Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, bevor wir in unsere Tagesordnung
eintreten, sich für einige Zeit von den Plätzen zu erheben.
({0})
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Mitglied Otto Graf Lambsdorff, der am 5. Dezember
im Alter von 82 Jahren in Bonn verstarb. Otto Graf
Lambsdorff gehörte von 1972 bis 1998, also 26 Jahre,
ununterbrochen dem Deutschen Bundestag an. Als Abgeordneter wie als Mitglied der Bundesregierung und
auch danach hat er herausragende Ämter und Aufgaben
für unser Land wahrgenommen.
Otto Graf Lambsdorff wurde am 20. Dezember 1926
in Aachen geboren. Nach dem Besuch von Schulen in
Berlin und der Ritterakademie in Brandenburg an der
Havel nahm er ab 1944 als junger Soldat am Zweiten
Weltkrieg teil. 1946 kehrte er schwer kriegsbeschädigt
aus der Gefangenschaft zurück und machte noch im selben Jahr sein Abitur. Anschließend studierte Graf
Lambsdorff in Bonn und Köln Rechts- und Sozialwissenschaften. Nach den beiden juristischen Staatsexamina
und der Promotion war er von 1955 bis 1977 in verschiedenen Funktionen im Bank- und Versicherungsgewerbe
tätig. Seit 1960 war Otto Graf Lambsdorff zudem als
Rechtsanwalt zugelassen.
1951 trat er der FDP bei, in der er über viele Jahre an
exponierter Stelle wirkte. Seit 1972 gehörte er dem Bundesvorstand und seit 1982 auch dem Präsidium seiner
Partei an. Von 1988 bis 1993 war Graf Lambsdorff Bundesvorsitzender der FDP. Zudem stand er in den Jahren
1991 bis 1994 als Präsident der Liberalen Internationale
vor.
Nach der Aufgabe seiner Parteiämter wurde Otto Graf
Lambsdorff 1993 zum Ehrenvorsitzenden der FDP sowie
1996 zum Ehrenpräsidenten der Liberalen Internationalen ernannt. Von 1995 bis 2006 war Graf Lambsdorff Vorsitzender des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Von 1972 bis 1977, also gleich nach seiner Wahl in
den Bundestag, sowie später von 1984 bis 1997 war Otto
Graf Lambsdorff der wirtschaftspolitische Sprecher der
FDP-Fraktion. Von 1977 bis 1984 wirkte Otto Graf
Lambsdorff als Bundesminister für Wirtschaft zunächst
in der SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut
Schmidt, dann ab 1982 in der Koalition aus CDU/CSU
und FDP, an deren Bildung er maßgeblich beteiligt war,
unter Bundeskanzler Helmut Kohl.
Insbesondere in diesem Amt wurde Otto Graf
Lambsdorff in der Nachfolge Ludwig Erhards zu einem
der zweifellos profiliertesten Wirtschaftsminister unseres Landes. Er hat manchen politischen Streit angefacht
und ist keiner Auseinandersetzung ausgewichen, schon
gar nicht zu seiner Vorstellung von der Rolle des Staates
in einer sozialen Marktwirtschaft.
Im Zusammenhang mit der sogenannten Flick-Spendenaffäre trat Otto Graf Lambsdorff im Jahr 1984 von
seinem Amt als Bundeswirtschaftsminister zurück. Weitere 13 Jahre blieb er als Abgeordneter eine markante
Persönlichkeit der deutschen Politik.
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen
Bundestag 1998 engagierte sich Graf Lambsdorff weiterhin in öffentlichen Angelegenheiten. Für die Wertschätzung seiner Person und seiner Arbeit ist bezeichnend, dass ihn ein sozialdemokratischer Bundeskanzler
1999 zu seinem Beauftragten für die Stiftungsinitiative
deutscher Unternehmen „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ bestellte. Der Hartnäckigkeit und dem Verhandlungsgeschick von Otto Graf Lambsdorff ist es ganz
wesentlich zu verdanken, dass es über 50 Jahre nach
Kriegsende endlich möglich wurde, das Problem der
Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter zu lösen.
Weltweit erfuhr diese Leistung von Graf Lambsdorff
große Anerkennung.
Otto Graf Lambsdorff hat die Politik der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich geprägt. Über Parteigrenzen hinweg wurde seiner politischen Leistung und persönlichen Integrität
höchste Anerkennung zuteil.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Otto Graf Lambsdorff hat sich um unser Land große
Verdienste erworben. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Ich spreche seiner Frau und seinen
Kindern im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Maria
Michalk hat am 6. Dezember ihren 60. Geburtstag gefeiert und der Kollege Michael Glos am vergangenen
Montag seinen 65. Geburtstag. Beiden möchte ich im
Namen des ganzen Hauses dazu auf diesem Wege noch
einmal herzlich gratulieren und alles Gute wünschen.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrittsverhandlungen mit Island aufnehmen
- Drucksache 17/271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte des Bundestages nach den Begleitgeset-
zen zum Vertrag von Lissabon wahren
hier: Einvernehmen mit dem Bundestag vor
der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Island herstellen
- Drucksache 17/260 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Herstellung des Einvernehmens über die Auf-
nahme von Verhandlungen über den Beitritt
der Republik Island zur Europäischen Union
- Drucksache 17/246 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Vorschlag der spanischen Regierung für die
Änderung der Verträge in Bezug auf die Über-
gangsmaßnahmen betreffend die Zusammen-
setzung des Europäischen Parlaments - Her-
stellung des Einvernehmens über die
Aufnahme von Verhandlungen über Vertrags-
änderungen gemäß Artikel 48 EUV
- Drucksache 17/235 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 22
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
- Drucksache 17/261 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 2 zu Petitionen
- Drucksache 17/262 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 3 zu Petitionen
- Drucksache 17/263 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 4 zu Petitionen
- Drucksache 17/264 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 5 zu Petitionen
- Drucksache 17/265 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 6 zu Petitionen
- Drucksache 17/266 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 7 zu Petitionen
- Drucksache 17/267 ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Einführung
einer Finanztranssaktionsteuer
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Lothar Binding ({11}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Innovative kleine und mittlere Unternehmen
stärken - Ein nachhaltiges steuerliches ForPräsident Dr. Norbert Lammert
schungs- und Entwicklungs-Förderkonzept
({12}) vorlegen
- Drucksache 17/247 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten
- Drucksache 17/241 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten
- Drucksache 17/244 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Ich darf außerdem auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam machen:
Der in der 9. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss ({15}) und dem Ausschuss für
Gesundheit ({16}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter
sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken
- Drucksache 17/121 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Der in der 9. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss ({18}), dem Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie ({19}) und dem
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({20}) zur Mitberatung überwiesen
werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Petra Hinz ({21}), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Brain Waste stoppen - Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher Qualifikationen umfassend optimieren
- Drucksache 17/123 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({22})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung des Parlamentarischen Kontroll-
gremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgeset-
zes
- Drucksache 17/208 -
- Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes
- Drucksache 17/209 -
Zunächst stimmen wir ab über den gemeinsamen An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP,
der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/208 auf Einsetzung des Gremiums. Wer
stimmt diesem Antrag zu? - Wer möchte gegen diesen
Antrag stimmen? - Wer möchte sich der Stimme enthal-
ten? - Damit ist das Parlamentarische Kontrollgremium
einvernehmlich eingesetzt und die Mitgliederzahl des
Gremiums auf elf festgelegt.
Bevor wir nun zur Wahl der Mitglieder des Parlamen-
tarischen Kontrollgremiums kommen, darf ich Sie für ei-
nen Augenblick um Aufmerksamkeit für das Wahlver-
fahren bitten. Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die
parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tä-
tigkeit des Bundes ist gewählt, wer die Stimmen der
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich ver-
eint, das heißt, wer mindestens 312 Stimmen erhält. Die
Wahl erfolgt mit Stimmkarte und Wahlausweis. Sie be-
nötigen für diese Wahl Ihren blauen Wahlausweis, den
Sie, soweit noch nicht geschehen, bitte Ihrem Stimmkar-
tenfach in der Lobby entnehmen. Achten Sie bitte da-
Präsident Dr. Norbert Lammert
rauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Namen
trägt.
Die blauen Stimmkarten wurden bereits oder werden
noch im Saal verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte
haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den
Plenarassistenten zu erhalten.
Sie haben auf diesen Stimmkarten elf Stimmen. Auf
der blauen Stimmkarte können Sie elf Namensvor-
schläge ankreuzen. Ungültig sind die Stimmkarten, die
andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der
Stimme enthalten will, macht keine Eintragung.
Die Wahl findet offen statt. Sie können die Namens-
vorschläge also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben
Sie bitte den Schriftführerinnen und Schriftführern an
den Wahlurnen Ihren Wahlausweis. Der Nachweis der
Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des
Wahlausweises erbracht werden.
Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die
Plätze an den Wahlurnen alle besetzt? - Offenkundig
sind jetzt alle Urnen ordnungsgemäß besetzt. Dann er-
öffne ich den Wahlgang.
Darf ich fragen, ob ein Mitglied des Hauses anwesend
ist, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? -
Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich
die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir geben das Er-
gebnis der Wahl später bekannt.1)
Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, damit wir
in die weitere Tagesordnung eintreten können. - Darf ich
darum bitten, dass auch die informellen Verhandlungen
zwischen Parlament und Regierung auf der Regierungsbank jetzt wieder dem üblichen geordneten Verfahren
Platz machen?
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie die Zusatzpunkte 2 bis 5 auf:
6 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 10./11. Dezember
2009 in Brüssel und zur UN-Klimakonferenz
vom 7. bis 18. Dezember 2009 in Kopenhagen
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrittsverhandlungen mit Island aufnehmen
- Drucksache 17/271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({23})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
1) Ergebnis Seite 914 D
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte des Bundestages nach den Begleitgesetzen zum Vertrag von Lissabon wahren
hier: Einvernehmen mit dem Bundestag vor
der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit
Island herstellen
- Drucksache 17/260 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt
der Republik Island zur Europäischen Union
- Drucksache 17/246 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Vorschlag der spanischen Regierung für die
Änderung der Verträge in Bezug auf die Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments - Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme
von Verhandlungen über Vertragsänderungen
gemäß Artikel 48 EUV
- Drucksache 17/235 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich darf dazu Einvernehmen feststellen.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({24})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Am 1. Dezember 2009 hat
für die Europäische Union, aber auch für uns alle eine
neue Ära begonnen, denn der Vertrag von Lissabon ist
in Kraft getreten. Das ist für mich, für uns und, ich
glaube, für jeden überzeugten Europäer ein Grund zur
Freude. Lange genau hat es gedauert, dass wir an dieser
neuen Vertragsgrundlage gearbeitet haben.
Mit diesem Vertrag haben wir das am 25. März 2007
in der Berliner Erklärung gesteckte Ziel erreicht. Die Europäische Union steht jetzt auf einer erneuerten gemeinsamen Grundlage. Sie kann ihre ganze Kraft auf die großen politischen Herausforderungen richten. Sie kann
damit genau das leisten, was die Bürgerinnen und Bürger
von ihr erwarten: Statt sich unentwegt mit sich selbst zu
beschäftigen, kann sie nun die Aufgaben und Probleme
unserer Zeit anpacken.
Der neue ständige Präsident des Europäischen Rates,
Herman Van Rompuy, hat uns beim Europäischen Rat in
der vergangenen Woche seine Überlegungen zu seiner
Aufgabenwahrnehmung vorgestellt. Er wird und will für
größere Kontinuität im Europäischen Rat sorgen. Gerade das war die Intention, über die rotierenden Präsidentschaften hinaus einen Präsidenten für zweieinhalb
Jahre zu haben. Er wird auch darauf achten, dass sich
der Europäische Rat auf strategische Fragen konzentriert. Herman Van Rompuy hat für diese Neuausrichtung meine volle Unterstützung und die der ganzen Bundesregierung.
Auch die neue Hohe Vertreterin der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union hat eine große
Verantwortung. Catherine Ashton muss dafür sorgen,
dass die Europäische Union in der Welt einiger auftritt.
Dazu dient auch der neue Europäische Auswärtige
Dienst; er ist eine der wichtigsten Neuerungen des Vertrages. Für die Bundesregierung haben sowohl der Bundesaußenminister als auch ich Catherine Ashton für den
Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes persönlich die tatkräftige Unterstützung Deutschlands zugesichert. Das wird eine harte Aufgabe, sicherlich auch einmal spannungsgeladen zwischen der Kommission und
den schon für das Auswärtige zuständigen Beamten dort
und dem Recht der Mitgliedstaaten; aber wir sind gewillt, diesen Prozess konstruktiv zu begleiten.
Meine Damen und Herren, mit dem Vertrag von Lissabon sind wir auch, was die Bedeutung der nationalen
Parlamente in der Europapolitik und damit natürlich
auch die Bedeutung des Deutschen Bundestages angeht,
in einer neuen Ära angekommen. Nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes haben wir auch die innerstaatlichen Informations- und Beteiligungsrechte von
Bundestag und Bundesrat deutlich gestärkt. Es ist nun
noch sichtbarer, als das früher schon der Fall war: Der
Deutsche Bundestag trägt eine besondere Verantwortung
für die Zusammenarbeit in Europa. Er soll wachsam verfolgen, ob die Organe der Europäischen Union die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
wirklich achten. Notfalls hat er zu widersprechen. Ohne
Zweifel ist das eine Aufgabe, deren Bedeutung man gar
nicht hoch genug einschätzen kann. Die Bundesregierung sagt Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der
Wahrnehmung dieser Aufgabe jede Unterstützung zu.
({0})
Der Deutsche Bundestag wird aber noch mehr leisten
müssen: Über die Subsidiaritätsprüfung hinaus wird er
sich stärker als früher mit den laufenden europäischen
Gesetzesvorhaben auseinanderzusetzen haben und darüber debattieren müssen. Erst dann können die Bürgerinnen und Bürger Europa besser verstehen. Dann - davon bin ich überzeugt - kann es auch gelingen, Europa
transparenter zu machen; denn wenn der Bundestag Europas Politik zu seinem Thema macht, erhöht er auch die
Legitimität deutscher Europapolitik. Ich will das hier
ausdrücklich sagen.
({1})
Wenn der Bundestag klar Stellung bezieht, dann unterstützt er auch die deutsche Verhandlungsposition in
Brüssel. Über wichtige Gesetzesvorhaben in Brüssel
muss auch hier in diesem Hause intensiver als vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages debattiert werden.
Das gilt selbstverständlich auch für die Themen, die am
10. und 11. Dezember 2009 im Europäischen Rat verhandelt wurden, gerade auch für die Fragen hinsichtlich
der Erweiterung der Europäischen Union. Hier haben
wir als Bundesregierung stärkere Unterrichtungspflichten und Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestages gesetzlich verankert.
Der Europäische Rat hat angekündigt, dass die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island und mit
Mazedonien im nächsten Jahr auf der Tagesordnung stehen wird. Die Frage, welche Länder zur Europäischen
Union gehören sollen, betrifft alle Bürgerinnen und Bürger. Das muss sich auch in unseren Debatten widerspiegeln, und ich denke, das wird es auch tun.
Meine Damen und Herren, über ein Jahr nach dem
Zusammenbruch der amerikanischen Bank Lehman
Brothers hat der Europäische Rat in der vergangenen
Woche auch eine wirtschaftspolitische Standortbestimmung vorgenommen und Lehren aus der Finanz- und
Wirtschaftskrise gezogen. Heute können wir feststellen:
Durch das entschlossene Eingreifen der Politik konnte
Schaden von unserem Land und auch von den anderen
Ländern der Europäischen Union abgewendet werden.
Der Zusammenbruch unserer Wirtschaft wurde verhindert - nicht mehr und nicht weniger.
Es kann aber gar nicht oft genug gesagt werden: Die
Krise ist keineswegs überwunden. Die einsetzende Erholung ist noch fragil, und deshalb werden wir die bis Ende
2010 angelegten Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung ohne Abstriche umsetzen. Deren Wirkung wird
dann auch aus einer klaren Ausstiegsstrategie gespeist,
über die wir auch schon gesprochen haben.
Dabei wird sich Deutschland eng mit seinen Partnern
abstimmen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Ganz besonders mit Blick auch auf den amerikanischen Markt sage ich, dass wir hier noch harte Verhandlungen vor uns haben, um zu einer gemeinsamen ExitStrategie im Rahmen der G 20 zu kommen. Für uns ist
die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel auf der einen Seite genauso maßgeblich wie der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt auf der anderen.
Wir sehen in Europa derzeit ganz deutlich, dass die
Logik des Pakts bestätigt wird: Stabilität ist die Grundlage für Wachstum und Wohlstand. Der Pakt bildet den
entscheidenden Rahmen, um das Vertrauen von Privathaushalten, Investoren und Anlegern in die öffentlichen
Finanzen und die Stabilität des Euro zu sichern. Ich sage
auch mit Blick auf einzelne Länder mit sehr hohen Defiziten: Jeder einzelne Mitgliedstaat ist verantwortlich für
gesunde öffentliche Finanzen.
({2})
Das ist die Voraussetzung für langfristiges Wachstum für
alle in Europa.
An dieser Stelle will ich noch einmal darauf hinweisen, dass Deutschland in diesem Jahr mit einem gesamtstaatlichen Defizit von um die 3 Prozent - wir können es
noch nicht genau sagen - in Europa eine Spitzenposition
einnimmt. Das sollte in diesem Hause bei mancher Diskussion über die finanzielle Lage einmal berücksichtigt
werden. Wir haben ganz andere Sorgenkinder in Europa.
({3})
Wir werden unsere Aufgaben zu erledigen haben. Für
Deutschland heißt das, dass wir - ich zitiere aus den
Empfehlungen des Rates der Wirtschafts- und Finanzminister vom 2. Dezember 2009 - 2011 mit der Konsolidierung zu beginnen und das übermäßige Defizit bis
Ende 2013 zu beenden haben. Das bedeutet für uns: Unser Haushaltsdefizit muss dann wieder unter 3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts liegen, wie es im Stabilitätsund Wachstumspakt für normale Zeiten vorgeschrieben
ist.
Meine Damen und Herren, wir werden die europäische
Wachstumsstrategie, die bislang Lissabonner Strategie genannt wurde, nunmehr aber einen anderen Namen trägt,
weil wir einen Lissabonner Vertrag haben - die Strategie
heißt jetzt „EU 2020“ -, neu ausrichten. Darüber haben
wir eine erste lebhafte Diskussion geführt.
Wir haben im Augenblick im Rahmen der bisherigen
Lissabon-Strategie 20 Ziele, von denen wir annehmen,
dass sie kaum einer kennt und aufsagen kann. Deshalb
wollen wir uns auf wenige klare Ziele konzentrieren:
Erstens. Wir müssen Bedingungen schaffen, die unternehmerisches Handeln in Europa stärker fördern.
({4})
Zweitens. Wir müssen unsere Forschungs- und Innovationskapazitäten stärken. Drittens. Wir müssen den
Übergang in eine kohlenstoffarme Wirtschaft organisieren, um die Klimakatastrophe zu vermeiden, aber auch,
um moderne Exportchancen in der Europäischen Union
zu stärken und zu entwickeln.
Frühestens beim Europäischen Rat im Frühjahr 2010
werden wir dazu weitere Entscheidungen treffen. Es
wird im Februar auch noch einen informellen Sonderrat
dazu geben. Ich weiß, dass das ein ambitionierter Zeitplan ist. Aber wegen der Wirtschaftskrise ist es unabdingbar, sich rasch auf eine wirksame Koordinierung der
Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union zu verständigen.
Wir haben uns beim Europäischen Rat auch erneut
mit den Ursachen der Finanzmarktkrise befasst, um die
richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Wir sind uns
einig: Eine solche Krise darf sich nicht wiederholen.
Deshalb wurde die neue Architektur der europäischen
Finanzaufsicht beschlossen und vom Rat noch einmal
begrüßt. So wird die Kohärenz der nationalen Aufsicht
verstärkt. Die neuen EU-Behörden können auch grenzüberschreitende Finanzgruppen besser beaufsichtigen.
Das Europäische Parlament wird sich als Mitgesetzgeber
jetzt damit befassen. Wir hoffen, dass die neue Finanzaufsicht schon im Laufe des kommenden Jahres ihre Arbeit aufnehmen kann.
Auch wenn es dem einen oder anderen inzwischen
kaum noch passt, so haben wir beim Europäischen Rat
dennoch zum wiederholten Male unterstrichen, dass eine
Verantwortung für die Gesellschaft auch von den Banken getragen werden muss.
({5})
Das Verhalten an vielen Finanzplätzen lässt nicht darauf
schließen, dass wir noch vor etwas mehr als einem Jahr
vor einem wirklichen Abgrund standen. Auch wenn wir
inzwischen die Talsohle der Krise erreicht haben, können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir
entlassen die Banken nicht aus ihrer Verantwortung.
Nach der Krise darf es nicht mehr so sein wie vor der
Krise. Das ist nicht nur eine finanzpolitische Frage; das
ist auch eine moralische Frage. Denn verantwortungsvolles Wirtschaften ist eine der unverzichtbaren Grundlagen unserer sozialen Marktwirtschaft.
({6})
Deshalb hat der Europäische Rat noch einmal das
wiederholt, was wir schon auf dem G-20-Gipfel festgelegt haben, nämlich den Internationalen Währungsfonds
zu bitten, bei der Erarbeitung von Konzepten zur Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Krisenbewältigung auch die globale Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen zu prüfen. Wir hoffen, dass uns auf
dem G-20-Gipfel dafür Vorschläge gemacht werden. So
etwas geht nur global. Es geht auf gar keinen Fall national oder innerhalb der EU. Aber es kann auch nicht so
sein, dass alles einfach so weitergeht wie vorher, und wir
müssen hier Lösungen finden.
({7})
Beim Europäischen Rat haben wir auch die Schwerpunkte der Justiz- und Innenpolitik für die nächsten fünf
Jahre in Form des Stockholmer Programms festgelegt.
Hier geht es vor allen Dingen darum, eine vernünftige
Balance von Bürgerrechten, Sicherheit und Mobilität zu
finden. Darauf hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen stets Wert gelegt, und ich glaube, wir können sagen: Wir haben dieses Ziel erreicht. Mit dieser
Ausrichtung an den Rechten, den Bedürfnissen und den
Interessen der Menschen kommen wir unserem Ziel eines bürgernahen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts ein großes Stück näher.
Natürlich ist die Balance zwischen Sicherheit auf der
einen Seite und Standards der Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite keine Frage eines Entweder-oders, sondern es muss uns gelingen, ein
Sowohl-als-auch zu finden. Dabei wird Deutschland immer wieder um diese Balance ringen. Europa soll sicherer werden. Die Polizeibehörden werden in Zukunft enger zusammenarbeiten. Damit stärken wir auch
europaweit die Bürgerrechte. Ich denke, das ist der richtige Weg.
Nun kann ich diese Regierungserklärung nicht halten,
ohne auf den Hauptpunkt des Europäischen Rates zu
kommen, der heute und morgen eine entscheidende
Rolle spielen wird. Das sind die Vorbereitung und die
Durchführung der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen.
Ich werde heute Mittag dorthin fahren. Die Nachrichten,
die uns erreichen, sind nicht gut. Es ist im Augenblick
kein vernünftiger Verhandlungsprozess in Sicht. Aber
ich hoffe natürlich, dass die Anwesenheit von über
100 Staats- und Regierungschefs der ganzen Veranstaltung den Impuls gibt, der notwendig ist. Ich glaube,
diese Kopenhagener Konferenz ist der herausragende
Prüfstein dafür, ob es uns gelingen wird, einen neuen
Pfad der globalen Entwicklung, einen überzeugenden
Kurs der Nachhaltigkeit einzuschlagen. Viele Menschen
auf der Welt werden auf uns schauen, ob dies gelingt und
ob wir eine Lösung finden.
({8})
Wenn wir jetzt nicht - das ist unsere Überzeugung die notwendigen Weichenstellungen vornehmen, riskieren wir dramatische Schäden. Das wird dann besonders
die ärmsten Staaten treffen. Aber keiner wird davon verschont sein. Es wird immer wieder so getan, als kostete
der Klimaschutz viel Geld, aber selten darüber gesprochen, was Nichthandeln kostet. Alle wirtschaftlichen Berichte sagen uns klar voraus: Wenn es uns nicht gelingt,
die Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, dann werden die Kosten für die eintretenden Schäden um ein
Vielfaches höher sein als das, was wir mit einer Änderung unserer Lebensweise jetzt erreichen können. Das ist
die Grundlage, auf der wir arbeiten.
({9})
Deshalb brauchen wir erstens eine für alle Staaten
geltende Verpflichtung zur Einhaltung des 2-GradZiels, das heißt die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf maximal 2 Grad Celsius gegenüber dem
vorindustriellen Niveau. Gelingt es nicht, dies für alle als
geltende Verpflichtung zu erreichen, dann, muss ich sagen, ist die Klimakonferenz in Kopenhagen gescheitert.
Zu dieser Stunde weiß ich nicht, ob das gelingt. Ich darf
Ihnen aber sagen: Ich werde zusammen mit unserem
Umweltminister alles versuchen, dass es gelingt. Ich
denke, wir haben die Unterstützung dieses Hohen Hauses dafür.
({10})
Die Verpflichtung auf das 2-Grad-Ziel bedeutet konkret,
dass die Emissionen von Treibhausgasen bis 2050 im
Vergleich zu 1990 mindestens halbiert werden müssen.
Für die Industriestaaten heißt das, dass sie ihren Ausstoß
bis 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren müssen.
Das ist eine gewaltige Herausforderung.
Zweitens. Wir müssen den Nachweis führen, dass wir
schon heute einen Pfad einschlagen, auf dem wir dieses
Langfristziel erreichen können; denn den Fortschritt im
Klimaschutz können wir nicht erst 2050 bemessen. Wir
brauchen vielmehr mittelfristige Ziele, das heißt vor allen Dingen verbindliche und quantitative Ziele für 2020,
gegebenenfalls auch für die Zeit danach. Gemessen an
den Empfehlungen des Klimarates, sind die bisherigen
Zusagen der Industriestaaten noch nicht ausreichend.
Der Klimarat sagt uns, dass wir bis 2020 schon an einem
Punkt angekommen sein müssen, wo wir zwischen mindestens 25 Prozent und 40 Prozent Reduktion haben
müssen. Aber wir sind bei den Zusagen noch nicht einmal bei den 25 Prozent angekommen. Es gibt allerdings
- das will ich hier nicht verhehlen - bei vielen Industriestaaten im Laufe der letzten zwölf Monate deutliche Bewegungen. Aber diese reichen noch nicht aus. Die Europäische Union steht nach wie vor zu ihrem Angebot,
die Emissionen bis 2020 um 20 Prozent zu verringern.
Falls sich die anderen Staaten vergleichbare Ziele setzen,
sagen wir: Wir können eine Minderung um 30 Prozent
erreichen. Es fehlt im Augenblick nur an Angeboten der
anderen Staaten. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ein Angebot der Vereinigten Staaten von Amerika zum Beispiel
von minus 4 Prozent, bezogen auf 1990, ist an dieser
Stelle nicht ambitioniert genug.
({11})
Drittens. Die Einigung von Kopenhagen muss auch
die Klimaschutzmaßnahmen der großen Schwellenländer umfassen. Natürlich haben wir Industrieländer eine
besondere Verantwortung. Wir müssen vorangehen. Wir
tun dies auch. Deutschland hat immer wieder betont: Wir
können 40 Prozent Reduktion bis 2020 schaffen. Wir
wollen auch unserer besonderen Verantwortung als
Hauptverursacher des Klimawandels in der gesamten Industriezeit gerecht werden. Aber richtig ist auch: Seit
Verabschiedung der Klimarahmenkonvention im Jahre
1992 in Rio hat sich die Welt völlig verändert. Die Gewichte in der Weltwirtschaft haben sich erheblich verschoben. Ein globales Regime für die Begrenzung der
Treibhausgase kann Länder wie China und Indien nicht
ausklammern. China ist jetzt der größte Emittent weltweit und hat die Vereinigten Staaten von Amerika in diesem Jahr überholt. Selbst wenn wir in den Industrieländern die Treibhausgasemissionen um 100 Prozent
reduzieren würden, die Schwellenländer aber einfach so
weitermachen würden, wie sie es heute machen, würden
wir das 2-Grad-Ziel nicht erreichen können. Dem müssen wir Rechnung tragen.
Deshalb führt kein Weg daran vorbei, dass in einem
ersten Schritt der Zuwachs der jährlichen Emissionen
der Schwellenländer begrenzt werden muss. Das wird in
Verpflichtungen der Schwellenländer zum Teil in Form
von Erhöhung der Energieeffizienz auch deutlich. China
hat zum ersten Mal eine quantitative Verpflichtung auf
den Tisch gelegt, die Energieeffizienz um 40 bis
45 Prozent zu erhöhen. Allerdings reicht das überhaupt
nicht aus, weil es letztlich bei einem Wirtschaftswachstum von etwa 9 Prozent jährlich eine Reduktion um
1,5 Prozent ist. Daran sieht man, wie diese Lücke weiter
aufgeht. Daran müssen wir noch weiter arbeiten. Spätestens 2020 brauchen wir auch von den Schwellenländern
Reduktionsziele. Ansonsten können wir das Gesamtziel
nicht erreichen.
Viertens. Wir wissen, dass wir verlässliche Finanzierungsmechanismen zur Bekämpfung des Klimawandels, aber auch zum Technologietransfer brauchen. Deshalb brauchen wir einen schnellen Beginn. Die
Europäische Union wird ihren Anteil an 10 Milliarden
Dollar oder 7 Milliarden Euro leisten. Das haben wir auf
dem EU-Rat beschlossen. Auch Deutschland leistet seinen Anteil. Aber wir brauchen vor allen Dingen einen
langfristigen Finanzierungsmechanismus; denn ansonsten werden wir in Kopenhagen keinen Erfolg haben. Die
Europäische Union hat sich zu diesen langfristigen finanziellen Zusagen bekannt. Das will ich ausdrücklich
sagen. Aber den Entwicklungsländern reicht es natürlich
nicht, wenn andere Staaten, zum Beispiel die Vereinigten
Staaten von Amerika oder auch Japan, an dieser Stelle
keinen Beitrag leisten. So wird es jetzt in den letzten
Stunden der Kopenhagener Konferenz um das Thema
Reduktion auf der einen Seite gehen, aber auf der anderen Seite vor allen Dingen darum, einen langfristigen Finanzierungsmechanismus zu finden, mit nur dessen
Hilfe wir aus meiner Sicht erreichen können, dass sich
alle zum 2-Grad-Reduktionsziel bekennen. Um diese
Dinge muss es gehen.
({12})
- Herr Trittin, ich nehme Sie gerne mit. Wenn Sie andere
überzeugen, ist es sehr schön. Ich werde mir allergrößte
Mühe geben und auch herzliche Grüße von allen Fraktionen dieses Hauses ausrichten. Mal sehen, was es
nützt.
({13})
Fünftens und letztens. Wir müssen uns in Kopenhagen über das Mandat und den Zeitplan für die Überführung der Kopenhagen-Ergebnisse in ein rechtlich verbindliches Abkommen verständigen. Hierbei wird vor
allen Dingen notwendig sein - das ist ein großer Diskussionspunkt mit den Schwellenländern -, dass es einen
einheitlichen internationalen Verifizierungs-, also Überprüfungsmechanismus gibt; denn es kann nicht sein,
dass jeder eine Verpflichtung auf den Tisch legt, die
nicht nach einheitlichen Maßstäben überprüft wird. Ich
glaube, wir könnten es schaffen, bis Mitte des Jahres
2010 ein solches Abkommen zu erreichen. Auf jeden
Fall muss es schnell gehen.
Ich bin der festen Überzeugung: Klimaschutz ist auch
bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise einer der Faktoren, die dazu beitragen, dass die Welt sagen
kann: Wir haben die Lehren aus dieser weltweiten internationalen Krise gezogen. So wie wir bei G 20 gezeigt
haben, dass es uns möglich ist, international zu kooperieren, bietet die Klimakonferenz jetzt die Chance, nicht
nur mit 20 Staaten, sondern mit allen UN-Mitgliedstaaten zu zeigen: Jawohl, wir haben die Lektion verstanden.
Es gibt eine Vielzahl von Problemen, die wir nur international gemeinsam lösen können. Deutschland ist bereit,
hierzu seinen Beitrag zu leisten.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland hat eine große Tradition als treibende
Kraft auf Klimaschutzkonferenzen. Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass Sie diese Rolle heute und morgen
in Kopenhagen wieder übernehmen, und wir wünschen
Ihnen dabei viel Erfolg. Ich erwähne das ausdrücklich,
weil diese Bundesregierung zum ersten Mal zu einer Klimaschutzkonferenz fährt, ohne einen gemeinsamen
beschlossenen Auftrag des Deutschen Bundestages für
ihre Position zu haben. Der Grund dafür ist der Affront,
den Bundesminister Niebel in der letzten Sitzungswoche
hier vorbereitet hatte. Er hat in diesem Auftrag festschreiben lassen, dass Deutschland seine finanziellen
Zusagen zum Klimaschutz abzieht von schon gemachten
Zusagen zur weltweiten Armuts-, Hunger- und Seuchenbekämpfung.
({0})
Diesen brutalen Wortbruch haben wir im Plenum abgelehnt, und deswegen gibt es keinen gemeinsamen Auftrag.
({1})
Wir freuen uns über den breiten Widerstand in
Deutschland gegen diesen Versuch, zwei Menschheitsherausforderungen gegeneinander auszuspielen. Wir haben erwartet, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie gemeinsam
mit Bundesminister Röttgen Herrn Niebel in den Arm
gefallen wären. Leider haben Sie nur zugeschaut.
In Kopenhagen warten jetzt zwei Herausforderungen:
Erstens: die Zurückhaltung der beiden größten Emittenten, USA und China. Die USA sind mit nur gut
4 Prozent der Weltbevölkerung für über 20 Prozent der
weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. In der Tat,
im Kongress wird schon über den Vorschlag des Präsidenten gestritten, obwohl dieser Vorschlag nur ein Zehntel der deutschen Klimaschutzverpflichtungen erfüllt.
Wer Führungsmacht in der Welt bleiben möchte, muss
auch führend darin sein, seiner Verantwortung gerecht
zu werden. Wir erkennen an, dass in den USA beim Klimaschutz manches in Bewegung gekommen ist. Der
Größe der Herausforderung wird dieses Land nicht gerecht.
Anders, aber nicht weniger wichtig ist der Fall China.
Er ist exemplarisch für die großen Schwellenländer. Das
Land China hat längst Maßnahmen zur Erhöhung der
Energieeffizienz und zum Klimaschutz ergriffen. Aufgrund des hohen Wachstums explodieren die Treibhausgasemissionen trotzdem. Das chinesische Angebot von
40 Prozent weniger Treibhausgasausstoß pro Einheit
Bruttoinlandsprodukt reicht nicht; sonst hätte China bis
2020 Länder wie Deutschland auch beim Pro-Kopf-Ausstoß weit überholt. Das würde zur Erreichung des
2-Grad-Ziels nicht ausreichen. Wir erwarten daher eine
schnellere Reduzierung des Anstiegs der Emissionen.
Außerdem braucht es einen Zeitpunkt in den nächsten
zehn Jahren, ab dem die Emissionen in großen Schwellenländern absolut sinken.
China muss diesen Umstieg aber wesentlich schneller
bewältigen, als es die alten Industriestaaten getan haben;
deswegen hat China einen Anspruch auf technologische
und finanzielle Unterstützung. Was für China gilt, gilt
für die anderen Schwellen- und Entwicklungsländer, vor
allem für die ärmsten Länder der Welt, umso mehr.
Die zweite Herausforderung in Kopenhagen besteht
darin, die Schwellen- und Entwicklungsländer zu
überzeugen, uns beim Kampf gegen den Klimawandel,
den sie nicht verursacht haben, zu unterstützen. Dafür
sind Glaubwürdigkeit und die Bereitschaft, sich finanziell ausreichend zu engagieren, notwendig.
({2})
Diese Glaubwürdigkeit und diese Bereitschaft waren traditionell die deutschen Stärken auf Klimaschutzkonferenzen. Diese Stärken sind noch da; aber sie sind durch
Fehler in den letzten Wochen beschädigt worden, allen
voran durch Bundesminister Niebel, der sich selber zum
Klimaschutzminister erklärt hat, aber gegenteilig handelt.
({3})
Ich nenne ein weiteres Beispiel dafür. Deutschland
hat angeboten, 420 Millionen Euro jährlich als Anschubfinanzierung für diesen Umstieg der Schwellen- und
Entwicklungsländer zur Verfügung zu stellen. Das sind
420 Millionen Euro jährlich für eine Aufgabe, die Bundesminister Röttgen an dieser Stelle am 3. Dezember
2009 als Überlebensfrage bezeichnet hat, 420 Millionen
Euro für eine Aufgabe, bei der es nach Ihren Worten,
Frau Bundeskanzlerin, um die Grundlagen unseres Lebens geht. Diese Aufgabe ist also 420 Millionen Euro
wert. Allein die Subvention für einige Lobbyisten von
Hotelketten ist Ihnen jährlich das Drei- bis Fünffache
wert.
({4})
Da werden Sie heute und morgen in Kopenhagen nachlegen müssen.
Stellen Sie bitte endlich klar, dass Deutschland sowohl zu seiner Zusage steht, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Armutsbekämpfung zu geben, als
auch zu seiner Zusage, zusätzlich - ich wiederhole: zusätzlich - die Gelder für den Klimaschutz zur Verfügung
zu stellen.
({5})
Diese dauernden „Niebel-Kerzen“ sind für Deutschland
und für Kopenhagen eine Belastung.
Diese Zusagen stammen nicht nur von Deutschland,
sondern von Ihnen persönlich, Frau Bundeskanzlerin:
1997 im Rahmen der Konferenz von Kioto und 2007 im
Rahmen der Konferenz von Bali in Ihren jeweiligen
Funktionen. Zu diesen Zusagen gehört natürlich auch
der Verzicht auf den Trick, die Ausgaben, die deutsche
Firmen zur Erfüllung ihrer Klimaschutzaufgaben für
Projekte im Ausland ausgeben, ein zweites Mal als Ausgaben für den internationalen Klimaschutz aufrechnen
zu lassen. Diese Tricks haben die Entwicklungs- und
Schwellenländer längst durchschaut und haben sie zu
Recht satt.
({6})
Ich darf aus der Frankfurter Rundschau vom vergangenen Montag zitieren:
Frau Merkel hat zwei Gesichter. Sie ist zu Hause
eine große Ökologin, aber wenn es ums Geld für
den Klimaschutz geht, steht sie auf der Bremse.
Dieses Zitat stammt von Lumumba Di-Aping, dem Sprecher der G 77 genannten Gruppe der Entwicklungsländer. So erschreckend wird Deutschland mittlerweile
wahrgenommen. Kopenhagen kann aber nur zum Erfolg
werden, wenn die Entwicklungs- und Schwellenländer
uns vertrauen. Deswegen muss Schwarz-Gelb im Klimaschutz wieder zum bewährten deutschen Konsens zurückfinden.
({7})
Ich habe Ihnen gut zugehört, Frau Bundeskanzlerin,
als Sie über verlässliche Finanzierungsinstrumente gesprochen haben. Ich habe diese Aussage als eine Absage
an die Absage von Herrn Niebel an diese Finanzierungsinstrumente verstanden. Diese erneute Zurechtweisung
war dringend notwendig. Mit diesen unsinnigen und gefährlichen Alleingängen der letzten Wochen und Monate, mit dem öffentlich verkündeten Aus für die Zusammenarbeit im Klimaschutz mit China - jetzt soll sie 2010
kleinlaut auf Sparflamme fortgesetzt werden -, mit dem
Verrechnen von Klimaschutz und Armutsbekämpfung
und jetzt mit der Absage durch den dafür zuständigen
Minister an Finanzierungsinstrumente für Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz haben Sie der Konferenz in Kopenhagen und Deutschland schwer geschadet.
({8})
Ihnen ist es zu verdanken, dass Deutschland auf einer
Klimaschutzkonferenz erstmals mit dem peinlichen Negativpreis „Fossil of the day“ von etwa 450 Klimaschutzorganisationen ausgezeichnet wurde. Das war im
Vorreiterland Deutschland beim Klimaschutz bisher undenkbar.
({9})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben es in der Hand, morgen und übermorgen die Fehler von Schwarz-Gelb und
die Fehler von Herrn Niebel wieder auszugleichen, wenn
Sie Ihre Zögerlichkeit in dieser Frage aufgeben, die Sie
überraschenderweise in den letzten Wochen gezeigt haben, nicht in der Zeit zuvor. Wenn Sie zu diesem bewährten deutschen Konsens zurückkehren, kann Deutschland
helfen, Kopenhagen doch noch zu einem Erfolg für den
Klimaschutz zu machen. Wir hoffen darauf. Wir wünschen Ihnen dabei besten Erfolg.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser erste Europäische Rat nach dem Inkrafttreten des
Vertrages von Lissabon war wichtig. Ich freue mich darüber, dass das Ziel, für das die FDP seit langem eingetreten ist, nämlich die EU demokratischer und handlungsfähiger zu machen, mit dem Vertrag von Lissabon
ein großes Stück vorangekommen ist.
({0})
Nun gilt es allerdings auch, dass die neuen Spielregeln mit Leben erfüllt werden. Wir haben jetzt beispielsweise neu eine Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik. Das Ziel muss sein, dass Europa nach außen
mit einer Stimme spricht. Es hat sich gerade in den letzten Wochen, gerade in der Vorbereitung auf die Konferenz von Kopenhagen, sehr deutlich gezeigt, wie wichtig
das ist. Deswegen ist es wichtig, dass wir beim Aufbau
eines Europäischen Auswärtigen Dienstes vorankommen und gemeinsam alles dafür tun, dass die Europäer
weltweit gemeinsam auftreten.
({1})
Wir als Deutscher Bundestag haben jetzt auch mehr
Informations- und Beteiligungsrechte. Das ist wichtig.
Wir haben damit in diesem Hause auch eine größere Verantwortung für Europa. Das bedeutet, dass es notwendig
ist, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag
frühzeitig informiert. Ich bin dankbar, dass die Bundeskanzlerin hier heute Morgen diese Zusage gemacht hat.
({2})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben deutlich gemacht,
dass Sie erwarten, dass der Deutsche Bundestag seine
Verantwortung wahrnimmt. Ich kann Ihnen sagen: Wir
werden unsere Verantwortung mit Sicherheit wahrnehmen. Wir werden sehr genau auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten. Das ist wichtig, auch für die
Akzeptanz der Europapolitik bei den Bürgerinnen und
Bürgern.
({3})
Wir beginnen damit bei den Schwerpunktthemen, die
auf diesem Europäischen Rat beschlossen worden sind.
Zunächst einmal ist da die europäische Wachstumsstrategie zu nennen. Die Europäische Kommission soll
vor dem nächsten Europäischen Rat im Frühjahr ein Arbeitsdokument in Nachfolge der Lissabon-Strategie für
Wachstum und Beschäftigung vorlegen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben hier heute Morgen schon gesagt,
dass dieses Dokument anders heißen soll. Das ist gut so.
Wir sind aber der Meinung, dass es künftig auch einen
neuen Inhalt braucht. Mehr Wachstum und Beschäftigung bekommen wir nicht durch mehr staatliches Handeln, sondern dadurch, dass wir für bessere Rahmenbedingungen für Unternehmen und damit für mehr
Arbeitsplätze in Deutschland und Europa sorgen.
({4})
Deshalb darf es nicht um eine staatsgelenkte Industriepolitik, um Subventionitis und Umverteilung gehen,
({5})
sondern es muss darum gehen, ein besseres Umfeld zu
schaffen durch bessere steuerliche Voraussetzungen,
durch verbesserte Bildungs- und Forschungspolitik,
durch die Ermöglichung von unverfälschtem Wettbewerb im Binnenmarkt und auch dadurch - ich sage das
hier ganz ausdrücklich -, dass die Bemühungen zum Bürokratieabbau auf europäischer Ebene verstärkt werden.
All das sind Punkte, die umgesetzt werden müssen.
({6})
Frau Bundeskanzlerin, die EU-Kommission hat ja
auch den Auftrag erhalten, einen Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms zur EU-Justizund -Innenpolitik vorzulegen. Auch dazu haben Sie gesprochen. Ich sage Ihnen: Wir werden unsere Kontrollfunktion sehr genau wahrnehmen. Die FDP ist bei diesem Punkt der Meinung, dass es bei der Zusammenarbeit
der Sicherheitsbehörden zum Beispiel im Rahmen von
Europol vor allem darauf ankommt, dass ein hohes Datenschutzniveau sichergestellt und eine klare Trennung
von Polizei und Nachrichtendiensten vorgenommen
wird. Das sind Dinge, auf die wir achten müssen, wenn
in Europa die entsprechende Strategie beschlossen wird.
({7})
Das gilt auch für die Klimakonferenz in Kopenhagen.
Diese Klimakonferenz ist ein wichtiger Meilenstein auf
dem Weg zu einem verbindlichen Klimaabkommen. In
der Tat müssen uns die Nachrichten, die uns zurzeit aus
Kopenhagen erreichen, sehr traurig stimmen. Ich habe
gerade eben eine Eilmeldung gelesen, nach der die dänische Regierung angeblich das Ziel eines umfassenden
Abkommens aufgegeben hat. Das halte ich für bedenklich. Wir hätten uns gewünscht, dass es bereits jetzt in
Kopenhagen zu einem verbindlichen Klimaabkommen
kommt. Wenn das nicht gelingt, müssen wenigstens verbindliche Kernpunkte in Kopenhagen vereinbart werden.
Es muss alles dafür getan werden, dass die Chance, die
dieses Mal tatsächlich da ist, nachdem die USA einen
Strategiewechsel in der Klimapolitik vollzogen haben,
genutzt wird. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass
sich vonseiten der Bundesregierung in Kopenhagen
nicht nur der Umweltminister, sondern, Herr Kelber,
auch der Entwicklungshilfeminister - dieser hat ja schon
an der Konferenz teilgenommen ({8})
und ab heute auch die Bundeskanzlerin engagieren, die
sich dann noch einmal dafür einsetzen wird, das umzusetzen.
({9})
Ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Deutschland kann
glaubwürdig verhandeln. Unsere Koalition hat der Bundesregierung den Rücken gestärkt, indem wir in der letzten Sitzungswoche im Deutschen Bundestag einen Beschluss gefasst haben, der an Klarheit nichts zu
wünschen übrig lässt.
({10})
Die Selbstverpflichtung Deutschlands, Herr Kelber, bis
2020 die CO2-Emissionen auf nationaler Ebene um
40 Prozent zu reduzieren, auch wenn andere nicht so
weit gehen, stellt ein CO2-Minderungsziel dar, das so
klar noch niemals zuvor vom Deutschen Bundestag beschlossen worden ist, auch nicht während Ihrer Regierungszeit.
({11})
Darüber hinaus haben wir beschlossen, dass die Industrieländer eine Reduktion der CO2-Emissionen von
mindestens 80 Prozent bis 2050 anbieten sollen. Das ist
ein Entgegenkommen und ein Signal an die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Ebenso ist es ein wichtiges Signal, dass der Europäische Rat beschlossen hat, dass die EU-Mitgliedstaaten
die Bemühungen der Entwicklungsländer beim Klimaschutz mit 2,4 Milliarden Euro per annum unterstützen.
Das alles sind deutliche Signale, dass wir etwas erreichen wollen. Das wird auch anerkannt und ernst genommen.
({12})
Jetzt komme ich zu dem Vorwurf, den Sie hier gerade
vorgetragen haben, Dirk Niebel würde diese Strategie in
irgendeiner Weise konterkarieren. Ich will Ihnen nur einmal sagen, lieber Herr Kelber: Der Versuch in Ihrer
Rede, die im Wesentlichen darin bestanden hat, sich am
Entwicklungshilfeminister abzuarbeiten, ist jedenfalls
keine glaubwürdige Strategie der SPD für eine Klimaschutzpolitik.
({13})
Entgegen dem, was Sie hier gesagt haben, werden die
Gelder eben nicht mit der bisherigen Entwicklungshilfe
verrechnet. Mit den Zusagen, die Deutschland im Europäischen Rat gemacht hat, stehen zusätzliche finanzielle
Mittel für den Klimaschutz zur Verfügung. Deswegen
sage ich Ihnen ganz klar: Das, was Sie hier vorgetragen
haben, sind Ausreden; denn Sie sind - anders als wir in
der Vergangenheit - aus der Opposition heraus nicht bereit, Verantwortung mit zu übernehmen, und das gilt
auch für die internationale Klimapolitik.
({14})
Wenn Sie hier über dieses Thema reden, lieber Herr
Kelber, dann sagen Sie der interessierten Öffentlichkeit
bitte auch, dass Klimaschutzmittel immer, wenn Sie an
der Regierung beteiligt waren, selbstverständlich auf die
ODA-Quote angerechnet worden sind. Das war bei Ihnen so, und das werden wir nicht ändern. Diese Mittel
werden dazu beitragen, dass wir dem 0,7-Prozent-Ziel,
das Sie eingefordert haben, näher kommen. Zur Wahrheit gehört auch, Herr Kelber, dass dieses 0,7-ProzentZiel seit den 70er-Jahren nicht erreicht wurde, auch nicht
in den elf Jahren unter einer sozialdemokratischen Entwicklungshilfeministerin.
({15})
Das Ziel, in Kopenhagen weitere Länder ins Boot des
internationalen Klimaschutzes zu holen, ist nicht gegen,
sondern nur mit wirtschaftlicher Vernunft zu erreichen.
Deswegen ist es wichtig, dass Klimaschutz auf internationaler Ebene als Hightechthema intoniert wird, nicht
als Verzichtserklärung, sondern als zukunftsorientiertes
Wachstumsthema für die internationale Wirtschaft.
({16})
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
sehen die Koalition im Deutschen Bundestag und die
Bundesregierung die Klimaschutzpolitik als ein gesamtpolitisches Ziel an, als ein Ziel, das nicht allein vom
Umweltministerium verfolgt, sondern von der ganzen
Bundesregierung unterstützt wird. Dieser Ansatz hat
auch die Unterstützung der Koalition im Deutschen Bundestag. Wenn Sie das nicht mittragen wollen, dann verweigern Sie uns die Unterstützung
({17})
für eine internationale Klimapolitik, die darauf angelegt
ist, international voranzukommen und endlich ein Nachfolgeabkommen zu erreichen. Das ist unser Ziel, und wir
werden, auch wenn Sie uns nicht unterstützen, alles dafür tun, dieses Ziel zu erreichen.
({18})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kelber.
({0})
Frau Kollegin Homburger, Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass Kritik an Ihnen oder einem Minister Ihrer Partei nicht eine Kritik an der Sache ist, sondern
auf die Fehler der jeweiligen Person gemünzt ist.
Sie haben zwei Vorwürfe in meine Richtung gemacht.
Erstens haben Sie gesagt, in Zeiten sozialdemokratischer
Regierungsbeteiligung seien die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit nicht so gestiegen, wie wir
das jetzt von Ihnen einfordern. Ich möchte Ihnen dazu
kurz zwei nackte Zahlen präsentieren. Die eine betrifft
den realen Haushalt des entsprechenden Ministeriums in
diesem Jahr, der unter einer sozialdemokratischen Ministerin um 700 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr
gestiegen ist. Im Haushaltsentwurf unter einem Minister
Ihrer Regierung sind es - das ist die zweite Zahl 40 Millionen Euro. Das ist nicht einmal ein Inflationsausgleich. Allein diese zwei nackten Zahlen widerlegen
Sie.
Der zweite Punkt - der ist wichtig -: Sie versuchen
hier ein Wortspiel. Deutschland hat Vereinbarungen unterschrieben, und es gibt persönliche Zusagen der Frau
Bundeskanzlerin, dass wir für den Anstieg der Entwicklungszusammenarbeit zusätzliche Mittel für den Klimaschutz bereitstellen. Sie haben gerade gesagt, gegenüber
dem bisherigen Stand der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit legten Sie etwas drauf. Das ist aber nicht
einmal die Hälfte der Mittel, die wir zugesagt haben. Damit haben Sie den Vorwurf nur bestätigt: Sie wollen die
Zusage, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen,
nicht einhalten, sondern die Mittel verrechnen. Vielen
Dank für diese Bestätigung.
({0})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Homburger.
({0})
Herr Kelber, ich habe Ihnen nicht vorgeworfen, dass
es nicht einen entsprechenden Aufwuchs gegeben hätte.
Ich habe Ihnen vorgeworfen, dass das 0,7-Prozent-Ziel
auch in elf Jahren Amtszeit einer sozialdemokratischen
Entwicklungshilfeministerin nicht erreicht worden ist.
Das war der Vorwurf. Dieser Vorwurf ist und bleibt richtig, auch wenn Sie sich dagegen verwahren.
({0})
Ich habe deutlich gemacht, dass wir selbstverständlich zusätzliche Mittel in die Hand nehmen. Ich habe das
unterstrichen, was international zugesagt worden ist. Wir
werden sogar über das hinausgehen, was im Haushaltsentwurf im Augenblick etatisiert ist, und zusätzliche
Mittel zur Verfügung stellen. Denn beim Europäischen
Rat wurden von deutscher Seite, von der Bundeskanzlerin über 70 Millionen Euro zusätzlich zugesagt. Das
zeigt Ihnen, dass wir das, was wir versprochen haben,
sehr wohl umsetzen. Es wird zusätzliche Mittel für den
Klimaschutz geben. Im Entwicklungshilferessort sind allein dafür 1 Milliarde Euro eingestellt. Das ist eine
Hausnummer, die auch Sie, lieber Herr Kelber, nicht
leugnen können.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Streit
zwischen Frau Homburger und Herrn Kelber höre ich
zwar gerne. Das Problem ist aber, dass bisher keine Regierung - egal welche - auch nur in die Nähe der Marke
gekommen ist, die wir uns einmal international gesetzt
hatten, nämlich 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
für wirksame Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen.
({0})
Ich mache Ihnen einen Vorschlag, wie wir den Streit
schlichten könnten: Wir beschließen gemeinsam - wenn
nicht heute, dann meinetwegen im Januar -, dass wir in
einem jährlichen Rhythmus die Mittel erhöhen, sodass
wir in vier Jahren am Ende dieser Legislaturperiode sagen können: Jetzt stellt Deutschland 0,7 Prozent seines
Bruttoinlandsprodukts für wirksame Entwicklungshilfe
zur Verfügung. Das könnten wir doch machen. Dann
brauchten Sie sich gar nicht mehr zu streiten.
({1})
Die Frau Bundeskanzlerin - sie spricht gerade mit
Herrn Niebel - hat völlig recht, wenn sie sagt, dass die
drohende Klimakatastrophe das Überleben der
Menschheit gefährdet und dass es um Menschheitsfragen geht. Ich muss zunächst darauf hinweisen: Es ist
schon interessant, zu sehen, wie sehr sich unsere Bundesländer für die Menschheitsfragen interessieren. Ich
bitte Sie, einmal einen Blick auf die Bundesratsbank zu
werfen. Dann können Sie feststellen, welches große Interesse unsere Bundesländer an diesen Menschheitsfragen
haben.
({2})
Es ist wahr: Wenn die Klimakatastrophe eintritt, wird
es unbeschreibliche Katastrophen geben, auch, aber
nicht nur den Untergang von Inselstaaten. Die Bekämpfung der Klimakatastrophe ist ebenso wichtig wie der
weltweite Kampf gegen Armut, Elend und Unterdrückung, gegen Tod durch Hunger und gegen Tod durch
fehlende medizinische Versorgung. Herr Niebel, wenn
Sie anfangen, das gegeneinander aufzurechnen, machen
Sie die Menschheit kaputt. Das kann nicht unsere Herangehensweise sein.
({3})
Den Schaden hinsichtlich des Klimas haben die Industriestaaten im fossilen Industriezeitalter angerichtet.
Also haben sie doch eine besondere Verantwortung. Der
Treibstoff für die Klimakatastrophe waren und sind
Erdöl und Erdgas. Es geht - das muss man sich eingestehen - um eine neue Produktions- und Konsumtionsweise, um neue Technologien. Es geht weltweit um die
soziale Frage und in gewisser Hinsicht sogar um die Systemfrage.
Menschen müssen ein Interesse am Schutz und am
Erhalt ihrer natürlichen Lebensgrundlage haben. Die
These, dass wir die Natur zerstören, ist falsch. Das können wir gar nicht; so stark ist der Mensch nicht. Ich gebe
Ihnen einmal ein ganz anderes Beispiel: Sie wissen ja,
dass der französische Staat seine Atomwaffenversuche
immer im Ozean in der Nähe des Bikini-Atolls durchgeführt hat. Dort kann von uns keiner mehr hin, weil dieses
Gebiet stark kontaminiert ist.
({4})
- Nun warte doch mal, Frau Künast. Du wirst das auch
noch verstehen.
({5})
Dokumentaristen sind dorthin gefahren und haben einen
Film gedreht, weil sie sich dafür interessierten, ob es
dort noch Tiere und Pflanzen gibt. Da stellte sich Folgendes heraus: Der Mensch kann dort nicht mehr existieren; er braucht riesige Schutzanzüge. Alle Pflanzen und
Tiere, die es früher gab, gibt es nicht mehr. Aber es gibt
andere Pflanzen und Tiere, denen es nichts ausmacht,
schwer kontaminiert zu sein.
Was ich erklären will, ist: Die Natur können wir gar
nicht zerstören. Aber wir können die Natur in einem
Grade beschädigen, dass wir, die Menschen, hier nicht
mehr existieren können. Das ist das Problem. Deshalb
brauchte man nur einen einigermaßen klugen Egoismus.
Schon das würde ausreichen, um endlich etwas für den
Klimaschutz zu tun. Leider haben wir so viele doofe
Egoisten, die nicht einmal das begreifen.
({6})
Es geht beim Klimaschutz um unsere Kinder, unsere
Enkel, unsere Urenkel. Es geht um die Verhinderung von
Flucht, von Armut, von Naturkatastrophen und von neuartigen Kriegen.
Es gibt viele Unternehmen, die sich dabei wohlfühlen und auf den Klimaschutz hoffen, und zwar nicht nur
aus egoistischen Interessen, weil sie sich sagen: „Dann
geht es meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln besser“,
sondern auch deswegen, weil sie regenerative Energien
und neue Antriebstechniken herstellen sowie energiesparende Maschinen produzieren. Das heißt, sie brauchen
genau diese Entwicklung.
Dann gibt es andere Unternehmen und Unternehmensverbände, die immer vor zu viel Klimaschutz warnen, weil sie höhere Kosten befürchten, und sie drohen
uns mit dem Abbau von Arbeitsplätzen etc. Daran wundert mich - das muss ich hier wirklich einmal sagen -:
Selbst wenn man ein Boss ist, der nur an Profite denkt,
man aber Kinder hat, dann will man doch, dass auch die
Urenkel noch leben können. Angesichts einer Menschheitsfrage muss doch einmal das kurzfristige Interesse an
einem riesigen Profit zurücktreten können. Man muss
doch einmal sagen: Ich will, dass meine Enkel und Urenkel hier noch leben können.
({7})
Frau Bundeskanzlerin, warum können Sie diesen Bossen
nicht einmal erklären, nicht kurzfristig, sondern langfristig zu denken? Selbst jemand, der den Kapitalismus ganz
toll findet, kann ihn nur erleben, wenn es die Menschheit
noch gibt. Ich begreife es überhaupt nicht, warum sie so
uneinsichtig sind.
({8})
Herr Kauder, ich habe es mitbekommen: Die Wirtschaft entscheidet, was die Politik macht.
({9})
Aber es gibt Unterschiede in der Wirtschaft. Man muss
sich ja nicht nach der kurzfristigen und dümmsten Wirtschaft richten, sondern könnte sich nach den Leuten
richten, die etwas weitsichtiger sind. Ich sage es noch
einmal: Es gibt einen doofen und einen intelligenten
Egoismus. Es ist nicht hinnehmbar, dass der doofe regiert.
({10})
Im Übrigen haben viele verstanden, dass es um
Menschheitsfragen geht. Deshalb gibt es gewaltige Demonstrationen, nicht nur, aber auch in Kopenhagen. Ich
stelle fest, dass die Polizei dort massiv und robust gegen
die Demonstrantinnen und Demonstranten vorgeht. Vielleicht wäre es richtiger, robust und massiv gegen diejenigen vorzugehen, die den Schutz des Klimas verhindern.
({11})
Eigentlich sollte in Kopenhagen ein Nachfolgeabkommen zum 2012 auslaufenden Kioto-Protokoll abgeschlossen werden. Es sieht heute nicht danach aus, als ob
es zustande komme. Es geht ja nicht nur um neue Ziele
für die Minderung des Ausstoßes von Klimagasen in Industrieländern. Es geht auch um Minderungsziele für die
Schwellen- und die Entwicklungsländer - darauf haben
Sie hingewiesen, Frau Bundeskanzlerin - und auch um
die Finanztransfers an Entwicklungsländer. Es geht also
nicht nur um Klimaschutz, sondern auch um die Anpassung an die Folgen der Klimawende.
Wir haben jetzt eine Spaltung von Nord-Süd erlebt,
wie wir sie so direkt, so unmittelbar und so einheitlich
schon lange nicht mehr bei einer UNO-Konferenz erlebt
haben. Das sollte uns sehr nachdenklich machen. Die
Vorreiterrolle liegt hier eigentlich bei der EU, auch bei
Deutschland und übrigens auch bei den USA. Deshalb,
Frau Bundeskanzlerin: Wenn das Ganze nicht funktio914
niert, liegt das auch an den völlig unzureichenden Vorschlägen aus der EU. Dafür tragen Sie eine Mitverantwortung.
({12})
Was hat die EU vorgeschlagen? Finanztransfers von
7,2 Milliarden Euro ab 2020. Das ist lächerlich. Die
Weltbank, keine linke Einrichtung, hat gesagt: Es müssen 100 bis 150 Milliarden Euro jährlich sein. Aber
nichts davon hat die EU beschlossen. Was hat die EU gesagt? Sie will den Klimagasausstoß um 20 Prozent reduzieren und unter bestimmten Bedingungen - Sie haben
sie genannt - sogar um 30 Prozent. Jetzt sage ich Ihnen:
Heute entsprechen 30 Prozent den 20 Prozent von vor
der Krise. Es ist keine gewaltige Leistung, die dort angeboten wird. Wir brauchen ein Minderungsziel von
40 Prozent bis zum Jahre 2020 gegenüber 1990. Anders
werden wir die Klimakatastrophe nicht verhindern.
Wenn wir diese Reduzierung nicht hinbekommen, werden wir eine Erderwärmung erleben, die sich nicht auf
2 Grad begrenzen lässt, sondern bei 3,5 Grad oder, wenn
alle so weitermachen wie bisher, sogar bei 6,5 Grad liegen wird, was zu unbeschreiblichen Katastrophen führen
würde.
Frau Bundeskanzler, Sie haben ein langfristiges Ziel
für den Zeitraum bis zum Jahre 2050 formuliert. Wenn
aber bei den Verhandlungen in Kopenhagen für den Zeitraum bis 2020 nichts herauskommt, dann ist die Konferenz schon gescheitert; denn das Ziel bis 2050 ist viel zu
langfristig. Dann werden wir das Ziel hinsichtlich der
Verhinderung der Erderwärmung nicht erreichen.
Nun sprechen wir einmal von Deutschland und dem
Ziel, die Emissionen im Vergleich zu 1990 um 40 Prozent zu mindern. Ich habe nichts dagegen, dass Sie dieses Ziel verkünden; aber der Ehrlichkeit halber hätten
Sie, Frau Bundeskanzler, noch erwähnen können, dass
die Emissionsminderungen wegen der Deindustrialisierung des Ostens hervorragend gelingen können. Nur deswegen sind solche Ziele für Deutschland überhaupt zu
erreichen.
({13})
Ich sage noch einmal: Bei den Zahlungen an die Entwicklungsländer kann es nicht um eine einmalige Zahlung gehen. Es kann auch nicht, wie Herr Niebel meint,
um eine Zahlung gehen, bei der man etwas, was schon
einmal versprochen wurde, einfach umtütet. Vielmehr
muss es um jährliche Zahlungen gehen. Wozu dient der
Finanztransfer? Der Norden muss den Süden dafür bezahlen, dass dieser weniger ausstößt, als bei ungebremster Entwicklung wahrscheinlich wäre. Dafür gewinnen
wir hier im Norden Zeit, die wir brauchen, um den ganzen Strukturwandel abfedern zu können. Um es klar zu
sagen: Es geht nicht um Almosen an Entwicklungsländer.
Texas bläst heute noch so viel Treibhausgase in die
Luft wie ganz Afrika; das ist die Wahrheit. Die Entwicklungsländer müssen mithilfe der Industriestaaten bei ihrer Energieversorgung - im Unterschied zu Europa und
Nordamerika - die fossile Phase überspringen oder sie
wenigstens schnell hinter sich lassen, damit sie in Zukunft nicht derartige Umweltschäden anrichten, wie sie
durch Europa und Nordamerika bereits angerichtet worden sind. Es geht also um Hilfe für die Menschheit, um
Hilfe für uns selbst. Schon deshalb ist jede Zurückhaltung skandalös.
({14})
Die Beseitigung der durch Überflutungen und Versalzungen der Böden verursachten Schäden ist viel teurer
als das, was wir jetzt an Geld einsetzen müssten, um die
Klimakatastrophe zu verhindern. Es ist also unser Eigeninteresse, wie es auch unser Eigeninteresse ist, zu verhindern, dass die großen Urwälder dieser Erde für immer
verschwinden.
Hier gibt es einmal ein konkretes Angebot von
Ecuador. Wo bleibt denn da die Antwort der Bundesregierung? Ecuador hat einen riesigen Urwald, darunter
liegt sehr viel Erdöl. Das Land hat nun die Möglichkeit,
das Öl zu fördern; dann wäre es ökonomisch versorgt.
Ecuador ist das erste Land, das der internationalen Gemeinschaft einen anderen Weg anbietet und sagt: Wir
lassen den Urwald stehen, wenn ihr uns den Schaden
zahlt, den wir dadurch haben, dass wir das Erdöl nicht
gewinnen. Wo bleiben die Antworten? Ich muss sagen,
dass Frau Wieczorek-Zeul zumindest noch freundliche,
wohlwollende Briefe geschrieben hat; von Herrn Niebel
wage ich das gar nicht zu erhoffen. Das ist das Problem,
mit dem wir es hier zu tun haben.
({15})
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich bin sofort fertig.
Die USA müssen klare Verbindlichkeiten eingehen.
Wenn die USA dies tun, wird es China auch tun.
Herr Röttgen, ich sage Ihnen als Umweltminister
eins: Wenn Sie so weitermachen und denken, neue Kohlekraftwerke und die Verlängerung der Laufzeiten der
Atomkraftwerke lösten unsere Probleme, dann sage ich
Ihnen: Das Ganze geht schief.
({0})
Sie haben von den erneuerbaren Energien nichts verstanden; das ist das Problem.
Danke schön.
({1})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will
ich das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Parla-
mentarischen Kontrollgremiums bekannt geben. Ab-
gegebene Stimmkarten 572, alle gültig. Enthalten haben
sich drei Kolleginnen und Kollegen. Von den gültigen
Stimmen entfielen auf Peter Altmaier 528, Clemens
Präsident Dr. Norbert Lammert
Binninger 525, Manfred Grund 526, Stefan Müller 511,
Michael Hartmann 504, Fritz Rudolf Körper 503,
Thomas Oppermann 486, Christian Ahrendt 526,
Hartfrid Wolff 517, Wolfgang Nešković 294, Hans-
Christian Ströbele 326 Stimmen.1)
Die gerade von mir genannten Kolleginnen und Kollegen sind mit Ausnahme des Kollegen Nešković alle
mit der erforderlichen Mehrheit gewählt, die ich vorhin
mitgeteilt habe.
({0})
Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes ist die Mehrheit von
312 Stimmen erforderlich. Diese hat der Kollege
Nešković nicht erreicht.
Wir setzen die Debatte fort.
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck.
({1})
- Das machen wir dann sofort anschließend. Dann fahren wir mit möglichen Geschäftsordnungsüberlegungen
fort.
Der Kollege Christian Ruck hat nun das Wort. Bitte
schön.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
ich fand Ihre Ausführungen nicht nur platt und konfus,
Sie sind auch erstaunlich wenig informiert, wenn es um
bestimmte Details geht. Zum Beispiel ist die Diskussion
über den Urwald in Ecuador, die wirklich stattgefunden
hat, vollkommen an Ihnen vorbeigegangen, und auch mit
den letzten Beschlüssen des EU-Rates sind Sie nicht
wirklich vertraut. Ich kann mir den Hinweis nicht verkneifen, dass bei jeder Klimadebatte zunächst einmal die
klimapolitischen Altlasten des real existierenden Sozialismus ausgeräumt werden mussten. Da hatten wir einiges zu tun.
({0})
Einen Tag vor dem Ende der Kopenhagener Konfe-
renz ist es in der Tat noch nicht klar, ob wir zu einem
Abschluss kommen. Der Erfolg steht auf Messers
Schneide. Es sind noch dicke Bretter zu bohren. Ich
möchte die dänische Präsidentschaft ausdrücklich bitten,
die Flinte nicht zum falschen Zeitpunkt ins Korn zu wer-
fen, sondern alles zu tun, damit dieses Treffen der Staats-
und Regierungschefs in seiner entscheidenden Phase
doch noch ein Erfolg wird.
Wir wünschen unserer Kanzlerin viel Fortune dabei,
die Steine in gewohnter Erfolgsmanier aus dem Weg zu
räumen. Wir haben mit unserer Delegation in Kopenha-
gen gespürt, wie sehr die Hoffnungen in Kopenhagen
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer der Wahl siehe Anlage 7
auf Ihnen ruhen, Frau Bundeskanzlerin, und wir wünschen Ihnen viel Erfolg. Aber den Erfolg müssen alle
wollen, nicht nur die Deutschen und nicht nur die Europäer.
({1})
Die EU ist zweifellos Vorreiter in den Kopenhagener
Klimaschutzverhandlungen. Die EU hat die weitestgehenden Vorschläge gemacht, die konkretesten Zahlen
und auch die deutlichste Bereitschaft für eine politische
Einigung vorgelegt. Wenn alle so mitziehen würden,
dann könnten wir schon heute viel weiter sein, als wir es
tatsächlich sind.
Deutschland hat weltweit die anspruchsvollsten Klimaziele, nämlich eine Senkung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent bis 2020, vorgelegt, und, Herr
Gysi, auch konkrete Sofortmaßnahmen für die Entwicklungsländer zwischen 2010 und 2013, nämlich zusätzlich 1,2 Milliarden Euro von Deutschland und 7,2 Milliarden Euro von der gesamten Europäischen Union. In
der EU wurden auch konkrete Hilfen in Form eines
100-Milliarden-Pakets bis zum Jahr 2020 vereinbart.
Das scheint an Ihnen bisher vorbeigegangen zu sein.
Ich möchte auf die unselige Diskussion „Armut gegen
Klima“ eingehen. Für Entwicklungspolitiker - auch
nicht für die der letzten Großen Koalition, die in der Entwicklungspolitik nicht ganz erfolglos war - ist folgende
Wahrheit nichts Neues: Klimaschutz und Armutsbekämpfung sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist völlig unsinnig, irgendwelche Zahlen wie eine Monstranz
vor sich herzutragen und das eine gegen das andere auszuspielen. Die Wahrheit ist, dass man die notwendige
Hilfestellung für Entwicklungsländer, um Armut zu bekämpfen und Klimaschutz in den Entwicklungsländern
zu betreiben, bereitstellen muss. Man muss auch seriös
mit der Frage umgehen: Wie viel Geld ist überhaupt nötig? Herr Kelber, in dieser Frage ging es in Kopenhagen
drunter und drüber. Das haben auch die Mitglieder Ihrer
Delegation festgestellt. Chávez und andere sagen:
300 Milliarden pro Jahr ab 2020. Andere gehen noch
weiter. Ich glaube, wir sollten uns auf dieses postkoloniale Spiel nicht einlassen. Wir stehen zur ODA-Quote,
und wir stehen zum Klimaschutz; aber wir sind dagegen,
dass man immer wieder den Versuch unternimmt, das
eine gegen das andere auszuspielen.
({2})
Was wir brauchen, ist eine realistische Einschätzung
des Finanzbedarfs. Das ist schwierig. Auch für Fachleute
ist es schwierig, den Finanzbedarf für 2020 einzuschätzen. Ich möchte davor warnen, Musterdemokraten wie
Chávez oder der sudanesischen Regierung auf den Leim
zu gehen. Ich glaube, das bringt nichts. Was wir brauchen, sind Verhandlungspartner, die verantwortungsbewusst sind, auch in den Entwicklungsländern. Natürlich
dürfen wir uns den notwendigen Hilfen nicht verschließen.
Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, was Ihr Noch-Kollege Verheugen gesagt hat - er hat in einer realistischen
Abwägung die EU vor zu hohen Verpflichtungen beim
UN-Gipfel gewarnt -:
Die EU darf nicht durch ihre Vorreiterrolle beim
Klimaschutz die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zerstören und sie zwingen, in andere Teile der Welt auszuwandern.
({3})
Sie sollten sich einmal mit Ihren eigenen Leuten beschäftigen, auch mit Kanzler Schröder bei Gazprom.
({4})
- Das nehme ich zur Kenntnis. Ich habe keinen Grund,
Herrn Niebel zu widersprechen.
({5})
Warum soll ich ihm widersprechen, nachdem er mit
China eine neue Zusammenarbeit in Sachen Klimaschutz vereinbart hat?
Herr Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hoppe?
Gut.
Lieber Herr Kollege Ruck, ich stimme Ihnen völlig
zu: Entwicklungszusammenarbeit und Klimaschutz
müssen zusammengeführt werden; eine gute Entwicklungszusammenarbeit ist gleichzeitig immer auch Klimaschutz. Hier geht es aber um die finanziellen Verpflichtungen. Ich möchte Sie um Klarheit bitten: Wir
brauchen eine klare Auskunft, ob die Gelder, die bei den
Klimaverhandlungen in Kopenhagen jetzt für den internationalen Klimaschutz zuzusagen sind, die ab 2013 verpflichtend werden, auf die ODA-Quote, die Teil der Millenniumsziele ist, angerechnet werden sollen. Ja oder
nein?
Herr Hoppe, Sie kennen meine diesbezügliche Meinung. Ich wiederhole sie gerne noch einmal: Zuerst
erfüllen wir die ODA-Quote mit all dem, was für die
Entwicklungsländer notwendig ist; das bedeutet Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Klimaschutz. Ich sehe
keinen Grund, angesichts der Finanzmittel, die wir bis
zur Erreichung der ODA-Quote noch aufwachsen lassen
müssen, schon jetzt zu sagen: Hinzu kommen die Klimaschutzmittel. Dafür sehe ich keinen Grund.
Ich sage noch einmal: Wenn die ODA-Mittel für einen wirksamen Klimaschutz in den Entwicklungsländern nicht ausreichen, dann müssen wir natürlich die
entsprechenden Mittel nachlegen. Aber warten Sie doch
erst einmal ab, wie weit wir kommen. Ich habe Ihnen gerade gesagt - ich glaube, das ist auch Ihre Meinung -:
Die Bandbreite der Vorstellungen, was für den Klimaschutz in den Entwicklungsländern ab 2020 notwendig
ist, ist so groß, dass wir erst einmal seriöse Zahlen und
Forschungsergebnisse brauchen; denn sonst können wir
das jetzt, mehr als zehn Jahre vor 2020, nicht sagen.
Dazu stehe ich. Ich glaube, das ist eine vernünftige Politik, auch im Sinne der deutschen Steuerzahler.
({0})
Meine Damen und Herren, zum Stichwort „deutscher
Steuerzahler“ ist auch zu sagen: Wir können die
Entwicklungsländer nicht aus einem transparenten
Kontrollverfahren entlassen. Ich hoffe, auch dabei
stimmen Sie mir zu. Der Finanzbedarf ist das eine, aber
auch eine effiziente Anlage der Gelder ist Verpflichtung
für uns. Es geht darum, die deutschen Steuergelder ordentlich zu verwalten. Deswegen müssen wir gegenüber
den Entwicklungs- und den Schwellenländern darauf bestehen, dass es einen ordentlichen und transparenten
Kontrollmechanismus gibt. Auch das muss als Signal
von hier nach Kopenhagen gehen; denn auch diesbezüglich hakt es deutlich.
Es muss noch ein anderes Signal geben - ich glaube,
auch dabei sind wir uns einig -: Eine der kostengünstigsten und wichtigsten Methoden, CO2-Emissionen zu reduzieren, ist ein effizienter Waldschutz, gerade auch in
den Entwicklungsländern. Auch hierum wird heftig gerungen; aber ich glaube, wir haben auch diesbezüglich in
den letzten Jahren mit unseren Haushalten deutliche
Signale gesetzt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon
angesprochen worden: Wir werden keinen Erfolg, weder
in Kopenhagen noch überhaupt, mit unserer langfristigen Klimaschutzpolitik haben ohne Einbeziehung der
Schwellenländer und ohne Einbeziehung der USA. Wir
haben uns mit einer Delegation aus dem brasilianischen
Parlament getroffen. Wir alle waren beeindruckt, wie
sehr die brasilianischen Parlamentarier Signale setzen
und voranschreiten wollen mit ihrer Forderung an die eigene Reduktionspolitik. Da können sich sowohl die Inder als auch die Chinesen eine Scheibe abschneiden.
An China gerichtet möchte ich auch sagen: Man kann
nicht auf der einen Seite mit seiner Armut kokettieren
und auf der anderen Seite Weltmachtansprüche stellen.
Für eine Weltmacht, wie es China zweifellos ist, ist jetzt
die Zeit, Verantwortung für das Klima zu übernehmen.
({1})
Aus diesen Gründen möchte ich sowohl an China als
auch an Indien appellieren, diese Ansprüche in Verantwortung umzusetzen.
({2})
Das Gleiche gilt für die USA. Wer in anderen Teilen
der Welt Führungsverantwortung beansprucht, muss
jetzt auch in der Klimafrage Führung übernehmen. Deswegen hoffe ich, dass der amerikanische Präsident in
Kopenhagen tatsächlich Führungsverantwortung bei dieser Schicksalsfrage übernimmt.
Klimapolitik bietet für die Export- und Technologienation Deutschland eine Chance für ein qualitatives Wachstum. Umwelt ist die Wachstumsbranche des
21. Jahrhunderts. Das sehen übrigens auch die Chinesen
und Inder so; das war ein deutliches Zeichen in unseren
Gesprächen in Kopenhagen. Ganz besonders diese beiden Länder sind bereit, mit uns, mit unseren Firmen, mit
unserer Wirtschaft, mit unserer Technologie, zusammenzuarbeiten. Hier ist Offensive angesagt.
Frau Bundeskanzlerin, die Mehrheit dieses Hauses
und alle wirklichen Klimaschützer drücken Ihnen für
Ihre Mission in Kopenhagen die Daumen.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin! Herr Ruck, ich glaube, Sie haben uns mit
Ihrer Rede und Ihrer Gesundbeterei fast an die Grenze
des Einschlafens gebracht.
({0})
Das ist angesichts dieses Themas schade.
Da wir gerade über den Ticker erfahren, dass Regierungskreise in Dänemark sagen, die dänische Regierung
habe das Ziel eines umfassenden Abkommens möglicherweise schon aufgegeben, will ich eines zur Debatte
hier sagen: Ich glaube, allen voran Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben die Bedeutung von Kopenhagen nicht
wirklich und wahrhaftig verstanden. Kopenhagen ist
nicht nur die wichtigste Wirtschaftskonferenz, wo man
die alten Lobbyisten befriedigen muss, damit es ein Weiter-so gibt und keine Wettbewerbsregeln, die hier, aber
nicht anderswo gelten, sondern Kopenhagen ist vor allem die wichtigste Klima- und internationale Gerechtigkeitskonferenz. Das ist das Größte. Was Deutschland
und die Europäische Union bisher vorgelegt haben, wird
dem nicht annähernd gerecht.
({1})
Da darf es nicht wie in dem üblichen globalen Verhandlungszirkus zugehen, in dem man, bis man in der
letzten Nacht nachgibt, immer sagt, man bewege sich
nicht, in dem die reichen Länder ihre Privilegien bis zur
letzten Nacht mit Klauen und Zähnen verteidigen. Ich
fordere Sie auf: Machen Sie sich von dieser mentalen
Schwerkraft frei. Begreifen Sie das Ganze als das, was
es ist: die zentrale Gerechtigkeitsfrage für die, die
schon heute existenziell unter dem Klimawandel leiden.
Darin liegt auch eine zentrale Chance für uns, die wir
noch nicht so viel leiden; denn wir haben die Möglichkeit, einen wirtschaftlichen Aufbruch statt einen wirtschaftlichen Niedergang zu organisieren. Das ist Kopenhagen!
({2})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Dieses Geziehe und
Gezerre geht mir auf die Nerven. Außerdem läuft Ihr
Norbert Röttgen wie der Malermeister der CDU mit einem großen Eimer Farbe durch das Land und tüncht alles grün. Immer wieder heißt es, wir müssten anders leben. Ich fordere Sie auf: Fangen Sie doch an, anders zu
leben, anders zu wohnen, anders zu produzieren und zu
transportieren!
({3})
Fangen Sie in Kopenhagen damit an! Sagen Sie: Kopenhagen ist für uns die Chance, endlich den notwendigen
Strukturwandel der deutschen Wirtschaft, die geprägt
ist von Überkapazitäten und Stellenabbau, einzuleiten.
Es ist so, dass nicht nur der Klimawandel bedrohlich
voranschreitet, sondern dass es gleichzeitig auch einen
Wahnsinnsschub bei der Energietechnologieentwicklung
gibt. Ich glaube, hier haben wir ökonomische Möglichkeiten. Wenn ich als Grüne dies zu begründen hätte - abgesehen vom Klimawandel und den Menschen, deren
Existenz bedroht ist und die leiden -, würde ich sagen:
Lösen wir in Deutschland, wir als Deutsche in und mit
der Europäischen Union durch ein ganz gezieltes Erbringen von Vorleistungen und durch Voranschreiten einen
Wettbewerbsdruck auf andere aus, statt immer zu sagen:
China oder Obama haben sich noch nicht bewegt. - Wir
könnten vorne sein, Arbeitsplätze schaffen und den Rest
hinter uns herziehen, statt eine Schnecke zu sein.
({4})
Seien wir ein Leitmarkt! Sagen wir doch: Wir wollen
eine Europäische Union der erneuerbaren Energien. Steigern wir unsere Produktivität durch den intelligenten
Umgang mit Energie statt durch Lohndrückerei! Betreiben wir Kostenreduktion zu unserem eigenen Vorteil und
für den Klimaschutz! Das wäre sinnvoll. Davon, Frau
Bundeskanzlerin, habe ich von Ihnen aber kein einziges
engagiertes Wort gehört.
({5})
Ich formuliere es einmal so: Ich habe von Ihnen kein
mitleidendes Wort gehört über die Sorgen der Entwicklungsländer, die Sorgen Afrikas, die Sorgen der Länder
mit großen Küstenregionen und der Inseln. Das 2-GradZiel ist für Afrika eine Zumutung. Für Afrika heißt das
allgemeine 2-Grad-Ziel, dass es dort um ungefähr
4 Grad wärmer wird. Das führt dazu, dass sich nicht beackerbares Land, Dürren und Hunger weiter massiv ausbreiten. Trotzdem stellen Sie sich hier hin und sagen:
Wir sind bereit, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu senken, aber erst dann, wenn sich auch andere
bewegen. - In Afrika kann sich keiner bewegen, und den
Afrikanern kann man nicht sagen: China bewegt sich
nicht, deshalb bewegen auch wir uns nicht. - Bedenken
Sie den Zusammenhang zwischen Klimagerechtigkeit
und Wirtschaft! Bewegen wir uns endlich! Seien wir
das Land, das den Wettbewerb um Effizienz und intelligente neue Lösungen antreibt, und profitieren wir notfalls sogar selbst davon!
({6})
Ich habe in den letzten Tagen an Michail Gorbatschow
gedacht. Ich weiß nicht, ob Sie alle noch in Erinnerung
haben, wie die Situation 1989 war - was damals erreicht
wurde, kommt manch einem heute ja selbstverständlich
vor -: 1989 lebten wir immer noch in einer Blockkonfrontation. Alles, was sich damals ereignete, zum Beispiel im heutigen Tschechien, insbesondere in Prag, oder
an der ungarischen Grenze, hat uns richtig ins Herz getroffen. Jede und jeder von uns hatte Angst, dass zur
Waffe gegriffen wird. Das gesamte Denken war damals
von den zwei großen Blöcken und Systemen dominiert.
Immer wieder traf es am Eisernen Vorhang aufeinander
und hat sich in alten Kategorien bewegt.
Michail Gorbatschow hat vor dem Fall der Mauer das
Bild vom gemeinsamen europäischen Haus benutzt. Ich
will dieses Bild weiterentwickeln. Dass wir den Klimawandel aufhalten, ist von solch existenzieller Bedeutung
und ungefähr so beachtlich wie der Fall der Mauer, mit
dem die Blockkonfrontation beendet wurde. So müssen
wir an dieses Thema herangehen. Wir müssen sagen:
Auf der einen Erde, die wir haben, wollen wir ein gemeinsames Haus bauen. Dabei darf nicht gezockt werden, dabei sind keine Bedingungen zu stellen, und dabei
ist keine Zurückhaltung zu üben. Es darf auch nicht darum gehen, Brosamen vom Tisch der Reichen zu bekommen. Frau Merkel, ich will, dass Deutschland sagt: Wir
werden anders wirtschaften, und wir werden den anderen bei ihrer Entwicklung helfen.
({7})
Frau Merkel, Sie sagen, es macht Sie nervös, ob das
alles wirklich zu schaffen ist. Meines Erachtens ist die
Wahrheit: Sie sind Teil der mentalen Schwerkraft, die
gerade bleiern über Kopenhagen liegt.
Schauen wir uns die beiden Hauptstränge der Verhandlungen einmal an: Das eine sind die Reduktionsziele, die die Industrieländer anbieten, das andere sind
die Finanzhilfen, um globale Gerechtigkeit zu schaffen.
Bei den Reduktionszielen frage ich mich: Wie kommt
Herr Röttgen eigentlich dazu, mit Grandezza Obama und
die USA zu kritisieren? Natürlich kann man sagen:
Stimmt, die machen zu wenig. - Aber Hochmut kommt
vor dem Fall. Wenn die USA Geld in die technologische
Entwicklung investieren, wird das in einer Größenordnung losgehen, dass Sie in einem Jahr hier stehen und
tränenden Auges danach fragen: Wo sind denn die deutschen technologischen Entwicklungen? - Halten Sie sich
nicht damit auf, andere zu beschimpfen! Sorgen Sie lieber dafür, dass die Europäische Union selber das KiotoZiel erreicht; denn davon ist auch sie noch weit entfernt.
({8})
Frau Merkel, Sie haben in Meseberg große Ziele angekündigt. Sie haben im September 2007 gesagt: Wir
richten unsere Energie- und Klimapolitik neu aus. Sie
haben ein Paket von Maßnahmen entwickelt, die jetzt
Schritt für Schritt umgesetzt werden sollen. Ich weiß
nicht, ob Sie dieses Paket noch nicht aufgegeben haben
oder ob die Deutsche Bundespost wieder einmal versagt
hat.
({9})
Von dem Paket, das Sie angekündigt haben, ist jedenfalls
bis jetzt keine einzige Maßnahme in der Realität angekommen.
({10})
Außerdem sind das alles Peanuts, Frau Merkel. Das
Wärmegesetz ist ein schlafender Riese. Vor kurzem haben Sie gesagt, man solle sich nicht ständig um die Ausnahmen kümmern, die es gibt, die Gebäudesanierung sei
der viel größere Teil. Dann fangen Sie doch einmal an
mit der Gebäudesanierung! Dachdämmung? Gestrichen. Nachtspeicherheizungen sollen bleiben. Die Gebäudeenergieausweise sind eine Farce. Sie haben sich
beim Thema Energieeffizienz in die Situation manövriert, dass eine Richtlinie, die 2008 umgesetzt sein
sollte, bis heute nicht umgesetzt ist. Im Verkehrsbereich
vertreten Sie wie die Grottenolme die alten, leistungsstarken Autos, aber nicht Autos, die heute und morgen
noch gekauft werden. Ja, wir haben Kurzarbeit, Kurzarbeit, Kurzarbeit. Das kommt aber nicht von ungefähr,
meine Herren. Die Krönung ist, dass Sie bei der Frage
einer Energiepolitik in Deutschland bis Oktober 2010
blankziehen. Ihre Methode hindert große und kleine Unternehmen in Deutschland momentan daran, in eine andere Energiepolitik zu investieren. Das ist der Malermeister Röttgen, das ist die Bundeskanzlerin.
In NRW wollen Sie den Klimaschutz aus dem Gesetz
herausstreichen, damit Sie in Datteln ein neues Kohlekraftwerk bauen können. Das ist keine Glaubwürdigkeit
beim Thema Klimaschutz.
({11})
Bauen wir doch das gemeinsame Haus auf! Hören wir
auf, auf Kosten anderer zu leben. Dazu, sage ich Ihnen,
brauchen wir nicht nur ein Bekenntnis zur Reduzierung
des CO2-Ausstoßes. Wir brauchen einen zweiten Verhandlungsstrang: dass die historischen Verursacher endlich Verantwortung übernehmen.
8,5 Milliarden Euro machen Sie mal eben locker als
Steuergeschenke für Hotels und Erben; aber nur 2,4 Milliarden Euro wollen Sie geben, um den Ärmsten der Armen, die existenziell unter dem Klimawandel leiden, zu
helfen. Meine Damen und Herren, als Vertreter der größten Volkswirtschaft in der Europäischen Union sollten
wir sagen: Wir toppen das, wir geben unhängig von der
Gesamtsumme, die zustande kommt, mindestens 10 Milliarden Euro.
Mein letzter Satz: Wir werden Sie an dem C im Namen Ihrer Partei messen. Wir werden nicht zulassen,
dass uns Herr Niebel in einer Vernebelungstaktik vorrechnen will, dass wir die ODA-Quote von 0,7 Prozent
des BIP durch Klimaschutzmaßnahmen erfüllt hätten.
Wir sind die Verursacher des Klimawandels. In Kopenhagen geht es um das Gemeinsame. Sperren Sie die
armen Länder nicht aus! Gehen Sie endlich in Vorleistung und fangen Sie mit der ökologischen Modernisierung in Deutschland an.
