Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Eigentlich wollte ich den Kollegen Goldmann besonders herzlich begrüßen. Sobald
er kommt, bitte ich, mir einen Hinweis zu geben. Er feiert nämlich heute seinen 65. Geburtstag.
({0})
- Sie vermuten, er weiß das noch gar nicht?
({1})
Dann sollte vielleicht einer unserer Parlamentsassistenten diesen Hinweis gezielt weiterleiten.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({2}), Bartholomäus Kalb,
Viola von Cramon-Taubadel, Dagmar Freitag,
Otto Fricke, Alexander Ulrich sowie weiterer Abgeordneter
25 Jahre Internationales Parlaments-Stipendium ({3})
- Drucksache 17/6350 Beschlussfassung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Internationale
Parlaments-Stipendium des Deutschen Bundestages feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. In diesem
Vierteljahrhundert hat der Deutsche Bundestag über
1 750 jungen Menschen aus 28 Ländern die Gelegenheit
gegeben, unser parlamentarisches System hautnah kennenzulernen, insbesondere auch durch Mitwirkung in
den Büros der Abgeordneten.
Ich freue mich darüber, dass viele ehemalige Stipendiaten an den Feierlichkeiten zum Jubiläum teilnehmen
und die Debatte über unser weltweit immer noch einmaliges Programm gemeinsam mit Stipendiaten des laufenden Programms auf der Tribüne verfolgen. Natürlich ist
ein solches Programm nur möglich, wenn es dafür nicht
nur Interesse gibt - das ist ganz ohne Zweifel und unverändert der Fall -, sondern wenn es auch von vielen Händen getragen wird. Deswegen möchte ich mich herzlich
bei all denen bedanken, die es initiiert und möglich gemacht haben und Jahr für Jahr betreuen.
Ich bedanke mich hier im Hause insbesondere und besonders gerne beim Kollegen Wolfgang Börnsen,
({4})
der gemeinsam mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus der Berichterstattergruppe für internationale
Austauschprogramme,
({5})
Dagmar Freitag, Viola von Cramon-Taubadel, Otto
Fricke, Bartholomäus Kalb und Alexander Ulrich, seit
vielen Jahren unermüdlich für dieses Programm im Einsatz ist. Ich will in diesen Dank ausdrücklich auch die
anderen Beteiligten einbeziehen, vor allen Dingen die
Berliner Universitäten, die politischen Stiftungen und
nicht zuletzt auch die am Programm beteiligten Botschafter. Ich freue mich, dass einige Botschafter heute
Morgen ebenfalls als Gäste auf der Tribüne dieser Debatte beiwohnen.
Wir haben uns zwischen den Fraktionen darauf verständigt, dass wir über dieses Thema, das für die Tagesordnung des Bundestages ganz ohne Zweifel eher ungewöhnlich ist, damit aber die Ungewöhnlichkeit
verdeutlicht, die dieses Programm auszeichnet, am Beginn unserer heutigen Tagesordnung eine halbe Stunde
debattieren. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht
der Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Wolfgang Börnsen.
({6})
Redetext
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ein Erfolgsprogramm feiert heute Geburtstag, eine Initiative, die vor 25 Jahren aus den Reihen unserer Kollegen ins Leben gerufen wurde und alle umfasste; ich
finde es großartig, dass das bis heute so geblieben ist. Es
ist ein Programm aller Abgeordneten für junge Nachwuchspolitiker in ganz Europa. Herzlichen Dank!
({0})
Damals waren wir mutig und selbstbewusst, unsere
Art des Parlamentarismus zu einer Art Exportgut, zu unserem Beitrag im Wettbewerb der Demokratiesysteme
zu erklären. Es wurde ein Parlamentarismusausbildungsprogramm geschaffen, das in dieser Form - der Präsident hat darauf aufmerksam gemacht - einzigartig in der
Welt ist.
Zu den ersten Stipendiaten aus Russland gehörte
Naina, eine Lehrerin. Dreieinhalb Tage war sie per Pferdefuhrwerk, Bus und Bahn nach Moskau unterwegs, um
sich unbedingt dem Interview zu stellen. Die deutsche
Sprache hatte sie durch die Deutsche Welle gelernt. Ihre
Hauptsorge war, pünktlich einzutreffen. Denn das wusste
sie: Auf Pünktlichkeit legt man in Deutschland besonderen Wert.
({1})
Wegen Ihres Könnens, Ihrer Kenntnisse, Ihrer Lust,
Neues zu lernen, und ihrem unbändigen Willen, dem
Parlamentarismus in ihrem Land neuen Schwung zu verleihen, wurde sie ausgewählt. Heute, 15 Jahre später, ist
sie Vizegouverneurin in ihrer Heimatrepublik - einer
Region von der doppelten Größe unseres Landes. Wenn
es um öffentliche Aufträge geht, wendet sie sich zuerst
an ihre Freunde in Deutschland.
Nainas Biografie ist beispielhaft für IPS-Stipendiaten.
Nach Rückkehr in ihre Heimat sind sie beste Botschafter
unseres Landes in ihrem Land. Diese Demokratiewerkstatt funktioniert, weil sich Jahr für Jahr gut 130 Kollegen des Deutschen Bundestags mit aufgeschlossenen
Mitarbeitern freiwillig dieser zusätzlichen Aufgabe stellen. Sie reden nicht, sie handeln Internationalität. Sie
vermitteln nicht nur parlamentarisches Handwerkszeug,
sondern auch - das ist noch bedeutender - die Art und
Weise unseres Handelns. Sie vermitteln, was demokratisches Handeln eigentlich ausmacht.
Diese Meisterinnen und Meister der Politik und des
Parlamentarismus verdienen, wie ich finde, Respekt,
Dank und Anerkennung. Dieses Programm wendet sich
an die zukünftige politische Elite von 28 befreundeten
Staaten. Es hat das Ziel, parlamentarische Kontakte zu
vertiefen und demokratische Strukturen zu stabilisieren.
Gleichzeitig hinterfragen wir uns selbstkritisch, wo wir
unser System optimieren können. Auch unser Parlamentarismus ist ausbaufähig.
Ganz bewusst überlässt der Bundestag die Außenpolitik nicht allein der Regierung. Das IPS ist ein Teil dieser
Außenbeziehungen unseres Landes, unser Beitrag zur
internationalen Zusammenarbeit. Aus diesem Grunde
fungieren auch die Präsidenten des Bundestags als
Schirmherren, ist die Verwaltung - insbesondere das Referat WI 4 - engagiert dabei und sind die drei Berliner
Universitäten als Partner eingebunden. Das gilt auch für
alle politischen Stiftungen und die Akademie Sankelmark nahe der Fördestadt Flensburg. Mit ihr wird in jedem Jahrgang das Thema „Minderheitenmodell in
Deutschland“ gewissenhaft und erfolgreich aufgearbeitet.
Nicht alle Stipendiaten sind pflegeleicht - besonders
diejenigen sind es nicht, die glauben, den Marschallstab
bereits im Tornister zu haben. Fast in jedem Jahrgang
sind Praktikanten dabei, die, wenn sie hart arbeiten - und
so Gott es will -, in ein oder zwei Jahrzehnten an der
Spitze ihres Landes stehen werden. Was alle auszeichnet: Deutsch als gemeinsame Sprache und ein außergewöhnliches Durchhaltevermögen. In den 25 Jahren IPS
waren 1 750 motivierte, lernbereite, kluge, kritische wie
fröhliche junge Erwachsene an dieser Parlamentsausbildung beteiligt. Nur dreimal hat es ein vorzeitiges Ausscheiden gegeben - und das aus familiären Gründen.
Dieses spricht ebenso für die gelebte Mitverantwortung
unserer Stipendiaten wie für die Tragfähigkeit unseres
Konzeptes. Unsere Kollegen - das will ich deutlich sagen - bemühen sich um jeden unserer Gäste, auch wenn
es sich um komplizierte Persönlichkeiten handelt.
Piotr aus einem der baltischen Staaten gehörte dazu
- ein hochbegabter junger Mann, aber schlusig. An allem, was in Berlin geschah, hatte er Interesse - nur nicht
an den Abläufen in seinem Abgeordnetenbüro. Dazu
kam eine anhaltende Aufstehschwäche.
({2})
Er erschien nie vor 10 Uhr zur Arbeit. Nach vielen vergeblichen Besserungsversuchen wurde er in mein Büro
versetzt: Endstation für solche Fälle.
({3})
Mein Arbeitstag beginnt in der Regel um 6.30 Uhr bei
einem türkischen Bäcker. Piotr musste sich diesem
Rhythmus anpassen. Die Alternative wäre das Ende des
Praktikums und damit ein Reputationsverlust für sein
Land gewesen. Nein. Seinem Land wollte er auf keinen
Fall schaden. Er hielt durch. Sein Land bot ihm eine interessante Position im Parlament an. Nach einigen Telefonaten verlor sich dann der Kontakt zu Piotr. Erst acht
Jahre später, als ich wegen einer Kulturkonferenz sein
Land besuchte, traf ich ihn wieder. Er stand auf dem
Flugplatz, um mich abzuholen. „Moin, Moin“, sagte ich.
„Schön, dich wiederzusehen, Piotr. Aber wo ist dein
Minister?“ Piotr sah mich ein wenig verwundert an und
antwortete: „Ich bin der Minister.“
({4})
Auch in anderen Staaten haben ehemalige IPS-Stipendiaten Regierungsverantwortung übernommen und sind
Mitglieder in ihren Parlamenten. Über 100 sind in der
Parlamentsverwaltung, in der Wirtschaft, in Brüssel oder
als Journalisten tätig. Besonders viele engagieren sich in
Nichtregierungsorganisationen. Sie stellen sich ihrer geWolfgang Börnsen ({5})
sellschaftlichen und politischen Mitverantwortung. Das
ist ein Resultat, auf das unser Bundestag stolz sein kann.
({6})
Unsere Verantwortung geht aber weiter. So richtig
wie wichtig es war, uns vor 20 Jahren mit diesem Parlamentsprogramm den fundamentalen Umwälzungen in
Osteuropa zu stellen und uns aktiv am Aufbau junger
Demokratien zu beteiligen, so notwendig und solidarisch
wäre es, uns nun auch an den folgenreichen politischen
Umbrüchen in den arabischen Ländern zu beteiligen.
Öffnen wir das IPS auch für diese Länder! Stellen wir
uns an die Seite der neuen Demokratien!
({7})
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen, Herr Kollege Börnsen.
({0})
Das habe ich mir gedacht, Herr Präsident. Sie blinken
auch schon wieder so aufgeregt vor mir.
({0})
Genau. Wir wollen den jungen Leuten die strengen
Regeln des deutschen Parlamentarismus schließlich authentisch vermitteln.
({0})
Herr Präsident, das haben wir mit diesem Dialog hinreichend getan.
({0})
Ich würde aber gern mit Verständnis des Präsidenten des
Hauses meinen Schlusssatz noch loswerden. Das ist mir
sehr ernst. Noch immer leben mehr als die Hälfte der
Menschen auf unserer Erde in autoritär geführten Staaten,
mehr als die Hälfte. Demokratien sind in der Minderheit.
Wer Bürger- und Menschenrechten Raum verschaffen
will, muss den Parlamentarismus weltweit fördern und
bei jungen Leuten damit beginnen. Friede und Freiheit
auf unserer Erde sind erst dann gesichert, wenn überall
auf der Welt die Vision des großartigen amerikanischen
Präsidenten Abraham Lincoln gilt: Die Schaffung von
Demokratien, Regierung des Volkes durch das Volk für
das Volk.
Danke schön.
({1})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Petra Ernstberger
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mich erst einmal bei den Geschäftsführern bedanken, denen es gelungen ist, diesem
besonderen Programm dadurch Ausdruck zu verleihen,
dass wir hier heute diese Debatte führen können. Ich
glaube, viele der hier Anwesenden nehmen schon seit
langer Zeit an dem Austausch mit jungen Menschen teil.
Vielleicht können wir sogar noch mehr dafür gewinnen.
Wir kennen das Programm als IPS. Das ist unsere Abkürzung für Internationales Parlaments-Stipendium. Ich
freue mich auch, dass mehr als 200 Kolleginnen und
Kollegen den Antrag, den Herr Börnsen initiiert hat, unterschrieben haben. Denn das bringt die überfraktionelle
Verbundenheit mit diesem Programm zum Ausdruck.
Das zeigt, dass wir parteiübergreifend der Überzeugung
sind, dass der Bundestag kein in sich gekehrtes, nach innen gerichtetes, sondern ein offenes und transparentes
Parlament ist. Das leben wir auch. Er ist deshalb transparent und offen, weil wir Jahr für Jahr talentierte und politisch interessierte junge Menschen aus mittlerweile
-Herr Börnsen hat darauf hingewiesen - 28 Ländern in
den Bundestag einladen - wir können uns vorstellen,
dass noch etliche dazukommen können -, um die parlamentarische Demokratie live und in Farbe mitzuerleben.
Die Auswahl der jungen Menschen ist nicht immer
einfach. Es werden hohe Hürden aufgestellt, die die jungen Menschen überwinden müssen. Eine davon ist das
fast perfekte Deutsch, das wir erwarten, damit sie in unserem Parlamentsbetrieb mitarbeiten können.
Wir öffnen das Parlament für Entscheidungsträger der
Zukunft und tragen damit einen ganz wesentlichen Teil
dazu bei, dass Deutschland international vernetzt wird.
Das ist einmalig. Wenn wir ins Ausland fahren, hören
wir aus den Reaktionen aus anderen Parlamenten oft ein
Stück Neid heraus, wenn wir berichten, was wir in diesem Bereich hervorgebracht haben.
Aus den 25 Jahren IPS sind Diplomaten, Journalisten,
EU- und Ministerialbeamte, Mitarbeiter von Denkfabriken, politischen Stiftungen und NGOs hervorgegangen.
Viele von ihnen sitzen an besonderen Schaltstellen internationaler, supranationaler und nationaler Organisationen. Das ist unser Netzwerk.
Lassen Sie mich kurz ein Beispiel nennen. Ich engagiere mich sehr im Bereich der deutsch-tschechischen
Zusammenarbeit. Als uns der ehemalige Minister
Alexandr Vondra hier besuchte, sagte er bei einem Gespräch mit einem Lächeln: Frau Ernstberger, ich kenne
Sie persönlich noch nicht, aber ich kenne Ihr Netzwerk.
Das ist ein Erfolg des IPS.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle den vielen Personen danken, die es ermöglichen, dass wir im Parlament ein sol13688
ches Programm durchführen können. Ich möchte mich
bei Herrn Börnsen, aber auch bei Dagmar Freitag und
Bartholomäus Kalb bedanken, die die Arbeit des IPS inzwischen schon lange begleiten. Sie sind die Motoren
und das Herz dieses Praktikums.
({1})
Ebenso möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung herzlich danken, die
den Rahmen dafür schaffen, dass wir dieses Programm
überhaupt organisieren können. Nur mit ihnen kann eine
Umsetzung gewährleistet werden. Wichtig sind auch die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten, die
sich um die Arbeit, die Zuweisung und das Klima in den
Büros und Ähnliches kümmern müssen; denn es ist
wichtig, dass die Stipendiaten ein bisschen Lebensgefühl
von dem vermittelt bekommen, was bei uns in den Abgeordnetenbüros passiert. Deswegen gilt ihnen ein ganz
besonderer Dank.
({2})
Viel verdanken wir auch den externen Beteiligten,
zum Beispiel den Botschaften, die im Vorfeld bereits die
Auswahl treffen und damit viel organisatorische Arbeit
haben. Ich danke aber auch den politischen Stiftungen,
die für ein interessantes Rahmenprogramm sorgen.
Zum Schluss möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, herzlich danken, dass Sie Ihre Büros für
das IPS öffnen und damit den jungen Menschen und
auch uns die Chance gegeben haben, das Programm
durchzuführen.
Herzlichen Dank.
({3})
Die Kollegin Frau Dr. Christel Happach-Kasan ist die
nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich besonders, heute zum Thema Internationales
Parlaments-Stipendium sprechen zu dürfen, weil das
Thema uns alle bewegt und weil es eine Erfolgsgeschichte ist, die Europa prägt.
Am Anfang gab es nur einen Austausch mit den USA.
Gestern Abend trafen wir uns mit den 114 Stipendiaten
aus 27 Ländern, und wir hatten einen begeisternden Stipendiatenabend. Ein solcher Stipendiatenabend ist immer ein Spiegel, der uns vorgehalten wird und der uns
zeigt, wie junge Menschen, die überwiegend aus Europa
kommen, unser Land sehen. Gestern Abend war ich
schon etwas überrascht, dass sie das Thema Bonn-Berlin
aufgegriffen haben. Wir hatten dort eine bezaubernde
fette Henne; das muss man einfach einmal sagen.
({0})
Frau Kollegin, soll ich das als Kritik an dem Original
hinter mir ins Protokoll aufnehmen?
({0})
Herr Präsident, ich möchte ganz ausdrücklich sagen:
Das wäre ein bisschen zu weit gegangen.
Für die Klarstellung bin ich besonders dankbar.
Das freut mich, Herr Präsident. - Es gab auch einen
wunderbaren Chor der Fetten Hennen, die alle nicht fett
waren, uns aber deutlich gemacht haben, wie die Konkurrenz Bonn-Berlin und die Tatsache, dass Berlin
Hauptstadt dieses Landes ist, vom Ausland gesehen werden.
Das war für mich ein besonders erhebendes Ereignis,
weil sehr deutlich wurde, dass diese jungen Menschen,
die zu uns kommen, nicht nur etwas von uns nehmen
- Erfahrung in Demokratie, Erfahrung darin, wie ein demokratisches System funktioniert und wie die demokratischen Abläufe sind -, sondern uns auch etwas geben:
ihre Sicht auf unser Land. Alle Kollegen und alle Kolleginnen, die einmal einen Stipendiaten bei sich im Büro
betreut haben, wissen, dass das immer ein Geben und ein
Nehmen ist.
Ich empfinde es als ausgesprochen angenehm, diese
jungen Menschen bei mir im Büro zu haben. Bis jetzt
waren acht Stipendiatinnen und Stipendiaten bei mir.
Durch ihre jeweils andere Persönlichkeit war es in jedem
Fall ein Erlebnis, ein neues Land so nahe kennenzulernen.
Wir haben insbesondere Stipendiatinnen und Stipendiaten aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks, so
auch vom Balkan. Mein erstes Erlebnis in diesem Zusammenhang hatte ich 2003, als eine junge Frau aus Serbien und ein junger Mann aus Kroatien mir erklärten, sie
könnten in ihrer Sprache nicht miteinander sprechen,
Kroatisch und Serbisch seien vollkommen unterschiedlich, da gebe es gar keine Gemeinsamkeit, was ich mir
da wohl vorstelle, und das sei ja ganz falsch. Das war
2003. Schon 2004 war diese Ansicht Geschichte. Es hat
gewirkt, dass diese jungen Menschen bei uns zusammen
waren und festgestellt haben, dass die Ideologie, die ihnen teilweise zu Hause vermittelt wurde, mit der Realität
gar nichts zu tun hat.
Ich finde es gut, dass wir als Deutscher Bundestag
dazu beitragen, diese Völker einander wieder näher zu
bringen. Deshalb ist es auch richtig, dass wir im Bereich
der Außenpolitik entschieden haben, Visumfreiheit für
diese Länder zu organisieren, damit sie sehr viel mehr
Einblicke in das ganze Europa bekommen.
Wichtig und eine besondere Voraussetzung für ein
solches Programm ist natürlich der Deutschunterricht in
diesen Ländern. Hier leistet das Goethe-Institut gute ArDr. Christel Happach-Kasan
beit. Wir sollten bei allen Haushaltsberatungen immer
daran denken, dass wir den Deutschunterricht in diesen
Ländern stärken und dazu kommen müssen, dass sich in
möglichst vielen europäischen Ländern Deutsch als
zweite Fremdsprache etabliert. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass wir ein solches Programm durchführen
können.
({0})
Als Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe ist es mein Anliegen, dass die AlumniNetzwerke an den Botschaften gepflegt werden. Bei jeder Delegationsreise, die wir nach Lettland, Estland und
Litauen gemacht haben, haben wir dafür gesorgt und darauf gedrungen, dass die Botschaften diese jungen Menschen mit einladen, weil sich die Wirkung eines solchen
Programmes dann potenziert und wir erfahren, was sie
machen.
Eine Stipendiatin von mir ist inzwischen an der Botschaft in Serbien beschäftigt. Natascha aus Serbien habe
ich wiedergefunden, als wir in Belgrad neue Stipendiaten für das Programm ausgesucht haben. Sie ist dort eine
Netzwerkerin, genauso wie sie das hier im Deutschen
Bundestag schon gewesen ist. Diese Dame hatte sich damals nicht wirklich dafür interessiert, was in den Ausschüssen hier vor sich ging, aber sie war perfekt im Bilden von Netzwerken und im Knüpfen von Kontakten. Es
war ein Erlebnis, sie dabeizuhaben.
Wolfgang Börnsen, ich glaube, dass es richtig ist,
wenn wir dieses Programm ein bisschen ausweiten. Ich
denke ebenfalls an die nordafrikanischen Staaten und an
eine Unterstützung des Aufbaus ihrer Demokratien. Ich
denke aber zum Beispiel auch an ein Land wie die Mongolei, wo ein großer Teil der Menschen deutsch spricht.
Ich glaube, wir sollten es auch den jungen Menschen
dort ermöglichen, hierherzukommen.
Herr Präsident, gemeinsam mit der Kollegin Ute
Kumpf hatte ich Ihnen dazu einen Brief geschrieben.
Wenn wir darüber nachdenken, das Programm zu erweitern, dann sollten wir in unsere Überlegungen die Mongolei einbeziehen. - Klatsch doch einmal laut, Cornelia.
Es ist doch gar nicht so schlimm, bei mir zu klatschen.
({1})
- Die FDP ist da immer sehr solidarisch. Ich bedanke
mich.
({2})
Das Besondere an der Mongolei ist, dass die DDR
Kontakte in dieses Land unterstützt hat und dass es deswegen dort eine Führungselite gibt, die deutsch spricht,
und dass dort Deutsch gelernt wird. Das ist eine sinnvolle Voraussetzung, um weitere Kontakte zu knüpfen.
Ich könnte mir vorstellen, dass wir dieses Programm ein
bisschen ausweiten. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die sich hier engagieren, dies weiterhin zu machen. Sie geben nicht nur etwas, sondern Sie bekommen
auch unendlich viel zurück.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank für die
Aufmerksamkeit.
({3})
Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
aktuelle Tagesordnungspunkt ist der 25. Geburtstag des
IPS. Es ist toll, dass wir diesen Antrag fraktionsübergreifend gemacht haben und dass wir diese drei Tage nutzen,
um gebührend zu feiern. Der Geist, der durch diese Debatte weht - das ist ganz wichtig - macht deutlich: Gäbe
es das IPS nicht, man müsste es erfinden. Das zeigt die
Erfolgsgeschichte dieses Programms.
({0})
Als wir vor 25 Jahren begonnen haben, da stand hier
in Berlin noch die Mauer. Viele Länder, die heute bei
diesem Programm dabei sind, gab es noch gar nicht. Das
zeigt, welche Geschichte sich in diesen 25 Jahren abspielte und wie wir versuchen, einen kleinen Beitrag zu
leisten, dass in diesen Ländern demokratische Prozesse
forciert werden, dass diese Prozesse gestärkt werden,
dass junge Menschen in ihrem Heimatland versuchen,
diesen Prozess mitzubegleiten.
Diese jungen Menschen werden später nicht immer
Minister, Herr Börnsen. Oftmals sind es auch kleinere
Karrieren. Ich habe in dieser Woche einmal Rückschau
gehalten. Ein Beispiel ist die Europareferentin unserer
Bundestagsfraktion. Sie ist eine ehemalige Stipendiatin
aus Bulgarien. Gestern war ich sehr stolz, dass die jetzige Stipendiatin aus Lettland, die gestern aus Riga gekommen ist, die Zusage bekommen hat, als Dolmetscherin nach Brüssel zu gehen. Das zeigt: Solche Karrieren
fangen klein an. Für diese jungen Menschen ist es tatsächlich sehr wichtig, eine Praktikumsbescheinigung zu
erhalten, die sie vorzeigen können; denn eine solche Bescheinigung hilft ihnen bei ihren Karrieren.
Dem Dank, der hier schon an viele Adressen gegangen ist, möchte ich mich anschließen. Das sind die drei
Universitäten hier in Berlin. Das sind die vielen Mitarbeiter der Verwaltung. Das sind die politischen Stiftungen, die das Ganze mit ihren Programmen in hervorragender Weise begleiten. Aber letztendlich sind es auch
die Abgeordneten, die jedes Jahr immer wieder aufs
Neue gesucht werden müssen, die bereit sind, für fünf
Monate einen jungen Menschen aus diesen Ländern in
ihrem Büro mit auszubilden.
Ich kann nur an diejenigen Abgeordneten appellieren,
die bisher noch nicht dabei waren und vielleicht erst
heute auf das Programm aufmerksam werden: Das ist
eine tolle Sache. Das ist keine zusätzliche Belastung.
Vielmehr empfinde ich persönlich es so, dass diese jungen Menschen in meinem Büro eine Bereicherung darstellen.
({1})
Weil wir uns freiwillig oder auch gezwungenermaßen
mit diesen Ländern beschäftigen, betrachten wir vieles
in Diskussionen aus einem anderen Blickwinkel. Dabei
stellen wir auch unsere eigenen demokratischen Prozesse infrage; denn wenn wir gefragt werden, warum der
Bundestag etwas so und nicht anders macht, dann müssen wir vielleicht selbst antworten: So ganz klar ist das
nicht, das könnte besser gemacht werden. Die Stipendiaten bringen auch Lernprozesse für unsere Demokratie
mit ein.
Wir haben immer wieder darüber gesprochen: Wie
kann man das Programm erweitern und fortsetzen? Wir
können nicht auf dem aktuellen Stand stehen bleiben.
Wir müssen immer versuchen, die Inhalte zu evaluieren.
Wir müssen die Seminare der politischen Stiftungen kritisch hinterfragen. Die Frage ist auch, wie sich die Zusammenarbeit mit den Universitäten weiterentwickeln
soll. Ein weiterer Aspekt wurde schon angesprochen:
Können wir das Programm auch auf andere Länder ausdehnen? Als Beispiele sind Nordafrika und die Mongolei
erwähnt worden. Ich sage: Es wäre sinnvoll, auch die
Türkei mit ins Boot zu nehmen.
Wenn man etwas hinzunimmt, aber das Programm
nicht ausweiten kann, ist die entscheidende Frage, was
man an anderer Stelle wegnehmen kann. Das ist immer
ein schwieriger Prozess. Unter den teilnehmenden Ländern gibt es Staaten, in denen die Demokratie auf einem
ähnlich guten Stand wie in Deutschland ist, aber es fällt
uns aus anderen Gründen schwer, diese Länder aus dem
Programm herauszunehmen.
Wenn wir mehr Länder mit aufnehmen wollen, müssen wir deshalb darüber reden, ob wir das Programm insgesamt erweitern können. Sind finanzielle Mittel vorhanden? Stehen mehr Abgeordnete zur Verfügung? Ist
ein größeres Programm noch zu schultern? Es wäre fantastisch, wenn dies gelingen könnte. Denn es würden sicherlich über die 28 teilnehmenden Länder hinaus noch
viele andere gerne teilnehmen.
Der Dank gilt, wie gesagt, allen Beteiligten, die schon
genannt worden sind. Lassen Sie uns so weitermachen.
Es ist ein gutes Programm. Auf die nächsten 25 Jahre!
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Viola von Cramon-Taubadel hat jetzt
das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer gestern Abend die Präsentation der diesjährigen IPSler gesehen hat, weiß genau, worüber meine Vorredner geredet haben. Über 100 junge Menschen haben
mit viel Kreativität und Witz zum Ausdruck gebracht,
was sie in den fast fünf Monaten in Berlin im Alltag, im
politischen Umfeld und in unseren Büros mitgenommen
haben.
Es geht also um mehr als um irgendein Praktikum
oder um irgendeine Mitarbeit in unseren Büros. Es geht
darum, einer neuen Generation von jungen, politisch
denkenden Menschen aus den Partnerländern die Möglichkeit zu eröffnen, nicht nur gemeinsame berufliche
Erfahrungen, sondern vor allem auch soziale und kulturelle Erfahrungen zu machen. Es geht um das Vermitteln
von interkultureller Kompetenz, wie wir es immer so
schön nennen. Das ist also auch an uns adressiert.
Genau diese Mischung aus Politik, Wissenschaft und
Kultur macht das Internationale Parlaments-Stipendium
einmalig.
({0})
Der Deutsche Bundestag war meines Erachtens sehr gut
beraten, diesen Weg der Soft Power, wie wir es nennen,
1986 erstmals zu beschreiten.
({1})
- Das können Sie sicherlich machen, Herr Oswald.
Das ursprünglich für den Austausch mit den USA
konzipierte Programm ist sukzessive auf weitere Länder
ausgedehnt worden. Mittlerweile zeigt sich, wie wichtig
diese Erweiterung war. Vor allem die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa profitieren besonders von
einem solchen Austausch und der Mitarbeit im Deutschen Bundestag.
({2})
Das ist der erste Punkt, für den ich hier gerne werben
möchte - das klang auch schon teilweise an -: Es machen sich immer mehr Länder in unserer näheren und
weiteren Nachbarschaft auf den Weg zu einem neuen
politischen System. Einige entwickeln sich derzeit zu einer parlamentarischen Demokratie. Insbesondere für
diese sehr jungen, noch instabilen und anfälligen Demokratien wären Programme wie dieses geeignet, institutionelle Aufbauarbeit vor Ort in den Parlamenten mit zu
unterstützen.
Ägypten, das an der Schwelle zu einer Demokratie
steht, ist dafür ein gutes Beispiel. In mehreren Gesprächen mit jungen, gut ausgebildeten Ägyptern, aber auch
mit Marokkanern und Tunesiern habe ich eines mitgenommen: Geld allein wird diese Länder nicht weiterbringen. Aber wenn wir sie bei der parlamentarischen AusViola von Cramon-Taubadel
bildung unterstützen, wäre das Gold wert. Es wäre für
uns auch eine Investition in eine hoffnungsvolle Zukunft.
({3})
Das sollten wir bei der Aufstellung unseres nächsten
Haushalts unbedingt berücksichtigen. - Jetzt klatscht
keiner.
({4})
Der zweite, nicht zu unterschätzende Faktor ist der
Netzwerkgedanke. Gestern haben die ehemaligen Stipendiaten ein Alumni-Netzwerk gegründet. Der Herr
Bundestagspräsident hat das etwas spöttisch als deutsche
Krankheit abgetan.
({5})
Ich nenne es dagegen nachhaltige Außenpolitik. Solche
Vereine und Netzwerke sichern die Nachhaltigkeit dieses
Programms.
Zum einen halte ich es für essenziell, dass sich die
jungen Führungskräfte dauerhaft über ein Netzwerk austauschen; zum anderen ist das Programm selbstverständlich keine Einbahnstraße. Auch für uns Abgeordnete
zahlt sich die Zusammenarbeit mit den Partnerländern
aus.
({6})
Auch wir sind darauf angewiesen, den direkten Kontakt
zu Entscheidungsträgern in anderen Parlamenten zu suchen. Genau da fungieren die IPSler bzw. die ehemaligen IPSler als wichtige Brücke.
Weil wir auch langfristig den Dialog mit den Partnern
benötigen oder sogar ausbauen wollen, möchten wir dieses Programm zum beiderseitigen Vorteil noch lange
weiter unterstützen. Aber heute feiern wir erst einmal
das 25-jährige Bestehen des IPS, zu dem auch ich allen
Geburtshelfern - ich weiß nicht, ob einer von ihnen
heute anwesend ist - und heutigen Aktiven ganz herzlich
gratulieren möchte.
Danke schön.
({7})
Bevor sich hier eine verheerende Legendenbildung
festsetzt, will ich aus Gründen der historischen Wahrheit
darauf hinweisen, dass ich mir gestern Abend bei dem
Empfang die Bemerkung erlaubt habe, dass die Neigung,
die Wichtigkeit einer Sache durch Gründung eines Vereins zu dokumentieren, zu den herausragenden Merkmalen deutscher Kultur gehört.
({0})
Das ist nicht ganz dasselbe wie das, was in dem von Ihnen vorgetragenen Zitat erscheinen konnte.
({1})
Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Üblicherweise führen wir hier kontroverse Debatten. Heute kommt große Übereinstimmung zum Ausdruck. Umso leichter fällt es einem, der seit vielen
Jahren dabei sein darf, seine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, dass dieses Programm so gut gelungen
ist und dass wir so viele tolle junge Menschen hier in
25 Jahren zu Gast haben durften. Ich selber gehöre dem
Bundestag bereits seit 1987 an, fast so lange, wie das
Programm besteht. Ich empfinde es immer wieder als
große Bereicherung, mit diesen hervorragenden, tollen
jungen Menschen zu tun zu haben und diese Zusammenarbeit - auch in den entsprechenden Gremien -, die sehr
kollegial und freundschaftlich ist, pflegen zu dürfen und
das Programm weiterzuentwickeln.
