhelfen, damit das endlich in die Wege geleitet und umgesetzt wird. ({0}) Wir sind der Meinung, dass wir ein neues Instrument brauchen, das zu mehr Innovation sowie zu mehr Forschung und Entwicklung führt, und zwar vor allen Dingen bei kleineren und mittleren Betrieben. Gerade diese haben in der jetzigen konjunkturellen Schwächeperiode das Problem, dass sie sparen müssen; und das tun sie als Erstes im Bereich der FuE-Tätigkeit, das heißt, speziell beim Personal und bei den Sachkosten in diesem Bereich. Wir wissen aber genau, dass das Rückgrat der deutschen Wirtschaft von den KMUs gebildet wird. Wenn wir eine ökologische Modernisierung wollen, wenn wir wollen, dass Ressourcen geschont und neue Produktionsverfahren entwickelt werden, dann müssen wir gerade den KMUs Anreize geben, damit sie auch künftig in Forschung und Entwicklung investieren. ({1}) Wir sagen auch ganz klar und deutlich: Es geht um ein zusätzliches Instrument; es soll nicht die Projektförderung von Forschungsvorhaben ersetzen. Das wäre grundfalsch, weil uns die Projektförderung bessere Steuerungsmöglichkeiten bietet. Wir wissen aber zugleich, dass gerade KMUs es nicht schaffen, entsprechende Pro1010 Priska Hinz ({2}) jektanträge zu stellen. Sie haben nämlich kein eigenes Personal, das permanent den Bundesanzeiger durchforsten kann, um zu schauen, ob ein gerade aufgelegtes Programm für den eigenen Betrieb passt. Diese Unternehmen brauchen eine unbürokratische Förderung. Deswegen schlagen wir eine 15-prozentige Steuergutschrift auf Personal- und Sachkosten vor. Es muss ja vor allen Dingen der FDP sehr sympathisch sein, dass es sich um ein so unbürokratisches Instrument für Wachstumsanreize handelt. ({3}) Die 600 Millionen Euro, die unser Vorhaben kosten würde, wären im Gegensatz zu dem Schuldenwachstumsprogramm, das CDU/CSU und FDP derzeit auf den Weg bringen, auch gut angelegt. ({4}) Es gibt nämlich Studien, in denen errechnet wurde, dass man mit dem Einsatz der Mittel in der Form, wie wir es vorschlagen, tatsächlich zu einer besseren Wertschöpfung kommen kann. Die Hebelwirkung ist enorm. Wir könnten damit unserem Ziel, 3 Prozent der Ausgaben für Forschung auszugeben, sehr viel schneller nahe kommen. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb wir für die steuerliche Forschungsförderung sind. Mit einem Satz: Diese steuerliche Forschungsförderung ist einfach, gerecht, zielgenau, schafft Arbeitsplätze und ebnet den Weg in viele Zukunftsbranchen. ({5}) Auch die SPD ist inzwischen dafür; in der Regierung war sie es noch nicht so ganz. Die Koalitionsfraktionen haben es in ihren Wahlprogrammen immerhin aufgeführt. Laut Koalitionsvertrag wird jetzt geprüft und geprüft. Die Bundesforschungsministerin hat immerhin schon verkündet, sie habe ein Konzept; sie kann es aber beim Bundesfinanzminister noch nicht durchsetzen. Deswegen sollten wir jetzt gemeinschaftlich als Parlament den Durchbruch erreichen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass der Bundesfinanzminister diese 600 Millionen Euro für einen guten Zweck herausrückt, nämlich für die ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft. Wir sind jedenfalls dabei, und wir hoffen, Sie auch. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Frank Steffel für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Forschung, Innovation und die Entwicklung von neuen Technologien sind die Grundlage für unseren Wohlstand von morgen. Sie sind die Quellen von wirtschaftlichem Erfolg, Wachstum und vor allen Dingen Beschäftigung. Zugleich helfen sie, den großen Herausforderungen unserer Zeit - dem Klima- und Umweltschutz sowie dem Kampf gegen die Armut und gegen Krankheiten - wirksam zu begegnen. Deshalb geht es uns darum, gerade in Deutschland die Erforschung und Entwicklung von neuen Technologien zu fördern. Wir wollen und müssen das Land der Ideen bleiben. ({0}) Denn wir befinden uns in einer Welt, in der man durch Bildung, Wissen, Forschung und Entwicklung aufsteigen kann - viele Menschen und viele Länder tun dies -, aber auch - das ist eine völlig neue Erfahrung für uns erfolgsverwöhnte Deutsche - ganz schnell absteigen kann. In einer Welt, in der es mehr Chancen gibt, nimmt auch die Unsicherheit zu. Es sind wir und nicht die anderen, die in diesem Prozess des globalisierten Wettbewerbs um Wissen und Fortschritt, um Bildung und Technologie eine Menge zu verlieren haben, wenn wir nicht aufpassen. Wir können und werden diese Entwicklung, die durch die Globalisierung, das Internet, die Sättigung der Märkte, die Einführung des Euro, die Erweiterung Europas und natürlich die Finanzkrise verschärft und beschleunigt wird, nicht stoppen. Ob dies gut oder schlecht ist, ist dabei gar nicht relevant. Wir müssen uns dieser Entwicklung stellen und unsere Politik darauf ausrichten. Deshalb wurden die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Bundeshaushalt 2010 um 6,9 Prozent auf 10,9 Milliarden Euro erhöht. Damit setzt die CDU/ CSU-geführte Bundesregierung zum wiederholten Mal einen politischen Schwerpunkt bei Forschung und Entwicklung, ({1}) zum Wohle der Unternehmen und der Beschäftigten, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in Deutschland. Die Regierung aus CDU/CSU und FDP strebt über die Projektförderung hinaus - so steht es im Koalitionsvertrag, und so wird es gemacht - die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung an. ({2}) Damit sollen zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen ausgelöst werden. Aber, Frau Kollegin von den Grünen, gerade weil dieser außerordentlich komplexe Bereich für Deutschland so wichtig ist, müssen und werden wir dieses Thema mit großer Sorgfalt, Seriosität und vor allen Dingen sehr zielorientiert diskutieren. Hier geht Gründlichkeit vor Geschwindigkeit. ({3}) Zum einen müssen wettbewerbs-, haushalts- und ordnungspolitische Fragen dauerhaft, übrigens auch international, geklärt werden. Zum anderen müssen die Ausgestaltung der möglichen Steuergutschrift, der Anwendungsbereich, die begünstigten Unternehmen, das Fördervolumen und die angestrebten Anreizwirkungen sehr präzise definiert werden. Der Antrag der SPD-Fraktion enthält dazu einige interessante Ideen. Es erstaunt allerdings, dass die SPD, als sie elf Jahre regierte und den Finanzminister stellte, keinen Vorschlag zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung vorgelegt hat. ({4}) Jetzt in der Opposition kommen Ihnen auf einmal diese Gedanken, frei nach Goethe: „Man spürt die Absicht und ist verstimmt.“ Auch steht die Praxis, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, in den von Ihnen geführten Bundesländern leider im Widerspruch zu Ihren Erklärungen. Wenn Herr Professor Lenzen, der renommierte Präsident der einzigen Exzellenzuniversität der deutschen Hauptstadt, der Freien Universität Berlin, die Berliner Verhältnisse von Wissenschaft, Forschung und Lehre mit denen in der Volksrepublik China vergleicht ({5}) und den Sozialdemokraten eine zerstörerische und fahrlässige Wissenschafts- und Forschungspolitik vorwirft, sollte uns dies zumindest nachdenklich stimmen. ({6}) Wenn dieser herausragende deutsche Wissenschaftler Berlin verlässt und nach Hamburg geht und der einzige Kommentar des Regierenden Bürgermeisters der deutschen Hauptstadt zu diesem einmaligen Vorgang ein schnoddriges „Gute Reise“ ist, ({7}) dann kann ich nur sagen: „Gute Nacht, Deutschland“ oder „Schlafen Sie weiter, Herr Wowereit“. ({8}) Dieser Umgang mit unseren wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten schadet dem Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland und ist leider kein Einzelfall. ({9}) Der vorliegende Antrag der Grünen und auch Ihre Rede, Frau Kollegin, hören sich zwar interessant an, sie sind aber populistisch und oberflächlich sowie aufgrund der Pauschalierungen weder seriös noch zielgerichtet. ({10}) Deshalb wurde auch ein gleichlautender Schaufensterantrag bereits im Sommer dieses Jahres von den übrigen Fraktionen des Deutschen Bundestages abgelehnt. Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Antrag ist alter Wein in alten Schläuchen und stellt keinen seriösen Umgang mit einem solch wichtigen Thema dar. Ihre populistischen Anträge werden auch durch Wiederholung nicht besser. ({11}) Gerade von den Grünen, die sich in der Vergangenheit vielfach als wissenschafts- und forschungsfeindlich dargestellt haben ({12}) und die mit ihren dogmatischen Diskussionen viele Entwicklungen in Deutschland langfristig behindert haben, erwarten wir mehr Seriosität. Ihre ideologischen Blockaden haben uns in vielen Bereichen international zurückgeworfen. ({13}) Ich erinnere an den Transrapid, an wichtige Bereiche der Energiepolitik, an den Chemiestandort Deutschland sowie an Entwicklungen in den Bereichen Biotech und Gentechnologie. Man fragt sich, für welche Unternehmen Sie eigentlich die Förderung einführen wollen, welche Unternehmen Sie eigentlich steuerlich begünstigen wollen. ({14}) Dazu gehört auch ein klares Bekenntnis zu unseren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten. Hier haben Sie unverändert Nachholbedarf, Sie vertreiben gerade diese Wissenschaftler und Unternehmen durch Ihre Neid- und Missgunstdebatten. ({15}) Bereits vor zwei Wochen haben wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz konkrete Maßnahmen zur Stärkung und Unterstützung von kleineren und mittleren Unternehmen beschlossen. Mit der dauerhaften Anhebung der Freigrenze bei der Zinsschranke, mit der Erleichterung bei Sofortabschreibungen und mit der verbesserten Nutzung von Verlusten ({16}) werden gerade kleine und mittlere Unternehmen im forschungsintensiven Bereich in der Gründungsphase unterstützt. Leider haben Grüne und SPD auch gegen diese Förderung gestimmt. Wir werden Sie auch bei diesem Thema an Ihren Taten messen und nicht an Ihren Anträgen und Worten. ({17}) Da der wesentliche Teil des Antrags der Grünen - falls Sie ihn gelesen haben sollten, wissen Sie das ohnehin völlig unsachliche Beschimpfungen der Regierung beinhaltet und damit gerade das Betteln um Ablehnung dokumentiert, werden wir Ihnen diesen Wunsch kurz vor Weihnachten gerne erfüllen. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Steffel, das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Wir gratulieren Ihnen dazu ganz herzlich. ({0}) Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 11 und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta - es handelt sich um die Drucksachen 17/179 und 17/274 - bekannt: abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 492 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 74, und es gab 11 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 577; davon ja: 492 nein: 74 enthalten: 11 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Manfred Behrens ({2}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({3}) Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Gitta Connemann Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({4}) Dirk Fischer ({5}) Axel E. Fischer ({6}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({7}) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Dr. Matthias Heider Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Dieter Jasper Andreas Jung ({8}) Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Siegfried Kauder ({9}) Volker Kauder Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Volkmar Klein Jürgen Klimke Julia Klöckner Axel Knoerig Jens Koeppen Dr. Kristina Köhler ({10}) Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({11}) Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({12}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Stefan Müller ({13}) Nadine Müller ({14}) Dr. Gerd Müller Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Lucia Puttrich Daniela Raab Thomas Rachel Katherina Reiche ({15}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({16}) Anita Schäfer ({17}) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({18}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({19}) Vizepräsidentin Petra Pau Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({20}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({21}) Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({22}) Peter Weiß ({23}) Sabine Weiss ({24}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Lothar Binding ({25}) Gerd Bollmann Willi Brase Bernhard Brinkmann ({26}) Edelgard Bulmahn Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({27}) Michael Groß Michael Groschek Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Michael Hartmann ({28}) Hubertus Heil ({29}) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Frank Hofmann ({30}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Daniela Kolbe ({31}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({32}) Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({33}) Ullrich Meßmer Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({34}) Michael Roth ({35}) Marlene Rupprecht ({36}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({37}) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Werner Schieder ({38}) Ulla Schmidt ({39}) Carsten Schneider ({40}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Swen Schulz ({41}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Tack Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({42}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({43}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({44}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dr. Martin Lindner ({45}) Christian Lindner Michael Link ({46}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Gabi Molitor Jan Mücke Petra Müller ({47}) Burkhardt Müller-Sönksen ({48}) Hans-Joachim Otto ({49}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Johannes Vogel ({50}) Dr. Daniel Volk Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({51}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({52}) Volker Beck ({53}) Birgitt Bender Alexander Bonde Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Priska Hinz ({54}) Ulrike Höfken Ingrid Hönlinger Katja Keul Tom Koenigs Oliver Krischer Fritz Kuhn Stephan Kühn Undine Kurth ({55}) Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({56}) Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Tabea Rößner Claudia Roth ({57}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Frithjof Schmidt Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Nein DIE LINKE Jan van Aken Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Konstantin Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Dorothée Menzner Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({58}) Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Alexander Ulrich Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bettina Herlitzius Dr. Anton Hofreiter Sven Kindler Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Monika Lazar Beate Müller-Gemmeke Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Petra Hinz ({59}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Katja Dörner Hans-Josef Fell Uwe Kekeritz Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Agnes Malczak Elisabeth Paus Dr. Harald Terpe Wir kehren nun zum Tagesordnungspunkt 12 zurück. Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die SPDFraktion. ({60})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich wollte eigentlich noch viel schneller zum Rednerpult gelangen, weil mich Ihre Rede so erschreckt hat. Statt eine solche Idee zu loben, fahren Sie hier eine Attacke gegen Anträge, die Sie letztendlich mit unterstützen sollten. Umso wichtiger ist es vielleicht, zu bemerken, dass es gut ist, wenn wir jetzt die schützende Hand über kleine und mittlere Unternehmen halten; denn offensichtlich gefährden Sie deren Struktur nachhaltig. ({0}) Das will ich an einigen Beispielen beweisen. Da Sie jetzt den Kopf schütteln, möchte ich ein Beispiel unmittelbar benennen, das Sie schon in Planung haben; Sie könnten es noch korrigieren. Wir haben gehört, dass Sie die Funktionsverlagerung erleichtern wollen, nicht per Gesetz, sondern per Verordnung. Funktionsverlagerung bedeutet: Ein Unternehmen forscht etwa in Deutschland und darf sehr viele Kosten -berechtigterweise - als Betriebsausgaben abziehen bzw. kann dadurch Betriebsausgaben gewinnmindernd zur Geltung bringen. Wenn dann die Patente kurz vor der Realisierung stehen, wird diese Forschungsabteilung ins Ausland verlagert. Was ist der Effekt? Die Gewinne fallen im Ausland an. Die Verluste sind zuvor in Deutschland entstanden. Wer bezahlt eigentlich die fehlenden Steuereinnahmen? Das zahlen alle anderen, die diese Funktionsverlagerung nicht vornehmen können. Jetzt verraten Sie mir einmal, welches kleine oder mittlere Unternehmen solche Funktionsverlagerungen vornimmt. ({1}) Es ist ein aggressiver Weg, die internationalen Konzerne zu bevorzugen und die kleinen zu benachteiligen. Diese Logik wollen wir hiermit durchbrechen. Es wird niemand bestreiten, dass bereits Innovationsimpulse in den Bereichen Umwelt, Energie und Technologieentwicklung mit der Folge der Schaffung von Arbeitsplätzen vor zehn, neun, acht Jahren Ursache dafür waren, Lothar Binding ({2}) dass wir auch jetzt relativ gut durch die Krise gekommen sind. Denn diese Art von Forschung und Innovationsentwicklung wirkt ja nicht von heute auf morgen. Es braucht Jahre, bis dies in der Wirtschaft wirklich etwas bewegt. Wir können froh sein, dass wir das vor vielen Jahren noch unter Rot-Grün initiiert haben. Das hat gewirkt, und das kann man heute messen. Das ist sehr gut. Damals stand allerdings die Projektförderung im Mittelpunkt. Wir wissen - vielleicht wissen Sie es ebenfalls -, dass die Projektförderung auch wieder fast ausschließlich den Großunternehmen hilft. Das kann man übrigens in einer sehr ausführlichen Studie nachlesen, die Sie vielleicht kennen. In Abhängigkeit von der Unternehmensgröße und vom Technologisierungsgrad reagieren private FuE-Aktivitäten unterschiedlich auf steuerliche FuE-Anreize. Meine Redezeit rennt dahin. Deshalb will ich nur sagen: Im Ergebnis wird hier ausgeführt, dass die kleinen Unternehmen von dieser Art der Projektförderung fast nichts haben, dass aber die großen, und zwar bis zu 80 Prozent, Mitnahmeeffekte organisieren und der Nettoeffekt dieser Förderung nur bei 20 Prozent überhaupt ankommt. Da merkt man: Es ist eine Fehlsteuerung. Deshalb muss man Sorge dafür tragen, dass man kleine und mittlere Unternehmen in den Mittelpunkt stellt und nicht Ihrer Idee oder der Idee der Bundesforschungsministerin Schavan folgt, nun wieder alle in diese Förderung mit aufzunehmen. Denn dann haben Sie diese Fehlanreize, wie eben geschildert. Wenn Sie den Gesetzentwurf, der morgen im Bundesrat beschlossen werden soll, tatsächlich beschließen, ist das ein weiterer Beleg dafür, dass Sie Großkonzerne bevorzugen. Denn die damit ermöglichte Gewinnverlagerung ins Ausland muss erneut von kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland bezahlt werden. Die dadurch wegfallenden Einnahmen aus der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer fehlen nicht nur den Kommunen, sie fehlen auch den kleinen und mittleren Unternehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir für diese Art der Mittelständler etwas tun. Sie müssten aber irgendwann einmal sagen, was Sie unter Mittelstand verstehen. Basierend auf Ihren Ideen habe ich inzwischen eine Definition entwickelt: Immer wenn jemand ein Unternehmen findet, das kleiner ist als das eigene, gehört dies Ihrer Meinung nach zum Mittelstand. Oder: Immer wenn einer ein Unternehmen findet, das größer ist als das eigene, gehört auch dieses zum Mittelstand. Aber die beiden kommen nie zusammen. ({3}) - Das verstehe ich. ({4}) Ich darf es für Sie auflösen: Wenn Sie diese beiden unabhängig voneinander betrachten, dann stellen Sie fest: Es gibt überhaupt kein Unternehmen, das nicht zum Mittelstand gehört. Mit dieser fehlerhaften Definition des Mittelstands machen Sie Politik. Daraus leitet sich immer wieder eine falsche Politik ab. Deshalb ist es wichtig, dass Sie die logischen Grundsätze gelegentlich beherzigen und damit möglicherweise Voraussetzungen für eine gute Politik schaffen. ({5}) Ich glaube, dass das eine ganz einfache Angelegenheit ist. Wenn wir unserem Antrag in Kombination mit dem von den Grünen folgen, sind wir für die nächste Krise besser gerüstet. Denn was wir jetzt machen, wirkt ja erst in sechs, sieben, acht Jahren. Wenn ich mir anschaue, was die Banker schon wieder treiben, dann weiß ich, dass die nächste Krise bestimmt kommt. Dann ist es gut, wenn wir klug aufgestellt sind. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Meinhardt. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD, ich freue mich wirklich über die beiden von Ihnen vorgelegten Anträge, die heute Gegenstand der Debatte sind. ({0}) Beide Anträge bestätigen uns von der FDP in unserer Auffassung, dass wir schnell, aber auch gründlich vorbereitet zu einer steuerlichen Förderung der Forschung und Entwicklung von in Deutschland forschenden Unternehmen kommen müssen. Als Innovationsland müssen wir den erheblichen Wettbewerbsnachteil der deutschen Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, zügig beseitigen. ({1}) Wir teilen die Auffassung der Bundesforschungsministerin, Frau Dr. Schavan, die am 29. Oktober in der Presse verkündet hat, sie strebe eine Steuergutschrift für alle Unternehmen - also keine Beschränkung auf KMU an, wobei sie die steuerliche Förderung von FuE bereits im kommenden Jahr eingeführt sehen möchte. Ich zitiere: Optimal wäre, wenn wir die Förderung schon im Lauf des Jahres 2010 starten könnten - dann würde sie noch in der Krise stabilisierend auf den Arbeitsmarkt für Forscher und Entwickler wirken. Diese Aussage unterstreiche ich doppelt und dreifach. ({2}) Der Koalitionsvertrag von FDP und CDU/CSU ist hier klar und eindeutig: Wir streben eine steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung an, die zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen auslöst. Diese Koalition hat sich selbst verpflichtet, den Forschungsstandort Deutschland nachhaltig zu stärken. Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, warum unterstellen Sie uns an dieser Stelle eine Verschiebetaktik? Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Was sagen Ihnen die folgenden drei Zahlen: 4 019, 2 583 und 50? ({3}) In den letzten elf Jahren hatten die geschätzten Kollegen der SPD 4 019 Tage Zeit, als Regierungspartei eine steuerliche FuE-Förderung auf den Weg zu bringen; die Grünen hatten, als sie an der Regierung waren, 2 583 Tage Zeit. Diese Koalition ist erst 50 Tage im Amt. Kommen Sie, das müssen Sie doch selbst eingestehen: Ihr Vorwurf ist lächerlich. ({4}) Die steuerliche FuE-Förderung ist Kernstück unserer Forschungsförderung, weil wir technologieoffen und unbürokratisch einen Innovationsschub für Deutschland erreichen wollen. Deswegen gilt: Erstens. Wir wollen die steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung als Instrument einer indirekten Förderung neben der direkten Projektförderung einführen. Zweitens. Wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass künftig FuE-Aufwendungen der steuerpflichtigen Unternehmen aller Rechtsformen - Kapitalgesellschaften, Einzelunternehmen und Personengesellschaften - unabhängig von ihrer Größe durch eine Steuergutschrift honoriert werden. So wird den Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, einen bestimmten Teil ihrer qualifizierten FuE-Aufwendungen über eine Steuergutschrift real erstattet zu bekommen. Drittens. Wir wollen zur Liquiditätssicherung der Unternehmen eine die Steuerschuld übersteigende Steuergutschrift unmittelbar auszahlen, um so bei den Unternehmen Liquiditätszuflüsse sicherzustellen, die wieder für FuE verwendet werden können. Viertens. Wir wollen, dass bei der Definition der Bemessungsgrundlage für die Förderung sämtliche FuEAufwendungen - Personal- und Sachaufwendungen sowie Aufwendungen für FuE-Auftragsforschung -, die das steuerpflichtige Unternehmen auf eigenes Risiko tätigt, berücksichtigt werden. Diese vier Eckpunkte sind die Grundlage einer erfolgreichen Konzeption, die jetzt in der Regierung solide ausgearbeitet werden muss. ({5}) Deutschland ist ein hochindustrialisiertes Land und verfügt über erhebliche FuE- und Innovationspotenziale. Die deutsche Wirtschaft hat ihre FuE-Ausgaben in den letzten zehn Jahren deutlich gesteigert. Wir geben derzeit 56,78 Milliarden Euro für FuE aus, davon werden 20 Prozent für externe Forschungsaufgaben verwendet. Die Hochschulen schaffen es, einen Vorteil von 7 Prozent, umgerechnet sind das 775 Millionen Euro, herauszuziehen. Die außeruniversitäre Forschung bewegt sich in einem Bereich von 4 Prozent, umgerechnet sind das 443 Millionen Euro. Das ist ein klares Zeichen dafür, in welche Richtung wir gehen müssen. Wir sind sicher, dass diese Leistung noch gesteigert werden kann und mit der Initiative der Bundesregierung auch gesteigert wird. ({6}) Der Anteil des Staates dagegen stagniert seit Jahren bei rund 0,7 Prozent vom BIP. Die staatliche Förderung von FuE in den Unternehmen ist rückläufig. Der Finanzierungsanteil der öffentlichen Hand an den FuE-Aufwendungen der Wirtschaft ist von 16,9 Prozent im Jahr 1981 auf 4,5 Prozent im Jahr 2006 gesunken, das heißt, in 25 Jahren auf 25 Prozent des ursprünglichen Betrages. Das ist der Grund, weswegen wir die notwendigen Impulse dringend benötigen. ({7}) Es tut diesem Haus gut, dass das Thema steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung endlich perspektivisch behandelt werden wird. 21 von 30 OECDStaaten und 15 europäische Staaten haben sie bereits. Diese Regierung wird diesen Wettbewerbsnachteil 2010 beseitigen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will daran erinnern: Forschung und Entwicklung gehören zu den Kernaufgaben erfolgreicher Unternehmensführung, unabhängig davon, ob sie staatlich gefördert werden oder nicht. Eine aktuelle IHK-Studie zeigt, dass das besonders in Krisenzeiten gilt und dass sich besonders Mittelständler daran gehalten haben; denn auch in KrisenDr. Petra Sitte zeiten hat ein Drittel der Mittelständler seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung erhöht. Die Bündnisgrünen wollen mit ihrem Antrag die Innovationskraft dieser Unternehmen stärken. Prinzipiell unterstützt meine Fraktion dieses Ziel. Allerdings glauben wir nicht, dass die vorgeschlagenen Steuergutschriften das geeignete Mittel sind. Verbände forschender Mittelständler bevorzugen in ihren Positionierungen nachgewiesenermaßen laufende Projektförderungen, wie sie vom Wirtschaftsministerium, aber auch vom BMBF angeboten werden. Was die Frage betrifft, wofür wir uns entscheiden bzw. wenn Sie ausführen, dass das zusätzlich erfolgen soll, dann muss man genau zuhören, was in diesen Tagen gesagt wird. Herr Pinkwart beispielsweise präferiert steuerliche Forschungsförderung. Er stellt fest, dass sich die Koalition in den nächsten Jahren auf diesen Punkt konzentrieren wird. Nun befürchten die Mittelständler, dass die Projektförderung dabei eingeschränkt wird und sie die Vorzüge für die Mittelständler nicht mehr hergibt. Die Projektförderung sorgt beispielsweise dafür, dass Beratung und Begleitung erfolgen, dass Planungssicherheit durch frühzeitige Mittelzusagen gewährleistet wird, während man umgekehrt, wenn man eine Steuergutschrift einführt, erst vorfinanzieren muss. Das heißt, erst durch eine nachgelagerte Betriebsprüfung wissen die Unternehmen, ob sie zumindest einen Teil der Mittel zurückbekommen. Das ist problematisch. Immerhin schneidet die Projektförderung der Bundesrepublik gar nicht schlecht ab. In einer Studie des Bundesverbandes der Deutschen Industrie - die zitiere ich nicht so oft - heißt es, dass die Projektförderung weltweit auf Platz zwei liegt. Gerade vor diesem Hintergrund muss man sich genau überlegen, ob man das angesichts der Enge der Haushalte sowohl in den Ländern als auch beim Bund aufs Spiel setzt. Man muss auch daran erinnern, dass infolge der Bankenkrise für die mittelständischen Unternehmen die Konditionen der Banken nicht besser werden. Die Eigenkapitalvorschriften, die für die Banken verschärft werden, werden sich natürlich auch bei den Unternehmen durch geänderte Kreditkonditionen niederschlagen. Deshalb sagen wir: Besser als Steuernachlässe helfen Projektförderung samt kompetenter Beratung und ein erleichterter Zugang zu Mittelstandskrediten. Die Vorschläge, die Sie machen, sowohl Steuergutschriften als auch steuerliche Forschungsförderung, entsprechen dem Gießkannenprinzip. Sie fördern in der Breite, und Sie fördern Mittelständler. FDP und CDU/ CSU wollen sich aber ausdrücklich dafür einsetzen, dass das auch für Großunternehmen gilt. Dazu muss ich sagen - Herr Meinhardt hat ausgeführt, dass es 21 Länder gibt, in denen die Forschungsförderung in dieser Form bereits eingeführt wurde -: Die Mehrzahl dieser 21 Länder hat keinen Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent, sondern von 25 Prozent. Ich finde, mit diesen 10 Prozentpunkten ist die Bundesregierung ganz schön in Vorleistung gegangen. Das hat den Staatshaushalt seit Einführung dieser 15 Prozent 200 Milliarden Euro gekostet. Da muss man schon seriös bleiben und das noch einmal genau abklopfen. Herr Steffel, eines muss man feststellen: Man kann sich mit dem Berliner Senat hier im Bundestag politisch auseinandersetzen, aber Adlershof ist ein Modellbeispiel, das Sie bundesweit kein zweites Mal finden. ({0}) Die Grünen wollen qualitative Maßstäbe einführen. Das ist eine gute Absicht. Sie sprechen von der ökologischen Wende, die als Maßstab berücksichtigt werden soll. Das geht allerdings nicht mit Steuergutschriften. Wir haben uns erkundigt und das haushaltstechnisch geprüft. Aus dieser Prüfung geht ganz klar hervor: Den Unternehmen steht diese steuerliche Forschungsförderung dann zu. Sie können keine zusätzlichen inhaltlichen Kriterien setzen. Insofern sage ich: Die Idee der Gutschrift ist nett gedacht, ist ein bissel Jamaika, löst das Problem aber nicht wirklich. Wir sollten lieber bei der Projektförderung in konzentrierter Form bleiben. ({1}) Zum SPD-Antrag will ich jetzt gar nicht viel sagen. ({2}) Ich habe ein bissel geschmunzelt, muss ich sagen. Sie haben diesen Antrag ganz schnell zusammengezimmert. Vor allem haben Sie hineingeschrieben: Liebe Regierung, mach meine Arbeit. - Sie haben ein paar Kriterien angedeutet. Ehrlich gesagt weiß ich aber nicht wirklich, wo Sie hinsichtlich der steuerlichen Forschungsförderung stehen. Ihr Beitrag hat das jetzt etwas deutlicher gemacht. Es wurde klar, dass auch Sie sich vor allem um die Mittelständler kümmern wollen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gern. Wir möchten bei der Projektförderung bleiben. Wir möchten sie zielgenauer und verlässlicher gestalten, und wir möchten vor allem von allen Fraktionen, die das hier befürworten, einen seriösen Gegenfinanzierungsvorschlag vorgelegt bekommen; denn das kostet insgesamt bis zu 4 Milliarden Euro. Das ist zumindest Ihre Auskunft. 12 Milliarden Euro wollte Frau Schavan insgesamt ausgeben. Wo soll das bitte herkommen? Danke. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, die vorliegenden Anträge sind durchaus interessant; denn sie unterstützen in vielen Passagen wohlmeinend die Absicht der Regierungsparteien. ({0}) Aber Achtung: Sie sind mit einigen Giftpilzen durchsetzt, von denen einem vielleicht schlecht werden kann. ({1}) Sie spenden zum Teil wohltuendes Licht. Allerdings hängen auch einige dunkle Wolken dazwischen. In einer dieser schwarzen Wolken in der Begründung heißt es zum Beispiel, die schwarz-gelbe Koalition würde mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz Wahlgeschenke an ihre Klientel verteilen. ({2}) Tatsache aber ist: Mehr als die Hälfte der in diesem Gesetz vorgesehenen Entlastungen betreffen Familien und Kinder, ({3}) und zwar jene Familien, die mit ihrer täglichen Arbeit und mit ihrer Leistung ihren und unseren Wohlstand sichern und dafür sorgen, dass wir auch denjenigen helfen können, denen es nicht so gut geht. ({4}) Diese Familienmütter und -väter wollen wir unterstützen, ja, aus voller Überzeugung. Wenn Sie Familien als Klientel bezeichnen, finde ich das unangemessen und respektlos. ({5}) Dass wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz auch und gerade für den Mittelstand Wachstumsimpulse setzen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Was meinen Sie, wer zum Beispiel von einer verbesserten Zinsschranke profitiert? Das sind gerade die kleinen und mittleren Unternehmen, die häufig mit hohem Fremdkapitaleinsatz neue Produkte und Innovationen voranbringen. Genau die profitieren davon. Jetzt möchte ich zu den eher lichtdurchfluteten Passagen der Anträge kommen. Ich begrüße es außerordentlich, dass die Grünen und hinterher auch ganz schnell die SPD die Wichtigkeit einer umfassenden Förderung von Forschung und Entwicklung klar herausgestellt haben. Auch uns liegt der Bereich besonders am Herzen. Schon in der vergangenen Legislaturperiode haben die Regierung und insbesondere das Forschungsministerium danach gehandelt. So sind die Investitionen in Forschung und Entwicklung um ein Drittel auf gut 12 Milliarden Euro gesteigert worden. Die Hightechstrategie wurde auf den Weg gebracht, und erfolgreiche Projektförderung, insbesondere für KMUs, wurde eingeführt; dies wollen wir weiterführen. Im Koalitionsvertrag haben wir nun gemeinsam mit unserem Partner, der FDP, ein Programm vereinbart, welches Bildung und Forschung in Deutschland absoluten Vorrang einräumt. So etwas hat es in dieser Form noch nicht gegeben. ({6}) Eine wichtige Maßnahme wird dabei die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung sein, die zusätzliche Wachstumsimpulse setzen wird. Natürlich freue ich mich, dass die Grünen und auch die SPD durchaus einige Ansichten teilen. Sollten wir hier nun tatsächlich Zeuge einer Wandlung vom grünen Saulus zum grünen technologieoffenen Paulus werden? Oder ist das nur eine neue Form von Greenwashing? Auch Sie wollen ja kleine und mittelständische Technologiefirmen stärken. Sollte dies nicht auch für kleine Firmen im Bereich Biotechnologie gelten? Ich denke, ja. ({7}) Oder für moderne Betriebe etwa aus dem Bereich Nano? ({8}) Natürlich. Oder für kleine Start-up-Firmen für Grüne Gentechnik? Ja, natürlich. ({9}) Wir wollen Innovationen und gute Ideen für gute Anwendungen fördern. Wir wollen keine Ideologiepolitik, keine Angstkampagnen, auch nicht unter dem Mäntelchen einer möglichen Gegenfinanzierung, wie Sie das hier mit Ihrer Atomsteuer machen wollen. ({10}) Wir brauchen eine ergänzende, in der Breite wirksame Förderung. Diese Förderung muss technologieoffen und möglichst unbürokratisch sein. Natürlich müssen wir Doppelförderung vermeiden. Ich habe durchaus große Sympathien für das Modell einer Steuergutschrift. Diese Steuergutschrift muss rechtsform- und größenunabhängig ausgestaltet sein. Sie sollte sich insbesondere - dieser Meinung bin ich - auf die Förderung bei den Personalkosten konzentrieren; denn - das weiß ich als Unternehmer - die Einstellung neuer Mitarbeiter ist die Hemmschwelle, die wir gerade im FuE-Bereich überwinden müssen. ({11}) Natürlich sollte sie keine regionalen Begrenzungen aufweisen. Die Einbeziehung von Auftragsforschung im Ausland darf nicht enthalten sein. Ob der Ausschluss von größeren Unternehmen - wir sprechen von Unternehmen mit zum Beispiel 255 Mitarbeitern - tatsächlich sinnvoll ist, müssen wir genau überlegen. Denn gerade bei mittleren und größeren Unternehmen gibt es einen Standortwettbewerb im Bereich von Forschung und Entwicklung, der häufig entscheidend ist bei der Einführung neuer Forschungs- und Entwicklungsprojekte. ({12}) Ich komme zum Schluss. Forschung, Innovationen und Technologien sind unser Kapital für die Zukunft. Wir wollen weiterhin das Land der Forscher und Ingenieure bleiben. ({13}) Wir sind ein technologiefreundliches Land. Wir freuen uns über neue Anwendungen. Wir sind begeisterungsfähig und verantwortungsbewusst. Eine kluge Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil unserer Innovationspolitik. Natürlich sind die Grünen, die SPD und auch die anderen herzlich eingeladen, diesen Weg mitzugehen. Aber, wie gesagt, es muss offen und ehrlich geschehen; denn Technikfeindlichkeit und Fortschrittspessimismus passen nicht zu uns. Die Idee, neue Ideologiesteuern zu schaffen, ist nicht vernünftig. Wir wollen Deutschland zur Bildungs- und Forschungsrepublik und zu einem Gründerland mit vielen jungen, innovativen Unternehmen machen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Dr. Murmann, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Als nächster Redner hat das Wort der Kollege René Röspel von der SPD-Fraktion. ({1})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute Abend schon eine Menge über Wirtschaftsförderung, Unternehmensförderung und Forschungsförderung gehört. Ich habe den Eindruck, dass es häufig ein bisschen durcheinandergegangen ist. Wenn man Unternehmen fördern will, dann kann man die Steuern für Unternehmen senken. Man erreicht dadurch das Ziel; sie freuen sich dann. Wenn man Investitionen fördern will, kann man ebenfalls die Steuern für Unternehmen senken; aber ob man das Ziel, mehr Investitionen, erreicht, ist fraglich. Bestes Beispiel - von mir aus auch schlechtestes Beispiel -: Die Energiekonzerne machen im Moment Milliardengewinne, aber sie investieren sie nicht und senken auch nicht die Energiepreise; vielmehr werden diese Gewinne schlicht und einfach eingesackt. Wir wollen heute Abend aber nicht über Wirtschaftsförderung, sondern über Forschungsförderung reden. Erlauben Sie mir deswegen, dass ich auf die Forschungsperspektive eingehe und auch deutlich mache, wie Forschung in Deutschland funktioniert. Erstens gibt es den großen Bereich der Grundlagenforschung. Grundlagenforschung ist nicht immer einfach. Man versteht sie häufig nicht, manchmal sieht man nicht ihren Sinn, und sehr häufig sieht man auch keine Anwendung. Trotzdem ist Grundlagenforschung der zentrale Wissenschaftsbereich und die Basis für die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands. ({0}) Grundlagenforschung wird allerdings fast ausschließlich staatlich finanziert. Das heißt, wir brauchen Steuergeld für die Grundlagenforschung. In den letzten Jahren haben wir das ausgebaut. Es ist gut, wenn auch die neue Regierung diesen Bereich weiter ausbauen will. Der zweite Bereich neben der Grundlagenforschung ist die Projekt- und Programmförderung; mein Kollege Lothar Binding ist darauf schon eingegangen. Bei der Projektförderung hat der Staat die Möglichkeit, in Bereichen, bei denen man der Auffassung ist, dass dies notwendig oder sinnvoll ist, gezielte Forschungsimpulse zu setzen. Die besten Beispiele dafür liegen in der Vergangenheit: Ohne steuerliche Förderung, ohne Forschungs-, ohne Projektförderung stünden wir bei erneuerbaren Energien, bei optischen Technologien, bei der Mikrosystemtechnik und in vielen anderen Bereichen heute nicht da, wo wir stehen. Wir wissen - das besagen die Gutachten -, dass Deutschland gut ist, wenn es um normale Gebrauchsgüter und hochwertige Technologien geht: Automobilbau, Chemie, Maschinenbau. Im Bereich der Spitzentechnologien werden uns aber auch Defizite bescheinigt. Das sind genau die Technologien, die wir im Rahmen der Projektförderung stärker fördern müssen. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Deswegen ist es unabdingbar, die Projektförderung zu erhalten und weiter auszubauen. ({1}) Man kann noch eine dritte Komponente anführen, nämlich die steuerliche Förderung von Unternehmen, die Förderung von Forschung und Entwicklung, FuE. Frau Ministerin Schavan hat Ende Oktober dieses Jahres verkündet - Herr Meinhardt, kritisieren Sie dafür nicht uns -, dass es im Bereich FuE für alle Unternehmen eine steuerliche Förderung im Umfang von 2 Milliarden Euro geben soll. An genau diesem Punkt sagen wir: Hier muss man ein Fragezeichen setzen. Aus den Gutachten und Expertengesprächen wissen wir, dass von einer steuerlichen FuE-Förderung aller Unternehmen zu vier Fünftel Großunternehmen und Großkonzerne profitieren wür1020 den. Das ist völlig klar und wurde auch im EFI-Gutachten beschrieben. Was bedeutet das? Es werden wieder Automobilbau, Chemie und Maschinenbau gefördert. Dagegen ist aus Sicht der Wirtschaftsförderung überhaupt nichts zu sagen. Aber das ist keine Forschungsförderung. ({2}) Deswegen sagen wir: Diese Mittel müssen, wenn sie denn bereitgestellt werden, zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, und sie dürfen nicht zulasten von Projektförderung und Grundlagenforschung gehen. Hier setzen wir, wie gesagt, Fragezeichen. Sowohl die Grünen als auch wir geben Ihnen Leitplanken an die Hand. Wir sagen: Es muss möglich sein - das ist auch richtig -, kleine und mittlere Unternehmen zu fördern. Wir wollen Innovationen und Forschung und Entwicklung fördern. Wir wollen keine Wirtschaftsoder Standortförderung betreiben - in diesem Bereich könnte man das pauschal machen -, sondern die Zielsetzung ist, innovative kleine und mittlere Unternehmen zu fördern. Wir sind sehr gespannt, wie es weitergeht. Wir erwarten nicht, dass Sie noch vor Weihnachten ein Konzept vorlegen. Frau Schavan hat diese Ankündigung im Oktober gemacht. Wenn es nicht bei einer Ankündigung bleiben soll, erwarten wir allerdings, dass die neue Regierung bis Ostern ein solches Konzept vorlegt. ({3}) Meine letzte Bemerkung. Ich befürchte, es wird bei einer der üblichen Ankündigungen bleiben. Denn beim ersten Blick in Ihren neuen Haushaltsentwurf für das Jahr 2010 habe ich den Betrag von 2 Milliarden Euro nicht gefunden, Herr Braun. Da Frau Schavan heute leider nicht hier ist - der Finanzminister ist ja in derselben Fraktion wie sie -, kann ich nur sagen: Wir sind sehr gespannt, ob es Ihnen tatsächlich gelingt, im nächsten Jahr etwas für kleine und mittlere Unternehmen zu tun. Wir werden das gespannt beobachten. Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/130 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- genabschätzung. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, Federfüh- rung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung. Wer stimmt für diesen Überwei- sungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit Mehrheit abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung beim Finanzausschuss - abstimmen. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die Vorlage auf Drucksache 17/247 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wer- den. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Studienpakt für Qualität und gute Lehre jetzt durchsetzen - Drucksache 17/109 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE Forderungen aus dem Bildungsstreik aufneh- men und die soziale Spaltung im Bildungssys- tem bekämpfen - Drucksache 17/119 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Priska Hinz ({1}), Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konsequenzen aus dem Bildungsstreik ziehen Bildungsaufbruch unverzüglich einleiten - Drucksache 17/131 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es WiVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms derspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dagmar Ziegler von der SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in dieser Woche wieder einmal schwarz-gelbe Chaostage. Das Hickhack und das Gezerre, das wir in diesen Tagen - zwischen dem Bildungstreffen gestern und der Bundesratssitzung morgen - erleben, zeigt deutlich, dass diese Bundesregierung weder zu einer seriösen Finanzpolitik noch zu einer seriösen Bildungspolitik in der Lage ist. ({0}) Die Bundesregierung beteuert seit Tagen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Fakt ist aber, dass das, was Union und FDP im Koalitionsvertrag zur Steuerpolitik und zur Bildungspolitik aufgeschrieben haben, allein deswegen miteinander zu tun hat, weil es hinten und vorne nicht zusammenpassen will. Genau dieser Widerspruch ist der Kanzlerin gestern beim vollmundig angekündigten zweiten Bildungsgipfel um die Ohren geflogen. Die Resonanz heute in der Presse müsste Ihnen deutlich gemacht haben, dass dem so ist. ({1}) Ziel dieses Treffens war es - da sind wir uns sicherlich einig -, verbindliche Finanzierungsschritte und konkrete Bildungsprojekte zu vereinbaren. ({2}) Dieses Ziel ist verfehlt worden. Die Entscheidung ist nämlich vertagt worden. Daher kommt die große Enttäuschung, die landesweit zu spüren ist. Das Ergebnis dieser Woche wird sein: Steuergeschenke für die Hoteliers, aber immer noch keine verbindlichen Vereinbarungen für die Bildung. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer zu einem Bildungsgipfel einlädt, parallel dazu aber dramatische Verschlechterungen der Einnahmesituation von Ländern und Kommunen vorbereitet, der gefährdet genau das, was in den nächsten Jahren bildungspolitisch geleistet werden kann. Deshalb muss die Bundesregierung sämtliche dieser eigenartigen Steuerpläne zurückziehen und den öffentlichen Haushalten die Spielräume eröffnen, die notwendig sind, damit gute Bildungspolitik gedeiht. Deutschland muss zu einer Bildungsrepublik werden statt zu einer Steueroase für wenige. ({4}) Im Übrigen hat der gestrige Tag noch etwas gezeigt, nämlich die inhaltliche Ideenlosigkeit unserer Bundesbildungsministerin. Schon der Kabinettsbeschluss zum Etat des Bildungsministeriums war ein Misstrauensvotum für die Ministerin; denn die Regierung hat sämtliche bildungspolitischen Prestigeprojekte der Ministerin unter Vorbehalt gestellt und - vielleicht haben Sie es noch gar nicht gemerkt - im Haushalt qualifiziert gesperrt. Auch in der Gipfelerklärung habe ich außer ein paar stichwortartigen Ankündigungen nichts Konkretes finden können. Vielleicht können Sie in Ihrem Redebeitrag etwas dazu sagen. Frau Schavan ist für uns mittlerweile zu einer Ministerin unter Dauervorbehalt geworden. Ich frage mich, wie viele sogenannte Bildungsgipfel noch notwendig sind, bis erstens endlich verbindliche Vereinbarungen zur Bildungsfinanzierung auf dem Tisch liegen und wir hier zweitens endlich über konkrete bildungspolitische Vorschläge dieser Regierung diskutieren können. 10. Juni nächsten Jahres - das heißt gleichzeitig: ein halbes Jahr verlorene Zeit für die Bildung in unserem Land. ({5}) Schon im Sommer haben uns die Studierenden auf die Probleme in der Hochschulpolitik aufmerksam gemacht. Ein halbes Jahr später ist nach unserer Ansicht die Zeit gekommen, dass Sie nicht nur eine Problemanalyse betreiben, sondern endlich auch Lösungsansätze aufzeigen sollten. Auch darauf hätten wir uns gestern auf dem Gipfel konkrete Antworten gewünscht. Nichts davon ist zu hören. Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag von der Bundesregierung deshalb, endlich handfeste Verbesserungen für die Studierenden auf den Weg zu bringen. Zwei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt: Erstens. Eine gute Lehre muss an den Hochschulen wieder den gleichen Stellenwert wie eine gute Forschung haben. ({6}) Wir sind uns einig: Nachbesserungen an den Studienund Prüfungsordnungen sind unverzichtbar. Das reicht aber nicht aus. Der Bund muss seinen Beitrag dazu leisten, den Bologna-Prozess auch sozial auszugestalten und ein gutes Studium in den neuen Studiengängen möglich zu machen. Der Wissenschaftsrat hat gesagt, dass die Hochschulen mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr mehr brauchen, um die Bologna-Reformen gut umzusetzen. Die SPDFraktion fordert die Bundesregierung deshalb auch auf, gemeinsam mit den Ländern einen Pakt für Studienqualität und gute Lehre zu vereinbaren, um diesen Mehrbedarf abzusichern - das heißt, 3 Milliarden Euro mehr für die Hochschulen in den nächsten drei Jahren. Frau Schavan wird nicht müde, ihr Bologna-Qualitätsund Mobilitätspaket anzukündigen - natürlich erst für das nächste Jahr und ohne zu sagen, was in diesem Paket enthalten sein soll. Wir sagen: Wir brauchen mehr Lehrende, und wir brauchen eine bessere Lehre. Deshalb fordern wir eine echte Personaloffensive an den Hochschulen - auch bei den Juniorprofessuren und im akademischen Mittelbau. Wir fordern einen Exzellenzwettbewerb für die Lehre, und wir wollen, dass die Studentinnen und Studenten besser beraten und betreut werden. Dazu gehört übrigens auch, dass die teilweise erheblichen Defizite der sozialen Infrastrukturen an den Hochschulen beseitigt werden. ({7}) Die Studierenden brauchen unter anderem bezahlbare Wohnungen und gut ausgestattete Studentenwerke. Zweitens. Eine verantwortungsvolle Hochschulpolitik muss immer auch eine aktive Politik für Chancengleichheit sein. Sie setzen auf Selektion und Auslese statt auf die soziale Öffnung der Hochschulen für alle. Das äußert sich momentan erwiesenermaßen darin, dass sich der BAföG-Beirat eben nicht auf die Höhe der notwendigen BAföG-Anhebung einigen kann. Gewerkschaften und Studentenwerke fordern eine spürbare Erhöhung, während die Bildungsministerin auf der Bremse steht. Daran wird ganz deutlich, dass die von der Regierung angekündigten Schritte eben nur Trippelschritte sind und dass beim BAföG nur Sozialkosmetik vorgenommen werden soll. Union und FDP wissen, dass sie ein BAföG-Schrittchen als Alibi brauchen, um von der Kritik an ihrer unsozialen Bildungspolitik abzulenken, sodass sie die sozialen Schieflagen in der Bildung weiter ausbauen können. Die Lösung wäre schlicht und einfach, das Stipendienprogramm ad acta zu legen, Studiengebühren abzuschaffen und eine echte BAföG-Reform vorzulegen, mit der vor allem die Freibeträge noch einmal deutlich aufgestockt werden, damit die Gruppe der BAföG-Berechtigten größer werden kann. ({8}) Ein letzter Punkt. Die von dieser Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung der Bildungsfinanzierung ist nicht nur sozial ungerecht, sie wird auch nicht funktionieren. Ich frage mich, was die Menschen neben KitaGebühren und Studiengebühren noch alles bezahlen sollen - und jetzt verlangt Frau Schavan auch noch, dass der Herr Meier aus Stuttgart das Stipendium für die Tochter von Frau Müller aus Köln bezahlen soll. Erklären Sie uns, wie das gehen soll. Daran kann keiner von Ihnen wirklich selber glauben. ({9}) Bildung ist eine öffentliche Aufgabe, und das muss sie auch bleiben. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Professor Dr. Peter Frankenberg. ({0}) Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vom Bildungsgipfel geht ein sehr positives Signal für unsere Hochschulen, für die Lehre, für die Forschung und auch für den Bologna-Prozess aus. ({2}) Die Pakte sind gesichert. Gerade der Hochschulpakt ist für die Zukunft der Lehre an den Hochschulen und für eine breitere Akademisierung unserer Bevölkerung wichtig. Der Bologna-Prozess ist im Prinzip richtig. Der Bologna-Prozess ist die Voraussetzung für eine einheitlichere Strukturierung der Curricula in Europa. Das gestufte Studiensystem infolge des Bologna-Prozesses ist richtig und wichtig, weil nur so eine breite Akademisierung, die wir brauchen, möglich wird. Bei der Umstellung ist vieles richtig gemacht worden. Wir sollten nicht die vielen Professorinnen und Professoren, die bei dieser Umstellung Hervorragendes geleistet haben, desavouieren. ({3}) Aber dass nach einer solchen Jahrhundertreform eine Optimierung notwendig ist, ist völlig klar. Das von uns geschaffene gestufte Studiensystem ist übrigens lange zuvor vom Wissenschaftsrat als die notwendige Lösung bei einer Reform des deutschen Studiensystems gefordert worden. Ich möchte drei Punkte nennen, die mir für eine Optimierung des Bologna-Systems wichtig sind. Der erste betrifft die Qualitätssicherung. Hätten wir eine funktionierende Qualitätssicherung, sprich Akkreditierung, dann dürfte es die Probleme, die in Studiengängen aufgetreten sind, eigentlich nicht geben. ({4}) Eine Akkreditierung auf dem Papier und a priori war nicht die Lösung für den Wegfall der staatlichen Genehmigung. Wir brauchen eine Evaluierung im laufenden Studienbetrieb unter Einbeziehung der studentischen Veranstaltungskritik. Das entspricht dem, was international für Qualitätssicherung und Akkreditierung wichtig und üblich ist. ({5}) Notwendig ist die Einbeziehung der Fachgesellschaften in das Akkreditierungs- und Qualitätssicherungssystem. Wir sollten den Wissenschaftsrat damit beauftragen, das System zu reformieren und auch eine Art Wächterrolle für dieses System zu übernehmen. Minister Dr. Peter Frankenberg ({6}) Die zweite große Herausforderung ist die größere Heterogenität der Studierenden, der wir uns heute gegenübersehen. Bei einem Anteil von 40 Prozent einer Altersgruppe, der ein Studium aufnimmt, können wir nicht mehr von Homogenität sprechen. Diesen Studierenden müssen wir durch die Möglichkeit unterschiedlicher Geschwindigkeiten im Studium gerecht werden. Das Studium muss in drei oder vier Jahren organisiert werden. Es muss auch Freiräume für diejenigen geben, die nach ihrer Neigung oder Befähigung anders studieren wollen als die, die beabsichtigen, in drei Jahren ein Fast-TrackStudium zu durchlaufen. Es muss die Möglichkeit von College-Semestern, also vorgeschalteten breiteren Studiengängen, geben, die dann in ein spezifisches Studium führen und zu einer besseren Orientierung und Qualifizierung der Studenten beitragen. Dazu müssen wir Möglichkeiten wie ein Modell „1+3+1+2“ schaffen, um auch eine Studiendauer von mehr als fünf Jahren zu ermöglichen. ({7}) Es ist richtig, dass das BAföG-System sozusagen bolognalisiert wird, also an diese Struktur mit ihren Unterbrechungen, den häufigeren Fachwechseln und der längeren Dauer angepasst wird. ({8}) Wir müssen auch die Frage der inneren Studienstruktur angehen. Schmale Bachelorangebote sind falsch. Der Bachelor sollte wesentlich breiter sein als das Masterangebot. Die Prüfungsdichte muss dort reduziert werden, wo Probleme aufgetreten sind. Es muss auch modulübergreifend geprüft werden können. Wir sollten auch bedenken, dass vielleicht eine Kombination von studienbegleitenden Prüfungen und Abschlussprüfungen ideal wäre. Wir haben die Abschlussprüfungen durch studienbegleitende Prüfungen ersetzt. Manchmal ist ein Stück Tradition im besten konservativen Sinne gemischt mit einer Neuerung die bessere Lösung als eine zu radikale Neuerung. Dann kommt die Frage des Bachelor-Master-Übergangs. Es ist sicherlich völlig unverzichtbar, dass es bestimmte Qualifikationsfeststellungen gibt. Wer auf diese verzichten will, hat das Bologna-System nicht verstanden. Das ist kein nur konsekutives System. Es muss ein Wechsel des Faches, der Hochschule und des Landes angedacht sein. Bei dem Wechsel des Landes denke ich nicht nur an einen Wechsel von Württemberg nach Baden. ({9}) - Das ist aber ein Sprung, auf den ich jetzt nicht im Detail eingehen möchte. Wir müssen das Angebot an Masterstudienplätzen nicht reglementieren, sondern wir sollten es der befähigten Nachfrage anpassen, ({10}) anders als im Erlass vom 16. Februar 2005 durch die Ministerin Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen festgelegt wurde, der vorschreibt, dass 20 Prozent des Lehrangebotes der Universitäten und 10 Prozent des Lehrangebotes der Fachhochschulen für das Masterstudium reserviert sein sollen, das heißt, 80 bzw. 90 Prozent für das Bachelorstudium. So Frau Kraft in dem Erlass zu den landesspezifischen Strukturvorgaben in NordrheinWestfalen. ({11}) Eine solche planwirtschaftliche Bewirtschaftung ist uns fremd. ({12}) Mit Bologna verhält es sich insgesamt wie mit der Kirche: Bologna semper reformanda, aber im Prinzip gut. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers von der Fraktion Die Linke. ({0})