({0})
Michael Link ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Durch die
Tatsache, dass es in der heutigen Debatte um zwei Themen geht, nämlich um den Europäischen Rat und um
den Klimagipfel, wird nicht nur die kalendarische Zufälligkeit gezeigt, dass beide Termine übereinstimmen, sondern werden wir auch darauf hingewiesen, dass wir über
beide Themen in der Regel erst dann reden, wenn es
nicht klappt.
Beim Klimaschutz ist das offensichtlich, aber auch
mit der EU, mit Europa, beschäftigen wir uns immer
dann wesentlich mehr, wenn wir Probleme haben, wenn
wir in der EU einen Dissens haben und wenn es uns erst
nach sehr langen Debatten gelungen ist, tatsächlich Verträge in Kraft zu setzen, wie das mit dem Vertrag von
Lissabon der Fall ist. Die FDP begrüßt das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, wodurch die EU
demokratischer und funktionsfähiger wird.
({0})
Herr Kollege Gysi, ich bin wirklich überrascht, dass
Sie hier und heute kein einziges Wort zu Europa und nur
etwas zum Klima gesagt haben. Das ist zwar ein wichtiges Thema, aber Sie haben kein einziges Wort zu Europa
und zu diesem Vertrag gesagt, der in Kraft getreten ist.
({1})
Kollegin Künast, Sie sind Vertreterin - das kann ich
nun wirklich sagen - einer überzeugten europäischen
Partei, aber auch von Ihnen hätten wir uns gewünscht,
dass Sie ein Wort dazu sagen, wie wir nach den Vorstellungen der grünen Fraktion mit diesen Regeln in Zukunft
im Hohen Hause gemeinsam umgehen;
({2})
denn in der Tat: An der Art und Weise, wie wir hier im
Bundestag miteinander umgehen und intern Fragen der
europäischen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
diskutieren, muss sich vieles ändern.
Manche werden sich erinnern: Der Bundestagspräsident hat in der Rede nach seinem Amtsantritt genau auf
diese Frage Bezug genommen, nämlich darauf, wie wir
damit umgehen, dass wir durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, durch den Vertrag selber und natürlich vor allem durch das Grundgesetz in die Pflicht genommen werden, an der Gestaltung
der europäischen Politik mitzuwirken. Daran müssen wir
arbeiten. Ich glaube, es ist das große Ziel der Kolleginnen und Kollegen im Europaausschuss, im Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, in
den Fachausschüssen und überall sonst, dass wir unsere
Verfahren im nächsten Jahr so anpassen, dass wir das
auch schaffen.
Dass wir dabei an die Wichtigkeit der Subsidiarität erinnern, heißt nicht, dass wir ein Europa der Abgrenzungen wollen. Wir wollen kein Europa der Abgrenzungen,
der Opt-outs und der Schutzklauseln.
({3})
Das ist auch unsere klare Linie bei den anstehenden Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien und Island. Eine
Mitgliedschaft à la carte und eine Mitgliedschaft mit Rabatt kann es nicht geben. Wir wollen aber sehr wohl eine
klare Kompetenzabgrenzung. Ich glaube, hier müssen
wir, wie gesagt, intern noch gemeinsam an unseren Verfahren arbeiten.
Der Vertrag von Lissabon ist nicht der große Wurf,
wie es frühere große Verträge waren. An Maastricht und
Amsterdam sei erinnert. Diese enthielten jeweils große,
deutliche, weitere Visionen und Fortentwicklungen.
Beim Vertrag von Maastricht war es der Binnenmarkt,
beim Vertrag von Amsterdam war es die Wirtschaftsund Währungsunion - die Vollendung - und natürlich
vor allem auch die Weiterentwicklung und Stärkung der
Rechte des Europäischen Parlaments.
Immerhin: Für Letzteres, für die Stärkung der
Rechte des Europäischen Parlaments, bringt der Lissabon-Vertrag einiges. Vielleicht ist jetzt aber auch wirklich nicht die Zeit für große Visionen; denn davon haben
die Bürgerinnen und Bürger in der Tat genug. Sie erwarten, dass wir handeln. Dazu steht die FDP-Bundestagsfraktion nach den neuen Regeln des Lissabon-Vertrages
bereit. Wir freuen uns, dass die Bundesregierung ganz
offensiv darangeht. Wir werden sie auch weiterhin daran
erinnern.
Vielleicht noch eine Bitte: Es wäre schön, wenn wir
zu einer alten Tradition zurückkommen würden - Herr
Präsident, ich komme zum Schluss -, nämlich zu der,
dass wir vor oder nach jedem Europäischen Rat eine Regierungserklärung hören. Dann haben wir nämlich auch
nicht das gleiche Problem wie heute, da verständlicherweise viele Themen geballt behandelt werden. Ich
denke, Europa verdient es, dass wir bei jedem Europäischen Rat eine Regierungserklärung zu dem entsprechenden Thema hören.
Michael Link ({4})
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin hat gesagt, dass mit dem Lissabon-Vertrag eine neue, verbesserte Grundlage für die EU
geschaffen worden ist. Sehr richtig! Es muss aber auch
deutlich gesagt werden: Jetzt wird es auf uns hier im
Deutschen Bundestag ankommen, dass wir diesen Vertrag mit Leben erfüllen und dass wir ihn in jedem einzelnen Bereich der europäischen Politik, in dem wir uns als
Deutsche positionieren, im Geiste der EU und buchstabengetreu - auf Punkt und Komma genau - umsetzen.
({0})
Frau Bundeskanzlerin hat mit einem interessanten
Versprecher begonnen. Sie hat gesagt: Die Bundesregierung hat dazu die Rechte des Deutschen Bundestages gesetzlich verankert. - Bei allem Respekt: Die Verbesserung der Rechte des Deutschen Bundestages durch
das entsprechende Begleitgesetz, das Integrationsverantwortungsgesetz, haben wir erkämpft. Wir haben das
- auch das muss man als Erfolg bezeichnen - in einem
großen Einvernehmen in diesem Hause nicht mit allen,
aber doch mit den meisten hinbekommen. Das ist ein Erfolg für dieses Haus.
({1})
Der Lissabon-Vertrag ist seit dem 1. Dezember in
Kraft. Richten wir den Blick darauf, wie die bisherige
Umsetzung läuft.
Da muss man mit dem neuen Präsidenten, der Außenministerin, der Hohen Beauftragten, und dem deutschen
EU-Kommissar beginnen. Das, was wir dort präsentiert
bekommen haben, ist nicht die beste, sondern höchstens
die erstbeste Lösung. Bei den Kandidatinnen und Kandidaten haben der Rat und auch Deutschland keinen Mut,
sondern nur Kleinmut gezeigt. Man hat nicht einmal auf
die guten Kräfte zurückgegriffen, die es in der christdemokratischen Parteifamilie gibt. Das war kein guter Start
für die neue Kommission und die neue Spitze in der EU.
({2})
Wir haben gestern in einem Gespräch den designierten EU-Kommissar Oettinger befragen können. Das war
wichtig. Ich hoffe in diesem Zusammenhang, dass wir
nicht nur davon reden, in der Europäischen Union voneinander zu lernen und bestimmte Punkte weiterzuentwickeln. Es wäre besser, dass wir es nicht erst aus der
Presse erfahren, wenn nach dem Rücktritt eines Ministers eine neue Ministerin präsentiert wird, sondern wenn
eine Kandidatin vor ihrer Ernennung im Fachausschuss
Rede und Antwort steht. Das ist ein gutes Verfahren im
Europäischen Parlament, von dem wir als Deutscher
Bundestag lernen sollten.
({3})
Der zweite Punkt ist SWIFT. Da müssen wir schon am
30. November ansetzen. Es war ein Affront gegenüber
dem Europäischen Parlament, dass am 30. November
über das Abkommen zur Weitergabe von Finanzdaten
entschieden wurde, wohlwissend, dass das Europäische
Parlament mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages
mehr Rechte bekommen würde. Man hat also dem Parlament die Rechte, die es ab dem 1. Dezember hätte nutzen
können, nicht gewährt, indem man am 30. November
über das Abkommen entschieden hat. Das war unfair.
Und es war für die Bundesregierung schlecht, dass die
deutsche Position nicht deutlich wurde. Denn was die
deutsche Position anging, stand die FDP auf der einen
Seite und die CDU/CSU auf der anderen Seite. Das Ergebnis war Enthaltung. Enthaltung ist das Gegenteil von
politischer Gestaltung, wie sich hier gezeigt hat.
({4})
Der dritte Punkt sind künftige Vertragsänderungen
und Regierungskonferenzen. Eine Frage betrifft den
möglichen Beitritt Islands. Eine andere Frage ist die
Sitzzahl des Europäischen Parlaments. Das wird die Nagelprobe in diesem Hause. Es wird die Nagelprobe dafür, dass die Bundesregierung in diesem Punkt offensiv
von sich aus alles unternehmen muss, um Einvernehmen
mit dem Hohen Hause herzustellen, statt irgendeinen
Weg zu finden, um die Regelung dieser Fragen herumzukommen. Das wird noch ein Kampf.
Wir werden sehr genau darauf achten, wie dieses Verfahren läuft, weil es ein Präjudiz für alles andere ist, was
wir in den nächsten Jahren machen, und weil es um die
Umsetzung sowohl unserer Regelungen als auch dessen
geht, was uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben
hat.
({5})
Was Island angeht, bin ich sehr gespannt, wenn man
bedenkt, was im Wahlkampf von der CDU/CSU zu diesem Thema gekommen ist. Die CDU/CSU vertritt die
Meinung, wenn Kroatien beitritt, ist erst einmal Schluss.
Für den Beitritt der Türkei gibt es sowieso keine Zustimmung, und Serbien will sie auch nicht. Selbst der Beitritt
Islands wird infrage gestellt. Wir sind deshalb gespannt,
wie die Linie der Bundesregierung aussieht.
In einem anderen Punkt sind wir noch mehr gespannt.
Dazu erwarten wir eine klare Aussage bis Januar. Das
Europäische Parlament soll nach einer Vereinbarung der
Staats- und Regierungschefs - also einer ganz großen
Konstellation - in dieser Legislaturperiode ausnahmsweise von 736 auf 754 Mitglieder aufgestockt werden.
Das bedeutet, dass ein Parlament, das vertragsgemäß im
Juni gewählt worden ist, im Dezember eine Änderung
Axel Schäfer ({6})
seiner Zusammensetzung erfahren soll. Für die SPD
stelle ich dazu fest: Wir halten das staatsrechtlich, europarechtlich und auch grundsätzlich nach unserem Wahlverständnis für höchst problematisch, vielleicht sogar
verfassungswidrig. Das wird man noch prüfen müssen.
({7})
Wir halten es aber in besonderer Weise für inakzeptabel, Frau Bundeskanzlerin, dass in dem jetzt vorliegenden Entwurf vorgesehen ist, dass die 18 Kolleginnen und
Kollegen entweder durch einen Wahlakt oder durch die
Delegation von Abgeordneten der nationalen Parlamente
ins Amt kommen können. Das ist ein Verstoß gegen unsere europäische Verfasstheit. Das ist ein Verstoß gegen
Art. 14 Abs. 3 des EU-Vertrags, der klar festlegt: Die
Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, freier, gleicher, direkter und geheimer Wahl
gewählt und nicht von nationalen Parlamenten delegiert.
Das werden wir hier nicht zulassen.
({8})
Ich appelliere an die Kolleginnen und Kollegen von
FDP, CDU/CSU, Grünen und Linkspartei, dass dies das
gemeinsame Anliegen des Deutschen Bundestages sein
muss. Generationen von Vorvätern und -müttern haben
in diesem Hause von 1951 bis 1976 für die Direktwahl
des Europäischen Parlaments gekämpft. Wir dürfen
jetzt nicht aufgrund dieser makaberen Konstellation fundamentale Verfassungsprinzipien aufgeben. Deutschland
darf nicht zulassen, dass es Regelungen in Europa gibt,
die es ermöglichen, dass Abgeordnete nicht direkt von
den Bürgerinnen und Bürgern gewählt werden. Dafür
werden wir einstehen, und daran werden wir Sie messen.
({9})
Thomas Bareiß ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn ich diese Debatte verfolge, ist mir wichtig, zu Beginn meiner Rede auf Folgendes hinzuweisen:
Obwohl Sie, Frau Künast und Herr Kelber, zwanghaft
versuchen, hier konträre Positionen aufzubauen, gibt es
in der Bevölkerung eine klare Zielsetzung für mehr Klimaschutz. Diese klare Zielsetzung für weniger Emissionen und Ressourcenschonung ist vor allen Dingen ein
Verdienst unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dafür sollten wir heute Morgen noch einmal Danke sagen.
({0})
Die klare Positionierung in der Bevölkerung, aber
auch in Brüssel und im Europäischen Rat ist von entscheidender Bedeutung. Als wir hier vor zwei Wochen
über die Anträge zu Kopenhagen diskutiert haben, wussten wir noch nicht, was in den letzten zwei Verhandlungstagen geschehen wird bzw. wer sich am Verhandlungstisch gegenübersitzen wird. Heute wissen wir, dass
über 130 Staats- und Regierungschefs einschließlich des
US-Präsidenten, des chinesischen Regierungschefs und
des indischen Ministerpräsidenten dabei sein werden.
Das ist für mich mehr als ein Hoffnungsschimmer. Ich
glaube, dass wir in Kopenhagen die einmalige Chance
haben, Großartiges zu erreichen. Wir sollten diese
Chance nutzen.
Die Messlatte liegt enorm hoch. Umweltminister
Röttgen hat - genauso wie unsere Bundeskanzlerin heute
Morgen - klar und deutlich unterstrichen, dass man nur
dann von einem Erfolg sprechen kann, wenn sich alle
192 Teilnehmer - ich unterstreiche: alle 192 Teilnehmer auf eine Begrenzung der Erderwärmung um höchstens zwei Grad verständigen. Wir brauchen damit nachvollziehbare und sanktionierbare Reduktionsziele für
alle. Wir brauchen eine faire Lastenverteilung. Wir brauchen auch vergleichbare Wettbewerbsbedingungen in
der Welt. Ein Ziel kann noch so ambitioniert sein: Wenn
die Hauptemittenten China, Indien und die USA nicht
mitziehen, sind alle Ziele, die wir uns stecken, wenig
wert. An diesem Anspruch müssen wir uns auch in Kopenhagen messen lassen.
Lassen Sie mich das verdeutlichen. Der CO2-Ausstoß
in Deutschland konnte im Jahr 2008 im Vergleich zum
Vorjahr um rund 10 Millionen Tonnen reduziert werden.
Dazu war eine große Kraftanstrengung notwendig, die
uns sehr viel gekostet hat. Gleichzeitig wird aber in
China jede Woche ein neues Kohlekraftwerk gebaut. Allein das Volumen der zusätzlichen CO2-Emissionen
durch diese Kohlekraftwerke in den nächsten zwei
Jahren entspricht dem kompletten CO2-Ausstoß des Exportweltmeisters Deutschland in einem Jahr. Das verdeutlicht, dass China, die USA und Indien mit im Boot
sein müssen. Sonst bringen alle Zielsetzungen nichts. Ich
sage es ganz deutlich: Eine Vorreiterrolle Deutschlands
ist wichtig, ist vielleicht sogar notwendig, um unsere
Glaubwürdigkeit als Industrienation unter Beweis zu
stellen, aber ein Alleingang Deutschlands oder der Europäischen Union ist schädlich, nicht nur für die Wirtschaft
und für unsere Arbeitsplätze, sondern auch für das globale Klimaschutzziel. Ich sage nur: Eine Abwanderung
von energieintensiven Industrien in Schwellenländer
wäre nicht in unserem Interesse. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat daher völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass sich kein Land aus der Pflicht stehlen
kann.
Klimapolitik ist gerade für Deutschland, das immerhin 26 Prozent der Wertschöpfung in der Industrie erzielt, in besonderem Maße Wirtschafts- und Industriepolitik. Klima- und Umweltschutz sind aber auch in
besonderem Maße Energiepolitik. 40,7 Prozent der
durch Menschenhand verursachten Treibhausgasemissionen in Deutschland stammen aus der Energieerzeugung. Deshalb werden wir in den nächsten Monaten gar
nicht darum herumkommen, ohne ideologische Scheuklappen einen klimafreundlichen und ressourcenschonenden Energiemix der Zukunft zu bilden. Dabei werden
die erneuerbaren Energien eine ganz große Rolle spie922
len. Wir haben schon heute einen Anteil der Windkraft
von 6 Prozent. Das ist ein großer Erfolg der letzten
Jahre.
({1})
Es müssen aber auch effiziente Kohlekraftwerke eine
Rolle spielen. Ebenso muss die CCS-Technologie eine
Rolle spielen, und eine Verlängerung der Laufzeiten von
Kernkraftwerken spielt gerade im Klimaschutz eine herausragende Rolle für uns.
({2})
Auch wenn wir alles dafür tun wollen - über das Ziel
sind wir uns einig -, einen erheblichen Anteil der Energieerzeugung in den nächsten 40 Jahren auf erneuerbare
Energien umzustellen, und wenn wir es schaffen, die
Energieeffizienz um jährlich 3 Prozent zu steigern, was
wir anstreben und was ein hohes Ziel ist,
({3})
müssen wir auch in den kommenden 30 Jahren - auch
darin sind wir uns einig - die Grundlast unserer Energieerzeugung bezahlbar und verlässlich sicherstellen.
({4})
Ein Instrument für Klimaschutz ist für mich der Markt
für Emissionszertifikate. Um nicht nur national, sondern auch international die Emissionen fair zu bepreisen,
brauchen wir ein globales Handelssystem mit Emissionszertifikaten. Ich weiß, das ist nicht einfach. Aber
auch das ist ein hohes Ziel, und wir müssen das Ziel angehen.
Es gab im Vorfeld viele kritische Stimmen zum Kopenhagener Klimakongress. Ich habe die Meinung dieser
kritischen Stimmen nie geteilt. Ich glaube, wir stehen
vor einer einmaligen Chance, auf globaler Ebene ambitionierte und verbindliche Ziele und Abmachungen zu
setzen. Ich denke, wir sollten diese Chance nutzen. Ich
wünsche unserer Bundeskanzlerin dafür viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Innerhalb von 14 Tagen treffen wir uns jetzt zum
zweiten Mal, um über den Klimagipfel in Kopenhagen,
über Maßnahmen und vor allem über die Reduzierung
von CO2 miteinander zu diskutieren. Wir haben bereits
vor 14 Tagen ehrgeizige Ziele gehört, Vorstellungen gehört, die Deutschland einbringen möchte, und wir haben
schon vor zwei Wochen gehört, dass es um Finanzierungsfragen geht. Wenn ich mir das heute wieder anhöre, dann muss ich sagen: Von der Vorreiterrolle
Deutschlands in dieser Diskussion ist in den letzten zwei
Wochen leider wenig bis gar nichts zu sehen gewesen.
({0})
Wenn man ehrgeizige Ziele für sich und für andere formuliert, dann muss man sie auch mit Haushaltsmitteln
hinterlegen. Wir als SPD-Fraktion haben vor zwei Wochen aus gutem Grund einen Antrag eingebracht, weil wir
genau dieses tun wollten. Wir haben es getan und uns um
die Finanzierungsfragen des internationalen Klimaschutzes und der Entwicklungszusammenarbeit gekümmert.
Als Reaktion auf diesen Antrag wurde vonseiten der
Union und der FDP - leider ist der Entwicklungsminister
nicht mehr anwesend - eine Verschärfung ihres ursprünglichen Antrages eingebracht, nämlich die zur Erreichung
des 0,7-Prozent-Ziels notwendigen Mittel vollständig auf
die Mittel zur Bekämpfung und Reduzierung von Armut
anzurechnen.
Wir haben heute gehört, wie viele Milliarden - dreistellige Milliardenbeträge! - nötig sind, um den Klimawandel wirksam bekämpfen zu können. Ich frage Sie:
Wie kann man das tun, ohne gleichzeitig den Kampf gegen Armut aufzugeben, wie es vonseiten dieser Bundesregierung getan wurde?
({1})
Was hier passiert, ist eben nicht, wie der Kollege Ruck
gesagt hat, das Leisten der notwendigen Hilfe, sondern
das Ausspielen von Armut gegen Klimawandel, nichts
anderes.
({2})
Was wir dringend brauchen, ist eine solide Finanzierung sowohl des Kampfes gegen Armut als auch der
Reduzierung von CO2 und der Anpassungsmechanismen
bei uns, aber auch weltweit. Die Kritik, dass es eine solche Finanzierung nicht gibt, wird nicht nur von uns, sondern auch von unzähligen Nichtregierungsorganisationen geäußert. Kollege Kelber hat bereits den Preis
angesprochen, den Minister Niebel vor einer Woche bedauernswerterweise erhalten hat: „fossil of the day“. Ich
darf den Generalsekretär der Welthungerhilfe zitieren
- er sieht es so ähnlich, wie wir es in unserem Antrag
formuliert haben -:
Klimaschutz in armen Ländern ist keine Entwicklungshilfe in herkömmlichem Sinn, sondern vor allem die Rückzahlung von Klimaschulden, die die
Industrieländer gemacht haben.
Sehr richtig!
({3})
- Genau wie im Ausschuss.
({4})
Ich hätte am heutigen Tag an dieser Stelle sehr gerne
einige deutliche Worte zur grundsätzlichen Frage der
Finanzierung gehört. Wir haben gehört, was wir über die
EU zur Verfügung stellen werden. Schön, es ist ein Anfang. Was wir nicht gehört haben, ist, wie die mittel- und
langfristigen Ziele aussehen sollen, und vor allem, was
konkret in den nächsten Haushalt eingestellt werden soll.
Angesichts dessen, was ich gestern in der Presse darüber
erfahren habe, welche Haushaltsmittel, zum Beispiel für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in
den Haushalt eingestellt werden sollen, muss ich sagen:
Da hat das Verrechnen offensichtlich schon begonnen.
Wir haben es mit einem Haushaltsentwurf zu tun, der
nicht nur mutlos ist, sondern von einem großen Desinteresse des Ministers an diesem Ressort zeugt.
({5})
Es ist uns über Jahre regelmäßig gelungen, den Etat
für Entwicklungszusammenarbeit in einer Höhe von
500 Millionen bis 700 Millionen Euro zu steigern. Das
war im Kampf gegen Armut, aber natürlich auch für eine
bessere Gestaltung des Klimawandels richtig und nötig.
Der gestern vorgelegte Haushaltsentwurf mit ganzen
44 Millionen Euro mehr als im vorherigen Haushalt
zeigt doch eines: dass weder Mittel für Armutsbekämpfung noch für Klimamaßnahmen zur Verfügung gestellt
werden können. Wo sind diese Mittel? Frau Homburger
hat von 1 Milliarde Euro gesprochen. Diese Mittel sind
weder im Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit
noch im Umwelthaushalt. Diese Mittel müssen irgendwann einmal veranschlagt werden. Ich wünsche mir,
dass Ihnen das noch bis zu den Haushaltsberatungen im
Januar gelingt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Ich hätte mir sehr gewünscht, dass hier etwas zu diesen
Finanzierungsfragen gesagt wird, vielleicht noch deutlicher, als die Frau Bundeskanzlerin zur Frage der Finanztransaktionsteuer gesprochen hat. Selbstverständlich wären hier eine ganze Menge Mittel für die Entwicklung,
aber auch für den Klimawandel bereitzustellen. Das
Ganze hätte den Charme, dass man die Verursacher weltweiter Krisen - sie haben die Entwicklungsländer mit in
die Krise gerissen; die Entwicklungsländer tragen für
diese Krisen in der Regel genauso wenig Verantwortung
wie für die Folgen des Klimawandels; auch da sind sie
nicht die Hauptverursacher - heranzieht und zusätzliches
Geld - im Fachjargon heißt es „fresh money“ - für vernünftige Politik, für Entwicklungszusammenarbeit und
für Klimaschutz zur Verfügung stellen kann.
({6})
Das hätte ich mir vor der Reise nach Kopenhagen gewünscht. In den letzten 14 Tagen ist Vertrauen zerstört
worden; Vertrauen, das wir als Deutsche als Partner der
Entwicklungsländer einmal genossen haben. Diese Koalition hat sich von den ODA-Zielen verabschiedet. Damit ist das Vorhaben, 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe bis zum Jahr 2010
auszugeben, obsolet. Das 0,7-Prozent-Ziel steht zwar
noch im Koalitionsvertrag, aber wohlweislich ohne die
Angabe, wann dies erreicht werden soll. Wer solche Signale aussendet und dann auf der Klimakonferenz in
Kopenhagen von anderen Ländern konkrete und belastbare Zusagen fordert, der macht sich unglaubwürdig.
({7})
Sie wären an dieser Stelle gut beraten, korrigierend
einzugreifen und sich deutlich zu diesen Zielen zu bekennen, und zwar mit belastbaren Zahlen, die andere
nachvollziehen können. Nur so kann man einen wirklichen Beitrag im Sinne einer vernünftigen Finanzierung
von Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels
und zur Bekämpfung von Hunger und Armut leisten.
Mittel für den Klimaschutz und Mittel zur Bekämpfung
von Armut dürfen nicht gegeneinander ausgespielt und
auch nicht miteinander verrechnet werden. Für den Klimaschutz bedarf es zusätzlicher Mittel.
Danke.
({8})
Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Köln gilt das Kölner Grundgesetz: Et es, wie et es. Et
kütt, wie et kütt. Et es noch immer jot jejange.
({0})
Auch der Herr Westerwelle kennt das. - Meine Damen
und Herren, man hat den Eindruck, dass so mancher auf
der Klimakonferenz diesen Grundoptimismus anwendet
und an die Sache nicht mit dem nötigen Nachdruck herangeht.
Noch immer behaupten einige Wissenschaftler, dass
die von den Menschen verursachten CO2-Emissionen
nichts mit dem Klimawandel zu tun haben, und bestreiten, dass eine Klimakatastrophe bevorsteht. Mit diesem
Problem müssen wir uns beschäftigen. Wir müssen
vorne in der Kette der Ursächlichkeiten beginnen, die im
Moment bei den Verhandlungen zu einem Stau führen.
Viele Menschen, die wirtschaftliche Interessen verfolgen, haben ein Interesse daran, dass die Konferenz von
Kopenhagen scheitert. Das muss man zunächst einmal
erkennen.
Für uns als verantwortlich handelnde Politiker können die Zweifel einiger Wissenschaftler, die diese teilweise durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauern können, nicht ausreichen, um zu sagen: Dann lehnen
wir uns zurück, die Mehrheit der Wissenschaftler hat
wohl unrecht. - Es besteht dringender Handlungsbedarf.
Ich bin froh, dass insoweit hier in diesem Haus ein großer Konsens besteht.
Die Europäische Union und insbesondere Deutschland haben beim Klimaschutz eine Führungsrolle über924
nommen. Der Ansatz der Europäischen Union, den Ausstoß von Emissionen um 30 Prozent zu reduzieren, wenn
sich andere Industrieländer ebenfalls dazu verpflichten
und sich auch die Entwicklungsländer daran beteiligen,
hat Vorbildfunktion. Man kann jetzt natürlich sagen: Das
reicht nicht, wir müssen noch etwas nachlegen. Aber die
Kanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Selbst wenn die Europäische Union die Emissionen auf null senkt, reicht
das noch lange nicht aus. Wir müssen doch gemeinsam
versuchen, das angestrebte Ziel zu erreichen.
({1})
Herr Gysi, Sie haben gesagt, als Ziel müsse man anstreben, den Ausstoß von Emissionen bis 2020 um
40 Prozent zu senken. Sicherlich haben Sie recht:
Grundsätzlich sollte das die EU anstreben. Man muss
kein Prophet sein, um zu sagen, dass die Kanzlerin das
ebenfalls gerne machen würde. Aber Sie müssen doch
auch sehen, dass die Kanzlerin wesentlich daran mitgewirkt hat, dass wir in der Europäischen Union so weit
sind, wie wir sind. Das sollte man doch einmal anerkennen.
({2})
Auch zur Forderung, die Mittel zur Soforthilfe für die
Entwicklungsländer von 7,2 Milliarden Euro auf welchen Betrag auch immer zu erhöhen, kann ich nur sagen:
Meine Damen und Herren, wir sind hier nicht auf einem
Basar. Wir müssen mit den Mitteln, die wir im Haushalt
haben, vernünftig umgehen, und wir dürfen kein Geld
verschleudern.
({3})
Zunächst einmal müssen Projekte entwickelt werden. Es
muss klar sein, für welche Ziele das Geld eingesetzt
wird.
({4})
Wenn das feststeht, dann kann man darüber reden, die
Mittel zu erhöhen. Dagegen hat niemand etwas.
({5})
Von einem erfolgreichen Klimaschutzabkommen
kann man letztlich nur sprechen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
Erstens. Jedes Land muss absolute Emissionsreduktionsgrenzen mitteilen. Die Entwicklungsländer müssen
mitteilen, um welchen Prozentsatz sie ihre Emissionen
reduzieren wollen. Was nutzen uns denn Effizienzangaben? Wir wollen doch Ziele erreichen. Wir haben uns bis
2020 bzw. 2050 Ziele gesetzt. Die bloße Aussage, die
Energie effizienter einsetzen zu wollen, reicht nicht;
denn dann haben wir überhaupt keinen Maßstab. Hier
muss China in jedem Fall deutlich nachbessern.
Zweitens. Die beteiligten Staaten müssen den Klimaschutz engagierter angehen. Ich bin der Meinung, dass
die USA im Moment leider nicht das machen, was im
Rahmen ihrer Möglichkeiten wäre. Eine Reduktion um
4 Prozent im Vergleich zu 1990 ist nicht ambitioniert.
Angesichts einer Pro-Kopf-Emission von über 19 Tonnen kann mir niemand sagen, dass man, wenn man da
ambitioniert herangeht, die Reduktionsmenge nicht noch
vergrößern könnte.
Wenn die Staatengemeinschaft jetzt oder zumindest in
sich unmittelbar anschließenden Folgeverhandlungen
nicht die Kurve kriegt, dann wird die Natur zurückschlagen. Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln. Ich kann
da den Amerikanern nur folgenden Gruß zurufen: Der
American Way of Life kann sehr schnell zu einem American Way of Death werden. Das muss erkannt werden.
Wir müssen jetzt handeln und dürfen Lösungen für diese
Problematik nicht auf die lange Bank schieben.
Drittens. Anerkannte und transparente Messverfahren sind einzusetzen. Es nutzt doch nichts, wenn wir
Lippenbekenntnisse verkünden. Man muss auch prüfen
können, was erreicht werden soll. Hierzu liegen bis dato
keine vernünftigen Angebote der Entwicklungsländer
vor.
({6})
Meine Damen und Herren, trotz allem Missmut, den
ich auch bei anderen Themen als Neuling in diesem
Hause in den letzten Wochen mitbekommen und kennengelernt habe, sollte man immer berücksichtigen, welche internationale Wirkung Äußerungen in diesem
Hause haben, dass wir alle an einem Strang ziehen
({7})
und dass die Politik im Ergebnis in die richtige Richtung
geht.
({8})
Jetzt rede ich auch gerne zu dem, was Frau Künast gesagt hat: Frau Künast, ich bin mir sicher, dass Deutschland mit der Bundeskanzlerin und dem Umweltminister
Norbert Röttgen bestens aufgestellt ist.
({9})
Wenn ich eines in den letzten Wochen festgestellt habe,
dann ist das Folgendes: Sie werden immer dann laut, Sie
werden immer dann unsachlich, wenn unser Personal gut
ist und wenn unsere Sachpolitik prima ist.
({10})
Ich jedenfalls kann der Bundeskanzlerin - damit
komme ich auch zum Schluss; ich will ja meine Redezeit
nicht überziehen - und ihrem Delegationsteam alles
Gute wünschen. Ich weiß, wir haben mit ihr, dem Umweltminister und dem Delegationsteam genau die Richtigen nach Kopenhagen entsandt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Kollege Seif, das war Ihre erste Rede im Hohen
Hause. Wir gratulieren Ihnen dazu recht herzlich und
wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit.
({0})
Das Wort hat Kollege Andreas Jung für die Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin heute früh, bevor sie
selbst nach Kopenhagen aufbricht, hier im Bundestag
noch einmal eindeutig die deutsche Position in der internationalen Klimapolitik dargestellt hat. Es ist deutlich
geworden: Es handelt sich um eine ambitionierte Position, wir nehmen eine Vorreiterrolle ein. Es ist auch
deutlich geworden: Wir wollen den Erfolg. Sie hat auch
klar gemacht: Erfolg heißt, dass es kein Zurückfallen
hinter die Marke des 2-Grad-Ziels geben darf. Ich
glaube, das ist als Grundlage für diese Verhandlungen
ganz entscheidend.
({0})
Ich finde, es ist auch richtig, dass die Bundeskanzlerin wie viele andere Staats- und Regierungschefs selbst
nach Kopenhagen gereist ist, um sich dieses Themas anzunehmen. Sie zeigt damit wie ihre Kollegen: Das
Thema ist Chefsache. Bisher - wir haben es in den letzten Tagen erleben können - verhandelt die deutsche Delegation unter der Führung des Bundesumweltministers
mit einer drängenden Rolle, mit einer Vorreiterrolle, mit
einer konstruktiven Rolle. Das wird in Kopenhagen in
der Breite auch anerkannt.
Die Konferenz - das haben wir heute Morgen den Tickermeldungen in aller Deutlichkeit entnehmen können befindet sich jetzt aber in einer Phase, in der die Verhandlungen stocken und es teilweise Blockaden gibt.
Deshalb ist es richtig, dass die Staats- und Regierungschefs den Klimaschutz als internationales Topthema zur
Chefsache machen, indem sie selber an den Verhandlungen mitwirken.
({1})
In der Tat ist dieser Einsatz notwendig. Er zeigt, Frau
Künast, dass nicht aufgegeben wird, dass die Flinte nicht
ins Korn geworfen wird. Die Kanzlerin wird auch in Kopenhagen deutlich machen, dass Deutschland die Vorreiterrolle einnimmt, die Sie einfordern. Sie haben einen
Wettbewerb gefordert, in dem wir vorangehen sollen.
Diesem Wettbewerb stellt sich die Bundesregierung. Sie
wartet nicht ab, welche Reduktionsziele andere auf den
Tisch legen. Sie macht ihre Position, wie es Rot-Grün
und die Große Koalition noch gemacht haben, also nicht
von dem abhängig, was andere in ein internationales Klimaschutzabkommen einzubringen bereit sind. Vielmehr
sind wir bereit, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren, und zwar ohne Wenn und Aber.
({2})
Das zeigt, dass Deutschland seine Vorreiterrolle erfüllt.
Frau Künast, ich wäre fast vom Stuhl gefallen, als
ausgerechnet Sie ausgerechnet uns vorgeworfen haben,
wir würden beim Thema Gebäudesanierung zu wenig
tun. Ich will daran erinnern, was die Große Koalition,
nachdem sie die rot-grüne Regierung abgelöst hat, getan
hat: Sie hat die Mittel für die Gebäudesanierung um
mehr als das Dreifache aufgestockt. Das wird jetzt fortgeführt. Wir machen also bei weitem mehr als Sie damals. Damit zeigen wir: Wir setzen uns Ziele und schreiten auch bei der Umsetzung offensiv voran.
({3})
Es ist wahr, dass jetzt die Industriestaaten in der
Pflicht sind. Deshalb drängen wir darauf - auch die Bundeskanzlerin hat das heute früh getan -, dass auch die
USA ihr Angebot aufbessern und einen größeren Beitrag
leisten. Wenn in Kopenhagen überall plakatiert ist:
„Welcome to Hopenhagen“, dann sind damit sicherlich
in allererster Linie die Amerikaner und Präsident Obama
gemeint; denn die gemeinsame Hoffnung ist darauf gerichtet, dass die USA die Blockade der Bush-Regierung
in der Klimapolitik aufgeben und offensiv vorangehen.
Frau Künast, Sie können sicher sein: Wenn Obama
die Blockade aufgibt und die USA offensiv vorangehen,
dann werden die Tränen, die fließen, Freudentränen sein;
denn es wird Freude darüber herrschen, dass wir in einen
konstruktiven Wettbewerb mit den USA und anderen um
die Führungsrolle unter den Industriestaaten eintreten
können.
Ich will zum Thema China kommen, das bereits angesprochen worden ist. China versucht auf diesem Gipfel, sich zum Sprachrohr der Armen dieser Welt zu machen. Ich glaube, diesen Versuch können wir China, das
zu einer Wirtschaftsmacht und zum weltweit größten
CO2-Emittenten herangewachsen ist, nicht durchgehen
lassen. Vielmehr müssen wir, wie es auch die EU tut,
deutlich machen: Auch die Chinesen müssen am Ende
ihren Beitrag leisten.
({4})
Das ist nicht nur unsere Position, sondern diese Position
wird auch von den ärmsten Entwicklungsländern unterstützt, gerade von den Inselstaaten, die gegenüber China
zum Ausdruck bringen: Wir spielen in einer anderen
Liga, und deshalb müsst ihr euch zu eigenen Beiträgen
verpflichten.
Darauf hinzuwirken, wird die Aufgabe der Bundesregierung, aber auch der Europäischen Union sein. Beson926
Andreas Jung ({5})
ders Deutschland und die Bundeskanzlerin drängen darauf, dass die EU sich verpflichtet, den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 bis 2020 um 30 Prozent zu verringern. Ich
will deutlich sagen: Für mich ist nicht vorstellbar, dass
wir am Ende dieses Gipfels hinter diese Ankündigung
zurückfallen; denn wir müssen unserer Vorreiterrolle, die
auch die EU für sich beansprucht, gerecht werden.
Ein weiterer Punkt ist die Finanzierung. Vonseiten
der EU und der Bundesregierung gibt es ganz konkrete
Angebote für die kurzfristige Perspektive bis 2012. Es
wurde ganz konkret von der Bundesregierung gesagt und
vom Bundesumweltminister vor Ort bestätigt, dass das
Geld, das dort fließt, zusätzlich obendrauf kommt und
nicht von dem Geld abgezweigt wird, das wir etwa für
die Armutsbekämpfung einsetzen. Das ist die entscheidende Botschaft.
({6})
Herr Kelber, wenn Sie und andere jetzt sagen, man
muss das 0,7-Prozent-Ziel erfüllen und man muss noch
zusätzliches Geld obendrauf legen, dann verlangen Sie,
dass die neue Bundesregierung in drei Monaten mehr
macht als Ihre Entwicklungshilfeministerin in drei Wahlperioden.
({7})
Diesen Versuch halte ich für unredlich. Sie zünden Nebelkerzen und tragen mit diesen falschen Informationen
dazu bei, dass nicht etwa Vertrauen wächst, das wir jetzt
dringend brauchen, sondern dass eher Misstrauen gesät
wird. Damit erweisen Sie dem Klimaschutz mit Sicherheit einen Bärendienst.
({8})
In den nächsten Tagen wird es um Folgendes gehen:
ambitionierte Reduktionsziele und Beiträge für die Finanzierung, auch langfristige Beiträge, die die EU auf
dem Europäischen Rat in Höhe von 100 Milliarden Euro
bis 2020 gesehen hat. Wenn man sich heute früh die Äußerungen Äthiopiens anschaut, dann kann man durchaus
eine Bewegung aufeinander zu feststellen. Das macht
uns Hoffnung.
Jetzt geht es darum, gemeinsam hinter der Bundeskanzlerin und dem Bundesumweltminister zu stehen.
Wir hoffen auf einen Erfolg des Gipfels in Kopenhagen.
Er darf nicht scheitern.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Den Letzten beißen bekanntlich die Hunde.
Aber der Letzte hat die Möglichkeit, die gesamte Debatte etwas zusammenzufassen.
Es war schon sehr interessant, die verschiedenen
Standpunkte zu hören. Da gab es die grüne Märchenstunde von Frau Künast. Man muss sich schon fragen,
warum Sie diese Polemik immer wieder vorbringen.
({0})
Ich möchte kurz auf die Regierungszeit von Rot-Grün
eingehen. Frau Künast, Sie sollten sich diese Zahlen einmal anhören. In sieben Jahren rot-grüner Regierungszeit
wurden die Aufwendungen für die Entwicklungszusammenarbeit um 300 Millionen Euro gesenkt, während in
der Zeit der rot-schwarzen Regierung ein Aufwuchs von
3,9 auf 5,7 Milliarden Euro zu verzeichnen war.
({1})
Ein weiterer Punkt, den die SPD geflissentlich verschweigt: Der letzte Haushaltsentwurf der rot-schwarzen
Regierung vom Juni wurde an der Stelle um noch einmal
44 Millionen Euro aufgestockt.
({2})
Da kann man doch wirklich nicht davon sprechen, dass
die Regierung die Ziele der Entwicklungsarbeit aufgegeben hätte.
({3})
Herr Kelber, ich komme jetzt zu Ihnen.
({4})
Sie sprachen davon, dass die 420 Millionen Euro, die
Deutschland zusätzlich für den Klimaschutz bereitstellen
möchte, Peanuts wären.
Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Koczy?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Lämmel, weil es jetzt um die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit geht, möchte ich
Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass Deutschland auch unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel bereit war, zuzusagen, die Entwicklungsgelder auf 0,51 Prozent des
Bruttonationaleinkommens im Rahmen des europäischen Stufenplans aufzustocken, und dass Sie mit dieser
von Ihnen angesprochenen Aufstockung um 44 Millionen Euro weit darunterliegen? Wahrscheinlich werden
stattdessen bis 2010 3 Milliarden Euro in dem entsprechenden Haushalt fehlen.
Verehrte Kollegin, mit den Quoten ist es immer so
eine Sache. Für mich ist die Frage der Quantität noch
lange nicht entscheidend für die Qualität.
({0})
- Herr Kelber, wir reden über Steuergeld. Es ist nicht Ihr
Geld, sondern es ist das Geld der Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler in Deutschland.
({1})
Bundeskanzlerin Merkel regiert immer noch. Das mag
Ihnen zwar nicht gefallen; aber sie wird zu den Zusagen
stehen.
Man muss natürlich sehen, dass auch in Deutschland
und Europa die Haushaltslage aufgrund der Wirtschaftsund Finanzkrise nicht besser geworden ist. Insofern erinnere ich Sie nur an Ihre Regierungszeit. Sie haben die
Mittel immer weiter gesenkt, während wir sie in den
letzten Jahren immer weiter angehoben haben.
({2})
Herr Kelber, jetzt zu Ihren 420 Millionen Euro, die
zumindest Ihrer Meinung nach Peanuts sind.
({3})
Auch das ist Steuergeld; das muss man immer wieder sagen. Es muss erst einmal erwirtschaftet und erarbeitet
werden, bevor wir mit einem lausigen Federstrich
420 Millionen Euro zusätzlich ausgeben können.
Außerdem ist es scheinheilig, was Sie hier betreiben;
denn Sie sagen nicht, dass die Aufwendungen Deutschlands für Klimaschutzmaßnahmen ein Vielfaches dieses
Betrages ausmachen. Sie verschweigen zum Beispiel,
dass die Verbraucher in Deutschland allein rund 27 Milliarden Euro aufbringen müssen, um im Rahmen der
Energiewende den Solarstrom zu bezahlen. Mit diesen
27 Milliarden Euro leisten die deutschen Verbraucher
- die Privatverbraucher genauso wie die Wirtschaft Entwicklungshilfe für China und Japan, weil der deutsche Markt mittlerweile zumindest zu 50 Prozent von
asiatischen und damit auch chinesischen Solarmodulen
beherrscht wird. Das haben Sie in Gang gesetzt.
({4})
Für uns gelten drei Kriterien, die außerordentlich
wichtig sind, wenn man den Erfolg der Klimaschutzkonferenz in Kopenhagen messen will:
Das Erste ist die Nachprüfbarkeit der Ziele. Darüber wurde heute schon diskutiert; dies ist enorm wichtig. Denn es spricht leider keiner mehr davon, dass
Deutschland eines der wenigen Länder in der Welt überhaupt ist, das die im Rahmen des Kioto-Protokolls eingegangenen Verpflichtungen annähernd erfüllt hat.
({5})
Die anderen haben sich teilweise sehr bemüht, weitere
haben sich heimlich vom Acker gemacht. Wir brauchen
hier ein klares Ranking, das im Internet veröffentlicht
wird, sodass jeder sehen kann, welche Verpflichtungen
eingegangen und welche Verpflichtungen erfüllt worden
sind.
Das Zweite ist die Transparenz der Geldflüsse. Ich
habe es schon gesagt: Es ist kein Wert an sich, über Millionen zu sprechen. Auch mir gehen 500 Millionen oder
Milliarden schnell über die Lippen. Die Frage ist, wofür
das Geld mit welcher Effizienz eingesetzt wird. Hier
brauchen wir Transparenz. Wir müssen wissen, um was
es überhaupt geht, welche Projekte damit finanziert werden können und ob dieses Geld dort ankommt, wo es seinen Effekt erzielen soll.
Das dritte Thema ist die Wettbewerbsneutralität. Es
ist klar, dass wir in Deutschland gewaltig in Vorleistung
gegangen sind. Wir haben schon große Probleme zum
Beispiel bei der stromintensiven Industrie, nämlich eine
Belastung des Strompreises durch Sie, Herr Kelber; Sie
sind ganz vorn mit dabei.
({6})
Wenn die stromintensive Industrie in andere Länder
zieht und vielleicht Arbeitsplätze in Entwicklungsländer
exportiert, dann steigen bei uns in Deutschland die Soziallasten.
Sie sollten sich eines vor Augen halten: Wenn die
Leistungsfähigkeit Deutschlands nicht so stark wäre, wie
sie ist - das ist der deutschen Wirtschaft zu verdanken -,
dann bräuchten wir uns doch überhaupt nicht über die
Milliarden zu unterhalten, die wir für diese Programme
zur Verfügung stellen können. Deswegen müssen wir die
Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten
und die Arbeitsplätze in Deutschland sichern. Daher gilt
es, im Rahmen des Klimaschutzabkommens gleiche
Wettbewerbsbedingungen überall in der Welt zu garantieren.
({7})
Die vorhin genannten Kriterien gelten für uns. Wenn
weltweit die gleichen Bedingungen eingehalten werden,
dann entwickelt sich aus der Klimaschutzkonferenz ein
Erfolg.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich in
den Diskussionen der letzten Wochen zurückgehalten.
({0})
Aber da heute Morgen immer wieder Zahlen genannt
worden sind, die verwirrend und falsch sind, will ich daran erinnern, wie der Stufenplan zur Steigerung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit entstanden ist.
Das 0,7-Prozent-Ziel ist zum ersten Mal in den 70er-Jahren festgelegt worden, aber ohne jede zeitliche Festlegung, ohne einen Stufenplan, wie die Mittel gesteigert
werden sollen.
Es gibt nur eine vergleichbare Zahl: Official Development Assistance. Diese Quote wird von der OECD
gemessen und ist für alle Länder vergleichbar. Am Ende
der Regierungszeit von Helmut Schmidt lag diese Zahl
bei 0,48 Prozent. Im Jahr 1998, am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl, lag der Wert bei 0,26 Prozent.
Das ist der Stand, den ich im Jahr 1998 als neue Entwicklungsministerin vorgefunden habe. Im Jahr 2001,
unter sozialdemokratischer Regierungsführung von
Gerhard Schröder, haben wir zum ersten Mal einen Stufenplan entwickelt. Dadurch sind überhaupt erst Steigerungen zustande gekommen. Damals wurde gesagt, dass
die Zahl bis 2005 EU-weit auf 0,33 Prozent steigen soll;
das haben wir erreicht. Im Mai 2005, auch noch in
Gerhard Schröders Regierungszeit, wurde der EU-Stufenplan festgelegt. Er sieht für den Zeitraum bis 2010
eine Steigerung der Zahl auf 0,51 Prozent vor; bis 2015
soll die Quote auf 0,7 Prozent steigen. Wir werden nun
im Jahr 2009 - so wird vermutet - einen Wert von etwa
0,41 Prozent erreichen.
Ich lege Wert darauf: Die Steigerung der Ausgaben
für Entwicklungszusammenarbeit ist maßgeblich unter
sozialdemokratischem Einfluss erfolgt.
({1})
Sie ist schrittweise erfolgt, gemäß dem Stufenplan, der
jetzt von anderen gebrochen wird.
({2})
Das ist die Wahrheit; diese sollte einfach zur Kenntnis
genommen werden.
({3})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Meine Damen und Herren! Es ist jetzt eine wilde Aufrechnerei in Gang gekommen,
({0})
die im Übrigen von Ihrer Rednerin begonnen wurde.
Keiner im Publikum kann überhaupt nachvollziehen,
was Sie hier alles darstellen.
Es bleibt festzuhalten, dass die Aufwendungen für
die Entwicklungszusammenarbeit in der Zeit der Großen Koalition von 3,9 auf 5,7 Milliarden Euro angestiegen sind. Es bleibt festzuhalten, dass die Mittel in der
Endphase der rot-grünen Koalition gekürzt wurden.
({1})
Es bleibt festzuhalten, dass das Ausgabevolumen im
neuen Haushaltsentwurf der schwarz-gelben Koalition
gegenüber dem Haushaltsentwurf der Großen Koalition
um weitere 44 Millionen Euro gesteigert worden ist.
({2})
Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege
Dirk Niebel das Wort.
Sehr geehrter Kollege, um die Verwirrung aus der Debatte zu nehmen, möchte ich Folgendes feststellen: Das
0,7-Prozent-Ziel ist im Koalitionsvertrag vereinbart.
Die Frau Bundeskanzlerin hat in der Regierungserklärung hier in diesem Hause festgestellt, dass bis zum
Jahre 2012 das 0,7-Prozent-Ziel erreicht werden soll.
({0})
Sie hatte darüber hinaus festgestellt, dass Entwicklungszusammenarbeit keine Neben-, sondern eine Hauptsache
für die neue Bundesregierung ist.
Es bleibt festzustellen, dass die erreichte Quote im
Jahre 2008 bei 0,38 Prozent lag, im Jahr 2009 vermutlich
bei 0,37 Prozent liegen wird und das Ausgabevolumen im
Haushaltsentwurf der neuen Bundesregierung für den
Einzelplan 23 - Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - im Vergleich zum letzten
Haushaltsentwurf der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Finanzminister Peer Steinbrück weiterhin anwächst, und zwar um 44 Millionen Euro Barmittel zusätzlich.
Das ist weniger, als wünschenswert ist. Vor dem Hintergrund der größten Wirtschafts- und Finanzkrise ist es
aber ein deutliches Signal, dass die entwicklungspolitische Zusammenarbeit für die neue Bundesregierung von
hohem Stellenwert ist. Sie wird auch in Zukunft mit diesem hohen Stellenwert betrachtet.
({1})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Eigentlich ist es nicht an mir, die Vertreter der jetzigen Regierungsmehrheit daran zu erinnern, was in ihrem
Koalitionsvertrag steht. Im Koalitionsvertrag steht
nämlich weder ein Zeitziel noch irgendein Stufenplan
für die Steigerung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Entweder nehmen Sie den KoalitionsverHeidemarie Wieczorek-Zeul
trag nicht ernst oder Sie haben sich nicht ausreichend um
das Thema gekümmert.
Ich will aus meiner eigenen Erfahrung nur sagen - ich
weiß, dass es manchmal sehr schwierig war -: Das Einzige, was zählt, sind nicht allgemeine Erklärungen, sondern Koalitionsverträge und entsprechende Stufenpläne,
die festgelegt sind. Wenn es schwierig wird, sind sie
nämlich der Referenzpunkt in der Auseinandersetzung
mit dem Finanzminister.
Sie haben bei diesen Fragen keinen Schwerpunkt
gesetzt und nicht aufgepasst, dass das entsprechend verankert wird.
({0})
Das wird sich rächen. Es tut mir leid, dass wir uns jetzt
und hier darüber auseinandersetzen müssen, aber ich
finde, Sie sollten Ihre Fehler auch einräumen.
({1})
Zur gerade entstandenen Verwirrung: Ich empfehle
uns allen, die Regeln zum Thema Kurzintervention und
die Gründe, wann man zu einem solchen Mittel greifen
kann, nachzulesen. Es geht einerseits um persönliche
Ansprache, andererseits um Auseinandersetzungen mit
Positionen. Insofern war es sicherlich möglich, der Kollegin Wieczorek-Zeul die Möglichkeit zur Erwiderung
zu geben. Es wäre auch möglich gewesen, anderen die
Möglichkeit einzuräumen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 2 bis 5. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/271, 17/260, 17/246 und 17/235 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag auf Unterbrechung unserer Sitzung zum Zwecke einer Fraktionssitzung gestellt. Ich unterbreche die Sitzung für circa
30 Minuten.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 17/182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Regelung der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksache 17/181 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Katrin Göring-Eckardt, Markus
Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes - Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für
Arbeitsuchende ({3})
- Drucksache 17/206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
({0})
- Ach, das ist billig, Herr Kolb.
({1})
- Herr Kolb, wenn Sie sonst nichts zu lachen haben in
Ihrer Koalition, ist das vielleicht ein ganz guter Anlass.
Es geht hier heute um ein ernsthaftes Thema. Es geht
- Frau Ministerin von der Leyen, ich freue mich, dass
zumindest Sie auf der Regierungsbank sind - um die
Frage, wie wir in einem Jahr, 2010/2011, in dem die
Massenarbeitslosigkeit droht zu steigen, in dem viele
Menschen nicht mehr Arbeitslosengeld I, sondern Arbeitslosengeld II beziehen, mit der Arbeitsverwaltung,
der Arbeitsvermittlung in diesem Lande umgehen. Frau
von der Leyen, in diesem Zusammenhang ist mir angesichts Ihres Auftrittes vor der Presse am Montag nach
der ASMK, nach der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, das schöne alte Lied von Herbert Grönemeyer und
Hubertus Heil ({2})
den Fantastischen Vier eingefallen, in dem es heißt: Es
könnte alles so einfach sein, ist es aber nicht.
Worum geht es? Es geht darum, dass wir Ihnen heute
einen Gesetzentwurf vorschlagen, durch den erreicht
werden soll, dass es in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit
nicht zu einem Chaos in der Arbeitsmarktpolitik zulasten
von Langzeitarbeitslosen kommt.
({3})
Deshalb bitte ich darum, dass Sie einmal mit Ihren Landräten reden,
({4})
mit den Jobcentern, mit Ihren Arbeitsministern und sich
ein altes Motto von Sir Karl Popper zu Gemüte führen,
nämlich dass gute Politik nichts anderes ist als pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken.
Wir präsentieren Ihnen heute einen Gesetzentwurf,
der schon einmal Konsens war zwischen der damaligen
Bundesregierung und allen Bundesländern. Er hat das
Ziel, die Verfassung zu ändern, um Zentren für Arbeit
und Grundsicherung zu schaffen. Wir wollen nicht zulassen, dass in diesen Zeiten mit Langzeitarbeitslosen
Pingpong gespielt wird. Wir wollen und brauchen Hilfe
aus einer Hand. Machen Sie den Weg dafür frei!
({5})
Das gilt auch für die Absicherung der 69 Optionskommunen. Wir sind bereit, das Grundgesetz zu ändern,
um dies zu ermöglichen. Frau von der Leyen, Sie wissen sehr gut, dass es viele verfassungsrechtliche Bedenken dagegen gibt, die Entfristung in Bezug auf die
69 Optionskommunen untergesetzlich oder gesetzlich zu
organisieren und nicht durch eine Grundgesetzänderung.
Reden Sie mit dem Deutschen Landkreistag, reden Sie
mit den Landräten von SPD und CDU bzw. CSU in
Deutschland darüber, welche Zunahme an Bürokratie
und Kosten zulasten der Kommunen es geben würde,
wenn die getrennte Aufgabenwahrnehmung, die Sie
wollen, Wirklichkeit würde. Ihr Vorschlag, nicht mehr
Hilfe aus einer Hand, sondern Hilfe unter einem Dach zu
organisieren, funktioniert deshalb nicht, weil es in dieses
Dach, auch verfassungsrechtlich, reinregnet. Deshalb
kann ich nur sagen: Frau von der Leyen, kommen Sie
zurück auf einen vernünftigen Weg!
({6})
Wir als SPD-Bundestagsfraktion werden Ihnen, wenn
Sie dazu bereit sind, alle Unterstützung geben, weil wir
in vielen Kommunen Verantwortung tragen und auch als
Oppositionsfraktion Verantwortung für die Menschen in
diesem Land, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind,
spüren.
Unser Vorschlag ist dreistufig. Wir sind bereit, die
Zusammenarbeit zwischen Arbeitsverwaltung und Kommunen dadurch verfassungsrechtlich abzusichern, dass
wir Zentren für Arbeit und Grundsicherung organisieren.
Wir sind bereit, das Optionsmodell verfassungsrechtlich
abzusichern. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir sind sogar bereit, mit Ihnen über eine moderate Erhöhung der
Zahl der Optionskommunen zu sprechen.
({7})
- Ja. Das ist ein Gesprächsangebot, das Sie bitte zur
Kenntnis nehmen.
Ich habe mit einer Reihe von CDU-Landräten gesprochen. Ich kenne den einstimmigen Beschluss des Niedersächsischen Landtages - wir kommen beide aus Niedersachsen, Frau von der Leyen -, in dem genau dies gewünscht wird: nämlich dass dafür gesorgt wird, dass es
keine getrennte Aufgabenwahrnehmung gibt, sondern
eine Zusammenarbeit im Interesse der arbeitslosen Menschen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Verunsicherung der Menschen, die in der Arbeitsvermittlung arbeiten, die Verunsicherung der in den Kommunen
Tätigen und vor allen Dingen die Verunsicherung der arbeitslosen Menschen sind eine Katastrophe.
({8})
- Herr Kolb, danke für Ihren Zwischenruf. Ich sage Ihnen: Wir hatten schon einmal eine Lösung.
({9})
Olaf Scholz hat eine Lösung organisiert, die mit allen
Ländern besprochen war. Blockiert wurde sie von der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({10})
Frau von der Leyen, ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit mehr Popper und weniger Kauder. Es geht nämlich
um pragmatisches Handeln, nicht um die Ideologie der
konservativen Führung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich erinnere daran, dass Herr Rüttgers und Herr
Laumann durch die Arbeit dieser CDU/CSU-Bundestagsfraktion im letzten Jahr geradezu blamiert wurden.
({11})
Es gab einen Konsens, den Herr Rüttgers, Herr Beck und
Herr Scholz ausgearbeitet hatten.
({12})
Wir machen Ihnen diesen Vorschlag in der Hoffnung,
dass Sie im Januar nächsten Jahres zu Potte kommen.
Ihre Eckpunkte stoßen auf keinerlei Akzeptanz.
Frau von der Leyen, eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Nachdem Sie von den Arbeits- und Sozialministern der Länder zweimal eine Klatsche bekommen haben - einmal gab es einen fast einstimmigen Beschluss,
mit dem sie sich im Grundsatz dagegen aussprachen; am
Hubertus Heil ({13})
vergangenen Montag haben sie Anforderungen formuliert, die sich nicht mit Ihren Eckpunkten decken -, stellten Sie sich vor die Presse und sagten: Ich habe mich
durchgesetzt. Alles ist in Ordnung. - Hier gilt Helmut
Kohls Aussage: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit. - Diesen Satz hat der Mann einmal gesagt, und an
diesem Punkt können wir diesen Satz beweisen.
Ich bitte Sie ganz herzlich, nicht kleinkariert und parteitaktisch zu denken nach dem Motto: Wir wollen die
Sozis nicht einbeziehen. - Wir brauchen eine Lösung,
die verfassungsfest ist, die den Lebensrealitäten der
Menschen und den Bedürfnissen der Kommunen entspricht. Deshalb legen wir Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, in dem zwei Grundgesetzänderungen vorgesehen sind. Wir wollen die Zentren für Arbeit und
Grundsicherung ein für alle Mal absichern, damit nicht
am 1. Januar 2011 in Zeiten steigender Massenarbeitslosigkeit Chaos ausbricht.
({14})
Sie stehen jetzt in der Verantwortung. Seien Sie bei diesem Thema klüger als Herr Jung - er hatte nicht viel
Zeit -,
({15})
und gehen Sie einen vernünftigen Weg. Wenn man sich
verlaufen hat, ist es keine Schande, dies einzugestehen
und umzukehren. Wir laden Sie herzlich dazu ein.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas
Dörflinger das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heil,
vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Sie heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf einbringen, hätte ich erwartet, dass Sie auch etwas zu Inhalt und Struktur dieses
Gesetzentwurfes sagen,
({0})
statt die Ihnen zur Verfügung stehenden sechs Minuten
für persönliche Angriffe auf die Ministerin zu nutzen.
Das war wenig überzeugend.
({1})
Ich habe einen Verdacht, weshalb das so und nicht anders geschehen ist, und habe mich an einen Werbespruch
für einen Schokoriegel erinnert. Vor ungefähr 15 Jahren
hieß es: „Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix.“
Sie wollen uns hier weismachen, die Arge heißt zukünftig ZAG, und sonst ändert sich nichts. Deswegen haben
Sie in der Substanz nichts zu Ihrem Gesetzentwurf gesagt.
Das Zentrum für Arbeit und Grundsicherung ist
aber etwas völlig anderes als die Arge. Zu dieser Erkenntnis kommt man schon allein aufgrund der Tatsache, dass die Arge bzw. § 44 b SGB II als verfassungswidrig eingestuft worden ist. Wäre beides das Gleiche,
wäre das ZAG logischerweise auch verfassungswidrig.
Was Sie hier tun, ist: Sie bauen eine Bürokratie sondergleichen auf
({2})
mit schätzungsweise 350 neuen Behörden,
({3})
neuen Verwaltungsstrukturen, neuen Haushaltsverantwortungen, neuen Personalbedarfen.
({4})
Das dient weder den Interessen der Beschäftigten vor
Ort, die gegenwärtig in einer Arge oder einer Optionskommune beschäftigt sind, noch dient es den Interessen
derer, die sich gegenwärtig im ALG-II-Bezug befinden.
({5})
Sie haben den Beschluss der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 13. März 2009, wenn ich das Datum richtig
im Kopf habe, erwähnt. Ich bitte um Verständnis, aber
ich muss Ihnen sagen: Ich bin stolz darauf, dass wir den
Scholz-Entwurf seinerzeit abgelehnt haben.
({6})
Ich habe nämlich an dem Freitag nach dieser Sitzungswoche mit dem Landrat in meinem Wahlkreis - Waldshut gesprochen. Tilman Bollacher hat mir gesagt - rufen Sie
ihn an! -: Gott sei Dank habt ihr es abgelehnt. Wir halten
das für keinen zukunftsfähigen Weg.
({7})
- Ich habe mit dem Deutschen Landkreistag geredet; das
liegt keine drei Tage zurück.
({8})
Da war wenig Gegenliebe für den von Ihnen vorgelegten
Gesetzentwurf spürbar.
Ich sehe durchaus die Berührungspunkte mit dem,
was der Deutsche Landkreistag vertritt, und ich will darauf auch zurückkommen; aber zunächst noch einmal zu
Ihrem Gesetzentwurf und zu dem, was an neuer Bürokratie und neuer Verwaltung entstünde. Schauen wir einmal in den Gesetzentwurf hinein!
({9})
Bitte schön. - Kollege Heil hat das Wort zu einer
Zwischenfrage.
Sehr geehrter Kollege Dörflinger, danke, dass Sie
meine Zwischenfrage zulassen.
Mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitiere ich
aus einem Brief des Niedersächsischen Landkreistages
an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff:
Der MK-Beschluss vom 25./26.11., dem auch Nieder-sachsen zugestimmt hat, bietet die Chance, eine
breite Mehrheit der Länder für eine Verfassungsänderung für ein Argen-Nachfolgemodell zu gewinnen. Nachdem da-rüber hinaus erste Signale erkennbar sind, dass bei der SPD-Bundestagsfraktion
auch Gesprächsbereitschaft für eine moderate Ausweitung der Option besteht, möchten wir im Namen
unserer Mitglieder eindringlich bitten, sich aktiv für
eine zukunftsgerichtete, befriedende und der sozialpolitischen Verantwortung von Bund, Ländern und
Kommunen gerecht werdende Lösung einzusetzen.
Können Sie bestätigen, dass das ein einstimmiger Beschluss des Niedersächsischen Landkreistages ist, dass
also die kommunale Front vollständig gegen das steht,
was Sie da vorhaben? Der Deutsche Landkreistag, der
Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche
Städtetag sind nicht Ihrer Meinung. Sie haben uns bisher
auch noch nicht erläutert, was Ihr Modell sein soll. Was
Sie anbieten, ist Chaos zulasten der Arbeitslosen, Herr
Dörflinger.
({0})
Zunächst einmal will ich der guten Ordnung halber
bestätigen, dass es diesen einstimmigen Beschluss gegeben hat.
Was die - wenn Sie mir diesen martialischen Sprachgebrauch erlauben - „Gefechtslage an der kommunalen
Front“ angeht, nehme ich Bezug auf ein Gespräch mit
dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages von vor drei Tagen. Professor Henneke hat in diesem
Gespräch ausdrücklich erklärt, dass er bei dem vom
Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit dem
Eckpunktepapier skizzierten Weg an der einen oder anderen Stelle noch Gesprächsbedarf sieht.
({0})
- Ich sage gleich dazu, dass wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ebenfalls Gesprächsbedarf sehen. - Im Kern
hat Professor Henneke den Vorschlag allerdings für eine
tragfähige Grundlage für die weitere Beratung gehalten.
Dass die SPD-Bundestagsfraktion auch für eine maßvolle Erweiterung der Anzahl der Optionskommunen
eintritt, ist völlig neu und steht weder im Gesetzentwurf,
noch war es Gegenstand der Beratungen.
({1})
- Frau Pothmer, immer mit der Ruhe! Ich habe das doch
gar nicht kritisiert.
({2})
Ich habe nur gesagt, dass es völlig neu ist. Wenn das tatsächlich substanziell so gemeint ist, dann können wir
gern darüber reden.
({3})
Ich fürchte bloß, dass das ein Windei ist.
Herr Kollege Heil, lassen Sie mich noch einmal auf
den Beschluss vom 13. März zurückkommen. Wir befinden uns in unserer Skepsis gegenüber dem seinerzeitigen
Gesetzentwurf aus dem Hause Scholz in guter Gesellschaft; denn in einem Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 23. September
2008 - auch damals war Olaf Scholz schon Chef in jenem Hause - heißt es:
Dieser Ansatz
- das Zentrum für Arbeit und Grundsicherung wird … abgelehnt.
Zur Begründung heißt es:
Entscheidender Nachteil bei einer vollständigen Eigenständigkeit der ZAG wäre die Kleinteiligkeit
des Verwaltungshandelns, wenn Fragen wie die der
Personalbewirtschaftung, der Haushaltsplanung und
der Liegenschaftsverwaltung dezentral in 370 Einheiten zu regeln wären, was insgesamt ineffizient
wäre.
Das war, wie gesagt, schon im September 2008 die Einschätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Einschätzung, dass Ihr Vorschlag nicht praktikabel ist, ist also keine Erfindung der CDU/CSUBundestagsfraktion, sondern wird offensichtlich vom federführenden Hause geteilt.
Ich will ein Wort dazu sagen, wie wir uns die Eckpunkte der Neukonzeption des SGB II vorstellen. Das
Ministerium hat ein Eckpunktepapier vorgelegt. In einigen Punkten dieses Eckpunktepapiers stimmen wir überein, zu einigen Punkten haben wir noch Gesprächsbedarf.
({4})
Erstens. Richtig ist - hierüber herrscht wohl großer
Konsens in diesem Hause -, dass wir für eine Entfristung bei den bestehenden 69 Optionskommunen eintreten.
({5})
Zweitens. Wir wollen die Leistungen so gut wie möglich - soweit dies das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 hergibt - aus einer Hand,
zumindest aber unter einem Dach organisieren. Ich
glaube, dass das auch ohne eine Grundgesetzänderung
möglich ist.
({6})
Ich sage an dieser Stelle: Ich will die Möglichkeit einer
Grundgesetzänderung nicht für alle Tage ins Nirwana
verweisen. Ich schlage keine Tür zu, Frau Pothmer, auch
vor dem Hintergrund des heute vorgelegten Gesetzentwurfs von Bündnis 90/Die Grünen nicht, der, wenn ich
richtig orientiert bin, nicht Gegenstand der Debatte ist.
({7})
Er traf erst gestern Abend bei mir ein. Ich hatte noch
keine Gelegenheit, ihn mir intensiv anzuschauen. Bei einem ersten kursorischen Durchsehen habe ich nur gewisse Unterschiede zu dem gesehen, was uns die Sozialdemokraten vorgelegt haben.
({8})
Ich sage von dieser Stelle aus zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich zu, dass wir uns diesem Vorschlag selbstverständlich mit der notwendigen Akribie widmen und ihn
ernsthaft prüfen werden. Ich will keine Tür von vornherein zuschlagen.
({9})
Ich sage auch, dass uns vor dem Hintergrund, dass
von 240 Kommunen, in denen sich gegenwärtig Arbeitsgemeinschaften befinden, sich 171 - Stand vorgestern schriftlich bereit erklärt haben, es den 69 bestehenden
Optionskommunen gleichzutun und zu optieren, wenn es
die Möglichkeit gäbe, die Pflicht auferlegt wird, die
Frage, ob wir die Möglichkeit, zu optieren, nicht nur
zeitlich verlängern, sondern auch quantitativ ausweiten,
noch einmal intensiv zu prüfen, anstatt diesen Vorschlag
einfach nur mit dem Argument vom Tisch zu fegen, das
sei verfassungswidrig.
({10})
Herr Heil, Sie haben vorhin gesagt: Reden Sie mit Ihren Landräten. - Ja, das tun wir gerne. Ich sage: Reden
Sie bitte auch mit Ihren Landräten;
({11})
denn ich gehe davon aus, dass die 171 Landräte nicht nur
die Landräte der Union und der FDP sind, sondern dass
auch sozialdemokratische Landrätinnen und Landräte
dabei sind, die von Ihnen an dieser Stelle ein konstruktives Verhalten erwarten. Dieser Erwartung schließen wir
uns an.
({12})
Ich sage dazu: Das ist ein kritischer Punkt im Hinblick auf das Eckpunktepapier des BMAS. Wenn wir die
Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts umsetzen - getrennte Aufgabenwahrnehmung, nach Möglichkeit unter
einem Dach -, dann erwarten wir ein Begegnen von
Kommune und Bundesagentur für Arbeit auf Augenhöhe.
({13})
Ohne zu sehr ins Detail einzusteigen, sage ich: Durch die
Vorgaben, die auch in der dritten Version des Eckpunktepapiers geliefert werden, wird noch nicht das erreicht,
was wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter einem Begegnen auf Augenhöhe vorstellen.
({14})
Hier herrscht noch Nachbesserungsbedarf; das will ich
ausdrücklich sagen.
({15})
Zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Ich komme unter
dem Stichwort „Verwaltungsaufbau und Bürokratie“
noch einmal im Detail auf den Gesetzentwurf zu sprechen. In Art. 1 § 5 ist die Trägerversammlung definiert;
das ist unstrittig. Interessant wird es in Art. 2. In § 18 b
geht es um einen Kooperationsausschuss, in § 18 c um
einen Bund-Länder-Ausschuss, in § 18 d um örtliche
Beiräte und in § 18 e - das ist immer noch Art. 2 - um
Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, direkt bei der Geschäftsführung angesiedelt.
({16})
Man stelle sich vor, dass die Gleichstellungsbeauftragte
in einem Landkreis zukünftig dem Kreistag berichtet,
der es zusätzlich noch mit einem Beauftragten oder einer
Beauftragten für Chancengleichheit zu tun hat, der bzw.
die gegenüber der Geschäftsführung der ZAG verpflichtet bzw. rechenschaftspflichtig ist. Wie das mit Verwaltungsvereinfachung und Bürokratieabbau zu vereinbaren
ist, ist mir völlig schleierhaft. Das ist kein Weg, den wir
mitgehen werden.
({17})
- Die Art und Weise, wie Sie reagieren, zeigt mir, dass
ich an dieser Stelle nicht ganz falsch liege; denn in der
Regel ist es so: Wer schreit, hat unrecht. Es gilt auch der
Satz, dass getroffene Hunde bellen.
({18})
Insgesamt erkenne ich durchaus an, dass durch den
neuesten Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz vom 14. Dezember etwas Bewegung in die
Diskussion gekommen ist. Die von Ihnen skizzierte einheitliche Front der Bundesländer gegenüber dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sehe ich zumindest nach diesem Beschluss nicht. Ich sehe vielmehr,
dass von dort signalisiert wird, dass das, was das BMAS
vorgelegt hat, durchaus als tragfähige Grundlage betrachtet werden kann, um für die Zukunft zu einer vernünftigen Regelung zu kommen.
({19})
Ich komme zum Schluss. Wenn wir ehrlich sind - das
gilt für alle Fraktionen in diesem Hause -, dann waren
die Konstruktion im SGB II und die Umsetzung des
Hartz-IV-Gesetzes insbesondere deswegen nicht optimal, weil sie unter erheblichem Zeitdruck erfolgten bzw.
erfolgen mussten. Das gilt sowohl für das Gesetzgebungsverfahren als auch für die Umsetzung vor Ort.
Deswegen sage ich: Jetzt eilt zwar die Zeit, da die Argen
bzw. die Optionskommunen nach dem 31. Dezember des
kommenden Jahres nicht mehr zulässig sind. Aber auch
wenn wir nur ein halbes Jahr Zeit für die Beratung im
Deutschen Bundestag und in den Ausschüssen haben,
dann sollten wir diese Zeit vernünftig nutzen, statt die
Zeit zum obersten Prinzip unserer Arbeitsweise zu erklären.
Insofern freue ich mich auf eine gute Beratung insbesondere der Eckpunkte aus dem BMAS. Der Gesetzentwurf, den uns die SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt
hat, ist keine tragfähige Grundlage für die Zukunft.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
dem Verfassungsgerichtsurteil sind jetzt zwei Jahre vergangen, in denen keine übergreifende Einigung gelang,
und wir haben noch ein Jahr bis zum Ablauf der Frist.
Ein Jahr ist eigentlich viel zu kurz, um eine mögliche
Umstrukturierung umzusetzen. Kurzum: Wir befinden
uns quasi in einem Dilemma. Frau von der Leyen, Sie
sind jetzt wahrlich nicht zu beneiden; denn selbst wenn
es FDP und CDU/CSU gelänge, sich auf ein Modell zu
einigen, dann wäre nicht auszuschließen, dass auch dieses Modell in ein, zwei Jahren vom Bundesverfassungsgericht gekippt würde. Das große Problem dabei ist, dass
uns eine Suppe eingebrockt wurde, die am Ende andere
auslöffeln müssen.
Da von der Organisationsreform Millionen Menschen
existenziell betroffen sind, ist äußerste Sorgfalt geboten.
Ich möchte aus Sicht der Linken darstellen, was unserer
Meinung nach auf gar keinen Fall passieren darf.
Erstens darf die Bundesagentur auf keinen Fall einfach so weiteragieren wie bisher.
({0})
Im Zuge der Hartz-Gesetze wurde aus dem Arbeitsamt
eine Agentur, in der alles betriebswirtschaftlich ablaufen
sollte. Auf der Strecke geblieben sind dabei der sozialpolitische Auftrag und die innerbetriebliche Demokratie. Wir als Linke sagen: Die Bundesagentur muss wieder demokratisiert werden, und sie muss ihren
sozialpolitischen Auftrag wahrnehmen.
({1})
Oberste Aufgabe der Bundesagentur ist es, dafür
Sorge zu tragen, dass niemand unter die Räder kommt.
Das heißt, es braucht eine andere Beratungsqualität.
Heute stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufig unter dem Druck, Einsparungen vorzunehmen. Es
gibt feste Einsparquoten, die zu erfüllen sind. Das ist in
den Beratungsgesprächen maßgebend. Wir meinen jedoch, dass die Hauptaufgabe in den Beratungsgesprächen darin besteht, die Menschen über ihre Rechte aufzuklären und dafür Sorge zu tragen, dass niemand unter
das Existenzminimum fällt.
({2})
Zweitens darf auf keinen Fall passieren, dass das drohende Chaos im Zuge einer möglichen Umstrukturierung am Ende auf dem Rücken der Erwerbslosen und der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Argen ausgetragen
wird. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es bei
Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II um existenzielle Leistungen geht. Wenn das Finanzamt bei der Einkommensteuerberechnung mal einen Fehler macht, dann
ist das ärgerlich, aber es hat keine existenziellen Folgen.
Im Bereich von Hartz IV geht es aber um Menschen, die
in der Regel kein finanzielles Polster haben, sodass jede
ungerechtfertigte Leistungsverweigerung sofort existenzielle Wirkungen hat. Deswegen ist das Mindeste, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der
FDP, was Sie angesichts dieses Dilemmas in die Wege
leiten sollten, dass Widersprüche endlich eine aufschiebende Wirkung haben.
({3})
Bisher ist das nicht der Fall. Es wird aber zu einem Problem, wenn eine Leistung unrechtmäßig verweigert
wird. Das kommt nicht selten vor. Wir alle wissen, dass
ein Großteil der Widersprüche erfolgreich ist. Einem
Drittel aller Widersprüche wird in Gänze stattgegeben.
Nur noch zur Erinnerung: Wir reden hier über Menschen, die kein finanzielles Polster haben. Wie wir wissen, scheiden sich an Hartz IV oft die Geister, ideologisch und ganz grundsätzlich. Aber die angesprochene
kleine Sofortmaßnahme ist nichts anderes als ein pragmatischer Schritt. Hier sollten Sie keine ideologische
Abwehrfront aufbauen, sondern die Sache in Angriff
nehmen.
({4})
Drittens. Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Um dieses Problem anzugehen, bedarf
es bundesweit einheitlicher Standards. Auf keinen Fall
darf das Problem der Erwerbslosigkeit auf die Kommunen abgewälzt werden. Vor allem darf sich der Bund
nicht zunehmend aus seiner finanziellen Verantwortung stehlen, wie wir es erst vor wenigen Tagen bei den
Abstimmungen über den Bundesanteil an den Kosten der
Unterkunft erleben konnten.
({5})
Als Hartz IV eingeführt wurde, wurden Leistungen
aus einer Hand versprochen. Nun droht möglicherweise
eine Zersplitterung, wenn sich das Modell des Bundesministeriums durchsetzt. Das hieße im Grunde zwei Anlaufpunkte, zwei Anträge und jede Menge mehr Bürokratie. Es droht ein Streit über Zuständigkeiten.
Gesetzt den Fall, dass es strittig ist, ob und welche Leistung jemand bekommt: Wer entscheidet dann? Die Kommune? Wie wir wissen, liegt die Fach- und Rechtsaufsicht bei den Ländern. Die Bundesagentur für Arbeit?
Wie wir wissen, liegt hier im Zweifelsfall die Rechtsaufsicht beim Bund. Vor diesem Hintergrund eines drohenden Chaos warnt der Deutsche Sozialgerichtstag aus gutem Grund davor, dass dann, wenn sich das Modell des
Bundesministeriums durchsetzt, mit einer Verdoppelung
der Zahl der Verfahren vor den Sozialgerichten zu rechnen ist. Als ob die Sozialgerichte schon heute nur Däumchen drehten!
({6})
Der Dachverband unabhängiger Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen fordert vor diesem Hintergrund aus
gutem Grund Folgendes: Wir fordern Leistungen aus einer Hand, nicht nur unter einem Dach. Wir fordern die
Aussetzung jeglicher Diskriminierung und Sanktionierung der Betroffenen. - Mit beiden Forderungen hat der
Dachverband recht. Es bedarf Leistungen aus einer
Hand, und es muss mit den Sanktionen Schluss sein,
wenn es um das Existenzminimum geht.
({7})
Die Debatte über die Organisationsstruktur der Jobcenter steht in recht engem Zusammenhang mit den
Hartz-IV-Reformen. Diese sind nun fast fünf Jahre in
Kraft. Insofern ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Das
Bundesministerium selbst hat vor wenigen Tagen Bilanz
gezogen. Wir meinen als Linke: Dieser Bilanz muss man
eine alternative Bilanz entgegenstellen. Fünf Jahre
Hartz IV bedeuten fünf Jahre Armut per Gesetz.
Hartz IV hat die Armut wirklich verschärft.
({8})
Es gibt eine offizielle Studie der Hans-Böckler-Stiftung,
die klar besagt: 60 Prozent der ehemaligen Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher haben
Verluste. Wir wissen zudem, dass die Regelleistung
deutlich unter der Armutsrisikogrenze liegt. Hartz IV hat
also die Armut verschärft.
({9})
Hartz IV hat aber nicht nur die Situation der Langzeiterwerbslosen verschlechtert. Hartz IV hat auch Auswirkungen auf die Situation derjenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben. Eine Studie des IAB hat uns das
schwarz auf weiß verdeutlicht. Im Zuge von Hartz IV ist
die sogenannte Konzessionsbereitschaft, das heißt die
Bereitschaft, niedrigere Löhne und ungesündere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, deutlich gestiegen. Das Ganze
läuft nach einem altbekannten Muster: Je schlimmer die
Situation der Erwerbslosen ist und je stärker Erwerbslose stigmatisiert werden, desto eher sind diejenigen, die
noch einen Arbeitsplatz haben, bereit, alles zu tun, um
nicht auch noch in die Erwerbslosigkeit zu fallen. Deswegen sagen wir: Die Kämpfe für gute Arbeit und die
Kämpfe für garantierte Rechte für Erwerbslose gehören
untrennbar zusammen.
({10})
Hartz IV verschärft auch die Abhängigkeiten zwischen Menschen, die zusammenleben und nach der Begrifflichkeit des Sozialgesetzbuches unter das Konstrukt
der Bedarfsgemeinschaft fallen. Ich möchte Ihnen das
an dem Fall einer alleinerziehenden Mutter skizzieren.
Sie hat lange Zeit als Floristin gearbeitet und musste
schon in dieser Zeit immer aufstockende Leistungen beziehen, weil ihr Einkommen nicht reichte. Sie hat zwei
Töchter und hat vor kurzem ihren Job verloren. Die eine
Tochter ist in der Pubertät, und die andere Tochter hat
nun einen Ausbildungsplatz als Bürokauffrau bekommen. Als die Tochter den Ausbildungsplatz bekam, hat
man sich gefreut, hat sogar ein bisschen gefeiert und geträumt. Als man dem Jobcenter aber den neuen Stand in
der Familie mitteilte, bekam die Frau zur Information:
Da die Tochter in der Ausbildung zur Bedarfsgemeinschaft gehört, wird die Ausbildungsvergütung voll angerechnet und werden die Leistungen des Jobcenters entsprechend verringert. Da die Tochter unter 25 Jahren ist,
darf sie nicht ausziehen und eine eigene Bedarfsgemeinschaft begründen. - Was ist denn das für ein Signal an
einen jungen Menschen, der sich gerade am Beginn seiner Ausbildung befindet?
Frau von der Leyen, Sie haben in Ihrem alten Ministerium deutlich bewiesen, dass der Begriff Geschlechtergerechtigkeit für Sie kein Fremdwort ist. Sie haben auch
im Ausschuss deutlich gemacht, dass Ihnen gerade die
Situation der Alleinerziehenden sehr am Herzen liegt.
Bei dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft besteht im
Sinne der Geschlechtergerechtigkeit unglaublich viel
Handlungsbedarf. Wir als Linke meinen: Dieses Konstrukt gehört abgeschafft.
({11})
Hartz IV bedeutet auch Ausgrenzung und Stigmatisierung per Gesetz. Sie wissen, dass Sozialdetektive eingesetzt wurden, die den Erwerbslosen teilweise sogar bis
in die Schlafzimmer nachspioniert haben.
({12})
Aus all diesen und vielen anderen Gründen mehr gilt für uns
als Linke nach wie vor: Hartz IV muss weg, Hartz IV muss
überwunden werden.
({13})
Es ist für uns nicht hinnehmbar, dass in diesem Land
die Unterhaltszahlungen für Menschen gekürzt und diese
sogar bis auf 0 Euro reduziert werden. Es ist für uns
nicht hinnehmbar, dass über die Stigmatisierung von Erwerbslosen Druck auf die Löhne und damit auf die
Beschäftigten ausgeübt wird. Wir haben Ihnen schon
viele Vorschläge unterbreitet, wie man unserer Meinung
nach Hartz IV überwinden kann. Wir haben Sie mit konkreten Alternativen wie einer sanktionsfreien Mindestsicherung konfrontiert. Das werden wir auch weiter machen.
Für den womöglich eintretenden Fall, dass Sie sich im
Laufe dieser Wahlperiode noch nicht für unser Modell
der sanktionsfreien Mindestsicherung begeistern können, was ich sehr bedauern würde, möchte ich Sie an
eine kleine Maßnahme erinnern, die ich bereits genannt
habe: Sorgen Sie dafür, dass Widersprüche wenigstens
eine aufschiebende Wirkung haben! Vor uns stehen viel
Chaos und Unsicherheit. Sie haben jetzt die Verantwortung dafür, dass diese Politik nicht auf dem Rücken derjenigen ausgetragen wird, die wahrlich nichts dafür können, nämlich auf dem Rücken der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Argen sowie dem der Erwerbslosen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ohne Zweifel ist die Organisation der Grundsicherung
und einer erfolgversprechenden und auch flexiblen Arbeitsvermittlung für Langzeitarbeitslose das derzeit
wichtigste und, wie ich finde, auch das derzeit drängendste Problem im Fachgebiet Arbeit und Soziales. Wir
werden diese Aufgabe zügig angehen. Ich will aber, bevor ich ins Detail gehe, wenigstens eines vorab als gemeinsamen Nenner festhalten, was nicht immer in diesem Hause unstrittig war. Ich glaube, dass man aus
heutiger Sicht sagen kann, dass sich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Grundsatz
bewährt hat. Daran sollten wir auf jeden Fall festhalten.
Das ist das, was uns als gemeinsames Leitmotiv begleiten kann.
({0})
Allerdings müssen wir sehen, dass bei der Organisation der Argen Fehler gemacht wurden. Die müssen wir
jetzt ausbügeln. Diese Fehler fallen in die Verantwortung
eines SPD-Ministers.
({1})
Federführend war damals das SPD-geführte Arbeitsministerium,
({2})
und, Herr Heil, wir haben Zeitdruck, was nicht unwesentlich Ihre Schuld ist.
({3})
Wir haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
seit Dezember 2007.
({4})
- Ich weiß doch, was zwischenzeitlich passiert ist. Aber selbst wenn Sie sich auf den Beschluss der Unionsfraktion vom 13. März beziehen, waren es immer noch
sechs Monate zwischen dieser Entscheidung und der
Bundestagswahl, ein Sechstel der Gesamtfrist, die uns
das Bundesverfassungsgericht gegeben hat.
({5})
Ich werfe Olaf Scholz vor, dass er mit dem Kopf durch
die Wand wollte, sich versteift hat
({6})
und nicht seinem Auftrag und seinem Amtseid gemäß
versucht hat, das Mögliche tatsächlich in einem Bundesgesetz zu formulieren.
({7})
- Das ist keine Geschichtsklitterung.
({8})
Wir müssen jetzt versuchen, in der verbleibenden
Zeit, in den restlichen zwölf Monaten, das Problem zu
lösen. Wir haben am 26. Oktober unsere Koalitionsvereinbarung unterzeichnet. Schon am 18. November hat
das Kabinett in Umsetzung dieser Koalitionsvereinbarung das notwendige Verfahren auf den Weg gebracht.
Am 26. November und am Montag dieser Woche haben
sich die Arbeits- und Sozialminister der Länder zweimal
mit einem ständig weiterentwickelten Eckpunktepapier
des BMAS beschäftigt. Das Kabinett wird sich demnächst mit den neuen Zwischenergebnissen befassen.
Dann wird die Ministerin diese Eckpunkte vorstellen.
Wir werden zügig ein Gesetzgebungsverfahren einleiten.
({9})
Schneller kann man das nicht machen. Das will ich für
uns hier ausdrücklich in Anspruch nehmen.
({10})
Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brandner?
Ja, bitte.
Herr Abgeordneter Kolb, können Sie bestätigen, dass
die Entwicklung des SGB II eine lange Geschichte ist,
bei der die Länder entsprechende Mitbestimmungsrechte
hatten, und dass der Kompromiss in einem Vermittlungsverfahren zustande gekommen ist? Sie erinnern sich an
die Nachtsitzungen des Vermittlungsausschusses und die
großen Sorgen, die dort geäußert wurden. Der Gesetzgeber hatte eine klare Ordnungsregelung vorgegeben, die
die jeweiligen Zuständigkeiten eindeutig regelte. Die
Länder hatten aber eine andere Auffassung, die sie im
Vermittlungsausschuss einbrachten.
Wie Sie wissen, hat das Bundesverfassungsgericht
später gesagt: Diese Regelung ist so nicht verfassungskonform. - Daraufhin hat gerade Minister Scholz erneut
Vermittlungsvorschläge erarbeitet, und zwar immer mit
dem Ziel, ein solches Vermittlungsverfahren, das nicht
korrigierbar ist, möglichst auszuschließen. Vor diesem
Hintergrund haben alle Länder einen Vorschlag erarbeitet, der mit 16:0 Stimmen angenommen wurde und der
auch die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion
fand. Anders war es bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Sie signalisierte teilweise Unterstützung, teilweise
nicht. Wollen Sie dem Minister unter diesem Gesichtspunkt nach wie vor unterstellen, nicht alles darangesetzt
zu haben, in einem Kompromissverfahren zu einem
Vorschlag zu kommen, der praktikabel ist und der sowohl für die Beschäftigten als auch für die Arbeitslosen
Rechtssicherheit bietet?
({0})
Herr Kollege Brandner, der Ablauf, also die Historie,
ist mir durchaus geläufig. Ich muss allerdings sagen:
Knapp vorbei ist auch daneben - das ist eine Erfahrung,
die man im Leben gelegentlich macht -, und einer hat
den Hut auf.
({0})
In diesem Fall war das der Bundesminister für Arbeit und
Soziales. Er muss versuchen, die Dinge zusammenzuführen. Da, wo man sieht, dass es Widerstände gibt und dass
man nicht weiterkommt, muss man auch einmal ein Stück
zurückgehen und einen neuen Anlauf nehmen. Dafür waren auch nach der Entscheidung der Unionsfraktion noch
sechs Monate Zeit, und ein neuer Anlauf ist offensichtlich nicht versucht worden.
({1})
Stattdessen hat man den Entwurf in die Schublade gelegt, offensichtlich in der Hoffnung, dass durch Gärung
etwas Besseres daraus wird. Aber nicht alles, was gärt,
Herr Brandner, ist wie ein aufgehender Hefekuchenteig.
Manchmal verbirgt sich dahinter auch ein ordinärer
Misthaufen; das muss man sagen. Das eine vom anderen
zu trennen, ist die Kunst, auf die es ankommt.