Vorhin kam schon der Dank an die Kolleginnen und
Kollegen, die Universitäten, die Verwaltung des Deutschen Bundestages und die Stiftungen und viele andere
zum Ausdruck, die wir nicht namentlich nennen können.
Sie alle haben zum guten und erfolgreichen Gelingen
dieses Programms beigetragen und werden sicherlich
auch in Zukunft vollen Einsatz bringen. Herzlichen
Dank auch im Namen der ganzen CSU-Landesgruppe!
Der Fall des Eisernen Vorhangs ist zwar schon mehr
als 20 Jahre her. Aber ich persönlich empfinde es noch
immer als Glück und Segen für unser Land, für Europa
und für die Welt, dass die Teilung dieses Landes und dieses Kontinents mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl friedlich überwunden werden konnte.
({0})
Deswegen war es nur folgerichtig, dass wir seinerzeit,
kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dieses Programm ausgeweitet haben, insbesondere auf die Länder
Mittel- und Osteuropas, auf die Reformstaaten, auf die
neuen Demokratien.
Ich erinnere mich noch gut - genauso wie andere Kolleginnen und Kollegen - an Einzelfälle und einzelne
Teilnehmer, die seinerzeit unter ungeheuer schwierigen
Bedingungen Interesse bekundet haben, die Last auf sich
genommen haben und zu uns gekommen sind und die
sich nach der Rückkehr sehr stark in die Entwicklung
des Parlamentarismus und der Demokratie in ihren Heimatländern eingebracht haben. Einige Karrieren haben
wir ja verfolgen können. Es ist etwas ganz Besonderes,
dass hier ein Netzwerk über Ländergrenzen hinweg entstanden ist. Ich habe höchste Hochachtung vor diesen
jungen Menschen, die einen solchen Weg gegangen sind,
die sich so eingebracht haben und die jetzt im Rahmen
ihrer Möglichkeiten - es wurden bereits Beispiele genannt - die Freundschaft zu Deutschland, die Freundschaft zu uns und die Freundschaft zum Parlament pfle13692
gen. Das ist ein unschätzbar hohes Gut, erst recht, wenn
es schwierige Entwicklungen da oder dort gibt.
({1})
Darauf wurde schon hingewiesen: Es ist geradezu
eine Plattform entstanden, von der aus die jeweiligen
Programmteilnehmer aus den verschiedensten Ländern
miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten. Sie
pflegen nicht nur persönliche Freundschaften, sondern
sprechen sich auch in politischer Hinsicht ab. Viele dieser Menschen haben inzwischen erfreulicherweise sehr
wichtige und einflussreiche Positionen in ihren Heimatländern inne.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so bleibt
mir eigentlich nur, zu wünschen, dass sich dieses Programm, so wie es gestern bei diesem herrlichen Stipendiatenabend zum Ausdruck gekommen ist, in den nächsten 25 Jahren weiterentwickelt, damit die Vision, die
gestern vorgetragen worden ist, im Jahre 2036 Realität
werden kann. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und
Teilnehmern der Vergangenheit und der Zukunft alles
Gute und viel Erfolg. Uns, dem Deutschen Bundestag,
wünsche ich für die Zukunft viel Freude mit diesem Programm.
Herzlichen Dank.
({2})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste auf der Tribüne! Normalerweise ist es eine
Freude, als letzter Redner einer Debatte zu sprechen, vor
allen Dingen dann, wenn es um kontroverse Themen
geht. Heute Morgen ist es etwas schwieriger: Sie haben
festgestellt, wie einmütig wir dieses Programm unterstützen. Deshalb möchte ich nur noch einige wenige Anmerkungen, auch aus dem persönlichen Erfahrungsschatz, machen.
Wir sprechen in diesem Hohen Hause oft über Nachhaltigkeit - ein Begriff, der viele Debatten prägt. Dieses
Programm ist eine der nachhaltigsten Initiativen, die der
Deutsche Bundestag je geschaffen hat.
({0})
Das sollten wir uns vor Augen halten, wenn wir über die
sehr schmucklose Abkürzung IPS sprechen.
Das IPS ist alles andere als schmucklos oder langweilig, im Gegenteil: Es ist einzigartig, unverwechselbar
und, wie ich finde, in einem ausgesprochen spannenden
Alter - 25. Auf der Tribüne sitzen viele junge Leute, die
genau in diesem Alter sind. Erste Erfahrungen sind in
diesem Alter gemacht. Man hat daraus gelernt, und man
ist vor allen Dingen eines: noch neugierig auf die Zukunft. Sie, die jungen Menschen aus 28 Nationen, sind
die Zukunft ihrer Heimatländer. Sie bekommen hier die
Chance, Einsichten in den politischen Betrieb eines Landes zu gewinnen, das aus seiner bitteren jüngeren
Geschichte gelernt hat, wie verletzlich und daher wie
schützenswert demokratische Strukturen und Institutionen sind. Wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, lassen sie hautnah an dieser Arbeit teilnehmen: an
den Abläufen unserer parlamentarischen Demokratie, an
Sitzungen, an Beratungen, aber auch an dem, was im
Wahlkreis passiert. Mancher Stipendiat staunt schon,
was alles aus unseren Wahlkreisen an uns herangetragen
wird.
Wir ermöglichen ihnen durch Besuche in unseren
Wahlkreisen auch Einsichten anderer Art. Ich hatte einen
Stipendiaten aus dem sonnigen, trockenen Texas. Er kam
in meinen Wahlkreis und sagte nur eines: Ist das schön
grün hier. - Ich habe das Lob entgegengenommen und
habe verschwiegen, dass das wohl vor allen Dingen an
der Anzahl der Regentage im Sauerland liegt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ganz herzlicher
Dank an Sie alle. Ohne Sie, ohne Ihre Unterstützung
könnten wir, die Berichterstatter für dieses Programm,
diese Arbeit nicht in diesem Maße möglich machen.
({2})
Ohne Sie gäbe es dieses Programm nicht. Danke schön
dafür!
({3})
Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind diejenigen, die die jungen Stipendiaten einarbeiten. Wir, Abgeordnete und Mitarbeiter, bekommen aber auch sehr viel
zurück. Wir haben in der Regel hochmotivierte junge
Menschen in den Büros, denen wir die Chance geben,
nicht nur Einsichten zu gewinnen, sondern auch Vorurteile abzubauen, Informationen über das eigene Land zu
geben und ein internationales Netzwerk zu bilden, das
seinesgleichen sucht. Daher denke ich: Dieses Programm ist eine fantastische Investition in Toleranz, in
Demokratieverständnis, in Völkerverständigung, und es
ist somit jeden Euro wert, den wir dort investieren.
({4})
Wir haben heute häufig über den wunderbaren Stipendiatenabend gesprochen. Es war beeindruckend, mit wie
viel Fantasie und Empathie die jungen Menschen aus so
vielen Nationen eine gemeinsame Idee formuliert haben
- die Idee, zusammenzuarbeiten und zusammenzubleiben. Hierzu haben sie kürzlich sogar einen Förderverein
gegründet.
Ich glaube, dieses wunderbare Programm ist auf einem guten Weg. 25 ist kein Alter. Deshalb sollten wir
alle gemeinsam daran mitarbeiten, dass dieses Programm noch viele Jahre weiterbesteht.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Abgeordneten Wolfgang Börnsen, Bartholomäus Kalb,
Dagmar Freitag und weiterer Abgeordneter auf der
Drucksache 17/6350 mit dem Titel „25 Jahre Internationales Parlaments-Stipendium ({0})“. Jetzt wird es knapp:
Wer stimmt für den Antrag?
({1})
Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme?
({2})
- Das Präsidium ist sich einig, dass an der Mehrheit kein
Zweifel bestehen kann.
({3})
Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Damit hat der Deutsche Bundestag nicht nur mit großer Freude und ein bisschen Stolz den Erfolg von 25 Jahren dieses Programms gewürdigt, sondern gleichzeitig
seine Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, es fortzusetzen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und
Jugendlichen ({4})
- Drucksache 17/6256 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch, sodass wir so
verfahren können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann
Kues.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Eines steht fest: Mit dem neuen Bundeskinderschutzgesetz werden wir eine neue Qualität im Kinderschutz in
unserem Land erreichen. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz setzt die Bundesregierung eines der wichtigsten
Vorhaben in dieser Legislaturperiode um. Sechs Jahre
nach dem ersten spektakulären Fall der Kindesverwahrlosung und Kindestötung schaffen wir damit eine stabile
gesetzliche Grundlage.
Ich sage ausdrücklich: Der bestmögliche Schutz unserer Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlung ist
ein Anliegen, das uns fraktionsübergreifend eint. Dieses
Gesetz bringt Prävention und Intervention gleichermaßen voran. Es bezieht alle ein, die für den Schutz unserer
Kinder Verantwortung tragen: alle staatlichen Ebenen,
Bund, Länder und Kommunen, sowie professionsübergreifend alle Akteure im Kinderschutz. Es bezieht die
Eltern und Familien sowie systemübergreifend verschiedene Sozialleistungssysteme ein.
Deshalb war es uns so wichtig, den Entwurf des Gesetzes gemeinsam zu entwickeln - in einem intensiven
Dialog mit den Fachleuten aus der Praxis, aus den Verbänden und aus der Wissenschaft, aber auch mit Ländern
und Kommunen. Nur ein Kinderschutzgesetz, das von
einer breiten Unterstützung und vom Bewusstsein einer
gemeinsamen Verantwortung getragen wird, wird dem
Kinderschutz in Deutschland langfristig nützen.
Die Mühe hat sich gelohnt. Ich freue mich deshalb
über die sehr positive Resonanz auf den Gesetzentwurf.
Ich freue mich darüber, dass wir uns beim Bundeskinderschutzgesetz in vielen wichtigen Aspekten über die
Parteigrenzen hinweg einig sind. Auch der Bundesrat hat
in seiner Stellungnahme eine überaus positive Grundhaltung gegenüber dem Regierungsentwurf zum Ausdruck
gebracht.
So gibt es einen breiten Konsens zum Kernstück unseres Gesetzes, nämlich dem Aufbau und Ausbau sogenannter Früher Hilfen und verlässlicher Netzwerke. Das
betrifft den präventiven Kinderschutz. Frühe Hilfen und
verlässliche Netzwerke, die wir entwickeln und weiterentwickeln wollen, beugen vor, damit Kinder gar nicht
erst in Notlagen oder Gefahren geraten. Der frühe Kinderschutz beginnt in der Familie. Wir brauchen ein starkes Netz, das Familien in belastenden Lebenslagen auffängt.
({0})
Dafür schafft dieses Gesetz die Voraussetzungen.
Durch regionale Netzwerke machen wir alle wichtigen Akteure im Kinderschutz zu Kooperationspartnern:
Jugendämter, Schulen, Krankenhäuser, Ärztinnen und
Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei. Es
geht darum, dass zwischen diesen unterschiedlichen
Gruppen und Akteuren vor Ort eng zusammengearbeitet
wird. Die Arbeit darf nicht nebeneinander, sondern sie
muss miteinander erfolgen, weil es um den Schutz der
Kinder geht. Auf diese Art und Weise werden Hilfsangebote die Familien schneller erreichen. Die Wege sind
kürzer geworden.
In diesem Schutznetz spielen Hebammen eine besonders wichtige Rolle. Sie kennen die Familie oft schon in
der Zeit der Schwangerschaft, auf jeden Fall aber direkt
nach der Geburt. Die Eltern vertrauen ihnen. Dieses enge
Vertrauensverhältnis hilft nicht nur in medizinischer
Hinsicht. Familienhebammen mit ihrer Zusatzqualifikation können dieses Vertrauensverhältnis auch für die Be13694
ratung von Familien in schwierigen Lebenslagen nutzen.
Sie begleiten diese Familien bis zu einem Jahr nach der
Geburt des Kindes, unterstützen die Eltern-Kind-Beziehung und können Hilfen vermitteln. Dadurch übernehmen sie eine wichtige Lotsenfunktion im Netzwerk Früher Hilfen.
Deshalb wollen wir Länder und Kommunen dabei unterstützen, Familienhebammen einzusetzen, und zwar
vorbeugend im Sinne unseres gemeinsamen Ziels, Kinder besser vor Vernachlässigung und Gewalt zu schützen. Im Rahmen unserer „Bundesinitiative Familienhebammen“ stellen wir dafür insgesamt 120 Millionen Euro
für einen Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung.
Wir freuen uns, dass der Bundesrat grundsätzlich eine
Ausweitung der Hebammenleistungen befürwortet. Ich
sage ausdrücklich: Wir haben eine gute Lösung im Gesetz. Wir sind dafür offen, noch bessere Lösungen zu
entwickeln, wenn alle daran mitwirken, und zwar in jeglicher Hinsicht. Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens
gibt es hierfür Raum. Wir sind bereit, daran mitzuwirken. Über die Details können wir uns gern in den parlamentarischen Beratungen verständigen.
Ich sage aber auch ganz klar an die Adresse aller Beteiligten - Bund, Länder, Gemeinden -: Kinderschutz
gibt es nicht zum Nulltarif. Das muss jeder wissen. Wir
müssen in den Bereich der Frühen Hilfen investieren;
denn die Stärkung von Familien durch Frühe Hilfen und
verlässliche Netzwerke - gerade in den ersten Lebensjahren der Kinder - ist ganz entscheidend für einen erfolgreichen Schutz. Ich sage ausdrücklich: Der Bund
leistet seinen Beitrag. Wir hoffen, dass auch Länder und
Kommunen hierzu ihren Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, neben den Frühen Hilfen
ist im präventiven Kinderschutz ein weiterer Aspekt von
zentraler Bedeutung: Einschlägig Vorbestrafte müssen
von Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe ausgeschlossen werden. Eltern müssen sich darauf verlassen
können, dass der Staat ihre Kinder bestmöglich schützt,
wenn sie sie Personen anvertrauen, die im staatlichen
Auftrag oder im Rahmen eines staatlich finanzierten Angebotes tätig sind. Auch darüber besteht ein breiter Konsens.
Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass hauptamtliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen und
freien Jugendhilfe künftig ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen müssen. Auch Ehrenamtliche, die einen engen und intensiven Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben, werden ein erweitertes Führungszeugnis
vorlegen müssen. Es wird aber keine allgemeine Vorlagepflicht für Ehrenamtliche geben. Das wäre kompliziert
und höchst bürokratisch. Deswegen verpflichtet das Gesetz die Entscheidungsträger vor Ort, sich darüber zu
verständigen, für welche konkrete ehrenamtliche Tätigkeit die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses
erforderlich ist. Damit stärken wir den Schutz der Kinder, belasten aber das große Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiter nicht durch allzu viel Bürokratie.
({1})
Selbst die beste Prävention macht die Intervention leider nicht überflüssig. Deshalb sorgt das Bundeskinderschutzgesetz für mehr Handlungs- und Rechtssicherheit
in den Fällen, bei denen Intervention notwendig ist. Hier
geht es um die Aufgaben von Fachkräften in den Jugendämtern, aber auch im Gesundheitswesen, in der Schule
oder bei der Polizei. Diese Aufgaben sind höchst anspruchsvoll. Alle Beteiligten arbeiten zum Teil unter
sehr schwierigen Bedingungen und immer in dem Bewusstsein, dass Fehler katastrophale Folgen haben können. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Verantwortung, die die Fachkräfte zu tragen haben, nicht zu
groß wird.
Daher brauchen wir klare Vorgaben zu Handlungsbefugnissen und Handlungspflichten bei der Wahrnehmung
dieses Schutzauftrags. Auch dafür sorgt das Bundeskinderschutzgesetz. Es optimiert zum Beispiel die Zusammenarbeit der Jugendämter. Wenn Familien umziehen,
ist zukünftig sichergestellt, dass das neue Jugendamt alle
Informationen vom bisher zuständigen Jugendamt bekommt, die es braucht, um das Kind wirksam zu schützen. Auf diese Art und Weise wird auch das sogenannte
Jugendamts-Hopping erschwert oder verhindert.
Das Gesetz schafft mit einer bundeseinheitlichen Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger Rechtsklarheit
für Ärztinnen und Ärzte über den Umfang ihrer Schweigepflicht im Zusammenhang mit Kinderschutzfällen:
Bei akuter Kindeswohlgefährdung können Ärzte künftig
wichtige Informationen weitergeben, ohne Angst haben
zu müssen, sich strafbar zu machen.
Darüber hinaus enthält das Gesetz eine verbindliche
Regelung zum Hausbesuch. Ein Hausbesuch ist in bestimmten Fällen notwendig, um die Gefährdungslage
richtig einschätzen zu können. Das Gesetz sieht aber
keine Pflicht zum Hausbesuch vor, sondern einen Hausbesuch dann, wenn er nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist und sofern der Schutz des Kindes dadurch
nicht gefährdet wird.
Ein weiteres wichtiges Instrument zum Schutz von
Kindern und Jugendlichen ist nicht zuletzt die kontinuierliche Entwicklung der Qualität und ihre Sicherung.
Deshalb verpflichtet das Gesetz zur Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe und erhöht damit die
Verbindlichkeit fachlicher Standards vor allem im Kinderschutz.
Wir bedauern sehr - ich will das hier ganz offen sagen -, dass die Länder diesen für einen wirksamen Kinderschutz sehr wichtigen Schritt bislang nicht mitgehen
konnten.
({2})
Ich meine, dass sich die Länder vor dem Hintergrund der
Ergebnisse des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ an dieser Stelle bewegen müssen.
({3})
Ich denke, dass jedes Kind von Anfang an ein Recht
darauf hat, gesund und behütet aufzuwachsen. Das BunParl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
deskinderschutzgesetz hilft dabei entscheidend. Wir haben lange diskutiert, wir haben mit vielen diskutiert, wir
haben das erarbeitet, auch im Rahmen eines Runden Tisches. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf eine gute
Grundlage bildet, um sich, wenn guter Wille da ist - daran zweifele ich nicht -, parteiübergreifend und auch mit
den Ländern zu einigen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär,
von diesem Haus, von uns gemeinsam, herzlichen
Glückwunsch an die Ministerin zur Geburt ihrer Tochter!
({0})
- Zu der Geburt der Tochter Ihrer Ministerin, um das
korrekt auszudrücken.
({1})
Die Rede des Staatssekretärs könnte vermuten lassen,
dass die konsensuale Atmosphäre, die wir heute bereits
beim ersten Tagesordnungspunkt gespürt haben, sich
hier fortsetzen könnte. Ich darf Ihnen versichern: Das ist
im Grundsatz auch so. Wir haben wirklich gemeinsam
das Ziel, dass Kinder und Jugendliche gut, gesund und
sicher aufwachsen. Aber es liegt natürlich noch eine
ganze Menge Arbeit vor uns. Ich freue mich, dass der
Staatssekretär ausdrücklich gesagt hat, welchen qualitativen Sprung dieser Entwurf gegenüber den letzten bedeutet, und er Bereitschaft signalisiert hat, im parlamentarischen Verfahren einige Änderungen möglicherweise
gemeinsam vorzunehmen.
Der Entwurf weist in die richtige Richtung. Er hat zu
einem Teil den Schutz, aber zu einem anderen Teil auch
die Prävention zum Inhalt. Die Prävention war der
Punkt, an dem es damals in der Bundestagsfraktion der
SPD gescheitert ist: Der präventive Charakter war im
Gesetzentwurf von Frau von der Leyen nicht ausreichend verankert. Insofern muss ich ausdrücklich sagen:
Hier gab es einen Qualitätssprung. Wir sind sehr dankbar
dafür, dass Sie diese Anregungen aufgenommen haben.
({2})
Es ist auch richtig, dass der verstärkte Einsatz von Familienhebammen von Ihnen im Entwurf verankert worden ist. Natürlich haben Familienhebammen den besten
Zugang zu Familien. Sie genießen Vertrauen und können
deshalb auch die Brücke zur Kinder- und Jugendhilfe
aufbauen. Aber hier bleiben Sie tatsächlich auf halbem
Wege stehen, weil die Finanzierung nur eine Anschubfinanzierung darstellt. Sie sagen richtigerweise: Natürlich
müssen dort alle Ebenen Verantwortung mittragen und
die Maßnahmen mitfinanzieren. - Es wäre nur wünschenswert, wenn wir nicht immer nur irgendwelche Anschubfinanzierungen für Modelle auf den Weg brächten,
sondern von Anfang an klar wäre, wie die dauerhafte Finanzierung geregelt werden soll. Ich glaube, das sollte
unser gemeinsamer Anspruch sein. 30 Millionen Euro
jährlich über vier Jahre, also 120 Millionen Euro insgesamt, reichen nicht aus. Hinsichtlich der Finanzierung
muss eine Einigung mit den Ländern und Kommunen erzielt werden. Man muss ganz klar sagen: Da es über die
Finanzierung derzeit keine Einigung gibt, haben SPDwie unionsgeführte Länder dieses Vorhaben im Bundesrat erst einmal abgelehnt und in einem ersten Schritt die
Verlängerung der normalen Hebammentätigkeit auf
sechs Monate gefordert. Das ist verständlich. Wir haben
jetzt ausreichend Zeit, aber auch die Pflicht, eine Einigung darüber zu erzielen, wie die Finanzierung dauerhaft gesichert werden kann.
({3})
Die Länder und Kommunen werden mit der Anschlussfinanzierung überfordert sein. Derartige Situationen haben sie schon mehrfach durchlebt und durchlitten.
Ich darf an die Mehrgenerationenhäuser erinnern. Frau
von der Leyen ist durch das Land gezogen und hat sich
für die Etablierung der Mehrgenerationenhäuser, die
sinnvoll sind, feiern lassen. Wir wissen aber alle, dass
die dauerhafte Finanzierung aller Mehrgenerationenhäuser nicht gesichert ist.
({4})
Deshalb sage ich immer: Das Modellhafte muss aufhören. Bei einem Gesetzentwurf muss klar sein, wie die Finanzierung dauerhaft gesichert werden kann.
({5})
Richtigerweise sehen Sie bessere frühe Hilfen und
eine bessere Information von Eltern, zum Beispiel in
Form von Elterngesprächen, vor. All dies haben Sie aufgenommen. Von wem das umgesetzt wird, ist klar: von
den Kommunen. Die Kommunen müssen zusätzliches
Personal zur Verfügung stellen, um diese Aufgabe erfüllen zu können; denn die Jugendämter sind schon mit ihren jetzigen Aufgaben voll ausgelastet und haben keine
freien Kapazitäten. Deshalb müssen wir uns gemeinsam
Gedanken darüber machen, wie das Vorhaben umgesetzt
werden kann und wo das Geld dafür herkommt.
Die Kommunen haben darüber hinaus die Pflicht, bis
2013 den gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz zu
erfüllen. Es müssen Zigtausend zusätzliche Plätze geschaffen werden. Der von uns geforderte Kindergipfel
hat nicht stattgefunden. Wir sagen: Bitte setzt euch mit
Vertretern aller Ebenen zusammen, um die Finanzierung
zu regeln. Es ist immer wieder das gleiche Thema: Die
Finanzierung muss gesichert sein.
Wir halten den Weg über das Bundeskinderschutzgesetz für richtig. Wir appellieren eindringlich an Sie, die
Finanzierungsfrage gemeinsam mit den Ländern, den
Kommunen und den Bundestagsfraktionen zu lösen. Ein
letzter Appell: Solange es auf allen Ebenen, auf Bundes-,
Landes- und kommunaler Ebene, einen so enormen
Handlungsbedarf gibt und solange jeder sagt: „Wir brauchen Geld für sinnvollen Kinderschutz“, so lange sparen
Sie sich bitte Diskussionen über Steuerentlastungen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich bin der Meinung, dass dieses
Gesetz ein Meilenstein für den Kinderschutz in Deutschland ist. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass kaum
ein Thema ernster ist als das Thema „Kindesvernachlässigung, Kindesmisshandlung und Kindstötung“.
Von 1998 bis 2009 starben jährlich mehr als
50 Kinder durch einen tätlichen Angriff. Die Zahl der
Fälle der Misshandlung Schutzbefohlener hat sich in den
letzten zehn Jahren auf 4,4 Fälle pro 10 000 Kinder erhöht. Die Zahl der Sorgerechtsentzüge ist von 2005 bis
2009 um 40 Prozent gestiegen. Wenn es so weit kommt,
ist es allerdings meist schon zu spät. Das zeigt: Das Sicherheitsnetz für Kinder war bisher zu grob gestrickt. Es
ist daher aus Sicht der FDP-Fraktion sehr wichtig, dass
in diesem Gesetzentwurf die Prävention eine größere
Rolle spielt, und deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode, in der Opposition, den von Frau von der
Leyen vorgestellten Gesetzentwurf abgelehnt. Beides
gehört zusammen: Prävention und Intervention. Das war
uns von der FDP-Fraktion ganz besonders wichtig.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet eine Präzisierung und eine Beseitigung offensichtlicher Unrichtigkeiten des letzten Entwurfs. Die Prävention, die Frühen
Hilfen und die Schaffung eines dichten Hilfsnetzwerks
sind essenziell. Ich kann nicht verstehen, warum die
SPD diesem Gesetzentwurf nicht zustimmt.
({1})
Sie fordern selbst ein Kinderschutzgesetz.
({2})
- Ich habe Ihnen zugehört, aber der Presse konnte man
entnehmen, dass sich zum Beispiel Frau Rupprecht und
Frau Schwesig sehr zurückhaltend geäußert haben.
({3})
Wenn ich jetzt andere Stimmen vernehmen kann, freue
ich mich sehr;
({4})
denn ich bin der Meinung, dass wir das Kinderschutzgesetz fraktionsübergreifend angehen sollten. Ich werbe für
eine breite Zustimmung. Frau Rupprecht hat im letzten
Jahr gesagt:
Einen besseren Kinderschutz gibt es nicht zum
Nulltarif.
Das stimmt. Jetzt höre ich aber, dass wir von Bundesratsseite, von den Ländern, keine Zustimmung bekommen, weil es Geld kosten wird. Das ist widersprüchlich.
({5})
Passen Sie auf, dass Sie sich nicht in Widersprüche verstricken. Wir jedenfalls sind der Meinung: Wir brauchen
die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat für einen
besseren Kinderschutz.
Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf wird eine
Sollverpflichtung für die Bereitstellung Früher Hilfen im
SGB VIII festgeschrieben. Alle Akteure im Kinderschutz, zum Beispiel Jugendämter, Krankenhäuser,
Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei,
werden sich vernetzen. Wir schaffen ein Kooperationsnetzwerk. Es gibt beispielsweise in Bayern eine Koordinierungsstelle „Frühe Hilfen“ mit Sitz in Erlangen. Aufgrund des großen Erfolgs dieser Koordinierungsstelle
wurde das Modellprojekt mittlerweile verstetigt.
Es wird eine Stärkung der Kooperation im Einzelfall
geben: eine bundeseinheitliche Regelung zur Weitergabe
von Informationen an das Jugendamt bei Verdacht auf
Kindeswohlgefährdung. Dadurch schaffen wir Rechtssicherheit für Berufsgeheimnisträger wie Ärzte, Hebammen, Sozialarbeiter und Lehrer. Außerdem soll es eine
Informationspflicht gegenüber werdenden Eltern über
das örtliche Leistungsangebot geben. All das zeigt: Wir
weben ein Sicherheitsnetz, durch das kein Kind mehr
fallen soll.
Ein zentraler Aspekt ist die Einführung von Familienhebammen; dies ist uns als FDP ganz besonders wichtig.
Sie haben eine Schlüsselfunktion als Lotsen für Familien. Sie helfen, die Weichen für eine erfolgreiche und
liebevolle Eltern-Kind-Beziehung zu stellen und damit
den Grundstein für eine gute Bindung zu legen. Das Modellprojekt des Bundes über vier Jahre halte ich für richtig. Familienhebammen haben gegenüber normalen
Hebammen eine sozialpädagogische Zusatzausbildung;
das ist uns wichtig. Es ist uns unverständlich, warum der
Bundesrat das Modellprojekt ablehnt; ich vermute, weil
die Länder nach vier Jahren nicht die Kosten tragen wollen. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deswegen setze ich mich nach wie vor für die Einführung
von Familienhebammen ein.
({6})
Frühe Hilfen setzen an einem sensiblen Punkt an. Daher muss geschultes Personal zum Einsatz kommen. Im
Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass es für die Betriebserlaubnis eine Qualitätsentwicklung und -sicherung sowie verbindliche Standards gibt. Mir ist unverständlich,
warum der Bundesrat auch diesen Punkt ablehnt; denn
dies ist ein Ergebnis des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“. Qualitätsstandards und Qualitätssicherung sind essenziell. Das Rote Kreuz und andere Verbände begrüßen diesen Aspekt ausdrücklich. Auch im
Koalitionsvertrag ist vereinbart, die Qualität der Kinderund Jugendhilfe weiterzuentwickeln.
Der Gesetzentwurf stellt eine Qualitätssteigerung im
Vergleich zu dem vorherigen Entwurf dar; aber wir müssen darauf achten, dass das Gesetz nicht nur auf dem Papier gut aussieht, sondern auch finanziert und von den
Kommunen umgesetzt werden kann. Die Finanzausstattung der Jugendämter ist essenziell und uns ein wichtiges Anliegen. Das beste Gesetz hilft nicht, wenn die Jugendämter es nicht umsetzen können. Wir müssen noch
entsprechende Gespräche führen, um es weiter voranzutreiben. Jeder effektive Euro in der Prävention spart uns
später eine Menge Geld. Deshalb müssen wir hier vorankommen.
Wir spannen hier ein Sicherheitsnetz für Kinder, das
meines Erachtens gut ist und qualitativ die Regelungen
des ursprünglichen Gesetzentwurfs um einiges übersteigt. Ich freue mich, wenn ich hier heute in den Reden
von der SPD, aber auch von den Grünen breite Zustimmung signalisiert bekomme.
({7})
Ich bin der Meinung: Kinderschutz geht uns alle an. Ein
Bundeskinderschutzgesetz erfordert die breite Unterstützung aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich den Glückwünschen
an die Ministerin anschließen. Ich wünsche ihr, ihrer Familie und vor allem ihrem Kind, dass sie in allen Lebenslagen die Unterstützung finden, die sie brauchen - genauso, wie ich es natürlich allen Angestellten, Hartz-IVEmpfängerinnen und allen Menschen in diesem Lande
wünsche.
({0})
An den Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes sind
hohe Erwartungen geknüpft - nicht allein deshalb, weil
der Vorgängerentwurf gescheitert ist, sondern auch aufgrund der Debatte, die seitdem stattgefunden hat. Nach
dem öffentlichen Bekanntwerden der Vorfälle von sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern in kirchlichen
Einrichtungen hat es eine große Debatte darüber in der
Öffentlichkeit gegeben. Ein Runder Tisch ist eingesetzt
worden, eine unabhängige Beauftragte ist ernannt worden, und die Ergebnisse des Runden Tisches wie auch
der Abschlussbericht der unabhängigen Beauftragten haben das Ausmaß der Defizite bei Hilfs-, Beratungs- und
Präventionsangeboten erst deutlich gemacht. Genau deshalb habe ich die Hoffnung, dass wir hier ein Gesetz auf
den Weg bringen, das den Kindern tatsächlich hilft und
in der Realität Bestand hat.
Die Erfahrung zeigt leider, dass dieses Haus dazu in
der Lage ist, Gesetze für Kinder zu beschließen, die in
der Realität keinen Bestand haben und den Kindern nicht
helfen. Ich erinnere daran, dass die Bundesarbeitsministerin in dieser Woche einen Runden Tisch einberufen
hat, um sich mit dem vermurksten Bildungs- und Teilhabepaket zu befassen. Erst 30 Prozent der Berechtigten
haben Anträge gestellt. Das heißt im Umkehrschluss: An
70 Prozent der Kinder geht diese Leistung immer noch
vorbei; ihr verfassungsgemäßer Anspruch auf Bildung
und gesellschaftliche Teilhabe wird also noch nicht umgesetzt. Deshalb habe ich die große Hoffnung, dass wir
hier ein Gesetz beschließen, bei dem ein solcher Fehler
nicht auftritt.
({1})
Zunächst einmal möchte ich positiv anmerken, dass
die Zusammenarbeit bzw. Abstimmung mit den Verbänden, Vereinen und Initiativen viel besser funktioniert hat
als bei der Erarbeitung des vorangegangenen Entwurfs.
Das zeigen auch die positiven Kommentare in den Stellungnahmen der Verbände. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass ich als Parlamentarierin nicht Stellungnahmen zu einem Gesetzentwurf bekomme, der mir
noch gar nicht offiziell vorlag, aber so ist es nun einmal.