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Lehrerin muss ich natürlich auf den Bildungsstreik in meiner Heimstadt Bremen eingehen. Das Motto lautet: Gute Bildung für alle, und zwar sofort. So wie bei uns in Bremen streiken zurzeit Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten von Greifswald bis München. Sie fordern eine Finanzierung für Bildung, die ihre Lern- und Ausbildungsbedingungen sofort und nachhaltig verbessert, und zwar für alle. Bildung darf nicht von der sozialen Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. ({0}) Auf dem gestrigen Bildungsgipfel wurde nun vereinbart, bis 2015 zusätzlich 13 Milliarden Euro in sechs Jahren in Bildung zu investieren. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man bedenkt, dass im letzten Jahr auf dem Bildungsgipfel noch von einem Gesamtbedarf in Höhe von 60 Milliarden Euro pro Jahr gesprochen wurde, um bis 2015 das Ziel, 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung auszugeben, zu erreichen. Um Ihre mickrigen 13 Milliarden Euro zu erreichen, ({1}) sollen jetzt auch noch Pensionsansprüche von Lehrerinnen und Lehrern sowie Professorinnen und Professoren und sogar Kitabeiträge der Eltern einberechnet werden. Meine Damen und Herren von der Union, Ihr Parteifreund, der sächsische Kultusminister Roland Wöller sagt - wie ich finde: treffend -: „Das sind Taschenspielertricks.“ ({2}) Im Bremer Bildungsstreik spielen aber nicht nur Studentinnen und Studenten sowie Schülerinnen und Schüler eine Rolle. Vielmehr solidarisieren sie sich auch mit Auszubildenden und Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz haben oder sich in Übergangsmaßnahmen befinden. Ziel des Bildungsgipfels vor einem Jahr war, viele Maßnahmen auf Bundesebene voranzutreiben. Sie wollten beispielsweise Kampagnen starten, um Ausbildungsplätze für alle zu schaffen. Übergangsmaßnahmen sollten als Ausbildungszeit angerechnet werden. Aber außer Spesen nichts gewesen! Da hilft es auch nicht, wenn die Bildungsministerin in ihrer Antrittsrede erneut davon spricht, dass die berufliche Bildung das Flagschiff unseres Bildungssystems ist. Statt etwas für die jungen Leute zu tun, haben Sie lieber Mikado gespielt: Wer etwas bewegt, hat verloren. ({3}) Frau Schavan und meine Damen und Herren von der Union, können Sie sich eigentlich vorstellen, was dies mit jungen Leuten macht? Ich habe die Mutlosigkeit und die Verzweiflung bei meiner Arbeit kennengelernt. Es muss Ihnen doch zu denken geben, dass die OECD seit Jahren beklagt, dass Deutschland seine Bildungschancen nach sozialer Herkunft verteilt. Besonders hart sind die Bedingungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Arbeitnehmerkammer Bremen weist in ihrem Armutsbericht 2008 nach, dass diese Jugendlichen bei gleichem Leistungsniveau eine deutlich geringere Chance auf einen Ausbildungsplatz haben. Frau Schavan, mit dieser Bildungspolitik treiben Sie die Spaltung der Gesellschaft weiter voran. Renate Köcher schrieb gestern in der FAZ, dass nur 31 Prozent der Menschen aus sozial benachteiligten Schichten „an die Möglichkeit glauben, durch Leistung die eigene Lage zu verbessern“. Das ist ein Alarmsignal. Investieren Sie endlich mindestens 13 Milliarden Euro pro Jahr! 13 Milliarden Euro auf sechs Jahre verteilt, das ist doch nur ein durchsichtiges Angebot an die Länder, damit sie morgen dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz zustimmen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Alpers, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Martin Neumann von der FDP-Fraktion. ({1})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Professor Frankenberg, ich möchte mich ganz ausdrücklich für Ihren Beitrag bedanken, der die Diskussion über dieses Thema deutlich qualifiziert hat. ({0}) Die Koalition und die Opposition vereint ein Ziel: Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen. Das lassen die drei vorliegenden Anträge aus den Oppositionsfraktionen auf den ersten Blick vermuten, aber der Schein trügt. In Ihren Anträgen, meine Damen und Herren von der Opposition, formulieren Sie Feststellungen über den angeblichen Zustand des deutschen Bildungssystems. Diese Feststellungen werden aber von der Wirklichkeit nicht bestätigt. Dies hat nicht zuletzt die aktuelle Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes „Hochschulstandort Deutschland 2009“, wie ich finde, eindrucksvoll belegt. Erstens. Die Studienanfängerquote ist mit 43 Prozent so hoch wie nie zuvor. Zweitens. Es gibt keinen systematischen Zusammenhang zwischen allgemeinen Studiengebühren und dem Mobilitätsverhalten der Studienanfänger. Das heißt, es ist entgegen Ihren Behauptungen kein Abschreckungseffekt erkennbar. ({1}) Drittens. Die durchschnittliche Studiendauer hat sich auf 9,6 Fachsemester verkürzt, zum einen durch die Einführung des Bachelorstudiums, zum anderen aber auch durch die Einführung von Studiengebühren für Langzeitstudenten. Viertens. Die Erfolgsquoten sind mit durchschnittlich 68 Prozent noch gering, aber - auch das zeigen die statistischen Zahlen - die höchsten Quoten liegen bei Studiengängen mit Zulassungsbeschränkungen wie zum Beispiel Medizin oder bei Studiengängen, die einem Auswahlverfahren an den Hochschulen unterliegen. Das heißt, mehr Autonomie der Hochschulen kann für eine bessere Studienorganisation sorgen, ein Weg, den wir weiter beschreiten werden. ({2}) Ich will hier nichts schönfärben, aber wir sollten die Realität zur Kenntnis nehmen. Die ist eben nicht schwarz-weiß oder, wenn ich es auf das Parlament beziehe, rot-grün. Bevor wir die Bologna-Reform vorschnell verteufeln und zum Sündenbock für eine als ungerecht empfundene Hochschulpolitik abstempeln, ({3}) blicken wir doch einmal zehn Jahre zurück. Es waren doch die allseits beklagten Mängel des alten StudiensysDr. Martin Neumann ({4}) tems, dass die Durchschnittszahlen bei 13 bis 14 Semestern lagen, dass eine Abbruchquote von über 30 Prozent bestand und dass die Hochschulabsolventen mit durchschnittlich 28 Jahren im weltweiten Vergleich viel zu alt waren. Hier hat Bologna angesetzt, und zwar, wie ich meine, mit Erfolg. ({5}) Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Aber ein Zurück wäre ganz bestimmt kein Schritt in Richtung Bildungsrepublik. Dort wollen wir doch alle hin. Wir als FDP erwarten, dass jeder seine Hausaufgaben macht. Eine echte Bildungspartnerschaft - die ist Bedingung für eine Bildungsrepublik Deutschland - ist eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern, Kommunen und vor allem den Hochschulen, die sich dem Umstellungsprozess stellen müssen, der von der Politik zu begleiten ist. Die Kritik an Bologna, wie sie auch in den Studentenprotesten häufig zu hören ist, ist nur teilweise berechtigt. Wenn die Studierenden zum Beispiel eine Verschulung und Überfrachtung des Studiums sowie eine zu hohe Arbeitsbelastung beklagen, dann ist das nur bedingt dem Bologna-Prozess zuzuschreiben. Gerade die Hochschulen haben es doch in der Hand, mit ihren Prüfungsordnungen die Belastungen ihrer Studierenden zu steuern. Diese sind nach meinen eigenen Erfahrungen nur unwesentlich höher, als sie es bei den Diplomstudiengängen schon waren. Die Hochschulen haben es in der Hand, über Zulassungsverfahren und Kapazitätsplanungen eine Überfüllung der Hörsäle zu vermeiden. Dass hier die Länder maßgeblich den Erfolg von Bologna beeinflussen können, zeigt nicht nur das Positivbeispiel Nordrhein-Westfalen. Es gibt auch eine andere Richtung. Ich schaue da nur auf mein Heimatland Brandenburg, wo die SPD ununterbrochen seit 1990 regiert und wo die rot-rote Mehrheit erst gestern im Landtag beschlossen hat, dass die Lage an den Hochschulen im Land in einem mehrmonatigen Prozess zunächst einmal bewertet werden soll, um dann frühestens im vierten Quartal - man höre! - 2010 eventuell eine Änderung herbeizuführen, ({6}) und das angesichts des schlechten Betreuungsverhältnisses zwischen Dozenten und Studenten an den Brandenburger Universitäten von 1 : 21,1 im Vergleich zum Bundesdurchschnitt von 1 : 17,6. Es verwundert mich schon, dass Sie die Bundesregierung hier zu schnellem Handeln auffordern und die Studenten dort, wo Sie selbst in der Regierungsverantwortung sind, unnötig hinhalten. ({7}) - Liebe Frau Ziegler, die Brandenburger SPD-Wissenschaftsministerin, Ihre Parteifreundin, wird heute in der Schweriner Volkszeitung zitiert, viele Befürchtungen der Studenten seien „nicht durch Fakten untersetzt“. In dieser Einschätzung liegt viel Wahres. Vielleicht sollten Sie einmal mit Ihren Fachministern in den Ländern reden, bevor Sie uns im Deutschen Bundestag mit Anträgen ein Bild zeichnen, das mit der Realität wenig zu tun hat. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Neumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ziegler?

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass neun Jahre Wissenschaftspolitik im Land Brandenburg, auf die Sie gerade rekurriert haben, in der Verantwortung einer CDU-Ministerin lag.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Ziegler, wenn Sie genau zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe: Die SPD-Wissenschaftsministerin hat das, was ich hier zitiert habe, gestern gesagt. ({0}) Sie beschreibt eine Situation nach ihrem Blickwinkel. ({1}) Wir wollen Deutschland zur Bildungsrepublik machen. Wir handeln auch so und belassen es nicht bei unseriösen Anträgen, deren Aussagen die Wirklichkeit nicht widerspiegeln, sondern in denen Sie ganz offensichtlich einigen Studenten mit ideologisch begründeten Forderungen nach dem Munde reden. Ich komme zum Schluss. Es wäre aus meiner Sicht unsozial, wenn wir den Familien nicht mit einem fairen Steuersystem mehr Geld für die Ausbildung ihrer Kinder geben würden. Es wäre unsozial, wenn wir 10 Prozent der Studierenden ein Stipendium verweigern würden. Es wäre unsozial, wenn wir Schülern aus finanzschwächeren Familien nicht vor Ort mit Bildungsschecks helfen würden, die besten Förderangebote zu erhalten. Also: Fordern Sie nicht nur! Kritisieren Sie nicht nur! Beenden Sie vor allem Ihre ideologischen Klassenkämpfe, und schärfen Sie Ihre Sinne für die Wirklichkeit! Ich bedanke mich. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Neumann, Sie haben recht. Es geht immer mit der Betrachtung der Realität los. Deshalb freue ich mich, dass FDP, Union und Grüne heute im Saarländischen Landtag gemeinsam die Abschaffung der unsozialen Studiengebühren beantragt haben. ({0}) Im Sinne der Wahrnehmung der Wirklichkeit möchte ich sehr deutlich sagen, dass man die heutige Debatte ohne eine kritische Bewertung des gestrigen Bildungsgipfels II nicht führen kann. Auf dem Treffen von Kanzlerin, Bundesministerin und Ministerpräsidenten der Länder hätten Konsequenzen aus den Bildungsstreiks gezogen werden können und müssen. Das Treffen hat aber nur einen Titel verdient: Der Berg kreißte und gebar noch nicht mal eine Maus. ({1}) Die Bildungsrepublik ist gestern zum Märchenland von Merkel und Schavan geworden. Sich von Gipfel zu Gipfel zu vertagen, ohne verbindliche Lösungen zu liefern, ist kein Meilenstein für eine bessere und gerechtere Bildung, sondern ein Armutszeugnis für die Bundesregierung und eine schlechte Nachricht für die Zukunftsperspektiven von Schülern und Studierenden. ({2}) Die Koalition sollte sich etwas anderes in den Adventskalender schreiben: Eine Bildungsrepublik lässt sich nicht auf Steuersenkungen, Statistiktricks und Machtgeschacher mit den Ländern aufbauen. Mit Schönrechnen, Tricksen und Schachern haben Bund und Länder gestern auf die völlig unterdurchschnittlichen Bildungsinvestitionen in Deutschland geantwortet. Aus unserer Sicht ist es geradezu unanständig, die jährlich 23 Milliarden Euro große Finanzierungslücke zum OECD-Durchschnitt kleinzutricksen, indem unter anderem Pensionen von Lehrern und Professoren und fiktive Mietkosten für Grundstücke und Gebäude einfach zum Bildungsbudget hinzuaddiert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, mit Bilanzfälschung lassen sich Unterfinanzierung, Ungerechtigkeiten und Blockaden in unserem Bildungssystem sicherlich nicht beheben. ({3}) Für die Bildung hat der Bund gestern kümmerliche 5,2 Milliarden Euro auf den Verhandlungstisch gelegt an einem Tag, an dem der Finanzminister seinen Haushaltsentwurf für 2010 vorgelegt hat, in dem 100 Milliarden Euro neue Schulden eingeplant sind, einen Tag bevor Sie den Ländern und Kommunen mit Beschlüssen zu milliardenschweren Steuerausfällen die Möglichkeit zur Schaffung einer Bildungsrepublik unter den Füßen wegziehen. Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist nichts anderes als ein Bildungsbrems- und Schuldenaufbaugesetz. Als solches wird es auch in die Geschichte eingehen. ({4}) Es ist hier schon angesprochen worden, aber man muss es Ihnen immer wieder sagen: Es ist ein Armutszeugnis, dass die Koalition lieber Hotelbetten subventioniert, statt eine verbindliche Zahl von Studienplätzen aufzubauen. ({5}) Sie handeln damit fahrlässig. Wenn man noch die neuen Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro berücksichtigt, muss man feststellen, dass Sie das Prinzip der Generationengerechtigkeit ganz offensichtlich in die Tonne treten. ({6}) Wir als Grüne haben ein Paket an Maßnahmen geschnürt, mit dem der Bildungsaufbruch gelingen kann. Im Gegensatz zu Ihnen haben wir auch einen Finanzierungsvorschlag gemacht. Wir wollen unter anderem, dass der Soli Ost schrittweise in einen Bildungssoli umgewandelt werden soll. Mit diesem Bildungssoli könnten Sie konsequent in Bildungseinrichtungen investieren und damit einen gesamtstaatlichen Kraftakt stemmen. Darauf hätten Sie sich gestern auch verständigen können. ({7}) Wo wir gerade beim gesamtstaatlichen Bildungsaufbruch sind, möchte ich sehr deutlich sagen: Das absurde Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern bei der Bildung, das in der Föderalismusreform I festgeschrieben wurde, muss endlich wieder fallen; denn es hat bildungspolitische Kleinstaaterei und Flickenteppiche gebracht und solches Geschacher wie gestern hervorgerufen. Wenn selbst Frau Schavan in einem Interview dieses Kooperationsverbot mittlerweile ganz klar als Fehler bezeichnet, sollte Schwarz-Gelb diesen Fehler unverzüglich korrigieren. Dann kann man das bildungspolitisch Notwendige in diesem Land auch besser anpacken. ({8}) Wir fordern in unserem Antrag unter anderem, den Ausbau von Ganztagsschulen mit einem neuen GanzKai Gehring tagsschulinvestitionsprogramm im neuen Jahr fortzusetzen. Wir wollen einen echten Pakt für Studierende. Hierdurch sollen 500 000 Studienplätze geschaffen, bessere Lehr- und Studienbedingungen gefördert und die Bologna-Reform korrigiert werden. Ein wichtiges Anliegen ist uns auch die Stärkung der staatlichen Studienfinanzierung, das heißt eine sofortige BAföG-Erhöhung statt eines völlig vagen Stipendienprogramms, ein mittelfristiger Ausbau der Studienfinanzierung zu einem Zwei-Säulen-Modell sowie die Abschaffung von Studiengebühren. Das alles sind wichtige Vorschläge, die die Koalition aufgreifen könnte, um die skandalöse Bildungsspaltung in unserem Land tatsächlich zu beheben. In diesem Sinne freue ich mich auf weitere Debatten über unsere Anträge sowohl im Ausschuss als auch vor Ort in den Audimaxen dieser Republik. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Thomas Feist von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Bildungsfreunde! ({0}) Im Wesentlichen lässt sich zu den uns hier vorliegenden Anträgen Folgendes sagen: Erstens. Sie sind ihrem Wesen nach nicht neu. Zweitens. Sie sind ihrem Inhalt nach nicht besonders innovativ. Drittens. Sie sind in ihren Begründungen zumindest teilweise recht originell. - Originell ist es allerdings nicht, dass es offenbar der Reflex auf öffentliche Diskussionen der letzten Wochen ist, der die Opposition zu diesen Anträgen geführt hat. Hilfreicher als derart reflexartige Handlungen wäre es, halbgare Bildungskonzepte nicht erst dann aus dem Hut zu zaubern, wenn sich auf der Flamme öffentlicher Diskussion daraus das eigene politische Süppchen kochen lässt. Es erstaunt mich nicht, dass die Aussagen des Koalitionsvertrages zu konkreten Maßnahmen wie Bildungsbündnissen vor Ort, dem Ausbau der Bildungsfinanzierung und dem Primat schulischer Qualität von den Antragstellern offenbar nicht zur Kenntnis genommen wurden. ({1}) Das ist der Blickwinkel der Opposition, das ist nicht anders zu erwarten. ({2}) Es erstaunt zumindest teilweise, dass unter der Überschrift „Bildungspolitik“ in allen drei Anträgen fast ausschließlich Aussagen zur Sozialpolitik zu finden sind. Ich wünsche mir ganz persönlich in Zukunft etwas weniger Wiederholungen altbekannter Statements und etwas mehr Beharrlichkeit im Thema. ({3}) Wirklich erstaunlich ist der Umstand, dass in keinem der Anträge etwas dazu steht, wie eine Erhöhung der Qualität von Bildung erreicht werden kann. Es darf zumindest bezweifelt werden, dass dies durch eine Absenkung oder gar durch den Wegfall jeglicher Zugangsbeschränkungen zum Studium oder durch die in den Anträgen ausführlich beschriebenen Rundum-sorglosPakete für Abiturienten möglich ist. ({4}) Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der in allen Anträgen beschworene Standortvorteil durch fehlende Studiengebühren dem Standortvorteil durch exzellente Lehre und Forschung bei gleichzeitig erhobenen Gebühren überlegen ist. Den Beweis dafür sind Sie schuldig geblieben. ({5}) Ein Weiteres kommt hinzu: Die in den Anträgen beschworene Zwangsläufigkeit der Aufnahme eines Studiums nach abgelegtem Abitur widerspricht der Wahlfreiheit des Einzelnen, ({6}) für die Sie doch sonst immer so vehement eintreten. Fast - aber nur fast - könnte man meinen, Sie instrumentalisieren Studierende für Ihre eigenen politischen Zwecke, ohne tatsächlich an den jeweiligen Bildungsbiografien junger Menschen interessiert zu sein. ({7}) Zu den einzelnen Anträgen. Der Vorschlag der SPD ist geradezu visionär, und man müsste dazu gratulieren, wenn er nicht unlängst von der bildungspolitischen Realität überholt worden wäre. Es ist schade für die Pointe Ihres Antrages, dass mittlerweile bereits ein Großteil dessen eingelöst ist, was Sie fordern, und dies, ohne dass ein Pakt - in welcher Form und von wem auch immer notwendig gewesen wäre. ({8}) Mit der Anpassung der ländergemeinsamen Strukturvorgaben hat die Kultusministerkonferenz vom 10. Dezember dieses Jahres einen ganz wesentlichen Beitrag zur Beseitigung bestehender Fehlentwicklungen bei der Umstellung der Studiengänge geleistet. Die Regelstudienzeiten werden demzufolge flexibilisiert, und Mobilitätsfenster innerhalb des Studiums gewährleisten zukünftig die erforderlichen Zeiträume für Aufenthalte der Studierenden an anderen Hochschulen. Der Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, aus dem Solizuschlag einen Bildungssoli zu machen, ist - so stellt er sich nach außen dar - der wirklich große Wurf, die geniale Eingebung, auf die wir und die Bildungslandschaft im Besonderen schon immer gewartet haben. ({9}) Schade ist nur, dass er eines völlig außer Acht lässt, dass nämlich noch nie mehr Geld für Bildung bereitgestellt wurde als heute. Zu einer zukunftsfähigen finanziellen Ausstattung der deutschen Bildungslandschaft gehört allerdings auch, die richtigen Prioritäten zu setzen. Hier hat die Koalitionsregierung konkrete Vorschläge unterbreitet. Sie lauten: BAföG-Erhöhung, Stipendiensystem und Bildungssparen. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung selbst eingesetzten Sperrvermerke sind für mich ein gutes Signal, dass das Parlament angemessen an den weiteren Entscheidungen beteiligt wird. ({10}) Das in gewohnt klassenkämpferischer Manier verfasste Papier der Linken lasse ich an dieser Stelle unkommentiert. ({11}) Breiten wir so kurz vor Weihnachten den großen Mantel der christlichen Nächstenliebe darüber. Abschließend möchte ich noch kurz auf die Studentenproteste eingehen. Es ist wichtig, dass wir als Bildungspolitiker auch weiterhin mit denjenigen Studentenvertretern im Gespräch bleiben, für die der Begriff „konstruktiver Dialog“ keine Kapitulationserklärung an das System, sondern Grundlage allen Streits um eine kontinuierliche Verbesserung unserer Bildungslandschaft ist. Hierbei muss erstens gelten: gleiche Chancen für alle statt Gleichmacherei, und zweitens müssen Verantwortung des Staates und persönliche Verantwortung des Einzelnen sich ergänzen. ({12}) Noch wichtiger ist allerdings, dass sich die Opposition nicht in einer Debatte über Pakte verzettelt, sondern mit Blick auf eine gute Bildung in unserem Land mit anpackt. Handlungsfelder dafür bieten sich in den bildungspolitischen Aktivitäten der jetzigen Bundesregierung zuhauf. Neben der schon erwähnten Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge sowie der Anhebung der Altersgrenze beim BAföG ist hier auch die erhebliche Steigerung der Investitionen in Bildung und Forschung, in die Zukunft und in die Menschen in diesem Lande zu nennen. Zusammengefasst wäre es für die Bürger unseres Landes ein wichtiges Signal, wenn die Opposition sich fürderhin auf konstruktive Äußerungen zur Bildungspolitik beschränkt und die Gesetze zur Verbesserung der Studienrahmenbedingungen und der Studienfinanzierung demnächst im Deutschen Bundestag gemeinsam mit uns beschließt. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Feist, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/109, 17/119 und 17/131 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Übertragung der bundeseigenen Seengewässer auf die neuen Länder - Drucksache 17/238 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Privatisierung von Äckern, Seen und Wäldern - Drucksache 17/239 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Hacker von der SPD-Fraktion. ({3})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Praxis der Seenverkäufe durch die BVVG schlägt hohe Wellen, um es einmal bildhaft darzustellen, zum Beispiel rund um den Malchiner See. Mitten im wunderschönen Naturpark Mecklenburgische Schweiz gelegen, bietet der Malchiner See auf mehr als acht Kilometern Länge vielen Menschen einen Raum für Erholung und für Tourismus. Wenn der Winter kommt - wir hoffen das immer noch -, ist er ein Ort zum Eislaufen. Aber auch bei Anglern und Eisseglern ist dieser See sehr beliebt. Das ganze Jahr über fahren Angeltouristen an diesen See, um einen Hecht, einen Zander oder einen Aal zu fangen. Das alles könnte in Gefahr geraten, wenn die Privatisierung der bundeseigenen Seengewässer wie bisher fortgesetzt wird. Die SPD-Bundestagsfraktion hat deswegen diesen Antrag eingebracht mit dem Ziel, die betreffenden Seengewässer auf die neuen Länder, konkret: auf die Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, zu übertragen und - solange dies noch nicht geschehen ist - die öffentliche Ausschreibung zu stoppen. Wie kommt es zu dieser Privatisierung, zu den Verkäufen von Seengewässern? Ich rufe in Erinnerung: Mit der deutschen Einheit sind dem Bund diese Seen zugefallen. Ungefähr 14 000 Hektar Gewässerflächen sind bereits verkauft worden. Wir müssen sicherstellen, dass Touristen und Erholungssuchende, Angler und Fischer, die dort gewerbsmäßig arbeiten, freien Zugang zu diesen Seen behalten. Ein weiterer Verkauf von Seengewässern nach Marktbedingungen führt dazu, dass diese Flächen der Allgemeinheit nicht mehr zugänglich sind. ({0}) Es muss ein Verfahrensweg gefunden werden, mit dem dies verhindert wird. Diesem Ziel dient unser Antrag. Unser Antrag zielt darauf ab, die Übertragung des Eigentums auf die jeweiligen Länder zu ermöglichen, und zwar unentgeltlich. Ich bin optimistisch, dass dieser Vorschlag, der im Antrag enthalten ist, bei den Ländern auf große Zustimmung stoßen wird. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine Debatte im Schweriner Landtag, in der sich alle Fraktionen für diesen Weg ausgesprochen haben, Herr Kollege Rehberg. ({1}) Ich erinnere daran, dass diese Thematik auch Gegenstand der Beratungen im Bundesrat sein wird. Ich zeige Ihnen morgen gerne einen Brief Ihrer ehemaligen Kollegen aus der CDU-Landtagsfraktion, die mich ausdrücklich aufgefordert haben, mich in diesem Sinne im Bundestag zu engagieren. ({2}) Ich bin froh, dass ich bei der CDU in Mecklenburg-Vorpommern Unterstützung für diesen Antrag gefunden habe. Ich freue mich darauf, wenn sich die Kollegen der CDU aus Mecklenburg-Vorpommern heute klar positionieren und für diesen Antrag stimmen. ({3}) Der Antrag greift wichtige Aspekte des Natur- und Umweltschutzes auf, die verloren gehen würden, wenn die Verkaufspraxis so fortgeführt würde. Ich erinnere daran, dass viele Menschen, die in Regionen leben, in denen Seen privatisiert werden sollen, tief betroffen sind. Dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages liegen Petitionen mit über 84 000 Unterschriften vor, Herr Rehberg. Ich würde es als ein Zeichen der Wahrnehmung von Mitwirkungsrechten der Bürger ansehen, wenn dieses Bürgeranliegen ernst genommen wird, dementsprechend die Privatisierungspolitik gestoppt wird und mit einem Gesetz, das wir einfordern, eine Neuregelung geschaffen wird. Die Länder in Deutschland sind verpflichtet, europäisches Recht umzusetzen, das heißt, zur Gewässerreinhaltung und zu einer ökologisch günstigeren Gewässerbilanz beizutragen. Schon das hat viel Geld gekostet, und es kostet noch mehr Geld. Es wäre unverantwortlich, wenn die Gewässer, in die bereits investiert worden ist, jetzt nicht mehr öffentlich zugänglich wären, wenn diese der öffentlichen Hand entzogen würden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam die bisherige Privatisierungspolitik der BVVG, die eine gesetzliche Grundlage hat - das will ich gar nicht in Zweifel ziehen -, überdenken und in den Ausschussberatungen einen Weg finden, diese Regelung im Interesse von Mensch und Natur zu überarbeiten. Wir leisten damit den Interessen von Anglern, Fischern, Touristen und Badebesuchern und nicht zuletzt den Generationen, die nach uns diese Gewässer nutzen möchten und sich dort an der Tier- und Pflanzenwelt erfreuen wollen, einen Dienst. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, verbunden mit der Einladung zu einer guten Beratung in den Ausschüssen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Privatisierung ehemals volkseigener Flächen durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, die BVVG, erregt derzeit einige Gemüter, nicht nur die der SPD und der Linken. Aber geht es hier im Kern wirklich um die Frage der Privatisierung, also um die Form des Eigentumsübergangs? Sowohl die Formulierungen in Ihren Anträgen als auch die Ausführungen des Kollegen Hacker eben deuten auf etwas ganz anderes hin. Es geht im Kern um zwei andere Fragen, nämlich um die der sozialverträglichen Nutzung des erworbenen Eigentums und um die Frage des Preises; das haben Sie eben angesprochen. Zunächst zur sozialverträglichen Nutzung. In den Anträgen - der Brandenburger Landesverband des BUND, die Linkspartei und der Verein „pro Mellensee“ haben eine entsprechende Petition eingereicht, auf die Sie eben hingewiesen haben - wird darauf ausdrücklich hingewiesen; denn sie enthalten die Kernforderung, Seen als Allgemeingut zu erhalten und den öffentlichen Zugang zu den Seen auch künftig sicherzustellen. Diese Ziele sind in der Tat schützenswert. Eine Privatisierung kann nicht in Widerspruch zu dem Gemeinnutz dort stehen. Insofern ist bei einer Privatisierung dieser Gemeinnutz sicherzustellen. ({0}) Es gibt bei Privatisierungen immer dieselben Befürchtungen. ({1}) Tatsächlich haben sich diese Befürchtungen bisher aber fast nie realisiert. Es wurde der Fall Wandlitzsee angesprochen. Dieser Fall liegt nun fünf Jahre zurück. Das Ganze war überhaupt nur möglich, weil es im brandenburgischen Landesrecht in dieser Hinsicht eine Lücke gab, die im Übrigen in der Zwischenzeit gefüllt wurde. ({2}) - Das kommt noch hinzu. Aber hier bestand auf Landesebene eine Rechtslücke. Das war vor fünf Jahren. Die vom Bund beauftragte BVVG lässt sich beim Verkauf von Wasserflächen nämlich nicht allein von der Erlösmaximierung leiten. Schon heute werden Seen zunächst der Kommune angeboten. Kauft diese nicht, wird geklärt, welche Sozialverträglichkeit dort gefordert wird. Es wird vertraglich sichergestellt, dass schützenswerte Interessen der Allgemeinheit berücksichtigt werden. Dies können zum Beispiel Anlagen sein, die der Freizeit und Erholung oder touristischen Zwecken dienen oder die öffentliche Zugänge zu den Seen sichern. Darüber hinaus untersteht der Gemeingebrauch von Seen nach Maßgabe vieler Landesgesetze - egal ob es die Landeswassergesetze, die Wegegesetze oder die Forstgesetze sind - einem besonderen Schutz. Auch jeder Privateigentümer muss diesen Gemeinnutz an seinem Eigentum dulden. Ich habe es eben bereits gesagt: Auch im Falle des Wandlitzsees ist dies in der Zwischenzeit im Rahmen einer neuen gesetzlichen Regelung des Landes Brandenburg geschehen Erst wenn eine Kommune Seenflächen nicht erwirbt und diese fischereiwirtschaftlich genutzt werden, wird mit den Fischern verhandelt. Erst danach schreibt die BVVG diese Seenflächen aus. ({3}) Auch in diesen Fällen gelten die genannten gesetzlichen Vorschriften. Folgendes soll nicht verschwiegen werden: Bisher sind über 3 000 Hektar unentgeltlich auf die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe übertragen worden. Auch das ist ein Beleg dafür, dass hier dem Allgemeingut ein besonders hoher Wert beigemessen wird. ({4}) Dennoch - Sie haben es eben angesprochen - fordert nun der Landtag Mecklenburg-Vorpommern im Einklang mit den hier gestellten Anträgen eine kostenlose Übertragung der Seen. Damit komme ich zum zweiten Kritikpunkt, zur Frage des Preises. Die BVVG hat den gesetzlichen Auftrag, zu privatisieren, ({5}) und wird damit im Interesse des Allgemeingutes tätig; denn sie erlöst damit Einnahmen, die dem Bundeshaushalt zugutekommen. Gerade Sie von der SPD und der Linken bringen immer wieder neue Anträge ein, die ausgabenwirksam sind. Dort, wo man Einnahmen generieren kann, wollen Sie sich zurückhalten. Dies ist ein widersprüchliches Verhalten. ({6}) Aber auch wir wollen gar nicht verhehlen, dass es zum Teil Unmut über die Privatisierungspraxis gibt. Deswegen müssen neue Antworten gefunden werden; das ist gar keine Frage. Die Lösung muss aber in einem gerechten Interessenausgleich und kann nicht in einem Verschenken von Bundesvermögen liegen. ({7}) Deshalb muss die BVVG ihr mehrstufiges Verkaufsverfahren zukünftig weiter verfeinern. Dazu gehört unter anderem, dass sie zunächst einmal mit Kommunen, Fischereipächtern und Naturschutzeinrichtungen verhandelt. Das sollte sie nicht auf der Basis von Höchstpreisen tun - hier hat sich in der Vergangenheit eine preistreiberische Wirkung entfaltet, die nicht nur positiv war -, sondern künftig auf der Basis von Verkehrswerten, die per Gutachten ermittelt werden. Wenn es um Seen geht, muss man die Ertragswerte zugrunde legen, um tatsächlich zu realistischen Preisen verkaufen zu können. ({8}) Wenn ich hier von „Kommunen, Fischereipächtern und Naturschutzeinrichtungen“ spreche, heißt das nicht, dass Länder keine Erwerbsmöglichkeit haben sollen. Gerade mit Blick auf den Beschluss des Schweriner Landtages kann ich hier sogar ausdrücklich erklären, dass auch ein Paketerwerb möglich ist, aber eben nicht zum Nulltarif. Angesichts der schwierigen Finanzlage der Länder können wir zwar Verständnis für den Wunsch der Länder haben, kein Geld in die Hand zu nehmen, weil sie das vielleicht nicht können, ohne neue Kredite aufzunehmen; aber wenn ein Landtag einstimmig den politischen Willen dazu formuliert, muss es doch möglich sein, einen Flächentausch durchzuführen: Durch eiNorbert Brackmann nen Tausch von Acker- oder Forstflächen gegen Seenflächen könnten die Länder zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel heißt deshalb: fairer Interessenausgleich statt Verschenken von Bundesvermögen. Danke schön. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brackmann, ich gratuliere auch Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann von der Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung holen uns die Geburtsfehler erneut ein. Einer der Geburtsfehler ist tatsächlich der Umgang mit dem einstigen Volkseigentum. ({0}) Das Volkseigentum umfasste Unternehmen, Betriebe, Wohngebäude - zum Teil in einem schlechten Zustand -, aber auch Seen, Wälder, Forste und landwirtschaftliche Flächen. Ich möchte einen kurzen historischen Diskurs machen: Die letzte Volkskammer hat 1990 das Treuhandgesetz - das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens - beschlossen. Dieses Gesetz wurde eins zu eins in den Einigungsvertrag übernommen. Damit wurde aus Volkseigentum Bundesvermögen. ({1}) Im Kern ging es zunächst um die Betriebe. Das war völlig richtig. 1992 wurde dann als Geschäftsbesorger für Grund und Boden, Wälder und Seen usw. die Bodenverwertungs- und Verwaltungs GmbH mit dem klaren gesetzlichen Auftrag zur Privatisierung des Vermögens gegründet. Das Volkseigentum sollte also meistbietend verscherbelt werden. Circa 4 Milliarden aus diesem Vermögen sind inzwischen in den Bundeshaushalt geflossen. Ich danke für das Beispiel Wandlitzsee. Dieses Beispiel würde ich gerne aufnehmen, denn er liegt in meinem Wahlkreis. Auch der Wandlitzsee ist meistbietend verscherbelt worden. Er ist keine kleine Pfütze, sondern ungefähr 500 Fußballfelder groß. Er ist ein Riesensee mit einer 1-a-Wasserqualität. Zunächst wurde er der Kommune für 400 000 Euro angeboten. Aber, liebe Leute, welche Kommune kann sich das leisten? Da kann auch kein Fischer hergehen und sagen: Ich kauf mal eben für 400 000 Euro einen See. Genau das ist auch nicht passiert. Der Käufer war ein Immobilienhai, er bekam freie Hand und konnte seinen Besitz sozusagen in klingende Münze überführen. Im Kaufvertrag war weder eine Mehrerlösklausel noch eine Umwidmungsklausel enthalten. Auch die Folgen aus der Verlandung des Sees waren überhaupt nicht berücksichtigt. Beim Wandlitzsee hat man Folgendes gemacht: Man hat nicht den See, sondern ein Flurstück verkauft. Durch die Verlandung des Sees war sozusagen das Flurstück größer als der See. Die Folge war, dass Anrainer plötzlich nicht mehr an den See herankamen. Das heißt, der Käufer des Sees forderte die Anrainer auf, die Grundstücke zu horrenden Preisen zu kaufen. Der Seglerverband am Wandlitzsee beispielsweise kam nicht mehr an den See heran, weil er keinen Zugang mehr zu seinem Steg hatte. Das war die Folge dieser Art von Privatisierung. Wir sagen ganz klar: Damit muss Schluss sein. Es muss Schluss sein mit dieser Art von Privatisierung. Dagegen haben sich gerade in diesem Jahr sehr viele Bürgerinnen und Bürger vor allen Dingen in den neuen Bundesländern gewandt. Das hat dazu geführt, dass zunächst ein Moratorium beschlossen worden ist, aber dieses Moratorium läuft Ende dieses Jahres aus. Wer glaubt, dass die BVVG dann anders handelt, der muss sich getäuscht sehen. Ich erhielt erst im Oktober dieses Jahres einen Brief von Herrn Dr. Horstmann, dem Sprecher der Geschäftsführung der BVVG. Dort teilt er mir mit - ich zitiere Herrn Dr. Horstmann -: Bei einer Wiederaufnahme der Seenprivatisierung nach Beendigung des Moratoriums wird die BVVG die ihr übertragenen Seen weiterhin in einem mehrstufigen Verfahren privatisieren. Das Moratorium endet im Dezember dieses Jahres, und die BVVG kündigt schon jetzt an, dass sie mit der Privatisierung weitermachen wird. Deswegen fordert die Linke zum einen: Wir brauchen eine Verlängerung des Moratoriums. Zum anderen brauchen wir eine Änderung des gesetzlichen Auftrages; denn mit dem Moratorium allein ist es nicht getan. Das heißt, es muss die Möglichkeit bestehen, Seen unentgeltlich an die Länder und Kommunen zu übertragen. Diese Möglichkeit müssen wir schaffen. ({2}) Liebe Genossinnen und Genossen ({3}) von der SPD, lieber Hans-Joachim Hacker, es geht eben nicht nur um die Seen, und das weißt du sehr wohl. Es geht nach wie vor auch um Forstflächen, Wälder und landwirtschaftliche Flächen. Dort sind die Pachten in gewaltigen Größenordnungen erhöht worden, mit Druck wurde privatisiert. Wir dürfen nicht nur die Seen, sondern wir müssen auch die Forsten und die landwirtschaftlichen Flächen im Blick behalten. Dafür brauchen wir vernünftige gesetzliche Regelungen. Lasst uns das gemeinsam anpacken. Danke. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth von der FDPFraktion. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worüber reden wir hier? Wir reden über die Privatisierung von Seen als letzte Konsequenz. Bevor Seen in die Auktion gehen, werden zuerst gefragt: erstens die Anrainerkommunen, ({0}) zweitens die Fischereipächter, ({1}) drittens die Naturschutzorganisationen. ({2}) Sie haben ein Vorkaufsrecht. ({3}) Sie können die Seen zu einem Preis erwerben, der in der Auktion später nicht möglich ist. Ein Verkauf an Privat kommt somit nur als letzte Konsequenz infrage. ({4}) Aber auch dann haben die Kommunen natürlich noch ein Mitspracherecht bei den Verkaufsverhandlungen, in denen zum Beispiel die Zugänglichkeit eingeplant werden kann. Das Problem, das Sie ansprechen, relativiert sich ein wenig. Es ist aber dennoch wichtig; denn Seen sind natürlich ein ganz wichtiges Naturschutzgebiet. ({5}) Sie sind außerordentlich wichtig für die regionale Identität. Sie sind Lebensraum für Tiere, für Pflanzen, manchmal auch für Angler. ({6}) Mithin müssen wir die Zugänglichkeit zu den Seen garantieren. Die Opposition will die Seen an die Länder und Kommunen, wenn man das so sagen möchte, verschenken. Das hört sich gut an. Was aber ist die Folge davon? Erstens. Haben wir aufgrund unserer Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler überhaupt das Recht - das wurde schon angesprochen -, Seen zu verschenken? ({7}) Haben Sie, wenn man das so sagen möchte, nicht ein Erklärungsproblem, wenn Sie sagen, dass Steuersenkungen den Staat arm machen, Sie andererseits aber Immobilien verschenken wollen? Gibt es da nicht eine Differenz, die Sie erklären müssen? Die müssen Sie erklären. ({8}) Zum Zweiten ist es natürlich auch wichtig, zu wissen, ein See kostet auch Geld, wenn man ihn hat. Die Bewirtschaftung kostet Geld. Wenn Sie einer Kommune einen See schenken, kann es gut sein, dass sich Ihr Geschenk hinterher als faules Ei im Gemeindesäckel erweist, wenn die Rechnung präsentiert wird. ({9}) Wer sich den Kauf eines Sees nicht leisten kann, wird sich auch die Haltung nicht leisten können. ({10}) Ich möchte Sie wirklich bitten, nicht von Einzelfällen auf die Gesamtumstände zu schließen. Das ist immer schwierig. ({11}) Es wird, wenn man das so sagen möchte, keine „Seeheuschrecken“ geben, die über das Land fliegen, irgendwo einfallen, sich die Seen unter den Nagel reißen und diese Seen für die Bevölkerung sperren. Das wird es nicht geben. Das ist mitnichten so. ({12}) Auch ein Privatmann kann, wenn er einen See erwirbt, Tourismus, Erholung oder die Fischerei noch lange nicht verbieten; denn Art. 14 Abs. 2 unseres Grundgesetzes besagt: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Gerade deshalb besagen die Wassergesetze der Länder, die Sie sicherlich kennen, trotz ihrer Unterschiedlichkeit einheitlich: Baden, Bootfahren oder Eissport ist auf allen Seen erlaubt, völlig egal, ob sie privat oder ob sie öffentlich sind. ({13}) Ein Erwerber kann einen See nicht einfach so umgestalten, wie er das möchte. Alle Nutzungsänderungen, die er vornehmen möchte, bedürfen einer wasserrechtlichen Genehmigung. Die wird von den Behörden erteilt. Diese Genehmigungen orientieren sich natürlich immer am Wohle der Allgemeinheit. Patrick Kurth ({14}) ({15}) Sie erwecken diesen Eindruck: Da kommen die seelenlosen Millionäre - das schwingt so mit: der Arzt aus Hamburg, wenn man so möchte ({16}) und holen sich den Privatsee zur exklusiven Nutzung. Dass das nicht geht, habe ich gerade gesagt. Wenn man Ihnen folgen würde, wäre es aber auch ausgeschlossen, dass Verbände, zum Beispiel Naturschutzorganisationen, einen See erwerben können. Das wird hier vergessen. ({17}) Meine Damen und Herren insbesondere von der SPD, hüten Sie sich bitte davor, Privateigentum generell abzulehnen oder gar zu verteufeln. ({18}) Den Grundsatz, dass nur staatliches Eigentum dem Allgemeinwohl dienen kann, haben wir vor 20 Jahren über Bord geworfen. Der ist ins Wasser gefallen. ({19}) Aus unserer Sicht ist es der falsche Ansatz, die Privatisierung von Seen in Ostdeutschland pauschal auszuschließen und das Moratorium zu verlängern. Es muss vielmehr darum gehen, das bestehende Recht durchzusetzen, wenn jemand tatsächlich auf die Idee kommt, sich einen See zu kaufen und einen Zaun darum herumzubauen. Dafür sind die Ordnungsbehörden zuständig. ({20}) Wenn wir danach vorgehen, dann kommt in den allermeisten Fällen ein gerechter Ausgleich zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen und damit auch den Interessen der Bürgerinnen und Bürger zustande. Letztlich - Frau Enkelmann hatte das Stichwort „volkseigene Ländereien“ am Anfang ihrer Rede genannt - möchte ich daran erinnern, dass diese betroffenen Seen von der sowjetischen Besatzung enteignet wurden. Das heißt, sie waren vorher in Privatbesitz. Wenn die Länder oder die Kommunen die Gewässer jetzt nicht haben wollen, wird mit einer durchgeführten Privatisierung nichts anderes als der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt. Das wird 60 Jahre nach Kriegsende Zeit; das ist überfällig. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kurth, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm von Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ja, dass so eine Stimmung im Hause ist. ({0}) Es ist aus meiner Sicht ausgesprochen erfreulich, dass das öffentliche Interesse an Seen und anderen Gewässern jetzt in der Politik eine breitere, fraktionsübergreifende - ich schaue jetzt in eine bestimmte Richtung Lobby zu bekommen scheint. Der Wechsel von den Regierungssesseln auf die den Blick schärfenden Bänke der Opposition war bei der einen oder dem anderen wohl ganz hilfreich. ({1}) Erstaunlich ist allerdings, mit welchem Tempo plötzlich alle auf dieses Thema aufspringen. Die Zahl der dazu im Dezember im Bundestag, Bundesrat und in den Länderparlamenten eingebrachten Anträge ist beachtlich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir das Thema hier an gleicher Stelle vor nicht ganz sieben Monaten schon einmal debattiert haben. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Problemlage außerhalb unserer bündnisgrünen Fraktion und der Fraktion der Linken scheinbar kaum jemandem bekannt. Zumindest gab der geschätzte Kollege Luther für die CDU/CSU damals zu Protokoll, dass ihm nicht bekannt sei, dass der Bund Seen besitzt und diese privatisieren will. Die SPD vertrat die Position, dass es keine Fälle gebe, bei denen die bestehende Praxis zu Problemen geführt hätte, die einer Neuregelung bedürften. ({2}) Ich gehe einmal davon aus, dass nun auch unsere Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD Fälle wie der des Verkaufs des Wandlitzsees im Norden von Berlin zu Ohren gekommen sein dürften. Hier hat der schon erwähnte Immobilienkaufmann aus Düsseldorf nach dem Erwerb des Sees alle Anwohner aufgefordert, ihre bestehenden Stege am See von ihm zu kaufen oder zu pachten. Wer nicht dazu bereit war, wurde postwendend verklagt. Auch die Gemeinde musste für die Benutzung des bestehenden Strandbades an den neuen Besitzer zahlen. Es handelte sich immerhin um 50 000 Euro, die man bei einem gerichtlichen Vergleich ausgehandelt hatte. So sehr wir es begrüßen, dass unsere bündnisgrünen Forderungen nun endlich Nachahmer finden, über den Weg, wie wir Seen als Allgemeingüter sinnvoll erhalten können, gibt es noch eine ganze Menge Aufklärungsbedarf. ({3}) Denn den verschiedenen, nicht nur im Bundestag vorliegenden Anträgen ist - bei positiver Ausnahme des Antrags der Linken - vor allem eines gemeinsam: Anstatt für ein konsequentes Ende der Privatisierung zu plädieren, steht die kostenlose Übertragung der Gewässer an die Länder oder Kommunen im Vordergrund. Das ist aber nicht dasselbe wie ein Stopp der Privatisierung. Der Verdacht liegt nahe, dass das allen Beteiligten bewusst ist. Wir Bündnisgrüne treten dafür ein, dass in Zukunft keine Gewässer mehr veräußert werden dürfen, bei denen sowohl aus ökologischen als auch aus Erholungsund touristischen Gründen ein Gemeinwohlinteresse besteht. ({4}) Dies lässt sich am besten dadurch absichern, dass diese Gewässer in der öffentlichen Hand, in der Hand des Bundes, verbleiben. In allen anderen Fällen muss es über den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einen Parlamentsvorbehalt geben. Nur so ist eine wirkungsvolle demokratische Kontrolle zur Einhaltung des Privatisierungsstopps möglich. Eine bloße Übertragung an die Länder, wie von der SPD und den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gewünscht, gewährleistet diese demokratische Kontrolle gerade nicht. Sie überlässt die Entscheidung zum Verkauf den Länderbehörden. Dass diese in Zeiten klammer Kassen Interesse an einer finanziellen Verwertung haben könnten, dürfte für viele, auch hier im Deutschen Bundestag, nicht neu sein. Um Gemeingüter wie Seen dauerhaft für die Allgemeinheit zu bewahren, sollte der Deutsche Bundestag die bisher geübte Verkaufspraxis durch ein Gesetz beenden. Die Bevölkerung in den betroffenen Regionen wartet schon lange auf ein entsprechendes Signal von uns. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Das sage ich ganz bewusst vor allem in Ihre Richtung, meine Herren und Damen von der Koalition. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Rehberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe wirklich den Eindruck, dass einige Kolleginnen und Kollegen an einem ungeheuren Gedächtnisschwund leiden. Wenn die SPD in der Begründung ihres Antrages schreibt: „Ein weiterer Verkauf der noch nicht übertragenen Flächen in den neuen Bundesländern lässt befürchten, dass Badestellen, Stege und Wasserflächen nicht mehr durch Touristinnen und Touristen oder Anglerinnen und Angler genutzt werden können sowie das Fischereigewerbe beeinträchtigt wird“, dann frage ich mich ganz besorgt, Herr Kollege Hacker: Was hat sich in den letzten sechs Monaten geändert? ({0}) Der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller beantwortete am 15. Juni 2009 die Frage: „Beabsichtigt die Bundesregierung, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen, um die zum Verkauf stehenden Seen in den neuen Ländern als öffentliches Allgemeingut zu erhalten?“ der Kollegin Reiche von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wie folgt - ich zitiere -: Die Bundesregierung hält eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen nicht für erforderlich. Weiter wird dann ausgeführt, dass alles in Ordnung sei. Oder: In der Debatte am 28. Mai 2009 im Deutschen Bundestag führte der Kollege Ernst Bahr aus Neuruppin unter anderem aus: Es ist erfreulich, dass sich die Ziele des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den bestehenden Regelungen zur Gewässerprivatisierung decken. Weiter formulierte er, ihm sei kein Problemfall bekannt, und er sehe keinen Handlungsbedarf. ({1}) Verlogener, Herr Kollege Hacker, geht es wirklich nicht. ({2}) Sie führen hier doch einen politischen Mummenschanz, eine politische Show auf, nicht mehr, aber auch nicht weniger. ({3}) Zu Ihnen, Frau Kollegin Behm. Wandlitz wurde 2004 privatisiert. Das ganze Verfahren mit der Kommune, ebenso die fischereiwirtschaftliche Nutzung fand davor statt. Im Jahre 2004 ist auch das Land Brandenburg eingebunden gewesen. 2004 hat Rot-Grün regiert. Warum haben Sie bei der Änderung des EALG im Jahre 2001, wenn Ihnen die Seen so wichtig gewesen sind, nicht darauf gedrungen, dass sämtliche Seen in Eigentum des Bundes unentgeltlich auf die Länder übertragen werden? ({4}) Das haben Sie zum damaligen Zeitpunkt nicht getan, und Wandlitz war im Jahre 2004.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Rehberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hacker?