({2})
Was ich sagen will, ist, Herr Brandner - das muss uns
jetzt auch leiten bei dem, was in den kommenden zwölf
Monaten zu bewältigen ist -: Die Fäden müssen zusammengeführt werden. Das Eckpunktepapier ist - das
sagt jedenfalls eine deutliche Mehrheit der Konferenz
der Arbeits- und Sozialminister - eine gute Basis für die
jetzt beginnende Diskussion und für den Gesetzgebungsprozess. Es sollte unser gemeinsames Interesse sein, diesen Prozess in höchstens zwölf Monaten - ich bin dafür,
dass es deutlich schneller geht - zu einem Abschluss zu
bringen.
Es ist falsch, Herr Heil, sich jetzt zu versteifen - das
passiert heute in der ersten Lesung der von der SPD und
den Grünen eingebrachten Gesetzentwürfe - und zu sagen: Die ZAG sind das allein Seligmachende. Die Grünen sagen: Wir wollen die Argen in ihrer heutigen Form
absichern. Sie sind sogar offen dafür, das Modell der
Optionskommunen auszuweiten. Die Mehrheit der Länder hat eine eigene Position. Wenn es so weitergeht, dass
jeder auf dem beharrt, was er sich vorstellt, werden wir
am Ende keinen Erfolg haben, und das ginge zulasten
der arbeitsuchenden Menschen in Deutschland, die von
der Grundsicherung leben müssen.
({3})
Das sollten wir nach Möglichkeit vermeiden. Dieser
Meinung bin ich schon.
({4})
Sie haben heute immerhin - das will ich würdigen,
Herr Heil - ein Signal gegeben, indem Sie gesagt haben:
Wir sind am Ende sogar bereit, über eine moderate Erhöhung der Zahl der Optionskommunen zu reden. Aber
das kann nicht die Lösung des Problems sein. Die Landesminister sehen das offensichtlich anders. Ich verstehe
den am Montag gefassten Beschluss so, dass sie folgende Auffassung vertreten: Wir wollen denjenigen, die
optieren wollen, das einmalig ermöglichen. Für alle anderen, Bundesagentur und Kommune, bleibt die getrennte Aufgabenwahrnehmung in Form einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe. - Sie müssen einmal erklären
- Sie melden sich ja gerade zu einer Zwischenfrage,
Herr Heil -, ob Sie unter einer „moderaten Erhöhung“
auch eine Erhöhung auf 170 oder 175 Optionskommunen verstehen. Wenn nein, ist die Frage, woran Sie die
Möglichkeit der Option knüpfen wollen, welche Optionskommunen Sie zulassen wollen und welche außen
vor bleiben müssen. Darüber müssen wir diskutieren.
Wir können direkt in die Diskussion einsteigen, wenn Ihnen die Präsidentin eine Zwischenfrage erlaubt.
Wenn Sie mir die Chance geben, Sie zu fragen, ob Ihnen der Kollege Heil eine Frage stellen darf, werde ich
das tun.
Logisch.
Bitte.
Lieber Kollege Kolb, danke für die Gelegenheit, dass
Sie erlauben, dass die Präsidentin eine Zwischenfrage
zulässt.
Ich darf Sie daran erinnern und das in eine Frage kleiden: Haben Sie meine Rede dahin gehend richtig verstanden, dass wir drei Dinge als eine Einheit sehen: erstens eine grundgesetzliche Absicherung der Zusammenarbeit von Bundesagentur und Kommunen in Fortführung der gemeinsamen Arbeit über das ZAG, zweitens
eine verfassungsrechtliche Absicherung der Möglichkeit, zu optieren, und drittens eine Diskussion über eine
moderate Erhöhung der Zahl der Optionskommunen?
Diese Punkte sind eine Einheit, bei der man sich nicht
nur einen herauspicken darf.
Ich frage Sie deshalb, ob Ihnen folgender Beschluss
bekannt ist, nachzulesen im Heft Der Landkreis, herausgegeben vom Deutschen Landkreistag im Oktober 2009,
der von allen kommunalen Spitzenverbänden getragen
wird:
Zur dauerhaften Absicherung einer rechtlich zweifelsfreien Aufgabenerfüllung votierten die kommunalen Spitzenverbände für eine Grundgesetzänderung, in der eine gemeinsame Aufgabenwahrnehmung von Kommunen und Arbeitsagenturen in
den Arbeitsgemeinschaften ebenso ermöglicht
werde wie die Erfüllung aller Aufgaben durch Optionskommunen …
Das ist die Ansicht der kommunalen Familie. Wollen Sie
ihr widersprechen?
Herr Kollege Heil, ich will auf eines aufmerksam machen: Wir sind immer relativ schnell dabei, über Grundgesetzänderungen zu reden. Solange es nur pauschal
um dieses Thema geht, sind alle dabei und sagen: Da
machen wir mit. - Aber wenn man dann schaut, wo das
Grundgesetz genau geändert werden soll, welche Regelung eingeführt werden soll, damit diese oder jene Konstruktion möglich wird, dann ist es relativ schnell vorbei
mit der Einigkeit. So wird es aber nicht gelingen.
Ich bin der Meinung, wir sollten - ein Stück weit verstehe ich den Beschluss vom Montag auch so - uns zunächst einmal fragen: Brauchen wir denn an der einen
oder anderen Stelle überhaupt eine Verfassungsänderung?
({0})
- Nein, da sind Sie mir zu schnell, Frau Pothmer.
({1})
Sie haben schon in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben,
dass Sie dies fordern, um die Existenz von Optionskommunen auf Dauer zu ermöglichen. Sie gehen davon aus,
dass wir dafür eine Grundgesetzänderung brauchen. Mir
liegen aber Stellungnahmen vor, in denen es heißt: Das
kann man auch anders sehen.
({2})
Das muss ausgelotet werden. Ich habe große Bedenken,
Frau Kollegin Pothmer, dass wir jetzt alle auf eine
Grundgesetzänderung dringen, aber am Schluss feststellen: Es gibt gar keine Zweidrittelmehrheit für die eine allein selig machende Lösung.
({3})
Dann sind aber wieder ein paar Monate ins Land gegangen.
Lassen Sie uns einmal sehen, was einfachgesetzlich
geht.
({4})
Ich glaube, die Erhöhung der Zahl der Optionskommunen ist auch einfachgesetzlich möglich.
({5})
- Herr Heil, es gibt durchaus ernstzunehmende unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema. Sie kennen
die vorliegenden Gutachten genauso gut wie ich. Ich
glaube nicht, dass man sich schon auf das eine oder andere versteifen sollte. Wenn wir das tun, dann kommen
wir am Ende nicht zusammen.
({6})
- Frau Kramme, Sie müssen Ihr Herz über die Hürde
werfen. Bei dem Vorschlag einer moderaten Erhöhung
der Zahl der Optionskommunen kommt zum Ausdruck,
dass Sie über die Optionen nicht richtig glücklich sind;
Sie waren es von Anfang an nicht. Sie wollten die Optionskommunen nicht, weil Sie das Bundessozialamt, die
zentrale Lösung, wollen, wohingegen wir die individuelle Lösung im Interesse der Menschen vor Ort anstreben.
({7})
Diesen Unterschied kann ich zwischen uns feststellen.
Die SPD gibt sich in Sonntagsreden immer gerne kommunalfreundlich. Aber wenn es dann um die Wurst geht
- Butter bei die Fische -, wenn es darum geht, all diejenigen, die optieren wollen, auch optieren zu lassen, dann
sind Sie für die zentralen, durchorganisierten Einheitsstrukturen. Genau an dieser Stelle treffen Sie auf unsere
Bedenken. Wir wollen und tun das jedenfalls nicht.
Kollege Kolb, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, in diesem Fall von der Kollegin Pothmer?
({0})
- Das hat sich erledigt. Entschuldigung.
Schade. Die Zwischenfrage hätte ich gerne beantwortet. - Ich meine, wir sollten jetzt wirklich einmal mit
dem Zusammenführungsprozess anfangen.
({0})
Die Diskussion darüber muss auf Basis des Eckpunktepapiers des BMAS erfolgen.
({1})
- Weil das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zuständig ist und die Ministerin an dieser Stelle
- ich habe ja gesagt, irgendwer hat immer den Hut auf diejenige ist, die die Diskussion voranbringen wird.
Ich finde, dass das Papier die Ausgangslage durchaus
richtig beschreibt. Wir müssen das ernst nehmen, was
die Mehrheit der Sozialminister beschlossen hat; wir
müssen aber auch das ernst nehmen, was die Minderheit
- fünf haben ja dagegen gestimmt; Mecklenburg-Vorpommern hat sich enthalten - vertritt. Wir müssen auch
ein offenes Ohr für die Kommunen haben, die zu Recht
befürchten - diese Befürchtung sollten wir ernst
nehmen -, dass sie neben der übermächtigen BA ein
Stück weit ins Hintertreffen geraten könnten.
Im Papier stehen ja auch deutliche Prüfaufträge. Ich
will einmal den aus meiner Sicht wichtigsten nennen,
weil meine Redezeit trotz der Zwischenfragen jetzt langsam zu Ende geht: Da geht es um die Prüfung von Tatbestandsvoraussetzungen, die dann auch eine Bindungswirkung für die Kommunen hätten.
({2})
- Frau Kramme, Sie wissen schon wieder alles besser.
Ich sage: Wir müssen das Problem ernst nehmen und
schauen, wie man es lösen kann.
({3})
Das ist die Erwartungshaltung, die die Länder haben.
Wenn wir angemessene Antworten finden, dann werden
wir am Ende auch Mehrheiten in beiden Kammern, im
Bundestag und im Bundesrat, bekommen. Wenn man
jetzt wie Sie mit dem Kopf durch die Wand will und sich
auf die Position zurückzieht: „Das wollten wir schon immer“,
({4})
dann wird das nicht funktionieren. Sie müssen dann auch
Verständnis dafür haben, dass wir auf die Position eines
Partners, der sich so verhält, im Hinblick auf eine mögliche Grundgesetzänderung nicht eingehen können. Sie
zeigen bisher keine Flexibilität; diese lassen Sie vollständig vermissen. Das ist aus unserer Sicht dann auch
ein Problem.
({5})
Ich finde, der Beschluss vom Montag verfolgt insgesamt eine gute Linie. In den Ziffern 3 und 4 werden ja
wichtige Punkte aufgezeigt. Es heißt dort nicht nur, dass
die Zahl der Optionskommunen erweitert werden soll,
sondern auch, dass wir weiterhin bereit sind, über eine
Verfassungsänderung zu diskutieren.
({6})
Das ist eine umfassende und breite Plattform, auf der wir
uns alle zum Gespräch zusammenfinden können und
sollten.
({7})
Die Art und Weise, wie SPD und Grüne heute ihre
Vorschläge präsentiert haben,
({8})
nämlich nach dem Motto: „Wir wissen schon am besten,
wie es geht“, ist jedenfalls am Ende weder effektiv noch
zielführend. Deshalb fordere ich Sie auf: Gehen Sie in
sich! Nehmen Sie das Gesprächsangebot an! Wir sind in
den Ausschussberatungen zu Gesprächen bereit. Ich
freue mich darauf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Dörflinger, ich fand Ihre Rede sehr interessant, weil Sie
hier deutlich gemacht haben, dass Sie durchaus bereit
sind, über das hinauszugehen, was in der Koalitionsvereinbarung beschlossen worden ist. Das ist ein sehr wichtiges und ein sehr deutliches Signal. Das ist auch angekommen.
Ich will hier nichtsdestotrotz noch einmal darüber reden, was diese Koalition eigentlich vorschlägt, also worauf Sie sich in ihrer Koalitionsvereinbarung verständigt
haben, nämlich auf eine getrennte Trägerschaft mit der
Möglichkeit freiwilliger Kooperation. Mit diesem Modell gehen Sie ins Rennen. Das heißt nichts anderes, als
dass sich die Behörden trennen müssen, um dann wieder
zusammenzuarbeiten. Übertragen auf ein Paar würde das
bedeuten: Sie zwingen das Paar zur Scheidung, hinterher
muss es dann aber zusammenwohnen, allerdings nicht
unter den alten Bedingungen einer gleichberechtigten
Partnerschaft, sondern unter den Bedingungen eines Patriarchats. Nach Ihrem Modell hat nämlich nur die BA
das Sagen; die Schlüsselgewalt liegt allein bei der BA.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU
- es sind ja immer mehr Kollegen bei Ihnen als Kolleginnen -, ich möchte Ihnen eines sagen: Nicht nur die
Frauen lassen sich das nicht mehr bieten,
({0})
auch die Kommunen sind selbstbewusster geworden.
Mit einem solchen Modell kommen Sie nicht durch.
({1})
Nein, eine getrennte Aufgabenwahrnehmung ist
wirklich die denkbar schlechteste Lösung. Daran ändert
auch die Möglichkeit zur freiwilligen Kooperation
nichts. Sie ist schlecht für die Arbeitsuchenden. Sie schicken diese wieder von Pontius zu Pilatus.
({2})
Das ist endgültig das Ende der Hilfe aus einer Hand.
Zugleich wird auf diese Weise eine Unmenge an
Geld verschlungen. Berechnungen zufolge sind es
800 Millionen Euro jährlich mehr an Verwaltungskosten,
Geld, das von der Verwaltung gefressen wird und das
keinem Arbeitslosen und keiner Arbeitslosen zur Verfügung steht.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Peter Weiß?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Pothmer, weil Sie Ihre Rede mit einer
dramatischen Trennungsgeschichte gestartet haben,
({0})
frage ich Sie: Würden Sie bitte den Kolleginnen und
Kollegen in diesem Hohen Hause und auch der Öffentlichkeit bestätigen, dass die sogenannte getrennte Aufgabenwahrnehmung nach dem Sozialgesetzbuch II bereits
heute möglich ist und dass es in Deutschland eine ganze
Reihe von Landkreisen gibt,
({1})
die sich freiwillig dazu entschlossen haben, keine Arge
gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit zu gründen, sondern eine getrennte Aufgabenwahrnehmung zu
verfolgen,
({2})
und würden Sie zweitens bestätigen, dass man, wenn
man die Rankinglisten in Bezug auf die Aktivierung von
Langzeitarbeitslosen und deren Vermittlung in den Arbeitsmarkt anschaut, feststellt, dass unter den Besten der
Besten Argen, Optionskommunen und Landkreise mit
getrennter Aufgabenwahrnehmung sind?
Lieber Herr Weiß, ich bestätige gerne, dass es schon
jetzt ungefähr 20 Kommunen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung gibt. Es ist allerdings nicht so, dass diese
erst geschieden werden mussten; sie haben immer
getrennt voneinander gelebt, Herr Weiß. Die Ergebnisse
von deren Arbeit kommen allerdings nicht an die Ergebnisse der Arbeit der Argen und einiger Optionskommunen heran.
({0})
Ich weiß nicht, welche Untersuchungen Sie lesen. Eine
Studie des IAQ jedenfalls kommt genau zu einer gegenteiligen Feststellung. Das ist ein weiterer Grund, warum
wir sagen, dass die getrennte Trägerschaft keine Perspektive hat. - Ich danke Ihnen für Ihre Frage; das war
meine Antwort.
({1})
Ich war gerade dabei, zu erläutern, warum die getrennte Aufgabenwahrnehmung eine schlechte Lösung
ist. Ein weiterer Grund ist, dass sie unpraktikabel ist. An
dem Papier der Ministerin können Sie sehen, was das für
ein Gewürge wird. Das lässt sich verwaltungsmäßig
überhaupt nicht vollziehen.
Zudem ist es ein bürokratischer Irrsinn. Frau Kipping,
Sie haben gesagt, die Zahl der Verfahren vor den Gerichten werde sich verdoppeln. Nein, die Zahl der Verfahren
wird sich verdreifachen;
({2})
denn die Länder haben darauf bestanden, ebenfalls gegen die Bundesagentur für Arbeit klagen zu können. Das
heißt, nicht nur die Betroffenen klagen gegen die Kommunen und die BA, sondern auch die beiden Träger
befehden sich vor Gericht.
Herr Kolb, jetzt müssten Sie mir einmal sagen, ob es
das ist, was Sie unter Bürokratieabbau verstehen.
({3})
Außerdem wüsste ich gerne, ob Sie das meinen, wenn
Sie sagen, die Arbeit der Jobcenter solle einfacher und
wirksamer werden. Ich komme gleich wieder mit meiner
Koralle, wenn das so weitergeht!
({4})
Im Übrigen hätten Sie die getrennte Aufgabenwahrnehmung längst haben können. In der letzten Legislaturperiode, unmittelbar nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, hat Herr Scholz dieses Konzept dem Hohen
Hause vorgelegt, und wir haben es mit, wie ich finde,
guten Gründen abgelehnt.
Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was der Kollege
Niebel für die FDP zur getrennten Aufgabenwahrnehmung gesagt hat: Eine geteilte Verantwortung bedeutet
Zuständigkeitschaos und doppelte Bürokratie. - Ein kluger Mann! Das gilt nicht für seine Position im Entwicklungsministerium; aber in dieser Frage hatte er einmal
recht.
({5})
Man sieht ja auch: Die Allianz der Gegner wird immer breiter. Die Länder akzeptieren das ausdrücklich
nicht. Es ist eine Falschinterpretation, Frau Ministerin,
wenn Sie das anders darstellen. Die Kommunen sind
strikt dagegen. Herr Kolb, 169 Kommunen
({6})
haben sich nach einer Umfrage des Landkreistages jetzt
noch einmal für die Option entschieden - aber doch auch
unter dem Damoklesschwert der getrennten Aufgabenwahrnehmung! Das muss man deutlich sagen.
({7})
Die Wohlfahrtsverbände sehen die Interessen der Arbeitslosen gefährdet.
Nach der Rede, die wir heute von Herrn Dörflinger
gehört haben, aber auch nach dem, was der von mir sehr
geschätzte Kollege Karl Schiewerling ausgeführt hat,
({8})
nämlich dass sie die Hilfe aus einer Hand wollen, kann
ich nur sagen: Auch in der CDU/CSU-Fraktion gibt es
inzwischen Widerstand gegen den Vorschlag des Ministeriums.
Frau Ministerin von der Leyen, ich frage Sie: Was
bringt Sie zu der Annahme, dass Sie den Widerstand dieser breiten Allianz eher überwinden könnten, als Ihre eigene Fraktion zur Vernunft zu bringen? In Ihrer Fraktion
gibt es doch auch vernünftige Leute. Glauben Sie wirklich, dass in Ihrer Fraktion alle Kolleginnen und Kollegen Nägel vor den Köpfen haben?
({9})
- Genau. Ich danke Ihnen, Herr Kolb. - Ich plädiere ausdrücklich für eine Grundgesetzänderung. Diese ließe
sich auch viel schneller umsetzen als die angestrebte
Trennung.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Aufgrund der
größten Wirtschaftskrise, die wir jemals hatten, wird es
im kommenden Jahr eine Zunahme der Zahl der Arbeitslosen geben. Darin sind sich alle einig. Aber genau
in diesem Jahr wollen Sie die Jobcenter zur Großbaustelle machen. Da werden die Beschäftigten der Jobcenter
mit sich selbst zu tun haben. Sie werden Akten kopieren,
Liegenschaften einrichten, EDV-Programme anschaffen
und Umzugskisten packen. Das ist aber nicht die Aufgabe,
die jetzt ansteht.
({10})
Herr Weise hat doch vollkommen recht. Unter diesen
Bedingungen laufen Ihnen die Beschäftigten in den
Jobcentern weg; sie werden zu den Kommunen zurückkehren. Ich frage Sie einmal: Mit welchen Leuten wollen
Sie die getrennte Aufgabenwahrnehmung dann noch
umsetzen?
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
von der FDP, Sie ziehen die Kommunen tatsächlich
durch den Kakao. In den letzten Jahren sind Sie alle herumgelaufen und haben gesagt, Sie wollten die Kompetenz der Kommunen in dieser Frage stärken. Ich finde, es
ist wirklich ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass
gerade die Koalition der selbsternannten Freunde der
Kommunen jetzt damit ankommt - die FDP war geradezu besessen darauf, die BA abzuwickeln; die CDU/
CSU hat nur den Kommunen in der Arbeitsmarktpolitik
etwas zugetraut -, die Machtansprüche der BA gegen die
Kommunen durchzusetzen.
({11})
Sie fördern den Zentralismus und setzen die Kommunen
an den arbeitsmarktpolitischen Katzentisch. Das werden
die sich nicht bieten lassen - und wir uns schon gar
nicht.
({12})
Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen; er
richtet sich an die Verfassungsästheten. Sie sagen, dass
man für so etwas keine Verfassung ändern könne. In den
letzten 60 Jahren ist die Verfassung 60-mal geändert
worden. Sie ist geändert worden, als es um die Neuverteilung der Einnahmen aus der Kfz-Steuer ging; sie ist
geändert worden für Tod und Teufel. Auch Ihr Vorschlag, der jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht verfassungskonform. Ich prognostiziere Ihnen schon jetzt, dass
es zu neuen Klageverfahren kommen wird. Das wird zu
einem neuen Chaos führen. Das können Sie weder den
Beschäftigten in den Arbeitsagenturen noch den Arbeitslosen zumuten. Jahrelange Debatten und Rechtsstreitereien - das dürfen wir nicht zulassen. Wir brauchen eine
verfassungsgemäße Regelung.
({13})
Ich möchte jetzt noch etwas zu dem Vorschlag der
Kollegen der SPD sagen. Wir sehen doch, dass Sie mit
dem alten Vorschlag, nur die 69 Optionskommunen verfassungsgemäß abzusichern, nicht weiterkommen. Ich
freue mich wirklich über das Signal und gehe davon aus,
dass unsere sozialdemokratischen Freunde dem Vorschlag, den wir von der grünen Fraktion als Friedensangebot auf den Tisch gelegt haben, zustimmen und dass
sich bei Ihnen von der CDU/CSU-Fraktion Kollegen wie
Dörflinger und Schiewerling durchsetzen.
Herr Kolb, Sie haben gesagt: Wir wollen zusammenführen. - Unser Vorschlag ist ein Friedensangebot und
führt die unterschiedlichen Anforderungen tatsächlich
zusammen.
({14})
Es gewinnen wirklich alle. Union und FDP können mit
ihrem Beschluss doch nicht wirklich zufrieden sein.
Wenn Sie unserem Vorschlag zustimmen, dann stärken
Sie die Kommunen in ihren Kompetenzen. Die SPD
könnte mit unserem Vorschlag ihr Konzept der Argen,
das auch wir richtig finden, weiterführen. Die Kommunen hätten die Wahl, mithilfe welchen Konzepts sie ihre
Arbeit machen wollen. Die Bundesagentur für Arbeit bekäme nicht lauter unwillige Bräute untergeschoben, sondern könnte sich weiterentwickeln und tatsächlich an ihrer Aufgabe wachsen. Die Arbeitslosen - das ist das
Wichtigste - hätten weiterhin Hilfe aus einer Hand, und
wir müssten nicht dauernd fürchten, dass es zu weiteren
Verfassungsklagen kommt. Wir hätten endlich Sicherheit
in dieser Frage.
All diese Argumente sprechen für die Unterstützung
unseres Vorschlages. Ich bitte Sie im Sinne der Arbeitslosen dringend: Springen Sie über Ihren Schatten, und
tun Sie etwas für die Arbeitslosen!
Frau Ministerin, das letzte Wort richte ich an Sie. Sie
wissen, ich schätze Sie und auch Ihre Kampfkraft. Deswegen würde ich mich wirklich freuen, wenn Sie für die
beste Lösung und nicht für die vermeintlich einfachere
Lösung kämpfen würden.
Ich danke Ihnen.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für
die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Mit den heute hier zu behandelnden Gesetzentwürfen der SPD sind wir bereits vertraut. Sie sind
inhaltsgleich mit den Referentenentwürfen des damals
noch SPD-geführten Bundesarbeitsministeriums vom
Februar 2009.
({0})
Wie wir bereits gehört haben, verfolgen diese Entwürfe
wie auch der Entwurf der Grünen das Ziel, die SGB-IITrägerschaft neu zu ordnen und damit das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007
umzusetzen.
Das will die Koalition im Ergebnis natürlich auch.
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verstoßen die derzeitigen Regelungen im SGB II hinsichtlich
der Zusammenarbeit von Bundesagentur und Kommunen als unzulässige Mischverwaltung gegen das Demokratieprinzip des Grundgesetzes. Die derzeitigen Regelungen sind deshalb nur noch bis zum 31. Dezember
2010 gültig. Nach den SPD-Entwürfen sollen die derzeit
346 Argen und 20 getrennten Trägerschaften als eigenständige Anstalten des öffentlichen Rechts mit eigener
Personalhoheit und eigenem Haushalt im Grundgesetz
als zulässige Form der Mischverwaltung verankert werden. Sie sollen zukünftig Zentren für Arbeit und
Grundsicherung, ZAGs, heißen.
Unsere Fraktion sieht ebenso wie die Kollegen der
SPD dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich der Neuorganisation der SGB-II-Trägerschaften. Ihren Vorschlag, liebe Kolleginnen und Kollegen vom ehemaligen
Koalitionspartner, lehnen wir jetzt aber genauso ab, wie
wir das schon im März dieses Jahres getan haben.
({1})
Dies tun wir aus guten Gründen:
Erstens. Es gilt, die Grundsätze der Verfassung zu beachten und die Verfassung nicht regelmäßig an unsere
Wünsche anzupassen. Liebe Frau Kollegin Pothmer,
auch wenn wir das in der letzen Legislaturperiode etliche
Male tun mussten, hätte ich es geschätzt, wenn Sie gesagt hätten: Wir fummeln nicht jedes Mal an der Verfassung herum, wenn uns irgendein Ergebnis nicht passt.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat das heutige System der Zusammenarbeit zwischen Arbeitsagentur und
Kommunen in den Argen als grundgesetzwidrig verworfen, weil es darin einen Verstoß gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes sieht. Für den Bürger ist nicht
klar, welche politische Einheit - Bund oder Kommune für die Entscheidungen der heutigen Jobcenter letztlich
verantwortlich ist.
Das Wesen der Demokratie ist es aber, dass der Wähler seine Zustimmung oder Ablehnung konkreter staatlicher Entscheidungen auch auf seinem Wahlzettel mit der
Wahl oder Abwahl von Parteien und Politikern dokumentieren kann. Die Mischverwaltung der Jobcenter
lässt dies nicht zu. Die vorgeschlagene Grundgesetzänderung würde dieses Demokratiedefizit aber gerade
nicht lösen.
({3})
Wenn die Hartz-IV-Verwaltung tatsächlich weder dem
Bund noch den Ländern eindeutig zugeordnet würde,
wäre eine zusätzliche neue staatliche Ebene zwischen
beiden gegeben. Die Hartz-IV-Verwaltung hätte damit
einen stärken Stand als unsere Städte und Gemeinden,
die innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung als Teile
der Länder gelten.
Zweitens. Mit der Einrichtung der sogenannten ZAGs
würde eine zusätzliche Bürokratie geschaffen, die die
Kräfte in den Arbeitsgemeinschaften unnötig binden
würde, und das genau in einer Zeit, in der aufgrund der
Wirtschaftskrise mit schwierigen Verhältnissen auf dem
Arbeitsmarkt zu rechnen ist. Es müssten überall circa
370 neue Behörden gegründet werden; man müsste Geschäftsordnungen erlassen, Personalvertretungen und
Geschäftsführer neu wählen, dazu noch neue Gremien
gründen, besetzen und arbeitsfähig machen. Das kann
aber nicht Sinn der Sache sein.
({4})
Die Arbeitsgemeinschaften sollen sich um die Arbeitslosen kümmern und sich nicht mit sich selbst beschäftigen.
({5})
Die jetzige Regierungskoalition geht anders an die
Neuorganisation der SGB-II-Verwaltung heran. Das
Bundeskabinett hat in der Klausurtagung von Meseberg am 16. und 17. November gemäß Koalitionsvertrag
beschlossen:
Die Neuorganisation der Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende soll erfolgen, indem
die Aufgabenwahrnehmung und Finanzierung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende ohne Änderung des Grundgesetzes und ohne Änderung der Finanzbeziehungen gestaltet werden. Dazu werden
die Erfahrungen der Länder und der Kommunen
sowie der Bundesagentur für Arbeit in getrennter
Aufgabenwahrnehmung genutzt. Die heutigen Optionskommunen sollen ihre Aufgaben dauerhaft
wahrnehmen können.
Weil bereits von einigen Vorrednern die Steigerung
der Zahl der Optionskommunen angesprochen wurde:
Ja, es gibt eine Umfrage, nach der ein Großteil der Kommunen zur Option tendiert.
({6})
Da muss man den Landräten aber auch mitteilen, zu welchen Konditionen, mit welchen Eckdaten die Option gezogen werden kann; auch das gehört zur Redlichkeit.
({7})
Wir folgen bei der Neuregelung der Trägerschaft
folgenden Orientierungslinien: Das Gesetzgebungsverfahren muss transparent sein. Wir müssen mit allen Beteiligten sprechen - also mit Ländern, Kommunen, Arbeitnehmervertretern und der Bundesagentur für Arbeit -,
um eine sachgerechte Lösung für die Zeit ab 2011 zu finden. Die künftige Lösung muss den Grundsätzen der
Föderalismusreform I, dem Demokratieprinzip, dem Selbstverwaltungsrecht der Kommunen und dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts entsprechen.
Um zu einer möglichst tragfähigen und differenzierten
Lösung zu kommen, hat unsere Fraktion jetzt, nachdem
die Bundesregierung die Eckpunkte für die Neuorganisation des SGB II vorgelegt hat, eine Projektgruppe ins
Leben gerufen.
({8})
- Ja, natürlich, Herr Heil. Da sind wir schneller als der
Kollege Scholz vor einem Dreivierteljahr. - Sie wird
eine einheitliche politische Maßgabe für die Umsetzung
der Reform erarbeiten. Erste Gespräche fanden bereits in
der laufenden Woche statt. Wir nehmen die Kommunen
mit. Herr Heil, darauf können Sie sich verlassen; Sie
brauchen keine Bedenken zu haben.
({9})
- Nicht ins Nirwana. Die Zeiten, in denen die Kommunen ins Nirwana geführt wurden, sind vorbei.
Die wesentlichen Ziele der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe waren und sind das Fördern
und Fordern und der Zugang aller Hilfebedürftigen zu
den Arbeitsmarktinstrumenten und der Arbeitsvermittlung der BA. Dieser Zusammenhang und die klare arbeitsmarktpolitische Ausrichtung des SGB II müssen gewahrt bleiben.
Gerade jetzt, zum fünften Jahrestag der SGB-II-Gesetzgebung, zeigt sich der Erfolg dieses Prinzips. So hat
die Frankfurter Rundschau gestern geschrieben:
Der deutsche Arbeitsmarkt schafft mehr Stellen als
in der Vergangenheit. Das scheinbare Naturgesetz,
dass die Arbeitslosigkeit im Trend immer steigt, ist
gebrochen.
Weiter heißt es, dass „Hunderttausende den Weg zurück in die Berufswelt gefunden“ haben. Lieber Herr
Heil, es war nicht alles falsch, was die SPD mit großer
Zustimmung der Union damals auf den Weg gebracht
hat.
({10})
- Sie hätten ruhig länger klatschen können. - Dieser
große Erfolg wäre ohne die Arbeitsmarktreformen nicht
möglich gewesen.
Frau Kollegin Kipping, Sie haben eben in Ihrer Rede
das dramatische Beispiel angeführt, dass die Ausbildungsvergütung auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird. Wir haben vor zwei Wochen hier in diesem
Hause über die Anrechnung von Schüler- und Studentenjobs usw. auf Hartz-IV-Leistungen diskutiert. Wir haben zugesagt, bis zum Sommer zu prüfen, ob diese Erwerbseinkommen von der Anrechnung auf Hartz IV
befreit werden. Auch hier gilt - ich wiederhole es gern -:
Hartz IV ist ein lernendes System, das jetzt genau fünf
Jahre alt ist. Da ist noch nicht alles perfekt; da muss
nachjustiert werden. Das ist korrekt. Frau Ausschussvorsitzende, ich kann Ihrer Kritik in einigen Punkten etwas
Positives abgewinnen.
Bei der jetzt anstehenden Neuregelung der SGB-IIVerwaltung muss darauf geachtet werden, dass auch
künftig kommunale Lösungen möglich sind und kommunale Belange berücksichtigt werden. Die Städte und
Kreise verfügen über die notwendigen sozialen Kompetenzen, um gerade Personen mit komplizierten Vermittlungshemmnissen wieder fit für den Arbeitsmarkt zu
machen und in Beschäftigung zu bringen. Den Kommunen, die sich dieser Aufgabe stellen wollen, muss die
Möglichkeit einer eigenständigen Trägerschaft gewährt
werden.
Ein einheitlicher Bescheid über die passiven Geldleistungen war und ist nicht das ausschließliche Ziel des
SGB II. Das beweisen schon die 20 Kommunen - Frau
Pothmer, Sie würden sagen, sie leben in wilder Ehe zusammen -,
({11})
die schon heute auf freiwilliger Basis gut und konstruktiv mit den Arbeitsagenturen zusammenarbeiten. Den
betroffenen Mitbürgern ist es wichtiger, dass ihnen geholfen wird, wobei es aus ihrer Sicht unerheblich ist, ob
die Hilfe mit einem oder mit zwei Bescheiden gewährt
wird.
({12})
Auch in diesem Fall kann zum Beispiel eine gemeinsame Antragstellung organisiert werden. Vor Gericht
können Klagen gegen zwei Bescheide zu einem Verfahren verbunden werden. Für die Betroffenen entstehen
hierdurch keine Nachteile. Statt der Hilfe aus einer Hand
kann es daher künftig die Hilfe unter einem Dach geben.
Unsere Leitlinien lauten wie folgt. Erstens. Die optimale Hilfe für arbeitsuchende Menschen muss an erster
Stelle stehen. Das sage ich insbesondere für die vielen
Zuschauer an den Fernsehgeräten, die wissen wollen:
Wie wird mir geholfen? Wird mir auch in einem Jahr
vernünftig geholfen werden können? Daran arbeiten wir.
Zweitens. Die Trägerschaft der Optionskommunen
muss auf jeden Fall entfristet werden. Dieses Modell hat
sich bewährt. Für diese Kommunen und insbesondere
ihre Mitarbeiter muss der Modellcharakter in eine feste,
zukunftssichere Form gewandelt werden, um Planungssicherheit im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schaffen.
({13})
- Das habe ich Ihnen vorhin gesagt.
Drittens. Die neue Organisation im SGB II muss gewährleisten, dass die arbeitslosen Menschen von den
Trägern vor Ort in partnerschaftlichem Zusammenwirken durch den Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums effizient in Beschäftigung vermittelt
werden können. Das gilt für die Zukunft mindestens
ebenso wie für die letzten Jahre.
({14})
Ich bin sicher, dass wir gemeinsam mit der Bundesregierung auf dieser Grundlage ein tragfähiges Modell zustande bringen. Unter diesen Gesichtspunkten will ich
auch eine eventuelle Kompromisslösung auf Grundlage
der Gesetzentwürfe der SPD und der Grünen nicht von
vornherein ausschließen.
({15})
- Ich bin ebenso aufgeschlossen wie die Kollegen
Dörflinger und Schiewerling. Wir halten nicht stur und
mit Scheuklappen an unserer Meinung fest, lieber Herr
Heil. Auch wir lernen dazu.
({16})
Voraussetzung ist, dass für arbeitsuchende Menschen
ein solcher Kompromiss, die optimale Hilfe aus einer
Hand, so bürokratiearm wie möglich ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Nun hat das Wort die Kollegin Anette Kramme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von der Union! Es
ärgert mich ein wenig, wenn Sie sich den Heiligenschein
als vermeintliche Schützer des Grundgesetzes aufsetzen.
({0})
Dieses Grundgesetz ist seit seinem Inkrafttreten unendlich oft geändert worden. Es beinhaltet die Ewigkeitsgarantie, die einen tatsächlichen Schutz bewirkt. Ich sage
Ihnen: Es gab weitaus nichtigere Zwecke, für die wir das
Grundgesetz geändert haben.
Das IAB hat in den letzten Tagen eine Feststellung
getroffen, die ich sehr wichtig finde, nämlich: Die Jobcenter funktionieren, die Langzeitarbeitslosigkeit ist reduziert worden, und die Arbeitsmarktinstrumente greifen grundsätzlich.
({1})
Was Sie von Union und FDP machen, ist dagegen unverantwortlich.
({2})
Sie wollen funktionierende Behördenstrukturen auseinanderreißen. Schade ist, dass nicht Sie die Leidtragenden sind, sondern die Arbeitsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland. Ich sage: Das kann und darf
nicht sein.
({3})
Dabei könnte die Geschichte so einfach sein. Denken
Sie an das Frühjahr 2009 zurück, als alle Ministerpräsidenten dem Gesetzentwurf von Olaf Scholz zugestimmt
haben. Vielleicht erinnern Sie sich noch - obwohl ich
vermute, es ist Ihnen unangenehm - an die Arbeitsministerkonferenz vom 25. und 26. November. Alle Bundesländer mit Ausnahme von Baden-Württemberg haben
sich für das ZAG ausgesprochen. Auch wenn man den
aktuellen Beschluss der Arbeitsministerkonferenz liest,
stellt man fest: Im Prinzip ist keine andere Situation gegeben.
({4})
Der Beschluss ist für die Arbeitsministerin mehr
Schein als Sein. Die Länder sagen, sie nähmen das Eckpunktepapier zur Kenntnis; es sei ein diskussionswürdiger Ansatz. Sie machen hohe Auflagen, die letztlich nur
erfüllt werden können, wenn sie das ZAG umsetzen.
Dann gibt es noch den kleinen Hinweis darauf, dass man
weiterhin bereit ist, eine Verfassungsänderung mitzutragen. Ich sage: Lauer kann der Beifall für eine Arbeitsministerin nicht sein.
({5})
Halten wir uns vor Augen, was die Umsetzung Ihres
Eckpunktepapieres bedeuten würde: Die Arbeitsuchenden bekommen zwei Bescheide. Im schlimmsten Fall
müssen sie zwei Widerspruchsverfahren und zwei Klageverfahren durchführen. Wenn sie irgendwelche Informationen einholen wollen, dann haben sie nicht einen
Ansprechpartner, sondern müssen sich grundsätzlich an
zwei Behörden wenden. Viele Aufgaben müssen doppelt
erledigt werden, beispielsweise die Außendienste oder
der Forderungseinzug. Völlig unklar ist, was passiert,
wenn Agentur und kommunale Träger zu einer unterschiedlichen Einschätzung einerseits der Erwerbsfähigkeit und andererseits der Hilfebedürftigkeit kommen.
Man stelle sich auch vor, was bei einer einfachen Eingliederungsvereinbarung passiert - tagtägliches Geschäft -: Da sollen kommunale Leistungen einbezogen
werden. Jedes Mal müssen die Telefone heißlaufen,
damit die Zustimmung der Kommune eingeholt werden
kann. Die kommunalen Träger, obwohl Sie sie so hoch
hängen und sagen, deren Wissen sei entscheidend,
werden keinen relevanten Einfluss auf die Arbeitsmarktpolitik mehr haben. Es gibt keine Lösung für die IT. Es
ist auch sehr fraglich, ob kommunale Beschäftigte in der
Übergangszeit der BA hinreichend zur Verfügung stehen.
({6})
Gerade in einer Arbeitsmarktkrise ist es eine Katastrophe, dass Sie die Funktionsfähigkeit dieses Ladens infrage stellen wollen.
({7})
All diese Punkte könnten gelöst werden, wenn sich
die Bundesregierung zu dem Kompromiss zwischen
Ländern und Bund vom Anfang dieses Jahres bekennen
würde. Die bewährten Jobcenterstrukturen bleiben aufrechterhalten. Das ZAG bringt zusammen, was zusammengehört. Wir bieten den Arbeitsuchenden und den Beschäftigten verlässliche Kontinuität, den geringsten Grad
an Bürokratie und letztlich deutlich weniger Kosten.
({8})
Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der Besinnlichkeit.
({9})
Ich hoffe, dass diese Regierung nicht nur besinnliche
Weihnachtstage verbringt, sondern endlich auch zur Besinnung kommt.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({10})
Für die FPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin
Gabriele Molitor.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir von
der FDP-Bundestagsfraktion nehmen soziale Verantwortung ernst,
({0})
und zwar so ernst, dass wir auch die Hausaufgaben erledigen, die andere aufbekommen haben.
Es ist jetzt zwei Jahre her, dass das Bundesverfassungsgericht eine Neuorganisation der Argen gefordert
hat. In der letzten Legislaturperiode hat es die Vorgängerregierung nicht vermocht, eine langfristig wirksame
Neuregelung für die Jobcenter zu schaffen.
({1})
Wir stellen uns dieser Aufgabe; denn eine echte Reform
tut dringend not. Wir sind es den Millionen Menschen,
die arbeitslos sind, schuldig, und wir sind es der Solidargemeinschaft, bestehend aus Beitrags- und Steuerzahlern, schuldig. Eines ist doch klar: Viele Menschen, die
schon lange arbeitslos sind, leiden unter ihrer Situation
und möchten wieder selbst für ihren Lebensunterhalt
aufkommen. Sie brauchen Betreuung, Beratung und Unterstützung. Dabei ist es wichtig, jeden einzelnen individuell zu fördern und auch zu fordern.
({2})
Als Stadtverordnete meiner Heimatstadt Erftstadt
habe ich beobachtet, wie quälend lange es gedauert hat,
bis die Arge endlich ihre Tätigkeit aufgenommen hat.
({3})
Das lag nicht an den Mitarbeitern. Eine Immobilie
musste gefunden werden. Zeitgleich wurden Mitarbeiter
rekrutiert. Es war gar nicht so einfach, aus Mitarbeitern
aus der Stadtverwaltung, die häufig aus dem Sozialamt
stammten, und Mitarbeitern aus der Bundesagentur ein
Team zu bilden. Von den Schwierigkeiten bei der Datenverarbeitung will ich erst gar nicht reden.
Für eine Neuregelung bleibt uns nicht viel Zeit. Deshalb begrüßen wir das Eckpunktepapier der Arbeits- und
Sozialministerin als vernünftige Diskussionsgrundlage.
({4})
Folgende Punkte sind der FDP-Bundestagsfraktion
dabei besonders wichtig: Wir brauchen klare Zuständigkeitsregeln. Wir wollen Hilfebedürftige nicht zu Bittstellern degradieren und sie von Amt zu Amt schicken. Wir
wollen die Zahl der Vermittlungen in Arbeitsverhältnisse
steigern, und wir wollen die Kompetenzen der Kommunen weiter stärken.
({5})
Gerade die letzte Forderung ist uns Liberalen besonders
wichtig. Das Prinzip der gleichen Augenhöhe soll auch
für die Zusammenarbeit von Kommunen und Bundesagentur gelten.
({6})
Die Kommunen sollen sich um die Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen kümmern können. Sie
kennen den örtlichen Arbeitsmarkt, sie pflegen Kontakt
zu den Arbeitgebern, zu den Wohlfahrtsorganisationen
und zu den Weiterbildungseinrichtungen.
({7})
Diese Nähe hat Auswirkungen auf die Effizienz. Es
muss doch darum gehen, das Problem Arbeitslosigkeit
zu lösen und es nicht nur zu verwalten.
({8})
Es liegt im ureigenen Interesse der Kommunen, die Arbeitslosenzahl gering zu halten. Wir verstehen die Sorgen der Kommunen, angefangen bei der Angst vor mehr
Bürokratie bei der Arbeitsvermittlung und fehlender
Einflussnahme bei der Entscheidungsfindung von Bedürftigkeit bis hin zu der Angst vor finanziellen Mehrbelastungen.
({9})
Die Beschlüsse der Arbeits- und Sozialminister der
Bundesländer verfolgen wir mit Interesse und begrüßen,
dass das Eckpunktepapier des Ministeriums die Entfristung der Optionskommunen vorsieht.
({10})
Es wäre ein positives Signal, weiteren Kommunen die
Möglichkeit zu geben, diesen Weg zu gehen.
({11})
Die skizzierte Konzeption macht eine Grundgesetzänderung unnötig. Deshalb werden wir den Gesetzentwürfen der Opposition nicht zustimmen.
({12})
Ein Zurechtbiegen des Grundgesetzes kann die substanziellen Probleme nicht lösen. Auch wenn die Zeit drängt,
sind Schnellschüsse schlecht.
({13})
Wir brauchen ein konstruktives und tragfähiges Konzept, ohne dabei die Verfassung an das politische Tagesgeschäft anzupassen.
({14})
Bei allem, was wir tun, müssen wir darauf achten,
Menschen in Arbeit zu bringen. Dabei sollten wir diejenigen nicht vergessen, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben: die Alleinerziehenden, die Geringqualifizierten, die Menschen mit Behinderung und
die Menschen mit Migrationshintergrund.
({15})
Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und FDP festgeschrieben, eine einfachgesetzliche Lösung herbeizuführen. Dazu stehen wir. Bürokratische Doppelstrukturen sollen vermieden werden, die Leistungserbringung
für den Bürger soll nachvollziehbar und effektiv sein.
Die Arbeitslosen brauchen ein funktionierendes Hilfesystem und keine langwierige Diskussion über Organisationsformen. Dieser Aspekt sollte bei der Diskussion
über Reformen immer im Hinterkopf sein.
({16})
Lassen Sie uns gemeinsam die Chance nutzen, eine Regelung zu finden, die den Betroffenen wirklich hilft.
Vielen Dank.
({17})
Frau Kollegin Molitor, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute und viel Erfolg.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Bernhard Kaster für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Die Arbeitsgemeinschaften nach § 44 b
SGB II verstoßen gegen unsere Verfassung.
Jetzt schlagen Sie von der SPD - differenziert und auf
einem anderen Weg auch die Grünen - und viele andere
im Lande vor, die Verfassung zu ändern. Vereinfacht
ausgedrückt: Was nicht passt, wird passend gemacht. Aber so einfach geht das in diesem Falle nicht.
({0})
Ich gebe zu, dass ein solcher Vorschlag durchaus leicht
kommunizierbar ist. Aber wir müssen doch die Frage
stellen: Um was geht es in diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil? Geht es da um ein verfassungstechnisches
Problem,
({1})
um eine Regelungs- oder Zuständigkeitslücke, die man
leicht schließen kann?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Urteil lesen, werden Sie feststellen: Es geht um einen
Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes. Im
Klartext: Es geht um einen Verstoß gegen die Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen. Ich sage hier in diesem Hause: Da müssen bei jedem, der aus der kommunalen Familie kommt - das sind in allen Fraktionen viele -,
die Alarmglocken läuten.
({2})
Es gibt Bereiche in unserer Verfassung, in denen wir
keine Dammbrüche zulassen dürfen. Es geht um nicht
mehr und nicht weniger als um den Schutz unserer Gemeinden, Städte und Landkreise vor unzulässigen Eingriffsmöglichkeiten des Bundes bzw. die volle, transparente, umfängliche Verantwortung für eigene Aufgaben.
Genau hier, bei der Selbstverwaltungsgarantie nach
Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes, liegt auch der Lösungsansatz. Denn eines ist unbestritten: Unsere Kommunen sind die stärkste, innovativste und auch vielfältigste öffentliche Ebene. Diese Pluralität vor Ort macht
auch die Stärke unseres Landes aus. Aus dieser Unterschiedlichkeit resultieren im Übrigen auch die bisher
schon sehr unterschiedlichen Lösungen und Lösungsvorschläge.
Es kommt nicht von ungefähr - in der heutigen Debatte wurden schon die verschiedensten Stellungnahmen
genannt -, dass auch vonseiten der kommunalen Familie
verschiedene Stellungnahmen vorliegen, querbeet und
egal von welchen Fraktionen. Die Wirtschaftskraft ist
vor Ort unterschiedlich, damit auch die Arbeitslosenquoten und die regionalen Strukturen, und auch die kommunale Selbstverwaltung ist je nach Selbstverwaltungsmodell durchaus unterschiedlich.
({3})
Aber eines verbindet die Kommunen: Sie sind die
Ebene, die dem Bürger am nächsten steht und für die
Kooperation schon seit Jahrzehnten kein Fremdwort ist.
({4})
Wenn jemand kooperieren und Verträge schließen kann,
dann sind es die Kommunen. Was diese Kooperationsbereitschaft und Flexibilität angeht, kann sich der Bund
von den Kommunen manchmal eine Scheibe abschneiden.
({5})
Die Lösung liegt auf der Hand. Wir brauchen nach
Bund und Ländern gerade nicht eine quasi in der Verfassung verankerte dritte Ebene in Form einer erstmalig
eingeführten Mischverwaltung. Wir brauchen vielmehr
einen einfachgesetzlichen Rahmen für Kooperationsmöglichkeiten vor Ort unter einem Dach.
({6})
Wir brauchen Möglichkeiten der Kooperation zwischen
Bundesagentur und Kommunen auf Augenhöhe.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen - das ist in dieser Debatte noch nicht gesagt worden -, dass sich die
Bundesagentur gerade in den letzten Jahren unter der
Leitung von Frank-Jürgen Weise mit ihren vielen engagierten und kompetenten Mitarbeitern hervorragend und
positiv entwickelt hat und gut aufgestellt ist. Deshalb
muss es auch möglich sein, dass unsere Städte und Gemeinden mit viel Freiraum entscheiden können, wie die
Kooperation mit der Bundesagentur ganz konkret aussieht.
In einem Punkt bin ich mir ganz sicher: Wir werden
bürgernahe und effiziente Lösungen für die Arbeitsuchenden finden. Frau Bundesministerin von der Leyen
geht deshalb mit der Vorlage des Eckpunktepapiers in
die richtige Richtung.
({7})
Wir sollten die Grundgesetzänderung nicht wie eine
Monstranz ständig vor uns hertragen. Es gibt hier andere
Wege. Wir müssen die Kommunen weiter stärken.
Wenn Sie davon sprechen, dass Ihre Lösung die einfachere oder sogar die kostengünstigere ist, dann muss
dem entgegengehalten werden, dass der Bundesrechnungshof schon damals, als es um den Gesetzentwurf
ging, betont hat, dass Mehrbelastungen in Höhe von großen dreistelligen Millionenbeträgen im Raume stehen,
die zusätzlich auf unsere Volkswirtschaft, auf die Kommunen zukommen.
Noch ein Wort dazu, was Vereinfachung von Gesetzestexten bedeutet. Schauen Sie sich bitte einmal an, wie
der Paragraf, in dem die Finanzierung aus Bundesmitteln
geregelt ist - § 46 SGB II -, derzeit aussieht: Er geht
über mehrere Seiten und hat neun Absätze. Es gibt mit
Sicherheit einfachere Möglichkeiten, das zu regeln.
({8})
Es geht hier nicht - Frau Pothmer hat es, glaube ich, so
genannt - um Verfassungsästhetik, aber es geht sehr
wohl darum, dass die Verfassung eine Verfassung ist.
Auch wenn wir, wie das Beispiel des § 46 SGB II zeigt,
bei einfachen Gesetzen Formulierungen haben, die im
Prinzip den Charakter von Rechtsverordnungen haben,
können wir solche Formulierungen nicht in die Verfassung hineinschreiben.
({9})
In der letzten Legislaturperiode haben wir mit den
Föderalismusreformen I und II sowohl bei den Aufgaben
als auch bei den Finanzen gerade erst für mehr Klarheit
in der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund
und Ländern in der Verfassung gesorgt. Eine verfassungsmäßige Verankerung einer absoluten Mischverwaltung würde dies nicht nur konterkarieren, nein, sie widerspräche, wie richtigerweise gesagt worden ist, auch
dem Demokratiegebot.
Lassen Sie mich sagen, dass es viele gute Gründe dafür gibt, dass, wenn es um unsere Verfassung geht, das
Pippi-Langstrumpf-Prinzip - „Ich mach mir die Welt,
wie sie mir gefällt“ - nicht zulässig ist.
({10})
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, setzen
wir auf Subsidiarität, auf Freiraum vor Ort, auf Vertragsfreiheit, auf die Kreativität unserer starken Kommunen zusammen mit einer gut aufgestellten Bundesagentur für
Arbeit. Ich bin überzeugt davon, dass Kommunen und
Bundesagentur für Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger, für die es schlichtweg um Existenzsicherung geht,
praktikable Lösungen finden. Wir müssen ihnen hierzu
nur den Freiraum geben.
Ich bedanke mich.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika KrügerLeißner für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Legenden unseres Kollegen Kolb haben mich
ein wenig an das erinnert, was in diesem Jahr in puncto
Reform der Jobcenter passiert ist.
Als wir uns bereits im März dieses Jahres damit beschäftigten, ahnte ich schon Schlimmes; denn die Union
sagte Nein zu unserem Vorschlag. Nein zu einem Kompromiss, den unser damaliger Arbeitsminister, Olaf
Scholz, zusammen mit den Länderchefs und mit Zustimmung der Kanzlerin ausgehandelt hatte. Mit diesem
Kompromiss hätte der Schwebezustand bei der Betreuung der Langzeitarbeitslosen, den wir seit dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts haben, endlich beseitigt werden können. Beseitigt hat die Union nicht diesen Schwebezustand, im Gegenteil, beseitigt hat sie sämtliche
Hoffnungen, rechtzeitig eine dauerhafte, tragfähige und
verlässliche Lösung für die Jobcenter zu schaffen.
Die Lösung, die wir bereits im März aufgezeigt hatten
und die wir heute hier einbringen, besteht in der Fortführung der bewährten Zusammenarbeit in den neuen Zentren für Arbeit und Grundsicherung verbunden mit einer
Änderung des Grundgesetzes. Alle hier wissen, auch
wenn sie es nicht aussprechen, dass es nur so geht.
({0})
Dieser Vorschlag wird von vielen Seiten unterstützt:
vom Deutschen Städte- und Gemeindebund, vom Deutschen Städtetag, vom Deutschen Landkreistag, von den
Ländern, vor allen Dingen aber - das scheint mir wichtig; denn um sie geht es - von den 346 Jobcentern.
({1})
Mit unserem Gesetzentwurf zeigen wir auf, dass Leistungen aus einer Hand möglich sind, und das mit dem
geringsten Aufwand an Bürokratie und letztendlich mit
weniger Kosten für Bund und Kommunen.
Sehr geehrte Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie
können das doch nicht einfach beiseiteschieben und mit
Ihrem Eckpunktepapier wider besseres Wissen einen äußerst vagen und intransparenten Vorschlag auf den Tisch
legen. Wenn das Wirklichkeit wird, dann - da muss ich
Frau Pothmer wirklich zustimmen - haben wir Großbaustellen, und das auf lange Sicht.
({2})
Die Folgen wären weniger Arbeitsangebote, mehr Bürokratie und mehr Ärger und Frust aufseiten der Arbeitsuchenden und der Beschäftigten. Das wäre ein Rückschritt, der durch nichts zu rechtfertigen ist.
Sehr geehrte Ministerin, ich habe Sie gestern im Ausschuss erlebt und gespürt, dass auch Ihnen bei dieser Sache nicht wohl ist. Sie wissen genau, dass es die von Ihnen gewünschte freiwillige Zusammenarbeit nicht
ohne Weiteres geben wird; denn nur mit einer Grundgesetzänderung wäre die bisher erfolgreiche gemeinsame
Arbeit der BA und der Kommunen zu sichern.
({3})
Sie fahren hier aber einen Schlingerkurs, weil Sie ein
enormes internes Problem haben, nämlich den Konflikt
zwischen den Koalitionsfraktionen und den Erwartungen
der Länder und Kommunen.
({4})
Weil das so ist und wir alle es wissen, stellen die Länder nun massive Forderungen. Wenn sie schon auf Ihr
Modell der getrennten Aufgabenwahrnehmung eingehen, dann wollen sie pokern. Ich finde das sehr unanständig; denn wir wissen, dass die Hilfe und Betreuung
der Langzeitarbeitslosen und die Sorgen der 55 000 Beschäftigten bei diesem Poker keine Rollen spielen werden.
Was die Bundesländer mit ihren Kommunen wollen,
kann man in drei Punkten zusammenfassen: Sie wollen
erstens Leistungen aus einer Hand haben. Genau das
steht in unserem Gesetzentwurf. Sie wollen zweitens
Kooperation auf gleicher Augenhöhe. Genau das steht
bei uns drin. Sie wollen drittens eine langfristige Absicherung der Optionskommunen. Das sichern wir ihnen
zu.
({5})
Unter dem Strich entspricht unser Vorschlag also den
Erwartungen der Bundesländer und der Kommunen.
({6})
Durch alle anderen Lösungen, Herr Kolb, zum Beispiel
die in diesem Eckpunktepapier, wird eine Vielzahl von
neuen Problemen aufgeworfen. Sehr geehrte Frau Ministerin, dass Sie gerade in diesen wirklich sehr schwierigen Zeiten in unserem Land, mitten in der größten ökonomischen Krise mit weiteren Auswirkungen auf den
Arbeitsmarkt, diesen Vorschlag machen, halte ich für
verantwortungslos.
Darum lassen Sie mich zum Schluss einige ganz persönliche Worte an Sie richten. Ich weiß, dass diese erste
Gesetzesarbeit für Sie als Arbeits- und Sozialministerin
eine wirklich große Herausforderung ist. Wir alle, alle
Abgeordneten, werden diesen Prozess vor Ort im Wahlkreis begleiten. Ich bitte Sie: Schauen Sie sich die Arbeit
in den Argen an, sprechen Sie mit den kommunalen Vertretern und der BA, diskutieren Sie mit ihnen unseren
Vorschlag der Hilfe aus einer Hand und spielen Sie Ihre
getrennte Aufgabenwahrnehmung mit den möglichen
Folgen durch! Ich möchte Sie einladen, das mit mir vor
Ort, vor den Toren Berlins, in der Arge Havelland in
Nauen zu machen.
Danke.
({7})
- Das wäre doch nicht schlecht, oder?
Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Astrid
Voßhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Hatten Sie schon einmal Zeit und Gelegenheit, die
Erstausgabe des Grundgesetzes zu lesen? Falls nicht,
kann ich es Ihnen nur dringend empfehlen. Im Gegensatz zur aktuellen Ausgabe ist sie von bestechender Klarheit und beeindruckender Kürze.
Wie sagte Bundestagspräsident Lammert bei einer
Veranstaltung anlässlich des 60-jährigen Bestehens des
Grundgesetzes in diesem Jahr so treffend:
Das Grundgesetz ist in den vergangenen 60 Jahren
deutlich länger geworden. Nach Auskunft von Experten … hat es inzwischen nahezu den doppelten
Umfang gegenüber dem Text von 1949.
Er konstatiert, dass zumindest die Frage erlaubt ist, ob es
mit der erheblichen Erweiterung auch erheblich besser
und präziser geworden ist.
Vergleicht man das Grundgesetz mit einem Haus, so
passt der Vergleich, dass das Grundgesetz natürlich nicht
unter Denkmalschutz steht. Veränderte Aufgabenstellungen und veränderte Verfassungswirklichkeiten machen
eine Anpassung immer wieder notwendig. Aber man
kann den noch so gelungenen Grundriss eines Hauses
durch immer neue An- und Umbauten irgendwann auch
völlig verunstalten. Das Haus wird dann nicht unbedingt
schöner; es wird unübersichtlicher. Der Bürger verliert
in seinem eigenen Haus die Orientierung.
({0})
Nicht nur das: In einer verfassungsrechtlichen Untersuchung aus Anlass des 60-jährigen Bestehens des
Grundgesetzes findet sich unter dem Titel „Vom Altern
einer Verfassung“ der aufschlussreiche Satz:
Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt
die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie
seine Neuerungen.
Woran mag der Verfasser gedacht haben? Mir fallen
dazu die Ergebnisse der ersten Föderalismuskommission ein, die gerade mal drei Jahre in Kraft sind und die
von dem Willen getragen waren, Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen Bund und Land zu entflechten
und klar zuzuordnen. Wir haben uns 2006 in der Föko I,
der ersten der beiden großen Staatsreformen in der Geschichte Deutschlands, darauf verständigt, eine Entflechtung der Bund-Länder-Beziehungen vorzunehmen. Es
ging dabei um eine klare Abgrenzung der Kompetenzen
der Länder von den Kompetenzen des Bundes, und es
ging um die Stärkung der Demokratie, damit die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft erkennen können, wer für
was zuständig ist und wer die alleinige Verantwortung
trägt.
Dazu passt es dann auch, dass Professor Korioth in einem Aufsatz zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, über die wir heute bereits gesprochen haben, feststellt:
Mit der Verfassungswidrigkeitserklärung der Arbeitsgemeinschaften nach § 44 b SGB II erweist
sich wieder einmal das Bundesverfassungsgericht
als diejenige Instanz, die folgerichtig den Gesetzgeber anmahnt und die Politik beim Wort nimmt. Wer
die klare Verteilung von Verantwortung fordert,
muss sich auch daran messen lassen.
({1})
Die Frage, wie künftig die Leistungsträgerschaft und
die Kostentragung bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgestaltet werden soll, haben wir also im
Lichte der Änderungen durch die Föderalismuskommissionen und den Entscheidungsspielraum zu beantworten,
den uns das Bundesverfassungsgericht gegeben hat.
Was macht die Opposition? Sie bringt heute zwei Gesetzentwürfe zur Änderung des Grundgesetzes ein.
Über die Pläne der SPD ist bereits alles gesagt worden.
Dem braucht man nichts hinzuzufügen. Die Unionsfraktion hat diese Pläne, die zu einem kostenintensiven und
gigantischen Behördenaufbau führen, bereits nach dem
ersten Bekanntwerden abgelehnt. Das wissen Sie. Das
wurde heute schon hinreichend diskutiert.
({2})
- Herr Heil, da Sie das ZAG so vehement verteidigen:
Selbst das BMAS unter SPD-Führung hat dieses Gesetzesvorhaben dem Grunde nach abgelehnt.
Der Weg der Verfassungsänderung, der heute von der
Opposition vorgeschlagen wird, sollte immer Ultima Ratio sein. Montesquieu hat so schön und plakativ formuliert. In leichter Abwandlung darf ich es wiederholen:
Wenn es nicht nötig ist, die Verfassung zu ändern, ist es
nötig, die Verfassung nicht zu ändern.
({3})
Es ist heute deutlich geworden, dass es immer wieder
Neigungen gibt, das Grundgesetz zu ändern. Frau
Pothmer hat gesagt, wir könnten doch schnell eine Änderung vornehmen. Vonseiten einer Kollegin aus der
SPD hieß es vorhin, das könnte alles so einfach sein.
Wer vorschnell und trotz Alternativen Grundgesetzänderungen einfordert, befördert die Tendenz, politische Gestaltungsabsichten nicht mehr der Mühsal einfachgesetzlicher Umsetzung auszusetzen, sondern gleich in den
Verfassungsrang zu erheben.
({4})
Zu Recht hat Bundestagspräsident Lammert die Frage
aufgeworfen, welche Folgen es hat, wenn immer häufiger neben Grundsätzen und Grundregeln politische Gestaltungsabsichten mit Verfassungsrang ausgestattet werden. Er fragt - ich darf zitieren -:
Was das für die Spielräume künftiger Gesetzgeber,
künftiger demokratisch legitimierter Mehrheiten
bedeutet und damit auch für die Architektur eines
politischen Systems, für das wir uns im Großen und
Ganzen regelmäßig wechselseitig beglückwünschen und das mit gutem Grund, weil uns in unserer
Geschichte selten Ähnliches ähnlich gut gelungen
ist wie diese Verfassung.
Deshalb stellt sich rechtspolitisch bei der Umsetzung
des Verfassungsgerichtsurteils in beiden Fällen die
Frage, ob eine Grundgesetzänderung unumgänglich ist
oder ob sich das Problem, was heute mehrfach diskutiert
worden ist, durch einfachgesetzliche Regelungen lösen
lässt. Das gilt sowohl für den Bestand der gemeinsamen
Grundsicherung als auch für die Regelung über die Optionskommunen.
Ich finde, das Eckpunktepapier des BMAS bietet dafür eine gute Handlungsgrundlage, zumal darin auch der
Versuch gestartet wird, es eben nicht zu einer Verfassungsänderung kommen zu lassen. Das halte ich für
sinnvoll und zielführend.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns einen Gestaltungsspielraum gegeben. Wenn man das Urteil intensiv
durchliest, findet sich nicht nur eine Lösung, sondern es
gibt mehrere. Wenn eine verfassungskonforme Lösung
gefunden werden kann, ohne die Verfassung zu ändern,
dann sollten wir diese favorisieren, selbstverständlich mit
dem Ziel, für die Arbeitsuchenden, um die es uns schließlich geht, eine effiziente Verwaltung auszugestalten.
Meine Damen und Herren, abschließend will ich noch
ein Problemfeld ansprechen. Darüber, inwieweit eine
Entfristung bei den Optionskommunen oder eine Aufstockung der Zahl dieser Kommunen möglich ist, müssen
wir in verfassungsrechtlicher Hinsicht ausreichend diskutieren; denn wir haben durch die Föderalismusreform I
einen Satz in Art. 84 des Grundgesetzes aufgenommen,
wonach es dem Bund verboten ist, den Kommunen Aufgaben zu übertragen. Hier gibt es sicherlich noch Diskussions- und Handlungsbedarf. Aber ich denke, das ist lösbar. Wenn man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
liest und sich vor Augen führt, was heute zum Thema
Optionskommunen gesagt wurde, dann stellt man fest:
Unabhängig davon, wie wir es regeln, sind die Optionskommunen im Zusammenhang mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ein Erfolgsmodell geworden. Die Tatsache, dass eine Vielzahl von
Landkreisen künftig ebenfalls optieren will, zeigt, dass
die Union von Anfang an mit den Optionskommunen auf
das richtige Konzept gesetzt hat.
({5})
Ich bin sicher, dass wir nach Vorlage des Eckpunktepapiers des BMAS in den anschließenden Beratungen
eine vernünftige und im Sinne der Verfassung notwendige Regelung in dieser Frage finden werden.
Vielen Dank.
({6})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Gabriele Lösekrug-Möller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer
Woche ist Heiligabend. Wir sollten daher einen Blick auf
die Bescherung unserer Regierung werfen. Sie folgt einer Logik, Herr Kolb, über die man sagen kann: Je größer der Baum, desto größer die Geschenke. Wer sich keinen Baum leisten kann, dem wird auch nichts geschenkt.
Das will ich als Eingangsbemerkung einer Debatte voranstellen, die uns bislang viel Zeit gekostet hat.
Ich zitiere den Minister für Arbeit, Familie und Gesundheit in Hessen, Jürgen Banzer, der in der FAZ vom
10. Dezember konsequent und richtig ausführt:
Eine getrennte Aufgabenwahrnehmung wäre ein
bedauernswerter Rückfall hinter den bereits erreichten Stand der Dinge und entspräche auch nicht
den Ansprüchen an eine moderne, kundenfreundliche Verwaltung.
({0})
Worüber sprechen wir? Wir sprechen über etwas, das
unter dem Tannenbaum des BMAS liegt. Frau Ministerin, um dieses Geschenk beneide ich Sie nicht. Unter
dem Tannenbaum liegt ein Päckchen, bei dem es um die
zukünftige Aufgabenwahrnehmung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende geht. Selbst die Schleife, die
Sie daran mit Ihrem Eckpunktepapier gemacht haben,
überzeugt nicht. Zu Recht wurde angesprochen: Die Folgen sind eine Großbaustelle, Selbstbeschäftigung und
ein gigantischer Bürokratieaufbau, den Sie dann heldenhaft wieder abbauen werden. Das finden wir nicht hinnehmbar.
({1})
Denn wir sehen einer Zeit entgegen, in der die betreffenden Behörden Dienstleistungen für all diejenigen erbringen müssen, die Sorge um ihren Arbeitsplatz haben, ihn
verloren haben und wieder in den Arbeitsmarkt wollen.
Darauf muss die Arbeit der betreffenden Behörden gerichtet sein. Es ist Zeit, zu handeln.
Wir legen einen Gesetzentwurf vor - auch für ihn gilt
das Struck’sche Gesetz - und sind zu einer Debatte bereit, Herr Kolb. Wir denken allerdings, dass ein Gesetzentwurf eine bessere Arbeitsgrundlage darstellt als ein
Eckpunktepapier, bei dem einem nur Zweifel kommen
können.
({2})
Frau Voßhoff, ich verstehe Ihre Argumentation betreffend die Verfassung und schätze Sie als Kollegin sehr.
Aber soll ich aus Ihren Worten schließen, dass wir vermutlich in dieser Legislatur überhaupt keine Verfassungsänderung haben werden? Ich kann mir gar nicht
vorstellen, dass es etwas gibt, was ebenso wichtig - oder
sogar wichtiger - wie ein guter Service für Millionen
Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ist, die einen Rechtsanspruch auf Hilfe haben. Meines Erachtens
ist das ein sehr hohes Ziel, dem wir entsprechen müssen.
({3})
Warum sitzt uns die Zeit heute so im Nacken? Wenn
wir ehrlich sind: Seit Frühjahr vergangenen Jahres hat es
in der Fraktion der CDU/CSU ein Denk- und Entscheidungsverbot zu diesem Thema gegeben. Das ist die Ursache für die Zeitnot, in der wir uns nun befinden.
({4})
Wir sind gerne bereit, mit Ihnen über gute Lösungen zu
diskutieren. Aber meine Kolleginnen und Kollegen haben in ihren Redebeiträgen schon sehr deutlich dargelegt, wo bei uns die Schmerzgrenzen liegen.
Diese werden wir garantiert nicht unterschreiten,
({5})
weil wir im Interesse derer handeln, für die diese Dienstleistung erbracht wird. Herr Kolb, das unterscheidet uns
vielleicht von Ihnen.
({6})
Abschließend gibt es zwei gute Nachrichten: Die eine
gute Nachricht betrifft die Kollegin Pothmer. Ich glaube,
unter Ihrem Weihnachtsbaum wird eine Koralle liegen.
Die zweite gute Nachricht richtet sich an die Frau Ministerin: Weihnachtsgeschenke, die einem nicht behagen,
kann man nach Weihnachten umtauschen. Dies ist eine
Einladung. Wir haben eine Empfehlung.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/182, 17/181 und 17/206 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a bis
22 d sowie zu den Zusatzpunkten 6 a bis 6 g. Es handelt
sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats
für nachhaltige Entwicklung
- Drucksache 17/245 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen
Nachlasszeugnisses ({1}) ({2})
KOM-Nr. ({3}) 154 endg.; Ratsdok.-Nr. 14722/
- Drucksachen 17/136 A.30, 17/270 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Dr. Eva Högl
Stephan Thomae
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/270, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Sechsundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 16/14067, 17/28 Nr. 2, 17/161 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/161, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/14067 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({5})
Übersicht 1
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/129 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 6 a bis 6 g. Das
sind die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 6 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
- Drucksache 17/261 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 1 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 6 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 2 zu Petitionen
- Drucksache 17/262 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 2 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 3 zu Petitionen
- Drucksache 17/263 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 3 ist bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller
anderen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 6 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 4 zu Petitionen
- Drucksache 17/264 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 4 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 6 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 5 zu Petitionen
- Drucksache 17/265 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 5 ist angenommen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
anderen Fraktionen.
Zusatzpunkt 6 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 6 zu Petitionen
- Drucksache 17/266 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 6 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke.
Zusatzpunkt 6 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 7 zu Petitionen
- Drucksache 17/267 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 7 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 l auf.
Dabei geht es um weitere Wahlen zu Gremien. Wir haben insgesamt zwölf Gremien zu besetzen. Vier Wahlen
müssen wir mit Stimmkarte und Wahlausweis durchführen. Zunächst kommen wir zu vier Wahlen, die mittels
Handzeichen durchgeführt werden.
Tagesordnungspunkt 8 a:
Gemeinsamer Ausschuss gemäß Artikel 53 a
des Grundgesetzes
- Drucksache 17/210 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/210 vor. Wer stimmt für
diese Wahlvorschläge? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 b:
Ausschuss nach Artikel 77 Absatz 2 des
Grundgesetzes ({5})
- Drucksache 17/211 -
Auch dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen
auf Drucksache 17/211 vor. Wer stimmt für diese Wahl-
vorschläge? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? -
Auch diese Wahlvorschläge sind mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 c:
Wahlprüfungsausschuss gemäß § 3 Absatz 2
des Wahlprüfungsgesetzes
- Drucksache 17/212 -
Auch dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen
auf Drucksache 17/212 vor. Wer stimmt für diese Wahl-
vorschläge? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? -
Auch diese Wahlvorschläge sind einstimmig angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 8 d:
Gremium gemäß § 23 c Absatz 8 des Zollfahn-
dungsdienstgesetzes
- Drucksache 17/213 -
Auf Drucksache 17/213 liegen dazu Wahlvorschläge
aller Fraktionen vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-
schläge? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch
diese Wahlvorschläge sind mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkte 8 e und 8 f. Es sind nun zwei
Wahlen mit Stimmkarten und Wahlausweisen durchzu-
führen, und zwar zu den folgenden beiden Gremien: zum
Ersten zum Wahlausschuss gemäß § 6 Abs. 2 des Bun-
desverfassungsgerichtsgesetzes und zum Zweiten zum
Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richterwahlgeset-
zes. Denken Sie bitte daran, dass sich an diese beiden
Wahlgänge noch vier Wahlen mittels Handzeichen und
dann auch noch zwei Wahlen mit Stimmkarte und Wahl-
ausweis anschließen werden.
Nun muss ich Sie um Aufmerksamkeit für einige Hin-
weise zu den beiden folgenden Wahlen bitten, auch
wenn wir heute Morgen schon etwas Ähnliches durchge-
führt haben. Die Stimmkarten in den Farben Grün und
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Orange werden bereits im Saal verteilt. Sie benötigen
außerdem Ihre Wahlausweise in den Farben Grün und
Orange, die Sie, soweit Sie sie noch nicht entnommen
haben, jetzt noch in Ihren Stimmkartenfächern finden.
Bevor Sie die entsprechende Stimmkarte in eine der
Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren dazugehö-
renden Wahlausweis einem der Schriftführer an den
Wahlurnen. Die Schriftführer bitte ich, darauf zu achten,
dass vor der Stimmabgabe der Wahlausweis übergeben
wird. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur
durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Die
Wahlen sind offen. Sie können die Stimmkarte also an
Ihrem Platz ankreuzen.
Zunächst Tagesordnungspunkt 8 e:
Wahlausschuss gemäß § 6 Absatz 2 des Bun-
desverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksachen 17/214, 17/215, 17/216, 17/217,
17/218 -
Dazu liegen Ihnen auf Drucksache 17/214 bis Druck-
sache 17/218 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Für diese
Wahl benötigen Sie die grünen Stimmkarten. Ich mache
darauf aufmerksam, dass Sie auf dieser Stimmkarte nur
einen Vorschlag ankreuzen dürfen. Demzufolge sind
Stimmkarten ungültig, die mehr als ein Kreuz oder Zu-
sätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will,
macht keine Eintragung.
Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle
Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann er-
öffne ich die Wahl.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Wir warten noch einen
Moment.
Sind jetzt alle Stimmen abgegeben? - Das ist der Fall.
Dann schließe ich die Wahl und bitte, auszuzählen. Das
Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 f:
Richterwahlausschuss gemäß § 5 des Richter-
wahlgesetzes
- Drucksachen 17/219, 17/220, 17/221, 17/222,
17/223 -
Hierzu liegen Ihnen auf den Drucksachen 17/219 bis
17/223 Listen mit Wahlvorschlägen vor. Sie benötigen
für diese Wahl die Stimmkarte und den Wahlausweis in
der Farbe Orange. Auch hier mache ich darauf aufmerk-
sam, dass Sie auf dieser Stimmkarte nur einen Vorschlag
ankreuzen dürfen.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die Plätze an den Wahlurnen einzunehmen. Sind die
Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich er-
öffne die Wahl.
Darf ich diejenigen Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die nicht an den Urnen eingeteilt sind, bitten, in
1) Ergebnis Seite 991 A
den Auszählraum zu kommen und dort ihren Kollegin-
nen und Kollegen zur Seite zu stehen und zu helfen?
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich diese Wahl und bitte die Schrift-
führer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu
beginnen. Auch dieses Ergebnis wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen nun die
Gremienwahlen fort. Dazu bitte ich Sie, Ihre Gespräche
nach Möglichkeit einzustellen und die freien Plätze, von
denen es genügend gibt, einzunehmen.
Wir kommen zunächst zu vier Wahlen, die mittels
Handzeichen erfolgen. Danach folgen zwei Wahlen mit
Stimmkarte und Wahlausweis.
Tagesordnungspunkt 8 g:
- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung des Gremiums gemäß Artikel 13
Absatz 6 des Grundgesetzes
- Drucksache 17/224 -
- Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
Artikel 13 Absatz 6 des Grundgesetzes
- Drucksache 17/225 -
Dazu liegt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/224 vor. Wer stimmt für die-
sen Antrag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? -
Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
genommen. Damit ist das Gremium nach Art. 13 Abs. 6
des Grundgesetzes eingesetzt und die Mitgliederzahl auf
neun festgelegt.
Zu diesem soeben eingesetzten Gremium liegen
Wahlvorschläge aller fünf Fraktionen auf Drucksache
17/225 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Ist
jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Wahlvor-
schläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses ange-
nommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 h:
- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung des Gremiums gemäß § 10 a des
Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes
- Drucksache 17/226 -
- Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfonds-
gesetzes
- Drucksache 17/227 -
2) Ergebnis Seite 991 A
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wer stimmt für den gemeinsamen Antrag auf Einsetzung des Gremiums auf Drucksache 17/226? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Damit
ist das Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes eingesetzt.
Wir kommen nun zur Wahl der Mitglieder. Wer
stimmt für die gemeinsamen Wahlvorschläge auf Drucksache 17/227? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8 i:
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in
der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates ({6})
gemäß den Artikeln 1 und 2 des Gesetzes über
die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates
- Drucksache 17/228 Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/228 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 j:
Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates der
Kreditanstalt für Wiederaufbau
- Drucksache 17/229 Auch dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD vor. Wer stimmt für den Wahlvorschlag auf Drucksache 17/229? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, muss ich Sie auf Folgendes aufmerksam machen:
Die Stimmzettel für die nächste Wahl müssen korrigiert
oder eventuell neu gedruckt werden. Wir wollen das jetzt
klären. Ich bitte deshalb die Geschäftsführer, kurz zu mir
zu kommen.
Ich unterbreche die Sitzung für einige Minuten.
({7})
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir haben folgenden Sachverhalt: Auf dem gelben
Zettel, auf dem die Wahlvorschläge für das Vertrauensgremium enthalten sind, fehlt hinter dem Namen des
Kollegen Heinz-Peter Haustein von der FDP-Fraktion
der Kreis für das Kreuz. Das mag für den einen oder anderen zunächst einmal nicht allzu entscheidend zu sein.
Aber dieser Kringel ist sehr wichtig, weil er die Stelle
anzeigt, wo das Kreuz gemacht werden muss. Ohne ein
Kreuz hinter seinem Namen kann der Kollege nicht gewählt werden.
Dies ist also keine Kleinigkeit. Ich bitte deshalb um
Aufmerksamkeit für die unter den Geschäftsführern vereinbarte Regelung. Aufgrund verschiedener Umstände
haben wir die Zeit heute schon stark überzogen. Es bestand Einigkeit darüber: Wenn wir alle konzentriert wählen und die Wahlzettel so ausfüllen, als wenn der Kreis
vorhanden wäre, dann müssten wir die Wahlzettel nicht
neu drucken und könnten somit Zeit sparen.
({0})
Ich bitte im Interesse aller, nicht nur im Interesse des
vorgeschlagenen Kollegen, dies zu beachten. Ich lasse
Ihnen jetzt ein paar Minuten Zeit, damit Sie sich inner-
halb der Fraktionen entsprechend informieren können.
Ich weise darauf hin, dass das Kreuz auch dann gültig
ist, wenn es ohne den Kringel bei dem genannten Namen
steht.
Damit rufe ich nun die Tagesordnungspunkte 8 k und
8 l auf:
k) - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung des Vertrauensgremiums gemäß
§ 10 a Absatz 2 der Bundeshaushaltsord-
nung
- Drucksache 17/230 -
- Wahl der Mitglieder des Vertrauensgre-
miums gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundes-
haushaltsordnung
- Drucksache 17/231 -
l) - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung des Gremiums gemäß § 3 des
Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 17/232 -
- Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 17/233 -
Zunächst kommen wir zu zwei Wahlen mit Stimm-
karte und Wahlausweis. Das betrifft den soeben bespro-
chenen Wahlvorgang. Es geht dabei um die Einsetzung
des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bun-
deshaushaltsordnung und des Gremiums gemäß § 3 des
Bundesschuldenwesengesetzes sowie um die Wahl der
Mitglieder dieser beiden Gremien. Gewählt in diese Gre-
mien ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder
des Bundestages auf sich vereint. Ich bitte Sie, darauf zu
achten: Gewählt ist, wer die Mehrheit der Mitglieder des
Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens
312 Stimmen erhält.
Die Stimmkarten in den Farben Gelb und Weiß wur-
den verteilt. Sie benötigen außerdem, wie bei den ande-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
ren Wahlgängen auch, jeweils Ihre Wahlausweise. Auch
hier gilt wieder: Bevor Sie die entsprechende Stimm-
karte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte
Ihren dazugehörenden Wahlausweis einem der Schrift-
führer an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme
an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises
erbracht werden. Auch diese Wahlen finden offen statt.
Sie können also die Stimmkarten auch an Ihrem Platz
ankreuzen.
Zunächst kommen wir zum Tagesordnungspunkt 8 k
und damit zum Vertrauensgremium gemäß § 10 a Abs. 2
der Bundeshaushaltsordnung. Bevor wir die Mitglieder
wählen, rufe ich den gemeinsamen Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/230
zur Einsetzung dieses Gremiums und zur Festlegung der
Anzahl der Mitglieder auf. Wer stimmt für den An-
trag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der An-
trag ist damit einstimmig angenommen. Das Vertrauens-
gremium ist damit eingesetzt und die Mitgliederzahl auf
zehn festgelegt.
Nun kommen wir zur Wahl der Mitglieder des Ver-
trauensgremiums. Für diese Wahl brauchen Sie nun den
gelben Wahlausweis und die gelbe Stimmkarte, über die
vorhin gesprochen wurde. Sie können zehn Namensvor-
schläge ankreuzen. Ungültig sind Stimmkarten, die an-
dere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der
Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Das gilt
auch für die im Anschluss folgende Wahl.
Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die Plätze einzunehmen. - Das ist erfolgt. Dann er-
öffne ich die Wahl. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich diese Wahl und bitte, auszuzäh-
len. Das Ergebnis wird Ihnen auch hier später bekannt-
gegeben.1)
Wir kommen schließlich zum Tagesordnungs-
punkt 8 l, zunächst zum gemeinsamen Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der Linken und
des Bündnisses 90/Die Grünen zur Einsetzung des Gre-
miums und zur Festlegung der Anzahl der Mitglieder.
Wir stimmen nun über den gemeinsamen Antrag auf
Drucksache 17/232 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Damit
ist das Gremium gemäß § 3 des Bundesschuldenwesen-
gesetzes eingesetzt und die Mitgliederzahl auf zehn fest-
gelegt.
Für die Wahl der Mitglieder benötigen Sie nun die
weiße Stimmkarte und Ihren weißen Wahlausweis. Auf
der Stimmkarte können Sie zehn Namensvorschläge an-
kreuzen. Ich bitte nun die Schriftführer, zu diesem letz-
ten Wahlgang die Plätze an den Urnen einzunehmen. -
Wie mir signalisiert wird, ist das geschehen. Dann er-
öffne ich die Wahl.
1) Ergebnis Seite 991 B
Hat nun jeder Kollege und jede Kollegin seine bzw.
ihre Stimmkarte abgegeben? - Das ist der Fall. Dann
schließe ich auch diese Wahl und bitte, auszuzählen. Die
Ergebnisse aller Wahlen werden Ihnen dann später bekannt gegeben.
Ich bitte diejenigen, die der weiteren Debatte nicht
folgen wollen oder können, ihre Gespräche außerhalb
des Plenarsaals fortzuführen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zur Einführung
einer Finanztransaktionssteuer
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPDFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundeskanzlerin hat sich heute Morgen in ihrer Regierungserklärung zur internationalen Finanztransaktionssteuer bekannt.
({0})
Das ist löblich; denn diese Steuer muss ein Kernelement
der Maßnahmen zur Herstellung von mehr Stabilität auf
den Finanzmärkten sein. Eine internationale Transaktionssteuer ist ein wirksames Mittel, um die von der Realwirtschaft völlig losgelösten Spekulationen auf den internationalen Finanzmärkten spürbar einzudämmen.
Aber ist die Bundesregierung in diesem entscheidenden Punkt zur Abwehr zukünftiger Krisen auf den Finanzmärkten wirklich handlungsfähig und auch handlungswillig?
({1})
Zieht in Zukunft die ganze Bundesregierung wirklich an
einem Strang, oder bleibt es bei der Zerstrittenheit der
vergangenen Woche? Die Frau Bundeskanzlerin spricht
sich für diese Steuer aus, die Herren Minister
Westerwelle und Niebel bekunden ihre Ablehnung. Im
Ergebnis geschieht überhaupt nichts. Das ist typisch für
diese Regierung. Genau das darf nicht passieren.
({2})
Wir wollen heute von Ihnen ein klares Bekenntnis zur
Finanztransaktionssteuer hören, ein Bekenntnis nicht nur
der Kanzlerin, sondern auch des Koalitionspartners FDP.
Aber das ist wohl kaum zu erwarten.
({3})
- Ihr neuer Generalsekretär hat eine solche Steuer ja erst
gestern als antiquiertes Denken abgetan. Ohne ein klares
Bekenntnis der gesamten Koalition sind die schönen
Worte von Frau Merkel von heute Morgen aber leider
wieder einmal herzlich wenig wert.
({4})
Wir haben damit schon in der Großen Koalition Erfahrungen gemacht.
Diese Worte sind genauso wenig wert wie ihre dauernden Mahnungen in Sachen Bankerboni, denen man
regelmäßig die Ablehnung konkreter Maßnahmen folgen
lässt, zuletzt bezogen auf eine Bonusabgabe, wie sie in
Großbritannien vorgesehen ist. Das Bekenntnis der Bundeskanzlerin zu dieser Steuer ersetzt doch nicht konkrete
Maßnahmen gegen den Bonuswahnsinn. Mit ihren Statements hat sie diesen Eindruck nämlich erweckt.
({5})
Das kann man doch nicht gegeneinander ausspielen und
sagen: Gegen die Boni brauche ich nichts zu tun, weil
ich für die Transaktionsteuer bin. Nein, wir brauchen ein
ganzes Bündel von Maßnahmen, das gezielt gegen sämtliche Ursachen der Finanzkrise wirkt.
({6})
Wir Sozialdemokraten haben bereits am Jahresanfang
in einem 14-Punkte-Katalog von Herrn Steinbrück und
Herrn Steinmeier skizziert, wie ein solch umfassender
Ansatz aussehen könnte. Die Finanztransaktionssteuer
und klare Begrenzungen für Bonuszahlungen gehören
dazu, reichen aber nicht aus.
Die Bundesregierung muss endlich begreifen, dass
ein Versagen der Politik im Umgang mit der Finanzkrise,
mit ihren Ursachen und Folgen nicht nur eine ökonomische Dimension hat, sondern eine reale Gefahr für den
sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und für
die Akzeptanz unserer Demokratie bedeutet. Das hat
nicht nur einen moralischen Aspekt, wie Frau Merkel
heute sagte. Diesen Aspekt mag das auch haben, aber der
soziale Zusammenhalt, der eh schon brüchig ist - das
sieht man, wenn man ganz kritisch darauf schaut -, wird
durch Meldungen wie die, die wir in den letzten Tagen
erhalten haben, weiter untergraben: Es wurden noch einmal 3 Milliarden Euro Steuergelder in die balkanesischen Abenteuer der Bayern LB versenkt, und am nächsten Tag hat Herr Ackermann das Gewinnziel für seine
Bank mit 10 Milliarden Euro angegeben, von denen die
eine oder andere Milliarde selbstverständlich in den Bonustöpfen seiner Börsenhändler landen wird. Das ist einfach unerträglich.
({7})
Wir wollen hier nicht zündeln, ganz im Gegenteil.
Das hält unsere Gesellschaft auf Dauer nicht aus, und
das müssen alle politischen Akteure in diesem Hause
endlich kapieren.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Leo Dautzenberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Poß, obwohl
Sie hier konstatieren, dass Sie nicht zündeln wollen, hat
die Opposition die Lunte bei diesem Thema doch schon
längst angesteckt.
({0})
- Das wollte ich gerade in Erinnerung bringen. Sie distanzieren sich teilweise von dem, was wir in der Großen
Koalition gemeinsam auf den Weg gebracht haben.
({1})
Das muss natürlich in einer gewissen Kontinuität stehen. Man darf Sie durchaus daran erinnern, was wir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben:
({2})
Finanzmarktstabilisierungsgesetz, -ergänzungsgesetz und
-fortentwicklungsgesetz. Das waren Reaktionen auf die
Finanzkrise. Wir haben einen Rahmen für die Institute
geschaffen, um die soziale Marktwirtschaft in Deutschland erhalten zu können.
Es bringt nichts, wenn Sie jetzt in diesem forschen
Stil Dinge interpretieren, die die Kanzlerin heute Morgen in ihrer Regierungserklärung, aber auch durch ihr
Verhalten auf den Gipfeln nicht zum Ausdruck gebracht
hat.
({3})
Wenn ich noch einmal zitieren darf, was der Europäische Rat beschlossen hat:
Der Europäische Rat fordert den IWF auf, bei seiner Überprüfung die gesamte Bandbreite von Optionen einschließlich Versicherungsprämien, Abwicklungsfonds, Vereinbarungen über bedingtes
Kapital … sowie eine globale Steuer auf Finanztransaktionen in Betracht zu ziehen.
Wir haben also mehrere Optionen. Es ist nicht so, wie
Sie unterstellen, dass dies schon das Bekenntnis zur Finanztransaktionssteuer ist.
({4})
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Das ist
eine von vielen Möglichkeiten.
({5})
Aber wenn Sie das gemeinsam machen wollen, müssen
Sie alle Optionen offenhalten. Die Beauftragung an den
IWF ist gegeben; Vergleichbares ist auch in Pittsburgh
beschlossen worden. Jetzt warten Sie doch einmal ab,
was der IWF feststellen wird. Man kann sich doch nicht
für ein System entscheiden, wenn man nicht durch weltweite Erhebung überblicken kann, wie die Wirksamkeit
solcher Maßnahmen ist. Wir sind ja bereit - das ist immer unsere Forderung gewesen -, Teile des Finanzsektors, der uns in die Krise geführt hat, an den Kosten zu
beteiligen. Nur muss man dann auch ein wirksames Instrumentarium haben und nicht nur vollmundige Erklärungen abgeben, durch die man im Grunde nichts erreicht.