Ich habe mir den nun vorliegenden Gesetzentwurf, als
er offiziell zugestellt wurde, angeschaut. Ich finde es
richtig, dass zum Beispiel der verpflichtende Charakter
der Vorsorgeuntersuchungen oder auch der Hausbesuche, wie er im ersten Entwurf enthalten war, nun nicht
mehr im Gesetz stehen soll. Es ist richtig, dass man hier
nachgebessert hat. Ich denke aber, dass wir - das ist bei
der Rede von Frau Ziegler schon deutlich geworden auch an anderen Stellen noch nachbessern müssen.
Ich beginne einmal mit dem Grundsätzlichen. In
Art. 6 Grundgesetz heißt es:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.
Diese Sätze haben nun auch Eingang in das Bundeskinderschutzgesetz gefunden. Als Mutter von zwei Kindern sage ich: Natürlich haben die Eltern die Pflicht und
ist es ihre Aufgabe, ihre Kinder zu erziehen und für ihr
Wohl zu sorgen. Aber darin liegt auch ein Problem, das
sich in diesem Gesetz widerspiegelt: Wenn wir die Kinder- und Jugendhilfe nicht endlich auch als verpflichtende
Aufgabe des Staates statt nur als freiwillige Selbstverpflichtung oder gar als Bonusprogramm oder Katastrophenhilfe, wenn die Eltern scheitern, begreifen, dann
haben wir immer noch nicht verstanden, dass das Kindeswohl an erster Stelle stehen muss.
({2})
Ich sage es hier zum wiederholte Male: Wer es mit
dem Kinderschutz ernst meint, der muss Kinder ernst
nehmen, und wer Kinder ernst nimmt, der muss ihnen
Rechte geben. Deshalb gehören die Kinderrechte auf
Schutz, Förderung und Beteiligung in das Grundgesetz.
({3})
Dass die Kinderrechte immer noch nicht Eingang in das
Grundgesetz gefunden haben, hat sich am Runden Tisch
als Problem herausgestellt. Im Gesetzentwurf findet sich
ein Rechtsanspruch auf Beratung für Kinder und Jugendliche. Aber dieser Rechtsanspruch ist eingeschränkt; er
gilt nur in Not- und Krisensituationen. Woher soll eine
Siebenjährige oder auch ein Zehnjähriger wissen, wann
sie oder er sich in einer Not- und Krisensituation befindet und ohne Wissen der Eltern eine Beratung aufsuchen
darf? Erst dann, wenn das Kind zu Hause geschlagen
wird, oder bereits dann, wenn es sich mit dem Zeugnis
nicht nach Hause traut? Wo wird dieser Begriff kindgerecht erklärt? Wo wird den Kindern gesagt, wie eine solche Beratung abläuft und wer sie durchführt?
Vor wenigen Tagen war die Kinderkommission des
Deutschen Bundestages in Norwegen. Dort wurde ein
flächendeckendes Netz von Beratungs- und Fachzentren
aufgebaut, das allen Familien - nicht nur den sogenannten Problemfamilien - zur Verfügung steht. Es wird von
über 90 Prozent der Familien in Anspruch genommen.
Genau so ein Netz wünsche ich mir auch für Deutschland.
({4})
Dazu müssen wir den Weg hin zu einem - ich nenne es
einmal so - kooperierenden Föderalismus gehen. Es darf
nicht so sein, dass jeder sagt: Dafür bin ich nicht zuständig. - Wir müssen einen Weg finden, wie ein solches
Netz finanziert werden kann. Wir dürfen Länder und
Kommunen damit nicht alleinlassen.
Damit bin ich bei dem von Frau Ziegler schon angesprochenen Modellprogramm Familienhebammen. Ich
habe kein Problem mit diesem Angebot; ich finde es gut.
Die Kinderkommission hat dazu Anhörungen durchgeführt. Auch wir schlagen dieses Vorgehen vor. Aber warum nur für 5 bis 10 Prozent der Eltern? Warum wird
hier wieder stigmatisiert?
({5})
Es sollte nicht heißen: „Guck mal, zur Familie von gegenüber kommt immer noch eine Hebamme“, sondern es
sollte heißen: „Warum nimmt die Familie dieses Angebot eigentlich noch nicht wahr? Es ist doch ein gutes Angebot.“
({6})
Warum also wieder diese Einschränkung?
Das Hauptproblem, das ich mit diesem Modellprogramm habe, ist, dass es nur ein Modellprogramm ist.
Ich habe schon heute vor Augen, wie wir in vier Jahren
wieder herumlavieren werden, genauso wie beim Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser, beim Schulverweigererprogramm und bei den Programmen gegen
Rechtsextremismus. Wir alle werden dann sagen: Es ist
ganz prima, was da gemacht wurde; wir brauchen dieses
Programm unbedingt auch in Zukunft. - Wir wissen
schon heute, dass dieser Bedarf in vier Jahren noch vorhanden sein wird. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns
schon heute im Gesetz eine Regelung treffen, die eine
dauerhafte Finanzierung und ein flächendeckendes Angebot für alle Familien sicherstellt.
({7})
Meine Damen und Herren, neben der Frage des unabhängigen Rechtsanspruchs und dem Modellprogramm
Familienhebammen möchte ich ein weiteres Thema ansprechen. Wir brauchen ein Kinderschutzgesetz, das
wirklich allen Kindern hilft. Nach der UN-Kinderrechtskonvention sind alle Menschen unter 18 Jahren Kinder.
Ich habe aber den Eindruck, dass dieses Gesetz Eltern
und Kindern, die dem Kleinkindalter entwachsen sind,
nur relativ wenige Angebote macht. Eigentlich beschränken sie sich auf die von Herrn Staatssekretär Kues
angesprochenen erweiterten Führungszeugnisse. Das ist
ein Problem.
Was die erweiterten Führungszeugnisse angeht,
möchte ich konkret auf die Praxis zu sprechen kommen.
Die Basketballerinnen meines Lieblingsbasketballvereins, der Red Eagles Rathenow, treffen sich, wenn
Punktspielbetrieb ist, frühmorgens gegen 7 Uhr, um zu
ihren Turnieren zu fahren. Wenn dann ein Anruf kommt,
dass einer der Betreuer, die vom Verein gestellt werden,
ausfällt, dann ist das im Moment überhaupt kein Problem, weil dann der Vater von Sarah oder die Mutter von
Ina sagt: Laden wir mein Auto voll. Ich bringe die Kinder dorthin und betreue sie den Tag über. Ich habe heute
Zeit. - Wir wissen nicht, wie das in Zukunft laufen soll.
Hier müssen wir den Vereinen Sicherheit geben.
({8})
Ich finde richtig, was Sie, Herr Dr. Kues, gesagt haben: Man darf nicht pauschal von allen Ehrenamtlichen
ein erweitertes Führungszeugnis fordern. Aber wir müssen den Ländern einen Rahmen setzen. Wir dürfen nicht
zulassen, dass vor Ort ein Flickenteppich unterschiedlicher Vereinbarungen der örtlichen Träger entsteht, was
dazu führt, dass am Ende niemand weiß, was geschieht.
Ich kann das Bedürfnis nach Sicherheit und Absicherung
verstehen. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Regelungen, die getroffen werden, für die Vereine und die
Träger vor Ort umsetzbar sind.
({9})
Zum Schluss. Jörg Maywald, einer der Sprecher der
National Coalition, hat auf einer Veranstaltung einen
sehr einprägsamen Satz gesagt: Das Gegenteil von Recht
ist nicht Pflicht, sondern Unrecht. - Das Gegenteil der
Pflicht der Eltern zur Erziehung sind also nicht Kinderrechte, sondern ist Unrecht an Kindern. Ich hoffe, dass
wir es schaffen, in den bevorstehenden Beratungen im
Ausschuss, in der Anhörung und in der Auseinandersetzung mit den Sachverständigen zu einer Lösung zu kommen, die den Kindern Rechte einräumt und die Kinder in
der Praxis schützt. Ich freue mich auf diese Auseinandersetzung und auf diese Diskussion und kann Ihnen unsere kritische Begleitung zusichern.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat UNICEF einen Bericht zur Lage der Kinder
in Deutschland herausgegeben. In ihm stehen ein paar
Zahlen, die uns aufschrecken sollten: 33 700 Kinder
wurden im Jahre 2009 wegen schwieriger Familienverhältnisse in Obhut genommen. Das waren gegenüber
dem Jahr 2004 30 Prozent mehr. 26 Prozent der Kinder,
die beim Kindernottelefon anrufen, machen das, weil sie
sich von häuslicher Gewalt bzw. schweren körperlichen
Misshandlungen bedroht oder betroffen fühlen. Schlimmer noch: Im Jahre 2009 wurden in Deutschland
152 Kinder getötet, davon waren 126 unter sechs Jahre
alt. Das sind Zahlen, die uns jeden Tag von neuem dazu
verpflichten, über Kinderschutz in Deutschland zu reden
sowie in den Strukturen immer noch besser zu werden.
In diesem Sinne wird es wirklich Zeit, dass wir endlich
hier im Bundestag auch über dieses Thema diskutieren.
({0})
Ich bin, ehrlich gesagt, froh darüber, dass der Gesetzesvorschlag der Großen Koalition von 2009 keinen Bestand mehr hat, weil es massive berechtigte Kritik gab.
Die Regierung hat jetzt eine Vorlage erstellt, die sie nach
Konsultation der Fachverbände erarbeitet hat und in die
auch die Initiativen des Runden Tisches Eingang gefunden haben. Darin sind gute Ansätze enthalten. Auch der
Bundesrat wurde bereits im Vorfeld im Sinne eines gemeinsamen Bündnisses einbezogen. Von daher kann man
das Verfahren nicht kritisieren.
In der Sache muss man aber doch zu ein paar Punkten
Anmerkungen machen, auch kritischer Art. Wie sich übrigens die Grünen schlussendlich verhalten werden, wird
davon abhängen, was am Ende des Verfahrens vorgelegt
wird.
Erstens. Kinderschutz ist in der Tat nicht zum Nulltarif zu haben. Das ist eine wahre Aussage, Frau Gruß.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Kinderschutz kostet Geld. Deshalb ist es eigentlich nicht nachvollziehbar, warum in diesem Gesetzentwurf Kostenfolgen genannt, aber nicht nachvollziehbar erläutert sind.
Auch vom Bundesrat gibt es diese Kritik. Ich finde auch
richtig, darüber zu diskutieren, dass wir nicht nur etwas
wollen, sondern wie die konkrete Umsetzung bewerkstelligt werden soll. Daher müssen wir diese Bedenken
berücksichtigen. Im gleichen Atemzug kritisiere ich aber
auch die Kommunen und die Länder. Fehlende Berechnungen zu bemängeln, ist das eine. Ich wünschte mir auf
der anderen Seite aber auch Zahlen von Länderseite, also
dezidierte Kostenschätzungen in Bezug darauf, wie man
das Ganze umsetzen kann. Ein gegenseitiges Pingpongspiel, bei dem es um die Frage geht, wer es schlechter
macht, bringt uns an diesem Punkt nicht weiter.
({1})
Zweitens. Das Bundesgesundheitsministerium hat
sich leider bisher aus der gesamten Debatte komplett herausgehalten. Ich halte das für einen wirklich dramatischen Fehler. Wir reden über Schnittstellenprobleme und
über ein Netzwerk im Sinne des Schutzes der Kinder.
Wir reden darüber, dass die Mitarbeiter von Jugendämtern und Gesundheitseinrichtungen miteinander vernetzt
zusammenarbeiten sollen. Aber die Politik bzw. die Regierung führt ihnen gerade vor, dass es auf unserer
Ebene überhaupt nicht funktioniert.
({2})
Das kann nicht sein. Es ist nicht glaubwürdig. Wir müssen an diesem Punkt zusammenarbeiten. Da ist der Gesundheitsminister gefragt. Ich bedaure sehr, dass das Gesundheitsministerium in Bezug auf diesen Punkt so
ignorant ist. Das wird übrigens auch der größte Kritikpunkt vonseiten der Experten sein.
({3})
Ich komme jetzt zu dem Hauptpunkt, über den alle reden, nämlich zu den Familienhebammen. Ja, wir brauchen die Familienhebammen. Sie leisten wirklich gute
Arbeit. Wir brauchen auf diesem Gebiet übrigens auch
keine Projekte mehr. Es gibt dazu ausreichend Erkenntnisse. Wir wissen, was die Familienhebammen leisten;
es wurde viel über sie gesagt. Auch wir Grünen haben
bereits in der letzten Wahlperiode einen Antrag dazu eingebracht. Ich halte an diesem Thema fest. Im Hinblick
darauf gibt es aber - wie sehr ich Sie auch schätze - einen Dissens zwischen uns, Frau Golze.
Wir brauchen flächendeckende Angebote für Familien in besonderen Verhältnissen. Für diese Familien benötigen wir zielspezifische Angebote, mit denen genau
auf sie eingegangen werden kann. Wir brauchen sie
möglichst dringend und möglichst bald. Natürlich will
auch ich die Welt verbessern, aber ich will zunächst mit
dem ersten Schritt anfangen. Dafür brauchen wir das
Modell Familienhebammen. Ich kritisiere aber, dass es
tatsächlich nur ein Projekt ist, das zeitlich befristet ist.
Das ist nicht nachhaltig und wird vom Bundesrat zu
Recht kritisiert. Die Frage ist: Wie geht es weiter, wenn
es kein Geld mehr gibt, obwohl wir alle wissen, dass wir
die Familienhebammen brauchen? An diesem Punkt
müssen Sie nacharbeiten. Ich würde es für einen Fehler
halten, wenn es am Ende hieße: „Wir machen im Bereich
der Familienhebammen überhaupt nichts mehr“, so wie
darüber zurzeit im Bundesrat debattiert wird. Damit
würde wirklich ein Kernbereich aus diesem Vorhaben
herausbrechen. Dieser Punkt eignet sich nicht für den
Vermittlungsausschuss. Wir sollten da an einem Strang
ziehen und auch im Sinne der Familien in besonderen
Umständen gemeinsam daran arbeiten.
({4})
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, betrifft
das Qualitätsmanagement. Auch in Bezug auf das Qualitätsmanagement gibt es vonseiten der Länder Bedenken,
die man ernst nehmen muss. Sicher muss man dabei
auch über Zeitschienen und Verfahren reden und womöglich überlegen, welche Tatbestände dazu gehören
sollen. Das freiwillig, also ohne gesetzliche Verpflichtung, auszugestalten, halte ich aber für falsch. Dann würden wir sagen: Wir halten Qualität zwar für wichtig, und
auch der Runde Tisch hat in allen Sitzungen mehrfach
gesagt, wie wichtig Qualitätsmanagement ist; aber wir
überlassen das denen, die ohnehin engagiert sind. Das
wäre zu wenig. Wenn wir wirklich wollen, dass sich im
Sinne der Kinder und des Kinderschutzes etwas verändert, dann müssen wir mehr Verbindlichkeit herstellen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat einen Vorschlag
gemacht, an dem wir uns orientieren könnten. Wir sollten Verbindlichkeiten schaffen; es sollte kein freiwilliges
Add-on werden, nach dem Motto: Wer es will, macht es,
und wer es nicht will, macht es nicht. Wir stehen den
Kindern gegenüber in der Verantwortung. Wir sollten
nicht nur darüber reden, dass wir für sie Einrichtungen
schaffen, sondern wir sollten darüber reden, dass wir für
sie gute Einrichtungen schaffen.
({5})
Ein für die Grünen sehr wichtiger Punkt betrifft die
Meldepflichten für Geheimnisträger. Der Bundesrat hat
vorgeschlagen, diese Regelung den Ländern zu überlassen. Sie von der Regierung haben dem eine Absage erteilt. Halten Sie bitte an dieser Absage fest! Hier geht es
um das Vertrauen der Patienten, also der Eltern und Kinder, zum Arzt. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht verspielen. Ansonsten werden sie sich womöglich nicht
mehr an die vertrauensvollen Stellen wenden. Dann
kommen wir womöglich an die Kinder, die Jugendlichen
und die Eltern nicht mehr heran. Das wäre ein Fehler
und hätte verheerende Konsequenzen. Sie haben mit der
Befugnisnorm ein vernünftiges Verfahren vorgeschlagen. Als einheitliche Bundesnorm gäbe es dann auch
ausreichend Klarheit für die Aus- und Fortbildung und
die Praxis. Für uns ist es aber ein Tabu bzw. ein No-go,
dieses Vertrauen zu zerstören oder eventuell 16 verschiedene Regelungen in der Nation zu schaffen.
({6})
Dann weiß am Ende nämlich keiner mehr, wie es in den
jeweiligen Bundesländern aussieht. Halten Sie deshalb
an Ihrer Position fest.
({7})
Kinderschutz geht uns alle an. Das hat auch sehr viel
mit Kinderrechten zu tun; das ist richtig. Die Regelungen zum Kinderschutz sagen sehr viel darüber aus, in
welcher Gesellschaft wir leben und wie wir mit unseren
Kindern umgehen.
Ich möchte zum Schluss noch etwas Persönliches sagen. Für mich war das heute eine ganz besondere Rede,
da mein Sohn oben auf der Tribüne sitzt
({8})
und mir zum ersten Mal in seinem Leben live im Bundestag zuhört. Eine Mutter ist natürlich aufgeregt, wenn
er da oben sitzt und sie ausgerechnet zum Thema Kinderschutz reden hört. Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn;
das möchte ich hier sagen. Ich weiß, dass die Kinder von
Politikern - so geht es allen meinen Kollegen - sehr viel
entbehren müssen. Wir sind viel unterwegs, und das tut
uns immer leid. Ich werde das nicht wiedergutmachen
können; aber meine Zuversicht und meine Kraft schöpfe
ich auch aus meinen beiden Kindern. Sinan, du sollst
wissen: Wenn du mich brauchst, werde ich immer für
dich da sein. Damit wirklich jedes Kind, das im Leben
alleine ist, jemanden hat, der für es da ist,
({9})
dafür arbeiten, kämpfen und zanken wir. Das ist das Ziel
der Gesellschaft, in der ich will, dass du aufwächst,
Sinan.
Danke schön.
({10})
Dann wollen wir einmal hoffen, dass unsere Debatte
keine abschreckende, sondern eine einladende Wirkung
hat.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident, Sie haben das gesagt, als ich zum Mikrofon gegangen bin. Ich hoffe, das hat nichts mit meiner
Person, sondern mit der vorhergehenden Rede zu tun.
({0})
Ich glaube, da sind wir uns alle einig - diese Einigkeit
spiegelte sich auch in der bisherigen Diskussion wider -:
Wir wollen, dass unsere Kinder geschützt werden. Wir
wollen, dass sie liebevoll und behutsam aufwachsen,
dass sie das Leben genießen können und dass sie auf die
Dinge, die im Leben noch kommen und die schwer genug sein werden, vorbereitet sind. In der Jugend sollen
sie aber die Möglichkeit haben, geschützt aufzuwachsen.
Deswegen freue ich mich, dass heute ein Gesetzentwurf
vorliegt, in dem die Fehler der Vergangenheit aufgearbeitet worden sind.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Versuch unternommen, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg
zu bringen. Wir haben erkannt, dass die Vorgehensweise
nicht ganz korrekt war. Wir hatten nicht alle Beteiligten
so früh eingebunden, wie es nötig gewesen wäre. Das
haben wir jetzt geändert. Die Vertreter der Vereine, der
Verbände, auch der Länder und Kommunen und andere
Beteiligte saßen an einem Tisch und haben ihre Sichtweise eingebracht. Deswegen stößt der vorliegende Gesetzentwurf auf eine breite Zustimmung.
({1})
Das ist unser aller Verdienst.
Liebe Frau Golze, es ist im parlamentarischen Verfahren so, dass wir Abgeordnete erst ab der ersten Beratung
am Verfahren beteiligt werden. Ich verspreche Ihnen:
Wir werden die Zeit bis zur zweiten, dritten Beratung
nutzen, um all das, was an Kritik vorhanden ist, aufzuarbeiten und damit den Gesetzentwurf zu verbessern; denn
ein Signal ist wichtig - da schließe ich mich der Kollegin Deligöz an -: Wir alle wollen unsere Kinder schützen, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir das mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen.
Es gibt zwei große Bereiche, die diesen Gesetzentwurf ausmachen: zum einen die Prävention, zum anderen die Intervention. Dazu ist schon eine Menge gesagt
worden. Zum Bereich der Prävention möchte ich kurz
darauf hinweisen, dass uns die Frühen Hilfen sehr wichtig sind; denn wir wollen nicht warten, bis Kinder vernachlässigt, misshandelt oder geschlagen werden, sondern wir wollen den Eltern, die Schwierigkeiten haben
bzw. überfordert sind, früh genug Hilfen an die Hand geben. Die Eltern müssen wissen, welche Hilfen sie bekommen können. Dazu gehört ein gutes Netzwerk all derer, die Angebote machen. Was nützen die besten
Angebote, wenn die Betroffenen gar nicht wissen, dass
es sie gibt. Deswegen setzen wir auf ein gutes Netzwerk
und auf einheitliche Strukturen. Die Hilfsangebote müssen genutzt werden können, unabhängig davon, in welchem Bundesland man lebt.
Wir wissen auch, dass Frauen teilweise schon in der
Schwangerschaft Probleme haben. Deshalb war es wichtig,
im Rahmen dieses Gesetzentwurfs den Rechtsanspruch auf
eine anonyme Beratung während der Schwangerschaft
einzuführen. Wir wollen im Schwangerschaftskonfliktberatungsgesetz einen Rechtsanspruch festschreiben; denn
wir wissen: Schwangerschaften verlaufen unterschiedlich, und wenn Frauen merken, dass sie Schwierigkeiten
haben, dann müssen sie auf Angebote zurückgreifen können, die ihnen helfen, nach der Geburt mit dem Kind leben
und ihm geben zu können, was es braucht, nämlich Liebe
und Zuneigung.
Wir haben die Familienhebammen im Blick. Im Unterschied zu den anderen Hebammen haben die Familienhebammen eine Zusatzqualifikation. Deshalb sind
sie uns so wichtig. Man kann über alles reden, aber man
kann die Länder nicht ganz außen vor lassen. Ich kann
mich sehr gut an die Diskussionen erinnern, die wir im
Rahmen der Föderalismusreform geführt haben. Es ging
um die Zuständigkeiten im SGB VIII. Es gab große Belange der Länder, zuständig zu sein, also uns die Kompetenzen wegzunehmen. Aber so geht es nicht: Auf der einen Seite wollen sie Kompetenzen haben. Wenn aber auf
der anderen Seite diese Kompetenzen mit einer Finanzierung einhergehen, dann sagen sie: Jetzt ist der Bund
wieder dran.
({2})
So kann man nicht miteinander umgehen.
({3})
Bezogen auf die Hebammen heißt das: Wir sind alle
nicht dumm, wir kennen die Finanzierung. Das heißt, die
gesetzliche Krankenversicherung soll die Kosten übernehmen, aber damit wäre der Bund wieder zuständig.
Wir durchschauen das Spiel. Deswegen werden wir uns
gemeinsam zusammensetzen, um eine Lösung zu finden.
Aber so einfach machen wir es den Ländern nicht; das
sage ich an dieser Stelle ganz deutlich.
({4})
Im Bereich der Intervention brauchen wir Möglichkeiten, dass diejenigen, die mit betroffenen Menschen
arbeiten und ihnen helfen - Lehrer, Ärzte und Hebammen -, ihre Informationen austauschen dürfen. Deswegen ist es uns wichtig, die Möglichkeit zu schaffen, dass
Geheimnisträger bestimmte Informationen weitergeben
dürfen. Denn wir haben immer den Schutz des Kindes
im Blick. Je früher wir ein Kind schützen können, desto
besser sind seine Chancen auf eine gute Entwicklung.
Deswegen ist es gut, dass wir die Geheimnisträger an der
einen oder anderen Stelle von ihrer Schweigepflicht entbinden.
Frau Ziegler, Sie haben gesagt, dass die Finanzierung
das große Problem sei. Ich habe das beim Thema Familienhebammen bereits angesprochen. Ich sage deutlich:
Der Bund müsste es nicht tun. Wir finanzieren die Fami13702
lienhebammen für vier Jahre, wir sehen aber auch die
Notwendigkeit, die weitere Finanzierung zu klären. Für
uns ist es deswegen wichtig, dass wir nach zwei Jahren
einen Zwischenbericht abgeben und dass wir überprüfen, ob es funktioniert und wer sich an welchen Stellen
einbringen muss. Hier hoffe ich wirklich auf die Unterstützung aller Ebenen. Das ist nicht nur eine Bundesaufgabe, sondern das ist auch eine Länder- und kommunale
Aufgabe. Deswegen müssen wir nach dem ersten Zwischenbericht gemeinsam schauen, wie wir eine dauerhafte Finanzierung hinbekommen. Hier gebe ich Frau
Golze recht: Das müssen wir für alle Kinder auch über
2015 hinaus möglich machen. Daran werden wir gemeinsam arbeiten.
({5})
Frau Ziegler hat nach den Mehrgenerationenhäusern
gefragt. Auch hier haben wir ein Folgeprojekt auf den
Weg gebracht. Ich möchte an dieser Stelle nur einmal sagen: Als wir die Mehrgenerationenhäuser auf den Weg
gebracht haben, war eigentlich allen, die dieses Projekt
angenommen haben, klar, dass das eine Anschubfinanzierung ist und dass sich die Häuser danach selber tragen
müssen.
({6})
- Ja, es ist immer so: Man schaut, wo es gerade passt, wo
man mitmacht und wo man sich rauszieht.
Der Bund hat ganz klare Vorgaben gemacht. Es ist
nicht so, dass der Bund etwas auf den Weg gebracht hat
und jetzt alle dastehen und die Details nicht kannten.
Auch ich habe bei jeder Einweihung eines Hauses gesagt: Das ist eine Anschubfinanzierung, und ihr müsst
sehen, dass ihr die Finanzierung in der entsprechenden
Zeit sichert. Das war noch nicht überall möglich. Wir
sorgen jetzt für eine Folgefinanzierung. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Das kann keine Dauerfinanzierung
sein. Das müssen die Verantwortlichen vor Ort für sich
regeln. Sie müssen entsprechende Finanzierungen vorschlagen und auf den Weg bringen.
Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich
noch sagen: Wir können noch so gute Gesetze auf den
Weg bringen, Kinderschutz funktioniert aber nur, wenn
wir uns alle - Sie, ich, die Zuschauer oben, alle Menschen, die mit Kindern zu tun haben oder sie sehen verantwortlich fühlen. Ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass wir alle den Kinderschutz ganz oben auf die
Prioritätenliste setzen und sagen: Wir wollen gemeinsam
etwas verändern.
An dieser Stelle kann man sagen: Wegschauen hilft
nicht und ist keine Prävention für unsere Kinder. Lassen
Sie uns hinschauen!
({7})
Das Wort hat nun Marlene Rupprecht für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Alle Vorrednerinnen haben durchgängig zum Ausdruck gebracht,
dass das Aufwachsen von Kindern eine öffentliche Aufgabe ist - öffentlich insofern, als wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen müssen, dass die Eltern diese
Aufgabe gut wahrnehmen können.
Es ist ein Fortschritt im Vergleich zu früher, dass wir
uns das aufwachsende Kind eben nicht mehr nur dann
genau anschauen, wenn es zu Tode gekommen oder sehr
stark gefährdet ist, sondern dass wir sagen: Wir müssen
rechtzeitig schauen und allen Eltern und allen Kindern
rechtzeitig Hilfe zuteilwerden lassen. Es darf keine Diskriminierung geben, indem man zum Beispiel sagt, das
seien Hochrisikofamilien oder Familien, die diese Hilfe
besonders brauchen. Sie brauchen zwar besondere Hilfen, aber sie brauchen keine Diskriminierung, indem
man sie stigmatisiert. Ich denke, das ist auf dem Weg.
Wir sagen allen: Jeder kann in eine Situation kommen, in
der er Hilfe und Unterstützung braucht.
Stellen Sie sich vor, Ihr zweites Kind kommt behindert zur Welt, während das erste Kind zwei Jahre alt ist.
Sie brauchen dann Hilfe, um mit dieser Aufgabe, die auf
Sie zukommt, fertigzuwerden. Hier nützen Ihnen keine
Drohungen und kein Angstmachen, sondern Sie brauchen in diesem Moment aufgeschlossene Menschen, die
Ihnen zeigen, wie man mit dieser Herausforderung klarkommt.
({0})
Ich glaube, wenn das in alle Köpfe gekommen ist, dann
haben wir in Deutschland wirklich einen großen Quantensprung weg vom Feuerwehr-Spielen hin zu einer
Struktur gemacht.
Durch die UN-Konvention wird das vorgeschrieben;
die Kolleginnen haben es vorhin gesagt. Deshalb plädiere ich wirklich vehement dafür, dass uns der Schutz,
die Förderung und die Beteiligung von Kindern sowie
die Herstellung von kindgerechten Lebensverhältnissen
so viel wert sind, dass diese Aufgaben in unserer Verfassung verankert und nachlesbar sind.
Wie wichtig das ist, konnten wir an dem Runden
Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“, der noch läuft, und
an dem Runden Tisch „Heimerziehung“ sehen. Kinder,
denen man anscheinend helfen wollte und die man oft,
aus welchen obskuren Gründen auch immer, aus ihren
Familien herausgenommen hat, sind massiv missbraucht, misshandelt, gedemütigt und als Mensch gebrochen worden. Was hatten diese Kinder nicht? Ihnen
wurde keine Hilfe gewährt, es gab keine diesbezügliche
öffentliche Verantwortung. Deshalb ist eine der zentralen
Forderungen der Runden Tische: Kinder und Familien
brauchen Anlaufstellen, an die sie sich wenden können,
oder Ombudschaften, wie immer Sie das nennen mögen.
Wir brauchen qualifizierte Menschen als AnsprechpartMarlene Rupprecht ({1})
ner. Das haben wir in den Gesetzestext - Stichwort
Fachkräfte - aufgenommen. Das war eines der Ergebnisse, das wir, Michaela Noll und ich, zum Schluss ausgehandelt haben. Vieles von dem entdecke ich jetzt im
Text des Gesetzentwurfs wieder und bin darüber sehr
froh.
Die Fachkräfte bekommen wiederum erfahrene Fachkräfte zur Unterstützung. Familien und Kinder, die in
Not sind, brauchen Anlaufstellen. Diese Aufgabe müssen wir jetzt angehen. Das hat diese Woche auch die
Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen deutlich gemacht. Wir müssen endlich das umsetzen, was schon immer im Gesetz steht. In § 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist die Zusammenarbeit aller festgeschrieben,
die mit Kindern arbeiten. Wir nehmen diesen Punkt
ebenfalls in den Gesetzestext auf.
Manchmal ärgere ich mich über die Beteiligten und
möchte sie am liebsten schütteln. Warum ist diese Zusammenarbeit nicht möglich? Irgendjemand hat vorhin
gesagt: Wir schaffen es manchmal noch nicht einmal
hier im Hause, richtig zusammenzuarbeiten. Ich bin
froh, dass heute auf der Regierungsbank die Staatssekretärin aus dem Gesundheitsministerium neben dem
Staatssekretär aus dem Familienministerium sitzt. Ich
glaube, Sie haben keine Kommunikationsprobleme.
Aber die Häuser haben manchmal Kommunikationsprobleme. Wenn es die entsprechenden Vertreter der Ministerien schafften, sich zusammenzusetzen, dann wäre das
für die Familien und die Kinder optimal.
({2})
Dieses Pingpongspiel wird immer auf dem Rücken
der Menschen ausgetragen und kostet eine Menge Geld.
Damit bin ich beim Thema Geld; das ist schon mehrfach
angesprochen worden. Wir versuchen - das Beispiel der
Mehrgenerationenhäuser wurde schon genannt -, deutlich zu machen: Es muss eine soziale Daseinsfürsorge
für die Menschen geben. Der Lebensmittelpunkt dieser
Menschen sind die Gemeinden und Städte, in denen sie
leben. Daher brauchen diese ausreichend Geld, um Einrichtungen der sozialen Daseinsfürsorge vorhalten zu
können. Es darf keinen Flickenteppich geben, sondern
die Mittel müssen für jede Kommune individuell unterschiedlich bereitgestellt werden, so wie sie gebraucht
werden.
Dafür müssen sich Bund, Länder und Gemeinden
endlich zusammensetzen, sonst passiert das, was die
Länder gerade in einer Absprache hinter unserem Rücken gemacht haben, nämlich die Leistungen in der Jugendhilfe noch weiter herunterzufahren. Irgendwann
geht das nicht mehr. Man kann nicht einer Familie sagen: Im August gibt es leider kein Geld mehr. Es gibt
keine Hilfe mehr, auch wenn diese Hilfe dringend gebraucht wird. - Wir müssen uns überlegen, wie wir die
Gelder besser verteilen und dorthin bringen, wo sie gebraucht werden.