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlich gerne, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hacker.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Rehberg, haben Sie den Pressemeldungen entnommen und zur Kenntnis genommen, dass diese Frage gerade in den letzten Monaten in den betroffenen Ländern Brandenburg und MecklenburgVorpommern hochgekommen ist ({0}) und dass der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, in Schwerin, vor diesem Hintergrund über diese Frage diskutiert hat? Ich möchte dies mit der Feststellung untermauern, ({1}) dass der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk auf eine entsprechende Anfrage geantwortet hat: Die Bundesregierung hat den betroffenen Ländern ein Gesprächsangebot zu den Seen unterbreitet. Vor diesem Hintergrund halte ich die Situation, wie sie jetzt ist, für anders als vor einem Jahr. Deswegen ist es notwendig, dass wir ({2}) - die Praxis der Privatisierung verändern, Herr Kollege Rehberg. - Ist Ihnen das bekannt? ({3})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hacker, weil Sie sich von BUND, Linken und Grünen unter Druck gesetzt gefühlt haben, sind Sie auf diesen Zug aufgesprungen. In den letzten Monaten hat sich an der Situation außer der Problematik Wandlitz, was aber auch mit ehemals gültigem Landesrecht etwas zu tun hat, nichts, aber auch gar nichts geändert. Wissen Sie, was der Antrag von SPD und CDU im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist? Er könnte möglicherweise auch als eine Art Aufforderung zum Rechtsbruch gegenüber der Bundesregierung verstanden werden, eine Aufforderung, sich an gesetzliche Grundlagen, an denen Sie übrigens persönlich - am 17. Juni 1990 und bei der Verabschiedung des Einigungsvertrages in der Volkskammer - maßgeblich mitgewirkt haben, nicht mehr zu halten. ({0}) Eine zweite Anmerkung. Sie haben einen Teil der Antwort, die der Parlamentarische Staatssekretär Koschyk gestern gegeben hat, vergessen. Er hat nämlich vorab gesagt, dass das Land Brandenburg - und man kann das Land Mecklenburg-Vorpommern mit einschließen - von sich aus nicht aktiv geworden ist. Ganz im Gegenteil: Der Bund ist auf die Länder zugegangen und hat ihnen ein Gesprächsangebot unterbreitet. ({1}) - Herr Kollege Hacker, ich bin immer noch bei der Antwort. ({2}) Das gehört alles noch zusammen. ({3}) - Aber doch! Wenn die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wirklich an einer sachgerechten Lösung interessiert sind, dann müssen sie, wenn es Probleme im Land gibt, auf den Bund zugehen, um Gespräche bitten und in Verhandlungen eintreten. Staatssekretär Gatzer hat mit Schreiben vom 16. Dezember den Ländern Gespräche angeboten. Das heißt, der Bund ist initiativ geworden. ({4}) Was Sie hier machen und auch der Landtag - ich schließe meine Kolleginnen und Kollegen im Landtag Mecklenburg-Vorpommern mit ein -, so geht man miteinander nicht um, wenn man ein Problem lösen will. Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen wir uns die gesetzlichen Grundlagen an: Das Treuhandgesetz wurde von der Volkskammer verabschiedet, die SPD hat zugestimmt. Der Einigungsvertrag wurde von der Volkskammer verabschiedet, die SPD hat zugestimmt. Wenn Sie jetzt für eine unentgeltliche Übertragung der bundeseigenen Seengewässer auf die neuen Länder plädieren, muss man die Frage stellen: Was machen Sie mit denjenigen, die die 14 000 Hektar, die bisher veräußert wurden, erworben haben, ({5}) und was machen Sie mit den Flächen, die an Naturschutzverbände übertragen worden sind? Soll der Bund das alles zurückzahlen, oder wollen Sie eine Flut von Schadenersatzprozessen riskieren? ({6}) - Natürlich ist das begründet: Wenn der gleiche Sachgegenstand zu zwei völlig verschiedenen Werten veräußert wird, ist es doch begründet, dass der, der viel mehr dafür bezahlt hat, Schadenersatzansprüche stellt. Wir leben doch in einem Rechtsstaat. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, was Sie vorschlagen, ist keine Lösung. Eine Lösung wurde zum Beispiel im Jahr 2007 - übrigens unter einem SPD-geführten Bundesfinanzministerium - mit dem Freistaat Sachsen gefunden, und zwar eine Lösung in Form einer Gewässerrahmenvereinbarung für die bergbaulichen Gewässer im Freistaat. Kollege Brackmann hat das angedeutet. Aus meiner Sicht heißt die Lösung: Man setzt sich miteinander hin und spricht über die Werte, die gutachterlich festgestellt werden können. ({8}) Dann kann man sich zum Beispiel darüber unterhalten, in welcher Art und Weise die Werte in der Zeitabfolge übertragen werden können. Ein Flächentausch kann vorgenommen werden. Es ist übrigens so, dass der Hektar Acker im Schnitt in etwa das 15-Fache wert ist wie der Hektar See. Vor einem warne ich: vor unentgeltlicher Übertragung. Ich bin schlichtweg dagegen. Denn wenn man unentgeltliche Übertragung präferiert, heißt das, dass eine Übertragung im Augenblick nur an Naturschutzverbände möglich ist. Meine Erfahrungen mit Naturschutzverbänden sind eher so, dass als Erstes Klagen kommen von Wassersportlern, als Zweites Klagen kommen von Gelegenheitsbesitzern von Bootshäusern, als Drittes Klagen kommen von Fischern, weil die Naturschutzverbände das Ganze nämlich sehr restriktiv handhaben. Deswegen schlagen wir Ihnen den folgenden Weg vor: Bund und Länder reden miteinander, es gibt einen fairen Interessenausgleich, ({9}) und es wird festgeschrieben, dass die Länder die Seengewässer nicht einfach an Dritte weiterverkaufen können; denn diese Gefahr besteht auch noch. Dieser Weg ist vernünftig und gangbar. Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD, aus meiner Sicht haben Sie sich heute ein gravierendes Eigentor geschossen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Iris Gleicke von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich heute Abend noch einem zweiten Thema im Rahmen der BVVG-Verkäufe widmen. Wir haben über die Seen gesprochen, aber es gibt noch ein zweites Thema, nämlich die Flächen, die in der Landwirtschaft veräußert werden. ({0}) Immer dann, wenn Pachtverträge auslaufen, stehen Verkäufe an; das wissen wir. Das hat in der Vergangenheit immer wieder zu großer Unruhe bei den betroffenen Landwirten geführt. Deshalb war es gut, dass der Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes, Udo Folgart, mit dem Bundesministerium für Finanzen im August dieses Jahres - damals unter Peer Steinbrück - ein Moratorium bei der Privatisierung dieser Flächen vereinbart hat. Die Erleichterung bei den ostdeutschen Landwirten war allerorten sehr deutlich zu spüren. Mit dieser Initiative war die klare Hoffnung verbunden, dass die Preise für den Boden, dem Hauptwirtschaftsfaktor für die Landwirtschaft, realistisch bleiben. Durch die Verkehrswertverkäufe nur nach Höchstgebot werden die Preise für den Grund und Boden in Ostdeutschland immer weiter in die Höhe getrieben. Der Durchschnittspreis bei BVVG-Verkäufen lag nach deren Angaben bei 7 492 Euro pro Hektar. Bei den Verkehrswertverkäufen ohne die BVVG lag er bei 4 507 Euro pro Hektar. Entschuldigung, aber das ist eine Differenz von fast 3 000 Euro. Herr Brackmann, es tut mir aufrichtig leid: Wer hier nicht anerkennt, dass es bei den BVVGVerkäufen tatsächlich um Gewinnmaximierung geht, der muss auf einem anderen Stern leben. ({1}) Real ist es also so, dass die BVVG die Flächen zu Preisen verkauft, die um 40 Prozent höher liegen, als sie sonst zu realisieren wären. Ich will das noch einmal deutlich sagen: Es geht um den Verkauf von Flächen, die zuvor verpachtet waren und landwirtschaftlich genutzt wurden und für die die Pachtverträge jetzt auslaufen. Ortsansässige Agrarbetriebe müssen mit Kapitalanlegern konkurrieren. Auch das sollte Ihnen an der einen oder anderen Stelle schon einmal untergekommen sein. Plötzlich konkurrieren die Landwirte nämlich mit Solarparks und allen möglichen anderen. Das ist ein ganz großes Problem. ({2}) Wir müssen an dieser Stelle ganz einfach sagen: Durch diese Konkurrenz werden die Preise immer weiter nach oben getrieben. Für die Landwirte bedeutet es einen großen Liquiditätsverlust für ihre Unternehmen, wenn sie diese Flächen kaufen müssen. Für die Landwirtschaft ist es also klar: Kleine Landwirte können sich diesen Boden schlicht und ergreifend nicht mehr leisten. Ich bin froh über die positiven Signale, die aus der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum BVVG-Privatisierungskonzept kommen. Wichtig ist aber, dass es jetzt auch ein Ergebnis gibt; denn das Moratorium läuft zum Jahresende aus. Der Auftrag ist klar: Preissprünge, wie sie in der Vergangenheit stattgefunden haben, müssen ganz einfach vermieden werden. ({3}) Es geht mir nicht darum, die Flächen zu verschenken, aber ich weiß natürlich, lieber Kollege Kurth, dass es der FDP und der CDU/CSU sehr leicht fällt, durch das Mehrwertsteuerprivileg 1 Milliarde Euro per anno an Hotellerieketten zu verschenken. ({4}) Den Landwirten in Ostdeutschland zu helfen, bekommen Sie dagegen immer wieder nur in Sonntagsreden gebacken. Hier geht es aber um praktische Hilfe. ({5}) Es geht um die Existenz der ortsansässigen Unternehmen, die landwirtschaftliche Flächen gepachtet haben, es geht - darüber wurde vorhin schon gesprochen - um die Existenz der erwerbsmäßigen Fischereibetriebe, die auf den Seen der BVVG tätig sind, ({6}) und es geht um die Interessen der Kommunen in Ostdeutschland. Diese Interessen müssen stärker berücksichtigt werden. Unsere Erwartungen werden in Ostdeutschland von den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen geteilt, wenn man sich vor Ort trifft und dort ganz praktisch über die Probleme spricht. ({7}) Das ist ein wichtiges Thema für die regionalen Wirtschaftsstrukturen im ländlichen Raum. Leider verkennt die Koalition die Sensibilität dieses Themas völlig. Denn Sie haben neue Unruhe geschaffen, indem Sie nämlich jetzt auch noch angekündigt haben, dass Sie die Alteigentümer besserstellen wollen. ({8}) - Das ist Mummenschanz, Herr Kollege Rehberg, um Ihnen das ganz deutlich zu sagen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Gleicke, kommen Sie bitte zum Schluss.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann Sie nur auffordern, die ostdeutsche Landwirtschaft und die ostdeutschen Unternehmen nicht zu gefährden. Sie sind nämlich das Rückgrat für die Entwicklung im ländlichen Raum. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/238 und 17/239 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sowie Zusatzpunkt 9 auf: 15 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Kopfpauschale - Für eine solidarische Krankenversicherung - Drucksache 17/240 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Anna Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens - Drucksache 17/258 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten - Drucksache 17/241 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Harald Weinberg von der Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In seiner Rede zum Koalitionsvertrag hat Minister Rösler eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems, ja geradezu einen Systemwechsel angekündigt und dabei angemerkt, dass dies nicht einfach zu machen sei. An die Opposition gewandt, meinte er dann, wenn dies einfach zu machen sei, dann könne es ja auch die Opposition machen. ({0}) Tosender Beifall bei den Koalitionsfraktionen - ein Star der Regierung war geboren, scheint es. ({1}) Dabei ist das, was Minister Rösler angekündigt hat, nicht sonderlich originell. ({2}) Es ist sogar in seiner Einfalt kaum zu überbieten. Sein Glaubensbekenntnis lautet: Alles wird anders - alles wird Markt. ({3}) Das ist das Denken der Deregulierer und Marktradikalen. Diese Ideologie der Marktvergötterung hat sich in den 80er- und 90er-Jahren wie eine Pandemie ausgebreitet und übrigens auch die heutigen Oppositionsfraktionen SPD und Grüne erfasst. Das ist das Denken, das in die Finanzmarktkrise und dann in die Weltwirtschaftskrise geführt hat. Es ist ein altes Denken, von dem man meinen sollte, dass es durch die Krise ad absurdum geführt worden sei. ({4}) - Das kommt noch. Aber dieses alte Denken wird uns jetzt wieder angedient als eine nicht ganz einfache Lösung für die Probleme unseres Gesundheitssystems. Ich meine, das ist falsch. Das ist bestenfalls Klientelpolitik. ({5}) Stichworte des Koalitionsvertrages sind Vermarktlichung, Privatisierung und die Kopfpauschale. Unabhängig vom Einkommen soll jede und jeder einen gleich hohen Beitrag in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen, die berühmte Lidl-Verkäuferin genauso viel wie ein leitender Angestellter, wobei sich Letzterer, wenn er gut verdient, auch noch schneller als bisher in eine private Krankenversicherung verabschieden können soll. Die soziale Ungerechtigkeit, die dabei zweifelsohne entsteht, soll laut Minister über einen automatischen Steuerausgleich vermindert werden. Wie dies ohne eine zusätzliche Megabürokratie funktionieren soll, bleibt bislang das Geheimnis des Ministers. Dieses Modell einer Kopfprämie lehnen wir ab, und ich glaube, ich kann hier auch für die SPD und die Grünen sprechen. ({6}) Aber auch in den Reihen der Koalition regt sich Widerstand dagegen. Finanzminister Schäuble war der erste, der Wasser in den Wein der hochfliegenden Reformpläne des Jungministers goss. Er stellte mit Blick auf den Haushalt fest, dass der Sozialausgleich nicht zu bezahlen sei. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft reihte sich mit ihrer Kritik ein: Sie will, dass Krankenkassenbeiträge auch in Zukunft entsprechend dem Einkommen erhoben werden. ({7}) Damit wendet sie sich gegen die unsozialen Pläne des Koalitionsvertrages. Darüber hinaus will sie auch den Grundsatz, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich den Beitrag halbe-halbe teilen, wiederherstellen. ({8}) Ich finde, daran sollte sich die CDU/CSU orientieren statt an den Kopfgeldjägern der FDP. ({9}) Horst Seehofer, Parteivorsitzender der CSU, wirft sich mannhaft in die Bresche, um die Kopfprämie aufzuhalten, obwohl unter dem Koalitionsvertrag auch seine Unterschrift steht. Er hat die Kopfpauschale in Interviews nicht nur für tot, sondern sogar für beerdigt erklärt; denn er weiß genau, dass die Realisierung dieses Modell die CSU in Bayern weitere Sympathien und Wählerstimmen kosten würde. ({10}) - Das ist wohl die Hauptsorge der CSU, denke ich. Nun werden wir in der Debatte sehen, ob es sich beim Arbeitnehmerflügelchen der Union und bei dem Vorsitzenden der Christlich-Sozialen nur um Maulheldentum handelt oder ob sie wirklich zu ihren Aussagen gegen die Kopfprämie stehen. ({11}) Solidarität als Leitprinzip bedeutet, dass die Starken für die Schwachen einstehen. Damit dieses Leitprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aufgegeben wird, stellen wir hier unseren Antrag gegen die Einführung einer Kopfpauschale zur Abstimmung. Es gibt eine Mehrheit gegen die Kopfpauschale im Bundestag. Ich hoffe, SPD und Grüne stimmen dem ohnehin zu. Wenn die Aussagen von Herrn Seehofer in seiner Partei etwas gelten, dann müssten eigentlich auch die CSU-Abgeordneten zustimmen. ({12}) Damit wäre die Kopfpauschale mit Votum des Deutschen Bundestages endlich beerdigt. ({13}) - Das habe ich durchaus noch. Herr Präsident, bekomme ich Redezeit dafür gutgeschrieben, dass ich dauernd unterbrochen werde? ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, das bekommen Sie nicht. Sie bekommen etwas mehr Redezeit, weil das Ihre erste Rede ist.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn von der rechten Seite dauernd dazwischengequakt wird, muss ich doch fragen, ob mir dafür etwas Redezeit gutgeschrieben wird. Ich komme zum Ende. ({0}) In unserem Wahlprogramm fordern wir eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Der vorliegende Antrag der Grünen geht in diese Richtung. Es gibt aber auch einige wesentliche Unterschiede zu unseren Vorstellungen. Wir werden im Laufe der Legislaturperiode einen eigenen Antrag dazu einbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gesundheit ist keine Ware. „Alles wird Markt“ ist das falsche Rezept für unser Gesundheitssystem. Das ist keine Lösung, sondern schafft nur weitere Probleme. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weinberg, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke hat noch einen Antrag vorgelegt, dessen Ziel es ist, die Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abzuschaffen. Diese Forderung ist nicht neu. Das haben Sie schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht. Heute gehen Sie noch einen Schritt weiter und fordern, nicht nur die Praxisgebühr, sondern gleich sämtliche Zuzahlungen abzuschaffen. ({0}) Warum kleckern, wenn man verbal richtig klotzen kann? Dieser Politikansatz ist nicht seriös und nachhaltig. Er stellt im Grunde auch nicht die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt. ({1}) Nein, Ihr Ansatz ist nichts anderes als ein sich selbst genügender Populismus. Dies zeigt sich auch daran, wie Sie Ihren Antrag zu begründen versuchen. Es ist die Rede davon, dass Zuzahlungen das Solidarprinzip untergraben würden und dass vor allem Geringverdienende von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen seien. Sie sprechen von sozialer Selektion ärztlicher Leistungen. Dort, wo man Argumente erwartet, liest man nur Behauptungen. Anstelle von belastbaren Daten und Fakten lässt sich Empörung finden. Wir sollten uns aber nicht von Gesinnung leiten lassen, sondern einfach gelassen die Realität zur Kenntnis nehmen. ({2}) Realität in Deutschland ist: Niemand muss auf den Arztbesuch und die Inanspruchnahme qualifizierter medizinischer Hilfe verzichten, weil er das Geld für die Zuzahlungen, insbesondere für die Praxisgebühr, nicht aufbringen kann. Fakt ist, dass die Zahl der Zuzahlungsbefreiten seit dem Startjahr der Neuregelung um über 6 Prozent auf rund 7 Millionen Versicherte im Jahr 2008 angestiegen ist. Fakt ist, dass rund 90 Prozent der Befreiungen auf die Chronikerregelung mit einer Belastungsobergrenze von 1 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen und circa 10 Prozent auf die Überforderungsregelung von 2 Prozent entfallen. Fakt ist, dass Kinder in der Regel bis zum 18. Lebensjahr von sämtlichen Zuzahlungen befreit sind. Das sind jährlich rund 13 Millionen Befreiungen. Damit profitieren fast 30 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten von Zuzahlungsbegrenzungen und Befreiungen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stracke, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Fraktion Die Linke? ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es die Regel ist, möchte ich auf die Frage verzichten. Auch die Entwicklung des Zuzahlungsvolumens ist aufschlussreich. Das Zuzahlungsvolumen lag 2008 bei rund 4,9 Milliarden Euro. Dies bedeutet im Vergleich zu 2005 eine Absenkung um über 10 Prozent. All das zeigt: Von einem sozialen Ungleichgewicht bei den Zuzahlungen kann keine Rede sein. 90 Prozent aller Befreiungen entfallen auf chronisch Kranke. Das spricht eindeutig dafür, dass Menschen mit höherem Behandlungsbedarf effektiv vor Überforderungen geschützt sind. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Solidarität im Gesundheitswesen, wie wir sie verstehen, bedeutet zum einen ein Einstehen des Gesunden für den Kranken, zum anderen aber auch eine finanzielle Solidarität der Reicheren zugunsten der Ärmeren. ({0}) Aber diese Solidarität wäre unvollständig beschrieben, wenn der Gedanke der Eigenverantwortung fehlen würde. ({1}) Ausfluss der Eigenverantwortung ist das Instrument der Zuzahlungen. Anders als vielfach behauptet, insbe1040 sondere von Ihrem Lager, wirkt dieses Instrument nicht sozial diskriminierend. Aber auch eine medizinisch unerwünschte Steuerungswirkung, insbesondere der Praxisgebühr, ist nach derzeitigem Stand aller einschlägigen Untersuchungen nicht erkennbar. Auch die in Ihrem Antrag zitierte Studie bringt hier keine wesentlichen neuen Erkenntnisse und reiht sich damit in den Reigen der Studien zu diesem Thema ein. Abzuwarten bleibt jedoch, wie sich das Zuzahlungsvolumen insgesamt, insbesondere durch die Bonus- und Hausarztmodelle, entwickeln wird und welche Auswirkungen dies auf die Steuerungswirkungen von Zuzahlungen haben wird. Bekanntlich wird der GKV-Spitzenverband einen entsprechenden Bericht vorlegen. Dieser Bericht bleibt abzuwarten, um dann anhand von fundiertem Zahlenmaterial Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist unsere Aufgabe, nicht Aktionismus mit aufgewärmten Anträgen. ({2}) Meine werten Kolleginnen und Kollegen, das Finanzvolumen der Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung macht rund 5 Milliarden Euro aus und entspricht knapp 0,5 Beitragssatzpunkten. Sie alle wissen, wie dramatisch sich die gegenwärtige Finanzsituation in der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt. Diese Lage ohne Not in maßgeblichem Umfang zu verschlimmern, ist unverantwortlich. Nicht zielführend ist hierbei der Vorschlag der Linken, einfach die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen. Dadurch werden einzig und allein die Leistungsträger in unserer Gesellschaft weiter belastet ({3}) und das bewährte System der privaten Krankenversicherung ausgehöhlt. Dazu werden wir Ihnen sicherlich nicht die Hand reichen. ({4}) Hinter dem Antrag der Linken steht allein die Absicht, ihre Idee einer solidarischen Bürgerversicherung voranzutreiben. Ziel der Union ist jedoch keine zentralistische Staatsmedizin, sondern eine Gesundheitspolitik, die den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Um dieses Ziel umzusetzen, wird eine Regierungskommission eingesetzt, die hierfür Vorschläge unter Führung unseres Bundesministers erarbeiten wird. ({5}) Diesen Prozess wird die CSU im Interesse der Patienten wie gewohnt konstruktiv begleiten. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stracke, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion. ({1})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erleben in diesen Tagen die Entzauberung eines Hoffnungsträgers des neokonservativ-neoliberalen Bündnisses: Herrn von und zu Guttenberg. ({0}) Die Frage, die im Raum steht, ist, ob Minister Rösler der Nächste sein wird, der ähnlich entzaubert wird. ({1}) Ich versuche, das zu begründen. Bisher sieht es so aus, als wenn er auf jeden Fall ein Risikofaktor für das konservativ-gelbe Bündnis wäre. ({2}) Aufgrund der Dinge, die wir bisher wissen, muss man Bedenken haben. Was ist bisher bekannt? Bekannt ist, dass eine einkommensunabhängige Prämie eingeführt werden soll. Bekannt ist, dass es einen steuerfinanzierten Sozialausgleich geben soll. Bekannt ist, dass das System stufenweise eingeführt werden soll. Das ist ungefähr das, was bekannt ist. Jetzt muss man aber wissen: Die deutsche Bevölkerung will keine einkommensunabhängige Prämie. ({3}) Das ist der CDU schon im Leipziger Programm im Jahre 2005 zum Verhängnis geworden und hat sie damals unter anderem - ich sage: gerechterweise - den Wahlsieg bei der Bundestagswahl gekostet. ({4}) Es gilt das alte Gesetz aus dem Geschäft. Wenn einer einen Fehler macht, ist das verzeihlich. Wenn er den gleichen Fehler wiederholt, ist das unverzeihlich. ({5}) Das deutsche Gesundheitssystem wird international beachtet, weil es als Solidarsystem vorbildlich ist. Es ist ein System, in das Gesunde für Kranke und Einkommensstarke für Einkommensschwache einzahlen. Darüber gehen Sie hinweg. Das belächeln Sie. Das ist für Sie nicht wichtig. ({6}) Das Solidarsystem, auf das wir zu Recht stolz sein können, wollen Sie mit der Abrissbirne der Prämie plattmachen. Das ist es, worum es in dieser Koalition geht. ({7}) Es wird mit dem Hinweis verkauft, dass der Einkommensausgleich für die Steuern gerechter wäre als der Solidarausgleich, den wir derzeit haben. Das wird von der gleichen Partei vorgetragen, die derzeit dabei ist, Steuererleichterungen für die Reichen durchzusetzen. Das ist nichts anderes als Trickserei. ({8}) Wie groß wäre denn der Steuerbedarf, den wir aufzubringen hätten, wenn das System endgültig eingeführt würde? Es wären 35 bis 38 Milliarden Euro. Sagen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren: Welche Steuern will die FDP erhöhen, damit dieses Geld beigebracht wird? Geht es erneut um die Mehrwertsteuer? Es werden sicherlich nicht die Steuern der Einkommensstarken sein. ({9}) Wenn Sie dies einführen, werden es wie immer die Steuern der Einkommensschwächeren sein. Das ist es doch, woran Sie denken. Sie haben doch in Wirklichkeit kein Interesse daran, einen echten Sozialausgleich einzuführen. Sie wollen vielmehr Steuersenkungen für die Einkommensstarken und gleichzeitig eine Billigprämie für die gleiche Gruppe. ({10}) Ein Argument ist, dass das System langsam eingeführt werden soll. Wir sollen uns keine Sorgen machen. Welchen Unterschied macht es aber, ob ich etwas schneller oder etwas langsamer auf den Abgrund zugehe? Was ist der Unterschied? ({11}) Glauben Sie denn wirklich, der Wähler wäre so dumm, nicht zu erkennen, in welche Richtung das Ganze gehen soll? Einen Lernerfolg - das muss man sagen - kann man der FDP allerdings attestieren: Sie hat sich von dem Irrglauben verabschiedet, dass die demografische Alterung in der Bevölkerung eine Kapitaldeckung braucht. Das geplante System ist wie das jetzige System ein Umlagesystem. Man bleibt also bei der Umlage. Der einzige Unterschied ist: Man macht sie ein bisschen ungerechter. Das ist aber kein Schritt nach vorn. In der Summe ist es so: Ein bestehendes, gut funktionierendes System, das wir weiterentwickeln könnten, soll plattgemacht werden zugunsten eines Prämiensystems mit einem nichtfinanzierten Steuerausgleich, der zum jetzigen Zeitpunkt keine solide Finanzierung hat und von dem wir nichts wissen. Das ist vorgesehen. Gleichzeitig soll eine kleine Kapitaldeckung für die Pflege eingeführt werden. Dabei handelt es sich um ein bürokratisches System, das keinen Vorteil für die bestehende Pflegeversicherung bringt und für die das Geld der privaten Krankenversicherung zur Verfügung gestellt werden soll, sodass dieses Geld dann an der Börse verzockt werden kann. Sie planen das, anstatt die notwendige Verbesserung der Pflege, die jetzt ansteht, zu finanzieren, was Ihre ethische Pflicht wäre. ({12}) Wohin bewegt sich das Ganze in der Summe? Vorgesehen sind Kostenerstattungen. Was bedeuten Kostenerstattungen? Kostenerstattungen sind nichts anderes als die schleichende Einführung eines Teilkaskosystems. ({13}) Das System soll so umgestaltet werden, dass es eine Basisversorgung gibt, für die es Kostenerstattungen von der Kasse gibt, und der Bürger alles andere aus der eigenen Tasche bezahlen muss. Darum geht es im Wesentlichen. Es gibt Alternativen. Eine Alternative ist die einer sauberen Bürgerversicherung. Das können Sie auch nicht damit wegdiskutieren, dass Sie sie polemisch als Einheitsversicherung bezeichnen. ({14}) Die Bevölkerung wünscht ein gutes Gesundheitssystem für alle. ({15}) Sowohl für den schulischen Bereich wie für die Krankenversorgung wünscht sich der Bürger, dass alle nach dem Bedarf versorgt werden und nicht nach der Herkunft oder dem Einkommen. Dieser Grundkonsens in der Bevölkerung wird von Ihnen infrage gestellt. ({16}) Dafür werden Sie an der Wahlurne den Preis bezahlen. ({17}) Sie überschätzen sich. Sie fühlen sich jetzt sicherer, als Sie sein sollten. ({18}) Der Bürger wünscht keine Zweiklassenmedizin, der Bürger wünscht keine Privatisierung des deutschen Systems. Wir wollen das System verbessern und nicht abschaffen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({19}) Ich komme nun zu den konkreten Vorschlägen der SPD: Wir werden einen konkreten, durchfinanzierten Vorschlag für eine Bürgerversicherung machen. Das kündige ich hiermit an. ({20}) Wir vertreten hier die gleiche Position wie die Linkspartei oder die Grünen: Mit einem gut durchfinanzierten, konkreten Vorschlag für die Bürgerversicherung wollen wir ein gutes System für alle schaffen, ({21}) statt zwei nicht funktionierende Systeme mit Einkommensgrenzen aufrechtzuerhalten. Wir werden konkrete Vorschläge zur Abschaffung der Zusatzbeiträge machen. ({22}) Wir werden darüber hinaus einen konkreten, gegenfinanzierten Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr vorlegen. ({23}) Das sind die Vorschläge, mit denen Sie sich in Kürze auseinandersetzen müssen. Es geht darum, ein bestehendes, gut funktionierendes Solidarsystem zu stärken. Der Wähler wird die Parteien, die sich ernsthaft darum kümmern, nach vorne bringen und belohnen. Erinnern Sie sich an meine Worte! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „Keine Kopfpauschale - Für eine solidarische Krankenversicherung“ beginnt wahrlich mit einem intellektuellen Paukenschlag. Der erste Satz dieses Antrages lautet nämlich: „Krankheit kann jeden Menschen treffen.“ ({0}) Allein für diese messerscharfe Analyse verdienen Sie unseren Respekt. ({1}) Ansonsten lässt der Antrag jedoch jeden fachpolitischen Tiefgang vermissen; ({2}) denn eine Antwort auf die dringendsten Fragen zur Neustrukturierung des Gesundheitssystems gibt er leider nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite, Effizienz und Transparenz sind Ihnen anscheinend egal, solange nur einer Ihrer Lieblingsbegriffe wie „solidarisch“ oder „sozial gerecht“ vorkommt. ({3}) Aber mehr als sozialromantische Rhetorik ist das nicht. ({4}) Dafür, dass Sie hier angeblich etwas verändern wollen, sind Ihre Reihen sehr dünn besetzt. Das muss man einmal feststellen. ({5}) Die Risiken für die umlagefinanzierte GKV liegen nicht nur in der demografischen Entwicklung und dem Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze, sondern auch im medizinisch-technischen Fortschritt. Letzterer ist sehr erfreulich, kostet aber auch Geld. ({6}) Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden die Beiträge weiter steigen, gibt es Rationierung und steigende Lohnzusatzkosten. ({7}) Weil wir das nicht wollen, ist eine tiefgreifende, ehrliche Reform notwendig. ({8}) Wir in der Koalition sind uns einig: Eine Einheitskasse und ein staatlich-zentralistisches Gesundheitssystem sind der falsche Weg. Wir wollen den Einstieg in ein gerechtes, transparentes Finanzierungssystem. ({9}) Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite dieses Hauses, betonen, Sie wollten den solidarischen Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten und stärken. Wunderbar, das wollen auch wir! ({10}) Aber der soziale Ausgleich darf nicht über eine intransparente Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern muss über das Steuersystem erfolgen. Unser Prämienmodell, flankiert durch einen sozialen Ausgleich über die Steuermittel, ist der gerechtere Weg. ({11}) Denn diejenigen, die viel verdienen, zahlen auch mehr in das System ein. Ihr Vorwurf, der Konzernchef zahle dann für die Gesundheit genauso viel oder wenig wie die Supermarktverkäuferin - das war übrigens ein Beispiel aus Ihrem Antrag -, ist völlig substanzlos. Denn Sie wollen doch wohl nicht bestreiten, dass der Gutverdiener mehr Steuern zahlt und sich damit auch stärker an den Gesundheitskosten beteiligt als der Geringverdiener. Das ist Gerechtigkeit. ({12}) Wenn man das Wort „Gerechtigkeit“ bloß im Munde führt, langt das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite. Bei uns hört Solidarität eben nicht bei der Beitragsbemessungsgrenze auf. ({13}) In unserem Modell werden auch Bürger mit niedrigen Einkommen eine umfangreiche Krankenversicherung haben. Der Umbau des Gesundheitssystems wird nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen sein. Deshalb wird eine von der Regierung eingesetzte Kommission unter Leitung von Minister Philipp Rösler sorgfältig Vorschläge erarbeiten, ({14}) wie und in welcher Geschwindigkeit ein neues Finanzierungssystem eingeführt werden kann. ({15}) Die bisherige Gesundheitspolitik wurde am 27. September von den Bürgerinnen und Bürgern abgewählt. ({16}) Die Menschen haben ein Recht darauf, dass endlich ein faires, zukunftsfähiges Gesundheitssystem installiert wird. Dafür hat man uns gewählt, und dafür werden wir sorgen. Vielen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria KleinSchmeink von Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der durchaus lebendigen - ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen bei der FDP, bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein und geben Sie den anderen die Gelegenheit, der Debatte zu folgen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann fange ich noch einmal an. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts dieser wirklich angeregten Debatte am späten Abend ({0}) zeigt sich, dass wir zu einem recht wichtigen Thema in dieser Legislaturperiode gelangt sind, was eigentlich einen etwas seriöseren und genaueren Umgang erfordern würde, als wir ihn bislang erlebt haben. ({1}) Nach den Argumenten, die ich heute hier gehört habe, müssen Sie sich den Vorwurf, den Sie an die linke Seite richten, durchaus auch selber gefallen lassen. Denn Sie beanspruchen Seriosität, Genauigkeit und Ehrlichkeit, wie ich eben gehört habe. Aber ich frage mich: Wo sind all diese Punkte in Ihrem Koalitionsprogramm? ({2}) Ich finde sie nicht. Ich finde viele offene Fragen, aber keine Antwort. ({3}) Ich habe keine Antwort - weder heute in der Zeitung ({4}) noch am Mittwoch im Gesundheitsausschuss durch den Herrn Minister - auf die Frage erhalten, wie Sie Ihre Pläne tatsächlich ausgestalten wollen, wie Sie sie finanzieren wollen. ({5}) Überall offene Fragen, gekoppelt - das will ich an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen - mit einer enormen Leichtfertigkeit; denn Sie wollen ein Solidarsystem in Deutschland zerschlagen, ({6}) das eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erfährt. Bevor man so etwas tut, muss man erstens gute Gründe nachweisen und zweitens einen guten Plan haben, wie man sein Ziel erreichen will. ({7}) Das fehlt auf Ihrer Seite. Sehr viele von der CDU/CSU schauen mit großem Unbehagen und mit großer Sorge auf die gesamte Entwicklung. ({8}) Denn sie wollen im Grunde genau diese Vereinbarung nicht. Aus der CSU und aus den Sozialvereinigungen heraus wird öffentlich darüber gestritten, ob dieser Solidarausgleich tatsächlich zerschlagen werden soll. ({9}) Sie sind sich in diesem Punkt nicht sicher. Sie hoffen nur, dass Sie die Entwicklung so lange aussitzen können, dass es nicht zu einer Verwirklichung der FDP-Pläne, sondern nur zu einer kleinen Kopfpauschale kommt. ({10}) Ich sage Ihnen: Sie können sich da nicht sicher sein. Es ist doch so, dass Sie bislang nicht wissen, wie das Ganze ausgeht. Die Kommission soll es nun richten. Sie haben gleichzeitig das Problem, dass es Finanzierungslücken gibt, ({11}) und zwar riesige. Sie sind gezwungen, auf irgendeine Weise damit umzugehen. ({12}) Wir haben Ihnen zum Ende des Jahres unsere Vorschläge für eine Bürgerversicherung vorgelegt. Damit ist sichergestellt, dass Sie zumindest die Gelegenheit haben, sich diese anzuschauen. Nach dem heutigen Tag habe ich sogar die Hoffnung - ich habe die Ausführungen von Frau Aschenberg-Dugnus gehört -, dass Sie bereit sind, alle Vorschläge vorurteilsfrei in die Debatte einzubeziehen, vielleicht auch in die Überlegungen Ihrer Kommission. Vielleicht kommen wir sogar zu einem System, das ganz anders ist als das, das Sie bisher andenken. ({13}) Ihre Pläne sind noch nicht ausgegoren. Daher besteht die Chance, dass auf ein ganz anderes Pferd gesetzt wird. Vielleicht wird auf die Vorschläge gesetzt, die schon durchdacht sind, etwa auf den Vorschlag der Grünen, eine Bürgerversicherung einzuführen. Sie können sich nicht einfach so wie im Wahlkampf auf Vorurteile zurückziehen, zum Beispiel darauf, diese Bürgerversicherung sei wettbewerbsfeindlich und sie sei eine Einheitsversicherung. ({14}) All das stimmt nicht, und das wissen Sie auch. Spätestens jetzt, nach Vorlage der Eckpunkte, können Sie ziemlich genau nachvollziehen, dass viele der Argumente, die Sie immer wieder gegen unsere Vorschläge bemühen, in keiner Weise zutreffen. Wir haben einen Vorschlag gemacht, der eine nachhaltige und gerechte Finanzierungsbasis für ein zukünftiges Gesundheitswesen beinhaltet. Ich erwarte von Ihnen kurz vor Weihnachten, dass Sie sich diese Pläne und diese Vorstellungen auch wirklich anschauen. ({15}) Ich komme zu einem zweiten Aspekt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie sich beim zweiten Aspekt ein bisschen beeilen müssen? ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann werde ich mich darauf beschränken, zu sagen, dass ich die weiteren Punkte jederzeit in die Diskussion einbringen kann.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nur nicht heute Abend. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will Ihnen zum Abschluss nur noch Folgendes mit auf den Weg geben - hier sitzen relativ viele Kolleginnen und Kollegen aus NRW -: Wir werden es Ihnen nicht durchgehen zulassen, wenn Sie sich mit irgendwelchen Vorschlägen, die Finanzierungslücken aufweisen, über die bevorstehende Landtagswahl hinwegretten wollen. ({0}) Darauf können Sie sich verlassen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich will noch insbesondere erwähnen, dass Sie es sozusagen mit einer verschärften Versuchsanordnung zu tun hatten; denn ich habe Sie, unmittelbar nachdem ich das Präsidium übernommen habe, mit Blick auf die Uhr auf die grausamen Gewohnheiten dieses Hauses aufmerksam gemacht. Nun haben Sie das Schlimmste in dieser Legislaturperiode schon hinter sich, und das wird Sie für die weitere Legislaturperiode hoffentlich ermutigen. ({1}) Wir haben weitere Beispiele in dieser Versuchsanordnung. ({2}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. Dann will ich den Versuch mal starten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Rösler, Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz und Herr Staatssekretär Bahr, zunächst einmal möchte ich Ihnen ausdrücklich dafür danken, dass Sie hier in einer Dreierkonstellation erschienen sind. ({0}) Dies zeigt ganz eindeutig Ihren Respekt vor den Beratungen hier im Haus. Im Mittelpunkt unserer Gesundheitspolitik stehen die Menschen, ({1}) und zwar die gesunden genauso wie die kranken Menschen. ({2}) Wir wollen, dass auch in Zukunft jeder in Deutschland, und zwar unabhängig von seinem Einkommen, seinem Alter, seiner sozialen Herkunft oder seinem gesundheitlichen Risiko, eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe medizinische Versorgung erhält und dass alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Wir teilen die Auffassung, Herr Lauterbach, dass die Bürgerinnen und Bürger keine Zweiklassenmedizin wollen. Mit uns werden sie sicherlich keine bekommen. ({3}) Wir wollen uns dem demografischen Wandel und den Herausforderungen einer rasanten medizinischen Entwicklung stellen. Wir wollen keine weitere starke Abhängigkeit der finanziellen Leistungsfähigkeit unserer Krankenkassen von den konjunkturellen Entwicklungen. Wir wollen keine überproportionale Wettbewerbsbelastung unserer Produkte durch die vollständige Kopplung der Finanzierung an den Faktor Arbeit. Deshalb haben wir beschlossen, eine Regierungskommission einzusetzen, die den Auftrag hat, nicht nur Lösungsvorschläge, sondern auch Lösungswege detailliert zu erarbeiten. Gestern haben Sie, Herr Minister Rösler, es im Gesundheitsausschuss so bezeichnet: Es sollen detaillierte Vorschläge für Schrittgrößen und für Schrittfrequenzen erarbeitet werden. Meine Damen und Herren, ich möchte mich besonders auf den Antrag der Linken konzentrieren. Ich meine aber weniger den Antragstext - denn daraus wird nichts ersichtlich - als vielmehr die Begründung Ihres Antrags. Liest man die letzten drei Zeilen dieser Begründung, dann weiß man ganz genau, wo der Hase im Pfeffer liegt. Sie haben schon im Bundestagswahlkampf mit den Sorgen und Ängsten der Bürgerinnen und Bürger gespielt. Sie haben schon im Bundestagswahlkampf mit der Schimäre einer vermeintlich kalten und unsozialen Politik einer schwarz-gelben Koalition auf dem Rücken der Bevölkerung Stimmung gemacht. ({4}) Nur, die Wählerinnen und Wähler haben das gemerkt. Mit Ihrem heutigen Antrag haben Sie wieder nichts anderes im Sinn, als Menschen zu verunsichern und Ängste zu schüren. ({5}) Sie wollen die Stimmung für den Vorwahlkampf in Nordrhein-Westfalen anheizen. Aber auch das - da bin ich ganz ohne Sorge - werden die Wählerinnen und Wähler merken. ({6}) Sie, meine Damen und Herren von den Linken, wissen genau, dass dann, wenn alle Bürger in eine Einheitskasse einzahlen müssten, kein Wettbewerb mehr stattfände und die Versorgung noch teurer würde. ({7}) Sie wollen eine Einheitskasse. Sie wollen staatliche Zwangswirtschaft und Gleichmacherei. ({8}) Sie wissen ganz genau, dass dem Zuwachs an Beitragszahlern ein Zuwachs an Ansprüchen in gleichem Maße gegenüberstünde. ({9}) Sie wissen auch ganz genau, dass die Finanzfragen der gesetzlichen Krankenversicherung mit Ihrem Vorschlag nicht gelöst, sondern sogar verschärft werden, weil im Gegensatz zur privaten Krankenversicherung keine Vorsorge für steigende Gesundheitskosten im Alter getroffen wird. Sie wissen auch genau, dass Sie in Ihrem Vorschlag die Probleme der Bevölkerungsentwicklung ausblenden. Sie wissen ebenfalls genau, dass in Ihrem Vorschlag die jungen Menschen im Stich gelassen werden, weil er mittelfristig keine Lösung im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit bietet. Außerdem wissen Sie ganz genau, dass es verantwortliche Politik wäre, zuzugestehen, dass es einen Unterschied zwischen einem fairen, freien und wettbewerblichen Gesundheitssystem als Teil der sozialen Sicherung und einem beliebigen wettbewerblichen System gibt. Es geht Ihnen aber nicht um verantwortungsvolle Politik. Ich komme aus Berlin, einem Bundesland, das schon viele Jahre von Ihnen mitregiert wird. Stück für Stück setzen Sie staatlichen Dirigismus und Einheitsbrei durch. Die Lebensqualität von uns Berlinern und Berlinerinnen wird immer schlechter. ({10}) Ihr Modell einer Einheitskasse und einer Zwangswirtschaft bedeutet in der Folge das Ende der freien Arztwahl, die Absenkung der medizinischen Standards und führt zu einer gleich schlechten Versorgung der Patientinnen und Patienten. Vielleicht könnte man munkeln, dass später heimlich Privatkliniken für Ihre Parteigenossen zur Verfügung stehen. ({11}) Wir alle wissen, dass eine Gesellschaft gerade im Umgang mit Kranken, Älteren und Schwachen ihr wahres Gesicht zeigt. Genau deshalb geht bei uns Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Lassen wir der Regierungskommission die Zeit, die sie braucht, um uns einen gründlich überlegten Weg der festen Schritte vorzuschlagen, mit dem wir unser Ziel erreichen: medizinische und pflegerische Leistung auf höchstem Niveau, auch in Zukunft eigenverantwortlich, selbstbestimmt und solidarisch gesichert, egal ob für Alt oder Jung, Reich oder Arm, Stark oder Schwach. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Frau Vogelsang, auch Ihnen gratuliere ich herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit. ({0}) Nun hat der Kollege Lars Friedrich Lindemann für die FDP-Fraktion das Wort, ({1}) der vor der beinahe unlösbaren Aufgabe steht, all das, was sich zu diesem wichtigen Thema eigentlich sagen ließe, in drei Minuten sagen zu müssen. Bitte schön.