({6})
Ich hätte erwartet, Herr Kollege Poß, dass Sie heute
etwas dazu sagen, was in Ihrem Programm steht, nämlich dass Sie im nationalen Alleingang eine Börsenumsatzsteuer für Finanzprodukte an der Börse einführen
wollen.
({7})
Das ist ein einseitiger Vorgang, der dazu führen würde,
dass sich diese Umsätze vom deutschen Finanzmarkt zu
anderen verlagern. Ich hätte erwartet, dass Sie dazu Stellung beziehen, dass Sie solche Alleingänge machen wollen,
({8})
die nur vielleicht die sozialdemokratische Seele befriedigen, aber der Lösung des Problems nicht Rechnung tragen. Dem wollen wir uns widmen.
Eine Finanztransaktionssteuer, wenn man es vom theoretischen Ansatz her betrachtet, ist möglicherweise
durchaus ein Instrumentarium, spekulative Umsätze teilweise zu erschweren, indem man sie mit zusätzlichen
Kosten belegt. Das ist die Theorie. Die Frage ist: Trägt
dann der Finanzsektor diese Kosten, oder werden sie nur
überwälzt, sodass der Anleger, der Kunde, der Investmentsparer, der Riester-Sparer dann für die ganze
Chose zahlt und der Finanzsektor, den wir eigentlich beteiligen wollten, wiederum außen vor ist? Wenn das sozialdemokratische Politik ist, dann herzlichen Glückwunsch zu diesen Vorgaben.
({9})
Wir müssen die Wirksamkeit sehen. Es hilft im Endeffekt auch nicht, wenn nur Europa das beschließt, sondern es muss weltweit gelten,
({10})
wenn es wirksam sein soll.
({11})
Da muss man auch noch fragen: Was beziehen wir in die
Bemessung ein? Nur die Börsenumsätze oder auch die
außerbörslichen, also Over-the-Counter-Geschäfte? Wie
wollen Sie die erfassen, sodass dann die jeweilige Branche diese Kosten selber trägt und nicht überwälzt? Das
ist also ein breites Spektrum. Kollege Poß, da ist mit
Schnellschüssen nicht gedient,
({12})
sondern die Kanzlerin steht hier zur Verantwortung, das
auf europäischer Ebene etwas beschlossen wird. Diese
Steuer ist eine von vielen Optionen.
Beschreiten Sie doch den Weg, den wir gemeinsam
angefangen haben, mit, dass wir uns um die Regulierung
von Märkten und Produkten weltweit kümmern
({13})
und das Zeitfenster, das noch offen ist, nutzen. Da ist die
Aufsicht gefragt. Da sind manche Finanzprodukte gefragt. Das ist der wirksamere Weg, kurzfristig zu Erfolgen zu kommen. Wir müssen dieses Zeitfenster nutzen,
sonst geht es so weiter, wie es im angelsächsischen Bereich teilweise schon wieder praktiziert wird, wo man
annehmen muss, dass sie nichts daraus gelernt haben.
Wir sind bereit, verantwortungsvoll den Weg zu gehen,
der von den vielen Optionen bestimmt wird.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Axel Troost für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir begrüßen es natürlich außerordentlich, dass die SPD
eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hat,
weil auch wir es für sehr wichtig halten.
({0})
Ich persönlich habe diese Steuer vor zehn Jahren im Zusammenhang mit der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ im Memorandum 2000 schon gefordert.
Damals haben wir das noch Kapitalverkehrsteuer oder
-steuern genannt. Es ging auch schon damals darum, die
abgeschaffte Börsenumsatzsteuer, ergänzt um außerbörsliche Aktivitäten mit der Devisentransaktionsteuer, also
der Tobin-Steuer, zu verbinden zu einer einheitlichen
Gesamtkapitalverkehr- oder heute Finanztransaktionssteuer.
({1})
Ziel und Zweck dieser Steuer war damals wie heute
erstens - das ist erwähnt worden -, Finanztransaktionen,
wie man das so schön sagt, zu entschleunigen, also minimal zu verteuern - darauf komme ich gleich noch einmal -,
um letztlich ganz kurzfristige Spekulationen etwas unattraktiver zu machen und damit Entschleunigung zu bewirken.
Zweitens geht es aber auch darum, ganz erhebliche
Einnahmen zu erzielen; das ist hier noch gar nicht erwähnt worden. Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung in Wien hat im Sommer letzten Jahres
eine Studie vorgelegt, in der die Folgen der Einführung
dieser Steuer simuliert wurden. Man kam zu dem Ergebnis, dass bei einem Steuersatz von 0,01 Prozent pro
Transaktion in der Bundesrepublik Deutschland Einnahmen in Höhe von 13 bis 15 Milliarden Euro alleine aus
Wertpapiergeschäften und europaweit Einnahmen von
weiteren 20 Milliarden Euro aus Devisentransaktionsgeschäften entstehen. Es geht also um sehr viel Geld, das
wir auch verwenden könnten, um die Kosten, die die
Finanzmarktkrise verursacht hat, zumindest zum Teil zu
kompensieren.
Weil es letztlich um den Steuersatz geht, wenn man
versucht, diese Steuer national oder europaweit relativ
schnell einzuführen, möchte ich, weil gleich mit Sicherheit das Argument der privaten Sparer angeführt wird,
darauf hinweisen, was ein Steuersatz von 0,01 Prozent
bedeutet. Ein Steuersatz von 0,01 Prozent heißt: Wenn
ein Privatanleger ein Depot mit Aktien oder festverzinslichen Wertpapieren im Wert von 100 000 Euro anlegt,
muss er einmalig 10 Euro bezahlen. Die Bankgebühren
für dieses Depot betragen allerdings zwischen 1 000 und
2 000 Euro. Das möchte ich einmal deutlich machen.
Die Einführung dieser Steuer hätte Einnahmen von
insgesamt 13 Milliarden Euro zur Folge, und das, obwohl bereits simuliert wurde, dass es zu einem Rückgang der Zahl der Transaktionen kommen würde. Insofern glaube ich, dass sehr viel für die Einführung dieser
Steuer spricht und dass man dieses Thema jetzt entschieden angehen sollte.
({2})
Ich bin in dieser Debatte leider sehr früh an der Reihe,
sodass ich später nicht mehr reagieren kann. Wahrscheinlich wird im weiteren Verlauf der Diskussion neben dem Argument der Sparerinnen und Sparer auch argumentiert: Eine solche Steuer kann man nur weltweit
einführen,
({3})
eventuell in einem Schlag europaweit, am besten aber
weltweit. - Das heißt letztlich, dass man sich hinter der
Welt versteckt und keine eigenen Aktivitäten entwickelt.
Das Mindeste, was uns gelingen muss, ist, dass wir
ähnlich wie das belgische und das französische Parlament einen Vorratsbeschluss fällen, der lautet: Wenn
diese Steuer europaweit eingeführt werden sollte, dann
ist Deutschland dabei. Belgien und Frankreich haben
dies beschlossen. Ein solcher Beschluss würde Mut machen, in den internationalen Gremien, in der EU für eine
Umsetzung zu kämpfen. Ich sage noch einmal: Dies ist
die einzige Möglichkeit, die Finanzmärkte und ihre
Akteure wieder vernünftig in die Finanzierung der öffentlichen Haushalte einzubeziehen und gleichzeitig zu
verhindern, dass das Geschäft mit spekulativen Wertpapieren so weiterläuft wie bisher. Ich bitte Sie, diesen Ansatz zu prüfen.
Im nächsten Monat, im Januar 2010, wird die Linke
einen entsprechenden Antrag einbringen, der seinen parlamentarischen Gang nehmen wird. Ich hoffe, dann wird
in der Debatte deutlich, dass sich eine große Mehrheit
dieses Hauses, vielleicht mit Ausnahme der FDP, die
Einführung einer solchen Steuer vorstellen kann.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Frank Schäffler für die
FDP-Fraktion.
({0})
Bleiben Sie ruhig, Herr Kuhn. - Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP bekennt sich zu dem, was im September dieses Jahres vereinbart wurde, schon allein aus Verantwortung für die
Verpflichtungen, die wir international eingegangen sind.
Wir unterstreichen das, was Herr Dautzenberg gesagt
hat: Es handelt sich um einen Prüfauftrag. Dennoch entlässt uns dieser Prüfauftrag nicht aus der Verantwortung,
zu hinterfragen, welche Wirkung eine Finanztransaktionssteuer hat. Nicht ohne Grund haben Länder wie Dänemark, Frankreich, Italien, Luxemburg, Österreich,
Schweden, Spanien und letztendlich Deutschland - die
FDP gemeinsam mit der Union - 1991 die Börsenumsatzsteuer abgeschafft: Sie war nachteilig für den jeweiligen Börsenplatz, sie hat der Aktienkultur und damit
auch der privaten Altersvorsorge geschadet,
({0})
und sie hat die Kapitalaufnahme von Unternehmen über
die Börse verteuert.
({1})
Alle statischen Einnahmerechnungen stimmen nicht,
sie stimmten nie. Eine Steuer auf Finanztransaktionen
verhindert auch keine Investitionsblasen und keine Finanzkrisen. Sie kann Investitionsblasen und Finanzkrisen nicht verhindern, weil die Ursachen für ihre Entste960
hung nichts mit dem Umfang von Finanztransaktionen
oder mit ihrer Geschwindigkeit zu tun haben.
Eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Investitionsblasen und Finanzkrisen liegt in der falschen
Geldpolitik der Notenbanken,
({2})
insbesondere der amerikanischen Fed, die mit billigem
Geld Spekulationsblasen erst ermöglicht hat.
({3})
Diese Politik des billigen Geldes, das nicht auf Ersparnissen beruht, ist die Ursache dafür, dass wir immer wieder eine Abkopplung des Finanzbereiches von der Realgüterwirtschaft feststellen müssen. Das war im Kern
auch die Ursache der Weltwirtschaftskrise von 1929.
Wir befürchten, dass der Ruf nach dieser neuen Steuer
auf Finanztransaktionen schlicht ein Ablenkungsmanöver ist. Übrigens befürchten nicht nur wir das: Noch in
der vergangenen Legislaturperiode hat sich die SPD
selbst gegen diese Steuer ausgesprochen.
({4})
Die Berichterstatterin der SPD für den Finanzmarkt,
Frau Nina Hauer - leider nicht mehr im Parlament; Sie
haben sie nicht früh genug auf die Liste gesetzt -, hat die
Ablehnung eines Antrages zur Einführung einer Börsenumsatzsteuer
({5})
noch mit den Worten begründet - ich zitiere -:
Sie treffen mit der Börsenumsatzsteuer nur die kleinen Sparer, die ihr erarbeitetes Vermögen oder ihre
erwirtschafteten Gewinne, ihre Altersversorgung an
der Börse anlegen.
({6})
Sie sehen: Die SPD hat sich kurz vor der Wahl umorientiert und ist jetzt letztendlich dabei, dem gemeinen Populismus hinterherzurennen.
({7})
Ich will zur Ehrenrettung unseres Koalitionspartners
zitieren, dass der bayerische Finanzminister Fahrenschon
und der CDU-Generalsekretär Pofalla - so berichtet die
Welt vom 18. September 2009 - vorgerechnet haben, dass
ein Riester-Sparer, der heute 30 000 Euro brutto verdient
und den für die maximale Förderung notwendigen Betrag
einzahlt, durch eine solche Steuer in 20 Jahren um
4 700 Euro gebracht wird.
({8})
Es trifft also - anders als von verschiedener Seite dargestellt wird - die kleinen Sparer.
({9})
Dies alles kann man nicht mit der Aussage wegwischen: Es kann nicht weitergehen wie bisher. Das stimmt
zwar; aber es ist aus meiner Sicht zu wenig. Man müsste
letztendlich die Ursachen angehen: Die heutige Weltwirtschaftskrise ist eine Krise der Überschuldung von
Banken und Staaten. Das Kernproblem besteht darin,
dass im heutigen Geldsystem Kredite gewährt werden,
die nicht durch Ersparnisse gedeckt sind.
({10})
Solch ein aus dem Nichts geschaffenes Geld produziert
nicht nur immer schwerere Wirtschafts- und Finanzkrisen, sondern führt auch in eine Überschuldungssituation,
die unsere Wirtschaftsordnung und letztendlich auch die
freiheitliche Gesellschaft ruiniert.
({11})
Deshalb ist es, glaube ich, zu einfach, populistisch nach
einer neuen Steuer zu rufen. Entscheidend ist, dass wir
künftige Krisen durch eine marktwirtschaftliche Geldordnung verhindern.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt Gerhard Schick für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Rechnung, die Herr Schäffler gerade aufgestellt hat, einmal für die intransparenten Bankprovisionen machen würde, dann kämen wir auf eine ganz andere Größenordnung.
({0})
Deswegen finde ich, wäre es eine gute Politik - das ist
genau das, was wir vorschlagen -, für einen richtigen
Anlegerschutz zu sorgen; denn dann würde der Nettogewinn für den Anleger so groß sein, dass wir noch ganz
andere Steuersätze festlegen könnten, und dann würde
man den Banken wirklich einmal etwas abfordern und
wirklich etwas für die Kunden tun. Bei dem Punkt hat
die FDP in der letzten Zeit aber immer gekniffen.
({1})
Stattdessen war sie an der Stelle die Lobby für die Banken, Versicherungen und Fonds, um es intransparent zu
lassen. Das werden wir ja noch einmal sehen.
({2})
In einem aber hat der Kollege Schäffler natürlich
recht: Vorgeschaltet vor die Frage der Haltung der Bundesregierung könnten wir auch eine Aktuelle Stunde zur
Haltung der SPD zur Finanzumsatzsteuer durchführen.
({3})
Sie unterlag in den letzten Monaten einer gehörigen
Schwankung. Herr Schäffler hat hier völlig richtig zitiert.
({4})
Zu einem Zeitpunkt, als Herr Steinmeier und Herr
Steinbrück schon für eine Börsenumsatzsteuer und eine
weltweite Finanzumsatzsteuer waren, wurde hier im
Bundestag noch argumentiert, so eine Steuer schade dem
kleinen Sparer.
({5})
Plötzlich ist man jetzt doch dafür. Ich habe eine Bitte an
die nächsten Rednerinnen und Redner der SPD: Erklären
Sie uns einmal, was jetzt wirklich Ihre Position ist.
({6})
Nun aber zur Regierung; hier sind wir uns ja einig.
Die Kanzlerin hat heute Morgen gesagt, das sei auch
eine moralische Frage.
({7})
Ich würde sagen: Es ist jetzt vor allem eine politische
Frage, ob die Bundesregierung das wirklich unterstützt
oder ob hier ins Blaue hinein ein Prüfauftrag erteilt wird,
bei dem ein Minister dieser Regierung direkt sagt: Daraus soll nie etwas werden. - So geht es aber nicht.
({8})
Mit dieser Art der Unterstützung wird daraus international nie etwas. Sie tun genau das: National sagen Sie:
„Es geht nicht“, über Europa verlieren Sie kein Wort,
und global versuchen Sie, dies in ein politisches Nirwana zu schicken, damit nichts herauskommt.
({9})
Die Idee ist zu gut, als dass Sie sie einfach ins Off katapultieren können.
({10})
Gerade in der Europäischen Union besteht eine wirkliche Chance, hier etwas zu tun. Nicht nur aus den kontinentaleuropäischen Ländern, deren Parlamente schon
gesagt haben: „Wir machen das mit, wenn die anderen
mitmachen“, sondern auch aus Großbritannien kommt
erstmals eine Unterstützung dafür. Diese historische
Chance nicht zu nutzen, um einen wirklichen Finanzierungsbeitrag der Finanzindustrie zu den Finanzierungen
öffentlicher Aufgaben und vor allem zur Tragung der
Krisenlasten einzufordern, ist ein massives Versäumnis,
das wir Ihnen vorwerfen.
({11})
Es geschieht ja nicht so häufig, dass sich Bürgerinnen
und Bürger aktiv für die Einführung einer neuen Steuer
einsetzen, wie das gerade mit der Petition für eine Finanzumsatzsteuer geschehen ist. Das zeigt, dass es hier eine
grundlegende Ungerechtigkeit und etwas gibt, was die
Menschen nicht verstehen.
Warum wird auf jeden Schrank, den der Schreiner
baut, auf jedes Brötchen, das der Bäcker backt, und auf
jede Friseurdienstleistung eine Umsatzsteuer erhoben,
während das nicht geschieht, wenn es um die Umsätze
beim Finanzhandel in Frankfurt geht? Warum ist das so?
Diese Frage müssen Sie uns einmal beantworten. Das ist
eine Privilegierung der Finanzbranche, die wir abschaffen müssen, um einen fairen Finanzierungsbeitrag zu haben.
({12})
- Wenn man sich anschaut, welche Konsolidierungsbedarfe Sie haben, dann erkennt man, dass das ein sehr relevanter Ansatzpunkt ist.
Da Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, internationale Zusagen der Bundesregierung zur Finanzierung
der Entwicklungshilfe einzuhalten, stellt sich vielleicht
die Frage, wie wir die Finanzlasten in Zukunft verteilen.
({13})
Dass das alles ökonomisch überhaupt nicht gehen soll,
ist interessant. In den USA unterstützen 200 renommierte Wirtschaftswissenschaftler die Einführung einer
moderaten Finanzumsatzsteuer, wobei die gleichen Steuersätze gelten sollen, die wir auch vorschlagen. Man
müsste sich vielleicht einmal ernsthaft damit auseinandersetzen.
({14})
Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu handeln und zu nutzen, dass die Bürgerinnen und Bürger
wissen, dass hier etwas schiefläuft und zu korrigieren ist,
und dass auch in Großbritannien entsprechend gedacht
wird, wo der Chef der Finanzaufsicht, Turner, sagt: Ganz
viele Produkte, die am Finanzplatz London gehandelt
werden, sind volkswirtschaftlich unnütz.
({15})
Diese Situation kann man jetzt nutzen, um politisch
eine Initiative zu ergreifen. Das würde die Frage nach
der volkswirtschaftlichen Wirkung beantworten, die
nämlich darin besteht, dass die volkswirtschaftlich unproduktiven Umsätze unterbleiben.
({16})
Das ist die Aufgabe der jetzigen Regierung. Darauf sollten Sie sich verständigen, statt sich gegenseitig zu blockieren. Ich mache mir nämlich Sorgen, dass die Bundesregierung jetzt, wo die ganze Welt den richtigen
Drive hat, die Finanzbranche zu kontrollieren und etwas
Neues anzufangen, durch die Blockade zwischen der
CDU/CSU auf der einen Seite und der FDP auf der anderen Seite international schwach aufgestellt ist, statt das
Thema Neuaufstellung der Finanzmärkte zum Schwerpunkt zu machen, wie es die Bürgerinnen und Bürger
und auch die Unternehmerinnen und Unternehmer dieses
Landes dringend fordern. Das wäre Ihre Aufgabe. Tun
Sie es!
({17})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Hartmut Koschyk.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Finanz- und Wirtschaftskrise hat den Staat gezwungen,
mit Beträgen von bislang unbekannter und ungeahnter
Größenordnung das internationale, das europäische, aber
auch das deutsche Bankensystem zu stützen. Es ist unbestritten, dass diese Stützungsmaßnahmen alternativlos
waren. Niemand möchte sich ausmalen, was passiert
wäre, wenn wir auch in Deutschland systemrelevante
Bankinstitute nicht aufgefangen hätten.
({0})
So haben wir das Schlimmste verhindert. Richtig ist
aber auch: Der Schuldenstand der öffentlichen Hand ist
durch diese Rettungsmaßnahmen sprunghaft gestiegen,
und noch - ich glaube, auch in diesem Punkt müssen wir
nüchtern sein - sind nicht alle Risiken in unseren Haushalten manifestiert.
Neben den privaten Verlusten durch die Finanzkrise,
die viele Bürger erlitten haben, und dem Schicksal drohender Arbeitslosigkeit sehen sich die Steuerzahler jetzt
mit einem immensen öffentlichen Schuldenberg konfrontiert. Deshalb stellen die Bürger zu Recht die Frage,
wer die Verursacher der Krise sind und ob diese auch finanziell zur Rechenschaft gezogen werden.
Angesichts einer öffentlichen Diskussion über frühere
Bankmanager, die die Auszahlungen ihrer Boni für die
Zeit der offensichtlich ruinösen, ja sogar systemgefährdenden Geschäftspolitik einklagen, und aktueller Meldungen über schon wieder steigende Bonuszahlungen im
Banksektor sind diese Fragen unserer Bürger sicherlich
nachvollziehbar. Es gibt keinen Zweifel: Das Verursacherprinzip muss auch hier zur Anwendung kommen.
Wenn die Märkte eine überzogene Risikoneigung nicht
ausreichend bestrafen können und der Staat zur Abwendung der Folgen rettend eingreifen muss, dann muss der
Staat auch bei der Kostenverteilung an die Verursacher
denken.
({1})
Deshalb ist die Bundesregierung davon überzeugt,
dass wir den Finanzsektor an den Kosten beteiligen müssen, die durch die staatlichen Interventionen zur Krisenbewältigung entstanden sind.
({2})
Mit genau dieser Frage setzt sich auch auf Initiative der
Bundesregierung die internationale Gemeinschaft bzw.
die Europäische Union auseinander. Die Staats- und Regierungschefs der G-20-Staaten haben bei ihrem Gipfeltreffen in Pittsburgh im September auch auf deutsche
Initiative den Internationalen Währungsfonds beauftragt,
einen Bericht zu dieser Problematik zu erarbeiten.
Der Europäische Rat hat auch auf deutsche Initiative
in der letzten Woche unterstrichen, dass sich diese Prüfung auf mehrere Möglichkeiten erstrecken soll. Eine dieser Optionen ist eine internationale Finanztransaktionssteuer. Daneben werden aber auch andere Lösungen
diskutiert. So führt beispielsweise Schweden Ende dieses Jahres eine Stabilitätsabgabe ein. Diese ist von den
Finanzinstituten zu entrichten und fließt in einen Sicherungsfonds, aus dem künftig anfallende Kosten zur staatlichen Stützung des Finanzsektors finanziert werden sollen.
Auch derartige Alternativen müssen gründlich geprüft werden. Dabei geht es zum einen um die Auswirkungen auf die Finanzmärkte und Volkswirtschaften.
Zum anderen müssen wir aber auch die Belastungen des
Finanzsektors im Blick haben, solange die Krise noch
nicht vollständig überwunden ist.
Optimal wäre sicherlich eine Lösung, die gleichzeitig
einen Anreiz zur Verringerung hochriskanter Geschäfte
gibt, aber andererseits einen spürbaren finanziellen Beitrag zur Bewältigung der Krisenkosten leistet. Ich halte
es für fraglich, ob der Finanzsektor heute bereits in der
Lage ist, neue Belastungen zu schultern.
({3})
So weit sind wir in den Stabilisierungsbemühungen noch
nicht. Man kann sich das aber für das Jahr 2011 und die
Folgejahre sicherlich vorstellen.
({4})
Die Analyse des Internationalen Währungsfonds und
die weitere internationale Diskussion müssen wir abwarParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
ten. Eine nationale Entscheidung über die zu diskutierenden Instrumente wäre sicherlich verfrüht. Die Finanztransaktionssteuer ist dabei - das hat die Bundesregierung
deutlich gemacht - eine der zu prüfenden Möglichkeiten.
Ich sage sehr deutlich: Bei der Ausgestaltung einer derartigen Steuer wird sehr scharf darauf zu achten sein,
dass ihr Hauptziel der Dämpfung spekulativer Exzesse
einerseits und der Stärkung stabilisierender Investitionen
in die Finanzmärkte andererseits nicht konterkariert
wird.
({5})
Auf jeden Fall erscheint eine solche Steuer - das muss
man deutlich sagen; darüber sollte es auch in der SPD
keinen Streit geben - überhaupt nur international denkbar. Jeder nationale Alleingang wäre völlig untauglich.
({6})
Das wäre schon allein wegen des Standortwettbewerbs
und der vorhersehbaren Ausweichreaktionen nicht vertretbar. Sinnvoll erscheint nur eine international abgestimmte Lösung.
Lieber Herr Schick, wir begleiten als Bundesregierung die europäische Diskussion sehr engagiert. Natürlich gibt es in Europa Länder - Frankreich, Österreich
und Großbritannien -, die sich bereits öffentlich für eine
Finanztransaktionssteuer ausgesprochen haben. Aber
auch diese Länder setzen allein auf eine internationale
und nicht auf eine national isolierte Lösung. Auch diese
Länder wollen den IWF-Bericht abwarten. Deshalb
strebt die Bundesregierung auf jeden Fall ein gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen der Euro-Gruppe an. Die
Bundesregierung wird dieses Thema auf dem nächsten
Ecofin-Treffen weiter diskutieren und befördern.
Wenn wir es schaffen, eine international abgestimmte,
tragfähige Lösung zur finanziellen Beteiligung des Finanzsektors zu erreichen, wäre das auch ein gutes Ergebnis für die deutsche Volkswirtschaft. Dabei sind wir im
Vorfeld nicht auf eine bestimmte Lösung festgelegt. Die
diskutierte internationale Finanztransaktionssteuer ist
eine von mehreren möglichen Lösungen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Barbara Hendricks für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
wenigen Wochen haben sich mehr als 50 000 Menschen
in einer Petition für die Einführung einer internationalen
Finanztransaktionssteuer eingesetzt.
({0})
Diese Petition ist beim Deutschen Bundestag eingegangen. Sie verfolgt das Ziel, die Kosten der Krise mit den
Einnahmen, die mit einer solchen Steuer zu generieren
sind, abzumildern. Das soll sowohl auf nationaler als
auch auf internationaler Ebene geschehen. Spätestens
wenn sich der Petitionsausschuss - 50 000 Unterschriften liegen vor - in öffentlicher Sitzung mit diesem
Thema befassen muss, muss auch die rechte Seite des
Hauses Farbe bekennen.
({1})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben, anders als das heute zum Teil zum Ausdruck gebracht wurde, schon seit dem Jahr 2005 Initiativen dazu
ergriffen, eine internationale Finanztransaktionssteuer
einzuführen. Viele werden sich vielleicht nicht mehr daran erinnern, aber Bundeskanzler Gerhard Schröder hat
dies im Februar 2005 auf dem internationalen Wirtschaftstreffen in Davos und im Sommer 2005 auf dem
G-7- bzw. G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles - die
Briten waren die Gastgeber - vorgeschlagen. Allerdings
waren unsere angelsächsischen Freunde im Jahr 2005
noch nicht einmal bereit, darüber nachzudenken. Das
Fenster der Gelegenheit war noch nicht offen, oder der
historische Moment war noch nicht da, wie es Kollege
Schick ausgedrückt hat. Aber nach den Erfahrungen der
internationalen Finanzkrise seit dem Herbst des
Jahres 2008 ist genau diese historische Gelegenheit da,
und die gilt es jetzt zu ergreifen.
({2})
Das haben sozialdemokratische Politiker beherzt getan. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück haben
nämlich im Frühsommer dieses Jahres ein Papier vorgelegt. Es ist gerade Peer Steinbrück gewesen, der dieses
Thema auf die G-20-Sitzung in Pittsburgh getragen hat,
und die Kanzlerin hat sich dieses Thema zu eigen gemacht. Das will ich hoch anerkennen. Es ist von
Deutschland vorgetragen worden, aber es war die Initiative von Peer Steinbrück.
({3})
Ich wundere mich eigentlich, dass Kollege Leo
Dautzenberg nicht dazu stehen will, was die Kanzlerin
heute Morgen gesagt hat.
({4})
Aber es lohnt sich jedenfalls, nachzulesen, was die
Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung am 10. November dieses Jahres gesagt hat.
({5})
Jetzt kommen wir zu dem Punkt. Es ist in Pittsburgh
verabredet worden, dieses dringliche Thema solle beför964
dert werden. Der IWF ist beauftragt worden, ein Gutachten zu erstellen, und er wird seine Vorschläge im April
vorlegen. Der nächste G-20-Gipfel im Juni wird sich damit befassen.
({6})
Wenn aber in der Zwischenzeit diese Koalition toter
Mann spielt, weil sie sich nicht einigen kann, dann wird
das das Thema nicht befördern, und dafür tragen Sie die
Verantwortung.
({7})
Nehmen wir doch einmal die Äußerungen der letzten
Tage. Der vor wenigen Tagen neu ernannte Generalsekretär der FDP
({8})
hat ein Interview in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung gegeben. Gut, dass der hochgelobte junge Mann
den Unterschied zwischen der Tobin-Tax und der internationalen Finanztransaktionssteuer nicht so richtig
kennt, interessiert eigentlich nur die FDP. Aber dass dieser junge Kollege, der seit drei Tagen kommissarisch benannt ist, sich traut, als Generalsekretär einer Koalitionspartei die Kanzlerin frontal anzugreifen, sollte schon die
hier vertretenen Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung interessieren. Das interessiert nicht mehr nur
noch die FDP.
({9})
Minister Niebel hat in der Ausschusssitzung am
2. Dezember, von mir darauf angesprochen, gesagt, was
die Kanzlerin darüber denke, interessiere ihn nicht.
({10})
- Gut, dann haben Sie vielleicht das Protokoll geschönt.
Aber ich war dabei, und es gibt genügend Zeugen. Denn das stehe nicht im Koalitionsvertrag. Das war die
Aussage von Minister Niebel dazu. Das werden die Mitglieder des Ausschusses bestätigen können. Genauso
war es.
({11})
Minister Niebel ist für - ich will es einmal freundlich
ausdrücken - ein breites Lächeln von einem Ohr bis zum
anderen bekannt. Dass er bei der Überreichung der Urkunde durch den Bundespräsidenten offenbar diese Ohren auf Durchzug gestellt hat, ist allerdings zu bedauern;
denn der Bundespräsident hat am 28. Oktober aus Anlass der Überreichung der Urkunden an die Mitglieder
der Bundesregierung gesagt:
Ich halte es auch für richtig, wenn sich Deutschland
mit Nachdruck für eine Abgabe auf internationale
Finanztransaktionen einsetzt.
({12})
Dieses sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Frau
Merkel kann natürlich heute Nachmittag nicht hier sein
- das ist selbstverständlich -, aber es bleibt ihre Aufgabe, endlich für Ordnung in ihrem Kabinett zu sorgen,
nicht nur, aber auch an dieser Stelle.
({13})
Wir setzen darauf, dass wir die internationale Finanztransaktionssteuer mit einem erheblichen Aufkommen
werden durchsetzen können.
({14})
Dies dient zum einen dazu, die Folgen der Krise hier vor
Ort finanziell abzumildern. Natürlich haben wir das gemeinsam gemacht, aber die Kosten sind da, und es geht
darum, diese Kosten zu minimieren und diejenigen an
den Kosten zu beteiligen, die die Krise verursacht haben.
Dies gilt national, aber insbesondere auch international.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. - Wir werden die größten Probleme haben, die
Millenniumsziele zu erreichen. Die Bundesregierung hat
sich gerade für das Jahr 2010 von den Zwischenzielen
verabschiedet. Wir werden die größten Probleme haben,
auch das noch zu finanzieren, was auf dem Klimagipfel
zu Recht wird verabschiedet werden müssen und was
hoffentlich verabschiedet wird. Noch daneben und darüber hinaus sind die Folgen der Finanzkrise gerade für die
ärmsten Länder zu minimieren. Das ist unsere Aufgabe,
wenn wir in Verantwortung vor Gott und den Menschen
handeln.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Carl-Ludwig Thiele für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Hendricks, wenn
man Sie hört, dann kann man sich gar nicht vorstellen,
dass die SPD bis vor sieben Wochen elf Jahre lang den
Bundesfinanzminister in diesem Land gestellt hat;
schließlich hat kein Finanzminister der SPD in dieser
Zeit irgendetwas unternommen, um eine solche Steuer
einzuführen.
({0})
Bei Ihnen scheint wirklich absolute Vergesslichkeit vorzuherrschen. Das bezieht sich bei den Grünen auch auf
sieben Jahre Koalition Rot-Grün.
Ich möchte einen zweiten Punkt feststellen. Sie hätten
hier heute einen Antrag einbringen können. Das haben
Sie nicht gemacht; Sie haben nur eine Aktuelle Stunde
beantragt. Das ist eigentlich ein bisschen dünn, wenn
man meint, das Ganze sei so wichtig.
({1})
Ich möchte auf einen dritten Punkt eingehen, insbesondere weil Sie, Frau Kollegin Hendricks, Schottland
angesprochen haben. Ich verweise auf etwas, was der
ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück, SPD, gesagt
hat. In der Süddeutschen Zeitung stand im Januar 2006
- Zitat -: Die sogenannte Tobin-Steuer auf Finanzspekulationen verglich Steinbrück mit dem Ungeheuer von
Loch Ness, das regelmäßig auftauche.
({2})
Insofern bitte ich Sie, sich einfach einmal auf das zu
konzentrieren, was Sie wirklich wollen, und dafür einzutreten, dass unser Land eine vernünftige Zukunft hat.
Das ist unsere Aufgabe, gerade in der Wirtschafts- und
Finanzkrise, die immer noch nicht bewältigt ist, die aber
bewältigt werden muss.
({3})
Der Finanzsektor ist nach dem Verständnis der FDP
dienendes Element einer Volkswirtschaft. Der Finanzsektor war auch nicht in Gänze verantwortlich für die Finanzkrise.
({4})
Insofern gilt es aus unserer Sicht, den Finanzsektor differenziert zu betrachten. Nicht jeder war Täter. Wir wollen, dass sich eine Kasinomentalität, also übermäßiges
Spekulieren mit geliehenem Geld, nicht wiederholt. Wir
stehen für Freiheit in Verantwortung, und deshalb dürfen
nach unserer liberalen Auffassung Finanzgeschäfte bzw.
Finanzprodukte zukünftig nicht ohne Eigenkapital oder
Eigenhaftung gehandelt werden. Das ist der entscheidende Punkt.
({5})
Wir brauchen verantwortliches Handeln derjenigen, die
am Markt tätig sind.
Eines sage ich aber auch ganz deutlich: Die Räder
müssen sich wieder drehen können. Die hochentwickelte
Weltwirtschaft, der wir gerade als Exportnation unseren
Wohlstand verdanken, ist ohne einen effektiven Finanzmarkt absolut undenkbar.
Kein Markt ist so reguliert wie der Finanzmarkt. Die
Regulierung hat versagt. Aus unserer Sicht muss hier angesetzt werden. Dabei müssen die Fragen gestellt werden: Ist die Finanzmarktsteuer hier als Regulierungsmittel überhaupt geeignet? Kann sie das Verhalten von
Betroffenen ändern? Wenn sowohl gefährliche als auch
ungefährliche Anlagen gleichermaßen teurer werden:
Was hat das eigentlich für eine Lenkungswirkung, um
Fehlallokation zu verhindern? Was ändert sich dann eigentlich? Es muss auch die Frage erlaubt sein: Wen
würde eine solche Steuer treffen, und wer muss sie eigentlich zahlen? Zahlen muss nicht der Börsenmakler
oder der Börsenmanager, sondern der Kunde, der Kleinanleger, der Sparer, aber eben auch der Riester-Rentner.
Wir alle wissen, dass unsere im Umlageverfahren finanzierten sozialen Sicherungssysteme durch die demografische Entwicklung Probleme bekommen. Daher ist
für die FDP vollkommen klar: Wir brauchen eine zusätzliche Kapitaldeckung für die Altersvorsorge.
({6})
Wenn wir eine Finanzmarktsteuer erheben, um für
eine zusätzliche Kapitaldeckung zu sorgen, dann verteuern wir die Kapitaldeckung oder schmälern den Ertrag
der Kapitalanlagen, die als Altersvorsorge dienen sollen.
Das kann nicht das Ziel sein.
({7})
Problematisch ist auch die Bemessungsgrundlage. Es
wurde die Frage gestellt, ob sie nur für Devisentransaktionen oder für alles gelten soll. Ich bin gespannt, was
der Internationale Währungsfonds vorlegen wird und ob
es dafür überhaupt ein Modell gibt. Ohne klare Bemessungsgrundlage ist eine solche Steuer nämlich überhaupt
nicht administrierbar. Wenn sie käme, dann müsste sie
international administrierbar sein; denn ein nationaler
Alleingang ist - das hat das Beispiel Schweden gezeigt;
das hat sich auch in anderen Ländern gezeigt - ein reines
Phantom. Dadurch wird Kapital aus dem Land verjagt;
dadurch werden Arbeitsplätze in unserem Land vernichtet. Wenn das Ganze käme, müsste es international angelegt sein, mit klarem Regelwerk und strengen Kontrollen. Dass das erreichbar ist, daran haben wir erhebliche
Zweifel. In der Vergangenheit hat das schon nicht funktioniert. Lassen Sie uns einmal schauen, wie es jetzt
kommt. Aber ich glaube, hier wird ein Phantom aufgebaut, das einmal kritisch gesehen werden muss. Wir halten derzeit nichts von diesem Gedanken.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die Fraktion
der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
machen offenkundig die Ordnung auf dem Hühnerhof
zum Grundprinzip ihres politischen Handelns.
({0})
Jeder macht, was er will, keiner, was er soll. Gelegentlich muss einer zurücktreten.
Dabei erweist sich Herr Niebel wiederholt als einer
der Problembären dieser Koalition.
({1})
Unterstützt wird er dabei von dem neuen Generalsekretär der FDP.
({2})
Ich darf einfach einmal zitieren:
Schade, dass sich eine kluge und umsichtige Frau
wie die Kanzlerin an der Exhumierung dieser überkommenen Theorie beteiligt.
Das sind die Worte von Herrn Lindner.
({3})
Dann weiter:
Diese Koalition wird weder Steuern erhöhen, noch
neue Steuern einführen.
So weit Herr Lindner. Wenn man das liest, dann weiß
man, dass Jugend allein kein Verdienst ist.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere gemeinsame
Aufgabe muss darin bestehen, die richtigen Lehren aus
der größten Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit zu ziehen und alles zu tun, damit sich so eine
Katastrophe nicht wiederholt. Was wir brauchen, ist eine
deutliche Kampfansage an gierige Banker und ungezügelte Kapitalmärkte. Die Grundfrage lautet: Wie können
wir die Verursacher dieser schwersten Krise der Nachkriegszeit an den Kosten der Krise beteiligen? Eine der
Antworten lautet: mit einer internationalen Finanzmarktsteuer.
Genau gegen diese internationale Finanzmarksteuer
polemisiert die FDP. Herr Niebel und Herr Lindner, andere auch, wollen die Steuerzahler die Krise bezahlen
lassen, nicht die Verursacher in den Banken. Damit betreiben sie hier genauso ungeniert Klientelpolitik wie
etwa bei der Beglückung von Hoteliers im Schuldenaufbaugesetz; so muss dieses angebliche Wachstumsbeschleunigungsgesetz eigentlich genannt werden, denn
das Wachstum wird damit um keinen Deut beschleunigt.
({5})
Die Grundidee ist alt. Tobin hat sie bereits Anfang der
70er-Jahre als eine Steuer auf Devisentransaktionen entwickelt.
({6})
- Lieber Kollege Fuchs, die internationale Finanzmarktsteuer ist keine Tobin-Steuer; das muss man wirklich
wissen.
({7})
Sie bezieht alle Arten von Finanztransaktionen ein. Sie
würde bei Geschäften an Börsenhandelsplätzen und im
außerbörslichen Handel erhoben. Sie betrifft ausschließlich den Finanzsektor. Bei jedem Kauf und Verkauf von
Finanzprodukten würde eine ganz geringe Steuer fällig.
Je häufiger gekauft und verkauft würde, je teurer würde
das.
Das ist keine neue Idee; das habe ich gesagt. Nach
dem britischen Beispiel der Stamp Tax wurden hier in
Deutschland mit dem Reichsstempelgesetz von 1881 die
Urkunden bestimmter Wertpapieranschaffungen reichseinheitlich mit einer Stempelabgabe belastet.
({8})
- Ihre Position ist bekannt, ich habe sie bewertet. Nun
hat es den Vorschlag der Europäischen Union und der
G 20 gegeben, zur Eindämmung von Spekulationen eine
solche Finanztransaktionssteuer einzuführen. Ich sage
noch einmal sehr deutlich: Wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten begrüßen diesen Vorschlag ausdrücklich.
({9})
Dieser Vorschlag ist aus unserer Sicht geeignet, spekulativ völlig heißgelaufene Märkte zu beruhigen. Nach
einer Berechnung des bereits genannten Wiener Institutes würde es gelingen, das Handelsvolumen besonders
an den Derivatemärkten deutlich zu verringern, Überliquiditäten aus den Märkten zu nehmen und die Volatilität dieser Märkte deutlich zu verringern, und zwar bei einem ganz geringen Steuersatz von 0,05 Prozent. Dass so
etwas dringend notwendig ist, zeigt die Tatsache, dass
der Devisen- und Derivatehandel im Jahr 2007 das 70Fache des Weltsozialproduktes betrug.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Transaktionssteuer betrifft nicht den kleinen Riester-Sparer,
({10})
wie immer wieder gern behauptet wird. Allein mit mathematischen Grundkenntnissen à la „Hauptschule Sauerland“ lässt sich das sehr leicht errechnen und feststellen.
({11})
Eine solche Steuer im Rahmen der G 20 einzuführen,
würde bedeuten, 92 Prozent des weltweiten Aktienhandels und 76 Prozent des Anleihehandels zu erfassen. In
dieser Einschätzung werden wir im Übrigen von den
50 000 Unterzeichnern der Petition unterstützt.
Die Kanzlerin hat mehrfach ihre Unterstützung für
ein solches Instrument signalisiert.
({12})
Vonseiten der FDP wird dagegen erklärt, das sei nicht zu
machen. Wenn diese Bundesregierung so Politik machen
will, wie es die FDP vorschlägt, dann sollten Sie doch
gleich das Grundgesetz ändern. Sie könnten die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin aus Art. 65 des
Grundgesetzes streichen und stattdessen hereinschreiben: Das Nähere regelt der Koalitionsvertrag von
Schwarz-Gelb; im Zweifelsfall entscheiden Herr Niebel
und Herr Lindner.
({13})
Das Wort hat nun Kollege Michael Fuchs für die
Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Während ich mir diese Debatte anhörte, wurde mir wieder klar, warum die SPD mittlerweile bei 19 Prozent angekommen ist.
({0})
Ich habe wirklich das Gefühl, dass Sie bis jetzt nichts
aus der Wahlniederlage gelernt haben und so weitermachen wie zuvor.
Lieber Kollege Poß, Ihnen ist wieder nichts anderes
eingefallen, als neue Steuern zu fordern.
({1})
Das zeigt, dass Sie nichts, aber auch gar nichts gelernt
haben.
({2})
Ich gebe der Bundeskanzlerin völlig recht. Sie hat
heute Morgen gesagt:
Deshalb hat der Europäische Rat noch einmal das
wiederholt, was wir schon auf dem G-20-Gipfel
festgelegt haben, nämlich den Internationalen Währungsfonds zu bitten, bei der Erarbeitung von Konzepten zur Beteiligung des Finanzsektors an den
Kosten der Krisenbewältigung auch die globale
Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen zu
prüfen.
({3})
Das geht nur global. Es geht auf gar keinen Fall national
oder im Rahmen der EU. Recht hat die Bundeskanzlerin.
Genau das wollen auch wir.
({4})
Nebenbei bemerkt: Die Kollegin Hendricks hat vor
drei Jahren im Deutschen Bundestag in einer Fragestunde gesagt, Devisenumsatzsteuern seien nicht konsensfähig. Ich weiß nicht, wer jetzt bei Ihnen das Sagen
hat, Frau Hendricks oder Herr Poß. Man muss sich aber
einmal überlegen, wie unterschiedlich die Meinungen
sind.
({5})
Sie haben das hier im Deutschen Bundestag gesagt. Damit zeigen Sie, dass Sie selbst nicht wissen, was Sie wollen. In einer Fragestunde des Deutschen Bundestages
sagten Sie, dass eine Devisenumsatzsteuer international
nicht konsensfähig ist. Ihr Zitat habe ich dabei.
({6})
Für mich steht fest: Wir können mit einer solchen
Transaktionssteuer nur dann etwas erreichen, wenn wir
sie international aufstellen, wenn alle Player mitspielen.
Leider haben sich die Kanadier und auch die Amerikaner
bisher in der Form dazu geäußert, dass sie nicht bereit
sind, das mitzumachen.
({7})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, diese Koalition
wird den Finanzplatz Deutschland nicht kaputtmachen.
Die Börsenumsatzsteuer hat damals plus/minus 400 Millionen Euro eingebracht. Wir haben sie 1991 deswegen
abgeschafft, weil durch sie der Finanzplatz Deutschland
erheblich beschädigt wurde. Die Schweden haben das
dann später auch gemerkt und diese Steuer auch abgeschafft. Eine solche Steuer ist eben nur möglich, wenn
sie global erhoben wird. Da hat die Bundeskanzlerin völlig recht.
({8})
Wenn wir es global hinbekommen, können wir es auch
machen.
Wir haben nach wie vor vor, die Bürgerinnen und
Bürger nicht mit einer solchen Steuer zu belasten. Die
Börsenumsatzsteuer - ich bin ja ein wenig älter als Sie;
deswegen kann ich mich daran erinnern - in Höhe von
0,05 Prozent wurde auf jede Transaktion erhoben. Wer
hat sie denn bezahlt: die Banken? Nein, die Banken haben diese Steuer eins zu eins an die Kunden weitergegeben. Wenn jemand eine Aktie gekauft hat, hat er diese
Steuer bezahlen müssen.
({9})
Für mich steht fest: Das würde natürlich auch der Fall
sein, wenn das kommt, was Sie jetzt fordern. Die Banken geben nämlich Kosten, die ihnen durch nationale
Regulierungen auferlegt werden, zu 100 Prozent weiter.
Deshalb wollen wir so etwas nicht.
({10})
Dazu kommt: Wenn wir das in Deutschland isoliert
machten, dann würde es keinen IPO und keine Transaktionen an der Frankfurter Börse mehr geben. Die Deut968
sche Börse selbst würde dann sehr schnell aus dem DAX
verschwinden. Auch das würden wir dann erleben müssen.
({11})
Wir haben schon in allen anderen Ländern feststellen
können, dass man so etwas nicht mehr national regeln
kann. Dafür sind die Märkte viel zu volatil.
Eben hat mir Kollege Kuhn erklärt, dass die Grünen
besonders fähig seien, was das Internet angeht. Also sind
sie auch fähig, internationale Transaktionen dort vorzunehmen, wo sie keine zusätzlichen Steuern zahlen müssen. Darüber müssen wir uns im Klaren sein: Wenn es
uns nicht gelingt, Plätze wie beispielsweise Singapur
einzubinden, dann werden unsere Möglichkeiten beschränkt sein.
({12})
Deshalb wollen wir das gemeinsam mit dem IWF und
den G 20 schaffen. Wenn wir das hinbekommen, kann
man das machen, aber nur dann.
({13})
Alles andere schadet dem Standort Deutschland. Das
entspricht nicht unserer Vorstellung. Wir werden in dieser Koalition alles tun, um den Standort Deutschland zu
stärken.
({14})
Das Wort hat nun Werner Schieder für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der bisherige Verlauf dieser Debatte zeigt mir, dass die
Vertreter der neuen Koalition offenbar nicht begriffen
haben - oder besser gesagt: nicht verstehen wollen -,
worum es in diesem Zusammenhang eigentlich geht. Ich
möchte deshalb den Versuch machen, in vier Punkten
zusammenzufassen, worauf es ankommt.
Erstens kommt es auf den sozialen Lastenausgleich in
der Krise an. Mit zig Milliarden Euro sind auch in
Deutschland die Banken und damit die Finanzmärkte gestützt worden. Ein großer Teil dieser Gelder wird - das
ist schon angeklungen - unwiederbringlich sein. Das bedeutet, dass die Kosten der Krise an den vielen normalen
Steuerzahlern hängenbleiben werden. Wir müssen diese
Lasten daher auch auf die Schultern derjenigen verteilen,
die maßgeblich Verursacher der Finanzkrise sind. Das ist
ein Gebot der Gerechtigkeit.
({0})
Das sind wir den normalen Steuerzahlern, den vielen
Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben oder
verlieren werden, und den Firmen, die in der Krise sind,
schuldig.
Zweitens. Wir müssen die Finanzmärkte redimensionieren. Die Finanzmärkte sind überdimensioniert; sie
sind zu groß. Um Ihnen eine Zahl zu nennen: In den letzten gut 20 Jahren bis zum Ausbruch der Krise hat sich
das Volumen der weltweit handelbaren Wertpapiere auf
55 Billionen verzehnfacht, während die reale Wirtschaft
sich im gleichen Zeitraum gerade einmal verdoppelt hat.
Den größeren Teil der Ausweitung dieser Finanzmarktaktivitäten nehmen dabei rein spekulative Bewegungen ein, bis hin zu den absurden Carry-Trade-Versionen und vielem anderen. Quasi im Minutentakt
jonglieren Großbanken und Fonds mit Millionensummen, immer in der Erwartung exorbitanter Gewinne.
Diese Spiele sind für die reale Wirtschaft an sich ohne
jede Bedeutung. Vielmehr gehen sie auf Kosten der
Realwirtschaft und haben fatale Auswirkungen auf
Investitionen und Arbeitsplätze, was man heute nicht
mehr beweisen muss, denn es ist ja geschehen.
({1})
Eine Steuer auf Finanztransaktionen - es ist nicht die
einzige Maßnahme - trifft gezielt gerade die Kurzfristspekulation. Diese wird nämlich sehr teuer und dadurch
weniger interessant. Erst dann wird es wieder interessanter, das Geld in reale Investitionen, in unternehmerische
Investitionen zu stecken. Genau darauf kommt es an. Ich
glaube, das verstehen Sie nicht. Investitionen statt Spekulationen, das ist das Prinzip, um das es hier geht.
({2})
Drittens kommt es darauf an, nicht nur schön zu reden, sondern zu handeln. Überall lese ich schöne Überschriften und höre nette Appelle der Bundesregierung.
Von Einsicht und Selbstverpflichtungen der Banken ist
die Rede. Aber wir brauchen kein unverbindliches Geschwätz, sondern klare Regeln. Darum geht es.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, HansJürgen Papier, hat einmal gesagt, der Unternehmer habe
die Pflichten, die das Gesetz ihm auferlegt - nicht mehr.
Was ist also mit den Pflichten und speziell mit den Solidaritätspflichten der Finanzmarktakteure? Es reicht
nicht, sich in hilflosen Appellen zu erschöpfen; genau
das macht die jetzige Bundesregierung. Wir brauchen
Taten. Diese vermissen wir bei der neuen Koalition.
({3})
Viertens. Setzen Sie doch den SPD-Vorschlag zur
Einführung einer nationalen Börsenumsatzsteuer als ersten Schritt um! Tun Sie doch dort etwas, wo Sie selber
und unmittelbar zuständig sind! Das wird andere ermutigen; denn Deutschland hat auch in diesem Fall eine Vorreiterrolle.
({4})
Des Weiteren fordere ich Sie auf: Ergreifen Sie im
Ecofin-Rat die Initiative für eine europaweite Finanztransaktionssteuer! Das Klima dafür ist durchaus günstig. Das wäre ein wichtiger und auch glaubwürdiger
Schritt. Solange Sie das aber nicht tun, müssen wir gelegentliche Zustimmungssignale zu einer internationalen
Finanztransaktionssteuer aus Ihren Reihen als das begreifen, was sie wirklich sind: Lippenbekenntnisse und
Placeboworte zur Beruhigung des Publikums. Darum
geht es Ihnen nämlich am Ende.
Werner Schieder ({5})
({6})
Meine letzte Anmerkung. Wer über konkrete Schritte
in Deutschland und über eigene europäische Initiativen
nicht reden will, der soll besser schweigen, wenn es um
internationale Visionen geht. Der Verweis darauf ist nur
die Flucht vor der eigenen unmittelbaren Verantwortung
in Deutschland und Europa.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns in dieser Debatte einig sein, dass
eine Diskussion um eine faire Verteilung der Lasten infolge der Finanzmarktkrise durchaus angebracht ist und
dass die G-20-Initiative neue Fehlentwicklungen verhindern soll. Ich glaube, das ist ein Ansatz, über den man
fachlich und sachlich reden sollte.
Eine Beteiligung des Finanzsektors an den sicher hohen Kosten der Krisenbewältigung ist fachlich auf alle
Optionen, auf Effektivität, auf Sinnhaftigkeit und natürlich auch auf die ökonomischen Auswirkungen zu prüfen. Deswegen müssen wir folgende Fragen beantworten: Welche Vorschläge gibt es? Haben wir die Dinge
bisher richtig behandelt? Ich kann für die CDU/CSUFraktion festhalten, dass wir in den letzten Monaten für
die Rettung des Finanzmarktes erfolgreiche Arbeit geleistet haben.
({0})
Das ist die Wahrheit, und diese darf durch Aktuelle Stunden, durch Anträge oder durch was auch immer nicht
verbogen werden. Wir haben gemeinsam einen Erfolg
erreicht. Deswegen wundere ich mich schon, dass Sie,
wenn Sie etwas anderes wollen als das, was es in der
Vergangenheit gab, eine Aktuelle Stunde beantragen,
statt einen Antrag einzubringen.
({1})
Sie können natürlich auch sagen, dass wir auf internationaler Basis einen Prüfauftrag haben, den die Bundeskanzlerin heute Morgen angesprochen hat. Wir stimmen
zu, dass man das intensiv prüfen kann. Man muss die
fachlichen Vor- und Nachteile bewerten.
({2})
Darum geht es und nicht um Schnellschüsse.
Für mich stellen sich in Bezug auf eine Finanztransaktionssteuer folgende Fragen: Können damit überhaupt
spekulative Kapitalbewegungen eingedämmt und kurzfristige Devisentransaktionen gewissermaßen unrentabel
gemacht werden? Können mit der Finanztransaktionssteuer Wechselkursschwankungen, die nicht auf fundamentalen Wirtschaftsdaten basieren, überhaupt begrenzt
werden?
({3})
Es gibt für mich wichtige Gründe, die letzten Endes
maßgeblich sind: Die Steigerung der Kapitalproduktivität - das müssen wir bedenken - wird durch eine Börsenumsatzsteuer beeinträchtigt. Die Kapitalmärkte haben - dies hat bei Ihnen vielleicht einen ideologischen
Hintergrund - aus meiner Sicht die dienende Funktion,
die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen mit
Finanzprodukten in diesem wichtigen Bereich der Wirtschaft zu versorgen; das muss man deutlich machen.
({4})
Wenn wir eine solche Steuer einführten, würde die
steigende Volatilität an den Märkten für die Wirtschaft
sicher zu einer Verteuerung der Kapitalbeschaffung führen; auch das muss man bedenken. Die Attraktivität der
Aktie als Kapitalanlage auch für private Kleinanleger
würde bei Einführung einer Börsenumsatzsteuer sinken,
da die erzielbaren Renditen im Vergleich zur börsenumsatzsteuerfreien Anlage gemindert würden. Hier kann es
Wettbewerbsverzerrungen geben. Wir müssen auch abwägen, dass die Nachteile für Wettbewerb, Wachstum
und Arbeitsplätze, gemessen am fiskalischen Nutzen,
besonders groß sind. Wir müssen prüfen, ob man mit
dieser Steuer etwas Positives bewirken kann oder ob es
Wettbewerbsverzerrungen, Wachstumseinschränkungen
oder Arbeitsplatzverluste gibt.
({5})
Auch das muss bedacht werden; das ist ein wichtiger Aspekt.
({6})
Abschließend möchte ich deutlich machen: Die vier
Punkte, die mein Vorredner, Herr Schieder, seitens der
SPD eingebracht hat, stellen keinen substanziellen Antrag dar. Sie sind ein Placebo. Das ist Schaufensterpolitik, die Sie selbst anscheinend nicht überzeugt; ansonsten hätten Sie einen substanziellen Antrag eingebracht.
Für mich ist sinnbildlich, dass Sie sich aus Ihrer positiven Arbeit im Rahmen der Finanzmarktkrise völlig verabschieden. Ich kann nur darauf hinweisen, dass sich Ihr
Bundesfinanzminister a. D. in der von Ihnen beantragten
Aktuellen Stunde in die letzte Reihe gesetzt hat.
({7})
- Ich höre, dass er das Plenum sogar schon verlassen hat.
Wahrscheinlich konnte er es nicht mehr ertragen.
({8})
Für Kollegen Werner Schieder, der zuvor geredet hat,
war es die erste Rede im Plenum. Herzliche Gratulation
und alles Gute für die weitere Arbeit!
({0})
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich
dem Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Parlamentsneuling habe ich gerade lernen können, dass es
nicht das erste Mal ist, dass sich die Politik mit diesem
Thema beschäftigt. Viele Argumente dafür und dagegen
sind in der Vergangenheit ausgetauscht worden. Im Übrigen ist das Urteil über diese Steuer bisher fraktionsübergreifend bei vielen Beteiligten eher negativ ausgefallen.
Nichtsdestotrotz ist es gut, dass wir dieses Thema
heute wieder auf der Tagesordnung haben. Ich halte es
für richtig, dass die Bundeskanzlerin die Börsenumsatzsteuer in mehreren Regierungserklärungen angesprochen
hat. Ich halte es auch für richtig, dass der Europäische
Rat den IWF aufgefordert hat, über eine globale Finanztransaktionssteuer nachzudenken. Es ist bemerkenswert
und sehr richtig, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger im Rahmen einer Onlinepetition den Bundestag auffordern, über dieses Thema zu sprechen. Ich begrüße das
ausdrücklich, weil es meinem Verständnis von Politik
entspricht, dass man seine eigenen Positionen ständig
hinterfragt, mit der Realität abgleicht und gegebenenfalls korrigiert.
({0})
Die Wahrnehmung der Realität ist heute eine andere
als bei vielen der letzten Debatten zu dieser Steuer hier
im Bundestag. Denn es ist ernst zu nehmen, wenn der
Europäische Rat erklärt, dass der Wirtschafts- und Sozialvertrag zwischen Finanzwirtschaft und Gesellschaft
erneuert werden muss. Es ist genauso ernst zu nehmen,
wenn gefordert wird, dass die Finanzwirtschaft an den
Kosten der Finanzkrise beteiligt wird.
({1})
Weniger gut ist - da gebe ich den Kollegen von der
FDP recht -, dass wir wieder über eine neue Steuer sprechen. Ich bin bei der Einführung von neuen Steuern
grundsätzlich sehr skeptisch. Neue Steuern stellen eine
Belastung für den Wirtschaftskreislauf und damit auch
für die Bürgerinnen und Bürger dar. Abgaben, einmal in
der Krise eingeführt, werden, wenn die Krise überwunden ist, in der Regel nicht wieder abgeschafft. Wir haben
das gerade in der jüngsten Vergangenheit lernen müssen.
({2})
Was kann eine Finanztransaktionssteuer leisten? Steuern können entweder einen Lenkungszweck verfolgen
oder aber einem Fiskalzweck, das heißt der Einnahmenerzielung, dienen. Beides zugleich gelingt leider sehr
selten. Das sollten wir einmal öffentlich festhalten.
({3})
Ich halte die Lenkungsfunktion der Finanztransaktionssteuer im Übrigen für bedenklich. Ich kann nur davor warnen, aus normativen Gründen zwischen guten
und schlechten Finanztransaktionen zu unterscheiden
und damit den Kapitalmarkt auszubremsen.
({4})
Im Ergebnis kann dies nämlich dazu führen, dass die optimale Allokation von Kapital und damit das Funktionieren der Märkte behindert werden. Das kann dazu führen,
dass die dringend notwendige Erhöhung der Eigenkapitalausstattung der Wirtschaft behindert wird.
({5})
Das kann wiederum dazu führen, dass wichtige Sicherungsgeschäfte, die gerade für unsere exportorientierte
Wirtschaft entscheidend sind, verteuert werden. Das
kann niemand ernsthaft wollen.
({6})
Aus fiskalischen Gründen halte ich es für durchaus legitim, über diese Steuer zu reden. Wir haben ein Defizit,
das durch die internationale Finanzkrise verursacht worden ist. Wir sollten nur bei der Diskussion keinen
Schaum vor dem Mund haben.
({7})
Wir sollten nicht mit einer Einstellung herangehen, als
ginge es um ein Lieblingsspielzeug, das man immer haben wollte. Wir sollten sehr sachlich damit umgehen.
Dabei sind zwei Dinge zu beachten:
Erstens. Hier greife ich die Onlinepetition auf: Ich
halte nichts von einer Zweckbindung der Steuereinnahmen. Es ist durchaus ehrenwert und nachvollziehbar,
wenn wir eine Steuer gegen Armut, für Bildung oder gegen den Klimawandel beschließen, nur begeben wir uns
damit haushaltspolitisch auf Glatteis. Wir haben eine
Gesamtverantwortung. Deswegen ist eine Zweckbindung abzulehnen.
Zweitens. In der fachlichen Diskussion über die
Steuer ist Folgendes zu beachten - ich werbe ausdrücklich für eine fachliche Diskussion -: Eine Finanztransaktionssteuer sollte entscheidungsneutral sein; das ist hier
bisher noch überhaupt nicht angeführt worden. Realwirtschaftliche Entscheidungen sollten so weit wie möglich
nicht durch Steuern beeinflusst werden. Da muss man
sich fragen, wie man das erreicht. Bei einer Finanztransaktionssteuer gelingt dies nur, wenn der Steuersatz so
gering ist, dass die Bewegungen des Kapitalmarkts, die
insbesondere für die Finanzierung von Investitionen und
Unternehmen notwendig sind - das müssen wir anerkennen -, nicht behindert werden.
({8})
Die Steuer muss so ausgestaltet werden, dass sie zu keiner Wettbewerbsverzerrung führt und keine Umgehung
erfolgen kann, sei es durch die Wahl anderer Produkte,
anderer Märkte oder - das ist das Wichtigste - durch
Steuerflucht in andere Länder und auf andere Finanzplätze.
({9})
Im Ergebnis heißt dies, dass wir entweder die Steuer,
wie in Großbritannien, mit vielen Ausnahmen und wenig
Einnahmen ausgestalten müssen - dann ist das Fiskalziel
nicht erreicht - oder eine internationale Lösung unter
Beteiligung der wichtigsten Finanzplätze der Welt organisieren müssen, das heißt unter Beteiligung der USA
und insbesondere der asiatischen Länder, die hier noch
nicht angesprochen wurden.
({10})
Es ist daher zu begrüßen, dass die Bundeskanzlerin
und der Europäische Rat ein international abgestimmtes
Modell prüfen lassen wollen. Wir werden diesen Weg
weiterhin konstruktiv, hin und wieder auch kritisch begleiten. Ich denke, dies wird nicht die letzte Debatte im
Plenum zu diesem Thema sein. Ich freue mich darauf.
Danke schön.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 g auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Menschenrechte weltweit schützen
- Drucksache 17/257 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nein zur Todesstrafe in den USA - Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal verhindern
- Drucksache 17/236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Nešković, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebeabkommen aufkündigen
- Drucksache 17/237 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({3}), Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens
- Drucksache 17/68 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck ({5}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsame menschenrechtliche Positionierung der EU gegenüber den Ländern Lateinamerikas und der Karibik einfordern
- Drucksache 17/157 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({7}) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD
Menschenrechte als entwicklungspolitische
Querschnittsaufgabe fortführen
- Drucksachen 17/107, 17/272 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Marina Schuster
Volker Beck ({8})
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({9}) zu dem Antrag
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
der Abgeordneten Ute Koczy, Volker Beck
({10}), Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte in Sri Lanka stärken
- Drucksachen 17/124, 17/273 Berichterstattung:
Abgeordne Jürgen Klimke
Serkan Tören
Katrin Werner
Volker Beck ({11})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es
gibt keine Einwände. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Marina Schuster für die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 10. Dezember jährte sich der Internationale Tag der Menschenrechte. Er geht auf das Vertragswerk zurück, das 61 Jahre nach seiner Unterzeichnung
noch immer die Grundlage für die Verwirklichung von
Freiheit, Sicherheit und Frieden in der Welt ist, nämlich
die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Deswegen ist es wichtig, dieses Datum zum Anlass zu nehmen,
hier eine Menschenrechtsdebatte zu führen.
Die Einhaltung der Menschenrechte ist das Fundament unserer Politik. Wir wissen: Unsere Glaubwürdigkeit in der Welt hängt auch davon ab, wie wir uns für die
Durchsetzung von Menschenrechten einsetzen. Ich bin
deshalb froh, dass es unter Schwarz-Gelb gelungen ist,
deutliche Wegmarken für die nächsten vier Jahre zu setzen. Auch die Vorgängerregierungen, die schwarz-rote
und die rot-grüne, haben das Thema Menschenrechte angesprochen. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag ein
eigenes Menschenrechtskapitel, auf das wir bauen können.
({0})
Wir wollen die Politik der Regierung unterstützen.
Unser Antrag legt das Fundament. In ihm geht es um die
Verantwortung und die Zielsetzung in der Menschenrechtspolitik. Selbstverständlich werden wir uns auch
um die einzelnen Länder kümmern. Ein Beispiel, das uns
schon bei verschiedenen parlamentarischen Frühstücken
beschäftigt hat, ist die dramatische Situation der Frauen
in der DR Kongo; denn sie sind seit vielen Jahren Opfer
von Gewalt und Vergewaltigungen. Rebellengruppen
und auch andere haben unbeschreibliches Leid über die
Dörfer gebracht, gerade im Osten des Landes. Fast keine
dieser Frauen hat Gerechtigkeit erfahren.
Deshalb ist es ein erster und wichtiger Schritt, dass es
gelungen ist, die Drahtzieher der Gewalt im Kongo, die
bisher unbehelligt in Deutschland gelebt haben, zu verhaften. Es hat sich auch gezeigt, dass mit dem Völkerstrafgesetzbuch Lücken in der Strafverfolgung von internationalen Verbrechen geschlossen werden konnten. Das
ist ein echter Erfolg im Kampf gegen die Straflosigkeit.
({1})
Ein weiterer Meilenstein, den wir in unserem Antrag
auch erwähnen, ist die Tätigkeit des Internationalen
Strafgerichtshofs. Er hat in seinem siebenjährigen Bestehen aufgezeigt, wie wichtig es ist, dass Täter schwerster
Menschenrechtsverletzungen vor Gericht kommen und
bestraft werden, seien es Verbrechen in Liberia, Darfur,
in der DR Kongo, aber auch im ehemaligen Jugoslawien. Es macht Mut, dass die schlimmsten Gräueltaten
geahndet werden, die Opfer Gerechtigkeit erfahren und
diejenigen abgeschreckt werden, die sich außerhalb des
Gesetzes glauben.
({2})
Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine stärkere
politische Unterstützung von internationalen, aber auch
regionalen Strafgerichtshöfen. Es darf sich international
keine Kultur der Justizmüdigkeit breitmachen. Deswegen stellen wir uns klar hinter die Arbeit der Gerichtshöfe.
Ein weiteres Anliegen, das auch in unserem Antrag
erwähnt wird, ist die Abschaffung der Todesstrafe. Das
ist eine besondere Herausforderung; denn nicht nur autoritäre Regime vollstrecken die Todesstrafe, sondern auch
Länder wie Japan oder Bundesstaaten der USA. Es
bleibt deswegen wichtig, dass sich Deutschland zusammen mit den europäischen Partnern für die Abschaffung
der Todesstrafe einsetzt; denn es gibt keinen rechtsstaatlichen Grund, der die Todesstrafe rechtfertigt.
({3})
Ein weiterer Fall, der uns bereits in der letzten Sitzungswoche im Plenum beschäftigt hat, ist eine Gesetzesvorlage in Uganda. Ich freue mich, dass Herr Minister Niebel und auch Herr Staatssekretär Beerfeltz aktiv
geworden sind; denn diese Gesetzesvorlage ist unfassbar. Es ist geplant, für Menschen mit mehrmaligen homosexuellen Kontakten, aber auch für homosexuelle
HIV-Infizierte die Todesstrafe in ein Gesetz zu schreiben. Es ist wichtig, dass sich die Bundesregierung und
Minister Niebel positioniert haben. Wenn ein Partnerland Menschenrechtsverletzungen begeht, dürfen wir
nicht tatenlos zusehen. Das ist sehr wichtig.
({4})
Bei dieser Debatte ist es auch wichtig, sich um die Ursachen zu kümmern. Ich habe es bereits erwähnt: Es gibt
Staaten mit funktionierender Staatlichkeit, die trotzdem
aus unterschiedlichen Gründen beginnen, staatliche
Gewalt zu missbrauchen. Es gibt Staaten mit nicht funktionierender Staatlichkeit, die die Menschenrechte verletzen. Es ist in beiden Fällen die Pflicht der Bundesregierung, solche Menschenrechtsverletzungen sowohl
bilateral als auch international anzusprechen. Das ist
keine Einmischung in innere Angelegenheiten anderer
Staaten, ganz im Gegenteil: Das wird der Universalität
der Menschenrechte gerecht. Das ist es, was die AllgeMarina Schuster
meine Erklärung der Menschenrechte quasi in unser
Stammbuch geschrieben hat, und dafür setzen wir uns
ein.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt Christoph Strässer für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Schuster, ich habe Ihnen sehr gerne
zugehört. Alles, was Sie gesagt haben, war richtig, bis
auf das, was Sie ganz zu Beginn gesagt haben. Da haben
Sie gesagt, die neue Koalition habe mit ihrem Koalitionsvertrag Benchmarks für das gesetzt, was sie in Sachen Menschenrechtspolitik in den nächsten vier Jahren
erledigen will. Die Enttäuschung der Opposition über
das, was Sie da hineingeschrieben haben, ist in der letzten Debatte schon deutlich geworden. Ich hätte mir gewünscht - darauf haben wir ein Stück weit gehofft -,
dass das, was im Koalitionsvertrag steht, durch den von
Ihnen auf den Weg gebrachten Antrag ein klein wenig
konkretisiert worden wäre. Aber nach intensiver Lektüre
dieses Antrages müssen wir feststellen, dass das nicht
der Fall ist. Sie haben vieles hineingeschrieben, das richtig ist, aber Sie haben nicht hineingeschrieben, welche
konkreten Maßnahmen Sie auf dem Weg zu den Zielen,
die Sie beschrieben haben, einsetzen wollen.
({0})
- Ich werde darauf gleich noch einmal zurückkommen.
An einer Stelle haben Sie etwas Richtiges gesagt:
Einmischung ist richtig, Solidarisierung ist auch richtig. - Ich darf Sie daran erinnern - ich tue das ganz bewusst zu Beginn meines Beitrages -, dass wir gestern
Abend im Menschenrechtsausschuss eine sehr gute Gelegenheit hatten, Solidarität zu beweisen. Ich darf Sie daran erinnern, dass der Vorsitzende des Ausschusses einen Vorschlag für eine Erklärung zum Hungerstreik
einer Frau vorgelegt hat, die nichts weiter will, als in ihre
Heimat zurückzukehren. Ich fand es wirklich sehr bitter,
dass der Menschenrechtsausschuss es nicht hinbekommen hat, in diesem Fall eine klare Solidarisierung zum
Ausdruck zu bringen und dadurch deutlich zu machen,
dass wir es nicht hinnehmen, wenn ein Staat es einem
Menschen verweigert, in seine Heimat, in das Land, in
dem er zu Hause ist, zurückzukehren. Das hätten wir machen können.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schuster?
Natürlich.
Herr Kollege Strässer, möchten Sie Kenntnis von der
Pressemitteilung nehmen, die meine Fraktion zu dem
Fall Haidar veröffentlicht hat? Sie ist der Ihrigen ähnlich. Ich möchte zitieren, weil Sie sie wahrscheinlich
nicht parat haben. Wir haben klar gefordert:
Es muss jetzt ein Zeichen der Menschlichkeit von
den marokkanischen Behörden erfolgen, damit
Aminatou Haidar ihren Hungerstreik beendet. Die
verhärteten Fronten zwischen der marokkanischen
Regierung und der Menschenrechtsaktivistin müssen im Sinne einer humanitären Lösung aufgebrochen und ihr muss die Einreise nach Marokko gestattet werden.
Es folgen noch weitere Punkte. Ich möchte Sie fragen: Nehmen Sie das zur Kenntnis?
Wenn Sie mich so fragen, dann kann ich Ihnen nur
antworten: Natürlich nehme ich das zur Kenntnis.
({0})
Aber darum geht es überhaupt nicht. Liebe Frau Kollegin Schuster, es geht um etwas ganz anderes. Uns wurde
gestern in einem Ausschuss, der sich exakt mit diesem
Thema befasst, ein Vorschlag unterbreitet. Sie haben
zum Beispiel eingewendet, man könne sich nicht mit
Einzelfällen befassen.
({1})
- Lassen Sie mich einfach einmal zu Ende reden.
Wir haben des Weiteren über den Einwand diskutiert,
man könne sich nicht einmischen, weil es um Grenzund Statusfragen gehe; Frau Kollegin Steinbach hat das
angesprochen. Es geht aber nur um eines: Es geht darum,
dass der für diese Fragen zuständige Ausschuss des
Deutschen Bundestages aufgefordert war, eine Erklärung bezogen auf die Verwirklichung eines ganz konkreten Menschenrechtes abzugeben. Das haben Sie gestern
verhindert. Das ist das, was ich gerne zur Kenntnis geben möchte.
({2})
Wollen Sie noch einmal nachfragen?
({0})
- Ich will nur darauf hinweisen, dass wir bereits eindreiviertel Stunden hinter dem Zeitplan unserer Tagesordnung liegen. Ich sage das nur, damit Sie das wissen.
({1})
Ich mache es auch ganz kurz. - Herr Kollege Strässer,
nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass wir angeboten
haben, das im Kreis der Obleute zu besprechen. Der
Punkt ist - das habe ich mit Herrn Koenigs besprochen -:
Dem Menschenrechtsausschuss stehen mehrere Instrumente zur Verfügung. Man kann mit dem Botschafter reden oder überfraktionell einen Brief schreiben. Man
kann verschiedene Sachen machen. Wir wollten einfach
nur, dass das vorab geklärt wird. Ich denke, das ist legitim.
Ich will das noch einmal auf den Punkt bringen. Es
gibt Erklärungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Erklärungen des Europäischen Parlaments und
Erklärungen aus der ganzen Welt, in denen man sich für
diese Frau einsetzt. Ich denke, es ist nicht nur das gute
Recht, sondern auch die Pflicht des deutschen Parlaments, sich jetzt zu äußern. Sie wissen, dass Frau Haidar
kurz vor ihrem Tod steht. Wir können nicht lange abwarten und schauen, wie sich das entwickelt. Frau Haidar
steht wegen des Hungerstreiks kurz vor dem Exitus.
Deshalb müssen wir jetzt etwas tun. Ich hoffe, dass wir
das heute hinbekommen und ein Zeichen der Solidarisierung setzen.
({0})
Frau Kollegin Schuster, ich will da keinen falschen
Eindruck entstehen lassen. Ich spreche Ihnen überhaupt
nicht ab, dass Sie das genauso wollen wie wir. Aber
wenn Sie für die Koalition in Anspruch nehmen, dass
Sie ganz konkrete Benchmarks der Menschenrechtspolitik setzen, hätten wir gestern im Ausschuss damit anfangen können. Das haben Sie verhindert; nichts anderes
kritisiere ich. Dabei bleibe ich.
({1})
Ich möchte an zwei konkreten Punkten in Ihrem Antrag deutlich machen, wo Probleme liegen. Da muss man
nacharbeiten, wozu wir vielleicht noch Gelegenheit
haben. Aus meiner Sicht ist das größte Manko, dass in
diesem Antrag vieles Richtige aufgeschrieben worden ist
- ich sage es noch einmal -, vieles, was wir schon gemacht haben, vieles, was in der Menschenrechtspolitik
selbstverständlich ist, dass aber ein großer Teil komplett
ausgeblendet worden ist. Das ist die Innenpolitik. Ich
hätte darauf gesetzt, dass gerade von Ihnen als Bürgerrechtspartei etwas genannt wird, was man auf den Weg
bringen will.
Das eine ist die Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.
({2})
Sie fordern von anderen Ländern, die den Pakt noch
nicht gezeichnet und ratifiziert haben, dies zu tun. Aber
das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir sind dabei - die
alte Bundesregierung hat es auf den Weg gebracht -, ein
Zusatzprotokoll zu verabschieden, das ein Individualbeschwerderecht enthält, das es beim Pakt über bürgerliche
und politische Rechte seit langem gibt. Ich hätte mir jetzt
gewünscht, dass man an dieser Stelle nicht nur andere
Länder auffordert, endlich diesen Pakt zu unterzeichnen,
sondern dass Sie geschrieben hätten, wie Sie in Deutschland, in der Bundesregierung, im deutschen Parlament
mit diesem Zusatzprotokoll zu den WSK-Rechten umgehen wollen. Darauf hätte ich eine Antwort erwartet. Aber
ich weiß ja, dass die WSK-Rechte bei Ihnen nicht den
gleichen Stellenwert haben wie die bürgerlichen und
politischen Rechte.
({3})
Daher würde ich Sie einfach bitten, das nachzuholen.
Sagen Sie uns bitte - auch die Bundesregierung möge
darüber Auskunft geben -: Wie geht es mit dem Individualbeschwerdeverfahren weiter? Das war der eine
Punkt, den ich kritisieren möchte.
Der zweite Punkt - das wird gleich leider ein bisschen
persönlich, weil ich glaube, dass man da auch emotional
argumentieren kann und muss - betrifft die Würde von
Menschen, die in unserem Land leben. Ich sage das jetzt
mit einer ganz persönlichen Note: Seit Montag dieser
Woche werden vom Bundesland Nordrhein-Westfalen
Familien der Roma in das Kosovo abgeschoben. In meiner Heimatstadt, in Münster, gibt es im Moment 68 Betroffene, die jetzt wahrscheinlich im Flugzeug sitzen und
dorthin gebracht werden. Von denen hat mehr als die
Hälfte dieses Land noch nie gesehen und spricht die
Sprache nicht. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir als
Deutscher Bundestag dazu eine Position beziehen könnten.
({4})
- Dazu komme ich gleich. - Das Problem ist sehr einfach. Ich glaube, für die betroffenen Menschen ist es
ziemlich egal, wer für welche Form der Abschiebung zuständig ist. In NRW hat nicht etwa der Ministerpräsident
oder der Integrationsminister Laschet verhindert, dass es
eine vernünftige Regelung gibt, sondern - deshalb sage
ich das - verhindert hat es der liberale Innenminister
Ingo Wolf. Das möchte ich hier gerne zur Kenntnis bringen.
({5})
Ich würde Sie alle bitten, an dieser Stelle nicht einfach wegzuschauen, sich nicht wegzuducken. Es sind im
Rat der Stadt Münster - das ist einmalig - mittlerweile
acht politische Gruppierungen vertreten. Dort ist von allen beteiligten Gruppen einstimmig eine Resolution verabschiedet worden, die vorsieht, eine Petition an die
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zu richten, in
der steht, bitte dafür zu sorgen, dass unter diesen Umständen, wie sie jetzt bestehen, nicht abgeschoben wird.
In das Kosovo ist im Winter überhaupt noch nie abgeChristoph Strässer
schoben worden; das kommt ja noch hinzu. Die Betroffenen kommen in eine Situation, die absolut unerträglich, die nicht menschenwürdig ist. Ich bitte um
Solidarität auch des Deutschen Bundestages. Es sollte
klargestellt werden, dass der Deutsche Bundestag eine
Abschiebung dieser Menschen in das Kosovo unter diesen Umständen nicht mitträgt.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Erika Steinbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strässer, die Abschiebung von Menschen geschieht in Deutschland nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern es gibt Rechtsgrundlagen, die von
diesem Parlament beschlossen wurden, und es gibt Vereinbarungen der Innenministerkonferenz, die das gemeinsam so verabredet haben.
({0})
Das muss man sehen. Wir leben in einem Rechtsstaat
und nicht in einem Unrechtsstaat. Darauf möchte ich
deutlich hinweisen.
({1})
Menschenrechte sind universell, sie sind unteilbar,
und sie sind unveräußerlich. Wir beschäftigen uns - das
ist vielleicht auch ein gutes Zeichen - alljährlich im
Dezember aus Anlass des Internationalen Tages der
Menschenrechte intensiv mit dieser Thematik, die weltweit im Argen liegt.
Frau Kollegin Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Strässer?
Aber gerne.
Frau Kollegin Steinbach, Sie haben recht: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Und das ist
auch gut so. Ihnen ist wahrscheinlich bekannt, dass heute
vom Bundesverfassungsgericht der achte Fall entschieden worden ist, in dem es darum geht, dass von diesem
Rechtsstaat Menschen nach Griechenland abgeschoben
werden sollen. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Zweitens möchte ich Sie etwas fragen. Wir reden hier
über Menschenrechte und Menschenwürde. Nach meinem Rechtsstaatsverständnis steht die Würde des Menschen an allererster Stelle. In einer Situation, in der Menschen, aus welchen Gründen auch immer, 12, 13 oder
14 Jahre nicht abgeschoben werden konnten, ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, dass diese
Menschen in einem menschenwürdigen Zustand in
Deutschland bleiben können.
({0})
Das betrifft nur wenige Familien. Diese Familien brauchen allerdings unsere Hilfe. Diese Menschen jetzt, in
einer Zeit, in der in Deutschland gerade der Weihnachtsfriede ausbricht, abzuschieben, das finde ich besonders
zynisch. Ich bitte Sie, mir zu sagen, ob Sie meiner Auffassung in dieser Frage zustimmen.
Herr Kollege Strässer, darin, dass die Weihnachtsund Adventszeit vielleicht nicht die richtige Zeit dafür
ist, gebe ich Ihnen recht.
({0})
Ich glaube, auch Ihre Anmerkung, dass sich das Bundesverfassungsgericht zu solchen Themen äußert, zeigt, dass
Deutschland ein Rechtsstaat ist.
({1})
Bei uns wird nicht willkürlich mit Menschen umgegangen, und das ist auch gut so.
({2})
Ich bedanke mich für Ihre Frage.
Wir stellen weltweit fest: Auch im 61. Jahr der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen
ist die Achtung der Menschenrechte weltweit noch
längst keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, es
liegt sehr vieles im Argen.
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Volker Beck.
Nein, der Herr Kollege Beck nervt mich im Ausschuss immer genug.
({0})
In zahlreichen Ländern unseres Erdballes haben die
Menschenrechte noch nicht Fuß gefasst, oft selbst dann
nicht, wenn internationale Erklärungen unterschrieben
wurden. In anderen Ländern wiederum ist die Umsetzung der Menschenrechte häufig rückläufig. Täglich
sind wir mit Berichten darüber konfrontiert und müssen
dies schmerzlich zur Kenntnis nehmen.
Eines der Themen, die besonders im Argen liegen, ist
die Religionsfreiheit. Ich finde es gut, dass wir uns gestern in der Obleutebesprechung im Ausschuss auf Vorschlag des Vorsitzenden, Herrn Koenigs, darauf verständigt haben, dass wir uns dieses Themas auch in einer
Anhörung annehmen. Aus Anlass der Schweizer Minarettentscheidung steht dieses Thema auch hier im Mittelpunkt, und es bewegt die Menschen nicht nur in der
Schweiz, nicht nur in Europa, sondern auch weit darüber
hinaus.
Eines will ich nachdrücklich feststellen: Es geht in
dieser Debatte, die von der Schweiz auch nach Deutschland gedrungen ist, nicht um ein Verbot, Gebetshäuser zu
errichten. Es geht auch nicht darum, dass der Glaube und
die Ausübung des Glaubens untersagt sind. Es geht einzig und allein um den Bau von Minaretten an Moscheen.
Der Bau von Moscheen ist nicht verboten.
({1})
Deshalb ist die Grundfrage der Religionsfreiheit davon
praktisch nicht berührt. Ich habe mit dieser in der
Schweiz demokratisch getroffenen Entscheidung kein
Problem,
({2})
da die Religionsausübung davon nicht betroffen ist.
Erstaunlich ist für mich aber, dass gerade diejenigen
hier im Lande besonders hart mit der Schweizer Entscheidung ins Gericht gehen, die sonst immer für Volksabstimmungen sind, Herr Kollege Beck.
({3})
Wenn man Volksabstimmungen zulassen will, dann
muss man das ertragen.
({4})
Erstaunlich ist auch, dass gerade diejenigen, die die
Glaubensfreiheit in ihren eigenen Ländern nicht dulden
und sie unterdrücken, versuchen, diese Debatte in einem
aggressiven Ton zu führen und zu beherrschen. Wenn ich
höre, dass der türkische Ministerpräsident Erdogan sagt,
er nehme in Europa eine zunehmend rassistische und faschistische Haltung wahr - er sprach sogar von Verbrechen gegen die Menschlichkeit -, dann muss ich tief
durchatmen. Wie steht es denn in der Türkei mit der Religionsfreiheit? Wie wir wissen, gibt es in der Türkei in
der Praxis keine Religionsfreiheit. Der Bau von Kirchen
ist praktisch unmöglich. Christliche Würdenträger begeben sich in Lebensgefahr, wenn sie Symbole ihres Glaubens offen tragen.
({5})
Ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, und
predigen dürfen sie auch nur an ganz bestimmten Tagen.
Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung, der
noch in den 1950er-Jahren etwa 20 Prozent betrug, ist
auf 0,15 Prozent geschrumpft. Das allein spricht Bände.
Das heißt, die christliche Minderheit wird gezielt unterdrückt und mundtot gemacht.
Der Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche hat mir
in diesen Tagen einen Brief geschrieben und mitgeteilt,
dass dem Pfarrer der syrisch-orthodoxen Kirche in
Diyarbakir angedroht wurde, dass er getötet werde. Sogar in Istanbul, das ja mit einem halben Bein auf europäischem Boden steht, wurde ein Pfarrer - der Pfarrer der adventistischen Gemeinde; diese Gemeinde ist winzig, sie
besteht aus gerade einmal 20 Gläubigen - mit dem Tode
bedroht. Man kann die Debatte also einmal aus einer anderen Perspektive beleuchten.
In mindestens 50 von 200 Staaten werden Menschen
aufgrund ihres christlichen Glaubens diskriminiert.
Keine andere Religionsgemeinschaft wird weltweit intensiver verfolgt.
({6})
80 Prozent aller wegen ihrer Religion verfolgten Menschen sind Christen. Das Ausmaß der Diskriminierung
reicht vom Iran über Saudi-Arabien, Indien, Pakistan
und Ägypten bis Nigeria, und es nimmt leider zu; das ist
das Tragische.
({7})
- Aber es gibt drastische Verfolgungen mit Mord und
Totschlag; das wissen Sie aber auch.
({8})
- Das sind Christen, selbstverständlich. Das geschieht in
ganz bestimmten Regionen. In einem gebe ich Ihnen
recht: Es ist keine staatliche Verfolgung. Aber in einem
bestimmten Bereich Indiens werden Christen verfolgt.
({9})
Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit unserem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ auf,
den kontinuierlichen weltweiten Einsatz für Religionsfreiheit fortzusetzen und dabei besonderes Augenmerk
auf die Lage der christlichen Minderheiten zu legen,
aber auch auf die Situation kleiner religiöser Gruppen
wie zum Beispiel der Bahai, die im Iran unter ungeheuren Pressionen existieren und von denen sich viele deshalb entschließen, auszuwandern.
Ich begrüße sehr, dass sich Bischöfin Käßmann dazu
entschlossen hat, dass die evangelischen Christen vom
kommenden Jahr an den „Tag der verfolgten Christen“
begehen.
Wir sehen, dass weltweit Menschen unterdrückt werden. Eines der für mich schwierigsten Themen ist der
Menschenhandel. Offiziell ist die Sklaverei abgeschafft.
Menschen dürfen, sollen keine Ware sein. Die Realität
sieht erschreckend anders aus: Sklaverei und Menschenhandel florieren heute mehr denn je. Diese Verbrechen
sind nicht, wie mancher glauben mag, ein Thema der
Vergangenheit, sie gehören zu den drängendsten Problemen unserer Zeit, und sie spielen sich nicht nur in entfernten Regionen ab.
Herr Kollege Strässer, Sie sagten, wir sollten uns auch
mit Deutschland beschäftigen. Gerade Menschenhandel
ist ein Thema, das uns in Deutschland intensiv berührt.
Auf und zwischen allen Kontinenten werden Menschen
gehandelt wie Ware. Auch Europas Staaten sind Herkunfts-, Transit- und Zielländer dieses modernen Sklavenhandels, auch Deutschland. Mit Sklavenhandel wird
heutzutage mehr Geld verdient als mit Drogenhandel.
Hauptsächlich findet Menschenhandel im Bereich der
sexuellen Ausbeutung statt. Vorwiegend sind Frauen und
Mädchen betroffen.
Aber auch Menschen, die als Zwangsarbeiter eingesetzt werden, Menschen, die als lebende Ersatzteillager
für menschliche Organe missbraucht werden, Zwangsverheiratete und Zwangsadoptierte werden ihrer Rechte
und ihrer Würde beraubt. Wir müssen Mittel und Wege
finden, um diesen barbarischen Geschäftemachern das
Handwerk zu legen.
Wir haben es mit einem komplexen System zu tun.
Eines müssen wir wissen: Ohne Nachfrage gäbe es keinen Markt für Zwangsprostitution. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns dafür ein, dass, um den Markt auszutrocknen, Freier, die Zwangsprostituierte benutzen,
bestraft werden.
({10})
Unsere Gesellschaft muss dafür sensibilisiert werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
der Partei Die Linke?
Nein, vielen Dank.
Ein anderes Thema ist der sexuelle Missbrauch von
Kindern. Die betroffenen Kinder, die sexuell missbraucht werden, erleiden Traumata, die sie ihr Leben
lang verfolgen. Da dürfen wir nicht wegsehen. Wir müssen versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Die
Debatte um Kinderpornografie im Internet lässt das Ausmaß erahnen, in dem Kindesmissbrauch geschieht. Hier
ist ein Markt zu vernichten, der eine Klientel bedient, die
den Handel mit diesem abscheulichen „Werbematerial“
überhaupt erst ermöglicht, die dafür Geld bezahlt und
damit der Täter hinter den Tätern ist. Wir müssen sehen,
wie wir dieser Menschen habhaft werden.
In diesem Zusammenhang würde ich schon gerne
wissen, wie die Fraktion der Grünen dazu steht, insbesondere der Kollege Volker Beck, der seinerzeit für das
Buch Der pädosexuelle Komplex einen Artikel verfasst
hat, in dem er schrieb:
Eine Entkrimininalisierung der Pädosexualität ist
angesichts des jetzigen Zustandes ihrer globalen
Kriminalisierung dringend erforderlich, nicht zuletzt weil sie im Widerspruch zu rechtsstaatlichen
Grundsätzen aufrechterhalten wird.