({3})
Das geht über das hinaus, was wir bisher in den Föderalismuskommissionen gemacht haben. Ich bitte Sie
ganz dringend: Es wird die Aufgabe sein - darauf müssen wir achten -, dass Standards und die Qualität eingehalten werden. Ich weiß, dass das die Länder und die
Kommunen nicht gerne sehen. Aber es ist notwendig,
dass hochqualifizierte Menschen in diesen Bereichen tätig sind, dass klare Regeln gelten und dass wir wissen,
ob Jugendamt A oder Jugendamt B zuständig ist. Wichtig ist: Hochqualifizierte Menschen müssen für die Familien da sein, um in schwierigen Situationen zu helfen.
Von daher brauchen wir ganz klare Vorgaben.
({4})
Ich will etwas sagen, was heute noch nicht angesprochen worden ist. Es ist ganz wichtig, dass man beim
Schutz der Familien nicht übers Ziel hinausschießt.
Schutz ist wichtig, aber eine totale Kontrolle geht nicht.
Wir können nicht an jedem Kinderbett eine Kamera befestigen oder einen Polizisten daneben stellen.
({5})
Das Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Kontrolle müssen wir ganz stark im Blick haben, sonst kommen wir dort an, wo wir bei den Heimkindern aufgehört
haben: zu glauben, wir wüssten, was gut ist. Das ist der
falsche Weg. Wichtig ist für uns, dass wir den Menschen
das Gefühl geben, sie können den Fachkräften, mit denen sie zu tun haben, vertrauen. Sie müssen wissen, dass
die Menschen um sie herum keine Denunzianten, sondern Nachbarn sind, mit denen man über Probleme reden
kann. Daran arbeiten wir. Ich finde es sehr gut, dass wir
das heute gemeinsam machen wollen. In diesem Sinne
hoffe ich auf gute und gemeinsame Beratungen in den
nächsten Monaten.
({6})
- Das glaube ich auch, Michaela.
Danke.
({7})
Das Wort hat nun Sibylle Laurischk für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die
Anhörung zum Thema Heimkinder Anfang dieser Woche verfolgt hat und als Gegensatz dazu gestern Abend
das Fest der IPS-Stipendiaten miterlebt hat, weiß, wie
unterschiedlich sich die Kindheit auf die Entwicklung
von jungen Menschen auswirken kann. Ich glaube, gerade in diesem Spannungsfeld wird uns deutlich, dass
der Kinderschutz ein Thema ist, das uns permanent beschäftigen muss.
Die Botschaft dieses Entwurfs, mit dem wir uns im
Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens beschäftigen,
ist richtig, nämlich dass mehr Kooperation aller notwendig ist, die sich mit dem Wohl von Kindern beschäftigen
und sich beruflich um ihren Schutz kümmern. Dabei ist
es wichtig, ein Netzwerk von Leistungsträgern so zu gestalten, dass verbindliche Strukturen den Kinderschutz
gewährleisten.
Die Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen und
Hebammen auf der einen Seite und Jugendämtern und
Familiengerichten auf der anderen Seite soll für den
Konfliktfall verbindlich geregelt werden. Ich denke, es
ist sehr wichtig, dass auch die Ärzteschaft Rechtsklarheit
darüber bekommt, dass sie im Falle von Hinweisen auf
akute Gefährdung des Kindeswohls berechtigt ist, dem
Jugendamt einen Hinweis zu geben. Die Ärzteschaft tut
sich wegen der ärztlichen Schweigepflicht damit schwer.
Ich denke, dass wir diesen Konflikt mit einer gesetzlichen Maßgabe endlich lösen.
Ich habe in allen Redebeiträgen den Hinweis darauf
vermisst, dass wir das Jugendamts-Hopping beenden
wollen.
({0})
- Dann ist es wohl doch angesprochen worden. - Mir ist
es sehr wichtig, diesen Punkt zu betonen. Das ist nach
meinem Dafürhalten eine sehr wichtige Maßnahme.
Denn bisher war häufig das Phänomen zu beobachten,
dass sich Familien immer dann, wenn das Jugendamt
aufmerksam wurde oder von anderer Seite Hinweise auf
Verwahrlosung oder Vermüllungstendenzen in einer
Wohnung kamen, durch Umzug entziehen. Dann ist ein
neues Amt zuständig, und dort weiß niemand Bescheid.
Das soll jetzt geändert werden: Die Akte wandert mit.
Dann kann auch in den Ämtern niemand mehr sagen:
Das haben wir nicht gewusst. Die Eltern wiederum wissen, dass sie nicht einfach ausweichen können.
Es gibt aber Beratungsangebote. Dafür wird noch
mehr geworben werden müssen. Es ist keine Sanktion,
sich einer Beratung zu stellen; es geht vielmehr um echte
Hilfen, mit denen Kindern eine Perspektive geboten
werden kann. Das kann funktionieren. Dafür gibt es bereits positive Beispiele. Wir brauchen aber auch eine gesetzliche Regelung.
Die Qualifizierung von hauptamtlichen Mitarbeitern
in den Institutionen ist ein weiteres wichtiges Thema.
Wir haben uns aber auch mit dem Thema Führungszeugnisse im ehrenamtlichen Bereich befasst. Dieses Thema
wird auch am Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ heftig diskutiert. Wir sind als FDP-Fraktion der
Meinung, dass die Verpflichtung zur Vorlage erweiterter
Führungszeugnisse Sinn macht. Aber eine übertriebene,
detailverliebte Pflicht zur Abgabe von Führungszeugnissen, die sich bis hin zu solchen Mitarbeitern erstreckt,
die noch sehr jung sind oder sich nur ganz geringfügig
ehrenamtlich betätigen, ist eine falsche Botschaft. Wir
sind noch im Beratungsprozess. Insofern werden die
Diskussionen über den Gesetzentwurf uns inhaltlich
noch eine Weile beschäftigen.
Für sehr wichtig halte ich den Anspruch auf eine
frühe Beratung, durch die Kinder und Jugendliche darauf hingewiesen werden, dass sie in entsprechenden
Einrichtungen - hier gibt es auch viele ehrenamtliche
Mitarbeiter - Hilfe bekommen können. Die Finanzierung dieses niedrigschwelligen Beratungsangebots ist
bisher noch nicht gesichert. Wir werden darüber noch
weitere Diskussionen führen, die hoffentlich zu einem
guten Ende führen.
Gerade die Diskussion am Runden Tisch hat mir deutlich gemacht, dass insbesondere missbrauchte Jungen zu
selten Beratungsangebote wahrnehmen. Dieses Feld ist
bislang, glaube ich, zu wenig beachtet worden. Es muss
ein konkretes, spezifisches Angebot an Jungen und Männer geben, die sich mit dem Missbrauch in ihrer Kindheit
auseinandersetzen wollen.
Stichwort „Pflegeeltern“. Wir werden darüber nachdenken müssen, inwiefern die Einbindung von Pflegeeltern auf diesem Feld sinnvoll ist. Auch hier gibt es Beratungsbedarf.
Wir stehen am Anfang einer interessanten Gesetzgebungsdebatte. Ich wünsche, dass wir in der fachlichen
und qualifizierten Auseinandersetzung, die von uns im
Ausschuss gepflegt wird, zu guten Ergebnissen kommen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unserer Bundesfamilienministerin zur Geburt ihrer Tochter gestern ganz herzliche Glückwünsche aussprechen. Ich hoffe, dass wir sie
nach ihrem angemessenen Mutterschutz wieder gesund
und munter in unseren Reihen begrüßen dürfen.
({0})
Ich freue mich über die heutigen Signale aus allen
Fraktionen. Sie stimmen mich optimistisch, dass wir
eine Einigung hinbekommen. Es scheint ein gemeinsames Anliegen zu sein - das ist bei Frau Rupprecht sehr
schön zum Ausdruck gekommen -, im Bundestag eine
fraktionsübergreifende Lösung hinzubekommen. Es gibt
sicherlich noch gewisse Unterschiede; das ist völlig normal. Trotzdem wäre es gut, jetzt die Kritikpunkte aufzunehmen und dann gemeinsam darüber nachzudenken,
wie wir diese konsensual beseitigen können, damit es in
der zweiten und dritten Lesung einen breiten Konsens
gibt.
Wir alle sind sicherlich schockiert, wenn wir nicht nur
in unseren Wahlkreisen, sondern bundesweit mit Schlagzeilen konfrontiert werden, aus denen hervorgeht, dass
Kindern Essen und Trinken vorenthalten wurde. Das
sind noch harmlose Fälle. Oft sind die Schicksale hinter
den Schlagzeilen noch wesentlich schlimmer. Natürlich
beherrschen solche Schicksale sehr stark die Titelzeilen
der Medien, manchmal leider nur für Tage, manchmal
aber auch über Wochen. Egal ob die Kinder Jessica, Kevin oder Lea-Sophie heißen, wir müssen uns intensiv damit befassen, welche Schicksale sich hinter diesen Namen verbergen, und uns die Fragen stellen, warum es so
weit kommen konnte und wer eventuell an welcher
Stelle seine Arbeit nicht ordentlich geleistet hat bzw. ob
- das wurde von Ingrid Fischbach schon angesprochen nicht genau genug hingeschaut wurde. Das geht jeden
Einzelnen etwas an.
Wenn man nachforscht und die Zusammenhänge
kennt, dann fällt einem auf, dass ein Wort über allem
steht: Überforderung. Aber in einem Land wie Deutschland darf niemand, egal ob Vater, Mutter oder beide Elternteile, überfordert sein, weil er mit Kindern nicht zurechtkommt. Die Gesellschaft muss dann da sein. Man
kann es gut oder schlecht finden, Fakt ist aber leider
Gottes, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland
nicht mehr in Großfamilien lebt. Es ist nicht der Normalfall, dass sieben, acht oder neun Kinder in einer Familie
mit den Großeltern unter einem Dach oder auch im selben Ort zusammenleben. So fehlt oft ein Ansprechpartner.
Das ist einer der Gründe, warum wir uns jetzt intensiv
mit dem Bundeskinderschutzgesetz befassen müssen.
Mit oberflächlichen Diskussionen dürfen wir uns nicht
zufriedengeben. Wir wollen Ansprechpartner schaffen.
Natürlich kann man sich nun darüber streiten, wer das
sein soll, wie diese heißen sollen und wer zuständig ist.
Aber dass wir Ansprechpartner und entsprechende Rahmenbedingungen brauchen, ist völlig klar.
Um welche konkreten Maßnahmen geht es? Wir haben schon vor der letzten Bundestagswahl sehr intensiv
darüber diskutiert. Uns allen war klar, dass wir den
Schwerpunkt noch sehr viel stärker auf die Bereiche Prävention und Intervention legen müssen. Über die Familienhebammen ist heute schon oft gesprochen worden.
Auch ich möchte ein paar Takte zu den Familienhebammen sagen, weil das für mich eine Herzensangelegenheit
ist. Ich freue mich, dass du, Ekin Deligöz, heute deinen
Sohn mitgebracht hast. Man sollte nicht immer seinen
eigenen Erfahrungsschatz ausklammern. Es ist gut und
schön, dass hier im Deutschen Bundestag Menschen mit
so unterschiedlichen Biografien vertreten sind.
Selbst diejenigen, die schon einmal Erfahrungen mit
Hebammen gemacht haben - ich denke auch an diejenigen, die in einem gut funktionierenden Familienbund
untergebracht sind -, sind oft froh, wenn sie einmal mehr
die Möglichkeit haben, nachzufragen. Viele Mütter, bei
denen zwischen der Geburt ihres ersten und ihres zweiten Kindes ein größerer Abstand besteht, erzählen, dass
sie gedacht haben, sie müssten wieder bei null anfangen.
Natürlich wäre es wünschenswert - das weiß ich auch -,
ein entsprechendes Angebot immer allen Müttern zur
Verfügung zu stellen. Wünschenswert wäre darüber hinaus, dafür zu sorgen, dass das Ganze nicht nur ein Projekt ist. Ich weiß, dass die von uns angestrebten Projektförderungen ein deutsches Phänomen sind. Auch mir
wäre eine größere Kontinuität an dieser Stelle lieb. Man
muss wirklich schauen, was finanziell machbar ist. Ehrlich gesagt, möchte ich jetzt aber keine Diskussion darüber führen, ob in einzelnen Fachbereichen unnötig
Geld ausgegeben wird. Ich glaube, wir sollten uns gegenseitig keine Vorwürfe machen und nicht die Einzelpläne miteinander vergleichen.
Entscheidend ist, den Ländern einmal klarzumachen,
worin ihre Verantwortung besteht. Das Ganze ist keine
reine Angelegenheit des Bundestages, sondern geht
wirklich alle parlamentarischen Ebenen etwas an. Vor
Ort kann besser erkannt werden, wo Hilfe notwendig ist.
Natürlich sind auch wir in der Pflicht, dazu einen großen
Beitrag zu leisten. Heute wurde bereits mehrfach das
Beispiel Mehrgenerationenhäuser angesprochen. Dazu
muss ich ganz ehrlich sagen: Die diesbezügliche Projektförderung ist für mich kein Bezugspunkt. Dieses Projekt
wurde ins Leben gerufen, und wir erweitern es jetzt. Das
ist alles gut und schön. Die Notwendigkeit des flächendeckenden Einsatzes von Familienhebammen, deren
Hilfe jede Familie in Anspruch nehmen kann, ist hingegen etwas anderes. Man sollte meines Erachtens nicht
sagen: Schaut später einmal, wie es weitergeht. Vielmehr
müssen wir uns, wenn es funktioniert und Erfolge da
sind, wirklich überlegen, wie wir die Überleitung in eine
institutionelle Förderung zustande bringen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer?
Bitte.
({0})
- Er gehört aber einer anderen Partei an. Daher ist es
okay.
({1})
Frau Kollegin Bär, wir stellen fest, dass wir bei dieser
wichtigen Debatte parteiübergreifend dieselben Interessen vertreten. Ich habe nach dem Beitrag von Frau
Deligöz gerade, in dem sie auf ihren Sohn eingegangen
ist, an Sie die Frage, ob jetzt nicht der Zeitpunkt wäre,
dass wir gemeinsam nachhaltig den Begriff „Familienpolitik“ so weit verwenden, dass wir heute auch dem Vater von Lotte Marie gratulieren, nämlich dem Staatssekretär Ole Schröder, der an dieser Debatte leider nicht
teilnehmen kann?
({0})
Ich glaube für das ganze Haus sprechen zu können:
Selbstverständlich gratulieren wir auch dem Vater. Einen
Tag nach der Geburt stehen allerdings die Gesundheit
von Mutter und Kind im Mittelpunkt. Wir freuen uns natürlich, wenn auch der Vater wohlauf ist, und senden ihm
die Glückwünsche des ganzen Hauses.
({0})
- Ich muss ausnahmsweise einmal einen Zwischenruf
der Kollegin Marks positiv aufgreifen. Sie hat gesagt,
dass - womöglich vermutet sie bei dem Kollegen
Fischer Nachwehen - Männer an dieser Stelle nicht so
belastbar sind.
({1})
Zurück zum Thema. Mir wäre es wichtig, den Hebammen von hier aus ein herzliches Dankeschön zukommen zu lassen, egal ob es „normale“ Hebammen oder
Familienhebammen sind. Was die Hebammen in
Deutschland leisten, ist wirklich sensationell. Wir haben
leider Gottes aufgrund anderer politischer Aspekte, auch
was das Finanzielle betrifft, im Moment noch Diskussionen zu führen, in denen wir für die Hebammen eintreten.
Nicht nur, Ansprechpartner zu sein, sondern auch, Vertrauen aufzubauen - der Wert des Vertrauens ist heute
schon angesprochen worden -, ist ganz wichtig. Ich
denke dabei insbesondere an die Lotsenfunktion, die
Hebammen übernehmen.
Wir haben ursprünglich vorgesehen, dass die Dauer
der Betreuung durch Familienhebammen ein Jahr dauert.
Mir ist es wichtig, die Familienhebammen so stark wie
möglich zu machen, damit sie ihre Funktion vor Ort
bestmöglich erfüllen können. Man sollte in Betracht ziehen, dass Hilfe für ein Jahr nicht ausreichend ist. Wir haben zum Beispiel eine zusätzliche Untersuchung des
Kindes eingeführt, damit die Betreuung der Familien
engmaschiger erfolgt. Wir wollen dafür sorgen, dass es
nach dem ersten Jahr möglich ist, bei Bedarf auf lokaler
Ebene Ansprechpartner zu finden.
In diesem Sinne freue ich mich sehr über die vielen
positiven Signale aller Fraktionen. Ich freue mich auf einen ganz intensiven Gedankenaustausch, der jetzt stattfinden wird, bevor wir zur zweiten und dritten Lesung
kommen. Ich hoffe, dass wir dann, wenn wir bei der
zweiten und dritten Lesung wieder hier stehen, unser
Projekt gemeinsam verabschieden können.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich schließe mich meinen Vorrednerinnen von der SPDFraktion an. Der vorliegende Gesetzentwurf zum Kinderschutz enthält im Großen und Ganzen wirklich gute
Ansätze. Vielen Dank dafür, dass viele Anregungen, die
in der Großen Koalition entstanden sind, aufgenommen
wurden! Der Entwurf stellt eine wirkliche Verbesserung
gegenüber dem Entwurf aus dem Jahr 2009 dar.
Förderung und Prävention - das haben wir heute schon
ganz häufig gehört; man kann es aber gar nicht oft genug
betonen und unterstreichen - sind wirklich die besten
Mittel für einen wirksamen Kinderschutz. Sie sind die
besten Mittel, um Familien effektiv zu unterstützen und
Kindern ein wirklich gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen, damit starke Persönlichkeiten heranwachsen können.
Der im Jahr 2009 von der damaligen Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen vorgelegte Entwurf hatte
diesen Grundsatz leider wirklich in keiner Weise berücksichtigt - das war sehr schade -, und er hatte wirklich
sehr einseitig auf Kontrollen gesetzt, die zwar auch notwendig sind, aber nicht in diesem Ausmaß und nicht so
einseitig. Die Ministerin hatte sich damals mit ihrem Gesetzentwurf - ich denke, das kann man so sagen - ein
Stück weit verrannt. Es war richtig, dass wir als SPD in
der Großen Koalition dieses Gesetz erfolgreich verhindert haben. Was heute vorliegt, zeigt: Es hat sich wirklich gelohnt. Das haben heute auch die Kolleginnen von
der Union sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
Das Ziel eines guten und nachhaltigen Kinderschutzes muss es sein, das Vertrauen der Eltern, aber natürlich
auch der Kinder - sie müssen im Mittelpunkt stehen - zu
gewinnen, sie an angebotene Hilfen heranzuführen und
sie wirkungsvoll zu unterstützen. Das Familienministerium hat aus Fehlern der Vergangenheit gelernt, hat auch
mithilfe vieler Fachgespräche den jetzigen Gesetzentwurf so auf den Weg gebracht und vor allem unsere Forderung und die vieler Fachleute aufgenommen, die Frühen Hilfen und die Netzwerke vor Ort zu stärken. Das ist
ein richtiger und guter Weg.
({0})
Die Fachkräfte vor Ort, ob das die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in den Jugendämtern sind, die freien Träger, die Ärztinnen und Ärzte, natürlich auch die Hebammen und die Beratungsstellen, alle müssen wirklich eng
zusammenarbeiten. Um Kinder und Jugendliche wirklich
optimal zu fördern und zu schützen sowie Eltern bei ihrer
Erziehung zu stärken und zu unterstützen, brauchen wir
gute und verlässliche durchgehende Präventionsketten.
Im Mittelpunkt aller Bemühungen - auch das ist heute
schon ein paar Mal gesagt worden - müssen das Kind,
aber auch der Jugendliche stehen. Wir dürfen nicht aufhören, auch an die größeren Kinder und an die Jugendlichen zu denken. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger
Gesichtspunkt, der nicht unter den Tisch fallen darf.
({1})
Die Stadt Monheim
({2})
hat eine solche Präventionskette aufgebaut,
({3})
die mit der Geburt eines Kindes beginnt. Hier arbeiten
die von mir schon genannten Familienhebammen, Kitas,
Schulen und Familienbildungsstätten vorbildlich eng zusammen. Die Erfolge beim Kinderschutz und bei der Armutsbekämpfung können sich dort wirklich sehen lassen. Das Modell „Monheim für Kinder“ hat zu Recht
zahlreiche Präventionspreise gewonnen.
Aber so gut wie Monheim - auch das wissen wir
alle - sind längst nicht alle Städte und Gemeinden aufgestellt. Auch wir hier im Bund müssen alles dafür tun,
dass solche guten Beispiele Schule machen können.
Bund und Länder dürfen Kommunen bei der Umsetzung
eines guten Kinderschutzes vor Ort nicht im Regen stehen lassen. Genau hier sehe ich aber noch einen Webfehler im Gesetz.
Ein Bürger hat uns diese Woche zum vorliegenden
Entwurf des Bundeskinderschutzgesetzes Folgendes geschrieben:
Der Entwurf regelt bis ins Detail, wie der Kinderschutz verbessert werden soll, macht aber keinerlei
Aussagen darüber, wie viel Personal in den Jugendämtern dazu mindestens erforderlich ist. Damit
steht die Qualität der angestrebten Verbesserungen
in Frage, denn ausreichendes und qualifiziertes Personal ist zu deren Umsetzung unabdingbare Voraussetzung.
Ich denke, auch da sind wir uns grundsätzlich einig. Diesem Anschreiben ist nichts hinzuzufügen.
({4})
Ich möchte einen zweiten Webfehler im Gesetzentwurf ansprechen. Das Bundesgesundheitsministerium
- das wurde vorhin schon angesprochen - duckt sich weg
und macht keine Vorschläge, wie die Kooperation des Gesundheitswesens mit der Jugendhilfe verbessert werden
kann. Der 13. Kinder- und Jugendbericht, der sich sehr
ausführlich und - wie ich finde - fachlich sehr gut mit
Kindergesundheit beschäftigt hat, hat das zu Recht angemahnt.
In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass beispielsweise Ärztinnen und Ärzte wenig Kenntnisse von der Jugendhilfe haben und auch nicht die Anlaufstellen für Familien kennen, so wie es notwendig wäre. Oft sind sie
auch nicht ausreichend geschult, um eine Kindesvernachlässigung oder einen Kindesmissbrauch wirklich zu
erkennen. Der gute Wille ist bei den Ärztinnen und Ärzten grundsätzlich natürlich vorhanden. Das reicht aber
nicht aus, um in allen Fällen einen effektiven Kinderschutz zu garantieren.
Darum sage ich: Alle Fachkräfte - dabei lege ich die
Betonung auf „alle“ -, die mit Kindern und Jugendlichen
zusammenarbeiten, müssen dieselbe Sprache sprechen.
Das heißt nicht, originäre Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe auf die gesetzliche Krankenversicherung zu
verlagern. Nein, es geht vielmehr darum, dass sich die
Fachkräfte der Jugendhilfe und des Gesundheitsbereichs
als Partner verstehen und sich auch vernetzen müssen.
Hier besteht noch Verbesserungsbedarf. Vorschläge
von Bundesgesundheitsminister Bahr hierzu sind bisher
nicht gekommen. Das ist schade. Ich appelliere an die
FDP: Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihr Minister hier aktiv
wird! Ich denke, es würde sich im Sinne der Kinder und
Jugendlichen in unserem Lande wirklich lohnen.
Die SPD fordert ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz, womit man im direkten Lebensumfeld von Familien ansetzen und alle Akteure an einen Tisch holen will.
Gesundheitsförderung und Prävention müssen in der Familie, aber auch in den Kitas und in den Schulen ansetzen und dort gelebt werden. Es ist schade, dass sich
Union und FDP bisher noch keinen Ruck geben konnten,
ein bundeseinheitliches Präventionsgesetz gemeinsam
mit allen auf den Weg zu bringen.
Die Beratungen über das Kinderschutzgesetz gehen
jetzt in die dafür zuständigen Fachausschüsse. Wir sollten
- so wie wir heute debattiert haben und gemäß dem Tenor
dieser Debatte - gemeinsam die Chance nutzen, den Gesetzentwurf an den angesprochenen Punkten zu verbessern. Ich denke, es sind vielfältige, konstruktive Vorschläge und Anregungen eingegangen. Ich freue mich auf
die Beratungen im Sinne der Kinder und Familien in unserem Land. Das ist der richtige Ansatzpunkt.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin zu diesem Debattenpunkt erteile ich der Kollegin Michaela Noll für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte natürlich der jungen Familie - unserer Familienministerin und ihrem Mann Ole
Schröder - ganz viel Glück wünschen. Ich glaube, es gibt
wirklich nichts Schöneres, als eine Familie zu gründen.
Wir müssen festhalten - darüber bin ich nach wie vor
sehr glücklich -, dass die überwiegende Mehrzahl der
Kinder in Deutschland ein liebevolles, von Vertrauen geprägtes Elternhaus hat, in dem sie entsprechend erzogen
und begleitet werden und damit eine Zukunft haben.
({0})
Trotzdem finde ich es wichtig, dass wir den Fokus auf
die Kinder richten, die auf der Schattenseite groß werden. Vielleicht wundern Sie sich, wenn ich jetzt etwas
sage, was etwas ungewöhnlich klingt. Ich glaube, dass
auch die Eltern, die am Anfang Probleme mit der Kindererziehung haben, weil sie überfordert sind, ihre Kin13708
der lieben. Oftmals haben sie in ihrem eigenen Elternhaus nicht das notwendige Rüstzeug mitbekommen. Das
heißt, sie haben nicht kennengelernt, was es heißt, geliebt zu werden und Liebe weitergeben zu können. Diese
Eltern müssen wir unterstützen. Wir sollten ihnen das
entsprechende Rüstzeug geben.
Gerade an diesem Punkt sind die Familienhebammen
diejenigen, die Vertrauen schaffen, die in die Familien
gehen, die den Alltag mit einem Kind verständlich vermitteln. Sie erklären den Eltern, dass man, wenn ein
Kind permanent schreit, dieses Kind nicht schütteln darf,
sondern dass es andere Mittel und Wege gibt, es zu beruhigen.
({1})
Wir leben in einer kinderentwöhnten Welt; das hat
vorhin auch meine Kollegin Dorothee Bär erwähnt. Es
ist einfach so: Früher gab es oft die kurzen Wege: die
Nachbarin, die im Haus lebende Mutter oder die vielen
Geschwister. Man konnte kurz anrufen und sich Hilfe
holen. Das gibt es heute oftmals nicht mehr. Dafür haben
wir aber die Jugendämter.
Eines finde ich immer wieder schade. In meinem
Wahlkreis ist Folgendes vorgefallen: Es gab einen kleinen Jungen namens Daniel, der leider auch zu Tode gekommen ist. Man hat die Mutter gefragt: Warum haben
Sie sich denn nicht ans Jugendamt gewendet? Die Mutter sagte: Ich hatte Angst, dass man mir meine Kinder
wegnimmt. Da sage ich: Wir müssen etwas tun, damit
sich das Image des Jugendamts ändert, sodass es als
Hilfeinstanz wahrgenommen wird, die unterstützt, nicht
als eine Institution, die als Erstes die Kinder aus der Familie nimmt.
An dieser Stelle bin ich unserer Familienministerin
dankbar dafür, dass sie einen bundesweiten Aktionstag
der Jugendämter durchgeführt hat. Viele Jugendämter
haben sich beteiligt, haben Transparenz geschaffen und
gezeigt: Wir sind nicht diejenigen, die Kinder aus den
Familien nehmen. Wir wollen die Elternhäuser, die Kinder in den Familien stabilisieren. Ich denke, das war ein
guter Schritt; darüber habe ich mich sehr gefreut.
({2})
Ich fand heute auch sehr schön, dass der Sohn von
Ekin - sie hört zwar gerade nicht zu, aber das ist nicht
schlimm -, der oben auf der Bühne war, im Endeffekt
feststellen konnte, dass es auch in diesem Parlament
möglich ist, moderate Töne anzuschlagen, parteiübergreifend etwas auf den Weg zu bringen, was wirklich allen Kindern in Deutschland helfen kann. Das war für
mich nach zehn Jahren parlamentarischer Arbeit eine
Sternstunde im Parlament; denn eine solche Gelegenheit
haben wir leider viel zu selten.
Frau Marks, ein kleines Kompliment. Normalerweise
bin ich gewöhnt, von Ihnen sehr kritische Töne zu hören.
Ich freue mich, dass Sie heute Mo.Ki erwähnt haben. Ich
bin die Wahlkreisabgeordnete aus der Stadt Monheim
und weiß, dass gerade Monheim eine Stadt mit relativ
vielen Problemen ist. Wir haben ein Viertel, das Berliner
Viertel, in dem Mo.Ki tätig ist. Mo.Ki, Monheim für
Kinder, hat 2004 einen Präventionspreis für die besondere Leistung erhalten, ein Netz zu spannen, damit den
Kindern nichts passiert.
Monheim ist eine Stadt, der es wirtschaftlich wirklich
nicht sehr gut geht. Man konnte aber feststellen, dass
man durch eine langfristige Vernetzung der Beteiligten
auch mit geringen Mitteln Kinder schützen kann; es liegt
nicht nur an den Mitteln. Es gibt eine Internetseite zu
Mo.Ki; Da kann man jederzeit nachschauen. Mo.Ki
wurde damals bei uns in der Kinderkommission vorgestellt. Da haben alle Experten gesagt: Das ist der richtige
Weg. Ich lade jeden ein: Kommen Sie in meinen Wahlkreis; wir stellen die Kontakte her. Ich glaube, hier wird
der richtige Weg gegangen; wir sollten ihn auch nutzen.
({3})
Darüber hinaus wollte ich eigentlich noch ein paar
Punkte ansprechen, aber vieles haben meine Kollegen
lobenswerterweise schon erwähnt. Es gibt einen Punkt,
den ich kurz ansprechen möchte: die Führungszeugnisse.
Ich hatte die Gelegenheit, den Oberarzt der Charité zu
hören, der das Pädophilenprogramm begleitet. Er hat gesagt: Pädophile suchen aufgrund ihrer sexuellen Präferenz den Kontakt zu Kindern. Deswegen sollten wir sagen: Wir brauchen ein erweitertes Führungszeugnis; es
ist notwendig, diese Personen sichtbar zu machen und
den Schutz der Kinder zu verbessern.
Jetzt stellt sich die Frage, ob ein erweitertes Führungszeugnis auch bei Ehrenamtlichen nötig ist. An diesem Punkt muss man schon differenzieren: Wie lange
dauert der Kontakt? In welchem Kontakt bzw. in welcher Beziehung zu den Kindern steht zum Beispiel der
Fußballtrainer in einem Verein? Es ist ein Unterschied,
ob man bei einer zehntägigen Ferienfreizeit mitfährt
oder spontan vier Kinder im Wagen zum Fußballplatz
bringt. Da können wir nicht überall sagen: Wir wollen
auf jeden Fall ein erweitertes Führungszeugnis.
Ich möchte mich jetzt schon einmal bei allen Kollegen bedanken. Ich glaube, dieses Mal schaffen wir es
wirklich, ein Kinderschutzgesetz auf den Weg zu bringen. Das ist wichtig; denn es gibt auch heute noch sehr
viele Kinder - das weiß jeder, der Kontakt mit dem Jugendamt hat -, die auf der Schattenseite stehen. Machen
wir uns an die Arbeit! Schaffen wir etwas gemeinsam!
Dann wäre ich ausgesprochen glücklich und für diese
Legislaturperiode dankbar.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6256 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 36 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({0}), Bärbel Bas, Dr. Karl
Lauterbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potenziale der Prävention erkennen und nutzen - Prävention und Gesundheitsförderung
über die gesamte Lebensspanne stärken
- Drucksache 17/5384 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesetzliche Grundlage für Prävention und Gesundheitsförderung schaffen - Gesamtkonzept
für nationale Strategie vorlegen
- Drucksache 17/5529 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Prävention weiter denken - Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stärken
- Drucksache 17/6304 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich bitte die Kolleginnen
und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen
wollen, den Saal zu verlassen, damit wir wieder Ruhe
haben und Angelika Graf für die SPD-Fraktion das Wort
ergreifen kann. - Ich erteile das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich sehr, dass wir heute auf der Grundlage der
Oppositionsanträge zu einer Tageszeit über das Thema
Prävention und Gesundheitsförderung sprechen, die verspricht, dass die Debatte öffentlich wahrgenommen
wird. Wir wollen einerseits klarmachen, welche Chancen vernünftige und vernetzte Präventionskonzepte für
die nachhaltige Gesundheitsentwicklung in Deutschland
bieten, und andererseits, welcher enorm positive wirtschaftliche Effekt der Prävention zukommt.
Viele Länder haben die Notwendigkeit, dies gesetzlich zu regeln, erkannt. Deutschland gehört zu den wenigen Industrienationen, die das bisher nicht gesetzlich geregelt haben. Dabei hat Ulla Schmidt eine Reihe von
Anläufen unternommen. Sie können sich sicher noch
alle daran erinnern. Leider ist sie immer an der Blockade
derjenigen gescheitert, die in diesem Plenum rechts sitzen.