Lars Lindemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004095, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lauterbach, ich muss mich schon sehr wundern, wenn Sie hier von einem funktionierenden Solidarsystem sprechen. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir hatten im Wahlkampf und nach dem Wahltag einen anderen Eindruck. Die Pläne, die Sie hier schlechtheißen, haben wir den Wählern vorher verkündet. Wir tun jetzt genau das, was wir angekündigt haben. Das stellen Sie hier in Abrede. ({0}) Das Gesundheitssystem, wie es derzeit aufgestellt ist, steckt in einer Sackgasse, die in den letzten Jahren mit Milliardenbeträgen aus dem Bundeshaushalt, Beitragserhöhungen und Gesetzen zur Kostendämpfung um ein paar Meter verlängert wurde, weil man grundlegende Veränderungen nicht vornehmen wollte. Auch diese Koalition gewährt notgedrungen einen Zuschuss von 3,9 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt, um diese Sackgasse nochmals zu verlängern, um krisenbedingte Ausfälle nicht den Versicherten aufzubürden. Um es aber deutlich zu sagen: Die derzeit sichtbaren Probleme und Unzulänglichkeiten in diesem System sind Resultat einer über die letzten Jahre von Ihnen - da habe ich vor allem Sie von der SPD im Blick - geschaffenen Gesetzeslage, die wir jetzt vorfinden. Das wollen wir nicht verkehrt sehen. ({1}) Wenn wir mit Ihnen in eine Debatte darüber eintreten, wie ein solidarisches, nachhaltig stabil aufgestelltes Gesundheitssystem aussehen soll, dann gehen unsere Vorstellungen - wie sollte es auch anders sein! - ein wenig auseinander. Was die Finanzierungsseite angeht, nützt es eben nichts, sich stets darüber zu unterhalten, wie mehr Geld ins System kommen könnte: durch die Einbeziehung weiterer Einkunftsarten und Einkommensbezieher oder durch weitere Kostendämpfungen. Nach unserer Auffassung ist ein Festhalten an einer so engen Koppelung der Gesundheitskosten an die Lohnkosten, wie es sie derzeit gibt, nicht zielführend. Eine Debatte um ein gerechtes, solidarisches System, wie Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sie führen, ist aber auch von Augenwischerei und Schönfärberei geprägt, und sie endet, gibt man sich Ihren Vorstellungen hin, in einem steuerfinanzierten System à la NHS, wie wir es aus England kennen. Die Fortsetzung einer solchen Entwicklung wird es unter unserer Verantwortung nicht geben. ({2}) Den Ruf nach einer gerechten Gesundheitspolitik haben Sie - das darf man so sagen - stets mit VersprechunLars Lindemann gen verbunden, die den Menschen in diesem Land ein Rundum-sorglos-Paket aus der Hand des fürsorglichen Staates vorgegaukelt haben. Ich sage Ihnen offen: Ich bin froh, dass das ein Ende hat und dass die Protagonistin, Frau Schmidt, nicht mehr im Amt ist. ({3}) Was Sie getan haben, zeugt von einem unheimlich hohen Maß an Unverantwortlichkeit den Patienten und Leistungserbringern gegenüber. Ein Anspruch auf alles erdenklich Mögliche, und dies auf höchstmöglichem Niveau für jeden, so etwas vorzugaukeln, war und ist mehr als unredlich. ({4}) Ein solches Gesundheitssystem gab es noch nie auf der Welt, und das wird es nie geben, auch nicht in Deutschland. Solidarität - Sie nennen Ihren Vorschlag „solidarisch“ - ist eben nicht der größtmögliche Eifer beim Verteilen des Geldes anderer Leute. ({5}) Solidarität, verstanden als das Eintreten der Gesunden für die Kranken, kann nur funktionieren, wenn sie in einem engen Zusammenhang mit der Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen steht. Diese Eigenverantwortung als Voraussetzung für das Funktionieren solidarischer Elemente gilt es in das System zurückzubringen. Das ist die Aufgabe in der nächsten Zeit. Wir brauchen ein zukunftssicheres Finanzierungssystem, geprägt durch Eigenverantwortung, Wahlfreiheit, Nachhaltigkeit und Sicherheit, das die Teilhabe eines jeden - da ist sozialer Ausgleich richtig angesiedelt durch Zuschüsse über das Steuer- und Transfersystem zu seinen Beiträgen erhält, wenn er sie selbst tatsächlich nicht bezahlen kann. Der Einstieg in ein System einkommensunabhängiger Arbeitnehmerbeiträge ist, wie im Koalitionsvertrag verabredet, ein erster Schritt weg von einer zentral vorgegebenen Staatsmedizin und hin zu mehr Vielfalt und Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen. Der Patient steht für uns im Mittelpunkt. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Lindemann, auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, die das amtierende Präsidium mit einem 40-prozentigen Zuschlag auf Ihre Redezeit gewürdigt hat. ({0}) Ich weise vorsichtshalber darauf hin, dass ich das für die nachfolgenden Reden nicht in Aussicht stellen kann. Vielleicht ist der Hinweis für die älteren wie die neueren Mitglieder des Hauses nicht gänzlich überflüssig, dass dann, wenn die rote Lampe blinkt, die von den Fraktionen gemeinerweise zugestandene Redezeit bereits überschritten ist. Wenn sich dann der Präsident mit dem Blinkzeichen meldet, ist das ein Indiz dafür, dass er zunehmend an die Grenze seiner Gestaltungsspielräume gerät. ({1}) Nun sind wir am verdienten Ende dieses Tagesordnungspunktes. ({2}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/240, 17/258 und 17/241 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich bin beeindruckt: Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Bevor ich den Tagesordnungspunkt 16 aufrufe, möchte ich die tapferen Besucher auf der Besuchertribüne besonders herzlich begrüßen. ({3}) Ich tue das deswegen besonders gerne, weil wir gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert werden, auf den Besuchertribünen seien mehr Leute anwesend als im Plenum. Das ist heute Nacht um 22.29 Uhr nachweislich anders, was ich ausdrücklich festhalten möchte. ({4}) Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moratorium für Stuttgart 21 - Wirtschaftlichkeit des Großprojektes vor Baubeginn sicherstellen - Drucksachen 17/125, 17/268 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann. ({6})

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es freut mich, dass wir noch zu so später Stunde über eines der besten Projekte, die im Verkehrsbereich aufs Gleis gesetzt werden, diskutieren können. ({0}) Ich nehme an, dass wir über dieses Thema deshalb zu so später Stunde diskutieren, weil der Ausschussvorsitzende, Winfried Hermann, dafür gesorgt hat, dass wir heute Abend noch lange diskutieren wollen. Dann wollen wir das auch gerne tun. Ich freue mich, wie gesagt, außerordentlich, dass wir das hier live machen können. Mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm bekommen Baden-Württemberg und der gesamte süddeutsche Raum zwei Schienenprojekte von europäischer Dimension. Sowohl Stuttgart 21 als auch das Bedarfsplanvorhaben der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm betreffen die Magistrale für Europa, die von Paris über Stuttgart, München, Wien, Bratislava bis Budapest führt. Der Raum Stuttgart und die Strecke über die Alb nach Ulm stellten in der Relation erhebliche Engpässe dar, die mit den beiden Projekten beseitigt werden. Die Realisierung des Projekts Stuttgart 21 ist allerdings nur sinnvoll, wenn beide Projekte gleichzeitig gebaut und vor allem beide Strecken gleichzeitig in Betrieb genommen werden. Sie hängen unmittelbar voneinander ab. ({1}) Die Gewinner dieser zwei Vorhaben sind in erster Linie die Bahnkunden, um die es uns gehen muss. Die Fahrzeiten im Fern- und Nahverkehr werden sich enorm verkürzen. Ein weiterer großer Vorteil: Der Anschluss des Flughafens Stuttgart an das ICE-Netz bringt erhebliche Erleichterungen und Verbesserungen für die Fahrgäste mit sich. Ich denke, das ist das, was Verkehrspolitik machen muss - in Zukunft noch mehr als bisher -: Die verschiedenen Verkehrsträger sind zu verknüpfen und müssen für den Kunden möglichst einfach zu nutzen sein. Insofern ist dies ein gutes Sinnbild für eine neue Art von Verkehrspolitik, von der wir in Deutschland mehr brauchen. Stuttgart 21 mit der Umgestaltung des Knotens Stuttgart und der Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs als Durchgangsbahnhof ist kein Projekt des Bedarfsplanes für die Bundesschienenwege, sondern ein unternehmerisch eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG. Die Eisenbahninfrastrukturunternehmen sind Vorhabenträger und Bauherren. Das ist in der Diskussion in den letzten Wochen oftmals nicht richtig gesehen worden. Es ist mitnichten so. Der Bund beteiligt sich an Stuttgart 21 finanziell aus Mitteln für den Bedarfsplan Schiene mit einem Festbetrag in Höhe von 563,8 Millionen Euro, der für die Einbindung des Bedarfsplanvorhabens Neubaustrecke Wendlingen-Ulm in den Knoten Stuttgart als sogenannte Sowiesokosten eh erforderlich gewesen wäre. Über den genannten Betrag hinaus werden folgende Finanzierungsbeiträge, die aus anderen mit Bundesmitteln finanzierten Quellen stammen, vorgesehen: 197 Millionen Euro gemäß Abs. 2 Bundesschienenwegeausbaugesetz für den Nahverkehr, circa 168 Millionen Euro aus dem GVFG-Bundesprogramm und circa 300 Millionen Euro aus dem Infrastrukturbeitrag für das Bestandsnetz im Rahmen der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Man sieht also, dass der Bund erhebliche Mittel für dieses Projekt bereitstellt. Das ist sinnvoll und richtig so. Die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und DB AG wurde am 2. April 2009 für beide Vorhaben abgeschlossen. Im Vorfeld hat die DB AG eine Wirtschaftlichkeitsrechnung erstellt. Diese wurde im Auftrag des Bundes geprüft und erbrachte für uns ein ausgeglichenes Ergebnis. Also können wir bei diesem Projekt mitgehen. Die Bereitstellung von weiteren Finanzierungsmitteln sowie die Finanzierung entstehender Mehrkosten sind in gesonderten Vereinbarungen zwischen dem Land BadenWürttemberg, der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Verband Region Stuttgart, der Flughafen Stuttgart GmbH und der DB AG geregelt. Es gilt, eventuell anfallende Mehrkosten, die über die zwischen den Beteiligten vereinbarte Risikovorsorge hinausgehen, zu decken. Im Vertrag des Bundes mit der DB AG zu Stuttgart 21 gibt es dazu keine entsprechende Klausel. Auch das wurde in den vergangen Tagen kolportiert, das ist aber anders. Die aktuelle Kostenkalkulation der DB AG hat für Stuttgart 21 Gesamtprojektkosten in Höhe von 4 088 Millionen Euro ergeben. Darin sind neben Bau- und Planungskosten auch inflationsbedingte Kostensteigerungen der Zukunft enthalten. Der bisherige von der DB AG angesetzte maximale Kostenrahmen von etwa 4,5 Milliarden Euro wird somit nicht überschritten, sondern bleibt weiterhin gültig. Das ist für uns als Eigentümer der DB AG die Grenze, über die wir nicht gehen wollten. Die Mehrkosten gegenüber den ursprünglich kalkulierten 3,076 Milliarden Euro werden über die bereits vereinbarte Risikovorsorge in Höhe von 1,45 Milliarden Euro ausgeglichen. Es verbleibt somit ein Risikoschirm von 438 Millionen Euro. Ich denke, auf der derzeitigen Kalkulationsbasis, der derzeitigen Planungsbasis ist das ein gutes Ergebnis. Man kann das Projekt also, denke ich, starten. So ist es in der Sitzung des Lenkungskreises gelaufen. In der vergangenen Woche haben die Projektpartner, die ich vorhin schon genannt habe, die aktualisierte Kostenkalkulation zum Großprojekt zur Kenntnis genommen und die Signale für das wichtige Verkehrsprojekt, Herr Hermann, auf Grün gestellt. Man kann eigentlich gar nicht Grün sagen, sondern müsste eigentlich SchwarzRot-Blau-Gelb sagen. Aber es heißt ja „auf Grün gestellt“; ich komme darauf gleich noch zurück. Somit sind von allen Seiten die Bedingungen geschaffen, dass beide Projekte im Jahr 2010 begonnen und im Jahre 2019 nach unserer Planung in Betrieb genommen werden können. Die Entscheidungen für die Realisierung von Stuttgart 21 sind gefallen. Damit können in dieser konjunkturell schwierigen Situation für unser Land zwei der größten Bauvorhaben in Deutschland beginnen: Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Herr Präsident, gestatten Sie mir, noch einen Punkt anzusprechen, der mich seit langen Jahren, die ich Mitglied im Deutschen Bundestag bin, immer ein wenig ärgert. Ich will daraus keinen Hehl machen. Wir diskutieren im Fachausschuss vielfach über die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. Im Ausschuss gibt es im Grunde niemanden, der dagegen ist. Alle sagen, dass es sinnvoll und notwendig ist. Bedenklich ist aber, dass diejenigen, die angeblich am meisten für die Schiene als Verkehrsträger eintreten, auch diejenigen sind, die sinnvolle Projekte vor Ort torpedieren und zum Teil auch noch die Bürgerinitiativen anführen, die diese Projekte mit Engagement bekämpfen. Das ist sehr bedauerlich. Da muss man sagen: Wir werden uns in dieser Legislaturperiode zu eigen machen, dies nicht weiter zu respektieren. Vielmehr werden wir die Projekte im wahrsten Sinne des Wortes aufs Gleis setzen, weil wir das für das Schienennetz als sinnvoll erachten. ({2}) Daher bitte ich, der Beschlussempfehlung des Ausschusses zuzustimmen, damit wir gemeinsam große und schöne Projekte für den Schienenverkehr in Deutschland voranbringen. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Martin Burkert für die SPD-Fraktion. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stuttgart 21 und der Neubau der Strecke nach Ulm bilden ein Verkehrsprojekt, das nicht nur für die Region Stuttgart, sondern auch für den gesamten süddeutschen Raum und das Hochgeschwindigkeitsnetz in Europa von besonderer Bedeutung ist. Es ist selbstverständlich, dass es bei so einem Projekt zu Diskussionen kommt, zumal, wenn die Kosten höher sind, als man erwartet hat. Aber wir sind uns weitgehend einig, dass es Ziel unserer Verkehrs- und Umweltpolitik ist und sein muss, mehr Menschen und Güter auf die Schiene zu bringen. ({0}) Wenn wir das wollen, dann müssen wir attraktive - ich betone das - Angebote schaffen. Es reicht nicht mehr, dass man sagt: Liebe Autofahrer, steigt um, fahrt mit der Bahn, das ist umweltfreundlicher und verstopft die Autobahnen nicht. Nein, es muss attraktiv sein, Bahn zu fahren, und es muss gute Gründe geben, auf die Schiene umzusteigen. Ich sage: Stuttgart 21 ist ein guter Grund. Mit dem Bahnknoten Stuttgart und der Neubaustrecke nach Ulm wird das Reisen quer durch Europa schneller und bequemer. Die Reisezeiten werden verkürzt. Eine Fahrt von Stuttgart nach München wird beispielsweise nur noch gut eineinhalb Stunden dauern. Köln wird von München aus in dreieinhalb Stunden erreichbar sein. Umsteigen ist nur noch bei wenigen Verbindungen notwendig. Der gesamte süddeutsche Raum wird durch Stuttgart 21 besser an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz angebunden. Das sind gewichtige Gründe, auf die Bahn umzusteigen. Das ist eine echte Alternative, im Übrigen nicht nur zum Auto, sondern auch zum Flugzeug. Dennoch - auch das möchte ich nicht verhehlen -: Die Kostenexplosion von Stuttgart 21 hat auch mich und uns irritiert. Hier muss sich vor allem die Deutsche Bahn die Frage gefallen lassen, warum es zu den erheblichen Mehrkosten gekommen ist. Immerhin musste in diesem Zusammenhang auch ein Vorstandsmitglied der Bahn gehen. Ich glaube, Herr Grube hat gut daran getan, die Kosten nochmals zu begutachten und die Einsparpotenziale zu nutzen. Selbstverständlich stellt sich an dieser Stelle auch die Frage, wie weitere Mehrkosten in Zukunft vermieden werden können. Eines muss allerdings festgehalten werden: Das Projekt Stuttgart 21 ist eine wichtige Weichenstellung, um künftig mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Es macht die Bahn zukunftsfähig und schafft eine echte Alternative zum Auto und auch zum Flugzeug. Gemeinsam mit meiner Fraktion wünsche ich vor allem allen am Bau Beteiligten ein unfallfreies Arbeiten. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Werner Simmling für die FDP-Fraktion. ({0}) Herr Kollege, jetzt müssen Sie sich Mühe geben, den demonstrativen Eingangsbeifall durch Ihre Rede am Ende noch zu überbieten. ({1})

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich werde mir alle Mühe geben. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weichen für die Realisierung des größten und derzeit wichtigsten Infrastrukturprojekts in Deutschland sind gestellt. Bei Stuttgart 21 und der Schnellbahnstrecke WendlingenUlm stehen die Signale nun endgültig auf Grün. Wir wollen das Projekt. ({0}) Heute stellen Sie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Antrag, ein Moratorium für Stuttgart 21 zu erklären. ({1}) Was soll das? Schließlich haben alle Projektpartner - das sind der Flughafen Stuttgart, die Stadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart, das Land Baden-Württemberg, die Bundesrepublik Deutschland und die DB AG - die Finanzierungsvereinbarungen bereits am 2. April 2009 unterzeichnet. ({2}) Der Aufsichtsrat der Bahn und der Lenkungsausschuss Stuttgart 21 haben am 9. bzw. 10. Dezember 2009, also vor nur wenigen Tagen, der fortgeschriebenen Entwicklungsplanung zugestimmt. ({3}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bahn fährt von jetzt an, nach 17 Jahren der Planung, in die Moderne. ({4}) Das heißt, es gibt 117 Kilometer neue Gleise, 66 Kilometer davon in Tunnels, 35 Brücken und vier neue Bahnhöfe. ({5}) Das ist gewaltig, aber volkswirtschaftlich und umweltpolitisch - das ist ja auch Ihnen wichtig - notwendig. Denn die bestehende Infrastruktur wird dem Bedarf in den kommenden Jahren bei weitem nicht mehr gerecht werden. Im Klartext heißt das: Bereits in den nächsten fünf Jahren wird es nicht genug Schienenstrecken geben, um das Verkehrsaufkommen abzuwickeln. Dabei wollen wir doch - das wurde schon angeführt - die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. ({6}) Verzichteten wir auf den nötigen Infrastrukturausbau, hemmten wir nicht nur Wachstum und Fortschritt, also zusätzliche Wertschöpfung, sondern fügten der Region und dem Wirtschaftsstandort Deutschland auch massiven Schaden zu. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer zukunftsfähig sein will, der muss Entscheidungen treffen. Bei „Pro Stuttgart 21“ und Wendlingen-Ulm haben alle beteiligten Partner Weitsicht, Zukunftsfähigkeit und Verantwortung bewiesen. Was wir aus volkswirtschaftlicher Sicht brauchen, sind integrierte Verkehrswege, die eine überregionale strukturelle Bedeutung haben. Bei Stuttgart 21 und Wendlingen-Ulm sind Schienen-, Straßen- und Luftverkehr optimal miteinander verbunden. Die strukturellen Vorteile liegen auf der Hand. Nicht nur Baden-Württemberg, sondern auch Deutschland rückt näher zusammen, und unser Anschluss an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz ist gesichert. Die Zeiten, in denen sich Fernzüge mit 70 km/h über die Geislinger Steige quälten, gehören damit endgültig der Vergangenheit an. ({8}) Durch die neu zu schaffende Infrastruktur können wir uns in der Mitte eines sich nach Osten vergrößernden Europas erfolgreich positionieren. Wirtschaftliche Folgeinvestitionen werden die Region und den Standort Deutschland zusätzlich nach vorne bringen. Nur wenn wir in die Zukunft, das heißt, über den berühmten Tellerrand, schauen, können wir unseren Platz als führende Wirtschaftsnation in der Welt behaupten. Schlussendlich sichert diese Entscheidung nicht nur Arbeitsplätze in einem der leistungsfähigsten Wirtschaftsräume Europas, sondern schafft auch noch zusätzliche. In der Region Stuttgart leben und arbeiten 2,7 Millionen Menschen. Langfristig werden bis zu 10 000, allein während der Bauphase schon 7 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Insofern ist das ganze Projekt ein Glücksfall für die heutige Zeit. ({9}) Über diese positiven wirtschaftlichen Aspekte hinaus hat Stuttgart die Chance zu einer Neugestaltung und damit zu einer einmaligen Entwicklung. Wo heute noch Schienen, Weichen, Schotter und Beton die Landschaft verunzieren, werden Wohnungen und Grünflächen entstehen - und eben Arbeitsplätze. ({10}) Kurz: Urbanes Leben, Wohnen, Arbeiten im 21. Jahrhundert werden dort neuen Raum finden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Projektpartner haben sich auf einen belastbaren Kostenrahmen geeinigt, der solide und verantwortungsvoll ist. Für Stuttgart 21 lautet die neue Kostenkalkulation: 4,088 Milliarden Euro, Preisstand 2009. Mehrungen und Einsparungen sind hier schon berücksichtigt. Weitere 438 Millionen Euro bzw. 15 Prozent der Bausumme sind zur Abdeckung eventueller Kostenrisiken während der Bauzeit eingeplant. Eine ausgeglichene Wirtschaftlichkeit ist darüber hinaus bis zu einem Gesamtbedarf von 4,769 Milliarden Euro gegeben. Für die Schnellbahntrasse Wendlingen-Ulm bleibt es bei 2 Milliarden Euro. Aus heutiger Sicht ist eine Bundesfinanzierung vor 2016 nicht wahrscheinlich. Unter den oben genannten verkehrlichen, städtebaulichen, volkswirtschaftlichen und umweltpolitischen Gesichtspunkten, aber auch angesichts des belastbaren Kostenrahmens und der ausgeglichenen Wirtschaftlichkeit ist ein Aufschub, wie Sie ihn in Ihrem Antrag fordern, oder gar ein Ausstieg nicht zu rechtfertigen. ({11}) Über dieses Projekt wird seit mehr als zwei Jahrzehnten diskutiert, und es wird seit 17 Jahren geplant. Alternativkonzepte sind zur Kenntnis genommen worden. Schon die Renovierung des Stuttgarter Bahnhofs, die ohnehin anstünde, würde weit über 1 Milliarde Euro verschlingen, wäre im Endeffekt aber nichts Halbes und nichts Ganzes. Heute ein Moratorium für Stuttgart 21 zu verlangen, ohne fundierte Kostenalternativen aufzuzeigen, mit dem Ziel, dieses Projekt weiter und weiter aufzuschieben, ist politisch verantwortungslos und überdies ein höchst fahrlässiger Umgang mit Steuergeldern. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daher, diesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Simmling, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin beeindruckt und offenkundig nicht alleine. ({0}) Ich erinnere mich leicht deprimiert an meine eigene erste Rede im Deutschen Bundestag, die zu einer ähnlichen Nachtzeit stattgefunden hat und die nicht annähernd von einer vergleichbaren Kulisse getragen war, weil aus mir bis heute unverständlichen Gründen die FDP-Fraktion keine vergleichbare Motivation entwickelt hatte, ({1}) dieser fulminanten Rede beizuwohnen. Lieber Kollege Simmling, das berechtigt also zu den allerschönsten Hoffnungen. Alles Gute für die weitere parlamentarische Arbeit! ({2}) Sobald sich die Prozessionszüge rechts vom Präsidium wieder beruhigt haben, erhält irgendwann im weiteren Verlauf des Abends der Kollege Ulrich Maurer das Wort für die Fraktion Die Linke. ({3})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin von dieser Bildersprache, die ich jetzt gehört habe, wirklich ergriffen: schön, wunderbar, Zukunftsprojekt. Wenn ich das Wort von den blühenden Landschaften nicht schon einmal gehört hätte, dann wäre ich davon besonders ergriffen gewesen. ({0}) Sie müssen sich stattdessen einmal die Frage stellen, warum die Mehrheit der Bevölkerung meiner Heimatstadt dieses wunderbare Geschenk gar nicht haben will. Das würde Sie ernüchtern. Ich will Ihnen erklären, warum. Vor 17 Jahren, als es erdacht wurde, hatte die Vorstellung, den Siedlungsdruck von ökologischen Freiflächen weg aufs Bahngelände zu lenken, eine gewisse städtebauliche Faszination. Ich bin ihr auch eine Zeit lang erlegen und vom Saulus zum Paulus geworden. ({1}) - Aber ja. - Frau Kumpf, Sie sollten auch vom Saulus zum Paulus werden. Das wäre ganz schön und hätte Ihrer Partei in Stuttgart in den zurückliegenden Jahren sehr geholfen. ({2}) Sie haben ihr aber nicht geholfen. Das ist aber nicht der Punkt. Diesen Bahnhof schenken Sie einer Stadt, die ihn erheblich kofinanziert, die nach ihren eigenen Angaben einen Instandhaltungsrückstand bei ihren Schulgebäuden von 327 Millionen Euro hat, in der in einem Gymnasium die Decke eingefallen ist und die die Hauptstadt der Kurzarbeit ist. Ich sage Ihnen: Die Bevölkerung dieser Stadt ist mehrheitlich gegen dieses Projekt, weil sie andere Sorgen hat, als ein Milliardengrab mit schönen Dingen vor ihren Augen erblühen zu sehen. ({3}) Warum die Mehrheit des Gemeinderats Hunderte von Millionen Euro dafür ausgibt, während er gleichzeitig soziale und kulturelle Leistungen kürzt und, wie gesagt, noch nicht einmal in der Lage ist, seine Schulgebäude zu reparieren, versteht die Bevölkerung nicht, und wir verstehen das auch nicht. Dieses Projekt wird auch keine Beglückung für den öffentlichen Verkehr werden, sondern es wird zu einer Benachteiligung kommen. Wenn Sie sich in unserem Land auskennen würden, dann würden Sie die Langsamfahrstellen kennen und wissen, wie sehr wir bei Projekten des öffentlichen Nahverkehrs zurückhängen. Sie würden dann wissen, dass dieses Bahnhofsprojekt zulasten des Ausbaus der Rheintalschiene gehen wird. ({4}) Sie würden dann auch wissen, dass dieses Projekt zulasten der Elektrifizierungsmaßnahmen in Baden-Württemberg und beispielsweise auch der Südbahn gehen wird. ({5}) Sie können das Geld in diesen Zeiten nicht zweimal ausgeben. Sie haben auf dem Altar der Banken Milliarden Euro verbrannt, und wir stehen in der größten finanzpolitischen Misere. In einer solchen Situation geht es nicht darum, schöne Bahnhöfe zu bauen, sondern es geht darum, den realen schienengebundenen Personen1052 verkehr und insbesondere den Nahverkehr zu verbessern. Das sind die Zeichen der Zeit, die Sie nicht erkannt haben. ({6}) Es geht auch nicht, dass Sie die öffentlichen Kassen ausplündern, um ein Prestigeobjekt durchzusetzen und in einer Machtdemonstration recht zu behalten. Schon gar nicht geht es, dass Sie die Bilanzen solcher Projekte frisieren. So, wie die Bilanz der Bahn für den Börsengang frisiert worden ist, wird auch dieses Projekt wunderbar rauf-, runter- und schöngerechnet, ({7}) als ob wir nicht das Erlebnis gehabt hätten, dass der Leipziger Kopfbahnhof mittlerweile das Doppelte kostet, und als ob wir nicht mitbekommen hätten, dass ursprünglich einmal mit 4,9 Milliarden Euro gerechnet wurde, die sich in kurzer Zeit wunderbarerweise auf 4,1 Milliarden Euro zurückverwandelt haben. Das haben wir alle natürlich gemerkt, und das hat auch die Bevölkerung dieser Stadt gemerkt. Deswegen sage ich Ihnen: Dies ist ein Projekt der Verschwendung öffentlicher Mittel in schwierigen Zeiten. Dies ist ein Projekt zulasten des schienengebundenen Verkehrs. ({8}) Dies ist ein Prestigeprojekt, das gegen die Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden soll. Deswegen bin ich dafür, um in Ihrer Bildersprache zu bleiben, dass wir die Signale von Grün auf Rot stellen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Maurer, wäre das Ihre Jungfernrede gewesen, dann hätte die Begeisterung des Kollegen Dehm schwerlich stärker ausfallen können. ({0}) Aber auch so nehmen wir das mit besonderem Respekt zur Kenntnis. ({1}) Nun erhält der Kollege Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Fangemeinde des Unterirdischen, ({0}) es ist schon erstaunlich, dass man im Jahre 2009 einen unterirdischen Bahnhof mit der Moderne verwechseln kann. ({1}) Es ist ein durch und durch altmodisches Projekt der 90er-Jahre. In den 90er-Jahren wurden die Großstädte in ganz Deutschland mit Plänen für unterirdische Bahnhöfe beglückt. Deutschland sollte in einem quasi unterirdischen Bahnsystem verbunden werden, sozusagen wie ein U-Bahnoder Lufthansa-Netz unterirdisch durch Deutschland. ({2}) Man hat in den Städten gerechnet und gerechnet, und fast alle Projekte sind gestorben. Nur eines ist übrig geblieben: das in Stuttgart. Frankfurt und andere Städte haben aufgegeben, weil man überall nachgerechnet und festgestellt hat, was für ein Blödsinn es ist, Geld dafür auszugeben, dass die Leute möglichst schnell unter der eigenen Stadt vorbeifahren. Dass ausgerechnet Schwaben Milliarden dafür ausgeben, dass man unterirdisch unter ihrer schönsten Stadt durchfährt, um anschließend Videos zu verschenken, damit die Bahnreisenden erfahren, wie die Stadt aussieht, ist besonders absurd. ({3}) Das Projekt ist verkehrspolitisch völlig daneben. Deswegen waren auch übrigens alle Bahnverbände und Umweltorganisationen von Anfang an gegen dieses Projekt. Nur diejenigen, die selber in der Regel fliegen oder Auto fahren, wollten die Bahn mit Geld beglücken. Dann ist ihnen das unterirdische Projekt eingefallen. ({4}) Unterirdisch ist an diesem Projekt die Finanzierung. Begonnen hat man in den 90er-Jahren mit dem Versprechen, dass sich dieses Projekt selbst rechnet. Deswegen ist es heute noch im Bundesministerium als eigenwirtschaftlich dargestellt. Dabei ist alles, aber auch alles öffentlich finanziert. Eigenwirtschaftlich ist es in dem Sinne: Die verkaufen die Flächen, und damit rechnet sich das. Die Flächen stehen aber schon seit 10, 15 Jahren in Stuttgart zum Verkauf. Sie sind schwer verkäuflich, weil eine Innenstadt nicht einfach auf das Doppelte vergrößert werden kann. Bürogebäude und Kaufhäuser kann man nicht verdoppeln, wenn die Bevölkerung und die Wirtschaft nicht wachsen. Unterirdisch ist auch, wie dieses Projekt weiter finanziert wurde. Noch vor einem Jahr wurde im Haushaltsausschuss gesagt, dieses Projekt sei das am besten durchkalkulierte Projekt. Die Kosten lagen noch deutlich unter 3 Milliarden Euro. Der Staatssekretär hat zwei Tage vor der Entscheidung des Aufsichtsrates dem Ausschuss einen Brief vorgelegt, demzufolge das Projekt immer noch 3 Milliarden Euro kosten sollte. Zwei Tage später waren es auf einmal 4 Milliarden Euro, und dann sagen Sie, das sei gut gerechnet; es sei ordentlich und gut gewirtschaftet worden. Bis zum heutigen Tag hat weder der Ausschuss oder irgendjemand sonst von Ihnen die Wirtschaftlichkeitsrechnung für dieses Projekt gesehen. Keiner! Lange hieß es, man könne sie unter Verschluss einsehen. Aber nicht einmal das war möglich. Niemand im Bundestag hat die Wirtschaftlichkeitsrechnung gesehen. Es gibt übrigens auch im Ministerium niemanden, der sie gesehen hat. Denn die Wirtschaftlichkeitsrechnung wurde an eine Firma ausgelagert, die auch sonst Bahnprojekte begutachtet und zum Teil von der Bahn lebt. Wir wissen also nicht wirklich, was dieses Projekt kostet. Nun haben wir kurz vor der Entscheidung aus internen Quellen erfahren, dass dieses Projekt 5 Milliarden Euro gekostet hätte. Dann hat man in wenigen Wochen 900 Millionen Euro herausgerechnet durch Einsparungen beispielsweise bei der Tunnelstärke bzw. der Betonstärke, nach dem Motto „Wir wollen ja keine Bunker bauen, sondern Tunnels“. Insofern frage ich mich: Waren vorher Bunkeringenieure oder Eisenbahningenieure mit der Planung befasst? Es ist doch aberwitzig, zu glauben, dass man so eine Summe kurzerhand kleinrechnen kann. ({5}) Dieses Projekt ist von Anfang an preislich unter Wert gerechnet worden, damit man es politisch durchpauken kann. Jetzt kostet es schon das Doppelte, aber Sie nehmen immer noch nicht Abstand davon. ({6}) Sie wollen die Wirtschaftlichkeitsrechnung nicht einmal sehen. Nein, Sie wollen das Projekt durchsetzen. Wir verlangen nicht einmal mehr von Ihnen, dass Sie das Projekt aufgeben. Aber nehmen Sie wenigstens die Wirtschaftlichkeitsrechnung zur Kenntnis und rechnen Sie nach! ({7}) Die Neubaustrecke lehnen wir übrigens nicht grundsätzlich ab. Wir lehnen die Form ab, und wir lehnen es ab, den Bau einer Strecke zu beschließen, die nicht einmal vollständig planfestgestellt ist. Von sieben Bauabschnitten sind gerade einmal zwei planfestgestellt. Für diese Strecke, die übrigens gleich viele Tunnel hat wie das Projekt Stuttgart 21, wird nur mit 2 Milliarden Euro gerechnet. Warum eigentlich sollen wir es zum halben Preis bekommen? Wir wissen heute alle aus vergleichbaren Projekten, dass es mindestens 4 Milliarden bis 6 Milliarden Euro kosten wird. Wenn Sie alles zusammenrechnen, kommen Sie auf ein Projekt von mindestens 10 Milliarden Euro. Des Weiteren haben Sie gesagt, man könne durch das Projekt Schienenverkehr verlagern. Die Neubaustrecke kann aber nicht einmal Güterzüge aufnehmen. ({8}) Es gibt Güterzüge nur auf dem Papier, die in der Praxis gar nicht vorkommen. Sie aber behaupten, das sei ein Projekt zur Verlagerung von Verkehr auf die Schiene. Das ist doch nur in Unkenntnis dahergesprochen. ({9}) Es ist eine Behauptung, die nicht nachvollziehbar ist. Liebe Fangemeinde, dieses Projekt rechnet sich nicht. Es ist nicht wirtschaftlich. Es schadet dem Schienenverkehr und den Kunden. Es ist schlicht und einfach unterirdisch. Nehmen Sie Abstand davon! Denken Sie nach! Wir haben in unserem Antrag ein Moratorium gefordert. Dann können Sie auch nachrechnen. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Stefan Kaufmann ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen ist überholt und allenfalls ein hilfloser Versuch, den dringend notwendigen Ausbau des Schienenverkehrs in Baden-Württemberg und darüber hinaus in letzter Minute auf das Abstellgleis zu schieben. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass sich die Projektpartner nach jahrelangen Verhandlungen im April auf eine solide Finanzierung des Projekts geeinigt haben. Mit der Entscheidung des Lenkungsausschusses in der vorigen Woche stehen die Signale für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm auf Grün. Die Kosten des Bauvorhabens sind - wir haben es bereits gehört vertraglich abgesichert, und der Beitrag des Bundes zu diesem Projekt ist auf 563 Millionen Euro gedeckelt. Wenn Sie dies nicht wahrhaben wollen oder können, Herr Kollege Hermann, betreiben Sie schlichtweg Realitätsverweigerung. ({0}) Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Herr Kollege Maurer, dass das Projekt über Jahrzehnte von breiten parlamentarischen Mehrheiten im Stuttgarter Gemeinderat, in der Regionalversammlung, im Landtag und nicht zuletzt auch hier im Bundestag beschlossen und getragen wurde. Stuttgart 21 ist damit von allen Parlamenten vollumfänglich demokratisch legitimiert. ({1}) Auch die Sozialdemokraten haben dankenswerterweise immer zu diesem Projekt gestanden. Nehmen Sie bitte ebenfalls zur Kenntnis, dass Ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir mit Stimmungsmache gegen Stuttgart 21 in den Wahlkampf gezogen ist und die Wahl in Stuttgart verloren hat. Herr Özdemir hat im Übrigen schlichtweg die Unwahrheit gesagt, als er behauptete, er könne Stuttgart 21 hier in Berlin noch verhindern. Herr Kollege Hermann, das wird heute offensichtlich nicht einmal Ihnen gelingen. Stellen Sie sich also endlich Ihrer Verantwortung, und machen Sie Schluss mit Ihrer Blockadehaltung! Fangen Sie endlich an, die konkrete Umsetzung des Projekts konstruktiv zu begleiten, genauso wie es Ihr Landtagsabgeordneter Werner Wölfle schon im April in der Presse angekündigt hat! ({2}) Wir müssen - auch das ist richtig - die Sorgen der Stuttgarterinnen und Stuttgarter gegenüber dem Projekt ernst nehmen; hierzu stehe ich. Der Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern ist notwendig, genauso wie Aufrichtigkeit. Wir dürfen den Bürgerinnen und Bürgern nicht Sand in die Augen streuen. Der richtige Zeitpunkt, das Projekt grundsätzlich infrage zu stellen, war während der Diskussion über die Grundsatzbeschlüsse in den Jahren 1995 bzw. 2001. Das haben Sie damals schlicht versäumt. Unser Staatswesen beruht auf der Einhaltung der Gesetze. Auch die Stuttgarter Gemeindeordnung bindet Politik und Verwaltung. Insofern waren die 65 000 gesammelten Unterschriften für ein Bürgerbegehren zwar ein politisches Signal, aber juristisch nicht relevant. Meine Damen und Herren von den Grünen, das Ablehnen des Bürgerbegehrens haben daher die Initiatoren und die Projektgegner und nicht die Projektbefürworter, Bauherren und Geldgeber zu verantworten. ({3}) Man kann Diskussionen über Projekte dieser Größenordnung nicht zur Unzeit führen; auch das muss heute gesagt sein. Es ist sehr wohl die Aufgabe des Parlaments und des Verkehrsausschusses, die Kosten im Blick zu behalten. Wie durchschaubar die Politik der Grünen in diesem Punkt allerdings ist, zeigt gerade der Umgang mit der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Man findet vonseiten der Grünen bis zum August dieses Jahres keine einzige negative Aussage zur Neubaustrecke, deren Notwendigkeit wohlgemerkt schon 1992 festgestellt wurde. Erst im vorliegenden Moratoriumsantrag ziehen Sie die Neubaustrecke mit Fragen zur angeblich fehlenden Wirtschaftlichkeit erstmals in Zweifel, und dies völlig zu Unrecht, Herr Kollege Hermann. Die Neubaustrecke ist auf 40 Güterzüge neuerer Bauart täglich ausgelegt. Dies rechnet sich. ({4}) Ich hätte mir jedenfalls nie träumen lassen, einen solch dringenden Ausbau der Schieneninfrastruktur gegen eine Partei verteidigen zu müssen, die sich seit ihrer Gründung für die Stärkung des Schienenverkehrs und eine grüne Stadtentwicklungspolitik ausgesprochen hat. ({5}) Zudem gilt es, die betriebswirtschaftlichen Kosten des Projekts gegen den volkswirtschaftlichen Nutzen abzuwägen. Mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm bekommt nicht nur Stuttgart, sondern der gesamte Südwesten ein Investitionsprogramm, das nachhaltig Beschäftigung sichert und neue Arbeitsplätze schaffen wird. Herr Kollege Simmling hat schon richtigerweise darauf hingewiesen. Darüber hinaus ist das Projekt schon wegen der Einbindung der Strecke in die transeuropäische Trasse Paris-Bratislava auch ein Projekt von nationaler, ja europäischer Bedeutung. Mehr Schienenverkehr, zum Beispiel auf der Teilstrecke Köln-München - auch das haben wir gehört -, macht den Personen- und Güterverkehr insgesamt effizienter und umweltfreundlicher und damit das Projekt auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Stuttgart 21 bedeutet also nicht nur eine Investition in die Infrastruktur, sondern auch und vor allem eine Investition in die Zukunft. Dem kann man sich schlicht nicht verweigern. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich zum Abschluss und Höhepunkt dieses Tagesordnungspunktes der Kollegin Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort. ({0}) - Ach so.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, der Kollege von der CDU -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Einen Augenblick, Frau Kumpf. Das geht Ihrer Redezeit nicht verloren. Wir hatten hier widersprüchliche Auskünfte, ob das denn nun die erste Rede gewesen sei.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Also waren die anderen Auskünfte richtig. Aber wenn es die erste Rede gewesen wäre, hätte ich dazu prompt gratuliert. ({0}) Frau Kumpf, Ihre erste Rede ist es nach meiner Erinnerung auch nicht. Dann haben Sie jetzt das Wort.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir eigentlich einen schöneren Abschluss für heute vorgestellt und nicht gedacht, dass ich jetzt hier das letzte Wort haben darf, ({0}) vor allem weil Stuttgart in meinem Wahlkreis und dem von Herrn Kaufmann ist. Stuttgart 21 ist ein Projekt, das uns als SPD schon lange beschäftigt. Es hat auch den Gemeinderat und die Region beschäftigt. Als das Projekt 1994 auf den Weg gebracht wurde, haben sich das Land und der Bund damit beschäftigt. Ulrich Maurer, ich werde nicht vom Saulus zum Paulus, weil ich mein Geschlecht nicht ändern will, ganz einfach, auch weil ich keine Wendehälsin bin und weil ich dieses Projekt lange sehr kritisch begleitet habe. ({1}) Was mich bei der Debatte über dieses Projekt - das merken auch Sie im Plenum - stört, ist, wie populistisch vonseiten der Grünen argumentiert wird ({2}) und mit welchen Argumenten hier Vergleiche gezogen werden. Das Gleiche gilt auch für Herrn Maurer. ({3}) Es gibt immer die üblen Vergleiche: Wenn das Geld nicht für Stuttgart 21 ausgegeben würde, dann könnte es für Schulen ausgegeben werden. Die schlichte Konsequenz aber ist: Dann wird das Geld überhaupt nicht in Stuttgart ausgegeben, sondern es wird woanders verbuddelt. Schauen Sie sich den Verkehrshaushalt an! Mit diesem Projekt werden in der Bevölkerung in populistischer Weise Ängste geschürt. Die Grünen - das muss ich an der Stelle sagen, weil ich selbst Betroffene war - haben Versprechungen gemacht und wollten bei den OB-Wahlen einen Kuhhandel organisieren. Dabei war eindeutig klar, dass zu dieser Planung kein Bürgerbegehren zulässig ist, aber ein grüner Oberbürgermeister sich dann die Stimmen hat kaufen lassen von der CDU - oder umgekehrt. Da gab es Kuhhandel, die dieses Projekt begleitet haben, aber es war eigentlich mehr ein Handel zwischen Ochsen als einer zwischen Kühen. Heute Morgen haben alle miteinander hier in diesem Saal treu geschworen, sie wollten CO2-Emissionen vermindern. Was soll denn mit diesem Projekt passieren, Kollege Hermann? ({4}) Wir wollen mit diesem Projekt eine nachhaltige Mobilität organisieren. Wir wollen integrierte Verkehrssysteme organisieren. Wir erhalten vier neue Bahnhöfe. Der Bahnhof wird tiefer gelegt, wir bekommen einen Filderbahnhof, wir bekommen eine neue S-Bahn, und es wird mehr Verkehr insgesamt organisiert - regional, national und international. ({5}) Was soll daran schlecht sein? ({6}) Dass Stuttgart dieses braucht, ist klar. Kollege Hermann, die Verbindung von Tübingen nach Stuttgart, die B 27, ist morgens immer dicht. Die Leute brauchen einfach eine Alternative, sie brauchen eine Trasse, sie brauchen bessere Verkehre, und dies wird über Stuttgart 21 und über die Neubaustrecke organisiert. Stuttgart ist die Stadt mit der höchsten Feinstaubbelastung am Neckartor. Dagegen demonstrieren auch die Grünen. Was ist daran verkehrt, wenn wir mehr Verkehr auf die Schiene bringen und wenn wir mehr Verkehr, wenn auch unterirdisch, durch Stuttgart schleusen? ({7}) Dass es teuer ist, in einer solchen Topografie zu bauen, muss ein Verkehrsausschussvorsitzender wissen; denn jedes Bauvorhaben in Stuttgart wird teuer. Jede Straße bei uns wird teuer. ({8}) Dann muss man bitten und betteln, dass man einen entsprechenden Zuschlag bekommt. Es gibt noch etwas, das mich ärgert: das Nutzen-Kosten-Verhältnis; das habe ich im Ausschuss auch dem Kollegen Hofreiter gesagt. Wir sind der wirtschaftsstärkste Raum, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch in der Bundesrepublik und in Europa. Ich finde es fahrlässig, dass die Grünen einer solch starken Wirtschaftsregion eine Infrastruktur, die in die Zukunft weist, verweigern wollen. Das finde ich fahrlässig gegenüber den Kollegen und Kolleginnen in den Betrieben in Stuttgart, die ein großes Interesse daran haben, dass von diesem Projekt Wachstumsimpulse ausgehen. Ein weiterer Nutzen ist, dass der gesamte Filderraum und somit 250 000 Menschen einen neuen Verkehrsknoten bekommen. Mit diesem Bahnhof werden an der Messe und am Flughafen 100 000 Arbeitsplätze angeschlossen. Es wurde schon erläutert, dass sich die Fahrtzeiten verkürzen. Was die Flughäfen Karlsruhe und Mannheim betrifft, verkürzt sich die Fahrtzeit von 1 Stunde 45 Minuten auf nur noch 55 Minuten. Von Ulm wird kein Mensch mehr mit dem Auto zum Flughafen fahren, weil man dann innerhalb von nur 20 Minuten von Ulm zum Flughafen kommt. All dies sind Vorzüge und Verbesserungen der nationalen Verbindungen. Ein weiterer Aspekt ist: Wir können organisieren, dass viele Menschen statt der Straße die Schiene nutzen; das gilt auch für den regionalen Verkehr. Die Universität Stuttgart hat ausgerechnet, dass 350 Millionen PkwKilometer auf die Schiene verlagert werden und dass wir dadurch insgesamt rund 70 000 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr sparen können. ({9}) Noch eine Anmerkung. In der Auseinandersetzung um den Planungsprozess gab es viele verletzende Äußerungen. Wenn man in den Zeitungen liest, das sei Mord an der Demokratie oder Mord an der Stadt - das wird sogar von Ihnen mitgetragen - und dass Befürworter einer leistungsstarken Infrastruktur, nicht etwa Fan-Clubs, diskreditiert werden, dann ist eine Grenze der politischen Auseinandersetzung überschritten. Das Gleiche gilt, wenn hier immer wieder behauptet wird, die Zahl von 3 Milliarden Euro sei von heute auf morgen auf 4,088 Milliarden Euro erhöht worden. ({10}) - Herr Kollege, Sie selbst haben die Sitzung des Verkehrsausschusses als sein Vorsitzender geleitet. Sie haben genau erfahren, wie diese Werte zustande gekommen sind. Es ist unredlich, hier so zu tun, als würde mit Taschenspielertricks gearbeitet. ({11}) Ich bitte Sie um mehr Redlichkeit, mehr Glaubwürdigkeit und mehr Einsatz für die Verkehrsinfrastruktur einer Region, für die Sie den Auftrag bekommen haben. Herzlichen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich bin sicher, dass die Kollegin Kumpf bemerkt hat, dass der Präsident in besonderen Notlagen auch bei Kol- legen, die hier nicht ihre erste Rede halten, freiwillig ei- nen Zuschlag zur Redezeit gewährt. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- tel „Moratorium für Stuttgart 21 - Wirtschaftlichkeit des Großprojektes vor Baubeginn sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/268, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/125 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Be- schlussempfehlung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf Scholz, weiteren Abgeordneter und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ({0}) - Drucksache 17/207 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Drucksache 17/34({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksache 17/278 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({5}) Josef Philip Winkler c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für ein umfassendes Bleiberecht - Drucksachen 17/19, 17/278 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({7}) Josef Philip Winkler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Die Kollegen Reinhard Grindel, Stephan Mayer, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und Joseph Philip Winkler haben dazu brillante Reden vorbereitet, die sie unverständlicherweise nicht vortragen wollen, obwohl Einzelne sogar persönlich anwesend sind. Das finde ich bedauerlich, nehme es aber zur Kenntnis. Wir nehmen die Reden damit zu Protokoll.1) Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/207 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hat jemand andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um die Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/278, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/34({8}) abzulehnen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- tung. Unter dem Tagesordnungspunkt 17 c geht es um die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem An- trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für ein um- fassendes Bleiberecht“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck- 1) Anlage 6 Präsident Dr. Norbert Lammert sache 17/278, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/19 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. ({9}) Ich bedanke mich bei allen, die so lange und so diszipliniert dieser Veranstaltung beigewohnt haben. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Dezember 2009, 9 Uhr, ein. Ich hoffe, Ihnen fällt etwas Vernünftiges zur Überbrückung der verbleibenden Zeit ein. Ich schließe damit die Sitzung.