Dazu interessiert mich Ihre Meinung, die Meinung der
Grünen.
Frau Kollegin, wollen Sie jetzt eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck zulassen?
Ja, das tue ich gerne, Herr Kollege Beck.
Es ist sehr schön, dass Sie, wenn Sie hier jemanden
beschuldigen, ihm wenigstens die Chance zur Erwiderung geben.
Nein, ich habe nur aus dem Buch zitiert, für das Sie
den Artikel verfasst haben.
Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen - vielleicht
kann Ihr Büro auch einmal bei Google nachschauen; es
gibt zu diesem Buch auch Fragen auf www.abgeordnetenwatch.de -, dass das ein verfälschter und in dieser
Form nicht autorisierter Artikel von einem Herausgeber
war, der unter einem Pseudonym gearbeitet hat? Er
nennt sich Angelo Leopardi. In Wirklichkeit war es ein
Herr Hohmann.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich
mich mehrfach davon distanziert habe und dass ich mich
in der Vergangenheit dafür eingesetzt habe, dass der
sexuelle Missbrauch von Kindern bestraft wird? Unter
anderem geht die Vorschrift des § 176 a StGB auf einen
Vorschlag von mir zurück, wonach der schwere sexuelle
Missbrauch von Kindern ein eigenständiger Verbrechenstatbestand ist. Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen?
({0})
Herr Kollege Beck, ich muss sagen: Ihre Aussage
freut mich wirklich.
({0})
Dadurch wird der Sachverhalt geklärt. Es war mir nicht
bekannt, dass das eine Fälschung ist.
({1})
Ich freue mich, dass Sie diesen Standpunkt, den Sie eben
dargestellt haben, vertreten. Es ist gut, dass Sie mich
aufgeklärt haben.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
noch viel über Menschenrechte debattieren. Es gibt so
viele Themenkreise, die noch nicht angeschnitten wer978
den konnten, weil die Zeit nicht reichte. Ich glaube, es ist
nötig, dass wir den Themen „Menschenrechte“ und
„Verletzung von Menschenrechten im Inland und im
Ausland“ intensiv nachgehen. Es ist ein weites Feld.
Man kann hin und wieder resignieren, weil man immer
nur einen winzigen Stein bewegen und nicht das ganze
Elend auf einmal beheben kann. Es ist aber nötig, dass
wir immer wieder darüber sprechen.
Ich bedanke mich.
({3})
Als nächste Rednerin hat Kollegin Annette Groth von
der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Strässer, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass
Sie auf den äußerst kritischen Zustand von Frau Haidar
hingewiesen haben. Sie wissen aber vielleicht nicht, dass
die geplante Debatte über Aminatou Haidar heute von
der Tagesordnung des Europäischen Parlaments genommen worden ist - ich habe heute Nachmittag eine Meldung aus Brüssel erhalten -, und zwar auf Initiative Ihres
Parteikollegen, Herrn Martin Schulz.
({0})
Martin Schulz hatte dies beantragt, damit die Gespräche
der EU mit Marokko in diesem Fall nicht gestört werden. Ich finde das wirklich geradezu skandalös. Grüne,
Liberale und GUE/NGL hatten sich vergeblich gegen
eine Absetzung ausgesprochen und protestieren gerade
in Straßburg. So viel dazu. Die Menschenrechte werden
in diesem speziellen Fall zurzeit also wirklich mit Füßen
getreten.
({1})
- Sie sagen es.
Nun aber zu den Anträgen. Die Menschenrechtslage
in Sri Lanka hat sich nach dem Sieg über die LTTE für
die Tamilen keineswegs verbessert. Unter internationalem Druck durften seit Ende Oktober mehr als 100 000
Tamilen in ihre Heimatdörfer zurückkehren, wo die
Mehrheit allerdings unter höchst ärmlichen Bedingungen lebt. 160 000 Menschen vegetieren immer noch in
Flüchtlingslagern. Um Druck auf die Regierung Sri Lankas auszuüben, fordert Bündnis 90/Die Grünen, die erweiterten europäischen Handelspräferenzen auszusetzen. Die Linke unterstützt diese Forderung und stimmt
darum dem Antrag zu.
({2})
Nun zum Antrag der SPD. Die SPD lobt in ihrem Antrag die ehemalige CDU/CSU-SPD-Regierung, weil sie
entwicklungspolitische Aktionspläne für die Menschenrechte vorgelegt hat, durch die die Menschenrechte in
der Entwicklungszusammenarbeit eine viel stärkere
Rolle spielen sollten als bisher. Tatsache ist aber - das
wissen Sie so gut wie ich -, dass sich Armut und auch
die Menschenrechtslage in vielen Ländern weiter verschärft haben.
({3})
Gegen die starken Proteste von Regierungen und Bevölkerung der sogenannten Entwicklungsländer hat die damalige Große Koalition in der EU-Kommission auf die
Durchsetzung der umstrittenen EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit den Staaten Afrikas, der Karibik
und des Pazifiks und der EU-Freihandelsabkommen gedrängt. Darum wird sich die Linke in der Abstimmung
über den Antrag enthalten.
Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu Lateinamerika können wir nicht zustimmen. Die spanische Regierung hat sich für ihre Bemühungen um bessere Beziehungen zu Kuba und zu Venezuela den Widerstand der
konservativen Regierungen in der EU eingehandelt.
Wollen sich Bündnis 90/Die Grünen dieser Kritik anschließen? Der Antrag suggeriert dies vor allen Dingen
in dem Begründungsteil über Kuba und Venezuela.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Ungern, aber ja.
Frau Kollegin, ich will Ihnen nur die Zustimmung zu
unserem Antrag leichter machen, weil Sie sagten, Sie
würden sich nur wegen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen enthalten. Wir haben in unseren Anträgen die
Bundesregierung mehrmals aufgefordert - das haben wir
auch im Bundestag gemeinsam beschlossen -, dass in
diesen Partnerschaftsabkommen die Fragen der Menschenrechte und der ökologischen und sozialen Standards eine besondere Rolle spielen sollen und dass es
keine reinen Wirtschaftsabkommen sein sollen. Von daher ist das eine Frage der Handelspolitik der Europäischen Union. Aber der Deutsche Bundestag und die Sozialdemokratische Partei haben sich auch in der Großen
Koalition immer dafür eingesetzt, dass diese Aspekte
eine Rolle spielen. Dabei haben wir die Bedenken der
Zivilgesellschaft immer sehr ernst genommen; dies werden wir auch weiterhin tun. Jetzt können Sie unserem
Antrag in Ruhe zustimmen.
Nein, das stimmt nicht, lieber Herr Raabe. Ich kenne
mich in der Handelspolitik ziemlich gut aus, wie Sie
vielleicht wissen. Wenn man Länder zu weiteren Marktöffnungen für europäische Produkte und zu weiteren
Zollsenkungen zwingt, dann ist die Spirale nach unten
vorprogrammiert. Genau darauf haben die Regierungen
der AKP-Staaten und die Organisationen der Zivilgesellschaft immer wieder hingewiesen, und deshalb haben sie
einen totalen Stopp der Verhandlungen gefordert. Das
hat Ihre damalige Ministerin, Frau Wieczorek-Zeul, aber
nicht zugelassen. Sie hat sich im Gegensatz zu anderen
Regierungen der EU nie dafür eingesetzt.
({0})
Ich komme noch einmal darauf zu sprechen, weil es
auch in dem Antrag der Grünen darum geht.
Wir kritisieren schon seit langem die ganzen Assoziierungs-, Freihandels-, Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und wie sie alle heißen, vor allen Dingen mit
den Staaten Lateinamerikas und Zentralamerikas. Wie
ich eben bereits gesagt habe, lehnen wir die Verhandlungen ab, weil die von der EU angestrebten Freihandelsabkommen eine eigenständige Entwicklung dieser Länder
verhindern. Buchstäblich alle Ressourcen wie Flüsse
und Bodenschätze könnten dann von europäischen Konzernen kontrolliert werden. Damit würde der einheimischen Bevölkerung die Lebensgrundlage entzogen.
Jetzt komme ich zu unserem eigenen Antrag „Nein
zur Todesstrafe in den USA - Hinrichtung von Mumia
Abu-Jamal verhindern“. Mit diesem Beispiel wollen wir
an die Tausenden von Menschen erinnern, die in den Todeszellen schmachten. Die Todesstrafe negiert das elementare Menschenrecht auf Leben. Wir sind der Überzeugung, dass sich die Einhaltung der Menschenrechte
und die Verhängung der Todesstrafe gegenseitig ausschließen.
Am 9. Dezember vor 28 Jahren wurde der Afroamerikaner Mumia Abu-Jamal für einen Mord, der nie aufgeklärt wurde, zum Tode verurteilt.
({1})
Seit 28 Jahren schreibt er in der Todeszelle gegen Rassismus, Krieg und ein diskriminierendes Justizsystem.
Aus der Todeszelle hat Mumia eine persönliche Nachricht an den Deutschen Bundestag geschickt. Ich zitiere:
An die ehrenwerten Mitglieder des Deutschen Bundestages: Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, zum Tode verurteilt zu sein? Können Sie sich
vorstellen, dass man Ihnen mitteilt, wie Sie hingerichtet werden, dass Sie aber Jahr um Jahr auf den
Tod warten müssen? Dies ist die Situation von mehr
als 3 000 Menschen, die sich in den US-Todestrakten befinden, und von über 20 000 Männern,
Frauen und Kindern, die weltweit auf ihre Hinrichtung warten. Ich warte jetzt schon fast drei Jahrzehnte darauf, meinem Henker zu begegnen. Rassismus durchzieht meinen Fall seit meiner
Verhaftung im Jahr 1981 bis heute.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Sie
haben schon deutlich überzogen.
Aber durch die Zwischenfrage hat sich meine Redezeit verlängert.
Nein, ich habe die Zeit während der Zwischenfrage
angehalten.
Ich möchte wenigstens das Zitat von Mumia AbuJamal zu Ende bringen.
Nein, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich zitiere weiter:
Die Todesstrafe ist ein Unrecht für jeden Menschen
und muss abgeschafft werden. Wir in den Todestrakten brauchen Ihre Hilfe.
Mumia Abu-Jamal, 15. Dezember 2009.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Tom Koenigs für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie sehen: Menschenrechtspolitik ist konkret
und aktuell. In unserem Antrag beziehen wir uns auf einen sehr aktuellen Vorgang, nämlich auf Äußerungen
des spanischen Außenministers.
Spanien übernimmt im nächsten Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Der spanische Außenminister hat sich im
Oktober dieses Jahres dafür ausgesprochen, sich vom
gemeinsamen Standpunkt der EU gegenüber Kuba zu
verabschieden. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie
will er sich verabschieden, und was will er verabschieden? Der gemeinsame Standpunkt stellt völlig zu Recht
eine politische und wirtschaftliche Annäherung an eine
Stärkung der Menschenrechte und an eine demokratische Öffnung Kubas dar. So sehr wir überzeugt sind,
dass dieser Standpunkt von 1996 überarbeitungsbedürftig ist: An diesem Punkt darf er nicht überarbeitet werden. Ein Politikwechsel der EU darf nicht auf Kosten der
Menschenrechte gehen.
({0})
Noch heute sitzen etwa 200 politische Gefangene in
kubanischen Gefängnissen. Ihre Verbrechen waren unter
anderem, friedlich zu demonstrieren, eine andere Meinung zu vertreten oder - man höre! - am Tag der Menschenrechte auf der Straße Kopien der universellen Er980
klärung der Menschenrechte zu verteilen, die Kuba
akzeptiert hat; Kuba gehört sogar zu den Erstunterzeichnern. Ich weiß, dass viele Rechte in Kuba besser umgesetzt und vertreten werden können - zum Beispiel die
Rechte auf Bildung und Gesundheit - als irgendwo in
Amerika. Das ist aber kein Freibrief oder eine Entschuldigung dafür, Freiheitsrechte einzuschränken.
({1})
Die WSK-Rechte gegen die Freiheitsrechte aufzurechnen, ist falsch; denn Menschenrechte sind unteilbar.
({2})
Ich sage aber sehr deutlich: Die Menschenrechtslage
ist nicht nur in Kuba prekär. Margaret Sekaggya, Sonderberichterstatterin über die Lage der Menschenrechtsverteidiger, hat Kolumbien im September bereist. Sie berichtet von außergerichtlichen Hinrichtungen und Fällen
des Verschwindenlassens. Präsident Uribe begründet das
Vorgehen mit der terroristischen Bedrohung durch die
Guerilla im Land. Vor diesem Hintergrund ist mir übrigens folgende Äußerung von Minister Niebel in einem
Interview mit dem Evangelischen Pressedienst völlig unverständlich: „Mit Kolumbien sollten wir ideologiefreier
umgehen.“
Weder der Minister noch die EU dürfen bei Menschenrechtsverletzungen einfach verlegen wegsehen
oder sich hinter dem hohlen Prinzip der Nichteinmischung oder gar der Ideologiefreiheit verstecken;
({3})
denn Menschenrechte sind ideologiefrei und universell.
Die spanische Ratspräsidentschaft hat sich glücklicherweise vorgenommen, den Blick auf Lateinamerika
zu werfen. Dort sind viele Länder interessant. Im Koalitionsvertrag der Regierung heißt es:
Die Glaubwürdigkeit Deutschlands steht in direktem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten für die Menschenrechte in der Außen- und Entwicklungspolitik.
Das sind große Ziele. Jetzt kommt es aber auf die konkrete Umsetzung an, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition. Deshalb müssen Menschenrechtsstandards integraler Bestandteil von bilateralen und multilateralen Handelsverträgen Deutschlands und von allen
gemeinsamen Standpunkten der EU sein. Darauf müssen
wir bestehen.
({4})
Abschließend bedanke ich mich bei Herrn Strässer für
den Hinweis auf die Solidarität mit Frau Haidar. Dass es
dem Menschenrechtsausschuss nicht gelungen ist, diesen Fall auf die Tagesordnung zu setzen, empfinde ich
als sehr beschämend. Das verdanken wir der Koalition.
Danke sehr.
({5})
Als Nächster spricht Serkan Tören für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Menschenrechtslage in Ländern wie Sri Lanka und auch
Syrien ist uns allen sehr wohl bekannt. Ich möchte an
dieser Stelle keine beschönigenden Worte hierfür finden.
In Sri Lanka ist der Bürgerkrieg heute offiziell beendet,
und doch ist insbesondere die Lage der tamilischen Bevölkerung im Lande kritisch und beunruhigend. Das gilt
ebenso für Syrien. Hier finden regelmäßig willkürliche
Verhaftungen und Urteile gegen Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle statt. Die Lage der kurdischen
Bevölkerung ist dabei besonders prekär. Und doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Problematisch in diesem Zusammenhang bleiben die Forderungen nach
generellen Abschiebestopps bzw. der Aufkündigung des
Rücknahmeabkommens mit Syrien.
({0})
Lassen Sie mich grundsätzlich sagen: Ein Abschiebestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute
Krisenentwicklungen. Das trifft weder auf die aktuelle
Lage in Sri Lanka noch auf die in Syrien zu. Gerade vor
dem Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle
muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps immer
gewissenhaft geprüft werden, und genau das tun wir
auch; denn es ist mitnichten so, wie die lieben Kolleginnen und Kollegen von der Linken es gerne darstellen.
Mit der Unterzeichnung eines Rücknahmeabkommens
wird kein Freiflugschein für alle Flüchtlinge in ihre
jeweiligen Heimatländer unterschrieben ohne Rücksicht
darauf, in welche Umstände die jeweiligen Personen
zurückgeschickt werden. Richtig und wichtig ist doch,
zu sagen, dass asylrechtliche Vorschriften durch dieses
Rücknahmeabkommen nicht berührt werden.
({1})
Das bedeutet, dass individuelle Prüfungen bereits jetzt
möglich sind und durchgeführt werden. Ausländern, denen in ihren Herkunftsländern politische Verfolgung,
Folter und konkrete Gefahr für Leib und Leben drohen,
erhalten in Deutschland Asyl, Flüchtlingsschutz oder
auch subsidiären Schutz.
({2})
Das wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
in einem ordentlichen Asylverfahren festgestellt.
Also noch einmal: Abschiebestopp ist immer das
letzte Mittel. Die Einzelfallprüfung steht im Vordergrund.
({3})
Wir sagen hier also ganz klar: Dauerhafte Probleme mit
der Menschenrechtslage, wie sie zweifelsfrei in Syrien
bestehen, können mit einem generellen Abschiebestopp
als politischem Instrument nicht gelöst werden. Dazu ist
das Asylrecht das richtige Instrument.
({4})
Ich plädiere in dieser Debatte für etwas mehr Differenziertheit und Würdigung des bestehenden Asylrechts,
das die menschenrechtliche Lage der einzelnen Personen
durchaus im Blick hat.
({5})
Aber ich will hier nicht nur als Innenpolitiker sprechen
und auf die Problematik der Forderungen nach generellen Abschiebestopps in diesem Zusammenhang eingehen. Die Rechte der Menschen in Sri Lanka und insbesondere in Syrien bedürfen weiterhin kritischer
Aufmerksamkeit.
Ich möchte an dieser Stelle auch die aktuellen Bemühungen und Entwicklungen nicht unerwähnt lassen, die
meiner Meinung nach Potenzial haben und Hoffnung
wecken. Grundlegend ist, dass unbequeme Fragen nicht
ausgeblendet werden. Deutschland sowie die EU kritisieren regelmäßig willkürliche Verhaftungen und Urteile. Auch unter deutscher Ratspräsidentschaft wurden
im Frühjahr 2007 mehrere harte Urteile gegen syrische
Bürgerrechtler in EU-Erklärungen kritisiert. Außerdem
thematisiert die Bundesregierung regelmäßig die unbefriedigende Menschenrechtslage in Syrien und auch Einzelfälle in bilateralen Gesprächen. Auch die deutsche
Kulturpolitik ist ein wichtiger Baustein, um mit den
Menschen vor Ort in Kontakt zu kommen und zur Stärkung der Zivilgesellschaft beizutragen. So hat beispielsweise im Oktober dieses Jahres wieder der Mediendialog
stattgefunden, diesmal in Damaskus. Dort haben sich
deutsche und arabische Journalisten, Publizisten und
Politiker getroffen und sich über aktuelle Themen ausgetauscht. Menschenrechtspolitik, die Beförderung von
Menschenrechten, ist ganz klar, wie wir es auch in unserem Antrag deutlich gemacht haben, eine Angelegenheit
über alle Politikbereiche hinweg.
({6})
Ich will an dieser Stelle auch das Assoziierungsabkommen der EU mit Syrien erwähnen. Hier hat die EU
eine Menschenrechtsklausel eingebaut. Der Kompromiss zwischen den 27 EU-Staaten sieht vor, dass das Abkommen wieder ausgesetzt werden kann, falls Syrien
gegen Menschenrechte verstößt. Das ist ein eindeutiges
Signal. Neben der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit soll es einen intensiven politischen Dialog
geben, in dem über Partizipation, Zivilgesellschaft und
Menschenrechte gesprochen werden soll. Das gehört
zum Abkommen, und das wissen die Verantwortlichen
auch.
Nun gibt es Stimmen, die fordern, das Abkommen
erst dann zu unterzeichnen, wenn sich die Menschenrechtslage in Syrien verbessert hat. Es gibt aber auch andere Stimmen, insbesondere aus der syrischen Zivilbevölkerung selbst. Sie bezeichnen dieses Abkommen als
die Chance zum Dialog und den Dialog als die Voraussetzung, sich langsam anzunähern, Vertrauen aufzubauen und die Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft zu erweitern. Leider hat Syrien nicht, wie geplant,
im Oktober unterschrieben. Die Zeichnung soll voraussichtlich im ersten Halbjahr 2010 unter spanischer Ratspräsidentschaft stattfinden. Ich kann nur hoffen, dass es
so kommen wird. Es ist wichtig, dass dieser Dialog fortgeführt wird und sich all die Bemühungen nicht nur auf
die wirtschaftliche und soziale Lage positiv auswirken,
sondern vor allem auf die politische Situation und die
Lage der Menschen vor Ort.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kollegin Angelika Graf für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Steinbach, zu einer vernünftigen Menschenrechtspolitik gehört meiner Ansicht nach auch, dass man sich
entschuldigt, wenn man einen solchen Fauxpas begangen hat, wie Sie ihn eben gegenüber dem Kollegen Beck
begangen haben.
({0})
Wir können das Thema „Religionsfreiheit“ bei der
Anhörung und den Beratungen im Ausschuss sehr detailliert diskutieren. Deswegen möchte ich auf das, was Sie
dazu vorgetragen haben, jetzt nicht eingehen.
Wir begehen den Tag der Menschenrechte hier jedes
Jahr im Dezember mit einer Debatte. Das ist auch gut so;
denn die menschenrechtliche Lage ist in vielen Ländern
- das zeigen die Anträge, die heute gestellt werden - eindeutig verbesserungswürdig.
Es gibt auch im eigenen Land Vorgehensweisen, die
wir mit Recht hinterfragen müssen; Herr Strässer hat das
Thema „Lage der Sinti und Roma“ angesprochen. Wenn
man die Abschiebung bestimmter Personen befürwortet
- Sie haben gesagt, sie seien rechtens -, dann muss man
bedenken, welche Konsequenzen damit verbunden sind.
Zum Beispiel werden junge Frauen in Regionen zurückgeschickt, in denen sie Opfer von Menschenhandel werden.
({1})
So viel zum Thema „Vorgehensweise im eigenen Land“.
Angelika Graf ({2})
Die Anträge zur Praxis der Abschiebung nach Syrien,
die die Grünen und die Linken gestellt haben, machen
deutlich: Die Menschenrechtslage in Syrien ist schlecht,
insbesondere für Minderheiten; für nichtarabische
Volksgruppen ist sie prekär. Muslimische und yezidische
Kurden leiden ganz besonders unter dieser Situation.
Christliche Assyro-Aramäer werden ebenfalls zwangsarabisiert. All das muss man wissen, wenn man einem
Abkommen über die Rückübernahme nach Syrien das
Wort redet. Wir werden uns damit im Ausschuss sicherlich noch genauer beschäftigen. Ich denke, es lohnt sich,
sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es wirft
ein Licht darauf, wie wir in Deutschland mit diesen Dingen umgehen.
Lassen Sie mich auch ein Wort zu dem Antrag der
Koalition sagen. Es ist schon erwähnt worden: Vieles,
was darin steht, ist nicht wirklich neu. Auch in schwarzroten Zeiten gab es über viele Themen, die in diesem
Antrag angesprochen werden, durchaus Konsens. Geächtet werden sollen die Todesstrafe, die Straflosigkeit,
Menschenrechtsverletzungen an Frauen, an religiösen
und sexuellen Minderheiten. So weit, so gut. Ich bin
auch ganz bei Ihnen, wenn Sie feststellen, dass die Terrorismusbekämpfung nicht als Vorwand für Menschenrechtsverletzungen dienen darf, oder wenn Sie die Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs fordern.
Zu Ihrer in diesem Antrag aufgestellten Forderung,
die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen, darf ich Sie beglückwünschen;
({3})
folgen Sie doch damit den langjährigen Forderungen der
SPD-Fraktion und anderer Fraktionen dieses Hauses,
welche die Union in der letzten Legislaturperiode ausdrücklich abgelehnt und damit blockiert hat.
Die damaligen Begründungen sind aus meiner Sicht
hanebüchen. Überhaupt darüber zu reden, wurde von der
Kollegin Granold am 22. März 2007 als Scheindebatte
bezeichnet. Die Kollegin Landgraf hat am 6. April 2006
in diesem Hohen Hause festgestellt, dass die Vorbehaltserklärung sachgerecht sei, weil - ich zitiere einzelnen Bestimmungen der Konvention nunmehr
größere Bedeutung, wenn nicht gar unmittelbar innerstaatliche Wirkung zukäme.
Sie hat zum Beispiel Erschwernisse bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht Minderjähriger befürchtet.
Wie gesagt, ich freue mich über Ihren Sinneswandel;
denn wie heißt es so schön: Im Himmel ist mehr Freude
über die Rückkehr eines reuigen Sünders denn über Tausend Gerechte. ({4})
Wichtig ist für uns in der SPD-Fraktion der Menschenrechtsansatz in der Entwicklungszusammenarbeit. Er
wurde in den letzten fünf Jahren - das ist schon deutlich
gesagt worden - mit mehreren entwicklungspolitischen
Aktionsplänen ausgebaut; darauf wird der Kollege aus
dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung sicherlich noch eingehen.
Viele der Empfänger von Entwicklungshilfe haben
die grundlegenden Menschenrechtskonventionen gezeichnet und sich damit zu ihrer Umsetzung verpflichtet.
Darin liegt ein großes emanzipatorisches Potenzial des
Menschenrechtsansatzes. Aus benachteiligten Menschen
werden Rechtsträger, die ihre legitimen Ansprüche einfordern. Das sollte übrigens gerade dann geschehen,
wenn es menschenrechtliche Defizite in der Regierungsführung des Empfängerstaates gibt. Personengruppen,
die benachteiligt sind, also Frauen, Angehörige ethnischer Minderheiten oder indigener Gruppen, Homosexuelle oder auch Jugendliche, sind die besten Anwälte für
eine Verwirklichung der Menschenrechte.
Selim Caliskan, die Bereichsleiterin Menschenrechte
von Medica Mondiale, hat gestern beim „Informationsfrühstück Afghanistan“, bei denen etliche von Ihnen waren, formuliert: Frauen sind Motoren für den Rechtsstaat. Mir ist dieser Aspekt sehr wichtig. Er macht
nämlich deutlich, dass Frauen nicht nur Opfer sind, sondern in den Transformationsprozessen auch eine aktive
und positive Rolle innehaben. Viele Frauen, denen Unrecht geschehen ist, sind mutig und stark. Im Ostkongo
zum Beispiel helfen sie ihren Geschlechtsgenossinnen,
die Traumata nach Vergewaltigungen zu überwinden. In
Afghanistan übernehmen derzeit Afghaninnen die Arbeit
von internationalen Mitarbeiterinnen der besagten
Hilfsorganisation Medica Mondiale in der Rechtsberatung für weibliche Opfer von Gewalt.
Frauen kämpfen für ihre Rechte. Deswegen möchte
ich noch einmal auf das Aminatou Haidar eingehen.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion bleiben dabei:
Wir hätten uns sehr gewünscht, dass Sie sich dieser Debatte im Menschenrechtsausschuss nicht verweigert hätten. Eine entsprechende Entschließung hätte verabschiedet werden müssen; das sehen wir für unbedingt
notwendig an.
({5})
Ich glaube, wir haben eine große Chance vertan. Ich sage
Ihnen eines: Ein Obleutegespräch kann eine Ausschusssitzung nicht aufwerten. Da haben Sie einen falschen
Ansatz in Ihrem demokratischen Verständnis in diesem
Parlament.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Sibylle Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meinen Sie nicht manchmal, wir seien etwas anmaßend,
wenn wir glauben, wir könnten die Probleme, vor allen
Dingen die Menschenrechtsprobleme der Welt, hier in
Deutschland lösen?
({0})
Wo sie zu lösen sind, liebe Freunde, ist vor Ort in den
betreffenden Ländern. Wir müssen uns überlegen: Was
können wir da tun?
Wir haben zum einen Möglichkeiten der Diplomatie.
Aber wenn wir hier im Parlament sind, müssen wir uns
überlegen: Was können wir als Parlamentarier tun? Wir
können natürlich Resolutionen verabschieden. Wir können auch Einzelfälle behandeln. Das kann man machen.
Aber wenn wir wirklich etwas machen wollen, müssen
wir das Ort tun. Wir sind alle mehr oder weniger auf Delegationsreise, vor allen Dingen in Ländern, wo wir Probleme sehen, wo es Probleme mit Menschenrechten und
der Behandlung von Frauen und Ähnlichem gibt. Das ist
unsere Aufgabe, das ist unser Job.
Liebe Freunde, wir können da etwas machen. Ich
spreche hier aus eigener Erfahrung; wir machen es nämlich schon. Kollege Hartwig Fischer zum Beispiel - wir
alle kennen ihn - geht auf keine Delegationsreise, ohne
in dem entsprechenden Land auch ein Gefängnis zu besuchen. Machen wir uns nichts vor: Damit schafft er sich
nicht sehr viele Freunde bei seinen Gesprächspartnern
von den Regierungen, den Regimen oder was auch immer.
({1})
Das sorgt nicht für eine freundliche Aufnahme, und damit macht er sich auch keine Freunde. Das ist etwas, was
wir persönlich machen können, jeder von uns.
({2})
Das ist, wie ich finde, das Wichtige bei dem Ganzen. Alles andere wäre eine Scheindebatte.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Aber ja doch.
Ich halte es für einen außerordentlich guten Ansatz,
wenn wir uns fragen, was wir konkret machen können.
Allzu oft werden bei solchen Menschenrechtsdebatten ja
Feiertagsreden gehalten, in denen man zum Ausdruck
bringt, dass man für das Gute und gegen das Schlechte in
der Welt ist.
Sie sprechen in Ihrem Antrag die Themen Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung an.
Das sind alles schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie denn auch bereit
wären, das zu tun, was wir als Deutscher Bundestag konkret tun könnten. Wir könnten nämlich dafür sorgen,
dass die Opfer solcher Unrechtsmaßnahmen in Zukunft
eine Aufenthaltsgarantie für Deutschland bekommen.
({0})
Es ist doch besser, dass sie hier als Zeuginnen und Klägerinnen gegen die Schergen zur Verfügung stehen, die
diese Menschenrechtsverletzungen begehen, statt sie in
die Länder und in die Strukturen zurückzuschicken, in
denen ihnen diese Menschenrechtsverletzungen widerfahren sind. Ist die CDU/CSU-Fraktion mit Ihnen der
Meinung, dass wir in diesem Punkt das tun sollten, was
wir tun können?
Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, Herr Kollege
Beck: Wir als CDU/CSU haben zusammen mit der SPD
auch das Thema Genitalverstümmlung in den Bundestag
gebracht.
({0})
- Versuchen Sie doch, mich zu verstehen. Ich kann ja
noch einmal sagen, was ich eben gesagt habe. Wir dürfen doch nicht so anmaßend sein, zu meinen, wir könnten hier vor Ort die Probleme der Welt lösen. Das ist
mein Ansatz, ein anderer Ansatz als Ihrer.
({1})
- Wir sind hier, genau. Wir müssen uns überlegen, was
wir tun müssen und was wir tun können.
Frau Kollegin Graf hat, um auf das Thema zurückzukommen, etwas Wichtiges gesagt. Sie hat uns davor gewarnt, zu unterschätzen, welche Aufgabe Frauen haben Frauen in der Entwicklungspolitik, Frauen in Entwicklungsländern, Frauen in den Gesellschaften überhaupt.
Liebe Freunde, mein Thema, auf das ich jetzt gerne
zu sprechen kommen möchte, lautet: Frauenrechte sind
Menschenrechte. Hier müssen wir, wie ich glaube,
manchmal noch wesentlich genauer hinschauen.
({2})
Frauen sind in einigen Gesellschaften die schwächsten
Glieder. Aber auch da können wir etwas tun, und zwar
vor Ort.
Vielleicht erinnern sich ja noch einige Kolleginnen
und Kollegen aus dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung daran, dass letztes Jahr
bei uns Monira Rahman zu Besuch war. Sie hat 2005 den
Menschenrechtspreis von Amnesty International bekommen. Monira Rahman kümmert sich in Bangladesch um
Frauen, die mit Säure verätzt worden sind. Als ich sie in
ihrem Krankenhaus in Bangladesch besuchte und sah,
welch grauenvolle Dinge es gibt, wurde mir plötzlich
klar, dass es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen von Menschenrechtsverletzungen gibt.
({3})
Angesichts der Argumente, die dafür angeführt
werden, warum Frauen mit Säure verätzt werden, wird
deutlich, dass wir noch ganz viel Überzeugungsarbeit zu
leisten haben. Gemäß Art. 16 der UN-Menschenrechtskonvention gilt zwar auch dort, dass Frauen bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung
die gleichen Rechte wie Männer haben; Säureattentate
werden dort aber zum Beispiel aufgrund von Eifersucht,
aufgrund von „inadäquater“ Mitgift - das muss man sich
einmal vorstellen -, aufgrund von Streitigkeiten innerhalb der Familie verübt. Dass solche Gründe dafür angeführt werden, warum dort Frauen mit Säure verätzt werden, finde ich unglaublich.
({4})
Deshalb reicht es nicht aus, Konventionen zu erarbeiten und Papiere zu erstellen, wir müssen vielmehr dafür
sorgen, dass sich die Gesellschaft in bestimmten Ländern ändert. Dafür können wir bei den Regierungsverhandlungen - das ist schon angesprochen worden -,
beim Abschluss von Verträgen mit den entsprechenden
Regierungen oder wo auch immer etwas tun.
Etwas anderes finde ich ebenfalls grauenvoll, liebe
Kolleginnen und Kollegen, nämlich wenn Frauen in
Kriegen als Waffe benutzt werden. Das ist absolut verwerflich. Wenn ich mir vorstelle, dass das damals im
Balkankrieg vor unseren Augen passiert ist - wir haben
eine ganze Weile zugeschaut, bis wir eingegriffen haben -,
dann habe ich noch heute ein Schamgefühl; denn wir haben es gewusst, wir haben es gesehen, es ist uns erzählt
worden, aber wir haben nichts dagegen getan. Das finde
ich furchtbar.
Menschenrechte werden in manchen Ländern, vor allen Dingen dort, wo die Scharia regiert, nur bedingt und
nur unter Vorbehalt eingehalten. 60 Länder der Organisation der Islamischen Konferenz haben die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam 1990 verabschiedet. Aber eines fehlt dort, nämlich das Verbot von
Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Religion, anders als es in Art. 2 der UN-Menschenrechtskonvention steht. So wird Frauen in islamisch geprägten
Ländern oft die Schulbildung vorenthalten, die gesellschaftliche Teilhabe wird ihnen verweigert, sie haben
nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstieges, und sie werden als Menschen
zweiter Klasse behandelt. Dies geschieht unter dem
Deckmantel der Religion, des Islam, und der Kultur. Das
halte ich für verwerflich.
({5})
Denn alle Mitgliedsländer der Vereinten Nationen bekennen sich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, und deshalb muss man auf diese Diskrepanz aufmerksam machen.
Wir können und dürfen eine Einschränkung von Menschenrechten nicht hinnehmen, sondern müssen etwas
dagegen unternehmen. Es ist richtig, dass wir zumindest
darüber debattieren und diskutieren. Dass wir nicht allein eine Lösung finden können, ist ebenfalls richtig.
Dass die Folge einer Einschränkung der Menschenrechte, vor allen Dingen in islamischen Ländern, die Legitimation von Folter und Gewalt ist, darf nicht sein. Das
geht uns alle an.
Als langjährige Entwicklungspolitikerin weiß ich sehr
genau, worum es geht. Ich weiß, dass Armut, Krieg und
Menschrechtsverletzungen auch mit der Entwicklung eines Landes zusammenhängen. Wenn wir das beachten
und in die Entwicklung investieren, zur Schaffung von
Frieden beitragen und dafür sorgen, dass Menschenrechte nicht verletzt werden, werden wir Stabilität, Aufschwung, Frieden und Zukunft der Menschen fördern.
Das ist uns wichtig.
Deshalb ist es gut, dass der Titel unseres Antrags lautet: „Menschrechte weltweit schützen“. Das ist unsere
Verpflichtung; aber es sollte auch eine Selbstverständlichkeit sein.
({6})
Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor allen Dingen von der CDU/CSU und der FDP! Ihr
Antrag heißt: „Menschenrechte weltweit schützen“. Das
bedeutet, auch vor der eigenen Haustür zu kehren und
eine ehrliche Bilanz hinsichtlich der Einhaltung der
Menschenrechte in Deutschland zu ziehen. Dazu finde
ich in Ihrem Antrag aber absolut nichts.
({0})
Das halte ich für unehrlich.
Ich möchte heute an einem Beispiel zeigen, dass Sie
mit Ländern Rückübernahmeabkommen geschlossen haben, die Menschenrechte zutiefst verletzen, nämlich am
Beispiel Syrien. Dazu haben wir auch einen Antrag eingebracht. Das Rückübernahmeabkommen mit Syrien
wurde geschlossen, obwohl die Bundesregierung ganz
genau weiß, dass dort massive Menschenrechtsverletzungen insbesondere gegen die Kurden, die Eziden und
jegliche politische Opposition stattfinden. In der Regel
bedeutet das in Syrien Diskriminierung, aber auch Verschleppung, Folter, wie wir wissen, Gefängnis und Tod.
Dass die Bundesregierung darüber Kenntnis hat, zeigt
sich an der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken.
Sie haben ein Rückübernahmeabkommen - das ist ein
besseres Wort für Abschiebeabkommen - geschlossen,
durch das etwa 8 350 Menschen aus Syrien, die hier keinen regulären Aufenthaltsstatus haben, sowie mindestens 3 000 staatenlose Menschen abgeschoben werden
sollen. Das ist wirklich ein Novum, dass man Menschen,
die staatenlos sind, in ein Land zurückschickt, von dem
man ganz genau weiß, dass sie dort absolut rechtlos sind,
dass sie beispielsweise keinen Zugang zu Bildung oder
zu den Sozialsystemen haben, dass auch die Kinder
keine Bildungschancen haben. Das bestätigt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage,
die ich bereits angesprochen habe. Trotzdem ist dieses
Abkommen weiterhin in Kraft.
Es ist erst wenige Tage her, dass der Menschenrechtler Mustafa Ismail, der syrisch-kurdischer Herkunft ist,
in Syrien verschleppt wurde. Es gibt eine entsprechende
Pressemitteilung der Gesellschaft für bedrohte Völker,
worin aufgerufen wird, Solidarität zu üben.
Ich möchte noch zwei weitere Beispiele aus der
jüngsten Vergangenheit nennen, die zeigen, dass Menschen nach ihrer Abschiebung - Abschiebungen gab es
auch schon vor dem Rückübernahmeabkommen - an der
syrischen Grenze festgenommen wurden. Am 1. September wurde ein Kurde festgenommen. Weil er in
Deutschland Asyl beantragt hatten, wurde ihm vorgeworfen, „falsche Informationen über Syrien“ verbreitet
zu haben. Im Oktober dieses Jahres wurden eine 55-jährige Witwe und ihre vier Kinder zwischen 19 und
22 Jahren inhaftiert und verhört. Die Bundesregierung
sagt dazu, dass es nur eine Befragung über wenige Stunden gegeben habe. Das halte ich für einen absoluten
Skandal, da man doch weiß, dass diese Menschen tageund wochenlang inhaftiert werden. Es handelt sich um
Menschenrechtsverletzungen vonseiten der syrischen
Regierung.
({1})
Ich möchte noch einige Bemerkungen zu den Staatenlosen machen. In den 60er-Jahren sind durch die Arabisierungspolitik des Baath-Regimes Menschen ausgebürgert worden. In Syrien leben 200 000 staatenlose Kurden
und doppelt so viele staatenlose Palästinenser. Wenn die
Menschen hier bei uns einen Asylantrag stellen, wird ihnen zum Vorwurf gemacht, dass sie nicht ausreichend
bei ihrer Identitätsfeststellung mitwirken, weil sie keine
Pässe und keine Ausweisunterlagen besitzen. Deswegen
werden ihre Asylanträge häufig abgelehnt. Auch da
muss im Asylrecht, was die Menschenrechte betrifft, etwas verändert werden. Man kann nicht so tun, als seien
unsere Gesetze vollkommen in Ordnung. Hier bestehen
Lücken, und es muss daran gearbeitet werden, ein Asylrecht zu schaffen, das diesen Menschen Schutz vor den
Ländern gewährt, die die Menschenrechte verletzen.
({2})
Frau Jelpke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme gleich zum Schluss. - Der Höhepunkt ist
für mich, dass Syrien - auch das weiß die Bundesregierung - weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch internationale Abkommen zum Schutz von Staatenlosen
unterzeichnet hat.
Frau Jelpke!
Mein allerletzte Punkt: Menschen in ein Land abschieben zu wollen, das diese Abkommen noch nicht
einmal unterzeichnet hat, ist nicht hinzunehmen. Wir
fordern einen sofortigen Abschiebestopp und die sofortige Aussetzung des Rückübernahmeabkommens mit
Syrien.
Ich danke.
({0})
Es spricht jetzt Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
einen Gedanken der Kollegin Pfeiffer aufgreifen, die gesagt hat, wir sollten uns das vornehmen, was wir tatsächlich beeinflussen können, und wir sollten nicht so tun,
als ob wir durch solche Debatten die gesamte Welt verändern könnten.
Das halte ich für richtig. Wir sollten auch etwas demütig sein gerade an einem Tag, an dem Deutschland
von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
in Straßburg zu Recht verurteilt wurde. Wir wurden verurteilt, weil das, was wir im Bereich der Sicherheitsverwahrung machen, nicht den rechtsstaatlichen Standards
entspricht. Wir haben Menschen aufgrund eines neuen
Gesetzes nachträglich eine zusätzliche Strafe aufgedrückt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat klargestellt, dass Sicherungsverwahrung eine
Strafe ist. Die Menschenrechte sind auch im Falle von
Sexualstraftätern, Terroristen oder anderen Schwerverbrechern zu achten, auch wenn es schwerfällt. An diesen
Fragen zeigt sich die menschenrechtliche Qualität eines
Landes. Hier können wir noch einiges dazulernen.
({0})
Frau Steinbach, Sie reden hier immer über die Christenverfolgung. Das ist in der Tat ein wichtiges Thema. In
vielen Ländern werden Christen massiv verfolgt. In
China ist es die katholische Kirche, die Rom-treu ist. In
Usbekistan sind es die Zeugen Jehovas und Evangelikale. Zurzeit sitzen in Usbekistan vier Zeugen Jehovas
im Gefängnis.
Aber was machen wir da, wo wir etwas tun können,
gegenüber der usbekischen Regierung? Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in der EU dafür eingesetzt,
dass die letzten Embargomaßnahmen, die lediglich Einreiseverbote für Mitglieder der Staatsführung beinhalten,
aufgehoben wurden, weil wir militärpolitische Interes986
Volker Beck ({1})
sen in Termes haben. Konkrete Menschenrechtspolitik
misst sich daran, dass sie dort, wo sie Einfluss auf Beziehungen hat, konsistent handelt und dass nicht wie in einem Wolkenkuckucksheim über das Schlechte in der
Welt geredet wird.
({2})
Meine Damen und Herren, ich denke, Sie leisten den
verfolgten Christen in aller Welt einen Bärendienst,
wenn Sie deren Problem als Christenverfolgung und
nicht als Rechte religiös verfolgter Minderheiten bezeichnen. Man kann sich nicht in der Türkei dafür einsetzen, dass es in Tarsus ein Pilgerzentrum geben soll,
wie es Kardinal Meißner aus Köln zu Recht will - ich
bin sehr dafür -, ohne gleichzeitig über die desolate Situation der Aleviten und Jesiden in der Türkei zu sprechen.
({3})
Das ist nicht fair.
Wenn Sie sagen, 80 Prozent der religiös Verfolgten
seien Christen, was sagen Sie dann den Bahai, einer winzigen religiösen Minderheit, von denen viele im Iran in
der Vergangenheit bereits ermordet worden sind? Was
soll dieser quantitative Ansatz? Es geht darum, dass jeder sein Recht auf Religionsfreiheit subjektiv und kollektiv ausüben kann. Dazu gehören übrigens Kirchtürme
wie Minarette gleichermaßen. Die Mehrheit hat nicht
das Recht, die Menschenrechte per Volksabstimmung
oder parlamentarischer Gesetzgebung zu beschneiden.
({4})
Ansonsten wird Gesetzgebung zu einer Tyrannei der
Mehrheit im Sinne von de Tocqueville. Das wollen wir
nicht. Die Demokratie hat ihre Grenzen im Rahmen der
Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Das gilt für
uns und für den Volksgesetzgeber.
({5})
Wir haben gerade über das Thema „Flüchtlingsschutz
im Falle von Syrien“ gesprochen. Wenn in Deutschland
Syrer - meist sind es kurdische Syrer, die dort verfolgt
werden - vor deutschen Gerichten um Schutz nachsuchen und das Asylverfahren abgelehnt wird - Frau
Steinbach, vielleicht lernen Sie etwas dazu; Flüchtlinge
interessieren Sie ja weniger; die Achtung der Menschenrechte ist für Sie nur im Ausland interessant -,
({6})
dann wird ihnen das Asylverfahren bei einer Abschiebung in die Syrische Republik als Bezichtigung im Sinne
falscher Informationen nach § 287 des syrischen Strafgesetzbuches vorgehalten, so im September 2009 mit einem 31-jährigen syrischen Kurden aus Frankfurt am
Main geschehen. Er wurde nach der Abschiebung vom
Geheimdienst in Syrien einbestellt und ist danach verschwunden. Jetzt sitzt er in Haft und ist verurteilt.
Das passiert reihenweise. Man kann angesichts einer
solchen Staatspraxis in Syrien doch nicht systematisch
sagen: Wir schließen mit einem solchen Staat ein Rückführungsabkommen ab. - Da macht man sich doch zum
Helfershelfer der Schergen in syrischen Gefängnissen,
wo gefoltert wird, wo es keine rechtsstaatlichen Verfahren gibt und wo bestimmte religiöse, ethnische und
sprachliche Minderheiten unterdrückt werden.
({7})
Ich denke, da können wir zeigen, dass wir das tun, was
wir beeinflussen können. Wir können die Verhältnisse in
Syrien nicht aus den Angeln heben; aber den Menschen,
die von dort zu uns kommen und des Schutzes bedürfen,
können wir helfen und ihnen Schutz gewähren.
Ich möchte Ihnen, weil ja bald Weihnachten ist,
Herr Beck!
- angesichts dieser Fragen ein Bibelwort mit auf den
Weg geben
({0})
- denn Sie reden immer nur über die Christen und diejenigen, die Ihnen am nächsten stehen -:
Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, was werdet
ihr für Lohn empfangen? Tun nicht dasselbe auch
die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren christlichen
Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes?
Tun nicht dasselbe auch die Heiden?
Deshalb: Werden Sie vollkommen, wie es in Matthäus 5
weiter heißt, und bemühen Sie sich um ein vollständigeres Bild der Menschenrechte!
({1})
Der Nächste ist der Kollege Michael Frieser für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Diese verbundene Debatte soll auch etwas Verbindendes
haben, Herr Kollege Beck. Insofern muss man sagen:
Ein Credo für die Unteilbarkeit der Menschenrechte
schließt natürlich auch die Tatsache ein, dass wir bis ans
Ende dafür kämpfen, dass Sie Ihre Meinung hier äußern
dürfen. Auch wenn sie falsch ist, muss man sie trotzdem
ertragen.
({0})
Ich will in Hinblick auf die Religionsfreiheit nur eines
richtigstellen: Ein Hinweis auf die Tatsache, dass
80 Prozent der Verfolgungen solche von Christen sind,
macht es nicht falsch oder überflüssig, darauf hinzuweisen, dass auch andere Verfolgungen aus Religions- und
Glaubensgründen falsch sind.
Zudem ist es notwendig, Folgendes deutlich zu machen - das darf ich an dieser Stelle als Abgeordneter aus
Nürnberg, einer Stadt, die sich nicht umsonst Stadt des
Friedens und der Menschenrechte nennt -: Wir müssen
dem Anspruch der Geltung von Menschenrechten im
modernen Verfassungsstaat nicht nur dadurch gerecht
werden - Kollegin Pfeiffer hat darauf hingewiesen -,
dass wir hier gerne darüber reden und dies frei tun; wir
müssen vielmehr auch belegen, dass wir unsere Forderungen in den Institutionen umsetzen und die entsprechenden Verfahren durchführen können. Was wir in Bezug auf Menschenrechte fordern dürfen, hängt
maßgeblich von unserer Handlungsfähigkeit ab.
({1})
Der Antrag der CDU/CSU spricht eine deutliche
Sprache, wie wir sie nicht oft genug verwenden können. Er richtet sich gegen Todesstrafe, Folter, Sklaverei
und Ausbeutung und spricht sich für den Schutz der
Religions-, Presse- und Meinungsfreiheit aus. Gerade
hier gilt, was ich schon gesagt habe: Wir müssen die Einhaltung der Menschenrechte leisten können; wir müssen
Institutionen und Instrumente schaffen, damit wir das,
was wir hier fordern, umsetzen können.
Auch deshalb ist mir die bessere Durchsetzung des
Völkerstrafgesetzbuches ein besonderes Anliegen. Ich
bin froh, dass der Koalitionsvertrag hierauf eingeht. Völkerrecht braucht ein Völkerstrafrecht, um überhaupt
glaubwürdig zu sein und durchgesetzt werden zu können.
({2})
Darauf muss man eindeutig hinweisen.
Ich möchte nun die ordnungspolitische Sichtweise
einnehmen - auch Kollege Tören hat das schon getan und auf die Frage des deutsch-syrischen Rückführungsabkommens eingehen. Man muss sagen, dass es keine
Gründe gibt, dieses Abkommen einfach auszusetzen.
Hier geht es nämlich darum - dafür ist das Abkommen
nun einmal da -, gesetzwidrige Zuwanderungen rückgängig zu machen und zu verhindern. Es geht darum - wir
haben es oft genug gehört; man müsste vielleicht einmal
zuhören -, deutlich zu machen, dass das Asylrecht für
alle anderen Fälle genügend Rechtsschutz vorsieht. Das
Bundesinnenministerium und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge überwachen die Einhaltung und
Durchsetzung der asylrechtlichen Bestimmungen.
Die Bundesländer sind hier die richtigen Ansprechpartner; wir hatten dieses Thema heute schon. Die Innenminister sind tatsächlich in der Lage, einen gemeinschaftlichen Beschluss umzusetzen und durchzusetzen.
Das zeigt das Beispiel Sri Lankas: Hier hat die Bundesregierung aus unserer Sicht richtig reagiert; sie hat die
richtigen Entscheidungen getroffen. Es gibt den partiellen Abschiebestopp schon seit 2007; auch das haben wir
heute schon gehört.
Man darf nicht glauben - ich bin der Kollegin Pfeiffer
dankbar, dass sie darauf hingewiesen hat -, dass man
alle Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Boden
klären oder heilen kann. Das ist ein Irrweg.
An dieser Stelle zitiere ich gerne Karl Kraus, einen
Satiriker und Schriftsteller:
Es gibt Dinge, die sind so falsch, da stimmt noch
nicht einmal das Gegenteil.
({3})
Hier geht es um genau diesen Denkansatz: Es kann
nicht sein, dass die Menschenrechtspolitik eine Pflicht
zu einem generellen Individualschutz auf diesem Boden
vorsieht. Das würde nämlich zu einem regellosen Bleiberecht führen.
({4})
Ein regelloses Bleiberecht würde eine Zuwanderungspolitik durch die Hintertür sein. Vielleicht geht es der
Linken genau darum, unter dem Deckmäntelchen der
Menschenrechte eine bestimmte Zuwanderungspolitik
zu verfolgen. Darauf muss man leider hinweisen.
({5})
Es ist ein ehrenwertes Anliegen; aber die parteipolitische
Zielrichtung ist nun einmal zu erkennen.
Wir müssen deutlich sagen: Es gibt einen ausreichenden rechtlichen Rahmen für die Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Wir haben das gesetzlich geregelt; wir müssen und werden die Gesetze anwenden. Die
Zuwanderungspraxis in Deutschland ist an dieser Stelle
ausreichend ausgestaltet.
({6})
Es geht um Einzelfälle, die wir anprangern können und
müssen. Natürlich gibt es einen Grund, auf jeden Einzelfall hinzuweisen, in dem die Todesstrafe droht. Trotzdem
sollten wir nicht den Eindruck erwecken, dass wir alle
Probleme lösen können. Ich bitte darum, den Einsatz für
die Menschenrechte nicht immer mit einem parteipolitischen Kalkül zu verbinden. Das ist mit Sicherheit der
völlig falsche Weg.
Bei den Anträgen der Opposition fällt auf, dass es komischerweise einen Zusammenhang gibt zwischen den
Berichten über Menschenrechtsverletzungen in anderen
Ländern und der Tatsache, dass man doch immer wieder
darauf hinweist, dass sie kulturell bedingt seien.
({7})
Man kann das kulturrelativistische Kritik nennen. Das
bedeutet, dass die Kritik immer dann etwas leiser ist,
wenn es um Länder geht, wo Menschenrechtsverletzungen nicht in das parteipolitische Kalkül hineinpassen.
Die Stichworte China, Nordkorea und Kuba sind alle
schon gefallen.
({8})
Damit tun wir der Debatte in diesem Land für die Durchsetzung dessen, was wir in anderen Ländern leisten müssen, keinen Gefallen. Ich glaube, dass es die Menschen
dieser Welt verdient haben, dass wir es mit dem Thema
Menschenrechte ehrlich meinen, dass wir den Einzelfall
betrachten und das tun, was wir tun können.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Burkhard Lischka ist der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während ich diese Debatte verfolge, drängt sich mir zwangsläufig die Frage auf: Ist es denn so schwer, sich gemeinsam hinter einem Ziel zu versammeln? Die Einhaltung
der Menschenrechte ist auch in Zukunft die Messlatte
der deutschen Entwicklungspolitik. Darum geht es uns
in unserem Antrag, der heute zur Abstimmung steht.
Wirkt Entwicklungshilfe? Sie wissen, diese Frage
wird teilweise sehr heftig diskutiert. Entwicklungshilfe
wirkt vor allen Dingen dort gut, wo sie zum einen gute
Regierungsführung unterstützen kann und wo sie sich
zum anderen auf gute Regierungsführung stützen kann.
Auf Dauer kann kein Entwicklungsprojekt besser sein
als die Rahmenbedingungen, in die es eingebettet ist.
Wenn Menschenrechte, wenn Freiheitsrechte mit Füßen
getreten werden, dann kann Entwicklungspolitik langfristig nicht zu positiven Ergebnissen führen.
({0})
Wenn Menschen beispielsweise zum Abbau von Bodenschätzen von den Ländereien vertrieben werden, die
ihre Lebensgrundlage bilden, dann kann sich Entwicklungspolitik mühen, wie sie will: Sie wird Stückwerk
bleiben. Sie wird nicht nachhaltig dazu beitragen können, dass sich die Lebenssituation der Betroffenen verbessert. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist auf mündige Betroffene angewiesen, auf Akteure, die ihre eigene
Entwicklung mitgestalten können; denn solche Akteure
vor Ort wissen am besten, wo angesetzt werden muss,
damit sich ihre Situation verbessert. Weil das so ist, sind
die Menschenrechte auch in der Entwicklungspolitik das
A und O.
Für einen Analphabeten und einen hungernden Menschen ist beispielsweise die Pressefreiheit zunächst kein
primäres und existenzielles Grundrecht. Dennoch lässt
sich belegen, dass es in Staaten, in denen es Pressefreiheit gibt, seltener zu schweren Hungersnöten kommt.
Wo jede Form öffentlicher Kritik fehlt, haben die Herrschenden nicht zu befürchten, dass sie die Konsequenzen für ihr Versagen bei der Verhinderung von Hungersnöten tragen müssen. Das ist der Zusammenhang, um
den es heute ebenfalls geht. Nach wie vor gilt: Armut
und Verletzung von Menschenrechten sind zwar zwei
Farben, aber in ein und demselben Bild.
({1})
Weltweit leiden 3 Milliarden Menschen unter bitterster Armut und müssen mit weniger als 2 US-Dollar pro
Tag ums Überleben kämpfen. 4 Milliarden Menschen,
das sind zwei Drittel der Menschheit, haben keinen Zugang zur Justiz. Zwischen diesen Zahlen bestehen Zusammenhänge: Wer tagtäglich ums Überleben kämpft,
wer nicht lesen und schreiben kann, dem wird es schwerfallen, seine Rechte einzuklagen und sein Leben in Not
zu überwinden. Andersherum ist Armut häufig die Folge
von Diskriminierung, eines ungerechten Zugangs zu
Ressourcen und das Ergebnis einer ungerechten Verteilung.
Insofern ist Armut vielerorts gleichzeitig Ursache und
Folge von Menschenrechtsverletzungen. Das heißt aber
auch: Armut ist kein Schicksal, sondern von Menschen
gemacht. Sie ist häufig die Folge eklatanter Menschenrechtsverletzungen. Dagegen kann man etwas tun. Dagegen wollen wir etwas tun. Deshalb haben wir einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
({2})
Für uns Sozialdemokraten muss Entwicklungszusammenarbeit deshalb immer wieder versuchen, Auswege
aus politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unterdrückung zu eröffnen. Sie muss dazu dienen, Hunger zu bekämpfen, aber auch Ausbeutung und Ressourcenzerstörung. Sie muss Freiheits- und Bürgerrechte unterstützen.
Sie muss soziale Mindestnormen und soziale Gerechtigkeit einfordern. Menschenrechtspolitik bedeutet aber
auch, außerhalb der Entwicklungspolitik diese Ziele zu
verfolgen. Fortschritte in Entwicklungsländern sind sehr
häufig auch von äußeren Faktoren abhängig, wie beispielsweise einer fairen Weltwirtschaft. Hier tragen die
großen Industrieländer eine besondere Verantwortung,
weil sie die internationalen Spielregeln maßgeblich
bestimmen. Entwicklungspartnerschaft darf sich aber
nicht dann in Wohlgefallen auflösen, wenn die Eigeninteressen der Industrieländer tangiert sind. Hier sollten
Chancengleichheit und Fairness unser Kompass sein.
Ich hoffe, dass die Koordinaten dieser Politik nicht
durcheinandergeraten, wenn in Zukunft die Außenwirtschaftsförderung nach dem Willen der Koalition stärker
das Maß der Dinge auch in der Entwicklungspolitik ist;
denn wo Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungspolitik miteinander verquickt werden, da können Menschenrechte sehr schnell ins Hintertreffen geraten. Das
ist unsere große Sorge.
({3})
Hinter Erreichtes sollten wir nicht zurückfallen. Deshalb appelliere ich an die Bundesregierung, insbesondere an den zuständigen Minister Niebel: Setzen Sie den
Aktionsplan für Menschenrechte, der bis zum Jahr 2010
Gültigkeit hat, ohne Wenn und Aber um und entwickeln
Sie einen Folgeplan! Das sind Sie den vielen Millionen
Menschen, die hungern und unter Menschenrechtsverletzungen leiden, schuldig.
Danke schön.
({4})
Sabine Weiss ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Anträge
und der Verlauf der Debatte zeigen glücklicherweise immer noch: Das Thema Menschenrechte ist grundsätzlich
unser gemeinsames Thema. Quer durch die Fraktionen
besteht Einigkeit darin: Die Durchsetzung der Menschenrechte weltweit ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Die verbale Einigkeit stimmt mich hoffnungsvoll, dass
dies auch in der laufenden Legislaturperiode so bleibt.
Von daher will ich nicht polarisieren oder Gräben aufreißen. Dazu ist dieses Thema viel zu wichtig.
({0})
Viele der Forderungen in dem SPD-Antrag betrachten
wir in der Tat als gemeinsame Übereinkunft.
({1})
Viele der aufgestellten Forderungen werden in der alltäglichen Praxis bereits verwirklicht: Stärkung guter Regierungsführung, Stärkung der Eigenverantwortung und
Stärkung der Selbsthilfekräfte der Entwicklungsländer.
Gerade das sind doch die Schlüsselbereiche deutscher
Entwicklungszusammenarbeit.
({2})
Die nachhaltige Bekämpfung von Armut und Strukturdefiziten im Sinne der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen steht im Koalitionsvertrag, und der ist
nun einmal die Richtschnur für unser Regierungshandeln. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, Zweifel am Willen der schwarz-gelben Regierung haben, erinnern Sie sich doch einfach daran: Es
war unsere Kanzlerin Angela Merkel, die nach den Jahren von Rot-Grün das Thema Menschenrechte erstmals
wieder offen und klar in die deutsche Außenpolitik eingebracht hat.
({3})
Ich sage es noch einmal: Dieses Thema ist unser gemeinsames Thema. Wir müssen uns bei diesem Thema von
der SPD aber nicht extra anschieben lassen.
Auch die Kolleginnen und Kollegen von der Linken
täten meiner Ansicht nach gut daran, sich bei dem
Thema ein wenig in Demut zu üben.
({4})
Wenn Sie in Antrag und Debatte einen so forschen und
selbstgerechten Ton anschlagen,
({5})
könnte man mit Blick auf Ihre Parteivergangenheit
schnell zum Bild vom Glashaus und den Steinewerfern
kommen.
({6})
Die Worte Frieden, Freiheit und Menschenrechte aus Ihrem Munde kämen glaubwürdiger herüber, wenn sie mit
etwas mehr Nachdenklichkeit und Selbstreflexion über
die SED-Vergangenheit Ihrer Partei ausgesprochen würden.
({7})
Die universellen freiheitlichen Menschenrechte gehören zu den Grundlagen unserer Zivilisation. Wir wollen
sie in größtmöglicher Einigkeit durchsetzen und verteidigen.
({8})
Wir sollten das Thema auch nicht auf den Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit einengen; natürlich gehört es auch da hin. Das fängt bei so klaren Fällen wie
ausbeuterischer Kinderarbeit an und geht bis zu dem
großen Begriff von Good Governance, der alle Bereiche
staatlichen Handelns umfasst. Es schließt aber auch das
privatwirtschaftliche Engagement ein. Wir wissen, dass
gerade das mittelständische Engagement in vielen
Schwellen- und Entwicklungsländern für Arbeitsplätze,
Bildung und verbesserten Wohlstand sorgt.
({9})
Damit dies nicht auf Kosten der Menschen vor Ort passiert, wollen wir die Unternehmen unterstützen, die sich
in ihrem Rahmen für bessere und gerechtere Produktionsbedingungen engagieren.
({10})
Entwicklungsrelevanz ist hier der Schlüsselbegriff. Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte müssen
wir zusammen sehen, und das sieht die Regierung auch
so. Unser Antrag und die entsprechenden Passagen des
Koalitionsvertrages zeigen dies ganz klar und deutlich.
Der Antrag der Opposition reflektiert eher die letzten
Regierungsjahre der Sozialdemokraten, ein rotes Best990
Sabine Weiss ({11})
of. Aber das Thema ist umfassender. Deshalb haben wir
unseren Antrag wesentlich breiter angelegt. Nach meiner
Auffassung schließen wir damit das Anliegen des SPDAntrages ein, stellen das Ganze aber in einen größeren
Zusammenhang.
Die Menschenrechte gehören weltweit geschützt,
nicht aber eng fokussiert auf die Entwicklungszusammenarbeit. Uns geht es - das ist angeklungen - unter anderem um die Todesstrafe, und zwar überall, in den USA
genauso wie in China oder im Iran. Uns geht es um den
Schutz von Kindern, Frauen und Homosexuellen. Über
Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung und Todesstrafe für Homosexuelle wie im Iran oder möglicherweise
bald in Uganda dürfen wir nicht als Frage der kulturellen
Identität diskutieren und es damit einfach hinnehmen.
({12})
Uns geht es um elementare Freiheitsrechte, Religionsfreiheit, Presse- und Meinungsfreiheit, Schutz vor Diskriminierungen. Da blicken wir kritisch in alle Richtungen: nach Guantánamo genauso wie nach Kuba. Wir
befürworten den Bau von Moscheen und Hindutempeln
in unserem Land. Aber wir wollen auch, dass christliche
Kirchen überall auf der Welt ohne Angst errichtet werden können.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir,
einen Aspekt zu nennen, der mir persönlich sehr wichtig
ist. Wir fordern zu Recht Good Governance von den internationalen Partnern, die von uns Hilfe und Unterstützung erwarten. Wir wenden uns zu Recht gegen Teppiche, an denen das Blut von unzähligen Kinderhänden
klebt, um es einmal plastisch auszudrücken. Wir fordern
zu Recht, dass Menschenhandel, Sklaverei und Ausbeutung geächtet werden. Ich selbst habe als Anwältin etliche Prozesse zum Thema Menschenhandel geführt und
dabei mitbekommen, dass es überhaupt nicht ausreicht,
mit dem Finger ins Ausland zu zeigen und dort nach
staatlichen und wirtschaftlichen Verbesserungen zu rufen.
({14})
Die Teppiche, an denen Blut klebt, die Grabsteine aus
Sklavenarbeit und die verschleppte, zur Prostitution gezwungene Frau zum Beispiel aus Fernost haben eines
gemeinsam: Es gäbe sie nicht, wenn es hier nicht auch
den Markt und die Käufer gäbe.
({15})
Da wird der Schutz der Menschenrechte weltweit zu einem Problem ganz nah. Da müssen wir mentale Entwicklungshilfe im eigenen Land betreiben. Auch dies
gehört zum Thema dazu.
Am 10. Dezember wurde der Tag der Menschenrechte
begangen. Aus diesem Anlass nehmen wir uns Gott sei
Dank die Zeit, im Deutschen Bundestag über dieses
Thema zu diskutieren. Die Regierungsfraktionen haben
dazu einen Antrag gestellt, der ebenso deutlich wie umfassend die Position markiert, mit der Deutschland in der
Weltgemeinschaft sowohl in der Entwicklungszusammenarbeit als auch darüber hinaus in allen anderen Politikfeldern auftreten und handeln will.
Von daher werbe ich um Zustimmung zu unserem
Antrag. Mehr noch werbe ich aber um Ihre Hilfe, Ihren
Mut und Ihren Einsatz, wenn es um die konkrete Umsetzung geht.
Schönen Dank.
({16})
Liebe Frau Weiss, das war Ihre erste Rede hier im
Plenum. Dazu gratulieren wir Ihnen, verbunden mit dem
Hinweis, dass wir die Redezeit normalerweise einigermaßen einhalten.
({0})
Beim zweiten Mal wird Ihnen das sicher besser gelingen. Alles Gute für Ihre Arbeit hier!
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/257, 17/236, 17/237, 17/68 und
17/157 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 9 f. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Menschenrechte als entwicklungspolitische Quer-
schnittsaufgabe fortführen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/272,
den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/107
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die
Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Frak-
tionen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Dage-
gen haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die
SPD-Fraktion und einige Mitglieder der Fraktion Die
Linke gestimmt; andere Mitglieder der Fraktion Die
Linke haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 9 g. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Menschenrechte in Sri Lanka stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/273, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/124 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschluss-
empfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
tionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen
angenommen.
Ich komme jetzt zurück zu den Gremienwahlen und
gebe Ihnen die Ergebnisse bekannt.
Zunächst zur Wahl der Mitglieder des Wahlausschus-
ses gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesver-
fassungsgericht: Abgegebene Stimmen 589, gültige Stim-
men 586, Enthaltungen 1, ungültige Stimmen 3. Auf den
Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU entfielen
230 Stimmen, auf den der Fraktion der SPD 132 Stim-
men, auf den der Fraktion der FDP 92, auf den der Frak-
tion Die Linke 67 und auf den der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen 64 Stimmen.1)
Ich komme zur Wahl der Mitglieder des Richterwahl-
ausschusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes: Abge-
gebene Stimmen 584, gültige Stimmen 583, Enthaltun-
gen 1, ungültige Stimmen 1. Von den gültigen Stimmen
entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/
CSU 229 Stimmen, auf die der Fraktion der SPD
132 Stimmen, auf die der Fraktion der FDP 90, auf die
der Fraktion Die Linke 67 und auf die der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen 64 Stimmen.2)
Bei der Wahl des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a
Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung sind 587 Stimmkar-
ten abgegeben worden. Gültig waren 587. Von den gülti-
gen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Norbert
Barthle 480 Stimmen, auf den Abgeordneten Herbert
Frankenhauser 480 Stimmen, auf den Abgeordneten Jürgen
Herrmann 473 Stimmen, auf den Abgeordneten Klaus-
Peter Willsch 478 Stimmen, auf die Abgeordnete Petra
Merkel 497 Stimmen, auf den Abgeordneten Carsten
Schneider 506 Stimmen, auf den Abgeordneten Christian
Ahrendt 491 Stimmen, auf den Abgeordneten Heinz-
Peter Haustein 502 Stimmen, auf den Abgeordneten
Steffen Bockhahn 388 Stimmen und auf den Abgeordne-
ten Alexander Bonde 483 Stimmen. Ich gratuliere an die-
ser Stelle insbesondere dem Kollegen Haustein.3)
({2})
Zur Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 3 des
Bundesschuldenwesengesetzes. Abgegebene Stimmkar-
ten 587, davon gültig 587. 2 Enthaltungen hat es gegeben.
Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordne-
ten Norbert Barthle 480, auf den Abgeordneten Norbert
Brackmann 472, auf den Abgeordneten Alexander Funk
468, auf den Abgeordneten Bartholomäus Kalb 484, auf
den Abgeordneten Johannes Kahrs 462, auf den Abge-
ordneten Carsten Schneider 499, auf den Abgeordneten
Otto Fricke 503, auf den Abgeordneten Joachim Spatz
484, auf die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch 414 und auf
den Abgeordneten Alexander Bonde 484 Stimmen.4)
Ich habe offenbar vergessen, etwas zu verlesen; das
muss ich gerade noch nachholen. Ich muss noch verkün-
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 8
2) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 9
3) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 10
4) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 11
den, dass nach dem Höchstzahlverfahren von d’Hondt
auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
5 Mitglieder, der Fraktion der SPD 3 Mitglieder, der
Fraktion der FDP 2 Mitglieder, der Fraktion Die Linke
1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
1 Mitglied entfallen. Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über
das Bundesverfassungsgericht sind die Mitglieder des
Wahlausschusses in der Reihenfolge gewählt, in der ihr
Name auf dem Wahlvorschlag erscheint. Die Namen der
Gewählten entnehmen Sie bitte den Drucksachen 17/214
bis 17/218.
Jetzt komme ich noch einmal zum Richterwahlausschuss; da fehlte die gleiche Verkündung. Nach d’Hondt
entfallen auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/
CSU 7 Mitglieder, der Fraktion der SPD 4 Mitglieder,
der Fraktion der FDP 2 Mitglieder, der Fraktion Die
Linke 2 Mitglieder und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen 1 Mitglied. Nach § 5 Abs. 2 des Richterwahlgesetzes sind die Mitglieder und ihre Stellvertreter in der
Reihenfolge gewählt, in der ihre Namen auf den Wahlvorschlägen erscheinen. Hier entnehmen Sie die Namen
der gewählten Mitglieder und deren Stellvertreter bitte
den Drucksachen 17/219 bis 17/223.
Jetzt komme ich zu Tagesordnungspunkt 10:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Diana Golze, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung
der Kinderregelsätze
- Drucksachen 17/23, 17/204 Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Blumenthal
Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich gebe als Erstem dem Kollegen Dr. Carsten
Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte
diesem Antrag, in dem es um die Kinderregelsätze geht,
gleich den Wind aus den Segeln nehmen. Wenn wir über
Kinder reden, reden wir über ein Thema, das für die Zukunft dieses Landes von überragender Bedeutung ist.
Deshalb sollten wir sachlich reden. Zur Sachlichkeit gehört aber, darauf hinzuweisen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in diesen Tagen mit der Frage der Regelsätze beschäftigt. Wir erwarten jetzt für Anfang des
Jahres ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht. Im Oktober gab es schon eine Anhörung. Bei dieser Anhörung
kam heraus - ich habe das zumindest so verstanden;
auch zwischen den Zeilen -, dass das Bundesverfas992
sungsgericht die Regelsatzbemessung überprüft. Diese
Überprüfung sollten wir abwarten.
Es macht keinen Sinn, jetzt über Kommissionen zu
debattieren, wenn wir gar nicht wissen, welche Vorgaben
es gibt. Deshalb werden wir, die CDU/CSU-Fraktion,
diesen Antrag der Fraktion Die Linke schlicht und einfach ablehnen.
({0})
Lassen Sie mich an dieser Stelle gerne auch eine
grundsätzliche Bemerkung zu diesem Thema machen.
Wenn Sie das Thema Kinderregelsätze ansprechen, geht
es natürlich auch um das Kernproblem Kinderarmut in
Deutschland.
({1})
Wenn wir über Kinderarmut reden, dann heißt das für
uns, für die Christlich Demokratische Union, nicht nur
Kinderarmut im finanziellen Sinne, sondern auch im
nichtfinanziellen Sinne: die Nichtteilhabe an der Gesellschaft, das Ausgeschlossensein, das Nicht-partizipierenKönnen. Dieses Problem gehen wir an und müssen wir
angehen.
Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass die
Eltern dieser Kinder oftmals von Leistungen nach dem
SGB II leben. Ich will Ihnen nur einmal eine Zahl „vor
die Füße werfen“: Rund 50 Prozent der Kinder, deren Eltern von Leistungen nach dem SGB II leben, befinden
sich in Kinderarmut oder sind von Kinderarmut bedroht,
während es nur - ich bitte, das „nur“ in ganz große Anführungsstriche zu setzen - 8 Prozent der Kinder sind,
bei denen zumindest ein Elternteil in Vollzeit arbeitet.
Das heißt, der Schlüssel liegt vor allem bei den Eltern.
Wir müssen versuchen, die Betroffenen wieder in Arbeit
zu bringen, damit wir aus dieser Situation herauskommen.
({2})
Ich sage Ihnen jetzt auch noch etwas ganz offen und
ohne Parteipolitik:
({3})
Wir müssen uns noch stärker als bisher um die spezifischen Probleme dieser Arbeitslosen kümmern, und das
werden wir auch tun. Frau von der Leyen war im Ausschuss, und wir haben mit ihr gesprochen. Sie wird uns
dabei unterstützen.
Es gibt Probleme, beispielsweise bei den Alleinerziehenden. Rund 40 Prozent der Alleinerziehenden beziehen Leistungen nach dem SBG II. Das sind zu viele.
Dieses Problem müssen wir angehen - das hat Frau von
der Leyen erkannt, und das hat auch unsere Fraktion erkannt -,
({4})
das werden wir auch verlässlich und konsequent tun. Wir
würden uns freuen, wenn Sie uns mit Beiträgen dabei
unterstützen würden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Kinderregelsätze müssen neu bemessen werden. Da
stimmen wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken, zu. Es ist nicht in Ordnung, dass die Bedarfe für
Kinder pauschal von denen eines alleinlebenden Erwachsenen abgeleitet werden.
({0})
Dies haben wir schon in der letzten Legislaturperiode
bemängelt, und wir haben das Ministerium aufgefordert,
eine bessere Lösung vorzulegen.
({1})
Ich erinnere an die Anhörung vom 16. Juni 2008 zu diesem Thema. Die Experten waren sich durchweg einig,
dass wir eine genauere Bemessungsgrundlage für die
Kinderregelsätze benötigen.
Wie aber sollte diese aussehen? Es gab eine große
Übereinstimmung, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die für die Ermittlung der Erwachsenenregelsätze zugrunde gelegt wird, auch bei den Kindern anzuwenden. Das ist der richtige Ansatz, wenn man in der
Systematik der bisherigen Bemessung der Grundsicherung bleiben will. Leider wird die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe nur alle fünf Jahre erhoben. Das
ist ein zu langer Zeitraum. Auch darin waren wir uns einig. Die letzte Erhebung stammt aus dem Jahr 2003.
Wir haben das Ministerium gebeten, trotzdem probeweise eine Neubemessung der Kinderregelsätze auf
Grundlage der vorhandenen Daten durchzuführen. Das
Ministerium hat das hinbekommen und die Kinderregelsätze auf Grundlage einer EVS-Sonderauswertung des
Statistischen Bundesamtes neu berechnet. Da es bei einigen Verbrauchspositionen, zum Beispiel bei Lebensmitteln, schwierig ist, den genauen Kindsbedarf herauszurechnen, wurden die Ausgaben für Kinder mittels eines
von Wissenschaftlern entwickelten Verteilungsschlüssels
ermittelt.
({2})
Es stellte sich heraus, dass nachjustiert werden musste.
Die Kinderregelsätze wurden erhöht, und es wurde eine
dritte Altersstufe für die 6- bis 13-jährigen eingefügt.
Hiervon haben rund 810 000 Kinder in der Grundsicherung und 13 000 Kinder in der Sozialhilfe profitiert.
({3})
Auf unseren Druck wurde in der Großen Koalition auch
das Schulbedarfspaket von 100 Euro pro Schuljahr bis
zum Abitur für Schülerinnen und Schüler aus hilfsbedürftigen Familien auf den Weg gebracht.
({4})
Ein weiterer wichtiger Schritt unter Schwarz-Rot war
die Erhöhung und Neuberechnung des Wohngeldes. In
Kombination mit dem Kinderzuschlag haben wir für
viele Familien eine Besserstellung erreicht.
Wenn wir uns darauf verständigen, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe langfristig Grundlage
für die Bemessung der Kinderregelsätze sein soll, dann
müssen wir Druck auf die neue Regierung machen, dass
erstens der Erhebungszeitraum für die EVS verkürzt,
zweitens der tatsächliche Verbrauch für Kinder genauer
erfasst und drittens die nötige Transparenz bei der Bewertung von Verbrauchspositionen geschaffen werden.
Auch die Wiedereinführung von Einmalhilfen für besondere Bedarfe sollte aus meiner Sicht geprüft werden.
({5})
Dass wir dafür tatsächlich eine Kommission benötigen,
wie Sie sie fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken, glaube ich eher nicht. Wer sollte diese Kommission einsetzen? Wie groß sollte sie sein? Wer sollte dieser Kommission angehören?
({6})
Im Übrigen - darauf hat auch der Kollege von der CDU/
CSU schon hingewiesen - wird voraussichtlich schon im
Januar oder Februar das Bundesverfassungsgericht über
die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze und auch über
die Bedarfsermittlung für Kinder urteilen. Wir sollten
dieses wichtige Urteil abwarten.
Angemessene Kinderregelsätze sind das eine. Ebenso
wichtig ist es aber auch, die Infrastruktur für Kinder in
Deutschland insgesamt zu verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie zitieren in Ihrem Antrag einen Bundesratsbeschluss vom 7. November 2008.
Die Länder fordern die Bundesregierung hierin auf, die
Regelleistungen für Kinder neu zu bemessen und auch
die Mittagsverpflegung an Ganztagsschulen und das Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag bei den
Regelsätzen zu berücksichtigen. Wenn ich ein Bundesland wäre, würde ich es vielleicht genauso machen.
Denn so kann man bequem die eigene finanzielle Verantwortung an andere weiterreichen. Das sollten wir den
Ländern nicht durchgehen lassen.
({7})
Richtig ist aber auch, dass die Länder und Kommunen
die erforderliche Finanzausstattung benötigen, um ihren
Verpflichtungen nachkommen zu können. Ich komme
aus Schleswig-Holstein, einem wunderschönen, aber leider auch bettelarmen Bundesland. Hier hat die Landesregierung aus CDU und FDP erkannt, was die Steuersenkungspläne ihrer Parteikollegen auf Bundesebene für
Schleswig-Holstein und die anderen Bundesländer bedeuten.
Es ist ganz richtig, dass sich Ministerpräsident Peter
Harry Carstensen mit aller Macht gegen diese Pläne
stemmt. 4 Milliarden Euro werden die Länder durch dieses kontraproduktive Gesetz weniger in der Kasse haben. Dieses Geld fehlt für die Kinder, und vor allem für
die Kinder, die am wenigsten haben.
({8})
Eines ist klar: Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
wird dazu führen, dass die Schulden beschleunigt weiter
wachsen. Haushaltskonsolidierung wird so unmöglich
gemacht, aber die Schuldenbremse steht als riesiges
Schuldenstoppschild im Grundgesetz. Lieber Ministerpräsident Peter Harry Carstensen aus meinem schönen
Schleswig-Holstein, lassen Sie sich Ihren Schneid nicht
abkaufen! Bleiben Sie stark, und sagen Sie morgen im
Bundesrat Nein zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz!
({9})
Wir haben das im Bundestag übrigens schon getan; denn
natürlich wird es dem Bund nicht besser als den armen
Bundesländern ergehen. Ab 2010 kostet das sogenannte
Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Staat jedes Jahr
insgesamt rund 8,5 Milliarden Euro.
Eine Erhöhung der Regelsätze wird kommen; da bin
ich mir sicher. Aber auch diese hat natürlich ihren Preis.
Allein der Vorschlag des Paritätischen Gesamtverbandes
für die Kinderregelsätze würde nach eigenen Angaben
etwa 3 Milliarden Euro kosten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat darüber hinaus berechnet, dass eine Erhöhung der Regelleistung bei Erwachsenen von 358 auf 420 Euro den Bundeshaushalt mit
weiteren rund 10 Milliarden Euro belasten würde. Ich
bin gespannt, wie die schwarz-gelbe Regierung im Bund
und wie die Länder ihrer sozialen Verpflichtung nachkommen wollen. Nach der Landtagswahl in NordrheinWestfalen werden wir schlauer sein; denn dann wird die
Bundesregierung ihre Einsparkarten auf den Tisch legen.
Die SPD-Fraktion wird sehr genau, aber auch sehr genau
darauf achten, dass nicht die Armen in unserer Gesellschaft und erst recht nicht die Kinder diese Zeche zahlen
müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, auch wir
wollen, dass es wirksame, rechtssichere und eigenständige Kinderregelsätze in Deutschland gibt. Die Forderungen in Ihrem Antrag teilen wir aber nicht. Wir halten
die Einsetzung einer Kommission und Ihre vorgeschlagene Zwischenlösung für nicht zielführend. Die SPDFraktion wird Anfang nächsten Jahres einen eigenen
Vorschlag auf den Tisch legen, der so überzeugend sein
wird, dass dann alle zustimmen können.
({10})
Reiner Deutschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Kinder sind die Zukunft unseres
Landes. So einfach diese Feststellung ist, so bildet sie
doch die Grundlage unserer Diskussion. Wir alle wollen
- ich denke, darüber herrscht Konsens -, dass unsere
Kinder sorgenfrei und gut aufwachsen. Da dies nicht in
allen Fällen gewährleistet ist, haben wir ein soziales
Netz geschaffen. Gerade wenn es um Kinder geht, sollten wir an uns selbst hohe Anforderungen stellen.
({0})
Wir sollten uns die Zeit nehmen, eine Regelung zu finden, die bedürftigen Kindern eine ausreichende Unterstützung zukommen lässt. Wir sollten eine Regelung finden, die einer verfassungsrechtlichen Überprüfung
standhält.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es ratsam ist,
einen Sachverhalt auch einmal etwas aus der Distanz zu
betrachten. Wenn man Deutschland aus der Entfernung
betrachtet, dann findet man ein Land vor, das ein Netz
der sozialen Absicherung aufweist, welches wir nur in
sehr wenigen Ländern dieser Welt vorfinden.
({1})
Unsere soziale Marktwirtschaft vereint marktwirtschaftliche Mechanismen mit dem Sozialstaat. Ein Blick in
den jeweiligen Bundeshaushalt zeigt die Intensität der
sozialen Fürsorge unseres Staates. Nicht umsonst ist der
Sozialetat der mit Abstand größte Haushaltsposten. Ich
finde, dies sollte man wertschätzen, anstatt sich immer
nur im Klein-Klein populistischer Kritik zu verlieren.
({2})
Gerade deshalb bekennt sich die FDP-Bundestagsfraktion ohne Wenn und Aber zur sozialen Marktwirtschaft. In unseren Augen gibt es hierzu keine Alternative.
({3})
Das schließt aber nicht aus, dass bestimmte Regularien
verbesserungswürdig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat uns in der mündlichen Verhandlung vom
20. Oktober 2009 deutlich gemacht, dass wir einen Fehler beseitigen müssen. Schon das Bundessozialgericht
hatte in der Vorinstanz die pauschalierte Berechnung der
Kinderregelsätze gerügt. Diese Feststellung hat die FDP
begrüßt. Klar ist, dass die prozentuale Ableitung des Regelsatzes für Kinder vom Satz des Erwachsenen von Anfang an nicht den Anforderungen an eine Bedarfsermittlung entsprach.
({4})
Wir Liberale haben schon immer die Ermittlung des tatsächlichen Bedarfs für zwingend erforderlich gehalten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist nicht
das erste Mal, dass sich der Deutsche Bundestag mit der
Höhe der Hartz-IV-Regelsätze befasst. Es ist auch nicht
das erste Mal, dass wir auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten. Es ist auch nicht das
erste Mal, dass die Linken als selbsterklärtes soziales
Gewissen dieses Landes mit einem Antrag vorpreschen,
bevor überhaupt klar ist, was der Deutsche Bundestag
konkret unternehmen kann und muss.
({5})
Dabei krankt der Antrag der Linken an mindestens
zwei sehr grundlegenden Problemen.
Erstens ist überhaupt nicht klar, welche Vorgaben das
Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber, also uns,
machen wird. Das Urteil wird im ersten Quartal 2010 erwartet. Vorher wissen wir schlicht und ergreifend nicht,
wie die Kinderregelsätze zukünftig berechnet werden
müssen. Allein das Gebot einer effizienten Gesetzgebung erfordert von uns, dass wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zunächst einmal abwarten und dann
die Konsequenzen daraus ziehen.
({6})
Die Linke fordert zuerst Konsequenzen und wartet dann
die tatsächliche Rechtslage ab. So kann und so wird Gesetzgebung mit uns nicht funktionieren, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion.
({7})
Zweitens basiert die geforderte Erhöhung auf den Berechnungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands - Gesamtverband. Grundlage sind aber veraltete
Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe,
EVS, von 2003. Wir meinen, dass wir die Ergebnisse der
EVS 2008 abwarten sollten, die 2010 veröffentlicht werden. Auf dieser Basis ließe sich der Bedarf von Kindern
sicherlich weitaus präziser berechnen.
Darüber hinaus berücksichtigt die Berechnung des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für den Zeitraum von
2005 bis 2008 eine Erhöhung des Regelsatzes, die sich
an der allgemeinen Preisentwicklung orientiert. Renten,
Löhne und Gehälter orientieren sich dagegen an der allgemeinen Lohnentwicklung. Diese bleibt aber seit Jahren hinter der Preisentwicklung zurück. Damit würde die
Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu
einer Ungleichbehandlung in unserem Lande führen. Ein
Solidarsystem lebt aber essenziell davon, dass es gerecht
zugeht. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Sie ist den
Menschen nur vermittelbar, wenn sie transparent, angemessen und gerecht erfolgt.
({8})
Das ist der Kitt der Solidarität, den wir nicht vernachlässigen sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will noch kurz
zwei Anmerkungen zum Antrag der Fraktion Die Linke
machen. Wir sollten uns fragen, wer die Berechnung des
Kinderregelsatzes zukünftig durchführen sollte. Die
Fraktion Die Linke orientiert sich in ihrem Antrag an den
Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Bei
aller Wertschätzung der Leistungen des Paritätischen:
Auch bei ihm handelt sich um eine Interessenvereinigung, die ganz bestimmte Partikularinteressen vertritt.
({9})
Wir Liberale finden, dass die Berechnung der Kinderregelsätze neutralen Stellen überlassen bleiben sollte.
Die veraltete Datenlage und die noch nicht bekannten
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts lassen auch
die von den Linken geforderte umgehende Einrichtung
einer Kommission zur Bedarfsermittlung als Schnellschuss erscheinen. Auch hier gilt es, zunächst die Rahmenbedingungen zu kennen, bevor wir ein Expertengremium zu einer teuren, aber letztlich nicht zielführenden
Selbstbefassung veranlassen.
({10})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, Ihr Antrag gleicht einem Scheinriesen. Auf den ersten Blick erscheint er mächtig und groß,
({11})
aber auf den zweiten, näheren Blick zeigt sich, wie klein
er wirklich ist,
({12})
dass er mit heißer Nadel gestrickt wurde und einer soliden Grundlage entbehrt. Unsere Fraktion wird diesen
Antrag ablehnen.
Danke.
({13})
Lieber Herr Deutschmann, das war Ihre erste Rede
hier im Haus - mit perfektem Zeitmanagement. Herzlichen Glückwunsch dazu und viel Erfolg weiterhin!
({0})
Jetzt gebe ich das Wort der Kollegin Diana Golze für
die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Adventskalender meiner Kinder
waren vier Türchen geöffnet, als die schwarz-gelbe
Mehrheit in diesem Hause das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet hat, das hier
schon mehrfach zur Sprache gekommen ist. Unter anderem - auch das wurde schon gesagt - hat dieses Gesetz zur Folge, dass zum Beispiel ich durch den Kinderfreibetrag für jedes meiner beiden Kinder bis zu 37 Euro
mehr bekommen kann, dass meine Mitarbeiterin für ihre
Tochter 20 Euro mehr Kindergeld bekommt, dass aber
Millionen von Kindern in diesem Land von der Regierung zu Weihnachten gar nichts geschenkt bekommen.
Diese Kinder sind auf den Kinderregelsatz oder auf den
Unterhaltsvorschuss angewiesen. Auf beide Leistungen
wird das Kindergeld voll angerechnet.
Den Regierenden fällt nun nichts Besseres ein, als
diesen Kindern zu erklären - ich zitiere - „dass sich
Leistung in dieser Nation, in Deutschland, wieder lohnen
muss“ und dass eine „steuerliche Entlastung … von Familien nach dem Leistungsprinzip der richtige Weg“ ist.
So begründete es der Redner Dr. Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion in der Debatte über dieses Gesetz.
({0})
Ich frage: Wer gibt ihnen das Recht, zu sagen: „Kinder,
ihr habt einfach die falschen Eltern. Ihr müsst von
3 Euro am Tag satt werden, und das Spielzeug zu Weihnachten könnt ihr euch auch nicht kaufen, weil dafür nun
einmal nur 62 Cent im Monat vorgesehen sind. Ihr habt
einfach Pech gehabt.“?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das
Sozialgesetzbuch I beginnt mit den Worten:
Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und
erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, … gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für
junge Menschen zu schaffen … und besondere Belastungen des Lebens … abzuwenden oder auszugleichen.
Genau das leistet der derzeit geltende Regelsatz für Kinder nicht.
({1})
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Die Regelsätze für Kinder müssen sich am Leben von Kindern und
an deren Bedürfnisse ausrichten. Sie dürfen nicht 60, 70
oder 80 Prozent eines schon ohnehin zu geringen Regelsatzes für Erwachsene betragen. Sie müssen sich vielmehr auf den Bedarf der Kinder beziehen. Genau das hat
der Paritätische Wohlfahrtsverband in seiner Expertise
gemacht. Ich zeige sie Ihnen noch einmal, weil ich die
Befürchtung habe, dass einige in diesem Haus sie noch
immer nicht kennen. Ich bitte Sie, sie sich einmal genau
anzuschauen. Es sind belastbare und nachvollziehbare
Zahlen.