({0})
Wir könnten hier - das muss man deutlich sagen - schon
wesentlich weiter sein. Leider habe ich nicht den Eindruck, dass die jetzige Bundesregierung dieses Thema
wirklich ernst nimmt.
({1})
In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom
März 2010 stand neben der Absage an eine Neuauflage
eines Präventionsgesetzes wörtlich das gleiche Wolkige
wie im Koalitionsvertrag. Da redet man von Analyse,
Aufklärung, Eigenverantwortlichkeit und bewährten
Programmen und Strukturen. Das ist alles richtig, aber es
reicht nicht aus.
({2})
Die demografische Entwicklung in Deutschland, die
Sie noch als Grund für die Forderung nach einer Kopfpauschale angegeben haben, ist für Sie offensichtlich
nicht Begründung genug, um beim Thema Prävention
endlich Ihre ideologischen Blockaden zu lösen. Alle Anträge, auch der der Grünen und der der Linken, machen
deutlich, dass auf diesem Gebiet ein erheblicher Handlungsdruck besteht, und zwar einerseits hinsichtlich der
Verbesserung der Strukturen und andererseits hinsichtlich eines neuen Ansatzes, der die Lebenssituation der
Einzelnen in den Fokus rückt, der sich am Einzelnen
orientiert und ihn dort abholt, wo er steht.
Wir von der SPD haben einen sehr konkreten Antrag
vorgelegt. Er speist sich aus den Erfahrungen von Expertinnen und Experten, die wir befragt haben. Sie haben
uns sehr detailliert über die augenblickliche Situation im
Bereich Prävention in Deutschland informiert. Seit Jahren stellen wir fest, dass die Präventionslandschaft ausgesprochen fragmentiert ist und sowohl Ziele als auch
Zielgruppen sehr uneinheitlich sind. Präventionsmaßnahmen sind oft nicht aufeinander abgestimmt und deswegen öfter ineffektiv.
Wir wollen etwas gegen den Aktionismus tun, der in
diesem Bereich zweifellos vorhanden ist. Mit schnellle13710
Angelika Graf ({3})
bigen Projekten und Modellprojekten erreicht man keine
Nachhaltigkeit vor Ort, schon gar nicht in der Fläche.
({4})
Wir wollen dem sogenannten Setting-Ansatz, wonach
die Menschen in ihrem Umfeld abgeholt werden, mehr
Raum geben. Dieser Ansatz kommt bisher völlig zu
kurz. Die Kassen setzen aus Werbe- und Imagegründen
vor allem auf individuelle Präventionsmaßnahmen.
80 Prozent der Mittel werden in individuelle Maßnahmen gesteckt, obwohl wir wissen, dass wir damit vor allem diejenigen erreichen, die eh schon auf dem Präventionstrip sind, die das verstanden haben. Diejenigen, die
am stärksten von Präventionsmaßnahmen profitieren
könnten und sie am dringendsten brauchten, erreichen
wir mit diesem Ansatz definitiv nicht. Das kann man
zum Beispiel im Kontext der zu häufigen Ablehnung
von Mutter-/Vater-Kind-Kuren sehen, aber auch in anderen Bereichen. In der Lebenswelt in den Kindergärten,
Schulen und Stadtvierteln - insbesondere für alte Menschen sind die Stadtviertel wichtig - passiert viel zu wenig. Nur 8 Prozent der GKV-Mittel gehen in diesen Bereich der Prävention.
Auch ältere und alte Menschen müssen besser als bisher in ihrer Lebenssituation erreicht werden.
({5})
Das gilt insbesondere, wenn wir den typischen Alterserkrankungen entgegentreten wollen. Bewegungsmangel
zum Beispiel hat katastrophale Folgen für das Knochengerüst und das Herz-Kreislauf-System. Ernährungsmängel und Fehlernährung sind ebenfalls Ursachen für kostenintensive chronische Erkrankungen, die vermieden
werden könnten oder deren Eintreten hinausgezögert
werden könnte.
Damit möchte ich sagen: Auch bei alten Menschen
lohnt sich eine breit angelegte Präventionsmaßnahme,
({6})
die das Leben vielleicht noch einmal lebenswerter
macht. Hier müssen Koordination, Lenkung und Evaluation künftig eine wesentlich größere Rolle spielen. Der
schwache Setting-Bereich der heutigen Präventionsstrukturen macht besonders deutlich, wie wichtig eine
nationale Präventionsstrategie ist und wie richtig die
Forderung unseres Antrages nach einer Stiftung ist. Wir
wollen mit dieser Stiftung alle Akteure einbeziehen, sowohl den Bund, die Länder und Kommunen als auch alle
Sozialversicherungen inklusive der privaten Krankenversicherungen; sie sollen nicht außen vor bleiben. Wir
sind der Ansicht, dass dies eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe ist.
({7})
Infolgedessen müssen sich alle Akteure an einen Tisch
setzen.
Ein nationales Institut für Prävention, das der Stiftung
untergeordnet sein soll, soll Richtlinien erarbeiten, qualifizierte Beratungsangebote für die Akteure anbieten,
Standards für Qualitätssicherung und Evaluierung entwickeln und die Einhaltung von Präventionszielen überwachen. Dabei wollen wir um Gottes Willen keine Parallelstrukturen. In dieses nationale Institut sollen die
bisher schon aktiven Organisationen wie zum Beispiel
das Robert-Koch-Institut oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung selbstverständlich integriert
werden. Es geht also um eine bessere Koordination von
Präventionsmaßnahmen in Deutschland. Wir wollen dieses ineffektive Nebeneinander stoppen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung von
Wissenschaft und Forschung. Forschung im Bereich der
Primärprävention brauchen wir dringend. In alternden
Gesellschaften wie der unsrigen muss Prävention ganz
oben auf der Agenda der jeweiligen Bundesgesundheitsminister stehen. Ich bin sehr enttäuscht - das muss ich
wirklich sagen -, dass die Gesundheitsminister der jetzigen Regierungskoalition das offensichtlich nicht so sehen und die Zeichen der Zeit anscheinend nicht erkannt
haben.
({8})
Der Antrag der SPD gibt Ihnen ein sehr konkretes Konzept an die Hand. Stellen Sie sich dem nicht in den Weg.
Wir werden bei den Beratungen sehen, inwieweit Sie
sich in diese Richtung entwickeln.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Der nächste Redner ist Johannes Singhammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Graf, ein paar neue Gedanken statt alter Vorschläge wären ganz gut gewesen. Gesünder essen und
mehr Bewegung machen jeden Einzelnen in Deutschland gesünder und helfen, die Ausgaben der Krankenversicherung zu senken. Das wissen wir. Wir verstehen
Prävention deshalb als Gesundheitsförderung und nicht
als Krankheitsbehandlung.
({0})
Das ist das Beste für jeden Einzelnen - das wissen wir -,
aber auch für unser Land. Bei der Prävention fangen wir
nicht am Punkt Null an. Die Lebenserwartung von Männern und Frauen ist Gott sei Dank in den vergangenen
Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Die Deutschen
werden immer älter, nur die Bundesgesundheitsminister
werden immer jünger.
({1})
Sorge macht uns,
({2})
dass ein zunehmend großer Anteil der Bevölkerung an
sogenannten Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes mellitus, Allergien oder
Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates leidet. Ein erheblicher Teil dieser Erkrankungen wäre vermeidbar.
({3})
Die Gründe für diese Erkrankungen sind teilweise negative Einflüsse aus der Umgebung, auch am Arbeitsplatz,
aber auch persönliches Fehlverhalten.
Darauf hat der Gesetzgeber schon seit längerer Zeit
nicht nur reagiert, sondern er hat auch sichergestellt,
dass wirksame Präventions- und Vorsorgeleistungen
durch die gesetzliche Krankenversicherung zur Verfügung gestellt werden: Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen bei Schwangeren und Kindern sowie
bezüglich Krebserkrankungen, Gesundheits-Check-up,
Prophylaxe und Schutzimpfungen. Das alles ist nicht
neu. Diese sinnvollen Präventionsmaßnahmen funktionieren und werden von niemandem infrage gestellt.
Das Problem ist allerdings, dass ein gewisser Teil der
Bevölkerung davon weniger Gebrauch macht als ein anderer.
({4})
Dieser Teil der Bevölkerung ist uns besonders wichtig.
Dazu gehören beispielsweise die Kinder; denn sie haben
den größten Teil ihres Lebens noch vor sich.
({5})
Wenn 25 Prozent der Drei- bis Zehnjährigen nicht sportlich aktiv sind, dann gibt das Anlass zur Sorge. Wir wollen uns um diejenigen kümmern, die sich in Bezug auf
ihren Körper nicht so gut auskennen.
({6})
Bei denjenigen, die jeden Tag ins Fitnessstudio gehen
oder jeden zweiten Tag einen Sportverein besuchen und
sich gesund ernähren, ist alles wunderbar. Wir wollen
uns um diejenigen kümmern,
({7})
die die notwendigen Informationen nicht haben, die ihren inneren Schweinehund noch nicht einmal erkannt,
geschweige denn besiegt haben.
({8})
Deshalb setzen wir auf Eigenverantwortung
({9})
und warnen vor übertriebener Gesetzesgläubigkeit. Sie
können doch nicht glauben, dass Sie in einem solchen
höchstpersönlichen Bereich wie der Gesundheitsvorsorge allein mit einem Gesetz alles zum Besseren wenden können.
({10})
Dazu braucht es Information, Anreize, Motivation, Belohnung und Überzeugung.
({11})
Das ist das Richtige.
Wie das gut und erfolgreich funktioniert, wissen wir
doch auch. Ich nehme als Beispiel einmal den Bereich
der Zahngesundheit. In diesem Bereich hat nachweisbar
eine besonders effektive Prävention stattgefunden, die in
den vergangenen Jahrzehnten zu besserer Zahngesundheit geführt hat. Noch in den 70er-Jahren war Zahnersatz
eher die Regel. Heute, vier Jahrzehnte später, ist diese
Regel für junge Erwachsene eher zur Ausnahme geworden.
({12})
Auch bei der älteren Generation ist der Zahnverlust nicht
mehr vorprogrammiert. Gerade diese Erfolge in der
Zahnprophylaxe zeigen doch, dass allein ein Gesetz
nicht entscheidend wirkt.
({13})
Vielmehr ist das Zusammenwirken der Leistungserbringer, Ärzte und Patienten und eines geschickten Anreizund Überzeugungssystems entscheidend.
({14})
Deshalb wollen wir die Gesundheitsförderung stärken.
({15})
Es gibt eine Vielzahl von erfolgreichen Projekten, um
das Thema Vorbeugung im Bewusstsein der jungen
Menschen, vor allem der Jugendlichen, zu verankern.
Ich nenne die Präventionskampagnen der Krankenkassen und die Erziehung zur Gesundheit in den Kindergärten und Schulen, die bei den Ländern und Kommunen
liegt. Ich nenne die erfolgreichen Maßnahmen in vielen
Betrieben, um die Arbeitsgesundheit und die Arbeitssicherheit voranzubringen.
({16})
Ich nenne die vielen Einzelprogramme und Maßnahmen
von kirchlichen und sozialen Institutionen, und ich
nenne - stellvertretend für eine Vielzahl von erfolgrei13712
chen Programmen der Bundesregierung - den Nationalen Aktionsplan „In Form - Deutschlands Initiative für
gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ mit über
100 Einzelmaßnahmen. Das zeigt, dass die Bundesregierung gut zusammenwirkt. Ich nenne hier stellvertretend
das Bundesverbraucherschutzministerium und freue
mich, dass der Staatssekretär Gerd Müller hier anwesend
ist.
({17})
Ich könnte noch vieles hinzufügen: den Nationalen
Krebsplan, den Aktionsplan zur Umsetzung der HIV/
Aids-Bekämpfungsstrategie. Jetzt ist es notwendig und
sinnvoll, alle Gutwilligen und diese vielen Kampagnen
und Strategien zusammenzubringen, die gemeinsame
Schlagkraft zu erhöhen und mit neuem Schwung in eine
neue Dimension der Prävention zu starten.
Dabei brauchen wir eines nicht: mehr Bürokratie,
neue Institutionen, die einen Finanzbedarf haben und bei
denen man sich erst einmal über die Abläufe, Geschäftsordnung und Ähnliches streitet. Stattdessen brauchen
wir eine nationale Präventionskonferenz,
({18})
in der Bundes-, Landes- und kommunale Ebene sowie
die Sozialversicherungsträger, die Krankenkassen und
all diejenigen zusammengeführt werden, die in der Gesundheitspolitik tätig sind.
({19})
Wir brauchen - das sage ich nicht, um abzulenken,
sondern weil es um die gemeinsame Verantwortung aller
geht - insbesondere die Mitwirkung der Medien. Sie haben eine ganz entscheidende Aufgabe. Deshalb werden
wir sie bevorzugt einbinden.
Ich erinnere an die erfolgreiche Kampagne zur Verringerung der Zahl der Verkehrstoten. Bereits vor einigen Jahrzehnten gab es eine Fernsehsendung zur Verkehrssicherheit mit dem Titel Der 7. Sinn. Weil unsere
Autoingenieure besonders tüchtig waren und immer bessere Autos bauten, vor allem aber weil mit dieser Kampagne erreicht wurde, dass ein Umdenken eingesetzt hat,
ist die Zahl der Verkehrstoten um über zwei Drittel zurückgegangen.
({20})
Eine solche konzertierte Aktion mit den Medien streben
wir an. Wir brauchen sie, um Gesundheitsgefährdungen
nachhaltig zu bekämpfen.
({21})
Dabei wollen wir folgende Ziele verwirklichen: Wir
wollen Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
ausgestalten, die Koordination der Maßnahmen zu Gesundheitsförderung und Prävention sicherstellen, das
Gremium einer nationalen Präventionskonferenz einrichten und die Motivation der Bevölkerung zu gesundheitsbewusstem Verhalten durch gezielte und verständliche
Informationen stärken. Wir wollen unsere Anstrengungen auf die Verhinderung vermeidbarer, besonders belastender und besonders teurer Krankheiten konzentrieren
und insbesondere bei jungen Menschen ansetzen. Die
Verfügungs- und Entscheidungshoheit der sozialen Präventionsträger über die von ihnen eingebrachten Mittel
wollen wir beibehalten.
Es nützt überhaupt nichts, in einem Gesetzgebungsverfahren einen Kompetenzstreit, wer was darf und wer
welche Mittel einzubringen hat, vom Zaun zu brechen.
Das nützt dem einzelnen Versicherten gar nichts.
({22})
Deshalb werden wir uns an einem solchen Verfahren
nicht beteiligen.
Jetzt komme ich SPD und den Grünen. Ihre Feststellungen zielen auf eine zentralistische Institution ab,
({23})
die zwangsweise von allen Beteiligten finanziert wird
und in einem langen, quälenden Prozess vermutlich vor
allem zu neuer Bürokratie und zu Abgrenzungs- bzw.
Kompetenzstreitigkeiten führen wird.
Wir wollen nicht - das sage ich mit aller Deutlichkeit -, dass Präventionsmaßnahmen ausschließlich über
Beitragsmittel finanziert werden.
({24})
Ein Präventionsgesetz darf nicht dazu dienen, dass sich
der Staat auf Kosten der Sozialversicherungsträger und
damit letztlich auf Kosten der Betriebe und der Arbeitnehmer bedient.
({25})
Das wollen wir nicht.
({26})
Prävention betrifft das höchstpersönliche Verhalten
des Einzelnen. Entscheidend ist nicht, dass man ein umfangreiches und ausformuliertes Gesetzespaket schnürt.
Entscheidend ist vielmehr die Motivation der Bevölkerung. Dabei sind wir ein gutes Stück vorangekommen.
Ich danke allen, die sich daran beteiligt haben. Die Kampagne zur Motivation und Information der Bevölkerung
zur Förderung der Gesundheit wollen wir voranbringen.
Dabei werden wir die größten Erfolge erzielen.
Ich danke Ihnen.
({27})
Das Wort hat nun Martina Bunge für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach Ihrer Rede, Herr Singhammer, muss ich sagen: Gesundheitsförderung und Prävention werden in Deutschland leider stiefmütterlich behandelt;
({0})
auch Ihre Beispiele können darüber nicht hinwegtäuschen. Diese Themen werden unseres Erachtens völlig
zu Unrecht stiefmütterlich behandelt.
Wir sehen: In Deutschland hat sich die Lebenserwartung seit 1871, seitdem sie dokumentiert wird, verdoppelt. Das ist ein großer Erfolg. Dieser Erfolg ist sicher
zum Teil auf den medizinischen Fortschritt zurückzuführen. Klar ist aber auch: Den allergrößten Anteil an der
Zunahme der Lebenserwartung hat die Medizin nicht.
({1})
Bessere Hygiene, bessere Arbeitsbedingungen, bessere
und ausreichende Nahrungsmittel waren die entscheidenden Größen für diesen Erfolg.
({2})
Die Lebensbedingungen der Menschen gesundheitsförderlich zu gestalten, das ist der Schlüssel. Es gibt
folglich keinen Grund, die kurative bzw. behandelnde
Medizin so sehr in den Mittelpunkt des Gesundheitssystems zu stellen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Wir
brauchen endlich einen Paradigmenwechsel hin zu einem gesundheitsförderlichen, präventiven Gesundheitssystem und zu einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik.
({3})
Wer nun meint, die Lebensbedingungen, von denen ich
anfangs gesprochen habe, seien heutzutage in Deutschland genügend gesundheitsförderlich gestaltet, der irrt gewaltig. Wer in Deutschland arm ist, stirbt zehn Jahre früher. Dieser Unterschied in der Lebenserwartung ist weder
durch den unterschiedlichen Zugang zum Gesundheitssystem noch durch ein unterschiedliches Gesundheitsverhalten ausreichend zu erklären, Herr Singhammer.
Ich sage das ganz deutlich in Richtung FDP: Den
Menschen individuell die Schuld am Kranksein zu geben, weil man meint, die Dicken müssten nur ein bisschen weniger essen und die Raucher müssten aufhören,
zu qualmen,
({4})
löst die Probleme nicht, die wir haben.
({5})
Das Gesundheitsverhalten erklärt die unterschiedliche
Lebenserwartung bei Armen und Reichen nur zu einem
geringen Teil. Es sind die Verhältnisse.
Von Schwarz-Gelb haben wir keine ernstzunehmenden Initiativen zur Gesundheitsförderung und Prävention
zu erwarten. Es wird wieder einmal eine Kampagne zu
Ernährung und Bewegung geben. Herr Singhammer, das
waren hier Ihre ersten Worte. Ich zitiere einen Experten
aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung des Gesundheitswesens, Rolf Rosenbrock, der bereits 2003
schrieb: Kampagnen entsprechen nicht mehr dem Stand
der gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse. - Aber
diese Erkenntnis scheint bei der Bundesregierung noch
nicht angekommen zu sein.
({6})
Umso erfreulicher ist, dass die Opposition tätig wird.
({7})
Ich denke, Herr Singhammer, wir brauchen ein Gesetz aber nicht für mehr Bürokratie. Entscheidend ist, was darinsteht. Ich sehe in den Anträgen der Opposition, die
sich nicht entgegenstehen, sondern eher ergänzen, auch
Impulse. Diese Anträge sollten Sie bitte einmal lesen.
Dann wüssten Sie vielleicht, worüber wir hier sprechen.
({8})
Die Linke will Prävention weiterdenken. Dabei sind
drei Aspekte besonders wichtig.
Erstens. Gesundheit oder das Wohlbefinden der Menschen ist ein so hohes Gut, dass es ruhig etwas kosten
darf.
({9})
Es ist richtig, dass gute Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention langfristig Kosten im
Gesundheitssystem einsparen können. Wir haben diesen
Aspekt aber nicht in unserem Antrag erwähnt, weil wir
auch dann Gesundheitsförderung und nichtmedizinische
Primärprävention favorisieren und massiv fördern wollen, wenn sie nichts einsparen würden. Der Mensch mit
seinem Glück und Wohlbefinden muss im Zentrum unserer Überlegungen stehen.
Die wichtigsten Dinge im Leben - dazu gehören die
Gesundheit und das Wohlbefinden - dürfen nicht unter
Kostenvorbehalt stehen.
({10})
Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention müssen ausreichend und sicher ausfinanziert
werden, beispielsweise zum Start mit 1 Milliarde Euro
an Bundeszuschuss jährlich, wie wir fordern.
Unser zweiter Punkt des Weiterdenkens. Gesundheit
und das Wohlbefinden, aber auch das Leben an sich - also
die Lebenserwartung - sind so hohe Güter, dass wir es
nicht zulassen dürfen, dass sie in einem solch hohen
Maße davon abhängen, in welche Familie man zufällig
hineingeboren wird. Es widerspricht der Würde des Menschen, wenn wir zulassen, dass die Lebenserwartung eines Kindes aus einer sozial benachteiligten Familie zehn
Jahre geringer ist und die Gesundheit im Durchschnitt
deutlich schlechter ist als die eines Kindes aus einer begüterten Familie.
Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention sind geeignete Maßnahmen, die Auswirkungen der sozialen Ungerechtigkeiten in unserem Land zu
vermindern. Wenn wir diesen Ansatz nicht nutzen, haben Gesundheitsförderung und Prävention ihren Sinn
verfehlt.
({11})
Es ist natürlich klar: Gesundheitsförderung und Prävention allein können das Problem der sozialen Ungerechtigkeiten nicht lösen. Die Lebensbedingungen für
alle im Land gesundheitsförderlicher zu gestalten, ist
eine Querschnittsaufgabe aller Politikfelder. Deshalb
müssen wir eine gerechtere Politik betreiben. Aber ich
denke, dafür brauchen wir eine andere Regierung. Mit
dieser wird das nicht zu machen sein.
({12})
Ich komme zum dritten wesentlichen Ansatz: Wir
stellen die Ressourcen und die Fähigkeiten der Menschen in den Mittelpunkt unseres Antrags. Gesundheitsförderung bedeutet für uns ganz zentral, die Fähigkeiten
der Menschen zu stärken, damit sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten und ihre Anforderungen kreativ und zufriedenstellend lösen können.
Wir haben Vertrauen in die Menschen. Alle Menschen können ihr Leben so gestalten, dass sie sich damit
wohlfühlen. Das ist aber nur möglich, wenn die äußeren
Umstände es zulassen und die Menschen über ausreichende Fähigkeiten und Ressourcen verfügen. An dieser
Stelle muss Gesundheitsförderung ansetzen. Dann entstehen wirkliche Freiheit und Selbstbestimmung.
({13})
Diese Selbstbestimmung entsteht aber nicht, indem man
soziale Ungerechtigkeiten weiter verstärkt, einen großen
Teil der Gesellschaft abhängt bzw. abschreibt und diese
Menschen dann auffordert, sich gesundheitsbewusst zu
verhalten und vernünftig zu ernähren. Das ist grotesk;
das ist keine logische Argumentation.
({14})
Natürlich gilt unser Dank den Enthusiasten, die sich
vor Ort der Gesundheitsförderung und der nichtmedizinischen Primärprävention widmen und sich mit tollen
Ideen und den richtigen Ansätzen bemühen. Die Gesundheitsförderung krankt aber im wahrsten Sinne des
Wortes daran, dass sie nichts als Aktionismus ist. Das
war leider auch unter den vorhergehenden Regierungen
der Fall. Sie ist in diesem Zustand stecken geblieben.
Gutes versandet: Projekte werden nicht evaluiert, Fördermittel nur zeitlich begrenzt vergeben, mal hier und
mal dort wird etwas initiiert.
Wir brauchen eine flächendeckende und dauerhafte
Infrastruktur der Gesundheitsförderung, die sich zwar an
bundeseinheitlichen Zielen orientiert, die aber entsprechend den unterschiedlichen Bedingungen in den Regionen von den Akteuren vor Ort gestaltet und weiterentwickelt wird. Um die äußeren Rahmenbedingungen dafür
zu schaffen, brauchen wir ein Präventionsgesetz.
Es ist wichtig, dass diese Aspekte bei der Ausarbeitung eines solchen Gesetzes berücksichtigt werden. Deshalb sollten wir im Ausschuss noch einmal intensiv darüber reden. Vielleicht fruchtet das dann.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Viele Wege führen nach
Rom. Über das Ziel sind wir uns alle einig. Prävention
ist unverzichtbar. Viele Krankheiten lassen sich durch
Prävention vermeiden. Milliarden Euro ließen sich dadurch jedes Jahr sparen. Die Belastung der Sozialsysteme wird langfristig verringert.
Nicht einig sind wir uns über den Weg. SPD und
Grüne fordern in ihrem Antrag ein Präventionsgesetz.
Wir Liberale können die Notwendigkeit eines solchen
Gesetzes allerdings nicht erkennen. Denn es existieren
bereits zahlreiche erfolgreiche Präventionsprogramme.
Sicherlich können sie noch effektiver werden und genauer auf Zielgruppen eingehen. Sie können noch intensiver dazu beitragen, das Bewusstsein für ein gesundes
Leben zu fördern. Hierfür benötigen wir aber nicht
schon wieder ein Gesetz. Wir benötigen vielmehr eine
intelligente Strategie.
({0})
Bekanntlich zieht jedes überflüssige Gesetz überflüssige Bürokratie nach sich. Genau das wollen wir nicht.
({1})
Stattdessen müssen wir das Potenzial der bewährten Instrumente noch besser nutzen als bisher. Das Bundesministerium für Gesundheit entwickelt die Gestaltung
präventiver Maßnahmen kontinuierlich weiter. Dazu verpflichtet uns der Koalitionsvertrag. Dieser Verpflichtung
kommen wir selbstverständlich nach.
({2})
- Hören Sie einmal zu! Ich lobe Sie jetzt.
Generell hat der Antrag der SPD viele Problemfelder
durchaus zutreffend umschrieben. Aber leider ziehen Sie
daraus die falschen Konsequenzen. Wem wäre denn mit
der von Ihnen geforderten Stiftung „Prävention und Gesundheitsförderung“ gedient?
({3})
Es wäre noch eine weitere bürokratische Ebene mehr,
die sich um einen Bereich kümmert, in dem Bund und
Länder bereits viel unternehmen. Was soll Ihre Forderung, die Krankenkassen auf einen Mindestausgabenrichtwert in Höhe von 10 Euro pro Versichertem festzunageln? Ein ganzes Heer von Sachbearbeitern müsste die
Umsetzung dieses Richtwerts und gegebenenfalls die
Durchsetzung von Sanktionen überwachen.
({4})
Die diffus gehaltene Forderung, individuelle Programme
zurückzufahren und mehr Leistungen in den Bereich von
Settings zu investieren, ist nicht zielführend;
({5})
denn die ganz persönliche, individuelle Situation ist im
Zweifel für den Erfolg von Prävention viel entscheidender als Setting-Strukturen.
({6})
Ich möchte jetzt nicht die unzähligen Programme aufzählen, die in den letzten Jahren - übrigens von allen
großen Parteien - initiiert worden sind. Die entscheidende Frage ist, ob diese Programme ihr Ziel auch erreichen.
Die Bundesregierung will, dass Prävention alle Versicherten und alle Altersgruppen erreicht.
({7})
Dazu benötigen wir die Setzung von Schwerpunkten.
Diese müssen dort liegen, wo die nachhaltigste Wirkung
zu erwarten ist.
({8})
- Warten Sie ab! - Auf einige dieser Schwerpunkte
möchte ich jetzt im Einzelnen eingehen.
({9})
Die Weichen für eine gesunde Lebensführung werden
im Kindes- und Jugendalter gestellt. Zu keiner Zeit ist
Prävention so wichtig.
({10})
Die aktuellen Befunde sind alarmierend: 15 Prozent der
Kinder und Jugendlichen von 3 bis 17 Jahren sind übergewichtig, 25 Prozent der 3- bis 10-jährigen Kinder sind
sportlich inaktiv. Die Gefahr für diese Kinder, frühzeitig
an Diabetes und Skeletterkrankungen zu leiden, ist hoch.
Die Strategie für Kindergesundheit muss effektiver werden als bisher. Vor allem muss früher angesetzt werden.
Wenn die ersten Symptome vorliegen, ist es fast schon
zu spät.
({11})
Zur Vorbeugung kommt eine Reihe von Maßnahmen
infrage.
({12})
Durch Früherkennungsuntersuchungen für Kinder und
Jugendliche bis 18 Jahre könnten Risiken zeitig erkannt
und ein Gegensteuern möglich gemacht werden.
({13})
Mehr als bisher müssen Lehrer, Ärzte und Eltern auf Anzeichen psychischer Erkrankungen achten. Die sprunghaft angestiegene Rate an ADHS-Erkrankungen ist ein
Warnsignal.
({14})
Wir müssen die Lebensumstände der Familien mehr
in den Blick nehmen als bisher. Gegebenenfalls muss
eine Erziehungsberatung angeboten werden. Viele falsche Weichenstellungen sowohl bei der physischen als
auch bei der psychischen Gesundheit entstehen durch
mangelhafte Hilfen für überforderte Familien. Dieses
Problem ist besonders in den sozial schwächeren Teilen
der Bevölkerung verbreitet.
({15})
Gleiches gilt für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
({16})
Wer hier wirksam helfen will, der setzt am besten bei
der Familie an. Bevor das Kind in den Brunnen gefallen
ist, sollte man die Idee eines Elternführerscheins diskutieren. Eltern sollten durch die Teilnahme an Kursen fit
gemacht werden.
({17})
Ein Elternführerschein ist ein Beitrag zur Prävention, zur
Förderung der ersten Schritte im Leben eines Kindes zu
seinem Wohl und dem seiner Eltern sowie zur Entlastung öffentlicher Einrichtungen, etwa der schon heute
überlasteten Schulen, die später reparieren sollen, was
überforderte Eltern zuvor versäumt haben.
Ein weiteres wichtiges Instrument ist die Ernährungsberatung. Wenn Kinder erst einmal an Adipositas leiden
und von ihren Mitschülern verspottet werden, ist der Zug
schon fast abgefahren. Diese Beratung soll niemandem
aufgezwungen werden, wir können sie aber durch Anreize attraktiv machen.
({18})
Warum sollte es nicht zum Beispiel Sachleistungen als
Bonus dafür geben, dass sich Familien beraten lassen
und ihre Kinder dadurch nachweislich gesünder ernähren? Das kann ein Fahrradhelm sein oder eine Jahresmitgliedschaft in einem interessanten Sportverein.
({19})
Solche Leistungen, die die Krankenkassen übernehmen
müssten, werden sich langfristig mehr auszahlen, als in
einer überflüssigen Stiftung Angestellte zu beschäftigen.
({20})
- Hören Sie bis zum Ende zu, dann werden Sie das alles
erfahren, was Ihnen noch unklar ist.
({21})
Wichtig ist auch, dass in Gemeinschaftseinrichtungen
wie Kindergärten, Schulen und Vereinen das Bewusstsein für Gesundheit gefördert werden muss. Natürlich
müssen diese Einrichtungen selber gesunde Ernährung
bereitstellen. Für diese Institutionen sind in den letzten
Jahren viele Aktionsprogramme entworfen worden.
Diese werden wir weiterführen und ergänzen.
({22})
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass bei Haus- und
Kinderärzten zuweilen die kurative Seite dominiert und
die präventive Seite ins Hintertreffen gerät. Hier sind die
Ärzte gefordert, um Prävention auf breiter Front durchzusetzen. Deshalb müssen wir das Engagement der
Haus- und Kinderärzte fördern.
({23})
Ein weiterer Schwerpunkt der Präventionsstrategie ist
die Gesundheitsförderung im Betrieb. Die meisten Unternehmen wollen gesunde, tatkräftige Mitarbeiter. Sie
sind auch willens, sich für Prävention starkzumachen.
Leider ist festzustellen, dass sich die Krankenkassen
sehr unterschiedlich um Prävention bemühen. Gerade
kleine und mittlere Unternehmen haben es schwer, wenn
sie sich einer Vielzahl von Krankenkassen gegenübersehen. Die Gestaltung von Gruppentarifverträgen für die
Beschäftigten eines Betriebes könnte dazu beitragen, die
Gesundheitsförderung zu intensivieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler von der Linksfraktion?
({0})
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mir die Zwischenfrage gestatten.
Immer gerne.
Sie haben gerade sinngemäß gesagt, dass es bei den
Kinder- und Jugendärzten noch ein unterentwickeltes
Bewusstsein für Prävention und Gesundheitsförderung
gibt.
Ich war in der letzten Woche auf einer Veranstaltung
in Essen. In der Essener Nordstadt, in den nördlichen
Stadtbezirken, gibt es 10 000 Kinder und Jugendliche,
also 10 000 junge Patientinnen und Patienten, und nur
noch zwei niedergelassene Kinder- und Jugendärzte,
weil sich die Ärzte lieber in den südlichen Stadtbezirken
niederlassen, wo die Klientel attraktiver ist.
({0})
Im Essener Norden leben viele Migrantinnen und Migranten und viele finanziell benachteiligte Familien.
Wie sollen diese zwei Kinder- und Jugendärzte, die
zusammen 10 000 junge Patientinnen und Patienten in
der Kartei haben, über die Vorsorgeuntersuchungen hinaus, die sie durchführen, auch noch zusätzliche Präventionsangebote machen?
({1})
Das sehe ich schon einmal gar nicht. Ich finde das geradezu illusionär.
({2})
Wir haben gerade von allen anderen Rednerinnen und
Rednern auch gehört,
({3})
dass anerkannt worden ist, dass die Präventionsmaßnahmen vor allem diejenigen erreichen, die sie eigentlich
weniger brauchen. Im Essener Norden besteht aber ein
echter Bedarf. Wie stellen Sie sich vor, dass wir dort aktiv werden können, um die Lebensbedingungen der
Menschen dort, vor allem der Kinder und Jugendlichen,
zu verbessern? Wir sollten den Kinder- und Jugendärzten nicht vorwerfen, dass sie ihren Job nicht ordentlich
machen.
Vielen Dank. Ich dachte schon, es käme gar keine
Frage mehr und Ihr Beitrag wäre nur ein Koreferat.
Die Vorvorgängerin im Amt des Gesundheitsministers hat sich immer an dieses Rednerpult gestellt und erklärt, dass soundsoviele Milliarden Euro für die Versorgung zur Verfügung gestellt werden und alles bestens ist.
Es war unser Gesundheitsminister, Minister Rösler
({0})
- Rösler, das sagte ich gerade -, der dieses Problem, dass
wir auf einen Ärztemangel zusteuern und in bestimmten
Regionen schon einen Ärztemangel haben, zum ersten
Mal beschrieben hat. Das wurde hier zum ersten Mal artikuliert. Es wurden jetzt auch Strategien entworfen.
({1})
Wenn Sie sich unseren Entwurf des Versorgungsgesetzes anschauen, dann sehen Sie, dass wir gerade dieses
Problem angehen, indem wir die Versorgung anders und
zielgenauer definieren und Ärzte über Anreize dazu
bringen wollen, sich auch in solchen Gegenden niederzulassen. Unabhängig davon muss man die Ärzte natürlich informieren. Es muss sich für die Ärzte auch irgendwie rechnen, dass sie sich um Prävention bemühen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer mehr Menschen werden immer älter. Wir wollen ihre Lebensqualität fördern. Durch körperliche und geistige Fitness wird
die Lebensfreude erhalten und werden die Krankenversicherungen entlastet. Bewegung, gesunde Ernährung und
soziale Teilhabe schützen vor Demenz. Die präventiven
Potenziale in diesem Feld werden bei weitem nicht ausreichend genutzt. Ältere Menschen werden allerdings
seltener über das Internet oder über Institutionen angesprochen. Hier können Initiativen über Wohnheime,
Kommunen oder auch kirchliche Gemeinden ansetzen.
Meine Damen und Herren, wir haben zahlreiche Instrumente zur Prävention, die wir nur besser nutzen müssen. Sehr wichtig ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die mehr Projekte für ältere und für
sozial benachteiligte Menschen starten könnte. Sehr
wichtig sind auch die Krankenkassen. Sie sind nach
§ 20 SGB V dazu berufen, sich um Maßnahmen der primären Prävention zu kümmern. Eine bessere Koordination zwischen den Kassen über Ziele und Maßnahmen
der Prävention scheint mir dringend erforderlich zu sein.
Die Kassen müssen schon aus Eigeninteresse stärker initiativ werden; denn jede vermiedene Krankheit spart
Geld und stärkt die Position der Kasse im Wettbewerb.
Zu einer erfolgreichen Strategie gehören für mich
noch zwei weitere Aspekte. Wir benötigen eine bessere
Bündelung von Informationen für Patienten. Je besser
Menschen informiert sind, desto eher übernehmen sie
Verantwortung für die eigene Gesundheit. Informationen
sollten über Ärzte, Schulen, Krankenkassen, Betriebe
und soziale Hilfsdienste so kanalisiert werden, dass sie
die Menschen nicht nur erreichen, sondern auch motivieren.
Außerdem benötigen wir bundesweit einheitliche
Qualitätsstandards für alle Arten von Präventionsleistungen. Dies würde auch den Kassen bei der Abstimmung
ihrer Maßnahmen helfen. Die Standards sind zuverlässig
einzuhalten. Daher brauchen wir so bald wie möglich ein
einheitliches Verfahren zur Überprüfung der Wirkungen
präventiver Leistungen.
Für all dies benötigen wir weder ein Gesetz noch eine
neue Behörde, sondern guten Willen und Einfallsreichtum. Wichtig sind Anreizsysteme,
({3})
ein besserer Informationsfluss und eine bessere Koordination der Krankenkassen.
({4})
Wie ich eingangs sagte: Viele Wege führen nach
Rom. Die Liberalen möchten, dass wir den besten einschlagen.
({5})
Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Ich habe heute Morgen
die Beratungen zu dem vorherigen Tagesordnungspunkt,
dem Bundeskinderschutzgesetz, gehört. Da habe ich
erstmalig eine sehr konstruktive Debatte erlebt, bei der
ich das Gefühl hatte: Alle hier im Saal wollen tatsächlich
zu neuen Lösungen kommen.
({0})
Das würde ich mir für die Prävention in gleicher Weise
wünschen.
({1})
Entsprechende Äußerungen habe ich heute bislang vonseiten der Regierungskoalition leider noch nicht gehört.
Das finde ich schade.
Man sieht anhand der drei Anträge, die wir hier in den
Bundestag eingebracht haben, dass sehr konstruktive
Vorschläge auf den Tisch gelegt worden sind. Sie sind in
Teilen unterschiedlich - man muss auch nicht alle Ansichten teilen -, aber die Richtung ist im Grunde klar:
Wir müssen mehr für die Prävention tun. Wir müssen
mehr für die Gesundheitsförderung tun. Das dürfen wir
nicht einfach nur dem Wettbewerb der Krankenkassen
überlassen oder aber daraus nur eine Sonntagsrede machen. So ist es aber bislang. So dürfen wir nicht weitermachen.
({2})
Wir haben heute relativ wenig Fakten und Zahlen bemüht. Ich habe mir einmal angesehen, wie viel wir für
die Gesundheit ausgeben, und zwar über alle Sozialleistungsträger gesehen. Das sind ungefähr 270 Milliarden
Euro. Wir geben gerade einmal 2,3 Prozent dieser
Summe für Prävention und Gesundheitsförderung aus.
({3})
Genau das zeigt, wo derzeit die Schieflage ist. In dieser
Art und Weise können wir nicht weitermachen.
({4})
Herr Singhammer und Herr Lotter, zu diesem Thema
hätte ich mir ein paar konkretere Hinweise gewünscht.
Sie haben gesagt: Im Grunde genommen ist alles, so wie
es ist, gut. Wir müssen noch ein bisschen mehr Kampagnen machen und mehr guten Willen zeigen. Wir müssen
mehr Fantasie aufbringen und sehen, dass wir das eine
oder andere besser bündeln. Dann haben wir genug getan. - Dazu kann ich nur sagen: Das reicht nicht.
Viele von Ihnen dürften auch in den Kommunen aktiv
sein und vielleicht auch Kommunalpolitik gemacht haben. In den Kommunen sehen Sie, dass die Realität eine
vollständig andere ist. Die Menschen, die über die geringsten Chancen auf Gesundheit und über wenig Bildung verfügen, werden von den Präventionsmaßnahmen
bislang nicht erreicht. Da, wo in sozialen Brennpunkten
für diese Gruppen Projekte entwickelt und mühselig
finanziert werden, stellt sich nach zwei Jahren die Frage:
Wie wird dieses Projekt weiterfinanziert? Das ist heute,
zwölf Jahre nachdem wir Gesundheitsförderung und
Prävention ins Gesetz geschrieben haben, immer noch
die Realität. Das müssen wir ändern. Da sind wir alle gefragt.
({5})
Wenn jetzt festgestellt wird, dass ein Richtungs- und
Prioritätenwechsel notwendig ist, dann muss er auch tatsächlich angegangen werden. Wir werden nicht darum
herumkommen, entsprechende gesetzliche Regelungen
zu schaffen. Hier ist immer wieder davon die Rede, ein
Präventionsgesetz werde als Wert an sich bemüht und
nur zu mehr Bürokratie führen. Das Gegenteil ist der
Fall: Wir haben jetzt sehr viel Stückwerk, Leerlauf und
Bürokratie für Kleinstprojekte. Das ist die Realität, und
das müssen wir angehen.
({6})
Sie könnten dabei auf alle Vorschläge zurückgreifen,
die wir vorgelegt haben. Wir haben Vorschläge dazu gemacht, wie man Bund, Länder und Kommunen an einen
Tisch bringen kann. Der Wille dazu ist in den Ländern
und Kommunen vorhanden. Das ist kein Problem. Ihnen
brennen nämlich die Probleme auf den Nägeln; sie können sich ihnen nicht entziehen. An dieser Stelle sind wir
gefragt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit eine
verbindliche Finanzierungsgrundlage, Aufgabenzuteilung und Aufgabenstellung zustande kommen. Das ist
unsere Aufgabe in diesem Saal und nirgendwo anders.
({7})
Das ist das eine. Das andere ist: Auch bei den verschiedenen Bemühungen der Krankenkassen müssen wir
feststellen, dass die bruchstückhafte Finanzierung, die
wir derzeit haben, sogar noch rückläufig ist. In der Zeit
der Großen Koalition sind Sie nicht vorangekommen,
obwohl Sie versprochen hatten, endlich etwas zu tun.
Wo aber sind wir gelandet? Im Stillstand.
Aber unter Schwarz-Gelb sind wir derzeit nicht einmal im Stillstand; wir machen sogar Rückschritte.
({8})
Das ist die Realität, die Sie zur Kenntnis nehmen müssen. Die Ausgaben für Prävention sind derzeit niedriger
als noch im Vorjahr. Sie werden in Zeiten von Zusatzbeiträgen im nächsten Jahr weiter rückläufig sein. Das wissen wir schon heute. Das muss doch Grund sein, uns
langsam darüber Gedanken zu machen, wo wir eigentlich hinwollen.
({9})
Dieser Aufgabe müssen Sie alle sich stellen. Sie können
nicht einfach unterstellen, dass wir irgendeine bürokratische Idee im Kopf haben. Darum geht es nicht. Es geht
vielmehr darum, eine vernünftige Grundlage zu schaffen.
Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben, können
Sie ihn gerne vorlegen. Dazu werden wir, hoffe ich, in
der nächsten Zeit Gelegenheit haben.
So viel als Eingangsbemerkung. Gemessen daran,
was wir beim Thema Kinderschutz erlebt haben, wären
auch beim Thema Prävention konstruktivere Schritte nötig.
({10})
- Es geht nicht darum, wer wie anfängt. Jeder hat es in
der Hand - Sie reden ja gerne von Eigenverantwortung -,
den Stil zu ändern.
Ich möchte aber auf den jetzigen Stand zu sprechen
kommen. Derzeit haben wir ein Wirrwarr von Zuständigkeiten. An dieser Stelle können wir ansetzen. Dafür
brauchen wir das Präventionsgesetz. Wir haben keine
stabile Finanzierungsgrundlage. Auch dafür brauchen
wir eine gesetzliche Regelung, wie auch immer Sie das
dann nennen. Das können Sie ja anders machen.
Darüber hinaus brauchen wir aber auch vernünftige
Strategien. Denn derzeit haben wir in der Tat verschiedene Strategien, vor allem Marketingstrategien der
Krankenkassen; sie werden aber nicht zusammen betrachtet. Das muss sich ändern. Wir müssen die Grundlagen dafür schaffen und bestehende Initiativen wie „In
Form“ auf eine breite Plattform stellen. Wir brauchen
eine Übereinkunft darüber, dass das unser gemeinsames
Programm auf allen Ebenen ist.
({11})
Das müssen wir als nationale Strategie ergänzend zu
dem gestalten, wofür wir die gesetzlichen Grundlagen
schaffen.
Diese Visionen brauchen wir. Diese Aufgaben müssen wir angehen. Das können wir nicht einfach aussitzen, indem nur ein bisschen analysiert wird, was derzeit
vorhanden ist, und allenfalls der Beitragsanteil pro Versicherten weiter angehoben wird. Das kann nicht die Lösung sein. Wir brauchen vielmehr eine Gesamtstrategie.
({12})
Wenn Sie, wie es vorhin der Fall war, versuchen, sich
mit dem Hinweis auf die persönliche Eigenverantwortung herauszureden, dann ist das keine geeignete Strategie. Sie alle wissen: Prävention und Gesundheitsförderung sind Instrumente gegen die soziale Schieflage. Das
ist auf allen Ebenen bekannt. Diesem Thema müssen wir
uns stellen. Das können wir nicht, indem wir nur an die
Eigenverantwortung appellieren. Das ist ein Rückschritt
und führt in die Sackgasse. So werden wir nicht weiterkommen.
Befassen Sie sich mit unseren Vorschlägen, die wir
vorgelegt haben, statt sich an einer aus meiner Sicht zentralistischen Stiftungslösung abzuarbeiten, und ziehen
Sie auch die anderen Ansätze heran, die Ihnen aufgezeigt wurden.
({13})
Gehen Sie mit uns in die Debatte und schauen Sie, dass
Sie noch in diesem Jahr etwas auf den Weg bringen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat der Kollege Henke für die Unionsfraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnen
dankbar, Frau Klein-Schmeink, dass Sie sich von den
Anträgen der Opposition - eben wurde gesagt, dass sich
diese ergänzten und im Prinzip eine Einheit bildeten etwas gelöst haben und das Ganze etwas differenzierter
betrachten. Ich halte das für richtig. Ich komme gleich
auf den von Ihnen angesprochenen Ansatz zurück. Ich
will aber zuerst sagen: Die Akzente der Oppositionsanträge, die Sie uns bisher präsentiert haben, sind nichts
anderes als ein Werben für die nichtmedizinische Primärprävention, die Sie gewissermaßen gegen ärztliche
Präventionsbemühungen und Präventionsbemühungen
der Pflegekräfte stellen. Sie stellen hier eine Polarität
her.
({0})
Sie machen eine Front zwischen Prävention einerseits
und Behandlung andererseits auf.
({1})
- Lesen Sie doch Ihren Antrag! - Sie versuchen, das gegeneinander auszuspielen. Sie stellen Aspekte der Institutionalisierung in den Vordergrund. Sie machen eine
Front zwischen sozialen Schichten auf.
({2})
- Verehrter Kollege Weinberg, Sie von der Linken diskreditieren ganz bewusst individuelle Anstrengungen,
({3})
weil Sie die Eigenverantwortung in Misskredit bringen
wollen. Reden Sie nicht! Lesen Sie Ihren eigenen Antrag!
Ich darf aus dem Antrag der Linken zitieren:
Die bisher hauptsächlich angewendete Prävention
… mündet zumeist im Versuch von Verhaltensänderungen durch Informationskampagnen. Sie blendet
die gesellschaftliche Realität und Verantwortung
sowie die individuelle Situation der Menschen aus.
Nun kommt der entscheidende Satz:
Diese Form der Prävention ist daher nicht nur zumeist unwirksam
- Sie erklären damit also die Kampagnen für Zahngesundheit, die Aidskampagne, die Maßnahmen zur HerzKreislauf-Prävention und alle anderen Anstrengungen
der Institutionen, die etwas für die Verbreitung von präventiven Ansätzen in der bürgerlichen Zivilgesellschaft
tun, für unwirksam -,
sondern vergrößert oft die soziale Schere in der Gesundheit.
Das ist in logischer Hinsicht Unsinn. Entweder ist
diese Form der Prävention unwirksam - dann kann sie
nicht die soziale Schere vergrößern -, oder sie wirkt sich
auf die soziale Schere aus. Dann kann sie aber nicht unwirksam sein. Einen solchen unlogischen Unsinn ist man
von der Linken ja gewohnt.
({4})
Ich komme auf die Potenziale der Prävention zurück.
Frau Klein-Schmeink, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
daran erinnert haben, welche Rolle in der aktuellen Debatte auch das Bundeskinderschutzgesetz spielt. Auch in
der gestrigen Debatte über die Energiepolitik und insbesondere über das Ende der Kernenergie in Deutschland
sind wir letzten Endes gesundheitspräventiven Erwägungen gefolgt.
({5})
- Doch! - Der Gedankengang ist folgender: Bei der Havarie eines Kernkraftwerks drohen derart große Gefahren für Leib und Leben vieler Menschen,
({6})
und die medizinischen Möglichkeiten der Heilung von
Strahlenopfern sind so gering, dass wir dieses Risiko
nicht länger in Kauf nehmen wollen. Eine Havarie
- diese Möglichkeit wurde bis dato zumindest von uns
als gering empfunden - kann also doch plötzlich eintreten. Das ist die Botschaft der Bilder von Erdbeben, Tsunami und der Kernschmelze in Japan. Wir gestalten nun
unsere Energieversorgung in weiten Teilen neu, um das
Risiko der bei einer Havarie drohenden Gesundheitsschäden auszuschalten. Das ist der Kern dessen, was wir
gestern entschieden haben. Es geht um eine gesundheitsverträgliche Energieproduktion.
Als Arzt wünsche ich mir, dass wir die Sensibilität,
die Aufmerksamkeit, die Fantasie und die Handlungsbereitschaft, die wir mit den gestrigen energiepolitischen
Entscheidungen unter Beweis gestellt haben, um die Gesundheit von Menschen, Tieren und Natur zu schützen,
auch gegen Gefahren einsetzen, die uns alle ebenso unmittelbar betreffen. In unserem Land sterben im Jahr
mehr als 100 000 Mitbürger vor der Zeit an den Folgen
des Rauchens. 40 000 Mitbürger sterben vor der Zeit an
den Folgen maßlosen Konsums von Alkohol.
Ohne die epidemieartige Ausbreitung -
Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Klein-Schmeink?
Ich möchte den Gedanken gern noch zu Ende führen,
und dann gestatte ich das gerne.
Ohne die epidemieartige Ausbreitung der Adipositas,
also des krankhaften Übergewichts, wären mindestens
zwei von drei Zuckerkranken gesund. Wir haben in den
letzten 30 Jahren, je nach Zählung, das metabolische
Syndrom, also die Konsequenz aus Bewegungsarmut
und Überernährung, in einer Weise entwickelt, dass wir
von der Verursachung etlicher Zivilisationskrankheiten
sprechen müssen. Es ist eine blanke Illusion, zu glauben,
dass man das mit der Schaffung bloßer Institutionen beseitigen kann. Dazu braucht man vielmehr einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel, der beim Einzelnen,
bei seiner persönlichen Verantwortung, ansetzt. Jeder ist
aufgefordert, dabei mitzumachen und sich daran zu beteiligen.
({0})
Ist der Satz jetzt beendet?
Ja.
Frau Klein-Schmeink, dann stellen Sie bitte Ihre Zwischenfrage.
Herr Henke, Sie haben gerade sehr anschaulich die
Folgen von gesundheitsschädlichem Verhalten aufgezeigt. Wir wissen doch durch viele Projekte, dass man
gerade Personen, die dieses Gesundheitswissen in der
Regel nicht haben, die in der Familie ungünstige Verhaltensweisen erlernt haben, durch settingbezogene, lebensweltbezogene Ansätze gut erreichen kann, also eben
nicht durch individuelle Maßnahmen.
({0})
Haben Sie sich unsere Anträge angeschaut?
({1})
Finden Sie nicht selber, dass man daran arbeiten sollte,
diese Ansätze in der Fläche, vor Ort, vor allen Dingen in
den Kommunen stabil und verlässlich zu verwirklichen?
Genau darüber haben wir eben beim Kinderschutzgesetz
in gleicher Weise diskutiert.
({2})
Ich habe mir Ihre Anträge Wort für Wort vorgenommen. Mein Eindruck, Frau Kollegin Klein-Schmeink, ist,
dass das Bundesministerium für Gesundheit mit großer
Energie und in enger Abstimmung mit den anderen Ressorts der Bundesregierung an einer nationalen Präventionsstrategie arbeitet und dass sämtliche Gedanken, die
in diesen Anträgen formuliert sind - jenseits der Frage
der Form der Institutionalisierung, ob es eine Stiftung
werden soll oder welche Gremien auch immer man
schaffen will -, in diese Strategie einfließen. Ich bin
dankbar dafür, dass wir mit der Entwicklung dieser Strategie eine weitere Chance haben, über die Notwendigkeiten zu diskutieren.
Wenn man auf die letzten 30 Jahre zurückblickt, erkennt man, dass wir, je nach Zählung, 15 bis 30 - manche sprechen sogar von 50 - Gesundheitsreformen erlebt
haben. Dabei ist es fast immer um die Frage gegangen,
wie viel Geld wohin fließt. Das hat etwas mit einer Missinterpretation der eigentlich zugrunde liegenden Ursachen für die Kostenentwicklung im Gesundheitsbereich
zu tun.
({0})
Wir interpretieren diese Kosten oft ausschließlich als
Folge des demografischen Wandels und des zunehmenden Alters, als Folge des medizinisch-technischen Fortschritts, als Folge der Arzneimittelentwicklung oder als
Folge der Einkommen der Gesundheitsberufe.
Ich frage: Ist die Kostenentwicklung in Wahrheit
nicht eine Folge unseres sitzenden Lebensstils, unserer
Überforderung mit geistig-emotionaler Dauerreizung,
für die wir als ehemalige Savannenläufer nicht konstruiert sind?
({1})
Für übertriebenen Sport sind wir übrigens ebenso wenig
konstruiert wie für ständiges Sitzen. Das Leitbild kann
also auch nicht der Marathonlauf für jeden Untrainierten
sein; denn auch das stellt eine Art Überreizung und
Überforderung dar. Die Art, wie wir essen, wie wir trinken, wie wir uns bewegen oder vielmehr nicht bewegen,
hat vielleicht mehr Einfluss auf unsere Gesundheitsaufwendungen als alle Forderungen der Gesundheitsberufe
zusammen.
Natürlich gibt es auch riesige Einflüsse des sozialen
Eingebettetseins,
({2})
der Selbstwertvorstellung und der Gedanken zur Sinnhaftigkeit des Lebens auf die Gesundheit.
Eine kleine Nebenbemerkung. Welche Entwicklung
wir im Hinblick auf dieses Eingebettetseins erleben, wie
nämlich Krankenkassen mit den Mutter-/Vater-Kind-Kuren umgehen, wie sie die in den letzten zwei Jahren zusammengestrichen haben, ist unglaublich.
({3})
Man muss sich auch manchmal fragen, ob das, was im
Zusammenhang mit der City BKK passiert ist - ich
meine den Umgang mit den Versicherten, die man nicht
haben will -, in anderen Entscheidungsfeldern der Kassen ähnlich wirksam ist. Ich stelle das nur als Frage in
den Raum.
Ich sage voraus: Der vermeintliche Kostenfaktor Gesundheit wird künftig der entscheidende Produktionsfaktor für die Wirtschaft in der Informationsgesellschaft
sein, weil eine umfassende, also auch sozial und seelisch
spürbare Gesundheit eine Hilfe für jedermann im produktiven Umgang mit Wissen ist. Deswegen glaube ich,
dass wir Gesundheit nicht nur als individuelle Verantwortung verstehen dürfen.
({4})
Deswegen finde ich es auch richtig, wenn wir darüber
reden, wie wir die Möglichkeiten betrieblicher Gesundheitsförderung ausbauen können.
({5})
Ich stelle auch fest, dass es Betriebe, Unternehmen,
Konzerne und auch Mittelständler gibt, die genau diesen
Punkt erkannt haben und deswegen in ihrer konkreten
Gesundheitsförderung über die gesetzlichen Pflichten hinausgehen. Sie haben das als einen Faktor für ihren betrieblichen Erfolg erkannt.
({6})
Der größte Bonus, den Gesundheitsförderung liefert,
besteht nicht darin, dass die Kasse jemandem, der an einem Kurs teilnimmt, 10 Euro Praxisgebühr erlässt. Der
größte Bonus besteht darin, dass wir uns durch mehr Gesundheit die Chance auf Teilhabe am Leben besser erhalten können. Das ist der Grund dafür, dass der Einzelne
jenseits aller institutionellen Anreize für sich einen Riesengewinn macht - in der Lebenserwartung und in der
Lebensgestaltung.
({7})
Wenn wir das zum Anlass nehmen, die Debatte über
die nationale Präventionsstrategie, die die Koalition angekündigt hat,
({8})
mit genügend Ernst und mit genügend Sachverstand zu
führen,
({9})
statt alte Ideen, die schon in 13 Jahren rot-grün geführten
BMGs nicht umgesetzt worden sind, in einem zweiten
Aufguss zu präsentieren,
({10})
wenn wir das schaffen,
({11})
wenn wir dabei die Polarisierung überwinden, dann würden wir der Gesundheitsprävention, unserer Volkswirtschaft und den Menschen in Deutschland einen großen
Dienst erweisen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem man die Wortbeiträge vonseiten der Koalition
gehört hat, weiß man nicht so wirklich, ob Sie sich überhaupt einig sind, ob Sie sich auch nur in der Unionsfrak13722
tion einig sind. Herr Henke sagte eben: Wir machen eine
nationale Präventionsstrategie. Herr Singhammer will
eine nationale Präventionskonferenz.
({0})
Herr Lotter und auch Herr Singhammer setzen auf mehr
Eigenverantwortung. Das ist Chaos pur. Sie haben keine
gemeinsame Linie,
({1})
außer der, dass Sie ideologisch verbrämt gegen ein Präventionsgesetz sind. Darin sind Sie sich einig.
({2})
Damit entscheiden Sie sich dagegen, die demografischen Herausforderungen, die in unserem Gesundheitswesen unbestreitbar vorhanden sind, schon heute anzugehen.
Sie entscheiden sich dagegen, die Volksgesundheit zu
verbessern. Sie entscheiden sich gegen eine bessere Lebensqualität für den oder die Einzelne. Sie entscheiden
sich auch dagegen, Krankheiten und Pflegebedürftigkeit
zu vermeiden oder zumindest zu verzögern. Das ist die
Blockade, die Sie bis jetzt gemacht haben.
Sie haben bisher noch nichts vorgelegt. Sie regieren
schon fast zwei Jahre. Vor allen Dingen entscheiden Sie
sich auch dagegen, Kostensteigerungen, die wegen des
demografischen Wandels zu erwarten sind, zu bremsen.
Das ist Ihre Entscheidung.
Ich sage Ihnen: Ohne eine nachhaltige und flächendeckende Gesundheitsprävention können die Gesundheitschancen der bildungsferneren Schichten nicht verbessert werden.
({3})
Es ist für meine Begriffe zynisch, dort von Eigenverantwortung zu reden, wo weder die Mutter noch der Vater
wissen, wie man ein gesundes Essen zubereitet, die Kinder keinen Sport treiben, wenig Bewegung haben und
zudem noch ungesund ernährt werden.
({4})
Auf Eigenverantwortung zu setzen, funktioniert doch
überhaupt nicht.
({5})
- Natürlich haben die Eltern eine Verantwortung. Wenn
die Eltern diese Verantwortung aber nicht wahrnehmen,
sagen wir dann einfach: „Dann haben die Kinder eben
Pech gehabt; darum kümmern wir uns nicht“?
({6})
Wer hat denn bei unseren Diskussionen über die Regelungen im Rahmen der SGB-II-Reform verhindert, dass
Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die diesen Bereich hätten übernehmen können, vom Bund finanziert
werden?
({7})
Wer hat das denn verhindert? Das waren Sie, nicht wir.
({8})
Ich sage Ihnen: Solange Sie sich weigern, bei den Lebenswelten der Menschen anzusetzen, so lange wird es
keine vernünftige Präventionsstrategie geben. Sämtliche
Maßnahmen bringen nichts, wenn ich nicht da hingehe,
wo die Kinder sind, oder wenn ich darauf warte, dass die
Eltern zum Arzt gehen, wobei die Ärzte ein zusätzliches
Honorar für eine Präventionsberatung bekommen. Sie
haben eben wieder deutlich gemacht, dass Sie reine
Klientelpolitik für Ärztinnen und Ärzte betreiben. Sie
tun aber nichts für diejenigen, die eine vernünftige Gesundheitsprävention brauchen.
({9})
Das sieht man auch bei einem Blick auf den Bundeshaushalt. Mit Ihren Stimmen sind die Präventionsmittel
im letzten Bundeshaushalt gekürzt worden. Ich bin gespannt, wie das Ganze für den Bundeshaushalt 2012 aussehen wird.
Ich kann mich doch nicht hier herstellen und bejammern, dass es Menschen gibt, die sich nicht so verhalten,
wie sie sich eigentlich verhalten müssten,
({10})
wenn ich gleichzeitig die Mittel für Information usw. zurückschneide. Das, was Sie machen, ist, gelinde gesagt,
verrückt. Ich sage Ihnen auch: Es gibt Menschen, bei denen Information alleine nicht ausreicht. Sie brauchen
auch eine Begleitung.
({11})
- Nein, nicht zwangsweise.
({12})
Es reicht aber doch nicht aus, eine Informationskampagne zu starten, von der die meisten überhaupt nichts mitbekommen, und dann zu sagen: Wer informiert ist und
nichts tut - selber schuld. So kann Politik doch nicht mit
diesem Problem umgehen.
Wir müssen in die Kitas und in die Schulen. Zur Not
müssen wir auch mit dem Jugendamt - das wurde heute
bereits in der Debatte zum Kinderschutzgesetz gesagt -,
mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, über die Jugendhilfe in die Familien, damit Kinder entsprechend
gefördert werden können. Damit fängt es an.
({13})
Aber auch bei den Erwachsenen kann man etwas tun.
Man kann natürlich feststellen: Die betriebliche PrävenElke Ferner
tion ist in Teilen sehr gut. Dabei handelt es sich aber im
Wesentlichen um die großen Betriebe. Viele Menschen
arbeiten jedoch in kleinen Betrieben, in denen die betriebliche Gesundheitsprävention nicht oder nur sehr unzureichend erfolgt. Es soll sogar Menschen geben, die
gar nicht in einem Betrieb arbeiten. Was ist mit Selbstständigen? Was ist mit Rentnerinnen und Rentnern? Was
ist mit Arbeitslosen? Diese Gruppen erreiche ich nicht
über die betriebliche Prävention. Insofern ist das, was
Sie hier gesagt haben, viel zu kurz gesprungen.
({14})
Ich sage Ihnen auch: Die Einführung der Kopfpauschale ab dem 1. Januar dieses Jahres wird im Ergebnis
dazu beitragen, dass die Krankenkassen ihre Ausgaben
für Prävention zurückfahren werden.
({15})
Insbesondere für die Kassen, deren Finanzrahmen sehr
eng ist, wird es schwieriger, Prävention zu finanzieren es sei denn, man erhebt eine Kopfpauschale. Das wollen
Sie ja unbedingt. Das ist kontraproduktiv in Bezug auf
das, was Krankenkassen selber für Prävention tun.
Ich fände es nicht schlecht, wenn sich all diejenigen,
die mit Prävention zu tun haben, besser koordinieren
würden. Es gibt beispielsweise Probleme bei den Rehas,
wo die Betroffenen von einem Kostenträger zum anderen geschoben werden. Wenn vor Ort ein Präventionsprojekt auf den Weg gebracht wird, sollen sich die Initiatoren dann bei 150 oder 120 Krankenkassen oder den
vielen privaten Krankenkassen um die Finanzierung bemühen? Das ist völlig daneben und überhaupt nicht hilfreich.
Herr Lotter hat vorhin gesagt: Viele Wege führen
nach Rom. Das ist wohl richtig. Nur scheinen Sie den
Weg nach Rom so zu nehmen, dass Sie zuerst zum Nordpol, von da zum Südpol und dann nach Rom fahren.
({16})
Für eine bessere Präventionspolitik taugt das überhaupt nicht. Insofern kann ich Sie nur ermuntern:
Schauen Sie sich unsere Anträge und die der anderen
Oppositionsparteien an. Kommen Sie endlich zur Vernunft. Machen Sie bei dem Thema Prävention etwas
mehr, als Sie bisher getan haben.
Schönen Dank.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Vogelsang für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir können formulieren, dass uns alle, die
wir hier im Hause vertreten sind, die Erkenntnis eint,
dass wir im Bereich der Gesundheitsförderung zwingend
etwas Innovatives schaffen müssen, um die medizinische
Qualität der Versorgung in unserem Gesundheitssystem
auf Dauer aufrechterhalten zu können, und zwar für uns
selber und unsere Kinder.
Frau Klein-Schmeink, ich habe mich zu Beginn Ihrer
Rede an die Debatte zum Kinderschutzgesetz erinnert,
die ich mir komplett angehört habe. Während der Debatte zum Kinderschutzgesetz ist mir aufgefallen, dass
weder die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition
noch die der Regierungskoalition hier am Rednerpult der
jeweils anderen Seite das Verlangen, etwas an der Situation zu verbessern, abgesprochen haben. Eine solche
Verhaltensweise täte uns auch beim Thema Prävention
sehr gut.