({2})
Nun haben Sie im Ausschuss - das gilt auch für alle
drei Vorrednerinnen und Vorredner - deutlich gemacht,
warum Sie unseren Antrag ablehnen wollen. Unter anderem wurde argumentiert, dass Sie erst das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts im nächsten Jahr abwarten
wollen, bevor Sie eventuell eine Änderung bei den Kinderregelsätzen vornehmen. Schließlich könne es ja sein,
dass das Gericht nur die Art der Berechnung, nicht aber
die Höhe der Regelsätze bemängelt.
Dies finde ich vor dem Hintergrund der Aussage eines
weiteren Redners der Unionsfraktion in der Debatte zum
Wachstumsbeschleunigungsgesetz sehr bezeichnend. Dort
sagte nämlich der Kollege Leo Dautzenberg zu den Änderungen beim Kinderfreibetrag und beim Kindergeld
Folgendes - ich zitiere -: Dazu
sind wir verfassungsrechtlich nicht verpflichtet,
sondern wir gehen sogar über die Vorgaben hinaus.
Es ist unserer politischer Wille, darüber hinauszugehen und nicht immer durchs Verfassungsgericht
getrieben zu werden, wenn wir der Entwicklung,
was das Existenzminimum anbelangt, hinterherhinken. Wir tun genau das, was wir als politische Zielvorstellung haben.
({3})
Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
das tun Sie. Sie geben ohne Not den Vermögenden mit
vollen Händen und warten bei den Ärmsten, bis das
Bundesverfassungsgericht Ihnen aufgibt, wenigstens Almosen zu verteilen. Das ist Ihre politische Zielstellung.
({4})
Deshalb weigern Sie sich, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, die den Kinderregelsatz berechnet, wie es unser Antrag vorsieht. Deshalb weigern
Sie sich, bis es diese Expertenkommission gibt und sie
einen Vorschlag gemacht hat, die Kinderregelsätze auf
das Niveau des Vorschlages des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes anzuheben. Deshalb wird es unter
Schwarz-Gelb keinen Weg aus der Kinderarmut geben,
und es wird kein Ende der schreienden Ungerechtigkeit
bei der Behandlung von Kindern geben. Dagegen werden wir weiterhin etwas unternehmen müssen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt insbesondere von den Vertretern der Koalitionsfraktionen wortreiche Erklärungen gehört, warum sie die Anhebung der Regelsätze für Kinder in
Haushalten von Langzeitarbeitslosen nicht wollen.
({0})
Der Tenor war: Abwarten! Abwarten, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat. Abwarten, bis die
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ausgewertet ist.
Abwarten, bis genug überlegt worden ist. Ich sage Ihnen:
Wir sind der Gesetzgeber. Wir sind nicht gewählt worden, um abzuwarten, bis das Bundesverfassungsgericht
ein Urteil spricht.
({1})
Das zeigt doch nur eines: Wenn es um Geldleistungen
für Langzeitarbeitslose geht, sind Sie alle, wie Sie da sitzen, passive Klötze.
({2})
Wenn es allerdings darum geht, Familien mit sehr hohem Einkommen zu begünstigen, dann haben Sie offensichtlich weniger Schwierigkeiten, etwas zu tun. Ich zitiere, was Wolfgang Schäuble am 12. November dieses
Jahres, also vor einem Monat, im Deutschen Bundestag
zur Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes gesagt hat. Er sagte - Zitat -:
Das ist wirklich eine sozial ausgewogene Maßnahme, die auch der Stärkung der privaten Nachfrage dient.
({3})
Es ist schon ein sehr merkwürdiges Verständnis von
sozialer Ausgewogenheit,
({4})
wenn einerseits Spitzenverdiener gut 400 Euro netto im
Jahr mehr haben und andererseits ALG-II-Bezieher, die
für Kleinkinder gerade einmal 215 Euro pro Monat bekommen, keinen Cent mehr erhalten.
Es ist ein sehr merkwürdiges und eigentümliches Verständnis von sozialer Ausgewogenheit beim Finanzminister und der Koalition, wenn einerseits ein Luxushotel
wie das „Adlon“ durch die Mehrwertsteuerermäßigung
jetzt 1,9 Millionen Euro pro Jahr Zusatzgewinn macht
und andererseits die Reinigungskraft desselben Hotels,
die wegen ihres niedrigen Lohns ergänzendes ALG II
bezieht, für sich und ihre Kinder nicht einen Euro von
der Kindergelderhöhung sieht.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist beinahe schon dreist,
wenn derselbe Herr Schäuble, der die Staatskassen zugunsten der gutbetuchten schwarz-gelben Klientel leeren
will, heute verbreiten lässt, ab 2011 werde richtig gespart. So wie Sie von Union und FDP heute als Bedenkenträger gegen die Erhöhung von Kinderregelsätzen
aufgetreten sind, kann man sich schon heute denken, wer
dann wieder sparen muss, nämlich diejenigen, die bereits
jetzt nur wenig Spielräume und Chancen haben. Wenn
dank Ihrer Steuergeschenke im kommenden Jahr das Defizit beängstigend ansteigt, dann ahne ich schon jetzt,
wer gemeint ist, wenn es dann heißen wird: Ja, jetzt
müsse man sich wirklich einmal Gedanken darüber machen, was wir uns in Deutschland überhaupt noch leisten
können.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir sind
uns sicherlich einig, auch mit einigen Sozialdemokraten,
dass passive Leistungen alleine nicht ausreichen. Dennoch bleiben diese Voraussetzung für Teilhabe und auch
für Aktivierung, auch wenn ich das Wort „Aktivierung“
mittlerweile nur noch sehr ungern in den Mund nehme;
denn die Rede von der Aktivierung bleibt schal, wenn
wirksame individuelle Hilfen ausbleiben. Wenn, wie das
IAB vorgestern bestätigte, mehr als die Hälfte der Alleinerziehenden über drei Jahre ununterbrochen im
ALG-II-Bezug stecken bleibt, dann stimmt offensichtlich etwas mit der individuellen Hilfegewährung nicht.
({6})
Gegenüber diesen Müttern, gegenüber diesen Alleinerziehenden sagen Sie dann: Ihr erhaltet nicht den Betrag,
den ihr für den notwendigen Lebensunterhalt der Kinder
bräuchtet.
({7})
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie sind die letzten Mohikaner. Verbände der Freien
Wohlfahrtspflege, die Arbeits- und Sozialministerkonferenz haben festgestellt - künftig vermutlich sogar das
Bundesverfassungsgericht -, dass die Festsetzung der
Kinderregelsätze nicht in Ordnung ist. Nur Sie stehen
noch allein in der Landschaft. Machen Sie das, was auch
wir von Bündnis 90/Die Grünen wollen: endlich einen
klaren Schnitt. Wir Grüne wollen die Regelsätze für Kinder so anheben, dass sie der Lebenswirklichkeit näher
kommen. Wir wollen des Weiteren einen eigenständigen
Kinderregelsatz und in einem zweiten großen Schritt
eine armutsfeste Kindergrundsicherung. Das sind klare
Perspektiven - und nicht so ein jämmerliches Suchen
nach Ausflüchten, wie Sie es hier darbieten.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Mechthild Heil hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Welche Erkenntnisse hat uns die heutige
Debatte in Bezug auf die Frage gebracht: In welchem
Umfang soll man diejenigen unterstützen, die selbst
nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen können, insbesondere wenn es sich um Kinder handelt? Eine große Verantwortung liegt auf uns, die wir diese Frage beantworten müssen. Darüber sind wir uns sicherlich einig,
ebenso darüber, dass wir diese Frage nie zur Zufriedenheit aller beantworten werden.
Sie von der Linken fordern, die Regelsätze für Kinder
anzuheben, und zwar nicht etwa um 2 oder 5 Prozent,
sondern um 28 bis 32 Prozent, je nach Alter des Kindes.
Das bedeutet für die 6- bis 14-jährigen Kinder zum Beispiel eine Erhöhung um 81 Euro auf 332 Euro im Monat.
Klingt doch toll, oder?
({0})
Für mich ist das eine Politik nach dem Motto: „Wer bietet mehr?“, die die aktuelle Haushaltslage völlig ausblendet. Das ist nicht seriös.
({1})
Wir haben zwar bald Weihnachten, und Sie, liebe
Kollegin Golze, haben ja berichtet, dass bei Ihnen das
eine oder andere Türchen schon geöffnet wurde. Aber an
dieser Stelle habe ich doch Zweifel an der Großzügigkeit
und auch an der Leistungsfähigkeit unseres Christkinds.
Wer wird die 2 Milliarden Euro aufbringen, die Ihre Forderung Jahr für Jahr kosten wird?
({2})
Das müssen unsere Bürger bezahlen.
Das Bundesverfassungsgericht hat im zurzeit laufenden Verfahren Kritik vor allem an der Art der Ermittlung
der Regelsätze geäußert. Was das Gericht über die Höhe
der Regelsätze sagen wird, ist noch völlig offen. Mit
dem Urteil ist - Sie haben es erwähnt - im ersten Quartal
nächsten Jahres zu rechnen. Ich bin gespannt, welchen
Weg das Gericht vorschlagen wird. Erst aus diesen Vorschlägen können wir neue Regelsätze ableiten; denn wir
wollen eine verfassungsfeste Regelung.
({3})
Mir ist aus eigener Erfahrung mit drei Kindern in den
letzten 19 Jahren klar, wie schwierig es sein wird, einen
tatsächlichen Bedarf zu ermitteln. Dieser hängt nicht nur
von der Zahl der Kinder und von deren Tages- und Wochenform ab, sondern auch von den Lebensgewohnheiten der Familie. Für den einen ist ein Wickeln fünfmal
am Tag Standard; andere möchten unbedingt zwölfmal
am Tag wickeln.
({4})
Für den einen sind Cola und Saft im Haus tabu; andere
würden einen Verzicht darauf als Zumutung empfinden.
So sieht das wahre Leben aus. Werte- und Konsumvorstellungen sind in Familien eben unterschiedlich. Wir
sollten uns an dieser Stelle hüten, anderen vorschreiben
zu wollen, wie sie leben und was sie ihren Kindern an
materiellen Dingen zukommen lassen - im Rahmen der
ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, auch wenn diese
Mittel von uns, vom Staat, zur Verfügung gestellt werden. Das passt nicht in mein und auch nicht in unser
Menschenbild.
Die Bundesregierung hat die Regelsätze für Kinder
bisher mithilfe einer vergleichbaren Bevölkerungsgruppe festgelegt. Das bedeutet, Leistungsberechtigte
sind nach den Sozialgesetzen heute so gestellt wie etwa
ein Viertel der Gesamtbevölkerung in Deutschland.
Leistungsberechtigte können somit ein Leben führen wie
andere, die nicht von Sozialleistungen abhängig sind.
Dieser Staat beweist damit als Sozialstaat hohe Qualität.
({5})
Tatsache ist: Die Daten, die den bisherigen Regelsätzen zugrunde liegen, basieren auf der größten Erhebung
dieser Art innerhalb der Europäischen Union. Immerhin
wurden die Aufwendungen von 75 000 Haushalten erfasst. Tatsache ist auch, dass es eine Sonderauswertung
durch das Statistische Bundesamt gibt. Sie beruht auf der
Studie „Kosten eines Kindes“ des Bundesfamilienministeriums. Die Regelsätze wurden zum 1. Juli dieses Jahres stärker nach dem Alter der Kinder differenziert.
Kolleginnen und Kollegen, man muss die Frage auch
in dem Kontext sehen, was der Staat an anderer Stelle für
Kinder getan hat. Die Situation von Familien mit Kindern hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert.
Ich erinnere an das Schulbedarfspaket und auch an den
Kinderbonus in Höhe von 100 Euro, der dieses Jahr einmalig ausgezahlt wurde. Aber das Wichtigste ist: Wir
sollten unsere Anstrengungen darauf richten, die Eltern,
vor allem aber die alleinerziehenden Mütter, wieder unabhängig von staatlichen Leistungen zu machen. Der
3. Armuts- und Reichtumsbericht spricht eine deutliche
Sprache: Armut bekämpft man am effektivsten dort, wo
man die Menschen in Arbeit bringt.
Die Zahlen sind eindrucksvoll - Dr. Carsten
Linnemann hat bereits darauf hingewiesen -: In Haushalten, in denen kein Elternteil arbeitet, sind 48 Prozent
der Kinder armutsgefährdet. Arbeitet ein Elternteil in
Vollzeit, sind es nur noch 8 Prozent der Kinder. Wenn
beide Eltern die Möglichkeit haben, Vollzeit zu arbeiten,
beträgt das Risiko der Kinder, arm zu sein, nur noch
4 Prozent. Es gibt also eine Senkung des Armutsrisikos
von 48 auf 4 Prozent alleine dadurch, dass beide Eltern
die Chance haben, zu arbeiten.
Verwenden wir also unsere Kraft dazu, Arbeit und
Wachstum zu schaffen.
({6})
Dann werden in Zukunft mehr Menschen Leistungsträger sein und weniger Menschen von staatlichen Transferleistungen abhängig sein. Die CDU/CSU-Fraktion
lehnt den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Frau Heil, das war auch für Sie die erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der wir Ihnen herzlich gratulieren. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit im
Deutschen Bundestag.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/204, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/23 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die Fraktion Die Linke. Die Fraktion der
SPD hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814
({2}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({3}) vom
2. Juni 2008, 1838 ({4}) vom 7. Oktober 2008,
1846 ({5}) vom 2. Dezember 2008, 1897
({6}) vom 30. November 2009 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates
der Europäischen Union vom 10. November
2008 und dem Beschluss 2009/907/GASP des
Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2009
- Drucksachen 17/179, 17/274 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({7})
Bericht des Haushaltsausschusses ({8})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/276 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven Kindler
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Verabredet ist, eine Dreiviertelstunde zu debattieren.
Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Joachim Spatz für die FDP-Fraktion.
({9})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am 30. November dieses Jahres die völkerrechtliche Grundlage zur Piratenbekämpfung an der somalischen Küste verlängert.
Am 8. Dezember hat auf dieser Grundlage die Europäische Union die Verlängerung von Atalanta beschlossen.
Das Mandat dieser Operation bleibt im Wesentlichen das
alte. Die Änderungen, die vorgenommen werden sollen,
betreffen die Zusammenarbeit der somalischen Behörden mit den Atalanta-Kräften bei der Bekämpfung der illegalen Fischerei. Dies ist ein Thema, das schon bei der
ersten Lesung angesprochen worden ist.
Auf der Grundlage dieser Beschlusslage hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag ersucht, das
Mandat zu verlängern, und zwar bis zum 18. Dezember
nächsten Jahres.
Nach einem Jahr kann man Zwischenbilanz ziehen.
Wir sind der Auffassung: Die Operation ist ein voller
Erfolg. 90 Piratenverdächtige konnten festgenommen
werden. 88 davon wurden nach Kenia, 2 nach Spanien
überstellt. Übrigens, 23 von ihnen sind durch die Besatzungen deutscher Schiffe aufgebracht worden. Alle
Schiffe, die für das World Food Programme im Einsatz
waren, sind durchgekommen. Die Sicherung der Handelsrouten ist verbessert worden.
({0})
Es gab zwar keinen Rückgang der Zahl der Versuche,
aber einen Rückgang der Zahl der erfolgreichen Kaperungen, und das ist ein wichtiges Indiz.
An dieser Stelle ein Wort zu den Linken. Sowohl bei
Atalanta als auch bei Althea ist nach meiner Auffassung
deutlich geworden, dass das kategorische Nein, das Sie
auch bei diesen Mandaten vertreten, vielleicht bei so
umstrittenen Entscheidungen wie jenen zu Afghanistan
diskutabel ist. An dieser Stelle macht es aber eines klar:
Sie argumentieren ergebnisbestimmt. Das heißt, Sie haben eine Parteilinie, die darauf abzielt, pazifistisch orientierte Menschen von den Grünen, der SPD oder wem
auch immer abzuziehen. Da ist jedes Argument recht,
das dazu führt, ein Nein zu begründen, sei es gerechtfertigt oder nicht.
({1})
Wenn Sie als Alternative zum militärischen Geleitschutz der World-Food-Programme-Schiffe zivilen Geleitschutz vorschlagen, kann ich dazu nur sagen: Damit
schrecken Sie vielleicht Playmobil-Piraten ab, aber
keine echten Piraten.
({2})
Das ist unseriös. Sie haben sich insbesondere bei der Debatte über Atalanta oder Althea aus der Seriosität verabschiedet und sich in die parteipolitische Taktiererei verirrt.
({3})
Natürlich sehen auch wir, dass die Wurzeln der Piraterie beseitigt werden müssen. Deshalb müssen wir den
somalischen Staat wieder konsolidieren. Dabei müssen
wir helfen. Denn jedem ist klar: Die Übergangsregierung
allein kann das nicht schaffen. Wir unterstützen
AMISOM, die Friedenstruppe der Afrikanischen Union,
und wir werden, wie schon mehrfach gesagt, die Ausbildung von 2 000 somalischen Soldaten in Uganda vorantreiben.
Sie betonen, dass die Ursachenbekämpfung wichtig
ist, um die Piraterie im Kern zu treffen. Dabei ist eines
von Bedeutung: Auch der militärische Einsatz vor Ort,
der verhindert, dass es erfolgreiche Auszahlungen von
Lösegeldern gibt, blockiert dadurch, dass weniger Geld
ins Land fließt, die Erstarkung destabilisierender Kräfte,
seien sie verbrecherischer oder terroristischer Art. Auch
hier leisten wir also durch militärischen Beistand einen
Beitrag zur Lösung des eigentlichen Problems, auch
wenn wir wissen, dass politische Komponenten hinzukommen müssen.
({4})
Ein weiterer Punkt ist die Zusammenlegung der Mandate; auch das wurde gefordert. Das ist eines der Themen, die die FDP durchgesetzt hat. Die Bundesregierung
arbeitet daran. Immerhin - das muss man wissen -: Nur
8 von 35 Schiffen, die dort operieren, gehören zu Atalanta. Sowohl NATO- als auch Nicht-NATO-Länder sind
beteiligt. Sie alle zu integrieren, wird naturgemäß - auch
Länder wie Indien oder China sind beteiligt - dazu führen, dass diese Koordination nicht so leicht zu bewerkstelligen sein wird, dass sie von heute auf morgen
funktioniert. Aber auch hier bemüht sich die Bundesregierung um eine bessere Koordination.
Das Fazit: Aus unserer Sicht ist die Mission erfolgreich. Sie ist aus politischer und humanitärer Sicht geboten. Unterlassene Hilfeleistung ist hier ein schlimmes
Vergehen.
({5})
Weil es politisch und humanitär geboten ist, stimmen wir
der Verlängerung des Mandates um ein Jahr zu.
Ich bedanke mich.
({6})
Herr Spatz, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir gratulieren Ihnen dazu sehr herzlich und
wünschen Ihnen viel Erfolg.
({0})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn etwas sagen,
was mir persönlich sehr wichtig ist: Egal ob wir, der
Deutsche Bundestag, wie in der vergangenen Sitzungswoche über die Verlängerung der Mandate von ISAF
und OEF oder wie heute von Atalanta und Althea entscheiden, egal wie stark der jeweilige Einsatz im Fokus
des öffentlichen Interesses steht, egal ob wir für oder gegen die Verlängerung dieser Einsätze stimmen, eines
sollte dieses Hohe Haus einen - ich sage das bewusst unter dem Eindruck der gestrigen Debatten -: der Respekt,
die Wertschätzung und die Unterstützung für unsere Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien, die wir gemeinsam in solch schwere Auslandseinsätze schicken.
({0})
Wir alle haben eine Verantwortung wahrzunehmen,
gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch bei Debatten
hier im Haus. Das hohe Gut der Parlamentsarmee können wir gar nicht hoch genug schätzen. Es ist unsere Verpflichtung als Abgeordnete, mit dem hohen Gut der Parlamentsarmee verantwortungsvoll umzugehen, dieses
Prinzip zu stärken und zu verteidigen.
Bei einer Parlamentsarmee gehört es dazu, dass wir
Abgeordnete nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Gerade deshalb haben wir das Recht und - ich
betone - auch die Pflicht, alle Informationen einzufordern und dort, wo wir nicht ausreichend informiert wurden, aktiv zu werden.
({1})
Herr Minister zu Guttenberg, vor diesem Hintergrund
will ich in aller Deutlichkeit sagen: Ich bin von Ihrem
gestrigen Versuch enttäuscht, das Hohe Haus in seiner
gemeinsamen Verantwortung für unsere Soldatinnen und
Soldaten zu spalten; das lassen wir nicht zu. Wir Abgeordnete stehen gemeinsam zu unserer Verantwortung;
wir stehen hinter unseren Soldatinnen und Soldaten, egal
ob sie in Kunduz oder am Horn von Afrika im Einsatz
sind.
Die Sozialdemokratie wird ihrer Verantwortung auch
dadurch gerecht, dass sie heute der Verlängerung des
Atalanta-Mandats zustimmen wird. Dieser Einsatz ist
nicht frei von Kritik; aber ich sehe ihn als notwendig an.
Die humanitäre Situation in Somalia ist noch immer katastrophal; wir dürfen nicht wegsehen. Deswegen ist es
richtig, dass wir begonnen haben, zu handeln. Atalanta
ist ein Garant dafür, dass Hilfslieferungen die leidende
Bevölkerung erreicht haben und die Situation auf der
See stabilisiert wurde.
Die Piraterie hat allerdings kein Ende genommen.
Deswegen müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden. Lassen Sie uns also aufhören, zivile und militärische Maßnahmen gegeneinanderzustellen. Der Militäreinsatz verschafft Luft zum Handeln, wenn es darum
geht, zivile Maßnahmen zu ermöglichen; die militärische Präsenz schreckt ab und dämmt ein. Zur Wahrheit
gehört auch, dass die organisierte Piraterie nicht in die
Opferrolle gesteckt werden darf. Wo Kriminalität begangen wird, muss sie konsequent und schnell bekämpft
werden.
Natürlich ist auch klar: Militärische Maßnahmen sind
nicht die Lösung des Problems der Piraterie, erst recht
nicht im Hinblick auf die Herausforderungen in Somalia.
Ziel muss es sein, die Grundlage für eine friedliche Existenz in der Region zu schaffen. Deswegen brauchen wir
eine ernsthafte politische Strategie, die Somalia eine
Perspektive aufzeigt. Der Kampf gegen Hunger muss
durch eigenständige Entwicklung ermöglicht werden.
Der Aussöhnungsprozess in Somalia muss aktiv begleitet werden. Die Grundlagen für staatliche Strukturen in
Somalia sind zu schaffen. Nur ein solch umfassender
Ansatz kann dazu führen - das will ich betonen -, dass
die somalische Bevölkerung eigene Verantwortung übernehmen kann.
({2})
Wir müssen mit den Anrainerstaaten an einer regionalen Sicherheitsstruktur arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Anrainerstaaten aktiv an der Piratenbekämpfung beteiligen und dass sie auch aktiv daran
beteiligt sind, wenn es darum geht, die Entwicklung Somalias voranzutreiben. Militärisches Engagement ist
kein Ersatz für Staatlichkeit und die innere Entwicklung
Somalias. Deshalb ist zu begrüßen, dass die spanische
Regierung angekündigt hat, während ihrer EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zu ergreifen, die einen umfassenden Sicherheitsbegriff beinhaltet. Ich betone es noch
einmal: Das militärische Engagement muss dazu führen,
dass sich die Staaten der Region ihrer Verantwortung
stellen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich intensiv
für die Schaffung eines internationalen Seestrafgerichtshofs einzusetzen, damit eine Verfolgung der Piraten
stattfinden kann.
({3})
Wenn Straftaten begangen werden, muss sichergestellt
sein, dass rechtsstaatliche Verfahren stattfinden können
und auch Konsequenzen haben. Auch die Reedereien
müssen wir stärker an ihre Verantwortung erinnern.
Der Atalanta-Einsatz bedeutet auch, dass wir deutschen Unternehmen helfen, indem wir zivile Schifffahrts- und Handelswege sichern, aber das darf kein
Freifahrtschein für diese Unternehmen sein. Deswegen
müssen wir unsere Erwartungen an die Reedereien klar
und deutlich formulieren. Lassen Sie uns an die Reedereien appellieren: Ihr habt selbst an eurer Sicherheit mitzuarbeiten, mit ausreichend technischen Maßnahmen,
mit ausreichend Personal und vor allem dadurch, dass
ihr euch an die vorgegebenen Routen und auch an die
Konvoiplanung haltet. Alle haben eine Verantwortung,
wenn es darum geht, der Piraterie entgegenzutreten.
Deswegen müssen sich alle an die vereinbarten Spielregeln halten.
({4})
Wie meine Vorredner gestern und heute weise ich darauf hin, dass wir diese Mission noch optimieren können. Wir haben mit OEF, Active Endeavour, Atalanta
und vielen nationalstaatlichen Missionen eine Parallelität an Einsätzen, die wir besser koordinieren müssen.
Wir fordern deswegen die Bundesregierung auf, dafür zu
sorgen, dass zumindest eine ständige Planungskonferenz
aller beteiligten Seestreitkräfte und internationalen Akteure installiert wird, um eine Verbesserung der Koordination zur Bekämpfung der Piraterie zu erreichen.
Die SPD-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Ich bitte Sie um die Unterstützung für
unseren Entschließungsantrag. Nutzen Sie in der Regierung die breite Mehrheit hier im Parlament, aber auch international, um Atalanta in eine umfassende Sicherheitsstrategie einzubetten. Nur so kann die Piraterie bekämpft
werden, nur so kann ihr der Nährboden entzogen werden, und nur so eröffnen wir Somalia eine Perspektive.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({5})
Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir an Piraten denken, dann kommen uns
Karibik, Palmen, weiße Strände, Kokosnüsse, malerische Piratennester am Mittelmeer oder das Piratenschiff
auf den Kinderspielplätzen in den Sinn. Aber mit all dem
hat Piraterie überhaupt nichts zu tun. Piraterie ist ein
brutales, organisiertes Verbrechen wie Drogenhandel,
Menschenhandel und Schutzgelderpressung.
Piraterie gibt es so lange, wie es Seefahrt gibt. Solange es Piraterie gibt, gibt es auch die Bekämpfung der
Piraterie. In den 90er-Jahren gab es ein großes Piratenproblem in der Straße von Malakka. Weil 14 asiatische
Staaten gemeinsam entschlossen gegen die Piraterie angekämpft haben, konnte sie dort erfolgreich zurückgedrängt werden.
Auch am Horn von Afrika beteiligt sich eine große
Zahl von Ländern an der Piratenbekämpfung, neben den
Ländern der EU und NATO beispielsweise China und
Russland. Dieser Antipirateneinsatz ist eine sehr bemerkenswerte Koalition zur Bekämpfung dieser Form des
organisierten Verbrechens. Im Grunde kann man sagen:
Die gesamte Weltgemeinschaft kämpft gegen die Piraterie, mit Ausnahme der Linken im Deutschen Bundestag,
die die Brisanz offensichtlich noch nicht erkennen.
({0})
Lassen Sie mich die zwei Kernanliegen der Mission
Atalanta unterstreichen. Zum einen ist der Einsatz der
deutschen Marine unter humanitären Gesichtspunkten
unverzichtbar. Wir haben bereits vom ersten Redner gehört, dass die Hilfsgüter für das Welternährungsprogramm meist mit Schiffen befördert werden, die sicher
somalische Häfen erreichen. Im letzten Jahr waren es
mehr als 300 000 Tonnen Nahrungsmittel und andere
Hilfsgüter. Damit konnten über 3 Millionen Menschen
versorgt werden, die sonst möglicherweise verhungert
wären.
Die Teilnahme Deutschlands ist also moralisch geboten. Aber die Operation hat auch eine wirtschaftliche
Grundlage. Für eine Exportnation wie Deutschland sind
freie Handelswege unverzichtbar.
({1})
- Handel ist aber nichts Verbotenes, liebe Kollegen der
Linken. Freie Handelswege helfen allen in der Welt. Ich
weiß gar nicht, wo das Problem der Linken liegt.
({2})
Von diesem freien Seehandel hängen in der Exportnation Deutschland viele Arbeitsplätze ab, und davon
hängt natürlich auch unser Wohlstand ab; denn wenn wir
weder Produkte importieren noch exportieren, dann können wir nichts verbrauchen und brauchen auch nichts zu
produzieren.
({3})
Deutschland ist eine große Seefahrernation. Das ist
den Menschen, die mit ein bisschen Abstand zur Küste
wohnen, gar nicht bewusst.
({4})
Mit 3 500 Schiffen hat Deutschland die drittgrößte Handelsflotte der Welt; außerdem hat Deutschland weltweit
die größte Containerflotte. Diese Zahlen machen uns die
Abhängigkeit von freien Seewegen klar.
({5})
Die Mission Atalanta liegt daher in unserem ureigenen
Interesse.
Es ist unbestritten, dass der militärische Einsatz auf
See begleitet und durch politische Maßnahmen langfristig überflüssig gemacht werden muss. Aber auch dabei
hilft diese Mission: Jeder von Piraten erpresste Euro, der
nach Somalia fließt, macht die Lage dort instabil; denn
jeder, der dadurch sein Geld verdient - ich meine nicht
die Piraten, die armen Handlanger, sondern die Hintermänner, die reich werden -, hat überhaupt kein Interesse
an stabilen Verhältnissen in Somalia. Jeder durch Piraterie erpresste Euro destabilisiert die Lage im Land, macht
die Menschen arm und ist letztendlich die Grundlage des
Hungers und der Gewalt in Somalia. Auch darum brauchen wir diese Mission.
({6})
Daher unterstützen wir selbstverständlich alle Maßnahmen und Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die den Aufbau legitimer staatlicher Strukturen in
Somalia befördern.
Zum Schluss möchte ich an die Besatzung erinnern,
an die Männer und Frauen, die dort ihren Dienst tun.
Zurzeit ist die Fregatte „Bremen“ vor Ort. Ich möchte
aber auch an die Familien der Soldatinnen und Soldaten
erinnern und ihnen danken. Im Grunde fahren die Frauen
der Soldaten, die Männer der Soldatinnen und ihre Kinder mit in den Einsatz. Auch sie sollten wissen, dass wir
ihnen danken und an sie denken.
({7})
Herr Minister, wir sollten darüber nachdenken, die
Anerkennung der Leistungen der Soldatenfamilien auszuweiten. Bei der Marine bedeutet ein Einsatz häufig
mehr als ein halbes Jahr Abwesenheit von der Familie.
Wenn das Schiff, das die Fregatte ablösen soll, irgendein
Problem hat, dauert ein Einsatz schnell noch einen Monat länger. Die Familien machen das mit. Wer zur See
fährt, weiß, dass er länger abwesend ist. Trotzdem sollten wir hier eine Anerkennungskultur schaffen.
({8})
Lassen Sie uns diesen wichtigen Einsatz mit großer
Mehrheit verlängern. An die Linken gerichtet, sage ich:
Überlegen Sie noch einmal, ob Ihre Position wirklich
richtig ist.
Herzlichen Dank.
({9})
Christine Buchholz hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In ihrem
Antrag beklagt die Bundesregierung die fehlende Staatlichkeit in Somalia;
({0})
das war schon in vielen bisherigen Beiträgen Thema.
Fehlende Staatlichkeit ist die Folge genau jener neoliberalen Weltwirtschaftsordnung,
({1})
die Sie laut Koalitionsvertrag mit Ihrer Außen- und Verteidigungspolitik absichern wollen.
Die Weltwirtschaftskrisen der 70er- und 80er-Jahre
und die Zins- und Schuldenpolitik des Westens haben
Somalia ökonomisch ruiniert und politisch destabilisiert.
Die vom Internationalen Währungsfonds durchgesetzten
Strukturanpassungsprogramme haben zu Massenentlassungen im öffentlichen Dienst Somalias geführt. Erst dadurch ist die Küstenwache aufgelöst worden, die Sie nun
wieder aufbauen wollen.
({2})
Die ehemaligen Polizisten stellten neben ehemaligen Fischern in den letzten 20 Jahren den Hauptteil der Piraten.
Es waren westliche Interventionen, bis hin zum direkten US-Einmarsch, die einen Bürgerkrieg angeheizt haben, der bis heute anhält.
({3})
Als sich ab dem Jahr 2000 eine Staatlichkeit zu entwickeln begann, haben europäische Regierungen alles getan, um diese zu zerstören; denn sie befürchteten, dass
der neue Staat unter den Einfluss von China und Iran geraten könnte.
({4})
Deshalb verbündeten sich die Europäer mit den Warlords. Zu diesem Zweck unterstützte auch die Bush-Regierung 2006 die äthiopische Invasion. Dabei sind
40 000 Somalis getötet worden, und es gab keinen Aufschrei der Empörung seitens der Bundesregierung.
({5})
Ihnen geht es nicht um Staatlichkeit als solche. Die
Staatlichkeit soll prowestlich sein, und wenn das gegen
den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden muss,
dann sind Sie wieder einmal bereit, mit verbrecherischen
Warlords zusammenzuarbeiten, wie auch in Afghanistan.
({6})
Somalia ist Spielball der Interessen der Weltmächte.
Kurt Bodewig von der SPD hat als Maritimer Botschafter der Europäischen Union kürzlich betont, die wirtschaftliche Bedeutung der Region könne daran gemessen werden, dass es sich um einen der meistbefahrenen
Seewege der Welt handele, über den die Hälfte der weltweiten Öllieferungen transportiert werde. Die Leidtragenden sind die Menschen in Somalia. Die Arbeit der
humanitären Hilfsorganisationen in Somalia ist wichtig.
Ich zolle deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Respekt, die unter schwersten Bedingungen ihre Arbeit machen, auch zu Weihnachten und weit weg von zu Hause.
({7})
Aber die Entwicklungs- und Hilfsorganisationen lesen
nur die Scherben auf, die andere verursacht haben. Die
Urheber dieser Scherben sind dieselben, die nun die ArChristine Buchholz
beit der Hilfsorganisationen zum Vorwand nehmen, ihre
eigenen Interessen durchzusetzen.
({8})
Wenn es Ihnen nur um den Schutz der Nahrungstransporte gehen würde, würden Sie kleine Gruppen von Bewaffneten die Schiffe schützen lassen. Das macht zum
Beispiel die französische Regierung, um französische
Thunfisch-Trawler zu schützen. Aber Ihnen geht es um
etwas ganz anderes. Vielleicht geht es Ihnen darum, die
neue Form der internationalen Seekriegsführung zu testen, besonders die Koordination von Luft-, Land- und
Seestreitkräften aus verschiedenen Ländern.
({9})
Ist das auch der Grund dafür, dass der Europäische Rat
jüngst beschlossen hat, die Zusammenarbeit zwischen
der Operation Atalanta und der Operation Enduring
Freedom zu intensivieren?
({10})
Im Strategiepapier der deutschen Marine Zielvorstellung Marine 2025+ heißt es - ich zitiere -:
Eine sich absehbar verschärfende Konkurrenz um
den Zugang zu Rohstoffen und anderen Ressourcen
erhöht das zwischenstaatliche Konfliktpotential.
Konventionelle, reguläre Seestreitkräfte regionaler
Mächte können dabei den freien und ungehinderten
Welthandel als Grundlage des deutschen und europäischen Wohlstands ebenso gefährden wie kriminelle oder terroristische Bedrohungen der maritimen Sicherheit.
Das ist, mit Verlaub, eine neue Umschreibung der alten
kolonialen Kanonenbootpolitik.
({11})
Sie betreiben die Militarisierung der deutschen Außenpolitik. Sie betreiben die Militarisierung der Europäischen Union. Daran werden wir uns nicht beteiligen,
egal in welchem humanitären Gewand Sie daherkommen.
({12})
Deshalb lehnt die Linke Atalanta ab.
({13})
Jetzt hat Kerstin Müller das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Buchholz, wenn die Welt so einfach wäre …
({0})
Ich dachte, die Zeit der K-Gruppen hätten wir hinter uns
gelassen; aber ich fühlte mich ein Stück weit zurückversetzt.
({1})
Da war ich noch ein bisschen jung, aber gut.
Meine Fraktion wird der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes jedenfalls mit großer Mehrheit zustimmen.
({2})
Wir meinen im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und
Herren von der Linken - ich versuche doch noch einmal,
zu argumentieren -: Man muss das eine tun, ohne das
andere zu lassen. Ich ziehe einmal einen Vergleich zur
Innenpolitik: Selbst Sie sind dafür, dass es mehr Polizei
auf der Straße gibt, und fordern gleichzeitig
({3})
- hören Sie doch einmal zu! -, dass man die Ursachen
von Kriminalität weiter bekämpft. Genau darum geht es
hier. Im Grunde geht es um einen quasipolizeilichen Einsatz, der mit Soldaten durchgeführt werden muss. Atalanta ist notwendig, um die Piraterie einzudämmen und
um die humanitäre Versorgung der Menschen in Somalia
sicherzustellen. Niemand behauptet, dass man mit diesem Einsatz die Ursachen der Piraterie, die an Land zu
suchen sind, bekämpfen kann.
({4})
Wir müssen beides tun: die Kriminalität und die Ursachen an Land bekämpfen.
({5})
Die Piraterie ist ganz klar ein Ergebnis dauerhafter
Armut und fehlerhafter Staatlichkeit in Somalia, nicht
zuletzt deshalb, weil dort seit 1991 ein Bürgerkrieg tobt
und die humanitäre Lage verheerend ist. Die UNO
spricht von 3,7 Millionen Hilfsbedürftigen und 1,5 Millionen Binnenvertriebenen, also vom größten humanitären Krisengebiet weltweit. Daran konnte auch die
schwache Übergangsregierung unter Sheikh Sharif
nichts ändern.
Ich möchte an dieser Stelle den internationalen Helfern, die dort in einer sehr schwierigen Lage Hilfe leisten
und immer wieder massiven Angriffen, gerade von Islamisten, ausgesetzt sind, im Namen des Hauses danken.
Sie leisten dort eine sehr schwierige Arbeit, die allerdings überaus wichtig ist.
({6})
Kerstin Müller ({7})
Ich meine trotzdem, dass sich Deutschland und die
Europäische Union hinter diesem Piraterieeinsatz nicht
verstecken dürfen. Unsere Interessen dürfen nicht nur
dem freien Handel gelten, sondern wir müssen die Menschen in Somalia in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Da gibt es einiges zu kritisieren. So haben zum
Beispiel alle Staaten, auch Deutschland, auf der internationalen Geberkonferenz in Brüssel im Mai 2009 Somalia viel versprochen, bisher aber leider nur wenig gehalten.
Ich will ein Beispiel nennen. Nur etwa 30 Prozent der
international zugesagten Finanzmittel für AMISOM, für
die Mission der Afrikanischen Union, sind dort bis heute
angekommen. Seit April dieses Jahres erhalten die
AMISOM-Soldaten keinen Sold mehr. Ich glaube, ich
muss Ihnen nicht erklären, was das bedeutet. An die
Bundesregierung gerichtet, sage ich ganz klar: So geht
das nicht. Zusagen muss man einhalten.
({8})
Wenn man die Afrikanische Union stärken will, dann ist
so etwas ein verheerendes Signal.
Fest steht auch: Militär und Polizei können Friedensprozesse bestenfalls unterstützen und Zeitfenster für die
zivile Krisenbewältigung schaffen, nicht aber den Frieden selbst. Diese Erkenntnis hat sich meines Erachtens
weder in Berlin noch in Brüssel noch in der SomaliaKontaktgruppe wirklich durchgesetzt. Für eine nachhaltige Bekämpfung der Ursachen der Krise in Somalia
reicht es nicht aus, die schwache Übergangsregierung
und AMISOM als ihren Beschützer zu unterstützen.
Was brauchen wir? Nachhaltige Ursachenbekämpfung verlangt, dass sich die internationale Gemeinschaft
als ehrlicher und neutraler Friedensmakler einsetzt. Hier
könnte Deutschland übrigens, auch was Äthiopien und
Eritrea betrifft, eine wichtige Rolle spielen. Deutschland
könnte dazu beitragen, dass in Somalia lokale Clanchefs,
die Führungseliten von Somaliland und Puntland und die
Zivilgesellschaft mit starken Frauengruppen für einen
Versöhnungsdialog gewonnen werden. AMISOM muss
vor allem die Menschen schützen und darf nicht nur die
Übergangsregierung verteidigen.
Nachhaltige Politik verlangt auch, dass die Finanzströme von Piraten und al-Schabab ausgetrocknet werden, dass man dem Waffenschmuggel einen Riegel vorschiebt und - hier stimme ich Ihnen zu, Herr
Außenminister - dass der Rechtsstaatsaufbau in Somalia
intensiv unterstützt wird. Sie haben gesagt: Der Rechtsstaat ist wichtig. Ich füge hinzu: Vom Rechtsstaatsaufbau alleine werden die Menschen nicht satt. Deshalb
muss weiterhin Ursachenbekämpfung betrieben werden.
({9})
Als eine Ursache der Piraterie müssen wir die Armut
bekämpfen. Darüber hinaus müssen wir die humanitäre
Grundversorgung sichern, Alternativen zur Einkommensquelle Piraterie erschließen und endlich auch die illegale Raubfischerei an der Küste Somalias wirksam bekämpfen. Ich habe die ganz klare Erwartung an die EUKommission, dass sie hier handelt.
Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist. Wir brauchen einen regionalen Lösungsansatz für das Horn von
Afrika. Die Europäische Union hat jetzt zwar eine Gesamtstrategie beschlossen, aber diese Strategie wird, so
fürchte ich, ein Papiertiger bleiben. Unsere Erwartung
ist, dass die Bundesregierung und alle Staaten der EU sagen, was sie zu tun bereit sind, um diese Strategie mit
Leben zu füllen. Ich glaube, nur so können wir zeigen,
dass es uns um die Menschen geht und nicht nur um die
Handelswege.
({10})
Eine letzte Anmerkung, und zwar zur EU-Ausbildungsmission - mein Vorredner hat sie angesprochen -:
Mich hat erstaunt, dass sich der Außenminister dazu gestern im Plenum sehr positiv geäußert hat. Ich will Ihnen
klar sagen: Wenn man nicht sicherstellen kann, dass
dann die gut ausgerüsteten und ausgebildeten Sicherheitskräfte nicht zu den Piraten und den gewaltbereiten
Islamisten überlaufen, dann darf es von deutscher Seite
für die EU-Ausbildungsmission, die ein französisches
Projekt ist, keine Zustimmung geben. Das wird dann keinen Erfolg haben.
({11})
Ich glaube, dass die Bundesregierung in ihrer Somalia-Politik nach wie vor zu viel auf Sicherheit und zu wenig auf politische Lösungen setzt. Die Menschen in Somalia brauchen Aussöhnung, sie brauchen Perspektiven,
aus der Armut zu kommen. Wenn Atalanta Sinn machen
soll, dann müssen wir diese eklatante Schieflage der
Politik korrigieren.
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Abgeordneten Guido Westerwelle.
Frau Kollegin Müller, ich möchte mich zunächst einmal dafür bedanken, dass die Grünen dem Antrag der
Bundesregierung mehrheitlich zustimmen werden.
Als Abgeordneter, der gewissermaßen relativ neu in
Verantwortung ist, möchte ich darauf hinweisen, dass
manche Kritikpunkte, die Sie zu Recht angebracht
haben, durch die neue Beschlussfassung des Mandats
ausgeräumt werden.
Sie haben darüber gesprochen, was im Zusammenhang mit AMISOM zu tun sein wird, zum Beispiel dass
Bezahlung notwendig ist. Das steht in der Begründung
des Antrags genau so drin. Ich bitte das Hohe Haus auch,
zur Kenntnis zu nehmen, dass das Auswärtige Amt kurzDr. Guido Westerwelle
fristig 1,5 Millionen Euro zugesagt hat und einzahlen
wird. Schneller kann eine Regierung nicht handeln.
({0})
Ich möchte zum Zweiten darauf aufmerksam machen
- es ist mir wichtig, dass alle Kolleginnen und Kollegen
das hier noch einmal hören, weil das ja ein wichtiger
Einsatz ist -, dass ich im Auswärtigen Ausschuss mitgeteilt habe,
({1})
dass wir allein jetzt 6,2 Millionen Euro für somalische
Partnerorganisationen und humanitäre Hilfe bereitstellen. Das ist in die Begründung dieses Antrags aufgenommen worden. Es ist also eine Menge getan worden.
Wenn hier der Eindruck erweckt wird, wir hätten nur
das Militärische im Sinn und würden nicht an das Humanitäre gehen und würden nicht an die Ursachen der Entwicklung gehen, möchte ich das als Abgeordneter der
neuen Regierungskoalition nicht stehen lassen. Ich
möchte ausdrücklich sagen, Frau Kollegin: Wir haben
beides genau im Blick, weil wir wissen, dass das Militärische und das Zivile, das Humanitäre, Hand in Hand gehen müssen.
({2})
Sie haben das Wort zur Erwiderung, wenn Sie wollen.
Herr Abgeordneter Westerwelle, ich habe den Antrag
der Bundesregierung natürlich sehr genau gelesen, weil
ich beabsichtige, ihm zuzustimmen.
Ich habe nicht verneint, dass für die AMISOM Mittel
bereitgestellt werden. Im Gegenteil: Ich habe in meiner
Rede gesagt, dass eine Geberkonferenz stattgefunden
hat, auf der alle Staaten, auch Deutschland, etwas zugesagt haben. Nur, es gibt ein Problem bei der AMISOM:
Seit April erhalten die Soldaten keinen Sold mehr. Was
glauben Sie, was das bedeutet?
({0})
Die werden entweder überlaufen, oder das Projekt
AMISOM - das diskutiert man ja schon in den Vereinten
Nationen - wird über kurz oder lang zu Ende sein. Dann
wird dort gar nichts mehr sein zur Stabilisierung. Es
wird auch darüber diskutiert, wie die AMISOM in eine
UN-Mission übergehen könnte. Da traut sich aber keiner
ran, weil es schwierig ist.
Ich behaupte gar nicht, dass es einfache Lösungen
gibt. Ich sage aber - auch Herr Fischer weiß das als Afrika-Politiker -: Wir sind auf die Probleme am Horn von
Afrika, auf die Probleme in Somalia, auf die Probleme,
die zum Beispiel von Äthiopien herrühren, erst aufmerksam geworden, als unsere Handelswege bedroht waren.
Äthiopien ist ein zentraler, strategisch wichtiger Staat
am Horn von Afrika. Sie werden das als Außenminister
noch kennenlernen: Es gibt kaum ein Land in der Welt,
das so gute Beziehungen zu Äthiopien hat. Warum nutzen wir diese Beziehungen nicht, um positiv Einfluss zu
nehmen, um den Äthiopiern klarzumachen, dass sie
- was sie bis heute nicht machen - eine strategisch positive Rolle am Horn von Afrika spielen müssen? Viele
Punkte wären hier anzusprechen. Worauf ich hinauswill:
Wir wissen, dass das, was dort in der Region passiert,
erst wahrgenommen wurde, als unsere Handelswege und
die Schiffe des World Food Programme bedroht waren.
Das war zu spät. Wir müssen uns jetzt den Ursachen zuwenden. Wir müssen gemeinsam mit den Partnern der
internationalen Gemeinschaft versuchen, mit einer Gesamtstrategie für das Horn von Afrika die Ursachen anzugehen. Ich erwarte und hoffe, dass Deutschland hier
eine Rolle spielt. Wir werden dort nämlich als möglicher
wichtiger Partner gesehen. Das war mein Appell. Ich
hoffe, dass die Bundesregierung das so machen wird.
({1})
Das Wort hat der Kollege Hartwig Fischer für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hoffe, dass solche Kurzinterventionen nicht dazu
führen, dass der außerordentlich positive Einsatz von
Atalanta und das, was unsere Soldatinnen und Soldaten
dort leisten, zerredet werden. Dieser Einsatz ist dringend
notwendig.
Frau Buchholz, ich habe eben in unser vorläufiges
Abgeordnetenhandbuch gesehen und gelesen, Sie sind
wissenschaftliche Mitarbeiterin gewesen. Ich kann nur
sagen: Es ist enttäuschend. Ich glaube, wir können erwarten, dass Sie sich mit der Geschichte des Landes, um
das es geht, und mit den Realitäten vorher beschäftigen
und sich keine Sozialromantik aufbauen.
({0})
Wenn Sie sich mit der Geschichte beschäftigen, dann
wissen Sie, dass sowjetische Truppen dort gewesen sind,
um Barre zu unterstützen, dann wissen Sie, dass er die
sowjetischen Truppen und 6 000 Berater herausgeschmissen hat, dann wissen Sie, dass sich dort Rechtlosigkeit aufgebaut hat, und dann haben Sie gesehen, dass
es einen UN-Einsatz gegeben hat, von dem man leider
sagen muss, dass er gescheitert ist, und dass danach absolute Rechtlosigkeit für die Menschen herrschte. Es hat
eine Hungerkatastrophe und eine humanitäre Katastrophe gegeben. Danach hat es einen erneuten Einsatz
- AMISOM - gegeben, mit dem man versucht hat, die1006
Hartwig Fischer ({1})
ses Meucheln im Land zu unterbinden. In dieser Situation ist die Piraterie hinzugekommen.
Es geht nicht um die Weltwirtschaftskrise, die sich
auf manche Entwicklungsländer auswirkt,
({2})
sondern es geht um das pure Verbrechen im Rahmen der
organisierten Kriminalität, mit dem bestimmte Gruppierungen versuchen, Geld zu bekommen.
({3})
Unter den Auswüchsen leiden inzwischen auch die
Nachbarstaaten wie Kenia, in denen diese Gelder - zum
Beispiel in Nairobi - angelegt werden, indem gesamte
Straßenzüge gekauft werden, um daraus wieder einen
Profit zu erzielen. Wenn dies, wie von Ihnen geschildert,
Piraten in Robin-Hood-Manier wären, dann würden sie
das Geld doch anlegen, um den Menschen in ihrem eigenen Land zu helfen, und nicht, um Waffen, neue Schiffe
und Ähnliches zu kaufen.
({4})
Meine Damen und Herren, wer eine solche falsche
Analyse erstellt, der handelt auch falsch.
({5})
Das, was die Linke hier betreibt - Herr Liebich hat im
Ausschuss ja ähnlich argumentiert -, ist für mich militanter Pazifismus,
({6})
das ist Verantwortungslosigkeit in der Außenpolitik, das
ist Verantwortungslosigkeit in der Entwicklungspolitik,
und das ist Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen, die in diesem Land täglich leiden.
Am 3. Dezember dieses Jahres - daran wird doch die
grauenhafte Situation dort deutlich - hat man nicht nur
drei Minister in die Luft gesprengt, sondern man hat
auch 19 Medizinstudenten, die dort waren und gerade ihren Abschluss dort gemacht hatten, mit in die Luft gesprengt. Die Verantwortlichen dafür sind diejenigen, die
versuchen, dieses Land zu destabilisieren.
({7})
Atalanta ist eine humanitäre Operation. Der Kollege
Grübel hat darauf hingewiesen: 300 000 Tonnen Lebensmittel konnten im Rahmen des World Food Programme
dorthin geliefert und unter dem Schutz von AMISOM zu
großen Teilen verteilt werden. Das bedeutet das Überleben von 3,5 Millionen Menschen. Und Sie gehen einfach
darüber hinweg und sagen: kein Militär! Wie sollen die
Entwicklungshelfer in Zukunft dort überhaupt aufbauen
können, wenn für sie keine Sicherheit geschaffen wird?
({8})
Die Menschen dort leben mit Rechtlosigkeit und ohne
jede Chance, von irgendeiner Seite außer von AMISOM
unterstützt zu werden. Es gilt in diesem Staat das Recht
des Stärkeren oder der stärkeren Gruppe und das Recht
desjenigen, der in diesem Staat Waffen besitzt. Auch
deshalb ist die Operation Atalanta in Verbindung mit
AMISOM wichtig, um diesen Staat langfristig wieder
aufzubauen.
({9})
Frau Buchholz, deshalb erwarte ich von gewählten
Parlamentarierinnen und Parlamentariern einfach, dass
sie einen solchen humanitären Einsatz nicht einfach aus
ideologischen Gründen ablehnen. Deshalb sage ich: Die
Begleitmaßnahmen sind richtig, und die Ausbildung von
1 000 somalischen Polizisten in Äthiopien ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Stabilisierung in Somalia.
Ich bedanke mich bei allen, die diesem Mandat zustimmen. Wenn Sie heute nicht zustimmen, dann hoffe
ich, dass Sie sich einmal in Äthiopien und in Dschibuti
informieren. Oder gehen Sie auch einmal nach Somaliland, wo Sie sich derzeit unter bestimmten Sicherheitsbedingungen bei den Menschen vor Ort informieren
können. Dann sehen Sie das Elend, und dann sehen Sie,
wie dankbar die Menschen für das sind, was gemeinsam
getan wird.
({10})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Karin
Roth.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um es vorwegzunehmen: Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Verlängerung der EU-geführten
Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der
Küste Somalias zu.
({0})
Es wäre noch besser, wenn nicht nur wir dem Antrag der
Bundesregierung zustimmen würden, sondern wenn
gleichzeitig die Regierungskoalition auch dem vorliegenden Entschließungsantrag der SPD zustimmen
könnte.
({1})
- Ich weiß, Herr Kauder, dass das ein bisschen viel verlangt ist. Aber es wäre richtig.
Karin Roth ({2})
Wie notwendig dieser Einsatz im letzten Jahr war,
zeigen auch die Piratenüberfälle, die in der ersten Jahreshälfte von 114 auf 240 weltweit zugenommen haben.
Insbesondere haben die Piratenangriffe im Golf von
Aden zugenommen. Viele Schiffe, die den Golf von
Aden durchqueren wollten, wurden im vergangenen Jahr
erheblich bedroht. Dazu gehören auch die deutschen
Schiffe. Ohne die militärische Hilfe hätten sie nicht
sicher durchkommen können.
Wichtig war aber nicht nur, die Schiffe der internationalen Handelsflotte zu sichern, sondern vor allen Dingen, durch die erhöhte maritime Präsenz die Nahrungsmittellieferung im Rahmen des Welternährungsprogramms für 3,3 Millionen Menschen in Somalia zu
gewährleisten. Das ist ebenso wichtig, und deshalb ist
dieser Einsatz vor Ort notwendig. 300 000 Tonnen
Lebensmittel wurden nach Somalia transportiert. Mit dieser
Aktion wurden Menschenleben gerettet.
({3})
Denn die humanitäre Situation in Somalia ist weiterhin
katastrophal. Ohne die Nahrungsmittel aus dem Ausland
würden Millionen Menschen verhungern.
Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass das Auswärtige
Amt Mitte Oktober unter Führung des damaligen
Außenministers Steinmeier eine Soforthilfe von
4 Millionen Euro veranlasst hat. Heute hat die EU-Kommission weitere 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um die Katastrophe am Horn von Afrika zu bekämpfen und dem Hunger in dieser Region zumindest
einigermaßen zu begegnen. Dafür danken wir auch der
Europäischen Kommission.
({4})
Es geht darum, dass diese Menschen vor Ort Hilfe bekommen, und es geht vor allen Dingen darum, dass diese
Hilfe auch ankommt. Ich denke, es ist gut, dass das alles
geleistet wird. Aber gleichzeitig ist eine gemeinsame
EU-Strategie notwendig, die sich nicht nur auf die
humanitäre Hilfe beschränkt, sondern wir brauchen eine
politische Strategie zum Aufbau der staatlichen Strukturen.
Die Piraterie wird nur dann effizient bekämpft, wenn
die Piraten einerseits verfolgt werden, wie das Beispiel
Kenia zeigt, aber andererseits auch die Staatlichkeit in
diesem Land wiederhergestellt wird und die organisierte
Kriminalität aufhört. Das heißt, wir müssen Möglichkeiten schaffen, die organisierte Kriminalität zu zerschlagen.
({5})
In dem Entschließungsantrag der SPD wird daher zu
Recht darauf hingewiesen, dass der Aufbau legitimer,
staatlicher Institutionen in Somalia dringend notwendig
ist, um die Rechtssicherheit und die Strafverfolgung gewährleisten zu können.
Der politische Prozess des Aufbaus der Staatlichkeit
muss vorangebracht werden, indem die bilaterale Ausbildung von Polizisten ebenso unterstützt wird wie die
Aussöhnung des vom Bürgerkrieg gekennzeichneten
und geplagten Landes.
Wir brauchen also einen ganzheitlichen Ansatz der
Hilfe zur Selbsthilfe.
Dazu gehört vor allen Dingen die Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschen in Somalia. Wenn nach
Angaben der UNO Somalia jährlich 320 Millionen Dollar durch illegale Fischerei verliert, dann müssen wir
versuchen, die illegale Fischerei in dieser Region zum
Thema zu machen und zu bekämpfen. Es ist gut und
richtig, dass die Erarbeitung eines Fischereiabkommens
seitens der EU - auch mit unserer Unterstützung - vorankommt; denn es geht nicht nur um humanitäre Hilfe,
sondern auch um wirtschaftliche Möglichkeiten, die diesem Land bisher nicht gegeben werden. Die illegale Fischerei vor Ort muss daher aus unserer Sicht sanktioniert
werden.
({6})
Es ist gar keine Frage, die Entwicklungszusammenarbeit ist notwendig. Herr Minister Niebel, Sie müssen
sich den damit verbundenen Fragen stärker zuwenden.
Der Etat für die Entwicklungszusammenarbeit enthält
leider nicht die notwendigen Mittel, die Sie so großspurig angekündigt haben. Von den von Ihnen geforderten
zusätzlichen 300 Millionen Euro sind gerade einmal
44 Millionen Euro übrig geblieben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie das auf internationaler Ebene und im
Rahmen der Europäischen Union verabredete Ziel,
0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe einzusetzen, im Etat 2010 durchgesetzt hätten. Das ist Ihnen
nicht gelungen. Sie sind grandios gescheitert.
Kollegin Roth, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich wünsche mir, dass Sie in den bevorstehenden
Etatberatungen nachlegen, damit die Glaubwürdigkeit
unserer Entwicklungspolitik nicht schon von Anfang an
durch Sie infrage gestellt wird.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß sehr wohl,
dass der eine oder die andere noch Mangel an Tischen
und Stühlen im Büro verspürt. Allerdings ist hier im Plenarsaal für jede Kollegin und für jeden Kollegen eine
Sitzgelegenheit vorhanden. Ich bitte Sie, diese zu nutzen, damit wir auch dem letzten Redner in dieser Debatte mit Respekt folgen können. Dann kommen wir zu
einer namentlichen Abstimmung
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es erfreulich, dass in dieser Debatte
sehr deutlich geworden ist, welche Ziele wir am Horn
von Afrika vor Somalia verfolgen. Ich kann nur eindringlich vor jedem Versuch einer Heroisierung der Piraterie warnen, so wie sie uns einst in Kinder- und Jugendbüchern begegnet ist. Wir haben es mit schwerer
Kriminalität zu tun, die eine Herausforderung für die gesamte internationale Gemeinschaft darstellt. Wir sind
vor Ort, weil wir das gewichtige humanitäre Ziel verfolgen, die Ernährung der Bevölkerung von Somalia sicherzustellen. Das wäre ohne eine Sicherung der Seewege
für die Schiffe des Welternährungsprogramms nicht
machbar.
({0})
Ja, wir sind natürlich auch vor Ort, um unsere ökonomischen Interessen zu vertreten. Wir sind die größte Exportnation, eine der wichtigsten Handelsnationen und
eine der größten Schifffahrtsnationen der Welt. Wer,
wenn nicht wir, muss sich dafür einsetzen, dass die Freiheit der Handelswege und die Sicherheit der Seewege
gewährleistet sind. Deswegen ist es richtig, dass wir
auch militärische Mittel für ökonomische Zwecke einsetzen.
({1})
Die Mission Atalanta leistet einen wichtigen Beitrag
zur Stabilisierung der Lage am Horn von Afrika. Wir
stehen hier nicht alleine. Viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind beteiligt. Die NATO ist vor Ort.
Das OEF-Mandat wird unter Führung der USA eingesetzt. Auch zahlreiche nationale Marinekräfte sind vor
Ort. Wir sollten uns allerdings darum bemühen, die Vielzahl der Akteure möglichst gut und vielleicht auch besser als bisher zu vernetzen und zu koordinieren. Dass es
mittlerweile - auch unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland - eine internationale Kontaktgruppe
gibt, in der sich mittlerweile 44 Staaten in der Pirateriebekämpfung engagieren, ist ein erfreuliches Zeichen. Es
wäre schön, wenn wir bei der Mandatierung zu einer
besseren Koordinierung unter dem Dach der Vereinten
Nationen kämen. Immerhin hat der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen dieses Atalanta-Mandat direkt erteilt. Wir sind vor Ort, weil die somalische Übergangsregierung ausdrücklich darum gebeten hat und uns der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diesen Auftrag
erteilt hat. Das zeigt: Atalanta ist in einen stabilen internationalen Rahmen eingebettet. Wir dienen damit also
nicht nur unseren nationalen wirtschaftlichen Interessen
oder den humanitären Interessen dieses Landes, sondern
Atalanta ist auch Ausdruck der internationalen Verantwortung, der wir uns hier stellen.
({2})
Die Bilanz nach diesem ersten Jahr Atalanta fällt
durchweg positiv aus. Die Zahl der Piratenangriffe - das
ist schon angesprochen worden - ist insgesamt spürbar
zurückgegangen. Alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben ihre Zielhäfen in Somalia sicher erreicht.
Damit ist die Hauptaufgabe dieser Mission in vollem
Umfang erfüllt worden. Ich möchte aber schon erwähnen, dass es eine gewisse Mitverantwortung anderer beteiligter Akteure vor Ort gibt. Das betrifft insbesondere
die Reeder und die Forderung, dass sie die Durchfahrt
ihrer Schiffe melden und dass sie sich den Konvois, die
von Atalanta begleitet werden, anschließen. Hier muss
die Eigenverantwortung der Reeder weiter eingefordert
werden. Es ist erstaunlich, wie mutig sich viele Touristen
am Horn von Afrika bewegen. Jedes Jahr sind es allein
aus Deutschland mehrere Tausend, die auf zivilen
Kreuzfahrtschiffen durch den Golf von Aden fahren.
Dazu kann ich nur sagen: Eine solche Selbstgefährdung
ist zwar nicht strafbar, aber sie ist auch nicht klug. Ich
wünsche mir hier weniger Abenteurertum und mehr Verantwortlichkeit.
Wir haben mit der Pirateriebekämpfung natürlich nur
an den Symptomen gearbeitet und nicht die Wurzeln des
Übels beseitigt. Die Wurzeln liegen nämlich zu Land,
und deswegen ist dieses militärische Vorgehen nur als Teil
eines politischen Gesamtansatzes sinnvoll. Wir müssen
für den Aufbau der staatlichen Strukturen in Somalia einen Beitrag leisten. Das tut Deutschland genauso wie die
Europäische Union insgesamt. Allein bis 2013 stellt die
Europäische Union 215 Millionen Euro an Entwicklungshilfe bereit. Allein 2008 waren es weitere 46 Millionen Euro an humanitärer Soforthilfe. Auch das Auswärtige Amt und das BMZ stellen Hilfe bereit und engagieren sich in der Ausbildung und Ausrüstung von somalischen und afrikanischen Polizisten. Sie engagieren sich
auch bei der Überwachung und Verwaltung des Fischfangs. Das zeigt: Atalanta ist Teil eines umfassendes Gesamtansatzes von nicht nur militärischen, sondern auch
zivilen Mitteln.
Ich halte es für einen richtigen Ansatz, dass die Europäische Union nun eine Ausbildungsmission startet.
Über die Einzelheiten wird man sich unterhalten müssen. Aber die Zielsetzung, dass somalische Sicherheitskräfte in die Lage versetzt werden, selbst für den Schutz
vor Piraterie zu sorgen, ist richtig. Insoweit haben wir
noch einiges an Arbeit vor uns. Deswegen ist es richtig
und notwendig, dass Atalanta weiter ein Bestandteil dieses gesamtpolitischen Ansatzes bleibt. Ich bitte um Ihre
Unterstützung und Zustimmung.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta. Mir
liegt eine Erklärung des Kollegen Sven Christian
Kindler nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor und
eine Erklärung der Kollegen Hans-Christian Ströbele,
Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Beate Müller-
Gemmeke, Winfried Hermann, Dorothea Steiner und
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn ebenfalls gemäß § 31
unserer Geschäftsordnung. Wir nehmen sie entsprechend
unserer Vereinbarung zu Protokoll.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/274, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/179 anzunehmen. Es ist na-
mentliche Abstimmung verlangt.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, ihre Plätze einzunehmen. Ich bitte alle Kollegin-
nen und Kollegen, bevor Sie abstimmen, noch einmal zu
überprüfen, ob Ihr Name auf der Abstimmungskarte
steht, die Sie jetzt einwerfen wollen. Sind alle Plätze mit
Schriftführern besetzt? - Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmung mit den Abstimmungen
über die Entschließungsanträge fort. Bevor ich dies tue,
bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an
diesen Abstimmungen und weiteren Beratungen nicht
mehr teilnehmen wollen oder können, den Saal zu verlassen und uns dadurch zu ermöglichen, die Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei festzustellen. Das macht
sich sehr schlecht, wenn Sie hier im Gang stehen.
Wir fahren nun fort mit der Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion die SPD auf Drucksache 17/279? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/280? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/281? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({0}), Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Innovationskraft von kleinen und mittleren
Unternehmen durch Steuergutschrift für Forschungen stärken
- Drucksache 17/130 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
1) Anlage 4 und 5
2) Siehe Seite 1012 C
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Lothar Binding ({3}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Innovative kleine und mittlere Unternehmen
stärken - Ein nachhaltiges steuerliches Forschungs- und Entwicklungs-Förderkonzept
({4}) vorlegen
- Drucksache 17/247 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal über einen Antrag der Grünen zur steuerlichen Forschungsförderung. Eigentlich gibt es ja - theoretisch zumindest eine Mehrheit für dieses Instrument. Wir wollen jetzt
dieser theoretischen Mehrheit zu einer praktischen
Mehrheit verhelfen, damit das endlich in die Wege geleitet und umgesetzt wird.
({0})
Wir sind der Meinung, dass wir ein neues Instrument
brauchen, das zu mehr Innovation sowie zu mehr Forschung und Entwicklung führt, und zwar vor allen Dingen bei kleineren und mittleren Betrieben. Gerade diese
haben in der jetzigen konjunkturellen Schwächeperiode
das Problem, dass sie sparen müssen; und das tun sie als
Erstes im Bereich der FuE-Tätigkeit, das heißt, speziell
beim Personal und bei den Sachkosten in diesem Bereich. Wir wissen aber genau, dass das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft von den KMUs gebildet wird.
Wenn wir eine ökologische Modernisierung wollen,
wenn wir wollen, dass Ressourcen geschont und neue
Produktionsverfahren entwickelt werden, dann müssen
wir gerade den KMUs Anreize geben, damit sie auch
künftig in Forschung und Entwicklung investieren.
({1})
Wir sagen auch ganz klar und deutlich: Es geht um
ein zusätzliches Instrument; es soll nicht die Projektförderung von Forschungsvorhaben ersetzen. Das wäre
grundfalsch, weil uns die Projektförderung bessere Steuerungsmöglichkeiten bietet. Wir wissen aber zugleich,
dass gerade KMUs es nicht schaffen, entsprechende Pro1010
Priska Hinz ({2})
jektanträge zu stellen. Sie haben nämlich kein eigenes
Personal, das permanent den Bundesanzeiger durchforsten kann, um zu schauen, ob ein gerade aufgelegtes
Programm für den eigenen Betrieb passt. Diese Unternehmen brauchen eine unbürokratische Förderung. Deswegen schlagen wir eine 15-prozentige Steuergutschrift
auf Personal- und Sachkosten vor. Es muss ja vor allen
Dingen der FDP sehr sympathisch sein, dass es sich um
ein so unbürokratisches Instrument für Wachstumsanreize handelt.
({3})
Die 600 Millionen Euro, die unser Vorhaben kosten
würde, wären im Gegensatz zu dem Schuldenwachstumsprogramm, das CDU/CSU und FDP derzeit auf den Weg
bringen, auch gut angelegt.
({4})
Es gibt nämlich Studien, in denen errechnet wurde, dass
man mit dem Einsatz der Mittel in der Form, wie wir es
vorschlagen, tatsächlich zu einer besseren Wertschöpfung kommen kann. Die Hebelwirkung ist enorm. Wir
könnten damit unserem Ziel, 3 Prozent der Ausgaben für
Forschung auszugeben, sehr viel schneller nahe kommen. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb wir für die
steuerliche Forschungsförderung sind. Mit einem Satz:
Diese steuerliche Forschungsförderung ist einfach, gerecht, zielgenau, schafft Arbeitsplätze und ebnet den
Weg in viele Zukunftsbranchen.
({5})
Auch die SPD ist inzwischen dafür; in der Regierung
war sie es noch nicht so ganz. Die Koalitionsfraktionen
haben es in ihren Wahlprogrammen immerhin aufgeführt. Laut Koalitionsvertrag wird jetzt geprüft und geprüft. Die Bundesforschungsministerin hat immerhin
schon verkündet, sie habe ein Konzept; sie kann es aber
beim Bundesfinanzminister noch nicht durchsetzen.
Deswegen sollten wir jetzt gemeinschaftlich als Parlament den Durchbruch erreichen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass der Bundesfinanzminister
diese 600 Millionen Euro für einen guten Zweck herausrückt, nämlich für die ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft. Wir sind jedenfalls dabei, und wir hoffen,
Sie auch.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frank Steffel für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Forschung, Innovation und die Entwicklung von
neuen Technologien sind die Grundlage für unseren
Wohlstand von morgen. Sie sind die Quellen von wirtschaftlichem Erfolg, Wachstum und vor allen Dingen
Beschäftigung. Zugleich helfen sie, den großen Herausforderungen unserer Zeit - dem Klima- und Umweltschutz sowie dem Kampf gegen die Armut und gegen
Krankheiten - wirksam zu begegnen. Deshalb geht es
uns darum, gerade in Deutschland die Erforschung und
Entwicklung von neuen Technologien zu fördern. Wir
wollen und müssen das Land der Ideen bleiben.
({0})
Denn wir befinden uns in einer Welt, in der man
durch Bildung, Wissen, Forschung und Entwicklung
aufsteigen kann - viele Menschen und viele Länder tun
dies -, aber auch - das ist eine völlig neue Erfahrung für
uns erfolgsverwöhnte Deutsche - ganz schnell absteigen
kann. In einer Welt, in der es mehr Chancen gibt, nimmt
auch die Unsicherheit zu. Es sind wir und nicht die anderen, die in diesem Prozess des globalisierten Wettbewerbs um Wissen und Fortschritt, um Bildung und Technologie eine Menge zu verlieren haben, wenn wir nicht
aufpassen. Wir können und werden diese Entwicklung,
die durch die Globalisierung, das Internet, die Sättigung
der Märkte, die Einführung des Euro, die Erweiterung
Europas und natürlich die Finanzkrise verschärft und beschleunigt wird, nicht stoppen. Ob dies gut oder schlecht
ist, ist dabei gar nicht relevant. Wir müssen uns dieser
Entwicklung stellen und unsere Politik darauf ausrichten.
Deshalb wurden die Ausgaben für Forschung und
Entwicklung im Bundeshaushalt 2010 um 6,9 Prozent
auf 10,9 Milliarden Euro erhöht. Damit setzt die CDU/
CSU-geführte Bundesregierung zum wiederholten Mal
einen politischen Schwerpunkt bei Forschung und Entwicklung,
({1})
zum Wohle der Unternehmen und der Beschäftigten, der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in Deutschland.
Die Regierung aus CDU/CSU und FDP strebt über
die Projektförderung hinaus - so steht es im Koalitionsvertrag, und so wird es gemacht - die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung an.
({2})
Damit sollen zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen ausgelöst werden. Aber, Frau Kollegin von den Grünen, gerade weil
dieser außerordentlich komplexe Bereich für Deutschland so wichtig ist, müssen und werden wir dieses
Thema mit großer Sorgfalt, Seriosität und vor allen Dingen sehr zielorientiert diskutieren. Hier geht Gründlichkeit vor Geschwindigkeit.
({3})
Zum einen müssen wettbewerbs-, haushalts- und
ordnungspolitische Fragen dauerhaft, übrigens auch international, geklärt werden. Zum anderen müssen die
Ausgestaltung der möglichen Steuergutschrift, der Anwendungsbereich, die begünstigten Unternehmen, das
Fördervolumen und die angestrebten Anreizwirkungen
sehr präzise definiert werden. Der Antrag der SPD-Fraktion enthält dazu einige interessante Ideen. Es erstaunt
allerdings, dass die SPD, als sie elf Jahre regierte und
den Finanzminister stellte, keinen Vorschlag zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung vorgelegt hat.
({4})
Jetzt in der Opposition kommen Ihnen auf einmal diese
Gedanken, frei nach Goethe: „Man spürt die Absicht und
ist verstimmt.“
Auch steht die Praxis, meine Damen und Herren von
der Sozialdemokratie, in den von Ihnen geführten Bundesländern leider im Widerspruch zu Ihren Erklärungen.
Wenn Herr Professor Lenzen, der renommierte Präsident
der einzigen Exzellenzuniversität der deutschen Hauptstadt, der Freien Universität Berlin, die Berliner Verhältnisse von Wissenschaft, Forschung und Lehre mit denen
in der Volksrepublik China vergleicht
({5})
und den Sozialdemokraten eine zerstörerische und fahrlässige Wissenschafts- und Forschungspolitik vorwirft,
sollte uns dies zumindest nachdenklich stimmen.
({6})
Wenn dieser herausragende deutsche Wissenschaftler
Berlin verlässt und nach Hamburg geht und der einzige
Kommentar des Regierenden Bürgermeisters der deutschen Hauptstadt zu diesem einmaligen Vorgang ein
schnoddriges „Gute Reise“ ist,
({7})
dann kann ich nur sagen: „Gute Nacht, Deutschland“
oder „Schlafen Sie weiter, Herr Wowereit“.
({8})
Dieser Umgang mit unseren wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten schadet dem
Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland
und ist leider kein Einzelfall.
({9})
Der vorliegende Antrag der Grünen und auch Ihre
Rede, Frau Kollegin, hören sich zwar interessant an, sie
sind aber populistisch und oberflächlich sowie aufgrund
der Pauschalierungen weder seriös noch zielgerichtet.
({10})
Deshalb wurde auch ein gleichlautender Schaufensterantrag bereits im Sommer dieses Jahres von den übrigen
Fraktionen des Deutschen Bundestages abgelehnt.
Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Antrag ist alter Wein in alten Schläuchen und stellt keinen
seriösen Umgang mit einem solch wichtigen Thema dar.
Ihre populistischen Anträge werden auch durch Wiederholung nicht besser.
({11})
Gerade von den Grünen, die sich in der Vergangenheit
vielfach als wissenschafts- und forschungsfeindlich dargestellt haben
({12})
und die mit ihren dogmatischen Diskussionen viele Entwicklungen in Deutschland langfristig behindert haben,
erwarten wir mehr Seriosität. Ihre ideologischen Blockaden haben uns in vielen Bereichen international zurückgeworfen.
({13})
Ich erinnere an den Transrapid, an wichtige Bereiche
der Energiepolitik, an den Chemiestandort Deutschland
sowie an Entwicklungen in den Bereichen Biotech und
Gentechnologie. Man fragt sich, für welche Unternehmen Sie eigentlich die Förderung einführen wollen, welche Unternehmen Sie eigentlich steuerlich begünstigen
wollen.
({14})
Dazu gehört auch ein klares Bekenntnis zu unseren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Eliten. Hier haben Sie unverändert Nachholbedarf, Sie
vertreiben gerade diese Wissenschaftler und Unternehmen durch Ihre Neid- und Missgunstdebatten.
({15})
Bereits vor zwei Wochen haben wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz konkrete Maßnahmen zur
Stärkung und Unterstützung von kleineren und mittleren
Unternehmen beschlossen. Mit der dauerhaften Anhebung der Freigrenze bei der Zinsschranke, mit der Erleichterung bei Sofortabschreibungen und mit der verbesserten Nutzung von Verlusten
({16})
werden gerade kleine und mittlere Unternehmen im forschungsintensiven Bereich in der Gründungsphase unterstützt. Leider haben Grüne und SPD auch gegen diese
Förderung gestimmt. Wir werden Sie auch bei diesem
Thema an Ihren Taten messen und nicht an Ihren Anträgen und Worten.
({17})
Da der wesentliche Teil des Antrags der Grünen
- falls Sie ihn gelesen haben sollten, wissen Sie das ohnehin völlig unsachliche Beschimpfungen der Regierung beinhaltet und damit gerade das Betteln um Ablehnung dokumentiert, werden wir Ihnen diesen Wunsch
kurz vor Weihnachten gerne erfüllen.
Herzlichen Dank.
({18})
Kollege Steffel, das war Ihre erste Rede in diesem
Hohen Hause. Wir gratulieren Ihnen dazu ganz herzlich.
({0})
Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 11 und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation
Atalanta - es handelt sich um die Drucksachen 17/179
und 17/274 - bekannt: abgegebene Stimmen 577. Mit Ja
haben gestimmt 492 Kolleginnen und Kollegen, mit
Nein haben gestimmt 74, und es gab 11 Enthaltungen.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 492
nein: 74
enthalten: 11
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({3})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({4})
Dirk Fischer ({5})
Axel E. Fischer ({6})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Andreas Jung ({8})
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
({10})
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({11})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({12})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({13})
Nadine Müller ({14})
Dr. Gerd Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Katherina Reiche ({15})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({16})
Anita Schäfer ({17})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({18})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({19})
Vizepräsidentin Petra Pau
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({20})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({21})
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({22})
Peter Weiß ({23})
Sabine Weiss ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Lothar Binding ({25})
Gerd Bollmann
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({26})
Edelgard Bulmahn
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({27})
Michael Groß
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Michael Hartmann
({28})
Hubertus Heil ({29})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({30})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe ({31})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({32})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({33})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({34})
Michael Roth ({35})
Marlene Rupprecht
({36})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({37})
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Werner Schieder ({38})
Ulla Schmidt ({39})
Carsten Schneider ({40})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({41})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({42})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({43})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({44})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dr. Martin Lindner ({45})
Christian Lindner
Michael Link ({46})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({47})
Burkhardt Müller-Sönksen
({48})
Hans-Joachim Otto
({49})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({50})
Dr. Daniel Volk
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({51})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({52})
Volker Beck ({53})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({54})
Ulrike Höfken
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({55})
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({56})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Tabea Rößner
Claudia Roth ({57})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Konstantin Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({58})
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Sven Kindler
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({59})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Agnes Malczak
Elisabeth Paus
Dr. Harald Terpe
Wir kehren nun zum Tagesordnungspunkt 12 zurück.
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding für die SPDFraktion.
({60})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Ich wollte eigentlich noch viel schneller
zum Rednerpult gelangen, weil mich Ihre Rede so erschreckt hat. Statt eine solche Idee zu loben, fahren Sie
hier eine Attacke gegen Anträge, die Sie letztendlich mit
unterstützen sollten. Umso wichtiger ist es vielleicht, zu
bemerken, dass es gut ist, wenn wir jetzt die schützende
Hand über kleine und mittlere Unternehmen halten; denn
offensichtlich gefährden Sie deren Struktur nachhaltig.
({0})
Das will ich an einigen Beispielen beweisen. Da Sie
jetzt den Kopf schütteln, möchte ich ein Beispiel unmittelbar benennen, das Sie schon in Planung haben; Sie
könnten es noch korrigieren. Wir haben gehört, dass Sie
die Funktionsverlagerung erleichtern wollen, nicht per
Gesetz, sondern per Verordnung. Funktionsverlagerung
bedeutet: Ein Unternehmen forscht etwa in Deutschland
und darf sehr viele Kosten -berechtigterweise - als Betriebsausgaben abziehen bzw. kann dadurch Betriebsausgaben gewinnmindernd zur Geltung bringen. Wenn dann
die Patente kurz vor der Realisierung stehen, wird diese
Forschungsabteilung ins Ausland verlagert. Was ist der
Effekt? Die Gewinne fallen im Ausland an. Die Verluste
sind zuvor in Deutschland entstanden. Wer bezahlt eigentlich die fehlenden Steuereinnahmen? Das zahlen
alle anderen, die diese Funktionsverlagerung nicht vornehmen können. Jetzt verraten Sie mir einmal, welches
kleine oder mittlere Unternehmen solche Funktionsverlagerungen vornimmt.
({1})
Es ist ein aggressiver Weg, die internationalen Konzerne zu bevorzugen und die kleinen zu benachteiligen.
Diese Logik wollen wir hiermit durchbrechen. Es wird
niemand bestreiten, dass bereits Innovationsimpulse in
den Bereichen Umwelt, Energie und Technologieentwicklung mit der Folge der Schaffung von Arbeitsplätzen vor zehn, neun, acht Jahren Ursache dafür waren,
Lothar Binding ({2})
dass wir auch jetzt relativ gut durch die Krise gekommen
sind. Denn diese Art von Forschung und Innovationsentwicklung wirkt ja nicht von heute auf morgen. Es
braucht Jahre, bis dies in der Wirtschaft wirklich etwas
bewegt. Wir können froh sein, dass wir das vor vielen
Jahren noch unter Rot-Grün initiiert haben. Das hat gewirkt, und das kann man heute messen. Das ist sehr gut.
Damals stand allerdings die Projektförderung im Mittelpunkt. Wir wissen - vielleicht wissen Sie es ebenfalls -,
dass die Projektförderung auch wieder fast ausschließlich den Großunternehmen hilft. Das kann man übrigens
in einer sehr ausführlichen Studie nachlesen, die Sie
vielleicht kennen. In Abhängigkeit von der Unternehmensgröße und vom Technologisierungsgrad reagieren
private FuE-Aktivitäten unterschiedlich auf steuerliche
FuE-Anreize. Meine Redezeit rennt dahin. Deshalb will
ich nur sagen: Im Ergebnis wird hier ausgeführt, dass die
kleinen Unternehmen von dieser Art der Projektförderung fast nichts haben, dass aber die großen, und zwar
bis zu 80 Prozent, Mitnahmeeffekte organisieren und der
Nettoeffekt dieser Förderung nur bei 20 Prozent überhaupt ankommt.
Da merkt man: Es ist eine Fehlsteuerung. Deshalb
muss man Sorge dafür tragen, dass man kleine und mittlere Unternehmen in den Mittelpunkt stellt und nicht Ihrer Idee oder der Idee der Bundesforschungsministerin
Schavan folgt, nun wieder alle in diese Förderung mit
aufzunehmen. Denn dann haben Sie diese Fehlanreize,
wie eben geschildert.
Wenn Sie den Gesetzentwurf, der morgen im Bundesrat beschlossen werden soll, tatsächlich beschließen, ist
das ein weiterer Beleg dafür, dass Sie Großkonzerne bevorzugen. Denn die damit ermöglichte Gewinnverlagerung ins Ausland muss erneut von kleinen und mittleren
Unternehmen in Deutschland bezahlt werden. Die dadurch wegfallenden Einnahmen aus der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer fehlen nicht nur den Kommunen, sie fehlen auch den kleinen und mittleren
Unternehmen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir für
diese Art der Mittelständler etwas tun.
Sie müssten aber irgendwann einmal sagen, was Sie
unter Mittelstand verstehen. Basierend auf Ihren Ideen
habe ich inzwischen eine Definition entwickelt: Immer
wenn jemand ein Unternehmen findet, das kleiner ist als
das eigene, gehört dies Ihrer Meinung nach zum Mittelstand. Oder: Immer wenn einer ein Unternehmen findet,
das größer ist als das eigene, gehört auch dieses zum
Mittelstand. Aber die beiden kommen nie zusammen.
({3})
- Das verstehe ich.
({4})
Ich darf es für Sie auflösen: Wenn Sie diese beiden unabhängig voneinander betrachten, dann stellen Sie fest: Es
gibt überhaupt kein Unternehmen, das nicht zum Mittelstand gehört. Mit dieser fehlerhaften Definition des Mittelstands machen Sie Politik. Daraus leitet sich immer
wieder eine falsche Politik ab. Deshalb ist es wichtig,
dass Sie die logischen Grundsätze gelegentlich beherzigen und damit möglicherweise Voraussetzungen für eine
gute Politik schaffen.
({5})
Ich glaube, dass das eine ganz einfache Angelegenheit
ist.
Wenn wir unserem Antrag in Kombination mit dem
von den Grünen folgen, sind wir für die nächste Krise
besser gerüstet. Denn was wir jetzt machen, wirkt ja erst
in sechs, sieben, acht Jahren. Wenn ich mir anschaue,
was die Banker schon wieder treiben, dann weiß ich,
dass die nächste Krise bestimmt kommt. Dann ist es gut,
wenn wir klug aufgestellt sind.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Meinhardt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren vom
Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD, ich freue
mich wirklich über die beiden von Ihnen vorgelegten
Anträge, die heute Gegenstand der Debatte sind.
({0})
Beide Anträge bestätigen uns von der FDP in unserer
Auffassung, dass wir schnell, aber auch gründlich vorbereitet zu einer steuerlichen Förderung der Forschung und
Entwicklung von in Deutschland forschenden Unternehmen kommen müssen. Als Innovationsland müssen wir
den erheblichen Wettbewerbsnachteil der deutschen Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, zügig beseitigen.
({1})
Wir teilen die Auffassung der Bundesforschungsministerin, Frau Dr. Schavan, die am 29. Oktober in der
Presse verkündet hat, sie strebe eine Steuergutschrift für
alle Unternehmen - also keine Beschränkung auf KMU an, wobei sie die steuerliche Förderung von FuE bereits
im kommenden Jahr eingeführt sehen möchte. Ich zitiere:
Optimal wäre, wenn wir die Förderung schon im
Lauf des Jahres 2010 starten könnten - dann würde
sie noch in der Krise stabilisierend auf den Arbeitsmarkt für Forscher und Entwickler wirken.
Diese Aussage unterstreiche ich doppelt und dreifach.
({2})
Der Koalitionsvertrag von FDP und CDU/CSU ist hier
klar und eindeutig:
Wir streben eine steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung an, die zusätzliche Forschungsimpulse insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen auslöst.
Diese Koalition hat sich selbst verpflichtet, den Forschungsstandort Deutschland nachhaltig zu stärken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, warum unterstellen Sie uns an dieser Stelle eine
Verschiebetaktik? Davon kann doch überhaupt keine
Rede sein. Was sagen Ihnen die folgenden drei Zahlen:
4 019, 2 583 und 50?
({3})
In den letzten elf Jahren hatten die geschätzten Kollegen
der SPD 4 019 Tage Zeit, als Regierungspartei eine steuerliche FuE-Förderung auf den Weg zu bringen; die Grünen hatten, als sie an der Regierung waren, 2 583 Tage
Zeit. Diese Koalition ist erst 50 Tage im Amt. Kommen
Sie, das müssen Sie doch selbst eingestehen: Ihr Vorwurf
ist lächerlich.
({4})
Die steuerliche FuE-Förderung ist Kernstück unserer
Forschungsförderung, weil wir technologieoffen und unbürokratisch einen Innovationsschub für Deutschland erreichen wollen. Deswegen gilt:
Erstens. Wir wollen die steuerliche Forschungs- und
Entwicklungsförderung als Instrument einer indirekten
Förderung neben der direkten Projektförderung einführen.
Zweitens. Wir wollen die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass künftig FuE-Aufwendungen der steuerpflichtigen Unternehmen aller Rechtsformen - Kapitalgesellschaften, Einzelunternehmen und Personengesellschaften - unabhängig von ihrer Größe durch eine
Steuergutschrift honoriert werden. So wird den Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, einen bestimmten Teil
ihrer qualifizierten FuE-Aufwendungen über eine Steuergutschrift real erstattet zu bekommen.
Drittens. Wir wollen zur Liquiditätssicherung der Unternehmen eine die Steuerschuld übersteigende Steuergutschrift unmittelbar auszahlen, um so bei den Unternehmen Liquiditätszuflüsse sicherzustellen, die wieder
für FuE verwendet werden können.
Viertens. Wir wollen, dass bei der Definition der Bemessungsgrundlage für die Förderung sämtliche FuEAufwendungen - Personal- und Sachaufwendungen sowie Aufwendungen für FuE-Auftragsforschung -, die
das steuerpflichtige Unternehmen auf eigenes Risiko tätigt, berücksichtigt werden.
Diese vier Eckpunkte sind die Grundlage einer erfolgreichen Konzeption, die jetzt in der Regierung solide
ausgearbeitet werden muss.
({5})
Deutschland ist ein hochindustrialisiertes Land und
verfügt über erhebliche FuE- und Innovationspotenziale.
Die deutsche Wirtschaft hat ihre FuE-Ausgaben in
den letzten zehn Jahren deutlich gesteigert. Wir geben
derzeit 56,78 Milliarden Euro für FuE aus, davon werden 20 Prozent für externe Forschungsaufgaben verwendet. Die Hochschulen schaffen es, einen Vorteil von
7 Prozent, umgerechnet sind das 775 Millionen Euro,
herauszuziehen. Die außeruniversitäre Forschung bewegt sich in einem Bereich von 4 Prozent, umgerechnet
sind das 443 Millionen Euro. Das ist ein klares Zeichen
dafür, in welche Richtung wir gehen müssen. Wir sind
sicher, dass diese Leistung noch gesteigert werden kann
und mit der Initiative der Bundesregierung auch gesteigert wird.
({6})
Der Anteil des Staates dagegen stagniert seit Jahren
bei rund 0,7 Prozent vom BIP. Die staatliche Förderung
von FuE in den Unternehmen ist rückläufig. Der Finanzierungsanteil der öffentlichen Hand an den FuE-Aufwendungen der Wirtschaft ist von 16,9 Prozent im Jahr
1981 auf 4,5 Prozent im Jahr 2006 gesunken, das heißt,
in 25 Jahren auf 25 Prozent des ursprünglichen Betrages.
Das ist der Grund, weswegen wir die notwendigen Impulse dringend benötigen.
({7})
Es tut diesem Haus gut, dass das Thema steuerliche
Forschungs- und Entwicklungsförderung endlich perspektivisch behandelt werden wird. 21 von 30 OECDStaaten und 15 europäische Staaten haben sie bereits.
Diese Regierung wird diesen Wettbewerbsnachteil 2010
beseitigen.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
daran erinnern: Forschung und Entwicklung gehören zu
den Kernaufgaben erfolgreicher Unternehmensführung,
unabhängig davon, ob sie staatlich gefördert werden
oder nicht. Eine aktuelle IHK-Studie zeigt, dass das besonders in Krisenzeiten gilt und dass sich besonders Mittelständler daran gehalten haben; denn auch in KrisenDr. Petra Sitte
zeiten hat ein Drittel der Mittelständler seine Ausgaben
für Forschung und Entwicklung erhöht.
Die Bündnisgrünen wollen mit ihrem Antrag die Innovationskraft dieser Unternehmen stärken. Prinzipiell
unterstützt meine Fraktion dieses Ziel. Allerdings glauben wir nicht, dass die vorgeschlagenen Steuergutschriften das geeignete Mittel sind. Verbände forschender Mittelständler bevorzugen in ihren Positionierungen
nachgewiesenermaßen laufende Projektförderungen, wie
sie vom Wirtschaftsministerium, aber auch vom BMBF
angeboten werden.
Was die Frage betrifft, wofür wir uns entscheiden
bzw. wenn Sie ausführen, dass das zusätzlich erfolgen
soll, dann muss man genau zuhören, was in diesen Tagen
gesagt wird. Herr Pinkwart beispielsweise präferiert
steuerliche Forschungsförderung. Er stellt fest, dass sich
die Koalition in den nächsten Jahren auf diesen Punkt
konzentrieren wird. Nun befürchten die Mittelständler,
dass die Projektförderung dabei eingeschränkt wird und
sie die Vorzüge für die Mittelständler nicht mehr hergibt.
Die Projektförderung sorgt beispielsweise dafür, dass
Beratung und Begleitung erfolgen, dass Planungssicherheit durch frühzeitige Mittelzusagen gewährleistet wird,
während man umgekehrt, wenn man eine Steuergutschrift einführt, erst vorfinanzieren muss. Das heißt, erst
durch eine nachgelagerte Betriebsprüfung wissen die
Unternehmen, ob sie zumindest einen Teil der Mittel zurückbekommen. Das ist problematisch.
Immerhin schneidet die Projektförderung der Bundesrepublik gar nicht schlecht ab. In einer Studie des Bundesverbandes der Deutschen Industrie - die zitiere ich
nicht so oft - heißt es, dass die Projektförderung weltweit auf Platz zwei liegt. Gerade vor diesem Hintergrund
muss man sich genau überlegen, ob man das angesichts
der Enge der Haushalte sowohl in den Ländern als auch
beim Bund aufs Spiel setzt.
Man muss auch daran erinnern, dass infolge der Bankenkrise für die mittelständischen Unternehmen die
Konditionen der Banken nicht besser werden. Die Eigenkapitalvorschriften, die für die Banken verschärft
werden, werden sich natürlich auch bei den Unternehmen durch geänderte Kreditkonditionen niederschlagen.
Deshalb sagen wir: Besser als Steuernachlässe helfen
Projektförderung samt kompetenter Beratung und ein erleichterter Zugang zu Mittelstandskrediten.
Die Vorschläge, die Sie machen, sowohl Steuergutschriften als auch steuerliche Forschungsförderung, entsprechen dem Gießkannenprinzip. Sie fördern in der
Breite, und Sie fördern Mittelständler. FDP und CDU/
CSU wollen sich aber ausdrücklich dafür einsetzen, dass
das auch für Großunternehmen gilt. Dazu muss ich sagen - Herr Meinhardt hat ausgeführt, dass es 21 Länder
gibt, in denen die Forschungsförderung in dieser Form
bereits eingeführt wurde -: Die Mehrzahl dieser 21 Länder hat keinen Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent,
sondern von 25 Prozent. Ich finde, mit diesen 10 Prozentpunkten ist die Bundesregierung ganz schön in Vorleistung gegangen. Das hat den Staatshaushalt seit Einführung dieser 15 Prozent 200 Milliarden Euro gekostet.
Da muss man schon seriös bleiben und das noch einmal
genau abklopfen.
Herr Steffel, eines muss man feststellen: Man kann
sich mit dem Berliner Senat hier im Bundestag politisch
auseinandersetzen, aber Adlershof ist ein Modellbeispiel, das Sie bundesweit kein zweites Mal finden.
({0})
Die Grünen wollen qualitative Maßstäbe einführen.
Das ist eine gute Absicht. Sie sprechen von der ökologischen Wende, die als Maßstab berücksichtigt werden
soll. Das geht allerdings nicht mit Steuergutschriften.
Wir haben uns erkundigt und das haushaltstechnisch geprüft. Aus dieser Prüfung geht ganz klar hervor: Den
Unternehmen steht diese steuerliche Forschungsförderung dann zu. Sie können keine zusätzlichen inhaltlichen
Kriterien setzen. Insofern sage ich: Die Idee der Gutschrift ist nett gedacht, ist ein bissel Jamaika, löst das
Problem aber nicht wirklich. Wir sollten lieber bei der
Projektförderung in konzentrierter Form bleiben.
({1})
Zum SPD-Antrag will ich jetzt gar nicht viel sagen.
({2})
Ich habe ein bissel geschmunzelt, muss ich sagen. Sie
haben diesen Antrag ganz schnell zusammengezimmert.
Vor allem haben Sie hineingeschrieben: Liebe Regierung, mach meine Arbeit. - Sie haben ein paar Kriterien
angedeutet. Ehrlich gesagt weiß ich aber nicht wirklich,
wo Sie hinsichtlich der steuerlichen Forschungsförderung stehen. Ihr Beitrag hat das jetzt etwas deutlicher gemacht. Es wurde klar, dass auch Sie sich vor allem um
die Mittelständler kümmern wollen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Gern.
Wir möchten bei der Projektförderung bleiben. Wir
möchten sie zielgenauer und verlässlicher gestalten, und
wir möchten vor allem von allen Fraktionen, die das hier
befürworten, einen seriösen Gegenfinanzierungsvorschlag vorgelegt bekommen; denn das kostet insgesamt
bis zu 4 Milliarden Euro. Das ist zumindest Ihre Auskunft. 12 Milliarden Euro wollte Frau Schavan insgesamt ausgeben. Wo soll das bitte herkommen?
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Philipp Murmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, die vorliegenden Anträge sind durchaus interessant; denn sie unterstützen in vielen Passagen wohlmeinend die Absicht der Regierungsparteien.
({0})
Aber Achtung: Sie sind mit einigen Giftpilzen durchsetzt, von denen einem vielleicht schlecht werden kann.
({1})
Sie spenden zum Teil wohltuendes Licht. Allerdings
hängen auch einige dunkle Wolken dazwischen.
In einer dieser schwarzen Wolken in der Begründung
heißt es zum Beispiel, die schwarz-gelbe Koalition
würde mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz Wahlgeschenke an ihre Klientel verteilen.
({2})
Tatsache aber ist: Mehr als die Hälfte der in diesem Gesetz vorgesehenen Entlastungen betreffen Familien und
Kinder,
({3})
und zwar jene Familien, die mit ihrer täglichen Arbeit
und mit ihrer Leistung ihren und unseren Wohlstand sichern und dafür sorgen, dass wir auch denjenigen helfen
können, denen es nicht so gut geht.
({4})
Diese Familienmütter und -väter wollen wir unterstützen, ja, aus voller Überzeugung. Wenn Sie Familien als
Klientel bezeichnen, finde ich das unangemessen und respektlos.
({5})
Dass wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
auch und gerade für den Mittelstand Wachstumsimpulse
setzen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Was meinen
Sie, wer zum Beispiel von einer verbesserten Zinsschranke profitiert? Das sind gerade die kleinen und
mittleren Unternehmen, die häufig mit hohem Fremdkapitaleinsatz neue Produkte und Innovationen voranbringen. Genau die profitieren davon.
Jetzt möchte ich zu den eher lichtdurchfluteten Passagen der Anträge kommen. Ich begrüße es außerordentlich, dass die Grünen und hinterher auch ganz schnell die
SPD die Wichtigkeit einer umfassenden Förderung von
Forschung und Entwicklung klar herausgestellt haben.
Auch uns liegt der Bereich besonders am Herzen. Schon
in der vergangenen Legislaturperiode haben die Regierung und insbesondere das Forschungsministerium danach gehandelt. So sind die Investitionen in Forschung
und Entwicklung um ein Drittel auf gut 12 Milliarden
Euro gesteigert worden. Die Hightechstrategie wurde
auf den Weg gebracht, und erfolgreiche Projektförderung, insbesondere für KMUs, wurde eingeführt; dies
wollen wir weiterführen.
Im Koalitionsvertrag haben wir nun gemeinsam mit
unserem Partner, der FDP, ein Programm vereinbart,
welches Bildung und Forschung in Deutschland absoluten Vorrang einräumt. So etwas hat es in dieser Form
noch nicht gegeben.
({6})
Eine wichtige Maßnahme wird dabei die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung sein, die zusätzliche Wachstumsimpulse setzen wird. Natürlich freue ich
mich, dass die Grünen und auch die SPD durchaus einige Ansichten teilen. Sollten wir hier nun tatsächlich
Zeuge einer Wandlung vom grünen Saulus zum grünen
technologieoffenen Paulus werden? Oder ist das nur eine
neue Form von Greenwashing? Auch Sie wollen ja
kleine und mittelständische Technologiefirmen stärken.
Sollte dies nicht auch für kleine Firmen im Bereich Biotechnologie gelten? Ich denke, ja.
({7})
Oder für moderne Betriebe etwa aus dem Bereich Nano?
({8})
Natürlich. Oder für kleine Start-up-Firmen für Grüne
Gentechnik? Ja, natürlich.
({9})
Wir wollen Innovationen und gute Ideen für gute Anwendungen fördern. Wir wollen keine Ideologiepolitik,
keine Angstkampagnen, auch nicht unter dem Mäntelchen einer möglichen Gegenfinanzierung, wie Sie das
hier mit Ihrer Atomsteuer machen wollen.
({10})
Wir brauchen eine ergänzende, in der Breite wirksame Förderung. Diese Förderung muss technologieoffen und möglichst unbürokratisch sein. Natürlich müssen wir Doppelförderung vermeiden. Ich habe durchaus
große Sympathien für das Modell einer Steuergutschrift.
Diese Steuergutschrift muss rechtsform- und größenunabhängig ausgestaltet sein. Sie sollte sich insbesondere
- dieser Meinung bin ich - auf die Förderung bei den
Personalkosten konzentrieren; denn - das weiß ich als
Unternehmer - die Einstellung neuer Mitarbeiter ist die
Hemmschwelle, die wir gerade im FuE-Bereich überwinden müssen.
({11})
Natürlich sollte sie keine regionalen Begrenzungen aufweisen. Die Einbeziehung von Auftragsforschung im
Ausland darf nicht enthalten sein.
Ob der Ausschluss von größeren Unternehmen - wir
sprechen von Unternehmen mit zum Beispiel 255 Mitarbeitern - tatsächlich sinnvoll ist, müssen wir genau
überlegen. Denn gerade bei mittleren und größeren Unternehmen gibt es einen Standortwettbewerb im Bereich
von Forschung und Entwicklung, der häufig entscheidend ist bei der Einführung neuer Forschungs- und Entwicklungsprojekte.
({12})
Ich komme zum Schluss. Forschung, Innovationen
und Technologien sind unser Kapital für die Zukunft.
Wir wollen weiterhin das Land der Forscher und Ingenieure bleiben.
({13})
Wir sind ein technologiefreundliches Land. Wir freuen
uns über neue Anwendungen. Wir sind begeisterungsfähig und verantwortungsbewusst. Eine kluge Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil unserer Innovationspolitik. Natürlich sind die Grünen, die SPD und auch die
anderen herzlich eingeladen, diesen Weg mitzugehen.
Aber, wie gesagt, es muss offen und ehrlich geschehen;
denn Technikfeindlichkeit und Fortschrittspessimismus
passen nicht zu uns. Die Idee, neue Ideologiesteuern zu
schaffen, ist nicht vernünftig. Wir wollen Deutschland
zur Bildungs- und Forschungsrepublik und zu einem
Gründerland mit vielen jungen, innovativen Unternehmen machen.
Vielen Dank.
({14})
Herr Kollege Dr. Murmann, ich gratuliere Ihnen im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege René
Röspel von der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute Abend schon eine Menge über
Wirtschaftsförderung, Unternehmensförderung und Forschungsförderung gehört. Ich habe den Eindruck, dass es
häufig ein bisschen durcheinandergegangen ist. Wenn
man Unternehmen fördern will, dann kann man die Steuern für Unternehmen senken. Man erreicht dadurch das
Ziel; sie freuen sich dann. Wenn man Investitionen fördern will, kann man ebenfalls die Steuern für Unternehmen senken; aber ob man das Ziel, mehr Investitionen,
erreicht, ist fraglich. Bestes Beispiel - von mir aus auch
schlechtestes Beispiel -: Die Energiekonzerne machen
im Moment Milliardengewinne, aber sie investieren sie
nicht und senken auch nicht die Energiepreise; vielmehr
werden diese Gewinne schlicht und einfach eingesackt.
Wir wollen heute Abend aber nicht über Wirtschaftsförderung, sondern über Forschungsförderung reden.
Erlauben Sie mir deswegen, dass ich auf die Forschungsperspektive eingehe und auch deutlich mache, wie Forschung in Deutschland funktioniert.
Erstens gibt es den großen Bereich der Grundlagenforschung. Grundlagenforschung ist nicht immer einfach. Man versteht sie häufig nicht, manchmal sieht man
nicht ihren Sinn, und sehr häufig sieht man auch keine
Anwendung. Trotzdem ist Grundlagenforschung der
zentrale Wissenschaftsbereich und die Basis für die technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands.
({0})
Grundlagenforschung wird allerdings fast ausschließlich
staatlich finanziert. Das heißt, wir brauchen Steuergeld
für die Grundlagenforschung. In den letzten Jahren haben wir das ausgebaut. Es ist gut, wenn auch die neue
Regierung diesen Bereich weiter ausbauen will.
Der zweite Bereich neben der Grundlagenforschung
ist die Projekt- und Programmförderung; mein Kollege
Lothar Binding ist darauf schon eingegangen. Bei der
Projektförderung hat der Staat die Möglichkeit, in Bereichen, bei denen man der Auffassung ist, dass dies notwendig oder sinnvoll ist, gezielte Forschungsimpulse zu
setzen. Die besten Beispiele dafür liegen in der Vergangenheit: Ohne steuerliche Förderung, ohne Forschungs-,
ohne Projektförderung stünden wir bei erneuerbaren
Energien, bei optischen Technologien, bei der Mikrosystemtechnik und in vielen anderen Bereichen heute nicht
da, wo wir stehen.
Wir wissen - das besagen die Gutachten -, dass
Deutschland gut ist, wenn es um normale Gebrauchsgüter und hochwertige Technologien geht: Automobilbau,
Chemie, Maschinenbau. Im Bereich der Spitzentechnologien werden uns aber auch Defizite bescheinigt. Das
sind genau die Technologien, die wir im Rahmen der
Projektförderung stärker fördern müssen. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Deswegen ist es unabdingbar, die Projektförderung zu erhalten und weiter auszubauen.
({1})
Man kann noch eine dritte Komponente anführen,
nämlich die steuerliche Förderung von Unternehmen,
die Förderung von Forschung und Entwicklung, FuE.
Frau Ministerin Schavan hat Ende Oktober dieses Jahres
verkündet - Herr Meinhardt, kritisieren Sie dafür nicht
uns -, dass es im Bereich FuE für alle Unternehmen eine
steuerliche Förderung im Umfang von 2 Milliarden Euro
geben soll. An genau diesem Punkt sagen wir: Hier muss
man ein Fragezeichen setzen. Aus den Gutachten und
Expertengesprächen wissen wir, dass von einer steuerlichen FuE-Förderung aller Unternehmen zu vier Fünftel
Großunternehmen und Großkonzerne profitieren wür1020
den. Das ist völlig klar und wurde auch im EFI-Gutachten beschrieben.
Was bedeutet das? Es werden wieder Automobilbau,
Chemie und Maschinenbau gefördert. Dagegen ist aus
Sicht der Wirtschaftsförderung überhaupt nichts zu sagen. Aber das ist keine Forschungsförderung.
({2})
Deswegen sagen wir: Diese Mittel müssen, wenn sie
denn bereitgestellt werden, zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, und sie dürfen nicht zulasten von Projektförderung und Grundlagenforschung gehen. Hier setzen
wir, wie gesagt, Fragezeichen.
Sowohl die Grünen als auch wir geben Ihnen Leitplanken an die Hand. Wir sagen: Es muss möglich sein
- das ist auch richtig -, kleine und mittlere Unternehmen
zu fördern. Wir wollen Innovationen und Forschung und
Entwicklung fördern. Wir wollen keine Wirtschaftsoder Standortförderung betreiben - in diesem Bereich
könnte man das pauschal machen -, sondern die Zielsetzung ist, innovative kleine und mittlere Unternehmen zu
fördern.
Wir sind sehr gespannt, wie es weitergeht. Wir erwarten nicht, dass Sie noch vor Weihnachten ein Konzept
vorlegen. Frau Schavan hat diese Ankündigung im Oktober gemacht. Wenn es nicht bei einer Ankündigung
bleiben soll, erwarten wir allerdings, dass die neue Regierung bis Ostern ein solches Konzept vorlegt.
({3})
Meine letzte Bemerkung. Ich befürchte, es wird bei
einer der üblichen Ankündigungen bleiben. Denn beim
ersten Blick in Ihren neuen Haushaltsentwurf für das
Jahr 2010 habe ich den Betrag von 2 Milliarden Euro
nicht gefunden, Herr Braun. Da Frau Schavan heute leider nicht hier ist - der Finanzminister ist ja in derselben
Fraktion wie sie -, kann ich nur sagen: Wir sind sehr gespannt, ob es Ihnen tatsächlich gelingt, im nächsten Jahr
etwas für kleine und mittlere Unternehmen zu tun. Wir
werden das gespannt beobachten.
Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/130 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, Federfüh-
rung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Der Überweisungsvorschlag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Finanzausschuss - abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der
Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/247 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen wer-
den. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Studienpakt für Qualität und gute Lehre jetzt
durchsetzen
- Drucksache 17/109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein,
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE
Forderungen aus dem Bildungsstreik aufneh-
men und die soziale Spaltung im Bildungssys-
tem bekämpfen
- Drucksache 17/119 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz ({1}), Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus dem Bildungsstreik ziehen Bildungsaufbruch unverzüglich einleiten
- Drucksache 17/131 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es WiVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
derspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dagmar Ziegler von der SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir erleben in dieser Woche wieder einmal
schwarz-gelbe Chaostage. Das Hickhack und das Gezerre, das wir in diesen Tagen - zwischen dem Bildungstreffen gestern und der Bundesratssitzung morgen - erleben, zeigt deutlich, dass diese Bundesregierung weder zu
einer seriösen Finanzpolitik noch zu einer seriösen Bildungspolitik in der Lage ist.
({0})
Die Bundesregierung beteuert seit Tagen, dass das
eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Fakt ist aber,
dass das, was Union und FDP im Koalitionsvertrag zur
Steuerpolitik und zur Bildungspolitik aufgeschrieben haben, allein deswegen miteinander zu tun hat, weil es hinten und vorne nicht zusammenpassen will. Genau dieser
Widerspruch ist der Kanzlerin gestern beim vollmundig
angekündigten zweiten Bildungsgipfel um die Ohren geflogen. Die Resonanz heute in der Presse müsste Ihnen
deutlich gemacht haben, dass dem so ist.
({1})
Ziel dieses Treffens war es - da sind wir uns sicherlich einig -, verbindliche Finanzierungsschritte und konkrete Bildungsprojekte zu vereinbaren.
({2})
Dieses Ziel ist verfehlt worden. Die Entscheidung ist
nämlich vertagt worden. Daher kommt die große Enttäuschung, die landesweit zu spüren ist. Das Ergebnis dieser
Woche wird sein: Steuergeschenke für die Hoteliers,
aber immer noch keine verbindlichen Vereinbarungen
für die Bildung.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer zu einem Bildungsgipfel einlädt, parallel dazu aber dramatische Verschlechterungen der Einnahmesituation von
Ländern und Kommunen vorbereitet, der gefährdet genau das, was in den nächsten Jahren bildungspolitisch
geleistet werden kann. Deshalb muss die Bundesregierung sämtliche dieser eigenartigen Steuerpläne zurückziehen und den öffentlichen Haushalten die Spielräume
eröffnen, die notwendig sind, damit gute Bildungspolitik
gedeiht. Deutschland muss zu einer Bildungsrepublik
werden statt zu einer Steueroase für wenige.
({4})
Im Übrigen hat der gestrige Tag noch etwas gezeigt,
nämlich die inhaltliche Ideenlosigkeit unserer Bundesbildungsministerin. Schon der Kabinettsbeschluss zum
Etat des Bildungsministeriums war ein Misstrauensvotum für die Ministerin; denn die Regierung hat sämtliche
bildungspolitischen Prestigeprojekte der Ministerin unter Vorbehalt gestellt und - vielleicht haben Sie es noch
gar nicht gemerkt - im Haushalt qualifiziert gesperrt.
Auch in der Gipfelerklärung habe ich außer ein paar
stichwortartigen Ankündigungen nichts Konkretes finden können. Vielleicht können Sie in Ihrem Redebeitrag
etwas dazu sagen. Frau Schavan ist für uns mittlerweile
zu einer Ministerin unter Dauervorbehalt geworden.
Ich frage mich, wie viele sogenannte Bildungsgipfel
noch notwendig sind, bis erstens endlich verbindliche
Vereinbarungen zur Bildungsfinanzierung auf dem Tisch
liegen und wir hier zweitens endlich über konkrete bildungspolitische Vorschläge dieser Regierung diskutieren
können. 10. Juni nächsten Jahres - das heißt gleichzeitig: ein halbes Jahr verlorene Zeit für die Bildung in unserem Land.
({5})
Schon im Sommer haben uns die Studierenden auf die
Probleme in der Hochschulpolitik aufmerksam gemacht.
Ein halbes Jahr später ist nach unserer Ansicht die Zeit
gekommen, dass Sie nicht nur eine Problemanalyse betreiben, sondern endlich auch Lösungsansätze aufzeigen
sollten. Auch darauf hätten wir uns gestern auf dem Gipfel konkrete Antworten gewünscht. Nichts davon ist zu
hören.
Die SPD-Fraktion fordert in ihrem Antrag von der
Bundesregierung deshalb, endlich handfeste Verbesserungen für die Studierenden auf den Weg zu bringen.
Zwei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt:
Erstens. Eine gute Lehre muss an den Hochschulen
wieder den gleichen Stellenwert wie eine gute Forschung haben.
({6})
Wir sind uns einig: Nachbesserungen an den Studienund Prüfungsordnungen sind unverzichtbar. Das reicht
aber nicht aus. Der Bund muss seinen Beitrag dazu leisten, den Bologna-Prozess auch sozial auszugestalten und
ein gutes Studium in den neuen Studiengängen möglich
zu machen.
Der Wissenschaftsrat hat gesagt, dass die Hochschulen mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr mehr brauchen,
um die Bologna-Reformen gut umzusetzen. Die SPDFraktion fordert die Bundesregierung deshalb auch auf,
gemeinsam mit den Ländern einen Pakt für Studienqualität und gute Lehre zu vereinbaren, um diesen Mehrbedarf abzusichern - das heißt, 3 Milliarden Euro mehr für
die Hochschulen in den nächsten drei Jahren.
Frau Schavan wird nicht müde, ihr Bologna-Qualitätsund Mobilitätspaket anzukündigen - natürlich erst für das
nächste Jahr und ohne zu sagen, was in diesem Paket enthalten sein soll. Wir sagen: Wir brauchen mehr Lehrende,
und wir brauchen eine bessere Lehre. Deshalb fordern wir
eine echte Personaloffensive an den Hochschulen - auch
bei den Juniorprofessuren und im akademischen Mittelbau. Wir fordern einen Exzellenzwettbewerb für die
Lehre, und wir wollen, dass die Studentinnen und Studenten besser beraten und betreut werden. Dazu gehört übrigens auch, dass die teilweise erheblichen Defizite der sozialen Infrastrukturen an den Hochschulen beseitigt
werden.
({7})
Die Studierenden brauchen unter anderem bezahlbare
Wohnungen und gut ausgestattete Studentenwerke.
Zweitens. Eine verantwortungsvolle Hochschulpolitik
muss immer auch eine aktive Politik für Chancengleichheit sein. Sie setzen auf Selektion und Auslese statt auf
die soziale Öffnung der Hochschulen für alle. Das äußert
sich momentan erwiesenermaßen darin, dass sich der
BAföG-Beirat eben nicht auf die Höhe der notwendigen
BAföG-Anhebung einigen kann. Gewerkschaften und
Studentenwerke fordern eine spürbare Erhöhung, während die Bildungsministerin auf der Bremse steht. Daran
wird ganz deutlich, dass die von der Regierung angekündigten Schritte eben nur Trippelschritte sind und dass
beim BAföG nur Sozialkosmetik vorgenommen werden
soll.
Union und FDP wissen, dass sie ein BAföG-Schrittchen als Alibi brauchen, um von der Kritik an ihrer unsozialen Bildungspolitik abzulenken, sodass sie die sozialen Schieflagen in der Bildung weiter ausbauen können.
Die Lösung wäre schlicht und einfach, das Stipendienprogramm ad acta zu legen, Studiengebühren abzuschaffen
und eine echte BAföG-Reform vorzulegen, mit der vor
allem die Freibeträge noch einmal deutlich aufgestockt
werden, damit die Gruppe der BAföG-Berechtigten größer werden kann.
({8})
Ein letzter Punkt. Die von dieser Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung der Bildungsfinanzierung
ist nicht nur sozial ungerecht, sie wird auch nicht funktionieren. Ich frage mich, was die Menschen neben KitaGebühren und Studiengebühren noch alles bezahlen sollen - und jetzt verlangt Frau Schavan auch noch, dass
der Herr Meier aus Stuttgart das Stipendium für die
Tochter von Frau Müller aus Köln bezahlen soll. Erklären Sie uns, wie das gehen soll. Daran kann keiner von
Ihnen wirklich selber glauben.
({9})
Bildung ist eine öffentliche Aufgabe, und das muss
sie auch bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Professor Dr. Peter Frankenberg.
({0})
Dr. Peter Frankenberg, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vom Bildungsgipfel geht ein sehr positives Signal für unsere
Hochschulen, für die Lehre, für die Forschung und auch
für den Bologna-Prozess aus.
({2})
Die Pakte sind gesichert. Gerade der Hochschulpakt
ist für die Zukunft der Lehre an den Hochschulen und für
eine breitere Akademisierung unserer Bevölkerung
wichtig.
Der Bologna-Prozess ist im Prinzip richtig. Der Bologna-Prozess ist die Voraussetzung für eine einheitlichere
Strukturierung der Curricula in Europa. Das gestufte
Studiensystem infolge des Bologna-Prozesses ist richtig
und wichtig, weil nur so eine breite Akademisierung, die
wir brauchen, möglich wird.
Bei der Umstellung ist vieles richtig gemacht worden.
Wir sollten nicht die vielen Professorinnen und Professoren, die bei dieser Umstellung Hervorragendes geleistet haben, desavouieren.
({3})
Aber dass nach einer solchen Jahrhundertreform eine
Optimierung notwendig ist, ist völlig klar. Das von uns
geschaffene gestufte Studiensystem ist übrigens lange
zuvor vom Wissenschaftsrat als die notwendige Lösung
bei einer Reform des deutschen Studiensystems gefordert worden.
Ich möchte drei Punkte nennen, die mir für eine Optimierung des Bologna-Systems wichtig sind. Der erste
betrifft die Qualitätssicherung. Hätten wir eine funktionierende Qualitätssicherung, sprich Akkreditierung,
dann dürfte es die Probleme, die in Studiengängen aufgetreten sind, eigentlich nicht geben.
({4})
Eine Akkreditierung auf dem Papier und a priori war
nicht die Lösung für den Wegfall der staatlichen Genehmigung. Wir brauchen eine Evaluierung im laufenden
Studienbetrieb unter Einbeziehung der studentischen
Veranstaltungskritik. Das entspricht dem, was international für Qualitätssicherung und Akkreditierung wichtig
und üblich ist.
({5})
Notwendig ist die Einbeziehung der Fachgesellschaften in das Akkreditierungs- und Qualitätssicherungssystem. Wir sollten den Wissenschaftsrat damit beauftragen, das System zu reformieren und auch eine Art
Wächterrolle für dieses System zu übernehmen.
Minister Dr. Peter Frankenberg ({6})
Die zweite große Herausforderung ist die größere Heterogenität der Studierenden, der wir uns heute gegenübersehen. Bei einem Anteil von 40 Prozent einer Altersgruppe, der ein Studium aufnimmt, können wir nicht
mehr von Homogenität sprechen. Diesen Studierenden
müssen wir durch die Möglichkeit unterschiedlicher Geschwindigkeiten im Studium gerecht werden. Das Studium muss in drei oder vier Jahren organisiert werden.
Es muss auch Freiräume für diejenigen geben, die nach
ihrer Neigung oder Befähigung anders studieren wollen
als die, die beabsichtigen, in drei Jahren ein Fast-TrackStudium zu durchlaufen.
Es muss die Möglichkeit von College-Semestern, also
vorgeschalteten breiteren Studiengängen, geben, die
dann in ein spezifisches Studium führen und zu einer
besseren Orientierung und Qualifizierung der Studenten
beitragen. Dazu müssen wir Möglichkeiten wie ein Modell „1+3+1+2“ schaffen, um auch eine Studiendauer
von mehr als fünf Jahren zu ermöglichen.
({7})
Es ist richtig, dass das BAföG-System sozusagen bolognalisiert wird, also an diese Struktur mit ihren Unterbrechungen, den häufigeren Fachwechseln und der längeren Dauer angepasst wird.
({8})
Wir müssen auch die Frage der inneren Studienstruktur angehen. Schmale Bachelorangebote sind falsch. Der
Bachelor sollte wesentlich breiter sein als das Masterangebot. Die Prüfungsdichte muss dort reduziert werden,
wo Probleme aufgetreten sind. Es muss auch modulübergreifend geprüft werden können. Wir sollten auch bedenken, dass vielleicht eine Kombination von studienbegleitenden Prüfungen und Abschlussprüfungen ideal
wäre. Wir haben die Abschlussprüfungen durch studienbegleitende Prüfungen ersetzt. Manchmal ist ein Stück
Tradition im besten konservativen Sinne gemischt mit
einer Neuerung die bessere Lösung als eine zu radikale
Neuerung.
Dann kommt die Frage des Bachelor-Master-Übergangs. Es ist sicherlich völlig unverzichtbar, dass es bestimmte Qualifikationsfeststellungen gibt. Wer auf diese
verzichten will, hat das Bologna-System nicht verstanden. Das ist kein nur konsekutives System. Es muss ein
Wechsel des Faches, der Hochschule und des Landes angedacht sein. Bei dem Wechsel des Landes denke ich
nicht nur an einen Wechsel von Württemberg nach Baden.
({9})
- Das ist aber ein Sprung, auf den ich jetzt nicht im Detail eingehen möchte.
Wir müssen das Angebot an Masterstudienplätzen
nicht reglementieren, sondern wir sollten es der befähigten Nachfrage anpassen,
({10})
anders als im Erlass vom 16. Februar 2005 durch die
Ministerin Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen festgelegt wurde, der vorschreibt, dass 20 Prozent des Lehrangebotes der Universitäten und 10 Prozent des Lehrangebotes der Fachhochschulen für das Masterstudium
reserviert sein sollen, das heißt, 80 bzw. 90 Prozent für
das Bachelorstudium. So Frau Kraft in dem Erlass zu
den landesspezifischen Strukturvorgaben in NordrheinWestfalen.
({11})
Eine solche planwirtschaftliche Bewirtschaftung ist
uns fremd.
({12})
Mit Bologna verhält es sich insgesamt wie mit der
Kirche: Bologna semper reformanda, aber im Prinzip
gut.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Lehrerin muss ich natürlich auf den Bildungsstreik in
meiner Heimstadt Bremen eingehen. Das Motto lautet:
Gute Bildung für alle, und zwar sofort. So wie bei uns in
Bremen streiken zurzeit Schülerinnen und Schüler sowie
Studentinnen und Studenten von Greifswald bis München. Sie fordern eine Finanzierung für Bildung, die ihre
Lern- und Ausbildungsbedingungen sofort und nachhaltig verbessert, und zwar für alle. Bildung darf nicht von
der sozialen Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein.
({0})
Auf dem gestrigen Bildungsgipfel wurde nun vereinbart, bis 2015 zusätzlich 13 Milliarden Euro in sechs
Jahren in Bildung zu investieren. Das ist ein Tropfen auf
den heißen Stein. Zu diesem Schluss kommt man, wenn
man bedenkt, dass im letzten Jahr auf dem Bildungsgipfel noch von einem Gesamtbedarf in Höhe von
60 Milliarden Euro pro Jahr gesprochen wurde, um bis
2015 das Ziel, 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
für Bildung auszugeben, zu erreichen. Um Ihre mickrigen 13 Milliarden Euro zu erreichen,
({1})
sollen jetzt auch noch Pensionsansprüche von Lehrerinnen und Lehrern sowie Professorinnen und Professoren
und sogar Kitabeiträge der Eltern einberechnet werden.
Meine Damen und Herren von der Union, Ihr Parteifreund, der sächsische Kultusminister Roland Wöller
sagt - wie ich finde: treffend -: „Das sind Taschenspielertricks.“
({2})
Im Bremer Bildungsstreik spielen aber nicht nur Studentinnen und Studenten sowie Schülerinnen und Schüler eine Rolle. Vielmehr solidarisieren sie sich auch mit
Auszubildenden und Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz haben oder sich in Übergangsmaßnahmen
befinden. Ziel des Bildungsgipfels vor einem Jahr war,
viele Maßnahmen auf Bundesebene voranzutreiben. Sie
wollten beispielsweise Kampagnen starten, um Ausbildungsplätze für alle zu schaffen. Übergangsmaßnahmen
sollten als Ausbildungszeit angerechnet werden. Aber
außer Spesen nichts gewesen! Da hilft es auch nicht,
wenn die Bildungsministerin in ihrer Antrittsrede erneut
davon spricht, dass die berufliche Bildung das Flagschiff
unseres Bildungssystems ist. Statt etwas für die jungen
Leute zu tun, haben Sie lieber Mikado gespielt: Wer etwas bewegt, hat verloren.
({3})
Frau Schavan und meine Damen und Herren von der
Union, können Sie sich eigentlich vorstellen, was dies
mit jungen Leuten macht? Ich habe die Mutlosigkeit und
die Verzweiflung bei meiner Arbeit kennengelernt. Es
muss Ihnen doch zu denken geben, dass die OECD seit
Jahren beklagt, dass Deutschland seine Bildungschancen
nach sozialer Herkunft verteilt. Besonders hart sind die
Bedingungen für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Arbeitnehmerkammer Bremen weist in ihrem
Armutsbericht 2008 nach, dass diese Jugendlichen bei
gleichem Leistungsniveau eine deutlich geringere Chance
auf einen Ausbildungsplatz haben.
Frau Schavan, mit dieser Bildungspolitik treiben Sie
die Spaltung der Gesellschaft weiter voran. Renate
Köcher schrieb gestern in der FAZ, dass nur 31 Prozent
der Menschen aus sozial benachteiligten Schichten „an
die Möglichkeit glauben, durch Leistung die eigene Lage
zu verbessern“. Das ist ein Alarmsignal. Investieren Sie endlich mindestens 13 Milliarden Euro pro Jahr! 13 Milliarden
Euro auf sechs Jahre verteilt, das ist doch nur ein durchsichtiges Angebot an die Länder, damit sie morgen dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin Alpers, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Martin
Neumann von der FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Professor Frankenberg, ich
möchte mich ganz ausdrücklich für Ihren Beitrag bedanken, der die Diskussion über dieses Thema deutlich qualifiziert hat.
({0})
Die Koalition und die Opposition vereint ein Ziel:
Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen. Das lassen die drei vorliegenden Anträge aus den Oppositionsfraktionen auf den ersten Blick vermuten, aber der
Schein trügt. In Ihren Anträgen, meine Damen und Herren von der Opposition, formulieren Sie Feststellungen
über den angeblichen Zustand des deutschen Bildungssystems. Diese Feststellungen werden aber von der
Wirklichkeit nicht bestätigt. Dies hat nicht zuletzt die aktuelle Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes
„Hochschulstandort Deutschland 2009“, wie ich finde,
eindrucksvoll belegt.
Erstens. Die Studienanfängerquote ist mit 43 Prozent
so hoch wie nie zuvor.
Zweitens. Es gibt keinen systematischen Zusammenhang zwischen allgemeinen Studiengebühren und dem
Mobilitätsverhalten der Studienanfänger. Das heißt, es
ist entgegen Ihren Behauptungen kein Abschreckungseffekt erkennbar.
({1})
Drittens. Die durchschnittliche Studiendauer hat sich
auf 9,6 Fachsemester verkürzt, zum einen durch die Einführung des Bachelorstudiums, zum anderen aber auch
durch die Einführung von Studiengebühren für Langzeitstudenten.
Viertens. Die Erfolgsquoten sind mit durchschnittlich
68 Prozent noch gering, aber - auch das zeigen die statistischen Zahlen - die höchsten Quoten liegen bei Studiengängen mit Zulassungsbeschränkungen wie zum Beispiel
Medizin oder bei Studiengängen, die einem Auswahlverfahren an den Hochschulen unterliegen. Das heißt, mehr
Autonomie der Hochschulen kann für eine bessere Studienorganisation sorgen, ein Weg, den wir weiter beschreiten werden.
({2})
Ich will hier nichts schönfärben, aber wir sollten die
Realität zur Kenntnis nehmen. Die ist eben nicht
schwarz-weiß oder, wenn ich es auf das Parlament beziehe, rot-grün. Bevor wir die Bologna-Reform vorschnell verteufeln und zum Sündenbock für eine als ungerecht empfundene Hochschulpolitik abstempeln,
({3})
blicken wir doch einmal zehn Jahre zurück. Es waren
doch die allseits beklagten Mängel des alten StudiensysDr. Martin Neumann ({4})
tems, dass die Durchschnittszahlen bei 13 bis 14 Semestern lagen, dass eine Abbruchquote von über 30 Prozent
bestand und dass die Hochschulabsolventen mit durchschnittlich 28 Jahren im weltweiten Vergleich viel zu alt
waren. Hier hat Bologna angesetzt, und zwar, wie ich
meine, mit Erfolg.
({5})
Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Aber
ein Zurück wäre ganz bestimmt kein Schritt in Richtung
Bildungsrepublik. Dort wollen wir doch alle hin. Wir als
FDP erwarten, dass jeder seine Hausaufgaben macht.
Eine echte Bildungspartnerschaft - die ist Bedingung für
eine Bildungsrepublik Deutschland - ist eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern, Kommunen und
vor allem den Hochschulen, die sich dem Umstellungsprozess stellen müssen, der von der Politik zu begleiten
ist.
Die Kritik an Bologna, wie sie auch in den Studentenprotesten häufig zu hören ist, ist nur teilweise berechtigt.
Wenn die Studierenden zum Beispiel eine Verschulung
und Überfrachtung des Studiums sowie eine zu hohe Arbeitsbelastung beklagen, dann ist das nur bedingt dem
Bologna-Prozess zuzuschreiben. Gerade die Hochschulen haben es doch in der Hand, mit ihren Prüfungsordnungen die Belastungen ihrer Studierenden zu steuern.
Diese sind nach meinen eigenen Erfahrungen nur unwesentlich höher, als sie es bei den Diplomstudiengängen
schon waren. Die Hochschulen haben es in der Hand,
über Zulassungsverfahren und Kapazitätsplanungen eine
Überfüllung der Hörsäle zu vermeiden.
Dass hier die Länder maßgeblich den Erfolg von Bologna beeinflussen können, zeigt nicht nur das Positivbeispiel Nordrhein-Westfalen. Es gibt auch eine andere
Richtung. Ich schaue da nur auf mein Heimatland Brandenburg, wo die SPD ununterbrochen seit 1990 regiert
und wo die rot-rote Mehrheit erst gestern im Landtag beschlossen hat, dass die Lage an den Hochschulen im
Land in einem mehrmonatigen Prozess zunächst einmal
bewertet werden soll, um dann frühestens im vierten
Quartal - man höre! - 2010 eventuell eine Änderung
herbeizuführen,
({6})
und das angesichts des schlechten Betreuungsverhältnisses zwischen Dozenten und Studenten an den Brandenburger Universitäten von 1 : 21,1 im Vergleich zum Bundesdurchschnitt von 1 : 17,6.
Es verwundert mich schon, dass Sie die Bundesregierung hier zu schnellem Handeln auffordern und die Studenten dort, wo Sie selbst in der Regierungsverantwortung sind, unnötig hinhalten.
({7})
- Liebe Frau Ziegler, die Brandenburger SPD-Wissenschaftsministerin, Ihre Parteifreundin, wird heute in der
Schweriner Volkszeitung zitiert, viele Befürchtungen der
Studenten seien „nicht durch Fakten untersetzt“. In dieser Einschätzung liegt viel Wahres. Vielleicht sollten Sie
einmal mit Ihren Fachministern in den Ländern reden,
bevor Sie uns im Deutschen Bundestag mit Anträgen ein
Bild zeichnen, das mit der Realität wenig zu tun hat.
({8})
Herr Neumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ziegler?
Bitte.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege, nehmen Sie bitte zur Kenntnis,
dass neun Jahre Wissenschaftspolitik im Land Brandenburg, auf die Sie gerade rekurriert haben, in der Verantwortung einer CDU-Ministerin lag.
Liebe Frau Ziegler, wenn Sie genau zugehört hätten,
dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe: Die SPD-Wissenschaftsministerin hat das, was ich hier zitiert habe,
gestern gesagt.
({0})
Sie beschreibt eine Situation nach ihrem Blickwinkel.
({1})
Wir wollen Deutschland zur Bildungsrepublik machen. Wir handeln auch so und belassen es nicht bei unseriösen Anträgen, deren Aussagen die Wirklichkeit
nicht widerspiegeln, sondern in denen Sie ganz offensichtlich einigen Studenten mit ideologisch begründeten
Forderungen nach dem Munde reden.
Ich komme zum Schluss. Es wäre aus meiner Sicht
unsozial, wenn wir den Familien nicht mit einem fairen
Steuersystem mehr Geld für die Ausbildung ihrer Kinder
geben würden. Es wäre unsozial, wenn wir 10 Prozent
der Studierenden ein Stipendium verweigern würden. Es
wäre unsozial, wenn wir Schülern aus finanzschwächeren Familien nicht vor Ort mit Bildungsschecks helfen
würden, die besten Förderangebote zu erhalten.
Also: Fordern Sie nicht nur! Kritisieren Sie nicht nur!
Beenden Sie vor allem Ihre ideologischen Klassenkämpfe, und schärfen Sie Ihre Sinne für die Wirklichkeit!
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Neumann, Sie haben recht. Es geht immer mit der
Betrachtung der Realität los. Deshalb freue ich mich,
dass FDP, Union und Grüne heute im Saarländischen
Landtag gemeinsam die Abschaffung der unsozialen
Studiengebühren beantragt haben.
({0})
Im Sinne der Wahrnehmung der Wirklichkeit möchte
ich sehr deutlich sagen, dass man die heutige Debatte
ohne eine kritische Bewertung des gestrigen Bildungsgipfels II nicht führen kann. Auf dem Treffen von Kanzlerin, Bundesministerin und Ministerpräsidenten der
Länder hätten Konsequenzen aus den Bildungsstreiks
gezogen werden können und müssen. Das Treffen hat
aber nur einen Titel verdient: Der Berg kreißte und gebar
noch nicht mal eine Maus.
({1})
Die Bildungsrepublik ist gestern zum Märchenland von
Merkel und Schavan geworden. Sich von Gipfel zu Gipfel zu vertagen, ohne verbindliche Lösungen zu liefern,
ist kein Meilenstein für eine bessere und gerechtere Bildung, sondern ein Armutszeugnis für die Bundesregierung und eine schlechte Nachricht für die Zukunftsperspektiven von Schülern und Studierenden.
({2})
Die Koalition sollte sich etwas anderes in den Adventskalender schreiben: Eine Bildungsrepublik lässt sich
nicht auf Steuersenkungen, Statistiktricks und Machtgeschacher mit den Ländern aufbauen. Mit Schönrechnen,
Tricksen und Schachern haben Bund und Länder gestern
auf die völlig unterdurchschnittlichen Bildungsinvestitionen in Deutschland geantwortet. Aus unserer Sicht ist
es geradezu unanständig, die jährlich 23 Milliarden Euro
große Finanzierungslücke zum OECD-Durchschnitt kleinzutricksen, indem unter anderem Pensionen von Lehrern
und Professoren und fiktive Mietkosten für Grundstücke
und Gebäude einfach zum Bildungsbudget hinzuaddiert
werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
mit Bilanzfälschung lassen sich Unterfinanzierung, Ungerechtigkeiten und Blockaden in unserem Bildungssystem sicherlich nicht beheben.
({3})
Für die Bildung hat der Bund gestern kümmerliche
5,2 Milliarden Euro auf den Verhandlungstisch gelegt an einem Tag, an dem der Finanzminister seinen Haushaltsentwurf für 2010 vorgelegt hat, in dem 100 Milliarden Euro neue Schulden eingeplant sind, einen Tag bevor Sie den Ländern und Kommunen mit Beschlüssen zu
milliardenschweren Steuerausfällen die Möglichkeit zur
Schaffung einer Bildungsrepublik unter den Füßen wegziehen. Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist nichts
anderes als ein Bildungsbrems- und Schuldenaufbaugesetz. Als solches wird es auch in die Geschichte eingehen.
({4})
Es ist hier schon angesprochen worden, aber man muss
es Ihnen immer wieder sagen: Es ist ein Armutszeugnis,
dass die Koalition lieber Hotelbetten subventioniert, statt
eine verbindliche Zahl von Studienplätzen aufzubauen.
({5})
Sie handeln damit fahrlässig. Wenn man noch die neuen
Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro berücksichtigt, muss man feststellen, dass Sie das Prinzip der Generationengerechtigkeit ganz offensichtlich in die Tonne
treten.
({6})
Wir als Grüne haben ein Paket an Maßnahmen geschnürt, mit dem der Bildungsaufbruch gelingen kann.
Im Gegensatz zu Ihnen haben wir auch einen Finanzierungsvorschlag gemacht. Wir wollen unter anderem,
dass der Soli Ost schrittweise in einen Bildungssoli umgewandelt werden soll. Mit diesem Bildungssoli könnten
Sie konsequent in Bildungseinrichtungen investieren
und damit einen gesamtstaatlichen Kraftakt stemmen.
Darauf hätten Sie sich gestern auch verständigen können.
({7})
Wo wir gerade beim gesamtstaatlichen Bildungsaufbruch sind, möchte ich sehr deutlich sagen: Das absurde
Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern bei der
Bildung, das in der Föderalismusreform I festgeschrieben
wurde, muss endlich wieder fallen; denn es hat bildungspolitische Kleinstaaterei und Flickenteppiche gebracht
und solches Geschacher wie gestern hervorgerufen.
Wenn selbst Frau Schavan in einem Interview dieses Kooperationsverbot mittlerweile ganz klar als Fehler bezeichnet, sollte Schwarz-Gelb diesen Fehler unverzüglich korrigieren. Dann kann man das bildungspolitisch
Notwendige in diesem Land auch besser anpacken.
({8})
Wir fordern in unserem Antrag unter anderem, den
Ausbau von Ganztagsschulen mit einem neuen GanzKai Gehring
tagsschulinvestitionsprogramm im neuen Jahr fortzusetzen. Wir wollen einen echten Pakt für Studierende.
Hierdurch sollen 500 000 Studienplätze geschaffen,
bessere Lehr- und Studienbedingungen gefördert und
die Bologna-Reform korrigiert werden. Ein wichtiges
Anliegen ist uns auch die Stärkung der staatlichen Studienfinanzierung, das heißt eine sofortige BAföG-Erhöhung statt eines völlig vagen Stipendienprogramms, ein
mittelfristiger Ausbau der Studienfinanzierung zu einem Zwei-Säulen-Modell sowie die Abschaffung von
Studiengebühren. Das alles sind wichtige Vorschläge,
die die Koalition aufgreifen könnte, um die skandalöse
Bildungsspaltung in unserem Land tatsächlich zu beheben. In diesem Sinne freue ich mich auf weitere Debatten über unsere Anträge sowohl im Ausschuss als auch
vor Ort in den Audimaxen dieser Republik.
Vielen Dank.
({9})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Thomas Feist von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Bildungsfreunde!
({0})
Im Wesentlichen lässt sich zu den uns hier vorliegenden
Anträgen Folgendes sagen: Erstens. Sie sind ihrem Wesen nach nicht neu. Zweitens. Sie sind ihrem Inhalt nach
nicht besonders innovativ. Drittens. Sie sind in ihren Begründungen zumindest teilweise recht originell. - Originell ist es allerdings nicht, dass es offenbar der Reflex
auf öffentliche Diskussionen der letzten Wochen ist, der
die Opposition zu diesen Anträgen geführt hat. Hilfreicher als derart reflexartige Handlungen wäre es, halbgare Bildungskonzepte nicht erst dann aus dem Hut zu
zaubern, wenn sich auf der Flamme öffentlicher Diskussion daraus das eigene politische Süppchen kochen lässt.
Es erstaunt mich nicht, dass die Aussagen des Koalitionsvertrages zu konkreten Maßnahmen wie Bildungsbündnissen vor Ort, dem Ausbau der Bildungsfinanzierung und dem Primat schulischer Qualität von den
Antragstellern offenbar nicht zur Kenntnis genommen
wurden.
({1})
Das ist der Blickwinkel der Opposition, das ist nicht anders zu erwarten.
({2})
Es erstaunt zumindest teilweise, dass unter der Überschrift „Bildungspolitik“ in allen drei Anträgen fast ausschließlich Aussagen zur Sozialpolitik zu finden sind.
Ich wünsche mir ganz persönlich in Zukunft etwas weniger Wiederholungen altbekannter Statements und etwas
mehr Beharrlichkeit im Thema.
({3})
Wirklich erstaunlich ist der Umstand, dass in keinem
der Anträge etwas dazu steht, wie eine Erhöhung der
Qualität von Bildung erreicht werden kann. Es darf zumindest bezweifelt werden, dass dies durch eine Absenkung oder gar durch den Wegfall jeglicher Zugangsbeschränkungen zum Studium oder durch die in den
Anträgen ausführlich beschriebenen Rundum-sorglosPakete für Abiturienten möglich ist.
({4})
Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass der in allen Anträgen beschworene Standortvorteil durch fehlende Studiengebühren dem Standortvorteil durch exzellente Lehre
und Forschung bei gleichzeitig erhobenen Gebühren
überlegen ist. Den Beweis dafür sind Sie schuldig geblieben.
({5})
Ein Weiteres kommt hinzu: Die in den Anträgen beschworene Zwangsläufigkeit der Aufnahme eines Studiums nach abgelegtem Abitur widerspricht der Wahlfreiheit des Einzelnen,
({6})
für die Sie doch sonst immer so vehement eintreten. Fast
- aber nur fast - könnte man meinen, Sie instrumentalisieren Studierende für Ihre eigenen politischen Zwecke,
ohne tatsächlich an den jeweiligen Bildungsbiografien
junger Menschen interessiert zu sein.
({7})
Zu den einzelnen Anträgen. Der Vorschlag der SPD
ist geradezu visionär, und man müsste dazu gratulieren,
wenn er nicht unlängst von der bildungspolitischen Realität überholt worden wäre. Es ist schade für die Pointe
Ihres Antrages, dass mittlerweile bereits ein Großteil
dessen eingelöst ist, was Sie fordern, und dies, ohne dass
ein Pakt - in welcher Form und von wem auch immer notwendig gewesen wäre.
({8})
Mit der Anpassung der ländergemeinsamen Strukturvorgaben hat die Kultusministerkonferenz vom 10. Dezember dieses Jahres einen ganz wesentlichen Beitrag
zur Beseitigung bestehender Fehlentwicklungen bei der
Umstellung der Studiengänge geleistet. Die Regelstudienzeiten werden demzufolge flexibilisiert, und Mobilitätsfenster innerhalb des Studiums gewährleisten zukünftig die erforderlichen Zeiträume für Aufenthalte der
Studierenden an anderen Hochschulen.
Der Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
aus dem Solizuschlag einen Bildungssoli zu machen, ist
- so stellt er sich nach außen dar - der wirklich große
Wurf, die geniale Eingebung, auf die wir und die Bildungslandschaft im Besonderen schon immer gewartet
haben.
({9})
Schade ist nur, dass er eines völlig außer Acht lässt, dass
nämlich noch nie mehr Geld für Bildung bereitgestellt
wurde als heute.
Zu einer zukunftsfähigen finanziellen Ausstattung der
deutschen Bildungslandschaft gehört allerdings auch, die
richtigen Prioritäten zu setzen. Hier hat die Koalitionsregierung konkrete Vorschläge unterbreitet. Sie lauten:
BAföG-Erhöhung, Stipendiensystem und Bildungssparen. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung selbst eingesetzten Sperrvermerke sind für mich
ein gutes Signal, dass das Parlament angemessen an den
weiteren Entscheidungen beteiligt wird.
({10})
Das in gewohnt klassenkämpferischer Manier verfasste Papier der Linken lasse ich an dieser Stelle unkommentiert.
({11})
Breiten wir so kurz vor Weihnachten den großen Mantel
der christlichen Nächstenliebe darüber.
Abschließend möchte ich noch kurz auf die Studentenproteste eingehen. Es ist wichtig, dass wir als Bildungspolitiker auch weiterhin mit denjenigen Studentenvertretern im Gespräch bleiben, für die der Begriff
„konstruktiver Dialog“ keine Kapitulationserklärung an
das System, sondern Grundlage allen Streits um eine
kontinuierliche Verbesserung unserer Bildungslandschaft ist. Hierbei muss erstens gelten: gleiche Chancen
für alle statt Gleichmacherei, und zweitens müssen Verantwortung des Staates und persönliche Verantwortung
des Einzelnen sich ergänzen.
({12})
Noch wichtiger ist allerdings, dass sich die Opposition
nicht in einer Debatte über Pakte verzettelt, sondern mit
Blick auf eine gute Bildung in unserem Land mit anpackt. Handlungsfelder dafür bieten sich in den bildungspolitischen Aktivitäten der jetzigen Bundesregierung zuhauf. Neben der schon erwähnten Erhöhung der
Bedarfssätze und Freibeträge sowie der Anhebung der
Altersgrenze beim BAföG ist hier auch die erhebliche
Steigerung der Investitionen in Bildung und Forschung,
in die Zukunft und in die Menschen in diesem Lande zu
nennen.
Zusammengefasst wäre es für die Bürger unseres
Landes ein wichtiges Signal, wenn die Opposition sich
fürderhin auf konstruktive Äußerungen zur Bildungspolitik beschränkt und die Gesetze zur Verbesserung der
Studienrahmenbedingungen und der Studienfinanzierung demnächst im Deutschen Bundestag gemeinsam
mit uns beschließt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Herr Kollege Feist, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/109, 17/119 und 17/131 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Übertragung der bundeseigenen Seengewässer
auf die neuen Länder
- Drucksache 17/238 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Privatisierung von Äckern, Seen und
Wäldern
- Drucksache 17/239 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Hacker von
der SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Praxis der Seenverkäufe durch die BVVG
schlägt hohe Wellen, um es einmal bildhaft darzustellen,
zum Beispiel rund um den Malchiner See. Mitten im
wunderschönen Naturpark Mecklenburgische Schweiz
gelegen, bietet der Malchiner See auf mehr als acht Kilometern Länge vielen Menschen einen Raum für Erholung und für Tourismus. Wenn der Winter kommt - wir
hoffen das immer noch -, ist er ein Ort zum Eislaufen.
Aber auch bei Anglern und Eisseglern ist dieser See sehr
beliebt. Das ganze Jahr über fahren Angeltouristen an
diesen See, um einen Hecht, einen Zander oder einen
Aal zu fangen. Das alles könnte in Gefahr geraten, wenn
die Privatisierung der bundeseigenen Seengewässer wie
bisher fortgesetzt wird. Die SPD-Bundestagsfraktion hat
deswegen diesen Antrag eingebracht mit dem Ziel, die
betreffenden Seengewässer auf die neuen Länder, konkret: auf die Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, zu übertragen und - solange dies noch nicht
geschehen ist - die öffentliche Ausschreibung zu stoppen.
Wie kommt es zu dieser Privatisierung, zu den Verkäufen von Seengewässern? Ich rufe in Erinnerung: Mit
der deutschen Einheit sind dem Bund diese Seen zugefallen. Ungefähr 14 000 Hektar Gewässerflächen sind
bereits verkauft worden. Wir müssen sicherstellen, dass
Touristen und Erholungssuchende, Angler und Fischer,
die dort gewerbsmäßig arbeiten, freien Zugang zu diesen
Seen behalten. Ein weiterer Verkauf von Seengewässern
nach Marktbedingungen führt dazu, dass diese Flächen
der Allgemeinheit nicht mehr zugänglich sind.
({0})
Es muss ein Verfahrensweg gefunden werden, mit dem
dies verhindert wird. Diesem Ziel dient unser Antrag.
Unser Antrag zielt darauf ab, die Übertragung des Eigentums auf die jeweiligen Länder zu ermöglichen, und
zwar unentgeltlich. Ich bin optimistisch, dass dieser Vorschlag, der im Antrag enthalten ist, bei den Ländern auf
große Zustimmung stoßen wird. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine Debatte im Schweriner Landtag, in
der sich alle Fraktionen für diesen Weg ausgesprochen
haben, Herr Kollege Rehberg.
({1})
Ich erinnere daran, dass diese Thematik auch Gegenstand der Beratungen im Bundesrat sein wird. Ich zeige
Ihnen morgen gerne einen Brief Ihrer ehemaligen Kollegen aus der CDU-Landtagsfraktion, die mich ausdrücklich aufgefordert haben, mich in diesem Sinne im Bundestag zu engagieren.
({2})
Ich bin froh, dass ich bei der CDU in Mecklenburg-Vorpommern Unterstützung für diesen Antrag gefunden
habe. Ich freue mich darauf, wenn sich die Kollegen der
CDU aus Mecklenburg-Vorpommern heute klar positionieren und für diesen Antrag stimmen.
({3})
Der Antrag greift wichtige Aspekte des Natur- und
Umweltschutzes auf, die verloren gehen würden, wenn
die Verkaufspraxis so fortgeführt würde. Ich erinnere daran, dass viele Menschen, die in Regionen leben, in denen Seen privatisiert werden sollen, tief betroffen sind.
Dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages liegen Petitionen mit über 84 000 Unterschriften vor, Herr
Rehberg. Ich würde es als ein Zeichen der Wahrnehmung von Mitwirkungsrechten der Bürger ansehen,
wenn dieses Bürgeranliegen ernst genommen wird, dementsprechend die Privatisierungspolitik gestoppt wird
und mit einem Gesetz, das wir einfordern, eine Neuregelung geschaffen wird. Die Länder in Deutschland sind
verpflichtet, europäisches Recht umzusetzen, das heißt,
zur Gewässerreinhaltung und zu einer ökologisch günstigeren Gewässerbilanz beizutragen. Schon das hat viel
Geld gekostet, und es kostet noch mehr Geld. Es wäre
unverantwortlich, wenn die Gewässer, in die bereits investiert worden ist, jetzt nicht mehr öffentlich zugänglich wären, wenn diese der öffentlichen Hand entzogen
würden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam die bisherige Privatisierungspolitik der BVVG,
die eine gesetzliche Grundlage hat - das will ich gar
nicht in Zweifel ziehen -, überdenken und in den Ausschussberatungen einen Weg finden, diese Regelung im
Interesse von Mensch und Natur zu überarbeiten. Wir
leisten damit den Interessen von Anglern, Fischern, Touristen und Badebesuchern und nicht zuletzt den Generationen, die nach uns diese Gewässer nutzen möchten und
sich dort an der Tier- und Pflanzenwelt erfreuen wollen,
einen Dienst.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, verbunden mit der Einladung zu einer guten Beratung in den
Ausschüssen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Privatisierung ehemals volkseigener
Flächen durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, die BVVG, erregt derzeit einige Gemüter,
nicht nur die der SPD und der Linken. Aber geht es hier
im Kern wirklich um die Frage der Privatisierung, also
um die Form des Eigentumsübergangs? Sowohl die Formulierungen in Ihren Anträgen als auch die Ausführungen des Kollegen Hacker eben deuten auf etwas ganz anderes hin. Es geht im Kern um zwei andere Fragen,
nämlich um die der sozialverträglichen Nutzung des erworbenen Eigentums und um die Frage des Preises; das
haben Sie eben angesprochen.
Zunächst zur sozialverträglichen Nutzung. In den Anträgen - der Brandenburger Landesverband des BUND,
die Linkspartei und der Verein „pro Mellensee“ haben
eine entsprechende Petition eingereicht, auf die Sie eben
hingewiesen haben - wird darauf ausdrücklich hingewiesen; denn sie enthalten die Kernforderung, Seen als
Allgemeingut zu erhalten und den öffentlichen Zugang
zu den Seen auch künftig sicherzustellen. Diese Ziele
sind in der Tat schützenswert. Eine Privatisierung kann
nicht in Widerspruch zu dem Gemeinnutz dort stehen.
Insofern ist bei einer Privatisierung dieser Gemeinnutz
sicherzustellen.
({0})
Es gibt bei Privatisierungen immer dieselben Befürchtungen.
({1})
Tatsächlich haben sich diese Befürchtungen bisher aber
fast nie realisiert. Es wurde der Fall Wandlitzsee angesprochen. Dieser Fall liegt nun fünf Jahre zurück. Das
Ganze war überhaupt nur möglich, weil es im brandenburgischen Landesrecht in dieser Hinsicht eine Lücke
gab, die im Übrigen in der Zwischenzeit gefüllt wurde.
({2})
- Das kommt noch hinzu. Aber hier bestand auf Landesebene eine Rechtslücke. Das war vor fünf Jahren.
Die vom Bund beauftragte BVVG lässt sich beim
Verkauf von Wasserflächen nämlich nicht allein von der
Erlösmaximierung leiten. Schon heute werden Seen zunächst der Kommune angeboten. Kauft diese nicht, wird
geklärt, welche Sozialverträglichkeit dort gefordert wird.
Es wird vertraglich sichergestellt, dass schützenswerte
Interessen der Allgemeinheit berücksichtigt werden.
Dies können zum Beispiel Anlagen sein, die der Freizeit
und Erholung oder touristischen Zwecken dienen oder
die öffentliche Zugänge zu den Seen sichern.
Darüber hinaus untersteht der Gemeingebrauch von
Seen nach Maßgabe vieler Landesgesetze - egal ob es
die Landeswassergesetze, die Wegegesetze oder die
Forstgesetze sind - einem besonderen Schutz. Auch jeder Privateigentümer muss diesen Gemeinnutz an seinem Eigentum dulden. Ich habe es eben bereits gesagt:
Auch im Falle des Wandlitzsees ist dies in der Zwischenzeit im Rahmen einer neuen gesetzlichen Regelung des
Landes Brandenburg geschehen
Erst wenn eine Kommune Seenflächen nicht erwirbt
und diese fischereiwirtschaftlich genutzt werden, wird
mit den Fischern verhandelt. Erst danach schreibt die
BVVG diese Seenflächen aus.
({3})
Auch in diesen Fällen gelten die genannten gesetzlichen
Vorschriften. Folgendes soll nicht verschwiegen werden:
Bisher sind über 3 000 Hektar unentgeltlich auf die
NABU-Stiftung Nationales Naturerbe übertragen worden. Auch das ist ein Beleg dafür, dass hier dem Allgemeingut ein besonders hoher Wert beigemessen wird.
({4})
Dennoch - Sie haben es eben angesprochen - fordert
nun der Landtag Mecklenburg-Vorpommern im Einklang mit den hier gestellten Anträgen eine kostenlose
Übertragung der Seen. Damit komme ich zum zweiten
Kritikpunkt, zur Frage des Preises. Die BVVG hat den
gesetzlichen Auftrag, zu privatisieren,
({5})
und wird damit im Interesse des Allgemeingutes tätig;
denn sie erlöst damit Einnahmen, die dem Bundeshaushalt zugutekommen. Gerade Sie von der SPD und der
Linken bringen immer wieder neue Anträge ein, die ausgabenwirksam sind. Dort, wo man Einnahmen generieren kann, wollen Sie sich zurückhalten. Dies ist ein
widersprüchliches Verhalten.
({6})
Aber auch wir wollen gar nicht verhehlen, dass es
zum Teil Unmut über die Privatisierungspraxis gibt.
Deswegen müssen neue Antworten gefunden werden;
das ist gar keine Frage. Die Lösung muss aber in einem
gerechten Interessenausgleich und kann nicht in einem
Verschenken von Bundesvermögen liegen.
({7})
Deshalb muss die BVVG ihr mehrstufiges Verkaufsverfahren zukünftig weiter verfeinern. Dazu gehört unter
anderem, dass sie zunächst einmal mit Kommunen, Fischereipächtern und Naturschutzeinrichtungen verhandelt. Das sollte sie nicht auf der Basis von Höchstpreisen
tun - hier hat sich in der Vergangenheit eine preistreiberische Wirkung entfaltet, die nicht nur positiv war -,
sondern künftig auf der Basis von Verkehrswerten, die
per Gutachten ermittelt werden. Wenn es um Seen geht,
muss man die Ertragswerte zugrunde legen, um tatsächlich zu realistischen Preisen verkaufen zu können.
({8})
Wenn ich hier von „Kommunen, Fischereipächtern
und Naturschutzeinrichtungen“ spreche, heißt das nicht,
dass Länder keine Erwerbsmöglichkeit haben sollen.
Gerade mit Blick auf den Beschluss des Schweriner
Landtages kann ich hier sogar ausdrücklich erklären,
dass auch ein Paketerwerb möglich ist, aber eben nicht
zum Nulltarif. Angesichts der schwierigen Finanzlage
der Länder können wir zwar Verständnis für den Wunsch
der Länder haben, kein Geld in die Hand zu nehmen,
weil sie das vielleicht nicht können, ohne neue Kredite
aufzunehmen; aber wenn ein Landtag einstimmig den
politischen Willen dazu formuliert, muss es doch möglich sein, einen Flächentausch durchzuführen: Durch eiNorbert Brackmann
nen Tausch von Acker- oder Forstflächen gegen Seenflächen könnten die Länder zu einem vernünftigen
Ergebnis kommen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel heißt deshalb: fairer Interessenausgleich statt Verschenken von
Bundesvermögen.
Danke schön.
({10})
Herr Kollege Brackmann, ich gratuliere auch Ihnen
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann
von der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fast
20 Jahre nach der Wiedervereinigung holen uns die Geburtsfehler erneut ein. Einer der Geburtsfehler ist tatsächlich der Umgang mit dem einstigen Volkseigentum.
({0})
Das Volkseigentum umfasste Unternehmen, Betriebe,
Wohngebäude - zum Teil in einem schlechten Zustand -,
aber auch Seen, Wälder, Forste und landwirtschaftliche
Flächen.
Ich möchte einen kurzen historischen Diskurs machen: Die letzte Volkskammer hat 1990 das Treuhandgesetz - das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation
des volkseigenen Vermögens - beschlossen. Dieses Gesetz wurde eins zu eins in den Einigungsvertrag übernommen. Damit wurde aus Volkseigentum Bundesvermögen.
({1})
Im Kern ging es zunächst um die Betriebe. Das war völlig richtig. 1992 wurde dann als Geschäftsbesorger für
Grund und Boden, Wälder und Seen usw. die Bodenverwertungs- und Verwaltungs GmbH mit dem klaren gesetzlichen Auftrag zur Privatisierung des Vermögens gegründet. Das Volkseigentum sollte also meistbietend
verscherbelt werden. Circa 4 Milliarden aus diesem Vermögen sind inzwischen in den Bundeshaushalt geflossen.
Ich danke für das Beispiel Wandlitzsee. Dieses Beispiel würde ich gerne aufnehmen, denn er liegt in meinem Wahlkreis. Auch der Wandlitzsee ist meistbietend
verscherbelt worden. Er ist keine kleine Pfütze, sondern
ungefähr 500 Fußballfelder groß. Er ist ein Riesensee
mit einer 1-a-Wasserqualität. Zunächst wurde er der
Kommune für 400 000 Euro angeboten. Aber, liebe
Leute, welche Kommune kann sich das leisten? Da kann
auch kein Fischer hergehen und sagen: Ich kauf mal
eben für 400 000 Euro einen See. Genau das ist auch
nicht passiert. Der Käufer war ein Immobilienhai, er bekam freie Hand und konnte seinen Besitz sozusagen in
klingende Münze überführen. Im Kaufvertrag war weder
eine Mehrerlösklausel noch eine Umwidmungsklausel
enthalten. Auch die Folgen aus der Verlandung des Sees
waren überhaupt nicht berücksichtigt.
Beim Wandlitzsee hat man Folgendes gemacht: Man
hat nicht den See, sondern ein Flurstück verkauft. Durch
die Verlandung des Sees war sozusagen das Flurstück
größer als der See. Die Folge war, dass Anrainer plötzlich nicht mehr an den See herankamen. Das heißt, der
Käufer des Sees forderte die Anrainer auf, die Grundstücke zu horrenden Preisen zu kaufen. Der Seglerverband
am Wandlitzsee beispielsweise kam nicht mehr an den
See heran, weil er keinen Zugang mehr zu seinem Steg
hatte. Das war die Folge dieser Art von Privatisierung.
Wir sagen ganz klar: Damit muss Schluss sein. Es
muss Schluss sein mit dieser Art von Privatisierung. Dagegen haben sich gerade in diesem Jahr sehr viele Bürgerinnen und Bürger vor allen Dingen in den neuen Bundesländern gewandt. Das hat dazu geführt, dass zunächst
ein Moratorium beschlossen worden ist, aber dieses Moratorium läuft Ende dieses Jahres aus.
Wer glaubt, dass die BVVG dann anders handelt, der
muss sich getäuscht sehen. Ich erhielt erst im Oktober
dieses Jahres einen Brief von Herrn Dr. Horstmann, dem
Sprecher der Geschäftsführung der BVVG. Dort teilt er
mir mit - ich zitiere Herrn Dr. Horstmann -:
Bei einer Wiederaufnahme der Seenprivatisierung
nach Beendigung des Moratoriums wird die BVVG
die ihr übertragenen Seen weiterhin in einem mehrstufigen Verfahren privatisieren.
Das Moratorium endet im Dezember dieses Jahres, und
die BVVG kündigt schon jetzt an, dass sie mit der Privatisierung weitermachen wird.
Deswegen fordert die Linke zum einen: Wir brauchen
eine Verlängerung des Moratoriums. Zum anderen brauchen wir eine Änderung des gesetzlichen Auftrages;
denn mit dem Moratorium allein ist es nicht getan. Das
heißt, es muss die Möglichkeit bestehen, Seen unentgeltlich an die Länder und Kommunen zu übertragen. Diese
Möglichkeit müssen wir schaffen.
({2})
Liebe Genossinnen und Genossen
({3})
von der SPD, lieber Hans-Joachim Hacker, es geht eben
nicht nur um die Seen, und das weißt du sehr wohl. Es
geht nach wie vor auch um Forstflächen, Wälder und
landwirtschaftliche Flächen. Dort sind die Pachten in gewaltigen Größenordnungen erhöht worden, mit Druck
wurde privatisiert. Wir dürfen nicht nur die Seen, sondern wir müssen auch die Forsten und die landwirtschaftlichen Flächen im Blick behalten. Dafür brauchen
wir vernünftige gesetzliche Regelungen. Lasst uns das
gemeinsam anpacken.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worüber reden wir hier? Wir reden über die Privatisierung von Seen als letzte Konsequenz. Bevor Seen in
die Auktion gehen, werden zuerst gefragt: erstens die
Anrainerkommunen,
({0})
zweitens die Fischereipächter,
({1})
drittens die Naturschutzorganisationen.
({2})
Sie haben ein Vorkaufsrecht.
({3})
Sie können die Seen zu einem Preis erwerben, der in der
Auktion später nicht möglich ist. Ein Verkauf an Privat
kommt somit nur als letzte Konsequenz infrage.
({4})
Aber auch dann haben die Kommunen natürlich noch ein
Mitspracherecht bei den Verkaufsverhandlungen, in denen zum Beispiel die Zugänglichkeit eingeplant werden
kann.
Das Problem, das Sie ansprechen, relativiert sich ein
wenig. Es ist aber dennoch wichtig; denn Seen sind natürlich ein ganz wichtiges Naturschutzgebiet.
({5})
Sie sind außerordentlich wichtig für die regionale Identität. Sie sind Lebensraum für Tiere, für Pflanzen, manchmal auch für Angler.
({6})
Mithin müssen wir die Zugänglichkeit zu den Seen garantieren.
Die Opposition will die Seen an die Länder und Kommunen, wenn man das so sagen möchte, verschenken.
Das hört sich gut an. Was aber ist die Folge davon?
Erstens. Haben wir aufgrund unserer Verantwortung
gegenüber dem Steuerzahler überhaupt das Recht - das
wurde schon angesprochen -, Seen zu verschenken?
({7})
Haben Sie, wenn man das so sagen möchte, nicht ein Erklärungsproblem, wenn Sie sagen, dass Steuersenkungen
den Staat arm machen, Sie andererseits aber Immobilien
verschenken wollen? Gibt es da nicht eine Differenz, die
Sie erklären müssen? Die müssen Sie erklären.
({8})
Zum Zweiten ist es natürlich auch wichtig, zu wissen,
ein See kostet auch Geld, wenn man ihn hat. Die Bewirtschaftung kostet Geld. Wenn Sie einer Kommune einen
See schenken, kann es gut sein, dass sich Ihr Geschenk
hinterher als faules Ei im Gemeindesäckel erweist, wenn
die Rechnung präsentiert wird.
({9})
Wer sich den Kauf eines Sees nicht leisten kann, wird
sich auch die Haltung nicht leisten können.
({10})
Ich möchte Sie wirklich bitten, nicht von Einzelfällen
auf die Gesamtumstände zu schließen. Das ist immer
schwierig.
({11})
Es wird, wenn man das so sagen möchte, keine „Seeheuschrecken“ geben, die über das Land fliegen, irgendwo
einfallen, sich die Seen unter den Nagel reißen und diese
Seen für die Bevölkerung sperren. Das wird es nicht geben. Das ist mitnichten so.
({12})
Auch ein Privatmann kann, wenn er einen See erwirbt,
Tourismus, Erholung oder die Fischerei noch lange nicht
verbieten; denn Art. 14 Abs. 2 unseres Grundgesetzes
besagt:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Gerade deshalb besagen die Wassergesetze der Länder,
die Sie sicherlich kennen, trotz ihrer Unterschiedlichkeit
einheitlich: Baden, Bootfahren oder Eissport ist auf allen
Seen erlaubt, völlig egal, ob sie privat oder ob sie öffentlich sind.
({13})
Ein Erwerber kann einen See nicht einfach so umgestalten, wie er das möchte. Alle Nutzungsänderungen,
die er vornehmen möchte, bedürfen einer wasserrechtlichen Genehmigung. Die wird von den Behörden erteilt.
Diese Genehmigungen orientieren sich natürlich immer
am Wohle der Allgemeinheit.
Patrick Kurth ({14})
({15})
Sie erwecken diesen Eindruck: Da kommen die seelenlosen Millionäre - das schwingt so mit: der Arzt aus
Hamburg, wenn man so möchte ({16})
und holen sich den Privatsee zur exklusiven Nutzung.
Dass das nicht geht, habe ich gerade gesagt. Wenn man
Ihnen folgen würde, wäre es aber auch ausgeschlossen,
dass Verbände, zum Beispiel Naturschutzorganisationen,
einen See erwerben können. Das wird hier vergessen.
({17})
Meine Damen und Herren insbesondere von der SPD,
hüten Sie sich bitte davor, Privateigentum generell abzulehnen oder gar zu verteufeln.
({18})
Den Grundsatz, dass nur staatliches Eigentum dem Allgemeinwohl dienen kann, haben wir vor 20 Jahren über
Bord geworfen. Der ist ins Wasser gefallen.
({19})
Aus unserer Sicht ist es der falsche Ansatz, die Privatisierung von Seen in Ostdeutschland pauschal auszuschließen und das Moratorium zu verlängern. Es muss
vielmehr darum gehen, das bestehende Recht durchzusetzen, wenn jemand tatsächlich auf die Idee kommt,
sich einen See zu kaufen und einen Zaun darum herumzubauen. Dafür sind die Ordnungsbehörden zuständig.
({20})
Wenn wir danach vorgehen, dann kommt in den allermeisten Fällen ein gerechter Ausgleich zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen und damit auch
den Interessen der Bürgerinnen und Bürger zustande.
Letztlich - Frau Enkelmann hatte das Stichwort
„volkseigene Ländereien“ am Anfang ihrer Rede genannt - möchte ich daran erinnern, dass diese betroffenen Seen von der sowjetischen Besatzung enteignet wurden. Das heißt, sie waren vorher in Privatbesitz. Wenn
die Länder oder die Kommunen die Gewässer jetzt nicht
haben wollen, wird mit einer durchgeführten Privatisierung nichts anderes als der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt. Das wird 60 Jahre nach Kriegsende Zeit;
das ist überfällig.
Herzlichen Dank.
({21})
Herr Kollege Kurth, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich ja, dass so eine Stimmung im
Hause ist.
({0})
Es ist aus meiner Sicht ausgesprochen erfreulich, dass
das öffentliche Interesse an Seen und anderen Gewässern jetzt in der Politik eine breitere, fraktionsübergreifende - ich schaue jetzt in eine bestimmte Richtung Lobby zu bekommen scheint. Der Wechsel von den Regierungssesseln auf die den Blick schärfenden Bänke der
Opposition war bei der einen oder dem anderen wohl
ganz hilfreich.
({1})
Erstaunlich ist allerdings, mit welchem Tempo plötzlich alle auf dieses Thema aufspringen. Die Zahl der
dazu im Dezember im Bundestag, Bundesrat und in den
Länderparlamenten eingebrachten Anträge ist beachtlich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir das
Thema hier an gleicher Stelle vor nicht ganz sieben Monaten schon einmal debattiert haben. Aber zu diesem
Zeitpunkt war die Problemlage außerhalb unserer bündnisgrünen Fraktion und der Fraktion der Linken scheinbar kaum jemandem bekannt. Zumindest gab der geschätzte Kollege Luther für die CDU/CSU damals zu
Protokoll, dass ihm nicht bekannt sei, dass der Bund
Seen besitzt und diese privatisieren will. Die SPD vertrat
die Position, dass es keine Fälle gebe, bei denen die bestehende Praxis zu Problemen geführt hätte, die einer
Neuregelung bedürften.
({2})
Ich gehe einmal davon aus, dass nun auch unsere Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD Fälle wie
der des Verkaufs des Wandlitzsees im Norden von Berlin
zu Ohren gekommen sein dürften. Hier hat der schon erwähnte Immobilienkaufmann aus Düsseldorf nach dem
Erwerb des Sees alle Anwohner aufgefordert, ihre bestehenden Stege am See von ihm zu kaufen oder zu pachten. Wer nicht dazu bereit war, wurde postwendend verklagt. Auch die Gemeinde musste für die Benutzung des
bestehenden Strandbades an den neuen Besitzer zahlen.
Es handelte sich immerhin um 50 000 Euro, die man bei
einem gerichtlichen Vergleich ausgehandelt hatte.
So sehr wir es begrüßen, dass unsere bündnisgrünen
Forderungen nun endlich Nachahmer finden, über den
Weg, wie wir Seen als Allgemeingüter sinnvoll erhalten
können, gibt es noch eine ganze Menge Aufklärungsbedarf.
({3})
Denn den verschiedenen, nicht nur im Bundestag vorliegenden Anträgen ist - bei positiver Ausnahme des Antrags der Linken - vor allem eines gemeinsam: Anstatt
für ein konsequentes Ende der Privatisierung zu plädieren, steht die kostenlose Übertragung der Gewässer an
die Länder oder Kommunen im Vordergrund. Das ist
aber nicht dasselbe wie ein Stopp der Privatisierung. Der
Verdacht liegt nahe, dass das allen Beteiligten bewusst
ist. Wir Bündnisgrüne treten dafür ein, dass in Zukunft
keine Gewässer mehr veräußert werden dürfen, bei denen sowohl aus ökologischen als auch aus Erholungsund touristischen Gründen ein Gemeinwohlinteresse besteht.
({4})
Dies lässt sich am besten dadurch absichern, dass
diese Gewässer in der öffentlichen Hand, in der Hand
des Bundes, verbleiben. In allen anderen Fällen muss es
über den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einen Parlamentsvorbehalt geben. Nur so ist eine
wirkungsvolle demokratische Kontrolle zur Einhaltung
des Privatisierungsstopps möglich. Eine bloße Übertragung an die Länder, wie von der SPD und den Ländern
Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gewünscht,
gewährleistet diese demokratische Kontrolle gerade
nicht. Sie überlässt die Entscheidung zum Verkauf den
Länderbehörden. Dass diese in Zeiten klammer Kassen
Interesse an einer finanziellen Verwertung haben könnten, dürfte für viele, auch hier im Deutschen Bundestag,
nicht neu sein.
Um Gemeingüter wie Seen dauerhaft für die Allgemeinheit zu bewahren, sollte der Deutsche Bundestag
die bisher geübte Verkaufspraxis durch ein Gesetz beenden. Die Bevölkerung in den betroffenen Regionen wartet schon lange auf ein entsprechendes Signal von uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Das sage ich ganz bewusst vor allem
in Ihre Richtung, meine Herren und Damen von der
Koalition.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Rehberg von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe wirklich den Eindruck, dass einige
Kolleginnen und Kollegen an einem ungeheuren Gedächtnisschwund leiden. Wenn die SPD in der Begründung ihres Antrages schreibt: „Ein weiterer Verkauf der
noch nicht übertragenen Flächen in den neuen Bundesländern lässt befürchten, dass Badestellen, Stege und
Wasserflächen nicht mehr durch Touristinnen und Touristen oder Anglerinnen und Angler genutzt werden können sowie das Fischereigewerbe beeinträchtigt wird“,
dann frage ich mich ganz besorgt, Herr Kollege Hacker:
Was hat sich in den letzten sechs Monaten geändert?
({0})
Der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller beantwortete am 15. Juni 2009 die Frage: „Beabsichtigt die
Bundesregierung, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen,
um die zum Verkauf stehenden Seen in den neuen Ländern als öffentliches Allgemeingut zu erhalten?“ der
Kollegin Reiche von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
wie folgt - ich zitiere -:
Die Bundesregierung hält eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen nicht für erforderlich.
Weiter wird dann ausgeführt, dass alles in Ordnung sei.
Oder: In der Debatte am 28. Mai 2009 im Deutschen
Bundestag führte der Kollege Ernst Bahr aus Neuruppin
unter anderem aus:
Es ist erfreulich, dass sich die Ziele des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den bestehenden Regelungen zur Gewässerprivatisierung decken.
Weiter formulierte er, ihm sei kein Problemfall bekannt,
und er sehe keinen Handlungsbedarf.
({1})
Verlogener, Herr Kollege Hacker, geht es wirklich
nicht.
({2})
Sie führen hier doch einen politischen Mummenschanz,
eine politische Show auf, nicht mehr, aber auch nicht
weniger.
({3})
Zu Ihnen, Frau Kollegin Behm. Wandlitz wurde 2004
privatisiert. Das ganze Verfahren mit der Kommune,
ebenso die fischereiwirtschaftliche Nutzung fand davor
statt. Im Jahre 2004 ist auch das Land Brandenburg eingebunden gewesen. 2004 hat Rot-Grün regiert. Warum
haben Sie bei der Änderung des EALG im Jahre 2001,
wenn Ihnen die Seen so wichtig gewesen sind, nicht darauf gedrungen, dass sämtliche Seen in Eigentum des
Bundes unentgeltlich auf die Länder übertragen werden?
({4})
Das haben Sie zum damaligen Zeitpunkt nicht getan,
und Wandlitz war im Jahre 2004.
Herr Kollege Rehberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hacker?
Herzlich gerne, Herr Präsident.
Bitte schön, Herr Hacker.
Lieber Herr Kollege Rehberg, haben Sie den Pressemeldungen entnommen und zur Kenntnis genommen,
dass diese Frage gerade in den letzten Monaten in den
betroffenen Ländern Brandenburg und MecklenburgVorpommern hochgekommen ist
({0})
und dass der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, in
Schwerin, vor diesem Hintergrund über diese Frage diskutiert hat? Ich möchte dies mit der Feststellung untermauern,
({1})
dass der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk
auf eine entsprechende Anfrage geantwortet hat:
Die Bundesregierung hat den betroffenen Ländern
ein Gesprächsangebot zu den Seen unterbreitet.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Situation, wie
sie jetzt ist, für anders als vor einem Jahr. Deswegen ist
es notwendig, dass wir ({2})
- die Praxis der Privatisierung verändern, Herr Kollege
Rehberg. - Ist Ihnen das bekannt?
({3})
Herr Kollege Hacker, weil Sie sich von BUND, Linken und Grünen unter Druck gesetzt gefühlt haben, sind
Sie auf diesen Zug aufgesprungen.
In den letzten Monaten hat sich an der Situation außer
der Problematik Wandlitz, was aber auch mit ehemals
gültigem Landesrecht etwas zu tun hat, nichts, aber auch
gar nichts geändert. Wissen Sie, was der Antrag von
SPD und CDU im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist? Er könnte möglicherweise auch als eine Art
Aufforderung zum Rechtsbruch gegenüber der Bundesregierung verstanden werden, eine Aufforderung, sich an
gesetzliche Grundlagen, an denen Sie übrigens persönlich - am 17. Juni 1990 und bei der Verabschiedung des
Einigungsvertrages in der Volkskammer - maßgeblich
mitgewirkt haben, nicht mehr zu halten.
({0})
Eine zweite Anmerkung. Sie haben einen Teil der
Antwort, die der Parlamentarische Staatssekretär
Koschyk gestern gegeben hat, vergessen. Er hat nämlich
vorab gesagt, dass das Land Brandenburg - und man
kann das Land Mecklenburg-Vorpommern mit einschließen - von sich aus nicht aktiv geworden ist. Ganz im Gegenteil: Der Bund ist auf die Länder zugegangen und hat
ihnen ein Gesprächsangebot unterbreitet.
({1})
- Herr Kollege Hacker, ich bin immer noch bei der Antwort.
({2})
Das gehört alles noch zusammen.
({3})
- Aber doch!
Wenn die Länder Mecklenburg-Vorpommern und
Brandenburg wirklich an einer sachgerechten Lösung interessiert sind, dann müssen sie, wenn es Probleme im
Land gibt, auf den Bund zugehen, um Gespräche bitten
und in Verhandlungen eintreten. Staatssekretär Gatzer
hat mit Schreiben vom 16. Dezember den Ländern Gespräche angeboten. Das heißt, der Bund ist initiativ geworden.
({4})
Was Sie hier machen und auch der Landtag - ich
schließe meine Kolleginnen und Kollegen im Landtag
Mecklenburg-Vorpommern mit ein -, so geht man miteinander nicht um, wenn man ein Problem lösen will.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen wir
uns die gesetzlichen Grundlagen an: Das Treuhandgesetz wurde von der Volkskammer verabschiedet, die
SPD hat zugestimmt. Der Einigungsvertrag wurde von
der Volkskammer verabschiedet, die SPD hat zugestimmt. Wenn Sie jetzt für eine unentgeltliche Übertragung der bundeseigenen Seengewässer auf die neuen
Länder plädieren, muss man die Frage stellen: Was machen Sie mit denjenigen, die die 14 000 Hektar, die bisher veräußert wurden, erworben haben,
({5})
und was machen Sie mit den Flächen, die an Naturschutzverbände übertragen worden sind? Soll der Bund
das alles zurückzahlen, oder wollen Sie eine Flut von
Schadenersatzprozessen riskieren?
({6})
- Natürlich ist das begründet: Wenn der gleiche Sachgegenstand zu zwei völlig verschiedenen Werten veräußert
wird, ist es doch begründet, dass der, der viel mehr dafür
bezahlt hat, Schadenersatzansprüche stellt. Wir leben
doch in einem Rechtsstaat.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was Sie
vorschlagen, ist keine Lösung. Eine Lösung wurde zum
Beispiel im Jahr 2007 - übrigens unter einem SPD-geführten Bundesfinanzministerium - mit dem Freistaat
Sachsen gefunden, und zwar eine Lösung in Form einer
Gewässerrahmenvereinbarung für die bergbaulichen Gewässer im Freistaat. Kollege Brackmann hat das angedeutet. Aus meiner Sicht heißt die Lösung: Man setzt
sich miteinander hin und spricht über die Werte, die gutachterlich festgestellt werden können.
({8})
Dann kann man sich zum Beispiel darüber unterhalten,
in welcher Art und Weise die Werte in der Zeitabfolge
übertragen werden können. Ein Flächentausch kann vorgenommen werden. Es ist übrigens so, dass der Hektar
Acker im Schnitt in etwa das 15-Fache wert ist wie der
Hektar See.
Vor einem warne ich: vor unentgeltlicher Übertragung. Ich bin schlichtweg dagegen. Denn wenn man unentgeltliche Übertragung präferiert, heißt das, dass eine
Übertragung im Augenblick nur an Naturschutzverbände
möglich ist. Meine Erfahrungen mit Naturschutzverbänden sind eher so, dass als Erstes Klagen kommen von
Wassersportlern, als Zweites Klagen kommen von Gelegenheitsbesitzern von Bootshäusern, als Drittes Klagen
kommen von Fischern, weil die Naturschutzverbände
das Ganze nämlich sehr restriktiv handhaben. Deswegen
schlagen wir Ihnen den folgenden Weg vor: Bund und
Länder reden miteinander, es gibt einen fairen Interessenausgleich,
({9})
und es wird festgeschrieben, dass die Länder die Seengewässer nicht einfach an Dritte weiterverkaufen können;
denn diese Gefahr besteht auch noch. Dieser Weg ist vernünftig und gangbar.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD,
aus meiner Sicht haben Sie sich heute ein gravierendes
Eigentor geschossen.
Herzlichen Dank.
({10})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Iris Gleicke von der SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will mich heute Abend noch einem zweiten Thema im Rahmen der BVVG-Verkäufe widmen.
Wir haben über die Seen gesprochen, aber es gibt noch
ein zweites Thema, nämlich die Flächen, die in der
Landwirtschaft veräußert werden.
({0})
Immer dann, wenn Pachtverträge auslaufen, stehen
Verkäufe an; das wissen wir. Das hat in der Vergangenheit immer wieder zu großer Unruhe bei den betroffenen
Landwirten geführt. Deshalb war es gut, dass der Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes, Udo Folgart,
mit dem Bundesministerium für Finanzen im August
dieses Jahres - damals unter Peer Steinbrück - ein Moratorium bei der Privatisierung dieser Flächen vereinbart
hat. Die Erleichterung bei den ostdeutschen Landwirten
war allerorten sehr deutlich zu spüren. Mit dieser Initiative war die klare Hoffnung verbunden, dass die Preise
für den Boden, dem Hauptwirtschaftsfaktor für die
Landwirtschaft, realistisch bleiben.