({0})
Keiner hier im Haus hat sich in den vergangenen zehn
Jahren beim Thema Prävention mit Ruhm bekleckert.
({1})
Ich erinnere daran, in welchem Zustand Sie das Bundesgesundheitsministerium übergeben haben.
({2})
Ich erinnere daran, was die neue Führung des Bundesgesundheitsministeriums schon in den ersten anderthalb
Jahren leisten musste:
({3})
Wir haben heiße Diskussionen zur Sicherung der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung geführt.
({4})
- Ja, ja. - Wir haben ein sehr kompliziertes und erfolgreich wirkendes Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes durchgesetzt.
Jetzt steht im Mittelpunkt der Überlegungen im
Ministerium, wie man Versorgungsstrukturen in unserer
Republik, die in der Fläche erhebliche Defizite aufweisen, reformieren kann; Frau Kollegin Vogler, selbstverständlich haben wir erkannt, dass wir uns auch damit beschäftigen müssen, wie wir die Probleme, die in diesem
Zusammenhang aufgrund bestimmter sozialräumlicher
Strukturen bestehen, verbessern können. Das wird unsere Diskussionen im Herbst beherrschen. Wir werden
uns dann selbstverständlich mit einer neuen Präventionsstrategie für die gesundheitliche Versorgung der Menschen beschäftigen.
({5})
Das ist Bestandteil des Koalitionsvertrages; Sie haben
schon bei verschiedenen Punkten hier im Hause davon
gehört.
Wenn ich mir anschaue, was in der Verantwortung der
Linken geschehen ist, dann kommt mir als Abgeordnete
aus Berlin in den Sinn, dass hier eine linke Gesundheitssenatorin zehn Jahre lang den eigentlich nachhaltig wirkenden Gesundheitsschutz im kommunalen Bereich, in
den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten und den
Gesundheitsämtern, komplett kaputtgespart hat, ohne
Rücksicht auf Verluste.
({6})
Kollegin Vogelsang, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Rawert?
Entschuldigung. - Es gibt bei der Gesundheitspolitik
hier im Land Berlin ein einziges Hin und Her - das ist
Aktionismus -: hier mal ein Programm und da mal ein
Programm. - Jetzt lasse ich gerne eine Zwischenfrage
zu.
Wir haben zwei Meldungen. Erst fragt die Kollegin
Rawert, dann die Kollegin Bunge. - Bitte sehr.
Frau Vogelsang, Sie waren Stadträtin in Neukölln und
haben gerade Aussagen dazu gemacht, dass der öffentliche Gesundheitsdienst kaputtgespart worden ist. Welche
Anstrengungen sind in Neukölln - einem Bezirk, der
sich, was die soziale Ungleichheit angeht, unter anderem
dadurch auszeichnet, dass es schlechtere gesundheitliche
Startbedingungen und schlechtere Ausgleichsmöglichkeiten für Kinder, Männer und Frauen gibt - unternommen worden, als Sie dort Stadträtin für Gesundheit waren? Sie haben dort vor wenigen Jahren höchstpersönlich
Verantwortung getragen.
Habe ich das Wort zur Beantwortung?
Ja, natürlich.
Vielen Dank. - Frau Rawert, ich habe eigentlich keine
Lust, mich bei jeder Diskussion auf solch einem Niveau
mit Ihnen auseinanderzusetzen. Sie wissen ganz genau,
wer hier in Berlin die Personalpolitik vorgibt: der Regierende Bürgermeister Wowereit, der die Verantwortung
dafür trägt, dass keine Prävention im Bereich der Familien stattfindet, die das bitter, bitter nötig hätten.
({0})
Gestatten Sie jetzt die Frage der Kollegin Bunge?
Ja.
Bitte.
Kollegin Vogelsang, nicht nur die Gesundheitsämter
in Berlin, sondern die Gesundheitsämter in der ganzen
Bundesrepublik stehen vor einer schwierigen Situation.
Das hat aber andere Ursachen. Wir reden heute über Gesundheitsförderung und Prävention, und in diesem Zusammenhang würde mich Folgendes interessieren: Kennen Sie das Projekt „Kiezdetektive“, das sowohl in
Kreuzberg als auch in Lichtenberg seit Jahren läuft?
Man hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Kinder
zwischen 6 und 14 Jahren erkunden ihr Umfeld, die Lebens- und Wohnbedingungen. Sie zeigen Probleme auf
und erarbeiten gemeinsam mit Politikerinnen und Politikern, mit den Trägern und anderen Zuständigen Projekte. Diese Projekte evaluieren sie im Anschluss und
veröffentlichen die Ergebnisse. Wir brauchen auf Bundesebene ein Präventionsgesetz, um die Kommunen und
Länder bei dieser Aufgabe zu unterstützen und zu entlasten.
Frau Kollegin, selbstverständlich kenne ich das Projekt. Ich teile Ihre Einschätzung, dass das ein erfolgreiches Projekt ist. Unter den Projekten, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, gibt es eine Vielzahl
von guten Projekten. Eine Vielzahl von Leuten arbeitet
in diesen Projekten gut und engagiert.
({0})
- Mir ging es nicht darum, Berlin schlechtzumachen. Ich wollte darauf hinweisen, dass ich der felsenfesten
Überzeugung bin, dass eine bessere Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung nicht durch ein Projekt hier
und ein Projekt da gewährleistet werden kann, sondern
es einer nachhaltigen Strategie bedarf.
({1})
Wir haben eine Zuständigkeit beim Bund,
({2})
wir haben eine Zuständigkeit bei den Ländern, wir haben
eine Zuständigkeit bei den Gemeinden, und wir haben
eine Zuständigkeit der Krankenkassen. Wir haben auch
eine Zuständigkeit für das Programm „Soziale Stadt“,
das Sie, Frau Kollegin Rawert, angesprochen haben,
wenn ich Ihre Zwischenfrage richtig verstanden habe.
({3})
Am Ende haben wir eigentlich niemanden, der dafür verantwortlich ist, wenn etwas nicht funktioniert.
({4})
Mir persönlich ist sehr wichtig, dass wir bei dem
Thema Prävention und Präventionsstrategie mit dem
ewigen Hickhack und dem Kampf aufhören. Das sollten
meine Anmerkungen am Anfang meiner Rede verdeutlichen. Niemand sollte auf den anderen zeigen. Uns alle
eint der Wille, eine Lösung zu finden und eine bessere
gesundheitliche Fürsorge hinzubekommen.
Wir alle wissen, dass an den vielen guten Projekten
nur die Leute teilnehmen, die dort eigentlich gar nicht
hingehören, weil sie das, was dort unterrichtet wird,
schon wissen. Wir wissen, dass wir im Bereich der Migranten ein riesiges Problem haben. Da geht es nicht nur
darum, einen Flyer zu übersetzen oder Kiezmütter in die
Häuser zu schicken, sondern wir brauchen neue, innovative Ansätze.
Ich bin der felsenfesten Überzeugung - das habe ich
schon vor einem Jahr gesagt -, dass wir uns in diesem
Haus dazu durchringen müssen, nationale Gesundheitsziele festzulegen.
({5})
Sechs, sieben oder acht Gesundheitsziele gibt es schon
lange; ich weiß. Fragen Sie aber einmal in den Kommunen, ob jemand diese Gesundheitsziele kennt.
({6})
Das ist nicht angekommen. Auch das hat nicht richtig
funktioniert. Im Bereich der Präventionsarbeit gibt es
ganz viele gute Absichten und viel Aktionismus.
Wir müssen das Thema gemeinsam anpacken. Wir
müssen in den Bereichen Krankenkassen, Verantwortlichkeiten und Gesundheitsvorsorge in Betrieben Strukturen verändern.
({7})
Es kommt aber nicht darauf an, ob man das einen Monat
früher oder später macht. Wir dürfen nicht in Aktionismus verfallen und auch keine Parteipolitik betreiben.
Am Ende kommt es darauf an, was dabei herauskommt.
Ich gehe felsenfest davon aus, dass wir das Thema in der
nächsten Zeit gemeinsam beraten und eine gute Lösung
hinbekommen werden. Ich unterbreite Ihnen jedenfalls
ein entsprechendes Angebot.
In der gestrigen Anhörung zur Organspende hat einer
von den Grünen gesagt - Frau Bender, ich weiß nicht
mehr, wer das war -, es müsse zum Lifestyle gehören,
Organspender zu sein. Erinnern Sie sich?
({8})
- Dann hat es ein anderer formuliert.
Ich finde, dass wir unserer Gesundheitsförderung auf
den unterschiedlichen Ebenen einen klaren Rahmen geben müssen, sodass alle Menschen in dieser Republik es
in fünf oder zehn Jahren toll finden, gesund zu leben,
und dass das nicht nur bei den Akademikern der Fall ist.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Bas für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
14. Juni 2011 hat Bundesgesundheitsminister Daniel
Bahr das Projekt „Starke Eltern - Starke Kinder“ vorgestellt. Dabei geht es um die Verbesserung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen; so
weit, so gut. Auch ich fand das sehr gut. Das Projekt des
Bundesgesundheitsministeriums, so heißt es, sei Teil einer ebenfalls vorgestellten Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit. Da habe ich
gedacht: Vielleicht handelt es sich dabei um die viel zitierte neue Präventionsstrategie der Bundesregierung.
Als ich mir das Papier dann angesehen habe, stellte ich
allerdings fest, dass es gar nicht aus der Feder von Herrn
Bahr oder Herrn Rösler stammt. Dieses Strategiepapier
ist im Jahr 2008 von der damaligen SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt entwickelt und vorgestellt worden.
So viel zum Thema neue Strategie.
({0})
Herr Bahr hat es immerhin geschafft, das Bild seiner
Vorvorgängerin und das Vorwort auszutauschen und es
als sein Papier zu verkaufen.
({1})
- Genau. - Wir freuen uns, dass die Regierungsarbeit
von Ulla Schmidt in dieser Form anerkannt wird.
({2})
Aber man muss deutlich sagen: Wer keine eigenen Ideen
hat, der plagiiert.
({3})
Ich habe übrigens noch eine weitere Plagiatsidee für
Sie.
({4})
In derselben Schublade, in der Sie das Strategiepapier
gefunden haben, finden Sie wahrscheinlich auch noch
den Entwurf des Präventionsgesetzes. Holen Sie diesen
einfach einmal hervor, kleben Sie das Bild des Ministers
darauf und schreiben Sie meinetwegen auch seinen Namen darauf, dann werden wir bei der Beschlussfassung
auf jeden Fall an Ihrer Seite sein.
({5})
Ich möchte noch zwei Aspekte unseres Antrags ansprechen, die uns besonders wichtig sind: die Kindergesundheit und die betriebliche Gesundheitsförderung. Natürlich haben wir uns die Frage gestellt: Wo können wir
bei Kindern und Jugendlichen mit der Prävention ansetzen? Wir haben in der Tat das Problem, dass eine hohe
Anzahl von Präventionsprogrammen zum Teil schlicht
ineffektiv ist. Die Projektitis führt zu Ermüdungserscheinungen bei den Zielgruppen. Die Konkurrenz zwischen
den verschiedenen Projekten ist meist nicht förderlich
für das gesundheitsbewusste Verhalten.
Gleichzeitig stellen wir fest, dass viele Programme
vorwiegend auf die Mittelschicht ausgerichtet sind und
die Umsetzung in anderen Lebenswelten fehlt. Kinder
und Jugendliche aus sozial schwächeren Schichten profitieren kaum von solchen Programmen. Dabei sind diese
Kinder und Jugendlichen eine besondere Zielgruppe;
dies sollte sie für uns alle sein. Die ungerechte Verteilung der Gesundheitschancen zulasten dieser Kinder aus
sozial schwachen Familien, aus bildungsfernen Elternhäusern oder auch aus Migrantenfamilien sollte endlich
ein Ende haben. Deshalb sollten wir die durchaus knappen Mittel für klare Ziele und mit eindeutigen Vorgaben
und Strategien effizient einsetzen.
({6})
Wir müssen die Menschen bei der Prävention und Gesundheitsförderung dort abholen, wo sie leben und arbeiten. Das gilt auch für die betriebliche Gesundheitsförderung. Das heißt nichts anderes, als dass die Programme
direkt am Arbeitsplatz ansetzen müssen. Das ist das Ziel
der betrieblichen Gesundheitsförderung. Auch hier gibt
es viele Vorschläge und Modelle. Aber die faktische Deckelung der Ausgaben durch den Ausgabenrichtwert
verhindert, dass wir hier die Potenziale gemeinsam heben.
Wie kann es sein, dass die Bundesregierung nach wie
vor tatenlos zuschaut, dass die Mittel der Kassen für Prävention und Gesundheitsförderung sinken? Die Vorschläge des Kollegen Singhammer - Stichwort: der
siebte Sinn - muss ich noch einmal erwähnen. Wenn wir
das machen würden, würde uns das wirklich zurückwerfen. Das ist ein Rückfall hinter 20 Jahre Public Health
und Präventionspolitik. Da machen Sie besser nichts und
schreiben weiter bei der SPD ab.
({7})
Wir können Ihnen nur noch einmal mit auf den Weg
geben: Prävention muss als gesamtgesellschaftliche, ressortübergreifende Aufgabe des Bundes, der Länder und
der Kommunen als vierte eigenständige Säule des Gesundheitswesens endlich etabliert und auch legitimiert
werden. Dazu brauchen wir verbindliche Strukturen. Das
heißt, wir brauchen ein Präventionsgesetz.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5384, 17/5529 und 17/6304 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt
- Drucksache 17/6277 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitsmarktpolitik - In Beschäftigung und
Perspektiven investieren statt Chancen kürzen
- Drucksache 17/6319 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Brauksiepe für die Bundesregierung.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt haben wir uns
gewöhnt. Sie bringen keine allzu großen Schlagzeilen
mehr. Erst gestern konnte die Bundesagentur für Arbeit
wieder aktuelle Erfolge verkünden.
Aber auch wenn es nicht die Schlagzeilen beherrscht,
darf man doch erwähnen: Wir können sowohl bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als auch bei
der Erwerbstätigkeit insgesamt Rekordstände verzeichParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
nen. Die Arbeitslosigkeit - immer noch zu hoch gemessen an unseren eigenen Ansprüchen - ist so niedrig wie
seit Jahrzehnten nicht mehr. Das sind Erfolgsmeldungen,
an die wir uns in den letzten Jahren zum Glück gewöhnen konnten.
({0})
Diese Erfolgsmeldungen sind das Ergebnis der Arbeit
vieler. Das Ergebnis hat auch, aber nicht nur mit Politik
zu tun. Es hat etwas mit gelebter Sozialpartnerschaft in
diesem Land zu tun. Es hat etwas mit den Tarifvertragsparteien zu tun, die beispielsweise Angebote der Politik
zur Kurzarbeit angenommen haben. Es hat auch etwas
damit zu tun, dass wir in den Arbeitsagenturen und Jobcentern engagierte und fleißige Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter haben, die sich darum bemüht haben, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Es hat etwas mit unserem arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium zu tun,
das wir in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert
haben. Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte. Aber wir haben das arbeitsmarktpolitische
Instrumentarium in den letzten Jahren durchaus verbessert, und darauf können wir auch ein bisschen stolz zurückblicken.
({1})
- Ich danke ausdrücklich für den Beifall der sozialdemokratischen Kolleginnen; denn wir stehen mit dem, was
wir hier tun, durchaus in der Tradition der Arbeit, die wir
in der Großen Koalition begonnen haben. - Das Instrumentarium wird seit langem kontinuierlich evaluiert,
und genau darum geht es: dass wir nicht nur um Berichte
über die Wirkung der Instrumente bitten und sie dann
abheften, sondern dass wir daraus Konsequenzen ziehen.
Das tun wir seit einigen Jahren.
Wir haben in der Großen Koalition die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente deutlich reduziert,
weil wir gemeinsam der Überzeugung waren, dass zu
viele Instrumente und ein zu großes Dickicht an Regelungen letztlich den Arbeitslosen nicht helfen. In der
christlich-liberalen Koalition haben wir uns vorgenommen, auf diesem Weg weiter voranzugehen. Wir wollen
die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente noch
einmal um etwa ein Viertel reduzieren. Das bedeutet
aber keine Reduzierung der Hilfe;
({2})
im Gegenteil: Wir reduzieren die Zahl der Instrumente,
um die Hilfe effektiver organisieren zu können. Das ist
das, was uns bei diesem Gesetzentwurf leitet.
({3})
Es geht auch um die Frage von Pflicht- und Ermessensleistung. An dieser Stelle hatten wir in der Großen
Koalition unterschiedliche Auffassungen. Wir sind damals, wie ich denke, zu insgesamt guten Kompromissen
gekommen.
({4})
Was den Gründungszuschuss betrifft - wir stehen zu ihm -,
werden in Zukunft mehr Ermessensleistungen vor Ort
möglich sein. Wenn wir mehr Ermessensleistungen einführen, heißt das auch, dass wir den Akteuren vor Ort
mehr Vertrauen entgegenbringen. Das ist genau das, worum es uns geht: Wir wollen den Menschen vor Ort, die
in den letzten Jahren erfolgreich Arbeitslose in Arbeit
gebracht haben, vertrauen.
({5})
Dieses Thema war auch in der Großen Koalition gelegentlich ein Diskussionspunkt. Viele Entscheidungen,
bei denen es um die Schaffung von mehr Flexibilität vor
Ort ging, mussten wir unserem damaligen Koalitionspartner mühsam abringen; auch das gehört zu der Erfahrung, die wir in der Großen Koalition gemacht haben.
An dieser Stelle danke ich herzlich der FDP, unserem
jetzigen Koalitionspartner, mit der es sehr viel leichter
war, darauf hinzuwirken, den Akteuren von Ort Vertrauen zu schenken
({6})
und zu sagen: Lasst uns die Dinge dezentral organisieren! Lasst uns die Menschen, die qualifiziert sind, vor
Ort zu entscheiden, auch die Entscheidung treffen, was
für den einzelnen Arbeitslosen richtig ist! Das ist der Gedanke, der uns bei diesem Gesetzentwurf leitet.
({7})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Wer möchte denn eine Zwischenfrage stellen?
Eine Kollegin aus der SPD-Fraktion.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich gerade auf die gemeinsamen Erfolge der Großen Koalition bezogen; diese
Erfolge unterstreichen wir ausdrücklich. Sie lenken aber
davon ab, dass Sie hier nicht in dieser Tradition lediglich
eine Instrumentenreform mit dem Ziel der Verbesserung
der Chancen bei der Vermittlung in Arbeit durchführen.
Vielmehr verbinden Sie die Reform ausdrücklich - unter
dieser Überschrift steht dieses Vorhaben zwar nicht bei
Ihnen, aber bei den Abgeordneten der Koalition im
Haushaltsausschuss - mit einem finanziellen Kahlschlag. Ich frage Sie: Wie groß sind eigentlich das Ermessen und die Autonomie vor Ort, wenn dort - statt
dass ein Rechtsanspruch besteht - zwar ein Ermessen
ausgeübt werden soll, die Kasse aber de facto leer ist?
Um dies zu verdeutlichen, will ich darauf hinweisen,
dass durch die Maßnahmen Ihres Sparpaketes bei
SGB II und SGB III bis 2014 in der Summe 16 Milliarden Euro eingespart bzw., besser gesagt, gekürzt werden.
({0})
Frau Kollegin, wir verquicken hier nichts miteinander, sondern wir legen heute als Bundesregierung den
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vor. Hier geht es um
konzeptionelle, instrumentelle Fragen. Es geht darum,
wie der Instrumentenkasten zusammengesetzt sein muss,
damit die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann.
({0})
Wir können sehr gerne und sehr engagiert im Detail darüber diskutieren, ob es, wovon wir ausgehen, einen Arbeitsmarkt mit einem auszudifferenzierenden Instrumentarium gibt oder ob es zwei Arbeitsmärkte gibt.
({1})
- Ich bin eigentlich noch bei der Beantwortung Ihrer
Frage. Haben Sie sich darauf verständigt - ich frage, weil
die Uhr weiterläuft und die Kollegin sich gesetzt hat -,
dass meine Beantwortung erledigt ist? Wenn ja, bitte ich
um Mitteilung.
({2})
Ich habe die Uhr bis zu dem Zeitpunkt angehalten, als
sich die Kollegin Hagedorn gesetzt und mir dadurch signalisiert hat, dass ihr die Beantwortung offensichtlich
ausreicht.
({0})
Das kann ich von hier aus nicht entscheiden. Sie beide
müssen sich einigen, ob die Frage beantwortet ist oder
nicht.
Ich schlage vor, dass wir so verfahren: Sie fragen, was
Sie fragen möchten, und ich antworte so, wie ich antworten möchte. Das ist das übliche Verfahren.
Inzwischen war die Uhr wieder angehalten. Jetzt läuft
Ihre Redezeit weiter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage an dieser
Stelle ganz ausdrücklich: Für uns gibt es einen Arbeitsmarkt. Es gibt nicht SGB-II-Arbeitslose und SGB-IIIArbeitslose. Es gibt unterschiedliche Rechtskreise. Die
Arbeitslosen haben unterschiedliche Probleme. Deswegen müssen wir mit unserem Instrumentarium auf unterschiedliche Bedarfslagen reagieren. Wir gehen davon
aus, dass es einen Arbeitsmarkt gibt. Im Rahmen der Instrumente, die sie einsetzen kann, bekennt sich die Bundesregierung - ich denke, auch die christlich-liberale
Koalition insgesamt - ausdrücklich zur öffentlich geförderten Beschäftigung. Für die Menschen, für die öffentlich geförderte Beschäftigung notwendig ist, wird sie
weiter organisiert und weiter finanziert. Für die Menschen, die öffentlich geförderte Beschäftigung brauchen,
sind wir da. Das ist heute so, und das wird in Zukunft so
bleiben.
({0})
Ich sage aber ganz klar: Wann, wenn nicht jetzt - in
einer Phase des Aufschwungs, in der in manchen Regionen und in einzelnen Branchen und Berufen schon ein
Fachkräftemangel zu verzeichnen ist -, sollten verstärkte
Anstrengungen unternommen werden,
({1})
möglichst viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu
integrieren?
({2})
Der zweite Arbeitsmarkt, der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor, darf niemals das Ziel unserer Arbeitsmarktpolitik sein. Er kann für viele eine Durchgangsstation sein. Aber das Ziel muss sein, möglichst
viele Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Gerade in Zeiten des Aufschwungs müssen wir unsere Schwerpunkte bei der Integration der Menschen in
den Arbeitsmarkt setzen.
({3})
Der erste Arbeitsmarkt bildet den Schwerpunkt unserer
Politik. Die öffentlich geförderte Beschäftigung wird da
organisiert und finanziert, wo sie gebraucht wird.
Auch das gehört zur Wahrheit: Der arbeitslose
Mensch steht im Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Er
muss im Mittelpunkt stehen - nicht Strukturen und Organisationen.
({4})
Weiterhin gehört auch das zur Wahrheit: Es kann
durchaus sein, dass wir bei weniger als 3 Millionen Arbeitslosen manche Strukturen und manche Institutionen
nicht mehr haben werden, die wir bei über 5 Millionen
Arbeitslosen hatten. Vielleicht braucht man in diesem
Land für weniger als 3 Millionen Arbeitslose nicht so
viele Sozialkaufhäuser wie für über 5 Millionen Arbeitslose. Ich bitte, einfach einmal - mit großem Respekt vor
all den Wohlfahrtsverbänden und den Trägern, die diese
segensreiche Arbeit leisten - unvoreingenommen darüber nachzudenken.
({5})
Ich habe viele dieser Einrichtungen besucht und weiß,
wie segensreich da gearbeitet wird. Es muss uns aber
klar sein, dass wir für weniger als 3 Millionen Arbeitslose nicht die gleichen Strukturen brauchen wie für über
5 Millionen Arbeitslose. Natürlich brauchen wir auch
nicht dieselbe Summe Geldes.
Ich will auf eines hinweisen: Jedem musste klar sein,
dass wir die Summen, die wir im Hauptkrisenjahr 2009
und auch im Jahr 2010 zusätzlich zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit aufgebracht haben, auf Dauer nicht aufbringen können und dass dieses Niveau nicht aufrechtzuerhalten sein würde. Das war auch uns in der Großen
Koalition klar, als wir die entsprechenden Maßnahmen
ergriffen haben.
({6})
Das musste jedem klar sein. Daher sind alle Vergleiche
mit den Ausgaben der Jahre 2009 und 2010 nicht fair;
denn das waren die Hauptkrisenjahre, in denen wir besondere Anstrengungen unternehmen mussten.
Deswegen sage ich zu der Zwischenfrage, die gerade
gestellt wurde: Wir werden im Jahr 2013 8 Milliarden
Euro für Eingliederungsmaßnahmen im SGB-II-Bereich
bzw. für Langzeitarbeitslose bereitstellen. 8 Milliarden
Euro - das ist nicht gar nichts, sondern eine große
Summe. Das ist ziemlich genau die Summe, die 2006 für
sehr viel mehr Arbeitslose zur Verfügung stand.
({7})
Für weniger Arbeitslose wird also das gleiche Geld zur
Verfügung stehen. Das heißt, dass wir pro Kopf mehr
Leistungen zur Verfügung stellen.
Der entscheidende Punkt ist, Menschen in Arbeit zu
bringen. So kann man auch Arbeitslosenunterstützung
sparen. Wir kürzen nicht, wir streichen nicht zusammen,
sondern wir wollen Menschen in Arbeit bringen. Das ist
nicht Theorie, sondern gelebte Praxis der letzten Jahre.
Wir haben das in den letzten Jahren erfolgreich geschafft. Diesen Weg werden wir entschlossen weitergehen.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Kramme
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Brauksiepe hat großartig ausgeführt,
dass die Entscheidungsspielräume vor Ort ausgedehnt
werden sollen.
({0})
Er hat gemutmaßt, dass wir dem mit großem Misstrauen
gegenüberstehen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht der
Fall, im Gegenteil. Es hört sich im Grunde genommen
gut an, wenn man über Entscheidungsspielräume vor Ort
spricht. Vor Ort kennt man die Menschen.
Man könnte sich an dieser Stelle fragen, ob erst das Ei
da war und dann die Henne oder ob erst die Henne da
war und dann das Ei. Für uns ist ganz klar: Es gab zuerst
das Sparpaket und dann die Reform. Zunächst gab es
den Beschluss darüber, der Bundesagentur für Arbeit
Geld im Gegenwert von einem halben Mehrwertsteuerpunkt zu streichen. Wenn man sich das anschaut, sieht
man, dass es sich um ungeheure Beträge handelt.
({1})
Allein aus dem Sparpaket resultieren Einsparungen von
19 Milliarden Euro bis zum Jahr 2015. Die Streichung in
Höhe eines halben Mehrwertsteuerpunktes bedeutet
noch einmal 4 Milliarden Euro jährlich weniger. Wenn
man sich das anschaut, dann stellt man fest, dass der Ermessensspielraum auf null schrumpft. Man kann von einem postsowjetischen „Njet“ sprechen. Das ist die eine
Geschichte.
Das Ausnutzen von Ermessensspielräumen setzt aber
auch voraus, dass es Menschen vor Ort gibt, die sich darum kümmern können. Man hätte also logischerweise im
Zuge dieser Reform bei den Betreuungsschlüsseln ansetzen müssen.
({2})
Man hätte die Betreuungsschlüssel in der Arbeitsverwaltung - das Verhältnis beträgt 1 : 150 - heruntersetzen
müssen. Das wäre deshalb eine kluge Entscheidung gewesen, weil die Evaluierung ergeben hat: Je mehr Menschen in den Agenturen als Fallmanager arbeiten, desto
schneller schafft man es, Menschen wieder in Arbeit zu
bringen.
({3})
Herr Brauksiepe, Sie haben uns immer wieder vorgehalten und auch jetzt noch einmal dargelegt, dass Sie auf
der Basis wissenschaftlicher Evaluierung arbeiten. Wissenschaftliche Evaluierungen sind gut. Im Übrigen sind
wir diejenigen, die dieses System aufgebaut haben. Allerdings wird mittlerweile manchmal überevaluiert. Den
Instrumenten wird somit überhaupt keine Chance gegeben, sich zu entwickeln. Sie haben diese Evaluierungen
aber nicht beachtet, sondern haben das genaue Gegenteil
von dem gemacht, was die Evaluierungen nahegelegt haben: Sie haben den Gründungszuschuss eingeschränkt.
Der Gründungszuschuss ist ein hocheffektives Instrument. Es ist daher nicht ansatzweise nachvollziehbar,
weshalb es an dieser Stelle nun mehr Restriktionen geben soll.
({4})
Andererseits soll der Vermittlungsgutschein, der den
privaten Arbeitsvermittlern zugutekommt, erhalten bleiben. Viel Logik steckt nicht hinter diesem System.
Herr Brauksiepe, Sie sagen, diese Arbeitsmarktinstrumentenreform sei zukunftsorientiert. Ich denke, es gibt
in der Arbeitsmarktpolitik vor allen Dingen zwei Probleme, die wir perspektivisch lösen müssen. Das eine
Problem, das uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten große Sorgen bereitet, ist die Langzeitarbeitslosigkeit. Uns liegt eine Analyse des IAB vor, die die
Situation der Arbeitslosen nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit evaluiert. Darin wird mitgeteilt, dass 45 Prozent aller erwerbsfähigen Menschen, die Leistungen aus dem
SGB II beziehen, Dauerbezieher sind und nicht aus der
Arbeitslosigkeit herauskommen. Wir wissen, dass diese
Menschen in vielen Fällen schlecht qualifiziert sind.
Was aber machen Sie? Das einzige Instrumentarium,
nämlich das der öffentlichen Beschäftigung, streichen
Sie noch einmal zusammen. Das betrifft zum Beispiel
die Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante. Den Beschäftigungszuschuss haben Sie objektiv betrachtet
schon letztes Jahr erledigt. Rechtlich haben Sie jetzt
nachgelegt. Wir brauchten an sich viel mehr Ehrlichkeit
in diesem Bereich. Wenn wir ehrlich miteinander umgingen, dann wüssten wir, dass es in dieser Republik Menschen gibt, die nur sehr schwer in den Arbeitsmarkt zu
integrieren sind. Deshalb brauchen wir diese Arbeitsgelegenheit, diesen Beschäftigungszuschuss als ersten
Schritt in den Arbeitsmarkt.
({5})
Eine unmittelbare Integration bekommen wir nämlich
fast nicht hin.
Wir brauchen weiterhin Integrationsfirmen. Was aber
machen Sie? Sie setzen die Hürden hoch und legen zu
hohe Kriterien an. Eigentlich müssten wir aber den entgegengesetzten Weg gehen. Wir müssten es so machen,
dass die Arbeitsgelegenheiten in einem ersten Schritt arbeitsmarktfern sind; damit kann man leben. Je mehr die
Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden und je
besser sie werden, desto arbeitsmarktnäher müsste das
Ganze sein. Missbrauch kann man dadurch verhindern,
dass man vor Ort Beiräte integriert und mit den Industrie- und Handelskammern, den Handwerkskammern,
den Sozialverbänden und den Gewerkschaften zusammenarbeitet. Das ist die Lösung. Das ist der Weg. Ihre
Arbeitsmarktinstrumentarienreform ist Mist und nichts
anderes. Den Fachkräftemangel gehen Sie gar nicht erst
an. Mit dieser Reform werden Sie nicht weit springen.
Sie werden allenfalls den Grashüpfer machen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, dass heute ein guter Tag ist, weil wir einen
guten Gesetzentwurf beraten.
({0})
Es handelt sich deshalb um einen guten Gesetzentwurf,
Frau Kollegin Mast, weil es sich dabei um die erste größere Reform im Bereich Arbeit und Soziales dieser
Koalition handelt, zu der wir nicht aufgrund der verfassungswidrigen Regelungen aus rot-grüner Zeit gezwungen sind.
({1})
Unsere bisherigen großen Reformen - Jobcenterreform,
Hartz-IV-Regelsatzreform - haben wir gut gemacht. Wir
mussten sie aber durchführen, weil Sie uns verfassungswidrige Gesetze hinterlassen haben. Diesen Gesetzentwurf können wir nun positiv angehen. Wir wollen die
Arbeitsvermittlung in unserem Land verbessern. Wir
wollen den Menschen vor Ort die Chance auf Entwicklung und Perspektiven geben. Dafür braucht man einen
besseren Werkzeugkasten der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente.
({2})
Warum ist das so? Wir wollen eine umfangreiche Autonomie der Jobcenter vor Ort und ihnen mehr Freiheit
geben. Wir wollen gut und immer besser ausgebildete
Vermittler in den Jobcentern und in den Arbeitsagenturen. Wenn diese gut funktionieren sollen, dann braucht
man neben dem guten Handwerker vor Ort aber auch einen aufgeräumten Werkzeugkasten. Das erreichen wir
alleine dadurch, dass wir Übersichtlichkeit schaffen und
die Zahl der Instrumente um ein Viertel reduzieren.