Durch die Verkehrswertverkäufe nur nach Höchstgebot werden die Preise für den Grund und Boden in Ostdeutschland immer weiter in die Höhe getrieben. Der
Durchschnittspreis bei BVVG-Verkäufen lag nach deren
Angaben bei 7 492 Euro pro Hektar. Bei den Verkehrswertverkäufen ohne die BVVG lag er bei 4 507 Euro pro
Hektar. Entschuldigung, aber das ist eine Differenz von
fast 3 000 Euro. Herr Brackmann, es tut mir aufrichtig
leid: Wer hier nicht anerkennt, dass es bei den BVVGVerkäufen tatsächlich um Gewinnmaximierung geht, der
muss auf einem anderen Stern leben.
({1})
Real ist es also so, dass die BVVG die Flächen zu Preisen verkauft, die um 40 Prozent höher liegen, als sie
sonst zu realisieren wären.
Ich will das noch einmal deutlich sagen: Es geht um
den Verkauf von Flächen, die zuvor verpachtet waren
und landwirtschaftlich genutzt wurden und für die die
Pachtverträge jetzt auslaufen. Ortsansässige Agrarbetriebe müssen mit Kapitalanlegern konkurrieren. Auch
das sollte Ihnen an der einen oder anderen Stelle schon
einmal untergekommen sein. Plötzlich konkurrieren die
Landwirte nämlich mit Solarparks und allen möglichen
anderen. Das ist ein ganz großes Problem.
({2})
Wir müssen an dieser Stelle ganz einfach sagen:
Durch diese Konkurrenz werden die Preise immer weiter
nach oben getrieben. Für die Landwirte bedeutet es einen großen Liquiditätsverlust für ihre Unternehmen,
wenn sie diese Flächen kaufen müssen. Für die Landwirtschaft ist es also klar: Kleine Landwirte können sich
diesen Boden schlicht und ergreifend nicht mehr leisten.
Ich bin froh über die positiven Signale, die aus der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum BVVG-Privatisierungskonzept kommen. Wichtig ist aber, dass es jetzt
auch ein Ergebnis gibt; denn das Moratorium läuft zum
Jahresende aus. Der Auftrag ist klar: Preissprünge, wie
sie in der Vergangenheit stattgefunden haben, müssen
ganz einfach vermieden werden.
({3})
Es geht mir nicht darum, die Flächen zu verschenken,
aber ich weiß natürlich, lieber Kollege Kurth, dass es der
FDP und der CDU/CSU sehr leicht fällt, durch das
Mehrwertsteuerprivileg 1 Milliarde Euro per anno an
Hotellerieketten zu verschenken.
({4})
Den Landwirten in Ostdeutschland zu helfen, bekommen Sie dagegen immer wieder nur in Sonntagsreden
gebacken. Hier geht es aber um praktische Hilfe.
({5})
Es geht um die Existenz der ortsansässigen Unternehmen, die landwirtschaftliche Flächen gepachtet haben, es
geht - darüber wurde vorhin schon gesprochen - um die
Existenz der erwerbsmäßigen Fischereibetriebe, die auf
den Seen der BVVG tätig sind,
({6})
und es geht um die Interessen der Kommunen in Ostdeutschland. Diese Interessen müssen stärker berücksichtigt werden.
Unsere Erwartungen werden in Ostdeutschland von
den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen geteilt,
wenn man sich vor Ort trifft und dort ganz praktisch über
die Probleme spricht.
({7})
Das ist ein wichtiges Thema für die regionalen Wirtschaftsstrukturen im ländlichen Raum. Leider verkennt
die Koalition die Sensibilität dieses Themas völlig. Denn
Sie haben neue Unruhe geschaffen, indem Sie nämlich
jetzt auch noch angekündigt haben, dass Sie die Alteigentümer besserstellen wollen.
({8})
- Das ist Mummenschanz, Herr Kollege Rehberg, um
Ihnen das ganz deutlich zu sagen.
({9})
Frau Kollegin Gleicke, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ich kann Sie nur auffordern, die ostdeutsche Landwirtschaft und die ostdeutschen Unternehmen nicht zu
gefährden. Sie sind nämlich das Rückgrat für die Entwicklung im ländlichen Raum.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/238 und 17/239 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
sowie Zusatzpunkt 9 auf:
15 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Kopfpauschale - Für eine solidarische
Krankenversicherung
- Drucksache 17/240 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Maria Anna Klein-Schmeink, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens
- Drucksache 17/258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Harald Weinberg, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abschaffen - Patientinnen und Patienten entlasten
- Drucksache 17/241 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Harald Weinberg von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! In seiner Rede
zum Koalitionsvertrag hat Minister Rösler eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems, ja geradezu einen Systemwechsel angekündigt und dabei angemerkt,
dass dies nicht einfach zu machen sei. An die Opposition
gewandt, meinte er dann, wenn dies einfach zu machen
sei, dann könne es ja auch die Opposition machen.
({0})
Tosender Beifall bei den Koalitionsfraktionen - ein
Star der Regierung war geboren, scheint es.
({1})
Dabei ist das, was Minister Rösler angekündigt hat, nicht
sonderlich originell.
({2})
Es ist sogar in seiner Einfalt kaum zu überbieten. Sein
Glaubensbekenntnis lautet: Alles wird anders - alles
wird Markt.
({3})
Das ist das Denken der Deregulierer und Marktradikalen. Diese Ideologie der Marktvergötterung hat sich in
den 80er- und 90er-Jahren wie eine Pandemie ausgebreitet und übrigens auch die heutigen Oppositionsfraktionen SPD und Grüne erfasst. Das ist das Denken, das in
die Finanzmarktkrise und dann in die Weltwirtschaftskrise geführt hat. Es ist ein altes Denken, von dem man
meinen sollte, dass es durch die Krise ad absurdum geführt worden sei.
({4})
- Das kommt noch.
Aber dieses alte Denken wird uns jetzt wieder angedient als eine nicht ganz einfache Lösung für die Probleme unseres Gesundheitssystems. Ich meine, das ist
falsch. Das ist bestenfalls Klientelpolitik.
({5})
Stichworte des Koalitionsvertrages sind Vermarktlichung, Privatisierung und die Kopfpauschale. Unabhängig vom Einkommen soll jede und jeder einen gleich
hohen Beitrag in die gesetzliche Krankenversicherung
einzahlen, die berühmte Lidl-Verkäuferin genauso viel
wie ein leitender Angestellter, wobei sich Letzterer,
wenn er gut verdient, auch noch schneller als bisher in
eine private Krankenversicherung verabschieden können
soll.
Die soziale Ungerechtigkeit, die dabei zweifelsohne
entsteht, soll laut Minister über einen automatischen
Steuerausgleich vermindert werden. Wie dies ohne eine
zusätzliche Megabürokratie funktionieren soll, bleibt
bislang das Geheimnis des Ministers.
Dieses Modell einer Kopfprämie lehnen wir ab, und
ich glaube, ich kann hier auch für die SPD und die Grünen sprechen.
({6})
Aber auch in den Reihen der Koalition regt sich Widerstand dagegen. Finanzminister Schäuble war der erste,
der Wasser in den Wein der hochfliegenden Reformpläne
des Jungministers goss. Er stellte mit Blick auf den
Haushalt fest, dass der Sozialausgleich nicht zu bezahlen
sei.
Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft
reihte sich mit ihrer Kritik ein: Sie will, dass Krankenkassenbeiträge auch in Zukunft entsprechend dem Einkommen erhoben werden.
({7})
Damit wendet sie sich gegen die unsozialen Pläne des
Koalitionsvertrages. Darüber hinaus will sie auch den
Grundsatz, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich den
Beitrag halbe-halbe teilen, wiederherstellen.
({8})
Ich finde, daran sollte sich die CDU/CSU orientieren
statt an den Kopfgeldjägern der FDP.
({9})
Horst Seehofer, Parteivorsitzender der CSU, wirft
sich mannhaft in die Bresche, um die Kopfprämie aufzuhalten, obwohl unter dem Koalitionsvertrag auch seine
Unterschrift steht. Er hat die Kopfpauschale in Interviews nicht nur für tot, sondern sogar für beerdigt erklärt; denn er weiß genau, dass die Realisierung dieses
Modell die CSU in Bayern weitere Sympathien und
Wählerstimmen kosten würde.
({10})
- Das ist wohl die Hauptsorge der CSU, denke ich. Nun werden wir in der Debatte sehen, ob es sich beim
Arbeitnehmerflügelchen der Union und bei dem Vorsitzenden der Christlich-Sozialen nur um Maulheldentum
handelt oder ob sie wirklich zu ihren Aussagen gegen die
Kopfprämie stehen.
({11})
Solidarität als Leitprinzip bedeutet, dass die Starken
für die Schwachen einstehen. Damit dieses Leitprinzip
der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aufgegeben
wird, stellen wir hier unseren Antrag gegen die Einführung einer Kopfpauschale zur Abstimmung. Es gibt eine
Mehrheit gegen die Kopfpauschale im Bundestag. Ich
hoffe, SPD und Grüne stimmen dem ohnehin zu. Wenn
die Aussagen von Herrn Seehofer in seiner Partei etwas
gelten, dann müssten eigentlich auch die CSU-Abgeordneten zustimmen.
({12})
Damit wäre die Kopfpauschale mit Votum des Deutschen Bundestages endlich beerdigt.
({13})
- Das habe ich durchaus noch.
Herr Präsident, bekomme ich Redezeit dafür gutgeschrieben, dass ich dauernd unterbrochen werde?
({14})
Nein, das bekommen Sie nicht. Sie bekommen etwas
mehr Redezeit, weil das Ihre erste Rede ist.
Wenn von der rechten Seite dauernd dazwischengequakt wird, muss ich doch fragen, ob mir dafür etwas
Redezeit gutgeschrieben wird.
Ich komme zum Ende.
({0})
In unserem Wahlprogramm fordern wir eine solidarische
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Der vorliegende
Antrag der Grünen geht in diese Richtung. Es gibt aber
auch einige wesentliche Unterschiede zu unseren Vorstellungen. Wir werden im Laufe der Legislaturperiode
einen eigenen Antrag dazu einbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gesundheit ist
keine Ware. „Alles wird Markt“ ist das falsche Rezept
für unser Gesundheitssystem. Das ist keine Lösung, sondern schafft nur weitere Probleme.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Weinberg, auch Ihnen gratuliere ich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke hat
noch einen Antrag vorgelegt, dessen Ziel es ist, die Praxisgebühr und andere Zuzahlungen abzuschaffen. Diese
Forderung ist nicht neu. Das haben Sie schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht. Heute gehen Sie noch
einen Schritt weiter und fordern, nicht nur die Praxisgebühr, sondern gleich sämtliche Zuzahlungen abzuschaffen.
({0})
Warum kleckern, wenn man verbal richtig klotzen kann?
Dieser Politikansatz ist nicht seriös und nachhaltig. Er
stellt im Grunde auch nicht die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt.
({1})
Nein, Ihr Ansatz ist nichts anderes als ein sich selbst genügender Populismus.
Dies zeigt sich auch daran, wie Sie Ihren Antrag zu
begründen versuchen. Es ist die Rede davon, dass Zuzahlungen das Solidarprinzip untergraben würden und
dass vor allem Geringverdienende von Leistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen seien.
Sie sprechen von sozialer Selektion ärztlicher Leistungen. Dort, wo man Argumente erwartet, liest man nur
Behauptungen. Anstelle von belastbaren Daten und Fakten lässt sich Empörung finden. Wir sollten uns aber
nicht von Gesinnung leiten lassen, sondern einfach gelassen die Realität zur Kenntnis nehmen.
({2})
Realität in Deutschland ist: Niemand muss auf den
Arztbesuch und die Inanspruchnahme qualifizierter medizinischer Hilfe verzichten, weil er das Geld für die
Zuzahlungen, insbesondere für die Praxisgebühr, nicht
aufbringen kann. Fakt ist, dass die Zahl der Zuzahlungsbefreiten seit dem Startjahr der Neuregelung um über
6 Prozent auf rund 7 Millionen Versicherte im Jahr 2008
angestiegen ist. Fakt ist, dass rund 90 Prozent der Befreiungen auf die Chronikerregelung mit einer Belastungsobergrenze von 1 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen und circa 10 Prozent auf die Überforderungsregelung von 2 Prozent entfallen. Fakt ist, dass Kinder in der
Regel bis zum 18. Lebensjahr von sämtlichen Zuzahlungen befreit sind. Das sind jährlich rund 13 Millionen Befreiungen. Damit profitieren fast 30 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten von Zuzahlungsbegrenzungen
und Befreiungen.
({3})
Herr Kollege Stracke, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der Fraktion Die Linke?
({0})
Wenn es die Regel ist, möchte ich auf die Frage verzichten.
Auch die Entwicklung des Zuzahlungsvolumens ist
aufschlussreich. Das Zuzahlungsvolumen lag 2008 bei
rund 4,9 Milliarden Euro. Dies bedeutet im Vergleich zu
2005 eine Absenkung um über 10 Prozent. All das zeigt:
Von einem sozialen Ungleichgewicht bei den Zuzahlungen kann keine Rede sein. 90 Prozent aller Befreiungen
entfallen auf chronisch Kranke. Das spricht eindeutig
dafür, dass Menschen mit höherem Behandlungsbedarf
effektiv vor Überforderungen geschützt sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Solidarität
im Gesundheitswesen, wie wir sie verstehen, bedeutet
zum einen ein Einstehen des Gesunden für den Kranken,
zum anderen aber auch eine finanzielle Solidarität der
Reicheren zugunsten der Ärmeren.
({0})
Aber diese Solidarität wäre unvollständig beschrieben,
wenn der Gedanke der Eigenverantwortung fehlen
würde.
({1})
Ausfluss der Eigenverantwortung ist das Instrument
der Zuzahlungen. Anders als vielfach behauptet, insbe1040
sondere von Ihrem Lager, wirkt dieses Instrument nicht
sozial diskriminierend. Aber auch eine medizinisch unerwünschte Steuerungswirkung, insbesondere der Praxisgebühr, ist nach derzeitigem Stand aller einschlägigen
Untersuchungen nicht erkennbar. Auch die in Ihrem Antrag zitierte Studie bringt hier keine wesentlichen neuen
Erkenntnisse und reiht sich damit in den Reigen der Studien zu diesem Thema ein.
Abzuwarten bleibt jedoch, wie sich das Zuzahlungsvolumen insgesamt, insbesondere durch die Bonus- und
Hausarztmodelle, entwickeln wird und welche Auswirkungen dies auf die Steuerungswirkungen von Zuzahlungen haben wird. Bekanntlich wird der GKV-Spitzenverband einen entsprechenden Bericht vorlegen. Dieser
Bericht bleibt abzuwarten, um dann anhand von fundiertem Zahlenmaterial Schlussfolgerungen zu ziehen. Das
ist unsere Aufgabe, nicht Aktionismus mit aufgewärmten Anträgen.
({2})
Meine werten Kolleginnen und Kollegen, das Finanzvolumen der Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung macht rund 5 Milliarden Euro aus und entspricht knapp 0,5 Beitragssatzpunkten. Sie alle wissen,
wie dramatisch sich die gegenwärtige Finanzsituation in
der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt. Diese
Lage ohne Not in maßgeblichem Umfang zu verschlimmern, ist unverantwortlich. Nicht zielführend ist hierbei
der Vorschlag der Linken, einfach die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen. Dadurch werden einzig und allein die Leistungsträger in unserer Gesellschaft weiter
belastet
({3})
und das bewährte System der privaten Krankenversicherung ausgehöhlt. Dazu werden wir Ihnen sicherlich nicht
die Hand reichen.
({4})
Hinter dem Antrag der Linken steht allein die Absicht, ihre Idee einer solidarischen Bürgerversicherung
voranzutreiben. Ziel der Union ist jedoch keine zentralistische Staatsmedizin, sondern eine Gesundheitspolitik,
die den Patienten in den Mittelpunkt stellt. Um dieses
Ziel umzusetzen, wird eine Regierungskommission eingesetzt, die hierfür Vorschläge unter Führung unseres
Bundesministers erarbeiten wird.
({5})
Diesen Prozess wird die CSU im Interesse der Patienten
wie gewohnt konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Herr Kollege Stracke, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Lauterbach von
der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir erleben in diesen Tagen die Entzauberung
eines Hoffnungsträgers des neokonservativ-neoliberalen
Bündnisses: Herrn von und zu Guttenberg.
({0})
Die Frage, die im Raum steht, ist, ob Minister Rösler der
Nächste sein wird, der ähnlich entzaubert wird.
({1})
Ich versuche, das zu begründen. Bisher sieht es so aus,
als wenn er auf jeden Fall ein Risikofaktor für das konservativ-gelbe Bündnis wäre.
({2})
Aufgrund der Dinge, die wir bisher wissen, muss man
Bedenken haben. Was ist bisher bekannt? Bekannt ist,
dass eine einkommensunabhängige Prämie eingeführt
werden soll. Bekannt ist, dass es einen steuerfinanzierten
Sozialausgleich geben soll. Bekannt ist, dass das System
stufenweise eingeführt werden soll. Das ist ungefähr das,
was bekannt ist.
Jetzt muss man aber wissen: Die deutsche Bevölkerung will keine einkommensunabhängige Prämie.
({3})
Das ist der CDU schon im Leipziger Programm im Jahre
2005 zum Verhängnis geworden und hat sie damals unter
anderem - ich sage: gerechterweise - den Wahlsieg bei
der Bundestagswahl gekostet.
({4})
Es gilt das alte Gesetz aus dem Geschäft. Wenn einer einen Fehler macht, ist das verzeihlich. Wenn er den gleichen Fehler wiederholt, ist das unverzeihlich.
({5})
Das deutsche Gesundheitssystem wird international
beachtet, weil es als Solidarsystem vorbildlich ist. Es ist
ein System, in das Gesunde für Kranke und Einkommensstarke für Einkommensschwache einzahlen. Darüber gehen Sie hinweg. Das belächeln Sie. Das ist für
Sie nicht wichtig.
({6})
Das Solidarsystem, auf das wir zu Recht stolz sein können, wollen Sie mit der Abrissbirne der Prämie plattmachen. Das ist es, worum es in dieser Koalition geht.
({7})
Es wird mit dem Hinweis verkauft, dass der Einkommensausgleich für die Steuern gerechter wäre als der Solidarausgleich, den wir derzeit haben. Das wird von der
gleichen Partei vorgetragen, die derzeit dabei ist, Steuererleichterungen für die Reichen durchzusetzen. Das ist
nichts anderes als Trickserei.
({8})
Wie groß wäre denn der Steuerbedarf, den wir aufzubringen hätten, wenn das System endgültig eingeführt
würde? Es wären 35 bis 38 Milliarden Euro. Sagen Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren: Welche Steuern
will die FDP erhöhen, damit dieses Geld beigebracht
wird? Geht es erneut um die Mehrwertsteuer? Es werden
sicherlich nicht die Steuern der Einkommensstarken
sein.
({9})
Wenn Sie dies einführen, werden es wie immer die
Steuern der Einkommensschwächeren sein. Das ist es
doch, woran Sie denken. Sie haben doch in Wirklichkeit
kein Interesse daran, einen echten Sozialausgleich einzuführen. Sie wollen vielmehr Steuersenkungen für die
Einkommensstarken und gleichzeitig eine Billigprämie
für die gleiche Gruppe.
({10})
Ein Argument ist, dass das System langsam eingeführt werden soll. Wir sollen uns keine Sorgen machen.
Welchen Unterschied macht es aber, ob ich etwas
schneller oder etwas langsamer auf den Abgrund zugehe? Was ist der Unterschied?
({11})
Glauben Sie denn wirklich, der Wähler wäre so
dumm, nicht zu erkennen, in welche Richtung das Ganze
gehen soll?
Einen Lernerfolg - das muss man sagen - kann man
der FDP allerdings attestieren: Sie hat sich von dem Irrglauben verabschiedet, dass die demografische Alterung
in der Bevölkerung eine Kapitaldeckung braucht. Das
geplante System ist wie das jetzige System ein Umlagesystem. Man bleibt also bei der Umlage. Der einzige Unterschied ist: Man macht sie ein bisschen ungerechter.
Das ist aber kein Schritt nach vorn.
In der Summe ist es so: Ein bestehendes, gut funktionierendes System, das wir weiterentwickeln könnten,
soll plattgemacht werden zugunsten eines Prämiensystems mit einem nichtfinanzierten Steuerausgleich, der
zum jetzigen Zeitpunkt keine solide Finanzierung hat
und von dem wir nichts wissen. Das ist vorgesehen.
Gleichzeitig soll eine kleine Kapitaldeckung für die
Pflege eingeführt werden. Dabei handelt es sich um ein
bürokratisches System, das keinen Vorteil für die bestehende Pflegeversicherung bringt und für die das Geld
der privaten Krankenversicherung zur Verfügung gestellt
werden soll, sodass dieses Geld dann an der Börse verzockt werden kann. Sie planen das, anstatt die notwendige Verbesserung der Pflege, die jetzt ansteht, zu finanzieren, was Ihre ethische Pflicht wäre.
({12})
Wohin bewegt sich das Ganze in der Summe? Vorgesehen sind Kostenerstattungen. Was bedeuten Kostenerstattungen? Kostenerstattungen sind nichts anderes als
die schleichende Einführung eines Teilkaskosystems.
({13})
Das System soll so umgestaltet werden, dass es eine
Basisversorgung gibt, für die es Kostenerstattungen von
der Kasse gibt, und der Bürger alles andere aus der eigenen Tasche bezahlen muss. Darum geht es im Wesentlichen.
Es gibt Alternativen. Eine Alternative ist die einer
sauberen Bürgerversicherung. Das können Sie auch
nicht damit wegdiskutieren, dass Sie sie polemisch als
Einheitsversicherung bezeichnen.
({14})
Die Bevölkerung wünscht ein gutes Gesundheitssystem
für alle.
({15})
Sowohl für den schulischen Bereich wie für die Krankenversorgung wünscht sich der Bürger, dass alle nach
dem Bedarf versorgt werden und nicht nach der Herkunft oder dem Einkommen. Dieser Grundkonsens in
der Bevölkerung wird von Ihnen infrage gestellt.
({16})
Dafür werden Sie an der Wahlurne den Preis bezahlen.
({17})
Sie überschätzen sich. Sie fühlen sich jetzt sicherer, als
Sie sein sollten.
({18})
Der Bürger wünscht keine Zweiklassenmedizin, der Bürger wünscht keine Privatisierung des deutschen Systems.
Wir wollen das System verbessern und nicht abschaffen,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({19})
Ich komme nun zu den konkreten Vorschlägen der
SPD:
Wir werden einen konkreten, durchfinanzierten Vorschlag für eine Bürgerversicherung machen. Das kündige ich hiermit an.
({20})
Wir vertreten hier die gleiche Position wie die Linkspartei oder die Grünen: Mit einem gut durchfinanzierten,
konkreten Vorschlag für die Bürgerversicherung wollen
wir ein gutes System für alle schaffen,
({21})
statt zwei nicht funktionierende Systeme mit Einkommensgrenzen aufrechtzuerhalten.
Wir werden konkrete Vorschläge zur Abschaffung der
Zusatzbeiträge machen.
({22})
Wir werden darüber hinaus einen konkreten, gegenfinanzierten Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr
vorlegen.
({23})
Das sind die Vorschläge, mit denen Sie sich in Kürze
auseinandersetzen müssen. Es geht darum, ein bestehendes, gut funktionierendes Solidarsystem zu stärken. Der
Wähler wird die Parteien, die sich ernsthaft darum kümmern, nach vorne bringen und belohnen. Erinnern Sie
sich an meine Worte!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({24})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „Keine Kopfpauschale - Für eine solidarische Krankenversicherung“ beginnt wahrlich mit einem intellektuellen Paukenschlag.
Der erste Satz dieses Antrages lautet nämlich: „Krankheit kann jeden Menschen treffen.“
({0})
Allein für diese messerscharfe Analyse verdienen Sie
unseren Respekt.
({1})
Ansonsten lässt der Antrag jedoch jeden fachpolitischen
Tiefgang vermissen;
({2})
denn eine Antwort auf die dringendsten Fragen zur
Neustrukturierung des Gesundheitssystems gibt er leider
nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite,
Effizienz und Transparenz sind Ihnen anscheinend egal,
solange nur einer Ihrer Lieblingsbegriffe wie „solidarisch“ oder „sozial gerecht“ vorkommt.
({3})
Aber mehr als sozialromantische Rhetorik ist das nicht.
({4})
Dafür, dass Sie hier angeblich etwas verändern wollen, sind Ihre Reihen sehr dünn besetzt. Das muss man
einmal feststellen.
({5})
Die Risiken für die umlagefinanzierte GKV liegen
nicht nur in der demografischen Entwicklung und dem
Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze, sondern auch im medizinisch-technischen
Fortschritt. Letzterer ist sehr erfreulich, kostet aber auch
Geld.
({6})
Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden die Beiträge
weiter steigen, gibt es Rationierung und steigende Lohnzusatzkosten.
({7})
Weil wir das nicht wollen, ist eine tiefgreifende, ehrliche
Reform notwendig.
({8})
Wir in der Koalition sind uns einig: Eine Einheitskasse und ein staatlich-zentralistisches Gesundheitssystem sind der falsche Weg. Wir wollen den Einstieg in ein
gerechtes, transparentes Finanzierungssystem.
({9})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen auf der linken
Seite dieses Hauses, betonen, Sie wollten den solidarischen Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung
erhalten und stärken. Wunderbar, das wollen auch wir!
({10})
Aber der soziale Ausgleich darf nicht über eine intransparente Umverteilung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern muss über das Steuersystem
erfolgen.
Unser Prämienmodell, flankiert durch einen sozialen
Ausgleich über die Steuermittel, ist der gerechtere Weg.
({11})
Denn diejenigen, die viel verdienen, zahlen auch mehr in
das System ein. Ihr Vorwurf, der Konzernchef zahle
dann für die Gesundheit genauso viel oder wenig wie die
Supermarktverkäuferin - das war übrigens ein Beispiel
aus Ihrem Antrag -, ist völlig substanzlos. Denn Sie
wollen doch wohl nicht bestreiten, dass der Gutverdiener
mehr Steuern zahlt und sich damit auch stärker an den
Gesundheitskosten beteiligt als der Geringverdiener. Das
ist Gerechtigkeit.
({12})
Wenn man das Wort „Gerechtigkeit“ bloß im Munde
führt, langt das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der linken Seite. Bei uns hört Solidarität eben nicht
bei der Beitragsbemessungsgrenze auf.
({13})
In unserem Modell werden auch Bürger mit niedrigen
Einkommen eine umfangreiche Krankenversicherung
haben.
Der Umbau des Gesundheitssystems wird nicht von
heute auf morgen zu bewerkstelligen sein. Deshalb wird
eine von der Regierung eingesetzte Kommission unter
Leitung von Minister Philipp Rösler sorgfältig Vorschläge erarbeiten,
({14})
wie und in welcher Geschwindigkeit ein neues Finanzierungssystem eingeführt werden kann.
({15})
Die bisherige Gesundheitspolitik wurde am
27. September von den Bürgerinnen und Bürgern abgewählt.
({16})
Die Menschen haben ein Recht darauf, dass endlich ein
faires, zukunftsfähiges Gesundheitssystem installiert
wird. Dafür hat man uns gewählt, und dafür werden wir
sorgen.
Vielen Dank.
({17})
Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria KleinSchmeink von Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der durchaus lebendigen
- ({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen bei der FDP, bitte
nehmen Sie Ihre Plätze ein und geben Sie den anderen
die Gelegenheit, der Debatte zu folgen.
Dann fange ich noch einmal an. - Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts dieser wirklich angeregten Debatte am späten
Abend
({0})
zeigt sich, dass wir zu einem recht wichtigen Thema in
dieser Legislaturperiode gelangt sind, was eigentlich einen etwas seriöseren und genaueren Umgang erfordern
würde, als wir ihn bislang erlebt haben.
({1})
Nach den Argumenten, die ich heute hier gehört habe,
müssen Sie sich den Vorwurf, den Sie an die linke Seite
richten, durchaus auch selber gefallen lassen. Denn Sie
beanspruchen Seriosität, Genauigkeit und Ehrlichkeit,
wie ich eben gehört habe. Aber ich frage mich: Wo sind
all diese Punkte in Ihrem Koalitionsprogramm?
({2})
Ich finde sie nicht. Ich finde viele offene Fragen, aber
keine Antwort.
({3})
Ich habe keine Antwort - weder heute in der Zeitung
({4})
noch am Mittwoch im Gesundheitsausschuss durch den
Herrn Minister - auf die Frage erhalten, wie Sie Ihre
Pläne tatsächlich ausgestalten wollen, wie Sie sie finanzieren wollen.
({5})
Überall offene Fragen, gekoppelt - das will ich an dieser
Stelle noch einmal deutlich sagen - mit einer enormen
Leichtfertigkeit; denn Sie wollen ein Solidarsystem in
Deutschland zerschlagen,
({6})
das eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erfährt. Bevor man so etwas tut, muss man erstens gute Gründe
nachweisen und zweitens einen guten Plan haben, wie
man sein Ziel erreichen will.
({7})
Das fehlt auf Ihrer Seite.
Sehr viele von der CDU/CSU schauen mit großem
Unbehagen und mit großer Sorge auf die gesamte Entwicklung.
({8})
Denn sie wollen im Grunde genau diese Vereinbarung
nicht. Aus der CSU und aus den Sozialvereinigungen
heraus wird öffentlich darüber gestritten, ob dieser Solidarausgleich tatsächlich zerschlagen werden soll.
({9})
Sie sind sich in diesem Punkt nicht sicher. Sie hoffen
nur, dass Sie die Entwicklung so lange aussitzen können,
dass es nicht zu einer Verwirklichung der FDP-Pläne,
sondern nur zu einer kleinen Kopfpauschale kommt.
({10})
Ich sage Ihnen: Sie können sich da nicht sicher sein.
Es ist doch so, dass Sie bislang nicht wissen, wie das
Ganze ausgeht. Die Kommission soll es nun richten. Sie
haben gleichzeitig das Problem, dass es Finanzierungslücken gibt,
({11})
und zwar riesige. Sie sind gezwungen, auf irgendeine
Weise damit umzugehen.
({12})
Wir haben Ihnen zum Ende des Jahres unsere Vorschläge für eine Bürgerversicherung vorgelegt. Damit ist
sichergestellt, dass Sie zumindest die Gelegenheit haben,
sich diese anzuschauen. Nach dem heutigen Tag habe
ich sogar die Hoffnung - ich habe die Ausführungen von
Frau Aschenberg-Dugnus gehört -, dass Sie bereit sind,
alle Vorschläge vorurteilsfrei in die Debatte einzubeziehen, vielleicht auch in die Überlegungen Ihrer Kommission. Vielleicht kommen wir sogar zu einem System, das
ganz anders ist als das, das Sie bisher andenken.
({13})
Ihre Pläne sind noch nicht ausgegoren. Daher besteht
die Chance, dass auf ein ganz anderes Pferd gesetzt wird.
Vielleicht wird auf die Vorschläge gesetzt, die schon
durchdacht sind, etwa auf den Vorschlag der Grünen,
eine Bürgerversicherung einzuführen. Sie können sich
nicht einfach so wie im Wahlkampf auf Vorurteile zurückziehen, zum Beispiel darauf, diese Bürgerversicherung sei wettbewerbsfeindlich und sie sei eine Einheitsversicherung.
({14})
All das stimmt nicht, und das wissen Sie auch.
Spätestens jetzt, nach Vorlage der Eckpunkte, können
Sie ziemlich genau nachvollziehen, dass viele der Argumente, die Sie immer wieder gegen unsere Vorschläge
bemühen, in keiner Weise zutreffen. Wir haben einen
Vorschlag gemacht, der eine nachhaltige und gerechte
Finanzierungsbasis für ein zukünftiges Gesundheitswesen beinhaltet. Ich erwarte von Ihnen kurz vor Weihnachten, dass Sie sich diese Pläne und diese Vorstellungen auch wirklich anschauen.
({15})
Ich komme zu einem zweiten Aspekt.
Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie sich beim zweiten Aspekt ein bisschen beeilen müssen?
({0})
Dann werde ich mich darauf beschränken, zu sagen,
dass ich die weiteren Punkte jederzeit in die Diskussion
einbringen kann.
Nur nicht heute Abend.
({0})
Ich will Ihnen zum Abschluss nur noch Folgendes mit
auf den Weg geben - hier sitzen relativ viele Kolleginnen und Kollegen aus NRW -: Wir werden es Ihnen
nicht durchgehen zulassen, wenn Sie sich mit irgendwelchen Vorschlägen, die Finanzierungslücken aufweisen,
über die bevorstehende Landtagswahl hinwegretten wollen.
({0})
Darauf können Sie sich verlassen.
({1})
Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich will noch insbesondere erwähnen, dass Sie es sozusagen mit einer verschärften Versuchsanordnung zu
tun hatten; denn ich habe Sie, unmittelbar nachdem ich
das Präsidium übernommen habe, mit Blick auf die Uhr
auf die grausamen Gewohnheiten dieses Hauses aufmerksam gemacht. Nun haben Sie das Schlimmste in
dieser Legislaturperiode schon hinter sich, und das wird
Sie für die weitere Legislaturperiode hoffentlich ermutigen.
({1})
Wir haben weitere Beispiele in dieser Versuchsanordnung.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Stefanie Vogelsang
für die CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Vielen Dank. Dann will ich den Versuch mal starten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Minister Rösler, Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz
und Herr Staatssekretär Bahr, zunächst einmal möchte
ich Ihnen ausdrücklich dafür danken, dass Sie hier in einer Dreierkonstellation erschienen sind.
({0})
Dies zeigt ganz eindeutig Ihren Respekt vor den Beratungen hier im Haus.
Im Mittelpunkt unserer Gesundheitspolitik stehen die
Menschen,
({1})
und zwar die gesunden genauso wie die kranken Menschen.
({2})
Wir wollen, dass auch in Zukunft jeder in Deutschland,
und zwar unabhängig von seinem Einkommen, seinem
Alter, seiner sozialen Herkunft oder seinem gesundheitlichen Risiko, eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe
medizinische Versorgung erhält und dass alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Wir teilen die Auffassung, Herr Lauterbach, dass die Bürgerinnen und
Bürger keine Zweiklassenmedizin wollen. Mit uns werden sie sicherlich keine bekommen.
({3})
Wir wollen uns dem demografischen Wandel und den
Herausforderungen einer rasanten medizinischen Entwicklung stellen. Wir wollen keine weitere starke Abhängigkeit der finanziellen Leistungsfähigkeit unserer
Krankenkassen von den konjunkturellen Entwicklungen.
Wir wollen keine überproportionale Wettbewerbsbelastung unserer Produkte durch die vollständige Kopplung
der Finanzierung an den Faktor Arbeit. Deshalb haben
wir beschlossen, eine Regierungskommission einzusetzen, die den Auftrag hat, nicht nur Lösungsvorschläge,
sondern auch Lösungswege detailliert zu erarbeiten.
Gestern haben Sie, Herr Minister Rösler, es im Gesundheitsausschuss so bezeichnet: Es sollen detaillierte Vorschläge für Schrittgrößen und für Schrittfrequenzen erarbeitet werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich besonders auf den Antrag der Linken konzentrieren. Ich meine
aber weniger den Antragstext - denn daraus wird nichts
ersichtlich - als vielmehr die Begründung Ihres Antrags.
Liest man die letzten drei Zeilen dieser Begründung,
dann weiß man ganz genau, wo der Hase im Pfeffer
liegt. Sie haben schon im Bundestagswahlkampf mit den
Sorgen und Ängsten der Bürgerinnen und Bürger gespielt. Sie haben schon im Bundestagswahlkampf mit
der Schimäre einer vermeintlich kalten und unsozialen
Politik einer schwarz-gelben Koalition auf dem Rücken
der Bevölkerung Stimmung gemacht.
({4})
Nur, die Wählerinnen und Wähler haben das gemerkt.
Mit Ihrem heutigen Antrag haben Sie wieder nichts
anderes im Sinn, als Menschen zu verunsichern und
Ängste zu schüren.
({5})
Sie wollen die Stimmung für den Vorwahlkampf in Nordrhein-Westfalen anheizen. Aber auch das - da bin ich
ganz ohne Sorge - werden die Wählerinnen und Wähler
merken.
({6})
Sie, meine Damen und Herren von den Linken, wissen genau, dass dann, wenn alle Bürger in eine Einheitskasse einzahlen müssten, kein Wettbewerb mehr stattfände und die Versorgung noch teurer würde.
({7})
Sie wollen eine Einheitskasse. Sie wollen staatliche
Zwangswirtschaft und Gleichmacherei.
({8})
Sie wissen ganz genau, dass dem Zuwachs an Beitragszahlern ein Zuwachs an Ansprüchen in gleichem
Maße gegenüberstünde.
({9})
Sie wissen auch ganz genau, dass die Finanzfragen der
gesetzlichen Krankenversicherung mit Ihrem Vorschlag
nicht gelöst, sondern sogar verschärft werden, weil im
Gegensatz zur privaten Krankenversicherung keine
Vorsorge für steigende Gesundheitskosten im Alter getroffen wird. Sie wissen auch genau, dass Sie in Ihrem
Vorschlag die Probleme der Bevölkerungsentwicklung
ausblenden. Sie wissen ebenfalls genau, dass in Ihrem
Vorschlag die jungen Menschen im Stich gelassen werden, weil er mittelfristig keine Lösung im Hinblick auf
die Generationengerechtigkeit bietet. Außerdem wissen
Sie ganz genau, dass es verantwortliche Politik wäre, zuzugestehen, dass es einen Unterschied zwischen einem
fairen, freien und wettbewerblichen Gesundheitssystem
als Teil der sozialen Sicherung und einem beliebigen
wettbewerblichen System gibt.
Es geht Ihnen aber nicht um verantwortungsvolle Politik. Ich komme aus Berlin, einem Bundesland, das
schon viele Jahre von Ihnen mitregiert wird. Stück für
Stück setzen Sie staatlichen Dirigismus und Einheitsbrei
durch. Die Lebensqualität von uns Berlinern und Berlinerinnen wird immer schlechter.
({10})
Ihr Modell einer Einheitskasse und einer Zwangswirtschaft bedeutet in der Folge das Ende der freien Arztwahl, die Absenkung der medizinischen Standards und
führt zu einer gleich schlechten Versorgung der Patientinnen und Patienten. Vielleicht könnte man munkeln,
dass später heimlich Privatkliniken für Ihre Parteigenossen zur Verfügung stehen.
({11})
Wir alle wissen, dass eine Gesellschaft gerade im
Umgang mit Kranken, Älteren und Schwachen ihr wahres Gesicht zeigt. Genau deshalb geht bei uns Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Lassen wir der Regierungskommission die Zeit, die sie braucht, um uns einen gründlich
überlegten Weg der festen Schritte vorzuschlagen, mit
dem wir unser Ziel erreichen: medizinische und pflegerische Leistung auf höchstem Niveau, auch in Zukunft eigenverantwortlich, selbstbestimmt und solidarisch gesichert, egal ob für Alt oder Jung, Reich oder Arm, Stark
oder Schwach.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Liebe Frau Vogelsang, auch Ihnen gratuliere ich herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nun hat der Kollege Lars Friedrich Lindemann für
die FDP-Fraktion das Wort,
({1})
der vor der beinahe unlösbaren Aufgabe steht, all das,
was sich zu diesem wichtigen Thema eigentlich sagen
ließe, in drei Minuten sagen zu müssen. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Lauterbach, ich muss mich schon sehr wundern, wenn
Sie hier von einem funktionierenden Solidarsystem sprechen. Ich sage Ihnen ganz offen: Wir hatten im Wahlkampf und nach dem Wahltag einen anderen Eindruck.
Die Pläne, die Sie hier schlechtheißen, haben wir den
Wählern vorher verkündet. Wir tun jetzt genau das, was
wir angekündigt haben. Das stellen Sie hier in Abrede.
({0})
Das Gesundheitssystem, wie es derzeit aufgestellt ist,
steckt in einer Sackgasse, die in den letzten Jahren mit
Milliardenbeträgen aus dem Bundeshaushalt, Beitragserhöhungen und Gesetzen zur Kostendämpfung um ein
paar Meter verlängert wurde, weil man grundlegende
Veränderungen nicht vornehmen wollte. Auch diese Koalition gewährt notgedrungen einen Zuschuss von
3,9 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt, um diese
Sackgasse nochmals zu verlängern, um krisenbedingte
Ausfälle nicht den Versicherten aufzubürden.
Um es aber deutlich zu sagen: Die derzeit sichtbaren
Probleme und Unzulänglichkeiten in diesem System
sind Resultat einer über die letzten Jahre von Ihnen - da
habe ich vor allem Sie von der SPD im Blick - geschaffenen Gesetzeslage, die wir jetzt vorfinden. Das wollen
wir nicht verkehrt sehen.
({1})
Wenn wir mit Ihnen in eine Debatte darüber eintreten,
wie ein solidarisches, nachhaltig stabil aufgestelltes Gesundheitssystem aussehen soll, dann gehen unsere Vorstellungen - wie sollte es auch anders sein! - ein wenig
auseinander. Was die Finanzierungsseite angeht, nützt es
eben nichts, sich stets darüber zu unterhalten, wie mehr
Geld ins System kommen könnte: durch die Einbeziehung weiterer Einkunftsarten und Einkommensbezieher
oder durch weitere Kostendämpfungen. Nach unserer
Auffassung ist ein Festhalten an einer so engen Koppelung der Gesundheitskosten an die Lohnkosten, wie es
sie derzeit gibt, nicht zielführend.
Eine Debatte um ein gerechtes, solidarisches System,
wie Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, sie führen, ist aber auch von Augenwischerei und Schönfärberei geprägt, und sie endet, gibt man
sich Ihren Vorstellungen hin, in einem steuerfinanzierten
System à la NHS, wie wir es aus England kennen. Die
Fortsetzung einer solchen Entwicklung wird es unter unserer Verantwortung nicht geben.
({2})
Den Ruf nach einer gerechten Gesundheitspolitik haben Sie - das darf man so sagen - stets mit VersprechunLars Lindemann
gen verbunden, die den Menschen in diesem Land ein
Rundum-sorglos-Paket aus der Hand des fürsorglichen
Staates vorgegaukelt haben. Ich sage Ihnen offen: Ich
bin froh, dass das ein Ende hat und dass die Protagonistin, Frau Schmidt, nicht mehr im Amt ist.
({3})
Was Sie getan haben, zeugt von einem unheimlich hohen Maß an Unverantwortlichkeit den Patienten und
Leistungserbringern gegenüber. Ein Anspruch auf alles
erdenklich Mögliche, und dies auf höchstmöglichem Niveau für jeden, so etwas vorzugaukeln, war und ist mehr
als unredlich.
({4})
Ein solches Gesundheitssystem gab es noch nie auf der
Welt, und das wird es nie geben, auch nicht in Deutschland.
Solidarität - Sie nennen Ihren Vorschlag „solidarisch“ - ist eben nicht der größtmögliche Eifer beim Verteilen des Geldes anderer Leute.
({5})
Solidarität, verstanden als das Eintreten der Gesunden
für die Kranken, kann nur funktionieren, wenn sie in einem engen Zusammenhang mit der Eigenverantwortung
eines jeden Einzelnen steht. Diese Eigenverantwortung
als Voraussetzung für das Funktionieren solidarischer
Elemente gilt es in das System zurückzubringen. Das ist
die Aufgabe in der nächsten Zeit.
Wir brauchen ein zukunftssicheres Finanzierungssystem, geprägt durch Eigenverantwortung, Wahlfreiheit,
Nachhaltigkeit und Sicherheit, das die Teilhabe eines jeden - da ist sozialer Ausgleich richtig angesiedelt durch Zuschüsse über das Steuer- und Transfersystem zu
seinen Beiträgen erhält, wenn er sie selbst tatsächlich
nicht bezahlen kann.
Der Einstieg in ein System einkommensunabhängiger
Arbeitnehmerbeiträge ist, wie im Koalitionsvertrag verabredet, ein erster Schritt weg von einer zentral vorgegebenen Staatsmedizin und hin zu mehr Vielfalt und Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen. Der Patient steht
für uns im Mittelpunkt.
Vielen Dank.
({6})
Lieber Kollege Lindemann, auch Ihnen herzlichen
Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, die das amtierende Präsidium mit einem 40-prozentigen Zuschlag auf Ihre Redezeit gewürdigt hat.
({0})
Ich weise vorsichtshalber darauf hin, dass ich das für
die nachfolgenden Reden nicht in Aussicht stellen kann.
Vielleicht ist der Hinweis für die älteren wie die neueren
Mitglieder des Hauses nicht gänzlich überflüssig, dass
dann, wenn die rote Lampe blinkt, die von den Fraktionen gemeinerweise zugestandene Redezeit bereits überschritten ist. Wenn sich dann der Präsident mit dem
Blinkzeichen meldet, ist das ein Indiz dafür, dass er zunehmend an die Grenze seiner Gestaltungsspielräume
gerät.
({1})
Nun sind wir am verdienten Ende dieses Tagesordnungspunktes.
({2})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/240, 17/258 und 17/241 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich bin beeindruckt: Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 16 aufrufe, möchte
ich die tapferen Besucher auf der Besuchertribüne besonders herzlich begrüßen.
({3})
Ich tue das deswegen besonders gerne, weil wir gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert werden, auf den
Besuchertribünen seien mehr Leute anwesend als im
Plenum. Das ist heute Nacht um 22.29 Uhr nachweislich
anders, was ich ausdrücklich festhalten möchte.
({4})
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin
Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moratorium für Stuttgart 21 - Wirtschaftlichkeit des Großprojektes vor Baubeginn sicherstellen
- Drucksachen 17/125, 17/268 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann.
({6})
Sehr geschätzter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es freut mich, dass wir noch zu
so später Stunde über eines der besten Projekte, die im
Verkehrsbereich aufs Gleis gesetzt werden, diskutieren
können.
({0})
Ich nehme an, dass wir über dieses Thema deshalb zu so
später Stunde diskutieren, weil der Ausschussvorsitzende, Winfried Hermann, dafür gesorgt hat, dass wir
heute Abend noch lange diskutieren wollen. Dann wollen wir das auch gerne tun. Ich freue mich, wie gesagt,
außerordentlich, dass wir das hier live machen können.
Mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm bekommen Baden-Württemberg und der gesamte süddeutsche Raum zwei Schienenprojekte von
europäischer Dimension. Sowohl Stuttgart 21 als auch
das Bedarfsplanvorhaben der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm betreffen die Magistrale für Europa, die von
Paris über Stuttgart, München, Wien, Bratislava bis
Budapest führt. Der Raum Stuttgart und die Strecke über
die Alb nach Ulm stellten in der Relation erhebliche
Engpässe dar, die mit den beiden Projekten beseitigt
werden.
Die Realisierung des Projekts Stuttgart 21 ist allerdings nur sinnvoll, wenn beide Projekte gleichzeitig gebaut und vor allem beide Strecken gleichzeitig in Betrieb
genommen werden. Sie hängen unmittelbar voneinander
ab.
({1})
Die Gewinner dieser zwei Vorhaben sind in erster Linie die Bahnkunden, um die es uns gehen muss. Die
Fahrzeiten im Fern- und Nahverkehr werden sich enorm
verkürzen. Ein weiterer großer Vorteil: Der Anschluss
des Flughafens Stuttgart an das ICE-Netz bringt erhebliche Erleichterungen und Verbesserungen für die Fahrgäste mit sich. Ich denke, das ist das, was Verkehrspolitik machen muss - in Zukunft noch mehr als bisher -:
Die verschiedenen Verkehrsträger sind zu verknüpfen
und müssen für den Kunden möglichst einfach zu nutzen
sein. Insofern ist dies ein gutes Sinnbild für eine neue
Art von Verkehrspolitik, von der wir in Deutschland
mehr brauchen.
Stuttgart 21 mit der Umgestaltung des Knotens Stuttgart und der Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs
als Durchgangsbahnhof ist kein Projekt des Bedarfsplanes für die Bundesschienenwege, sondern ein unternehmerisch eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen
Bahn AG. Die Eisenbahninfrastrukturunternehmen sind
Vorhabenträger und Bauherren. Das ist in der Diskussion
in den letzten Wochen oftmals nicht richtig gesehen worden. Es ist mitnichten so.
Der Bund beteiligt sich an Stuttgart 21 finanziell aus
Mitteln für den Bedarfsplan Schiene mit einem Festbetrag in Höhe von 563,8 Millionen Euro, der für die
Einbindung des Bedarfsplanvorhabens Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm in den Knoten Stuttgart als sogenannte
Sowiesokosten eh erforderlich gewesen wäre. Über den
genannten Betrag hinaus werden folgende Finanzierungsbeiträge, die aus anderen mit Bundesmitteln finanzierten Quellen stammen, vorgesehen: 197 Millionen
Euro gemäß Abs. 2 Bundesschienenwegeausbaugesetz
für den Nahverkehr, circa 168 Millionen Euro aus dem
GVFG-Bundesprogramm und circa 300 Millionen Euro
aus dem Infrastrukturbeitrag für das Bestandsnetz im
Rahmen der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung.
Man sieht also, dass der Bund erhebliche Mittel für dieses Projekt bereitstellt. Das ist sinnvoll und richtig so.
Die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und
DB AG wurde am 2. April 2009 für beide Vorhaben abgeschlossen. Im Vorfeld hat die DB AG eine Wirtschaftlichkeitsrechnung erstellt. Diese wurde im Auftrag des
Bundes geprüft und erbrachte für uns ein ausgeglichenes
Ergebnis. Also können wir bei diesem Projekt mitgehen.
Die Bereitstellung von weiteren Finanzierungsmitteln
sowie die Finanzierung entstehender Mehrkosten sind in
gesonderten Vereinbarungen zwischen dem Land BadenWürttemberg, der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Verband Region Stuttgart, der Flughafen Stuttgart GmbH
und der DB AG geregelt. Es gilt, eventuell anfallende
Mehrkosten, die über die zwischen den Beteiligten vereinbarte Risikovorsorge hinausgehen, zu decken. Im
Vertrag des Bundes mit der DB AG zu Stuttgart 21 gibt
es dazu keine entsprechende Klausel. Auch das wurde in
den vergangen Tagen kolportiert, das ist aber anders.
Die aktuelle Kostenkalkulation der DB AG hat für
Stuttgart 21 Gesamtprojektkosten in Höhe von 4 088 Millionen Euro ergeben. Darin sind neben Bau- und Planungskosten auch inflationsbedingte Kostensteigerungen der Zukunft enthalten. Der bisherige von der DB AG
angesetzte maximale Kostenrahmen von etwa 4,5 Milliarden Euro wird somit nicht überschritten, sondern
bleibt weiterhin gültig. Das ist für uns als Eigentümer
der DB AG die Grenze, über die wir nicht gehen wollten.
Die Mehrkosten gegenüber den ursprünglich kalkulierten 3,076 Milliarden Euro werden über die bereits vereinbarte Risikovorsorge in Höhe von 1,45 Milliarden
Euro ausgeglichen. Es verbleibt somit ein Risikoschirm
von 438 Millionen Euro. Ich denke, auf der derzeitigen
Kalkulationsbasis, der derzeitigen Planungsbasis ist das
ein gutes Ergebnis. Man kann das Projekt also, denke
ich, starten.
So ist es in der Sitzung des Lenkungskreises gelaufen.
In der vergangenen Woche haben die Projektpartner, die
ich vorhin schon genannt habe, die aktualisierte Kostenkalkulation zum Großprojekt zur Kenntnis genommen
und die Signale für das wichtige Verkehrsprojekt, Herr
Hermann, auf Grün gestellt. Man kann eigentlich gar
nicht Grün sagen, sondern müsste eigentlich SchwarzRot-Blau-Gelb sagen. Aber es heißt ja „auf Grün gestellt“; ich komme darauf gleich noch zurück.
Somit sind von allen Seiten die Bedingungen geschaffen, dass beide Projekte im Jahr 2010 begonnen und im
Jahre 2019 nach unserer Planung in Betrieb genommen
werden können. Die Entscheidungen für die Realisierung von Stuttgart 21 sind gefallen. Damit können in
dieser konjunkturell schwierigen Situation für unser
Land zwei der größten Bauvorhaben in Deutschland beginnen: Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm.
Herr Präsident, gestatten Sie mir, noch einen Punkt
anzusprechen, der mich seit langen Jahren, die ich Mitglied im Deutschen Bundestag bin, immer ein wenig ärgert. Ich will daraus keinen Hehl machen. Wir diskutieren im Fachausschuss vielfach über die Verlagerung des
Verkehrs von der Straße auf die Schiene. Im Ausschuss
gibt es im Grunde niemanden, der dagegen ist. Alle sagen, dass es sinnvoll und notwendig ist. Bedenklich ist
aber, dass diejenigen, die angeblich am meisten für die
Schiene als Verkehrsträger eintreten, auch diejenigen
sind, die sinnvolle Projekte vor Ort torpedieren und zum
Teil auch noch die Bürgerinitiativen anführen, die diese
Projekte mit Engagement bekämpfen. Das ist sehr bedauerlich. Da muss man sagen: Wir werden uns in dieser
Legislaturperiode zu eigen machen, dies nicht weiter zu
respektieren. Vielmehr werden wir die Projekte im
wahrsten Sinne des Wortes aufs Gleis setzen, weil wir
das für das Schienennetz als sinnvoll erachten.
({2})
Daher bitte ich, der Beschlussempfehlung des Ausschusses zuzustimmen, damit wir gemeinsam große und
schöne Projekte für den Schienenverkehr in Deutschland
voranbringen.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Martin Burkert für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stuttgart 21
und der Neubau der Strecke nach Ulm bilden ein Verkehrsprojekt, das nicht nur für die Region Stuttgart, sondern auch für den gesamten süddeutschen Raum und das
Hochgeschwindigkeitsnetz in Europa von besonderer
Bedeutung ist. Es ist selbstverständlich, dass es bei so einem Projekt zu Diskussionen kommt, zumal, wenn die
Kosten höher sind, als man erwartet hat. Aber wir sind
uns weitgehend einig, dass es Ziel unserer Verkehrs- und
Umweltpolitik ist und sein muss, mehr Menschen und
Güter auf die Schiene zu bringen.
({0})
Wenn wir das wollen, dann müssen wir attraktive
- ich betone das - Angebote schaffen. Es reicht nicht
mehr, dass man sagt: Liebe Autofahrer, steigt um, fahrt
mit der Bahn, das ist umweltfreundlicher und verstopft
die Autobahnen nicht. Nein, es muss attraktiv sein, Bahn
zu fahren, und es muss gute Gründe geben, auf die
Schiene umzusteigen. Ich sage: Stuttgart 21 ist ein guter
Grund.
Mit dem Bahnknoten Stuttgart und der Neubaustrecke
nach Ulm wird das Reisen quer durch Europa schneller
und bequemer. Die Reisezeiten werden verkürzt. Eine
Fahrt von Stuttgart nach München wird beispielsweise
nur noch gut eineinhalb Stunden dauern. Köln wird von
München aus in dreieinhalb Stunden erreichbar sein.
Umsteigen ist nur noch bei wenigen Verbindungen notwendig.
Der gesamte süddeutsche Raum wird durch Stuttgart 21
besser an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz
angebunden. Das sind gewichtige Gründe, auf die Bahn
umzusteigen. Das ist eine echte Alternative, im Übrigen
nicht nur zum Auto, sondern auch zum Flugzeug.
Dennoch - auch das möchte ich nicht verhehlen -:
Die Kostenexplosion von Stuttgart 21 hat auch mich und
uns irritiert. Hier muss sich vor allem die Deutsche Bahn
die Frage gefallen lassen, warum es zu den erheblichen
Mehrkosten gekommen ist. Immerhin musste in diesem
Zusammenhang auch ein Vorstandsmitglied der Bahn
gehen. Ich glaube, Herr Grube hat gut daran getan, die
Kosten nochmals zu begutachten und die Einsparpotenziale zu nutzen. Selbstverständlich stellt sich an dieser
Stelle auch die Frage, wie weitere Mehrkosten in Zukunft vermieden werden können.
Eines muss allerdings festgehalten werden: Das Projekt Stuttgart 21 ist eine wichtige Weichenstellung, um
künftig mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Es
macht die Bahn zukunftsfähig und schafft eine echte Alternative zum Auto und auch zum Flugzeug.
Gemeinsam mit meiner Fraktion wünsche ich vor allem allen am Bau Beteiligten ein unfallfreies Arbeiten.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Werner Simmling
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Kollege, jetzt müssen Sie sich Mühe geben, den demonstrativen Eingangsbeifall durch Ihre Rede am Ende
noch zu überbieten.
({1})
Ich werde mir alle Mühe geben. - Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weichen für die
Realisierung des größten und derzeit wichtigsten Infrastrukturprojekts in Deutschland sind gestellt. Bei
Stuttgart 21 und der Schnellbahnstrecke WendlingenUlm stehen die Signale nun endgültig auf Grün. Wir
wollen das Projekt.
({0})
Heute stellen Sie von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen den Antrag, ein Moratorium für Stuttgart 21 zu
erklären.
({1})
Was soll das? Schließlich haben alle Projektpartner - das
sind der Flughafen Stuttgart, die Stadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart, das Land Baden-Württemberg,
die Bundesrepublik Deutschland und die DB AG - die
Finanzierungsvereinbarungen bereits am 2. April 2009
unterzeichnet.
({2})
Der Aufsichtsrat der Bahn und der Lenkungsausschuss
Stuttgart 21 haben am 9. bzw. 10. Dezember 2009, also
vor nur wenigen Tagen, der fortgeschriebenen Entwicklungsplanung zugestimmt.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bahn fährt
von jetzt an, nach 17 Jahren der Planung, in die Moderne.
({4})
Das heißt, es gibt 117 Kilometer neue Gleise, 66 Kilometer davon in Tunnels, 35 Brücken und vier neue
Bahnhöfe.
({5})
Das ist gewaltig, aber volkswirtschaftlich und umweltpolitisch - das ist ja auch Ihnen wichtig - notwendig.
Denn die bestehende Infrastruktur wird dem Bedarf in
den kommenden Jahren bei weitem nicht mehr gerecht
werden.
Im Klartext heißt das: Bereits in den nächsten fünf
Jahren wird es nicht genug Schienenstrecken geben, um
das Verkehrsaufkommen abzuwickeln. Dabei wollen wir
doch - das wurde schon angeführt - die Verlagerung des
Verkehrs von der Straße auf die Schiene.
({6})
Verzichteten wir auf den nötigen Infrastrukturausbau,
hemmten wir nicht nur Wachstum und Fortschritt, also
zusätzliche Wertschöpfung, sondern fügten der Region
und dem Wirtschaftsstandort Deutschland auch massiven Schaden zu.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer zukunftsfähig
sein will, der muss Entscheidungen treffen. Bei „Pro
Stuttgart 21“ und Wendlingen-Ulm haben alle beteiligten Partner Weitsicht, Zukunftsfähigkeit und Verantwortung bewiesen. Was wir aus volkswirtschaftlicher Sicht
brauchen, sind integrierte Verkehrswege, die eine überregionale strukturelle Bedeutung haben.
Bei Stuttgart 21 und Wendlingen-Ulm sind Schienen-,
Straßen- und Luftverkehr optimal miteinander verbunden. Die strukturellen Vorteile liegen auf der Hand.
Nicht nur Baden-Württemberg, sondern auch Deutschland rückt näher zusammen, und unser Anschluss an das
europäische Hochgeschwindigkeitsnetz ist gesichert.
Die Zeiten, in denen sich Fernzüge mit 70 km/h über die
Geislinger Steige quälten, gehören damit endgültig der
Vergangenheit an.
({8})
Durch die neu zu schaffende Infrastruktur können wir
uns in der Mitte eines sich nach Osten vergrößernden
Europas erfolgreich positionieren.
Wirtschaftliche Folgeinvestitionen werden die Region
und den Standort Deutschland zusätzlich nach vorne
bringen. Nur wenn wir in die Zukunft, das heißt, über
den berühmten Tellerrand, schauen, können wir unseren
Platz als führende Wirtschaftsnation in der Welt behaupten.
Schlussendlich sichert diese Entscheidung nicht nur
Arbeitsplätze in einem der leistungsfähigsten Wirtschaftsräume Europas, sondern schafft auch noch zusätzliche. In der Region Stuttgart leben und arbeiten 2,7 Millionen Menschen. Langfristig werden bis zu 10 000,
allein während der Bauphase schon 7 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Insofern ist das ganze Projekt ein
Glücksfall für die heutige Zeit.
({9})
Über diese positiven wirtschaftlichen Aspekte hinaus
hat Stuttgart die Chance zu einer Neugestaltung und damit zu einer einmaligen Entwicklung. Wo heute noch
Schienen, Weichen, Schotter und Beton die Landschaft
verunzieren, werden Wohnungen und Grünflächen entstehen - und eben Arbeitsplätze.
({10})
Kurz: Urbanes Leben, Wohnen, Arbeiten im 21. Jahrhundert werden dort neuen Raum finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Projektpartner
haben sich auf einen belastbaren Kostenrahmen geeinigt,
der solide und verantwortungsvoll ist. Für Stuttgart 21
lautet die neue Kostenkalkulation: 4,088 Milliarden Euro,
Preisstand 2009. Mehrungen und Einsparungen sind hier
schon berücksichtigt. Weitere 438 Millionen Euro bzw.
15 Prozent der Bausumme sind zur Abdeckung eventueller Kostenrisiken während der Bauzeit eingeplant. Eine
ausgeglichene Wirtschaftlichkeit ist darüber hinaus bis zu
einem Gesamtbedarf von 4,769 Milliarden Euro gegeben.
Für die Schnellbahntrasse Wendlingen-Ulm bleibt es bei
2 Milliarden Euro. Aus heutiger Sicht ist eine Bundesfinanzierung vor 2016 nicht wahrscheinlich.
Unter den oben genannten verkehrlichen, städtebaulichen, volkswirtschaftlichen und umweltpolitischen Gesichtspunkten, aber auch angesichts des belastbaren
Kostenrahmens und der ausgeglichenen Wirtschaftlichkeit ist ein Aufschub, wie Sie ihn in Ihrem Antrag fordern, oder gar ein Ausstieg nicht zu rechtfertigen.
({11})
Über dieses Projekt wird seit mehr als zwei Jahrzehnten
diskutiert, und es wird seit 17 Jahren geplant. Alternativkonzepte sind zur Kenntnis genommen worden. Schon
die Renovierung des Stuttgarter Bahnhofs, die ohnehin
anstünde, würde weit über 1 Milliarde Euro verschlingen, wäre im Endeffekt aber nichts Halbes und nichts
Ganzes. Heute ein Moratorium für Stuttgart 21 zu verlangen, ohne fundierte Kostenalternativen aufzuzeigen,
mit dem Ziel, dieses Projekt weiter und weiter aufzuschieben, ist politisch verantwortungslos und überdies
ein höchst fahrlässiger Umgang mit Steuergeldern.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daher,
diesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Lieber Kollege Simmling, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich
bin beeindruckt und offenkundig nicht alleine.
({0})
Ich erinnere mich leicht deprimiert an meine eigene erste
Rede im Deutschen Bundestag, die zu einer ähnlichen
Nachtzeit stattgefunden hat und die nicht annähernd von
einer vergleichbaren Kulisse getragen war, weil aus mir
bis heute unverständlichen Gründen die FDP-Fraktion
keine vergleichbare Motivation entwickelt hatte,
({1})
dieser fulminanten Rede beizuwohnen.
Lieber Kollege Simmling, das berechtigt also zu den
allerschönsten Hoffnungen. Alles Gute für die weitere
parlamentarische Arbeit!
({2})
Sobald sich die Prozessionszüge rechts vom Präsidium wieder beruhigt haben, erhält irgendwann im weiteren Verlauf des Abends der Kollege Ulrich Maurer das
Wort für die Fraktion Die Linke.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
von dieser Bildersprache, die ich jetzt gehört habe, wirklich ergriffen: schön, wunderbar, Zukunftsprojekt. Wenn
ich das Wort von den blühenden Landschaften nicht
schon einmal gehört hätte, dann wäre ich davon besonders ergriffen gewesen.
({0})
Sie müssen sich stattdessen einmal die Frage stellen,
warum die Mehrheit der Bevölkerung meiner Heimatstadt dieses wunderbare Geschenk gar nicht haben will.
Das würde Sie ernüchtern. Ich will Ihnen erklären, warum.
Vor 17 Jahren, als es erdacht wurde, hatte die Vorstellung, den Siedlungsdruck von ökologischen Freiflächen
weg aufs Bahngelände zu lenken, eine gewisse städtebauliche Faszination. Ich bin ihr auch eine Zeit lang erlegen und vom Saulus zum Paulus geworden.
({1})
- Aber ja. - Frau Kumpf, Sie sollten auch vom Saulus
zum Paulus werden. Das wäre ganz schön und hätte Ihrer Partei in Stuttgart in den zurückliegenden Jahren sehr
geholfen.
({2})
Sie haben ihr aber nicht geholfen. Das ist aber nicht der
Punkt.
Diesen Bahnhof schenken Sie einer Stadt, die ihn erheblich kofinanziert, die nach ihren eigenen Angaben einen Instandhaltungsrückstand bei ihren Schulgebäuden
von 327 Millionen Euro hat, in der in einem Gymnasium
die Decke eingefallen ist und die die Hauptstadt der
Kurzarbeit ist. Ich sage Ihnen: Die Bevölkerung dieser
Stadt ist mehrheitlich gegen dieses Projekt, weil sie andere Sorgen hat, als ein Milliardengrab mit schönen Dingen vor ihren Augen erblühen zu sehen.
({3})
Warum die Mehrheit des Gemeinderats Hunderte von
Millionen Euro dafür ausgibt, während er gleichzeitig
soziale und kulturelle Leistungen kürzt und, wie gesagt,
noch nicht einmal in der Lage ist, seine Schulgebäude zu
reparieren, versteht die Bevölkerung nicht, und wir verstehen das auch nicht.
Dieses Projekt wird auch keine Beglückung für den
öffentlichen Verkehr werden, sondern es wird zu einer
Benachteiligung kommen. Wenn Sie sich in unserem
Land auskennen würden, dann würden Sie die Langsamfahrstellen kennen und wissen, wie sehr wir bei Projekten des öffentlichen Nahverkehrs zurückhängen. Sie
würden dann wissen, dass dieses Bahnhofsprojekt zulasten des Ausbaus der Rheintalschiene gehen wird.
({4})
Sie würden dann auch wissen, dass dieses Projekt zulasten der Elektrifizierungsmaßnahmen in Baden-Württemberg und beispielsweise auch der Südbahn gehen wird.
({5})
Sie können das Geld in diesen Zeiten nicht zweimal
ausgeben. Sie haben auf dem Altar der Banken Milliarden Euro verbrannt, und wir stehen in der größten finanzpolitischen Misere. In einer solchen Situation geht
es nicht darum, schöne Bahnhöfe zu bauen, sondern es
geht darum, den realen schienengebundenen Personen1052
verkehr und insbesondere den Nahverkehr zu verbessern. Das sind die Zeichen der Zeit, die Sie nicht erkannt
haben.
({6})
Es geht auch nicht, dass Sie die öffentlichen Kassen
ausplündern, um ein Prestigeobjekt durchzusetzen und
in einer Machtdemonstration recht zu behalten. Schon
gar nicht geht es, dass Sie die Bilanzen solcher Projekte
frisieren. So, wie die Bilanz der Bahn für den Börsengang frisiert worden ist, wird auch dieses Projekt wunderbar rauf-, runter- und schöngerechnet,
({7})
als ob wir nicht das Erlebnis gehabt hätten, dass der
Leipziger Kopfbahnhof mittlerweile das Doppelte kostet, und als ob wir nicht mitbekommen hätten, dass ursprünglich einmal mit 4,9 Milliarden Euro gerechnet
wurde, die sich in kurzer Zeit wunderbarerweise auf
4,1 Milliarden Euro zurückverwandelt haben. Das haben
wir alle natürlich gemerkt, und das hat auch die Bevölkerung dieser Stadt gemerkt.
Deswegen sage ich Ihnen: Dies ist ein Projekt der
Verschwendung öffentlicher Mittel in schwierigen Zeiten. Dies ist ein Projekt zulasten des schienengebundenen Verkehrs.
({8})
Dies ist ein Prestigeprojekt, das gegen die Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden soll. Deswegen bin
ich dafür, um in Ihrer Bildersprache zu bleiben, dass wir
die Signale von Grün auf Rot stellen.
({9})
Herr Kollege Maurer, wäre das Ihre Jungfernrede gewesen, dann hätte die Begeisterung des Kollegen Dehm
schwerlich stärker ausfallen können.
({0})
Aber auch so nehmen wir das mit besonderem Respekt
zur Kenntnis.
({1})
Nun erhält der Kollege Winfried Hermann für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Fangemeinde des Unterirdischen,
({0})
es ist schon erstaunlich, dass man im Jahre 2009 einen
unterirdischen Bahnhof mit der Moderne verwechseln
kann.
({1})
Es ist ein durch und durch altmodisches Projekt der
90er-Jahre.
In den 90er-Jahren wurden die Großstädte in ganz
Deutschland mit Plänen für unterirdische Bahnhöfe beglückt.
Deutschland sollte in einem quasi unterirdischen Bahnsystem verbunden werden, sozusagen wie ein U-Bahnoder Lufthansa-Netz unterirdisch durch Deutschland.
({2})
Man hat in den Städten gerechnet und gerechnet, und
fast alle Projekte sind gestorben. Nur eines ist übrig geblieben: das in Stuttgart. Frankfurt und andere Städte haben aufgegeben, weil man überall nachgerechnet und
festgestellt hat, was für ein Blödsinn es ist, Geld dafür
auszugeben, dass die Leute möglichst schnell unter der
eigenen Stadt vorbeifahren. Dass ausgerechnet Schwaben Milliarden dafür ausgeben, dass man unterirdisch
unter ihrer schönsten Stadt durchfährt, um anschließend
Videos zu verschenken, damit die Bahnreisenden erfahren, wie die Stadt aussieht, ist besonders absurd.
({3})
Das Projekt ist verkehrspolitisch völlig daneben. Deswegen waren auch übrigens alle Bahnverbände und Umweltorganisationen von Anfang an gegen dieses Projekt.
Nur diejenigen, die selber in der Regel fliegen oder Auto
fahren, wollten die Bahn mit Geld beglücken. Dann ist
ihnen das unterirdische Projekt eingefallen.
({4})
Unterirdisch ist an diesem Projekt die Finanzierung.
Begonnen hat man in den 90er-Jahren mit dem Versprechen, dass sich dieses Projekt selbst rechnet. Deswegen
ist es heute noch im Bundesministerium als eigenwirtschaftlich dargestellt. Dabei ist alles, aber auch alles öffentlich finanziert. Eigenwirtschaftlich ist es in dem
Sinne: Die verkaufen die Flächen, und damit rechnet
sich das.
Die Flächen stehen aber schon seit 10, 15 Jahren in
Stuttgart zum Verkauf. Sie sind schwer verkäuflich, weil
eine Innenstadt nicht einfach auf das Doppelte vergrößert
werden kann. Bürogebäude und Kaufhäuser kann man
nicht verdoppeln, wenn die Bevölkerung und die Wirtschaft nicht wachsen.
Unterirdisch ist auch, wie dieses Projekt weiter finanziert wurde. Noch vor einem Jahr wurde im Haushaltsausschuss gesagt, dieses Projekt sei das am besten
durchkalkulierte Projekt. Die Kosten lagen noch deutlich
unter 3 Milliarden Euro.
Der Staatssekretär hat zwei Tage vor der Entscheidung des Aufsichtsrates dem Ausschuss einen Brief vorgelegt, demzufolge das Projekt immer noch 3 Milliarden Euro kosten sollte. Zwei Tage später waren es
auf einmal 4 Milliarden Euro, und dann sagen Sie, das
sei gut gerechnet; es sei ordentlich und gut gewirtschaftet
worden. Bis zum heutigen Tag hat weder der Ausschuss
oder irgendjemand sonst von Ihnen die Wirtschaftlichkeitsrechnung für dieses Projekt gesehen. Keiner!
Lange hieß es, man könne sie unter Verschluss einsehen. Aber nicht einmal das war möglich. Niemand im
Bundestag hat die Wirtschaftlichkeitsrechnung gesehen.
Es gibt übrigens auch im Ministerium niemanden, der
sie gesehen hat. Denn die Wirtschaftlichkeitsrechnung
wurde an eine Firma ausgelagert, die auch sonst Bahnprojekte begutachtet und zum Teil von der Bahn lebt.
Wir wissen also nicht wirklich, was dieses Projekt
kostet. Nun haben wir kurz vor der Entscheidung aus internen Quellen erfahren, dass dieses Projekt 5 Milliarden Euro gekostet hätte. Dann hat man in wenigen
Wochen 900 Millionen Euro herausgerechnet durch Einsparungen beispielsweise bei der Tunnelstärke bzw. der
Betonstärke, nach dem Motto „Wir wollen ja keine Bunker bauen, sondern Tunnels“. Insofern frage ich mich:
Waren vorher Bunkeringenieure oder Eisenbahningenieure mit der Planung befasst?
Es ist doch aberwitzig, zu glauben, dass man so eine
Summe kurzerhand kleinrechnen kann.
({5})
Dieses Projekt ist von Anfang an preislich unter Wert gerechnet worden, damit man es politisch durchpauken
kann. Jetzt kostet es schon das Doppelte, aber Sie nehmen immer noch nicht Abstand davon.
({6})
Sie wollen die Wirtschaftlichkeitsrechnung nicht einmal
sehen. Nein, Sie wollen das Projekt durchsetzen. Wir
verlangen nicht einmal mehr von Ihnen, dass Sie das
Projekt aufgeben. Aber nehmen Sie wenigstens die Wirtschaftlichkeitsrechnung zur Kenntnis und rechnen Sie
nach!
({7})
Die Neubaustrecke lehnen wir übrigens nicht grundsätzlich ab. Wir lehnen die Form ab, und wir lehnen es
ab, den Bau einer Strecke zu beschließen, die nicht einmal vollständig planfestgestellt ist. Von sieben Bauabschnitten sind gerade einmal zwei planfestgestellt. Für
diese Strecke, die übrigens gleich viele Tunnel hat wie
das Projekt Stuttgart 21, wird nur mit 2 Milliarden Euro
gerechnet. Warum eigentlich sollen wir es zum halben
Preis bekommen? Wir wissen heute alle aus vergleichbaren Projekten, dass es mindestens 4 Milliarden bis 6 Milliarden Euro kosten wird. Wenn Sie alles zusammenrechnen, kommen Sie auf ein Projekt von mindestens
10 Milliarden Euro.
Des Weiteren haben Sie gesagt, man könne durch das
Projekt Schienenverkehr verlagern. Die Neubaustrecke
kann aber nicht einmal Güterzüge aufnehmen.
({8})
Es gibt Güterzüge nur auf dem Papier, die in der Praxis
gar nicht vorkommen. Sie aber behaupten, das sei ein
Projekt zur Verlagerung von Verkehr auf die Schiene.
Das ist doch nur in Unkenntnis dahergesprochen.
({9})
Es ist eine Behauptung, die nicht nachvollziehbar ist.
Liebe Fangemeinde, dieses Projekt rechnet sich nicht.
Es ist nicht wirtschaftlich. Es schadet dem Schienenverkehr und den Kunden. Es ist schlicht und einfach unterirdisch. Nehmen Sie Abstand davon! Denken Sie nach!
Wir haben in unserem Antrag ein Moratorium gefordert.
Dann können Sie auch nachrechnen.
Vielen Dank.
({10})
Dr. Stefan Kaufmann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der Grünen ist überholt und allenfalls ein hilfloser Versuch, den dringend notwendigen Ausbau des
Schienenverkehrs in Baden-Württemberg und darüber
hinaus in letzter Minute auf das Abstellgleis zu schieben.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass sich die Projektpartner nach jahrelangen Verhandlungen im April auf
eine solide Finanzierung des Projekts geeinigt haben.
Mit der Entscheidung des Lenkungsausschusses in der
vorigen Woche stehen die Signale für Stuttgart 21 und
die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm auf Grün. Die Kosten des Bauvorhabens sind - wir haben es bereits gehört vertraglich abgesichert, und der Beitrag des Bundes zu
diesem Projekt ist auf 563 Millionen Euro gedeckelt.
Wenn Sie dies nicht wahrhaben wollen oder können,
Herr Kollege Hermann, betreiben Sie schlichtweg Realitätsverweigerung.
({0})
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Herr Kollege Maurer,
dass das Projekt über Jahrzehnte von breiten parlamentarischen Mehrheiten im Stuttgarter Gemeinderat, in der
Regionalversammlung, im Landtag und nicht zuletzt
auch hier im Bundestag beschlossen und getragen
wurde. Stuttgart 21 ist damit von allen Parlamenten vollumfänglich demokratisch legitimiert.
({1})
Auch die Sozialdemokraten haben dankenswerterweise
immer zu diesem Projekt gestanden.
Nehmen Sie bitte ebenfalls zur Kenntnis, dass Ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir mit Stimmungsmache gegen Stuttgart 21 in den Wahlkampf gezogen ist und die
Wahl in Stuttgart verloren hat. Herr Özdemir hat im
Übrigen schlichtweg die Unwahrheit gesagt, als er behauptete, er könne Stuttgart 21 hier in Berlin noch verhindern. Herr Kollege Hermann, das wird heute offensichtlich nicht einmal Ihnen gelingen. Stellen Sie sich
also endlich Ihrer Verantwortung, und machen Sie
Schluss mit Ihrer Blockadehaltung! Fangen Sie endlich
an, die konkrete Umsetzung des Projekts konstruktiv zu
begleiten, genauso wie es Ihr Landtagsabgeordneter
Werner Wölfle schon im April in der Presse angekündigt
hat!
({2})
Wir müssen - auch das ist richtig - die Sorgen der
Stuttgarterinnen und Stuttgarter gegenüber dem Projekt
ernst nehmen; hierzu stehe ich. Der Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern ist notwendig, genauso wie Aufrichtigkeit. Wir dürfen den Bürgerinnen und Bürgern
nicht Sand in die Augen streuen. Der richtige Zeitpunkt,
das Projekt grundsätzlich infrage zu stellen, war während der Diskussion über die Grundsatzbeschlüsse in den
Jahren 1995 bzw. 2001. Das haben Sie damals schlicht
versäumt. Unser Staatswesen beruht auf der Einhaltung
der Gesetze. Auch die Stuttgarter Gemeindeordnung bindet Politik und Verwaltung. Insofern waren die 65 000
gesammelten Unterschriften für ein Bürgerbegehren
zwar ein politisches Signal, aber juristisch nicht relevant.
Meine Damen und Herren von den Grünen, das Ablehnen des Bürgerbegehrens haben daher die Initiatoren und
die Projektgegner und nicht die Projektbefürworter, Bauherren und Geldgeber zu verantworten.
({3})
Man kann Diskussionen über Projekte dieser Größenordnung nicht zur Unzeit führen; auch das muss heute
gesagt sein. Es ist sehr wohl die Aufgabe des Parlaments
und des Verkehrsausschusses, die Kosten im Blick zu
behalten. Wie durchschaubar die Politik der Grünen in
diesem Punkt allerdings ist, zeigt gerade der Umgang
mit der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Man findet
vonseiten der Grünen bis zum August dieses Jahres
keine einzige negative Aussage zur Neubaustrecke, deren Notwendigkeit wohlgemerkt schon 1992 festgestellt
wurde. Erst im vorliegenden Moratoriumsantrag ziehen
Sie die Neubaustrecke mit Fragen zur angeblich fehlenden Wirtschaftlichkeit erstmals in Zweifel, und dies völlig zu Unrecht, Herr Kollege Hermann. Die Neubaustrecke ist auf 40 Güterzüge neuerer Bauart täglich
ausgelegt. Dies rechnet sich.
({4})
Ich hätte mir jedenfalls nie träumen lassen, einen solch
dringenden Ausbau der Schieneninfrastruktur gegen eine
Partei verteidigen zu müssen, die sich seit ihrer Gründung für die Stärkung des Schienenverkehrs und eine
grüne Stadtentwicklungspolitik ausgesprochen hat.
({5})
Zudem gilt es, die betriebswirtschaftlichen Kosten
des Projekts gegen den volkswirtschaftlichen Nutzen abzuwägen. Mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm bekommt nicht nur Stuttgart, sondern der
gesamte Südwesten ein Investitionsprogramm, das nachhaltig Beschäftigung sichert und neue Arbeitsplätze
schaffen wird. Herr Kollege Simmling hat schon richtigerweise darauf hingewiesen.
Darüber hinaus ist das Projekt schon wegen der Einbindung der Strecke in die transeuropäische Trasse Paris-Bratislava auch ein Projekt von nationaler, ja europäischer Bedeutung. Mehr Schienenverkehr, zum Beispiel
auf der Teilstrecke Köln-München - auch das haben wir
gehört -, macht den Personen- und Güterverkehr insgesamt effizienter und umweltfreundlicher und damit das
Projekt auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Stuttgart 21
bedeutet also nicht nur eine Investition in die Infrastruktur, sondern auch und vor allem eine Investition in die
Zukunft. Dem kann man sich schlicht nicht verweigern.
Herzlichen Dank.
({6})
Nun erteile ich zum Abschluss und Höhepunkt dieses
Tagesordnungspunktes der Kollegin Ute Kumpf für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
- Ach so.
Nein, der Kollege von der CDU -
Einen Augenblick, Frau Kumpf. Das geht Ihrer Redezeit nicht verloren. Wir hatten hier widersprüchliche
Auskünfte, ob das denn nun die erste Rede gewesen sei.
Nein.
Also waren die anderen Auskünfte richtig. Aber wenn
es die erste Rede gewesen wäre, hätte ich dazu prompt
gratuliert.
({0})
Frau Kumpf, Ihre erste Rede ist es nach meiner Erinnerung auch nicht. Dann haben Sie jetzt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hätte mir eigentlich einen schöneren Abschluss für heute vorgestellt und nicht gedacht, dass ich
jetzt hier das letzte Wort haben darf,
({0})
vor allem weil Stuttgart in meinem Wahlkreis und dem
von Herrn Kaufmann ist. Stuttgart 21 ist ein Projekt, das
uns als SPD schon lange beschäftigt. Es hat auch den
Gemeinderat und die Region beschäftigt. Als das Projekt
1994 auf den Weg gebracht wurde, haben sich das Land
und der Bund damit beschäftigt. Ulrich Maurer, ich
werde nicht vom Saulus zum Paulus, weil ich mein Geschlecht nicht ändern will, ganz einfach, auch weil ich
keine Wendehälsin bin und weil ich dieses Projekt lange
sehr kritisch begleitet habe.
({1})
Was mich bei der Debatte über dieses Projekt - das merken auch Sie im Plenum - stört, ist, wie populistisch
vonseiten der Grünen argumentiert wird
({2})
und mit welchen Argumenten hier Vergleiche gezogen
werden. Das Gleiche gilt auch für Herrn Maurer.
({3})
Es gibt immer die üblen Vergleiche: Wenn das Geld
nicht für Stuttgart 21 ausgegeben würde, dann könnte es
für Schulen ausgegeben werden. Die schlichte Konsequenz aber ist: Dann wird das Geld überhaupt nicht in
Stuttgart ausgegeben, sondern es wird woanders verbuddelt. Schauen Sie sich den Verkehrshaushalt an! Mit diesem Projekt werden in der Bevölkerung in populistischer
Weise Ängste geschürt. Die Grünen - das muss ich an
der Stelle sagen, weil ich selbst Betroffene war - haben
Versprechungen gemacht und wollten bei den OB-Wahlen einen Kuhhandel organisieren. Dabei war eindeutig
klar, dass zu dieser Planung kein Bürgerbegehren zulässig ist, aber ein grüner Oberbürgermeister sich dann die
Stimmen hat kaufen lassen von der CDU - oder umgekehrt. Da gab es Kuhhandel, die dieses Projekt begleitet
haben, aber es war eigentlich mehr ein Handel zwischen
Ochsen als einer zwischen Kühen.
Heute Morgen haben alle miteinander hier in diesem
Saal treu geschworen, sie wollten CO2-Emissionen vermindern. Was soll denn mit diesem Projekt passieren,
Kollege Hermann?
({4})
Wir wollen mit diesem Projekt eine nachhaltige Mobilität organisieren. Wir wollen integrierte Verkehrssysteme
organisieren. Wir erhalten vier neue Bahnhöfe. Der
Bahnhof wird tiefer gelegt, wir bekommen einen Filderbahnhof, wir bekommen eine neue S-Bahn, und es wird
mehr Verkehr insgesamt organisiert - regional, national
und international.
({5})
Was soll daran schlecht sein?
({6})
Dass Stuttgart dieses braucht, ist klar. Kollege Hermann,
die Verbindung von Tübingen nach Stuttgart, die B 27,
ist morgens immer dicht. Die Leute brauchen einfach
eine Alternative, sie brauchen eine Trasse, sie brauchen
bessere Verkehre, und dies wird über Stuttgart 21 und
über die Neubaustrecke organisiert. Stuttgart ist die Stadt
mit der höchsten Feinstaubbelastung am Neckartor. Dagegen demonstrieren auch die Grünen. Was ist daran
verkehrt, wenn wir mehr Verkehr auf die Schiene bringen und wenn wir mehr Verkehr, wenn auch unterirdisch, durch Stuttgart schleusen?
({7})
Dass es teuer ist, in einer solchen Topografie zu bauen,
muss ein Verkehrsausschussvorsitzender wissen; denn
jedes Bauvorhaben in Stuttgart wird teuer. Jede Straße
bei uns wird teuer.
({8})
Dann muss man bitten und betteln, dass man einen entsprechenden Zuschlag bekommt.
Es gibt noch etwas, das mich ärgert: das Nutzen-Kosten-Verhältnis; das habe ich im Ausschuss auch dem
Kollegen Hofreiter gesagt. Wir sind der wirtschaftsstärkste Raum, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch in der Bundesrepublik und in Europa. Ich
finde es fahrlässig, dass die Grünen einer solch starken
Wirtschaftsregion eine Infrastruktur, die in die Zukunft
weist, verweigern wollen. Das finde ich fahrlässig gegenüber den Kollegen und Kolleginnen in den Betrieben
in Stuttgart, die ein großes Interesse daran haben, dass
von diesem Projekt Wachstumsimpulse ausgehen.
Ein weiterer Nutzen ist, dass der gesamte Filderraum
und somit 250 000 Menschen einen neuen Verkehrsknoten bekommen. Mit diesem Bahnhof werden an der
Messe und am Flughafen 100 000 Arbeitsplätze angeschlossen. Es wurde schon erläutert, dass sich die Fahrtzeiten verkürzen. Was die Flughäfen Karlsruhe und
Mannheim betrifft, verkürzt sich die Fahrtzeit von
1 Stunde 45 Minuten auf nur noch 55 Minuten. Von Ulm
wird kein Mensch mehr mit dem Auto zum Flughafen
fahren, weil man dann innerhalb von nur 20 Minuten
von Ulm zum Flughafen kommt. All dies sind Vorzüge
und Verbesserungen der nationalen Verbindungen.
Ein weiterer Aspekt ist: Wir können organisieren,
dass viele Menschen statt der Straße die Schiene nutzen;
das gilt auch für den regionalen Verkehr. Die Universität
Stuttgart hat ausgerechnet, dass 350 Millionen PkwKilometer auf die Schiene verlagert werden und dass wir
dadurch insgesamt rund 70 000 Tonnen Kohlendioxid
pro Jahr sparen können.
({9})
Noch eine Anmerkung. In der Auseinandersetzung
um den Planungsprozess gab es viele verletzende Äußerungen. Wenn man in den Zeitungen liest, das sei Mord
an der Demokratie oder Mord an der Stadt - das wird sogar von Ihnen mitgetragen - und dass Befürworter einer
leistungsstarken Infrastruktur, nicht etwa Fan-Clubs, diskreditiert werden, dann ist eine Grenze der politischen
Auseinandersetzung überschritten. Das Gleiche gilt,
wenn hier immer wieder behauptet wird, die Zahl von
3 Milliarden Euro sei von heute auf morgen auf
4,088 Milliarden Euro erhöht worden.
({10})
- Herr Kollege, Sie selbst haben die Sitzung des Verkehrsausschusses als sein Vorsitzender geleitet. Sie haben genau erfahren, wie diese Werte zustande gekommen sind. Es ist unredlich, hier so zu tun, als würde mit
Taschenspielertricks gearbeitet.
({11})
Ich bitte Sie um mehr Redlichkeit, mehr Glaubwürdigkeit und mehr Einsatz für die Verkehrsinfrastruktur einer
Region, für die Sie den Auftrag bekommen haben.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich bin sicher, dass die Kollegin Kumpf bemerkt hat,
dass der Präsident in besonderen Notlagen auch bei Kol-
legen, die hier nicht ihre erste Rede halten, freiwillig ei-
nen Zuschlag zur Redezeit gewährt.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zum
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Moratorium für Stuttgart 21 - Wirtschaftlichkeit des
Großprojektes vor Baubeginn sicherstellen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/268, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/125 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf Scholz,
weiteren Abgeordneter und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes ({0})
- Drucksache 17/207 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({2}),
Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/34({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 17/278 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({5})
Josef Philip Winkler
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Für ein umfassendes Bleiberecht
- Drucksachen 17/19, 17/278 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff ({7})
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch.
Die Kollegen Reinhard Grindel, Stephan Mayer,
Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und Joseph
Philip Winkler haben dazu brillante Reden vorbereitet,
die sie unverständlicherweise nicht vortragen wollen,
obwohl Einzelne sogar persönlich anwesend sind. Das
finde ich bedauerlich, nehme es aber zur Kenntnis. Wir
nehmen die Reden damit zu Protokoll.1)
Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/207
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Hat jemand andere Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um die
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/278,
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/34({8}) abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Unter dem Tagesordnungspunkt 17 c geht es um die
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für ein um-
fassendes Bleiberecht“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
1) Anlage 6
Präsident Dr. Norbert Lammert
sache 17/278, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/19 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({9})
Ich bedanke mich bei allen, die so lange und so diszipliniert dieser Veranstaltung beigewohnt haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Dezember 2009,
9 Uhr, ein.
Ich hoffe, Ihnen fällt etwas Vernünftiges zur Überbrückung der verbleibenden Zeit ein.
Ich schließe damit die Sitzung.