({3})
Es machte keinen Sinn, sechs unterschiedliche Eingliederungszuschüsse für dasselbe Ziel zu haben. Das haben
Sie uns hinterlassen. Deshalb ist es gut, dass wir jetzt
aufräumen.
({4})
Frau Kollegin Kramme hat eben behauptet, wir würden nichts gegen den Fachkräftemangel tun. Es ist gut,
dass wir hier sehr wohl etwas verändern und dabei auch
mehr Flexibilität schaffen.
({5})
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Weiterbildung von beschäftigten Arbeitnehmern kommt erstmalig unbefristet
Johannes Vogel ({6})
ins Gesetz, weil das in Zeiten des Fachkräftemangels
eine dauerhafte Aufgabe sein muss. Wir geben den Vermittlern mehr Flexibilität. Sie können beispielsweise
eine Kofinanzierung mit den Unternehmungen vor Ort
vereinbaren und sind daher nicht mehr an so starre Regelungen gebunden wie bisher. Das meinen wir mit mehr
Freiheit vor Ort und mehr Flexibilität. Dazu leistet der
vorliegende Gesetzentwurf einen sehr guten Beitrag.
Ich möchte auf ein zweites Thema eingehen.
({7})
- Nein, das muss ich nicht schönquatschen. Es ist ein guter Entwurf. Er schafft eine Verbesserung bei der Arbeitsvermittlung vor Ort. - Ich möchte auf einen Punkt
eingehen, der mir als Vertreter der FDP besonders wichtig ist. Ich bin froh, dass wir ihn in den konstruktiven
Gesprächen mit unserem Koalitionspartner jetzt schon
erreichen konnten.
({8})
Wir wollen die private Arbeitsvermittlung als Pflichtangebot erhalten, weil wir so im Bereich der Arbeitsvermittlung den Dreiklang erhalten wollen: Jeder muss sich
selbst darum bemühen, in Arbeit zu kommen, die Bundesagentur ist weiterhin zuständig, aber es gibt auch private Konkurrenz auf dem Markt. Diesen Dreiklang wollen wir erhalten - das ist eine gute Nachricht -,
({9})
weil wir so einen kreativen Input in der Arbeitsvermittlung haben werden. Ich bin froh, dass diese Regelung im
Gesetzentwurf enthalten ist.
({10})
Frau Kollegin Kramme, Sie haben eben die öffentlich
geförderte Beschäftigung angesprochen. Ja, die brauchen wir, und zwar für eine bestimmte Zielgruppe, die
nicht von heute auf morgen auf den ersten Arbeitsmarkt
kommen kann. Wir sind froh, dass im Bereich des Instrumentes Jobperspektive keine Zusätzlichkeit in den
Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Das halte ich für
richtig, weil es darum geht, auf dem Arbeitsmarkt dabei
zu sein und nicht irgendeine Beschäftigungstherapie zu
machen.
({11})
Es geht darum, auf dem Arbeitsmarkt mit einer gleichberechtigten Tätigkeit dabei zu sein, um in einem zweiten
Schritt irgendwann der Unabhängigkeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt näherzukommen. Es ist gut, dass das in
diesem Gesetzentwurf enthalten ist. Insofern sind Ihre
Klagen, wir würden dort, wo die öffentlich geförderte
Beschäftigung sinnvoll ist, die Beschäftigung kaputt machen, unberechtigt. Wir wollen sie lediglich stärker eingrenzen.
Dass es an dem Gesetzentwurf nichts zu kritisieren
gibt, zeigt sich daran, dass Sie die meiste Zeit eigentlich
nur darüber reden, es sei der Entwurf eines Kürzungsgesetzes. Herr Staatssekretär Brauksiepe hat eben darauf
hingewiesen: Man muss das trennen; es geht um die Optimierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
({12})
Gleichzeitig wird auch im Bereich Arbeit und Soziales
Geld eingespart. Das ist richtig. Ich will es mit dem vergleichen, was Sie damals hinterlassen haben. Schauen
wir uns das zum Abschluss an.
Im Bereich SGB II Langzeitarbeitslosigkeit haben Sie
2006 Mittel hinterlassen, die sich auf 1 500 Euro pro Arbeitslosen umrechnen lassen.
({13})
Wir sind heute bei 2 000 Euro. Wir müssen uns von Ihnen wirklich nicht unterstellen lassen, hier würde in irgendeiner Form gekürzt. Wir kürzen unterproportional
im Vergleich dazu, was im Haushalt da ist, und auch unterproportional im Vergleich dazu, wie sich die Arbeitslosigkeit entwickelt. Die Wahrheit ist: Pro Arbeitslosem,
der in Beschäftigung kommen soll, stellen wir noch
mehr Geld zur Verfügung, als es der Fall war, als Sie von
Rot-Grün Verantwortung getragen haben.
({14})
Frau Kollegin Kramme, dasselbe gilt auch für die Relation von Vermittlern und Arbeitslosen.
Kollege Vogel, das mit dem Abschluss war ein wichtiger Hinweis.
Mein letzter Punkt. In den Jobcentern stehen mehr
Mitarbeiter zur Verfügung. Als Sie 2005 aufgehört haben, hatte die BA 90 000 Mitarbeiter, und das bei 5 Millionen Arbeitslosen. Jetzt gibt es 115 000 Mitarbeiter,
und das bei unter 3 Millionen Arbeitslosen. Bei aller
Liebe: Ein Kürzungsgesetz ist das nicht. Bitte setzen Sie
sich mit uns in der Sache auseinander, und führen Sie
bitte keine Scheingefechte.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Vogel, ich muss Ihnen sagen: Sie können
die besten Instrumente auf dem Papier haben, aber wenn
kein Geld da ist, ist kein Geld da. Dann können Sie
nichts finanzieren. Das ist doch wohl logisch. Sie legen
ein Kürzungsprogramm auf und betreiben damit in der
Arbeitsmarktpolitik Kahlschlag.
({0})
- Doch, ich habe Ihnen gut zugehört. Ich höre Ihnen immer gut zu.
({1})
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundesregierung mit dem wunderschönen Titel „Entwurf eines
Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen
am Arbeitsmarkt“. Da fällt mir eigentlich nur noch das
Wahrheitsministerium aus dem Buch 1984 von George
Orwell ein.
({2})
Auch in diesem wurden falsche Behauptungen in die
Welt gesetzt, um über die wahren Absichten hinwegzutäuschen. Herr Vogel und Herr Brauksiepe, Sie können
die schönsten Bilder malen: Das kommt bei der Bevölkerung nicht an.
Frau von der Leyen zieht durch das Land und behauptet, die Regierung verbessere mit diesem Gesetzentwurf
die Chancen der Erwerbslosen. Tatsächlich organisieren
Sie einen arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag, den es in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so noch
nie gegeben hat.
({3})
Hier sagen wir als Linke: Das machen wir nicht mit.
({4})
Nun können Sie ja wieder sagen: Die Linke hat wieder einmal etwas zu kritisieren. - Das, was wir sagen, sagen aber auch die Sozialverbände, die Erwerbsloseninitiativen und auch die Gewerkschaften. Die Wahrheit ist:
Diese Regierung hat bereits vor einem Jahr beschlossen,
bis 2014 über 20 Milliarden Euro bei der Arbeitsmarktpolitik einzusparen. Der heute zu beratende Gesetzentwurf ist nichts anderes als die Auftragsarbeit zur Umsetzung dieser Kürzung, und zwar auf Kosten der
Erwerbslosen.
Frau von der Leyen sagt auch, der Staat solle sein
Geld nutzen, um Menschen wieder in reguläre Jobs zu
bringen. Dabei hätten Sie uns auf Ihrer Seite. Erklären
Sie mir dann aber bitte, warum Sie bei den Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sparen wollen.
Die Krönung ist eigentlich, dass Sie schon jetzt sparen.
Ich will Ihnen das auch erklären: Im Juni dieses Jahres
traten 25 000 Erwerbslose eine neue Maßnahme der beruflichen Weiterbildung an. Im letzten Jahr waren es
dreimal so viele. Diese Entwicklung hat nichts, aber
auch gar nichts mit den sinkenden Arbeitslosenzahlen zu
tun.
Die Zahl der Erwerbslosen im Hartz-IV-Bezug ist gegenüber dem Vorjahr gerade einmal um 4 Prozent gesunken. Die Zahl der neu begonnenen Weiterbildungsmaßnahmen ist dagegen um 38 Prozent gesunken. Wo, bitte
schön, ist hier die Logik Ihres Verfahrens?
({5})
Es gibt einen riesigen Bedarf bei der Weiterbildung,
aber die Regierung spart hier und will dies auch in den
nächsten Jahren tun. In der letzten Woche veranstaltete
die Bundesregierung mit einem ganz großen Brimborium einen Fachkräftegipfel. Heute beraten wir einen
Gesetzentwurf, in dem drastische Einschnitte bei der Arbeitsförderung vorgesehen sind. Das passt doch nicht zusammen.
Gestern meldete die Süddeutsche Zeitung, der Gesetzentwurf der Bundesregierung sehe vor, die Mittel für die
staatlich geförderte Beschäftigung, die Sie vorhin so gelobt haben, um 1 Milliarde Euro auf nur 185 Millionen
Euro zu kürzen.
({6})
Dabei soll diese Beschäftigungsförderung helfen, sinnvolle Projekte zu finanzieren und langzeiterwerbslose
Menschen
({7})
- hören Sie mir zu, vielleicht können Sie ein bisschen
lernen, Herr Vogel - wieder an den ersten Arbeitsmarkt
heranzuführen. Das ist auch dringend notwendig; denn
bisher ging der Aufschwung an den Langzeiterwerbslosen doch vorbei. Machen Sie sich doch nichts vor!
({8})
Die Beschäftigungsförderung für diese Gruppe soll
nun um 80 Prozent gekürzt werden. Herr Vogel, mit guter Arbeitsmarktpolitik im Interesse von erwerbslosen
Menschen - das muss ich Ihnen so deutlich sagen - hat
das überhaupt nichts zu tun. Vielmehr drängt sich bei
mir der Eindruck auf, die Bundesregierung sei daran interessiert, eine größere Sockelarbeitslosigkeit beizubehalten, und zwar als abschreckendes Beispiel für diejenigen, die in Lohn und Brot stehen, um sie daran zu
erinnern, dass ihnen Hartz IV droht, sollten sie zu selbstbewusst höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen
fordern.
({9})
Deshalb sage ich: Dieser arbeitsmarktpolitische Kahlschlag der Bundesregierung richtet sich auch gegen die
Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist
eine unmögliche Politik, für die Sie die Verantwortung
tragen. Das machen wir nicht mit.
({10})
Ich könnte noch viele Kritikpunkte aufzählen, aber
die Redezeit geht zu Ende. Auf einen möchte ich aber
noch kurz eingehen. Es geht um den sogenannten Vermittlungsgutschein für die privaten Arbeitsvermittler.
Die Arbeitsmarktforschung hat festgestellt: Über den
Vermittlungsgutschein wird kaum besser vermittelt, und
die Betroffenen landen häufiger in prekärer, nicht existenzsichernder Arbeit.
Ich fasse zusammen: Diese Regierung spart erstens
auf dem Rücken der Langzeiterwerbslosen, zweitens
will sie mehr Billigjobs fördern und drittens die Langzeiterwerbslosen abschreiben. Das macht die Linke nicht
mit.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Pothmer das Wort.
({0})
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht, ob Sie sich noch so richtig daran erinnern können,
aber lange galt Frau von der Leyen als Glücksfall für die
Politik.
({0})
Sie galt zumindest für mich - das gebe ich zu - als
Glücksfall für die Union. Aber inzwischen sind die
Texte, die man über Frau von der Leyen liest, ganz anderer Natur. Ich will Ihnen nur einmal zitieren, was im aktuellen Spiegel steht.
({1})
Dort heißt es:
Das Scheitern in der Arbeitslosenpolitik hat …
Ursula von der Leyen von der CDU zu verantworten.
({2})
- Auch ich habe mich gefragt: Hat der Spiegel recht?
Wenn ich mir aber anschaue, was Frau von der Leyen arbeitsmarktpolitisch erreicht hat, dann muss ich sagen:
Das ist nicht toll. Bei der Jobcenterreform musste ihr erst
einmal Roland Koch auf die Sprünge helfen.
({3})
Ihr Prestigeprojekt, das Bildungspaket, ist ein bürokratisches Monster und deswegen ein Flop.
({4})
Beim Thema Fachkräftemangel ist diese Bundesregierung blank, weil sie total zerstritten ist. Die mit großem Tusch angekündigte Instrumentenreform bedeutet
nichts anderes, als die Langzeitarbeitslosen abzuhängen.
({5})
Diese Ministerin musste niemand entzaubern. Sie hat
sich selbst entzaubert.
({6})
Ich sage Ihnen: Der Lack ist ab.
Mal ehrlich: Bei dieser Instrumentenreform geht es
doch nicht wirklich um die Instrumente, mit denen die
Arbeitslosen wieder in Beschäftigung gebracht werden
können. Es geht vor allen Dingen - das ist hier schon gesagt worden - ums Geld. Herr Vogel, wenn Pflichtleistungen zu Ermessensleistungen umgewandelt werden
und gleichzeitig das Geld gekürzt wird,
({7})
dann reduziert sich das Ermessen darauf, die Anträge
nur noch abzulehnen.
({8})
Wenn beim Gründungszuschuss, dem erfolgreichsten Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik, 5 Milliarden
Euro eingespart werden, dann hat das mit vernünftiger
Arbeitsmarktpolitik nichts zu tun.
Kommen wir einmal zum Thema Weiterbildung. Es
ist hier schon hervorgehoben worden, wie wichtig das
ist. Schon in diesem Jahr ist der Anteil der Weiterbildung um ein Drittel zurückgegangen. Das wird mit den
Kürzungen der Folgejahre noch viel schlimmer werden.
All das geschieht vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels.
({9})
In der aktiven Arbeitsmarktpolitik sollen 8 Milliarden
Euro eingespart werden. Das steht eben nicht im Verhältnis zum Rückgang der Arbeitslosigkeit. Vor allen Dingen steht es nicht im Verhältnis zum Rückgang der
Langzeitarbeitslosigkeit. Das wird für diese Gruppe fa13734
tale Folgen haben. Herr Vogel, die Integration dieser
Gruppe wird nicht etwa billiger. Sie wird teurer werden,
weil sie aufwendiger ist.
Sie konzentrieren sich in Ihrer Arbeitsmarktpolitik
ausschließlich auf diejenigen, die schnell in den ersten
Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Diejenigen, bei denen
nicht mit einem schnellen Erfolg zu rechnen ist, werden
von Ihnen „aussortiert und abgeschrieben“. Das ist jetzt
nicht meine Formulierung, sondern die des Stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz.
Vielleicht kommt ja diese Botschaft bei Ihnen an.
({10})
Mit dieser Politik treiben Sie die Spaltung des Arbeitsmarktes weiter voran. Herr Vogel, Herr Brauksiepe,
dies sollte eigentlich die Stunde der Arbeitsmarktpolitik
sein. Jetzt könnte Arbeitsmarktpolitik zeigen, was in ihr
steckt, was sie kann, denn jetzt sind die Jobs da, in die
hineinqualifiziert und vermittelt werden kann. Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie den Schwung dieser Konjunktur, um auch die Langzeitarbeitslosen in Arbeit zu bringen!
Sie laufen auf das zu, was Sie selber einmal als Horrorszenario bezeichnet haben, nämlich eine hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel.
Aber Sie versauen damit nicht nur die Chancen der Arbeitslosen. Nein, das, was Sie machen, ist auch für die
Volkswirtschaft schlecht. Der Fachkräftemangel droht
wirklich zu dem größten Risiko des wirtschaftlichen
Aufschwungs zu werden.
Für die Bundesregierung sind Integration und Teilhabe offensichtlich kein politisches Ziel mehr. Für uns
wird es aber das politische Ziel bleiben. Frau von der
Leyen spekuliert offensichtlich auf die Weiterentwicklung der Konjunktur. Sie sonnt sich in den sinkenden Arbeitslosenzahlen, und sie rechnet damit, dass niemand
mehr diejenigen, die hinten runterfallen, im Blick hat.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, und das
werden Ihnen auch andere nicht durchgehen lassen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Pothmer, was Sie hier
immer wieder an ansatzlosem Entrüstungspotenzial entfesseln, ist ganz großes Kino. Aber es geht zum Teil an
der Wirklichkeit vorbei.
Die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
ist nicht dafür gedacht, den Selbsterhaltungsstress der
Träger zu mildern,
({0})
sondern die Menschen in Arbeit zu bringen. Nehmen Sie
das so hin!
({1})
Wir sind schon 2008 eine Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente angegangen. Ich habe mich noch
einmal etwas genauer mit den damaligen Debatten und
auch mit Ihrer Rede, Frau Pothmer, befasst, in der Sie
schon damals beinahe das Ende der Zivilisation beschworen haben. Demgegenüber hat der damalige Arbeitsminister Scholz gesagt, wir müssten die Reform der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente an der Möglichkeit
der Vollbeschäftigung messen lassen. Damit hat er recht.
({2})
Wir müssen auch anerkennen, dass die heutige Arbeitsmarktsituation mit dem boomenden Arbeitsmarkt,
in der wir jetzt die Neubestimmung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vornehmen, sich von der Situation
2008 unterscheidet und dass die gute Lage am Arbeitsmarkt vielleicht auch ein bisschen damit zu tun hat, dass
man 2008 die Instrumente gut geschärft hat.
({3})
Aber wie der Staatssekretär schon gesagt hat: Man kann
noch einiges verbessern. Das wollen wir tun.
({4})
Zielrichtung der Reform der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente ist die Integration in den Arbeitsmarkt. Das
suggeriert schon der Titel „Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“. Man kann sich sehr
wohl darüber streiten, ob für das SGB II ein eigenes Instrumentarium notwendig ist. Aber ich denke, mit Blick
auf den boomenden Arbeitsmarkt ist es die richtige Entscheidung, auf den Arbeitsmarkt hin zu integrieren.
Wir dürfen dabei all diejenigen nicht vergessen, die
erkennbar keine Chance haben, auf den Arbeitsmarkt zu
kommen. Deswegen bin ich Staatssekretär Brauksiepe
sehr dankbar, dass er sehr deutlich hervorgehoben hat,
dass wir die öffentlich geförderte Beschäftigung weiterführen wollen.
({5})
Wenn die Integration in den ersten Arbeitsmarkt die
Zielrichtung dieses Reformvorhabens ist, dann war es
auch richtig, dass im Gegensatz zum Referentenentwurf
der § 16 e SGB II, in dem der Beschäftigungszuschuss
geregelt ist, in der Kabinettsvorlage geändert wurde. Die
Kriterien der Zusätzlichkeit, der Wettbewerbsneutralität
und des öffentlichen Interesses sind weggefallen. Man
kann bei einem Beschäftigungszuschuss von bis zu
75 Prozent von einem Arbeitgeber nicht verlangen, dass
er die übrigen 25 Prozent arbeitsmarktfern aufbringt. Ich
glaube, das ist nicht möglich, und es entspricht auch
nicht der Philosophie dieses Gesetzes.
Ich wünschte mir dann allerdings auch eine andere
Regelung bei den AGH. Das haben Sie schon angesprochen, Frau Kramme. Hier sind Zusätzlichkeit, öffentliches Interesse und Wettbewerbsneutralität benannt. Die
Wettbewerbsneutralität war bisher nur in den Ausführungsbestimmungen enthalten. Wenn die Brücke in den
Arbeitsmarkt tragen soll, dann müssen die Arbeitsgelegenheiten arbeitsmarktnah ausgestaltet werden. Ich
würde mir wünschen, dass man dort ebenfalls im Sinne
der Philosophie des Gesetzes zu mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort kommt.
({6})
Vieles wird beibehalten, beispielsweise der Rechtsanspruch auf die Vorbereitung auf den Hauptschulabschluss. Das war einer der zentralen Punkte der Reform
von 2008. Mich ärgert, offen gestanden, ein bisschen,
dass wir die Länder zu wenig in die Pflicht nehmen. All
diejenigen, die keinen Hauptschulabschluss haben, werden der Bundesagentur für Arbeit gewissermaßen vor
die Füße gekehrt. Ich wünsche mir, dass wir einmal sehr
ernsthaft über die Einführung eines Aussteuerungsbeitrags der Länder für jeden, der den Hauptschulabschluss
nicht geschafft hat, an die Bundesagentur für Arbeit diskutieren. Mit einem solchen Beitrag würden wir die Länder nachhaltig in die Verantwortung für die Bildungserfolge junger Menschen nehmen.
Vieles gerade im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit
kann durch zielgenaue Beratung gelöst werden. Dazu
bedarf es gut ausgebildeter Berater und Mitarbeiter. Deswegen ist auch die Qualifizierung der Mitarbeiter in den
Agenturen wichtig.
({7})
Nachdem die Strukturreform des SGB II auf den Weg
gebracht wurde - das wurde schon mehrfach angesprochen -, besteht nach meiner Meinung eine gute Perspektive, dass Beratung und Vermittlung professioneller erfolgen.
Der Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage, um die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zielgenauer, effektiver, transparenter und stärker dezentral organisiert zu
gestalten. Das wichtigste Ziel ist, Menschen in Beschäftigung zu bringen, nicht, eine Bestandsgarantie für Maßnahmenträger abzugeben. An dem Ziel, Menschen in
Beschäftigung zu bringen, wird man uns messen. Ich bin
zuversichtlich, dass wir diesem Maß gewachsen sind.
Danke schön.
({8})
Die Kollegin Mast hat nun für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Zimmer, Sie glauben doch nicht
ernsthaft, durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt die Chancen von
Langzeitarbeitslosen, die ganz am Rand stehen, zu verbessern. Das kann nicht Ihr Ernst sein.
({0})
Ich werde Ihnen das gleich belegen.
Dieser Gesetzentwurf ist alles andere als der Entwurf
eines Chancengesetzes. Er ist letztendlich nichts anderes
als ein Sumpf, in dem die Chancen der Menschen, die
Arbeit suchen, versinken. Damit werden keine neuen
Chancen eröffnet.
({1})
- Herr Vogel, vielleicht hören Sie mir bis zum Ende zu.
Dann können Sie mir diese Frage noch einmal stellen.
({2})
- Der kommt. Ich möchte meine Redezeit nicht dazu
nutzen, diesen Dialog fortzusetzen, vielmehr will ich auf
die Inhalte eingehen.
Der Gesetzentwurf ist ein Sumpf. Die Kolleginnen
und Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben
deutlich gemacht, dass man, wenn man Menschen, die
Arbeit suchen, Chancen eröffnen will, Geld und gutes
Personal braucht. Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, haben aber beschlossen, bis 2015 19 Milliarden Euro - 11,5 Milliarden Euro bei Menschen im Bezug des Arbeitslosengeldes I und 7,5 Milliarden Euro bei
Menschen im Bezug des Arbeitslosengeldes II - einzusparen. Ich frage mich, woher die Chancen kommen sollen, wenn kein Geld mehr da ist.
({3})
Der Staatssekretär hat von Vertrauen und Handlungsspielräumen vor Ort gesprochen. Sie schaffen aber nur in
einem einzigen Punkt Vertrauen: Die Vermittlerinnen
und Vermittler müssen Nein zur Förderung von Weiterbildungen und Berufsausbildungen sagen. Sie müssen
Nein zu öffentlich geförderter Beschäftigung sagen.
Ohne Moos nix los! Das ist Ihr Sumpf.
({4})
In welcher gesellschaftlichen Situation diskutieren
wir über diesen Gesetzentwurf? Wir stehen vor riesigen
Aufgaben. Erstens geht es um Deckung des Fachkräftebedarfs. Die Kollegin Pothmer hat natürlich recht, wenn
sie darauf hinweist, dass das die Kernaufgabe bei der Sicherung unserer wirtschaftlichen Zukunft ist.
Zweitens wollen wir, dass heute langzeitarbeitslose
Menschen zu Fachkräften qualifiziert werden, damit sie
den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt und vor allen
Dingen in gute Arbeit dauerhaft schaffen.
({5})
Drittens. Wir wollen - ich komme gleich wieder zu
meinem Kollegen Zimmer, der sich jetzt unterhält -,
dass Menschen, die trotz unserer Vermittlungsanstrengungen keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, durch öffentlich geförderte Beschäftigung am Arbeitsmarkt teilhaben können. Die Förderungsdauer sollte
nicht maximal zwei Jahre dauern. Durch Ihren heute eingebrachten Gesetzentwurf werden die Jobperspektiven
der Langzeitarbeitslosen beschnitten; denn wegen der
Neuregelung des Beschäftigungszuschusses nehmen Sie
ihnen die Möglichkeit, einen dauerhaften Arbeitsvertrag
zu haben.
({6})
Ihre Absicht, die Förderungsdauer auf zwei Jahre zu begrenzen, ist nichts Würdevolles.
An diesem Punkt waren die Kollegen von der Union,
als sie noch mit uns in der Großen Koalition waren,
schon einmal weiter. Ich sage ausdrücklich: Ich bedauere, dass Sie sich da, von wem auch immer, über den
Tisch haben ziehen lassen, dass Sie das wertvolle Instrument zum Umgang mit langzeitarbeitslosen Menschen
aufgeben. Diese Menschen stehen ganz am Rande in unserer Gesellschaft. Viele hatten seit sechs Jahren und
mehr keine Arbeit mehr. Bei ihnen gibt es vielfache Vermittlungshemmnisse. Sie haben gesundheitliche Probleme, darunter vielleicht psychische. Diesen Menschen
sagen Sie: Wir geben euch keinen ordentlichen Arbeitsvertrag. - Das ist der eigentliche Skandal bei der öffentlich geförderten Beschäftigung.
Sie wissen, dass es einen Flächenbrand vonseiten der
Träger gibt. Ich halte hier kein Plädoyer für die Träger;
mir geht es um die langzeitarbeitslosen Menschen. Ich
mache jedes Jahr ein Praktikum mit Langzeitarbeitslosen. Wissen Sie, was sie immer zu mir sagen? - Wir wollen Arbeit. Wir wollen einen Arbeitsvertrag. Wir wollen
morgens aufstehen und eine Aufgabe in dieser Gesellschaft haben, und wir wollen dafür fair entlohnt werden.
Wenn die Förderung innerhalb von fünf Jahren länger
als zwei Jahre dauern muss, dann verstehe ich nicht, warum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
sich auf solch einen Deal einlassen; denn das entwürdigt
die Arbeit dieser Menschen. Sie wollen einen Arbeitsvertrag wie alle anderen auch.
({7})
Ich bleibe dabei - Herr Vogel, hoffentlich haben Sie
den Beleg zur Kenntnis genommen -,
({8})
dass es sich um einen Sumpf handelt, durch den Chancen genommen werden. Genommen werden nicht nur
die Chancen der Langzeitarbeitslosen, sondern auch die
Chancen derjenigen, die im Arbeitslosengeld-I-Bezug
eine Qualifikation nachholen wollen. Wenn die Bundesagentur für Arbeit kein Geld mehr für Qualifikation hat,
dann wird sie die Qualifikation dieser Menschen auch
nicht finanzieren; so einfach ist die Realität vor Ort. Reden Sie mit Arbeitssuchenden, dann erfahren Sie das.
Außerdem nehmen Sie denjenigen Langzeitarbeitslosen, die wir vielleicht zu guten Fachkräften qualifizieren
können, Chancen.
Wenn Sie nicht wollen, dass der Titel Ihres Gesetzentwurfs irgendwann lautet „Entwurf eines Sumpfes zur
Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“, dann verändern Sie diesen Gesetzentwurf. Sorgen Sie für mehr Qualifizierung. Bereiten Sie sich in der
Arbeitsmarktpolitik auf den Fachkräftebedarf der Zukunft vor. Kämpfen Sie im Haushalt für aktive Arbeitsmarktpolitik. Nur so gewährleisten wir „Fördern und
Fordern“ der Menschen, die Arbeit in diesem Land suchen.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Kober das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn einem nichts einfällt, dann könnte man auch einmal schweigen. Wenn einem dennoch Redezeit im Deutschen Bundestag gewährt wird und man vor der Aufgabe
steht, einen Gesetzentwurf der Regierung zu bewerten,
dann könnte man auch einmal loben, wenn etwas gelungen ist.
({0})
Das ist hier der Fall.
Worum es Ihnen eigentlich geht, merkt man daran,
dass Sie sich genötigt fühlen, Ihre Redezeit mit Behauptungen zu füllen, die, wenn man sie auf ihren Wahrheitsgehalt prüft, in sich zusammenfallen und sich sogar
gegen Sie selbst richten. Ihre Theorie, dass der Eingliederungstitel desto wirksamer ist, je höher er in der
Summe ist,
({1})
könnte richtig sein. Wir glauben aber nicht daran; denn
ein Eingliederungstitel „arbeitsmarktpolitische Maßnahmen“ allein reicht nicht. Was es braucht, sind Arbeitsplätze, und die entstehen durch eine gute Wirtschafts-,
Finanz- und Steuerpolitik,
({2})
wie wir sie als christlich-liberale Koalition so erfolgreich
betreiben, wie es Ihnen noch nie gelungen ist.
({3})
Frau Hagedorn, Sie haben in diese Debatte mit Ihrer
Zwischenfrage den Begriff „Kahlschlag“ eingeführt.
Diesen Begriff hat die Kollegin von der Partei Die Linke
dann aufgegriffen. Wenn es Kahlschlag sein soll, dass
wir die Eingliederungstitel zurückführen, weil weniger
Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind,
({4})
dann muss man zumindest einmal sagen dürfen, was Sie
in Ihrer Regierungszeit für diese Personengruppe bereitgestellt haben, Frau Hagedorn.
Im Jahr 2005, am Ende Ihrer Regierungszeit - da waren Sie schon Mitglied des Deutschen Bundestages -,
wies der Eingliederungstitel in Summe einen Wert von
6,55 Milliarden Euro auf - bei 4,8 Millionen Arbeitslosen. Wenn man das zu den Daten ins Verhältnis setzt, denen wir jetzt glücklicherweise entgegensehen, nämlich
einer durchschnittlichen Zahl von Arbeitslosen von
2,7 Millionen im Jahr 2011 und einem Eingliederungstitel von 5,3 Milliarden Euro im Jahr 2012, dann ist eindeutig klar und für jeden ersichtlich, dass wir für diesen
Bereich mehr Geld pro Person aufwenden, als Sie je aufzuwenden bereit waren.
({5})
Deshalb verfängt Ihr Argument vom Kahlschlag nicht.
({6})
Weil wir über diesen Gesetzentwurf nicht nur im Plenum des Bundestags diskutieren werden, sondern auch
im Fachausschuss und, wie ich höre, zu Recht auch in
anderen Ausschüssen, im Haushaltsausschuss beispielsweise,
({7})
möchte ich Sie von vornherein darum bitten, dass Sie
sich an der Sachdiskussion beteiligen und nicht verfangen bleiben in der falschen Behauptung, wir würden den
Eingliederungstitel über die Maßen zurückfahren und
damit den Menschen schaden.
({8})
Es geht darum, jetzt insbesondere das Problem der
Langzeitarbeitslosigkeit anzugehen. Dazu müssen wir
den Instrumentenkasten - so bezeichnen wir das - zielgerichteter machen. Dazu müssen wir erreichen, dass
mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort bei den Jobvermittlern besteht, dass individueller auf die Bedürfnisse der
Menschen eingegangen werden kann. Das alles ist schon
jetzt Gegenstand dieses Entwurfs. An diesem Entwurf
arbeiten wir weiter; denn er ist gut.
Liebe Frau Pothmer, Ursula von der Leyen als Ministerin mit Unterstützung der FDP- und der Unionskollegen ist in der Tat eine gute Ministerin für die Arbeitslosen; denn wir bekämpfen Arbeitslosigkeit so erfolgreich,
wie es Ihnen zu Ihrer Regierungszeit nie gelungen ist.
Vielen Dank.
({9})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Lange das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute in erster Lesung über einen Entwurf, der, glaube ich, schon sehr gelungen ist, der den
Menschen in den Mittelpunkt stellt, nämlich den Menschen, der Arbeit sucht, der arbeiten möchte, wie die
Kollegin Mast es vorhin so schön beschrieben hat, und
der auch die Chance haben soll, zu arbeiten. Wir sprechen nicht, liebe Kollegin Mast - da möchte ich ausdrücklich widersprechen -, über Kürzungen von Sozialleistungen. Sie haben vorhin gerechnet und sind auf
19 Milliarden Euro gekommen. Ich habe versucht, nachzuvollziehen, wie man aus einem Topf von 10,5 Milliarden Euro 19 Milliarden Euro herausnehmen kann. Das
ist mir als Jurist, der allerdings bekanntlich nicht gut
rechnen kann - ich bin auch kein Haushälter -, nicht gelungen.
({0})
Es reicht also nicht, pauschal Kritik zu üben oder zu
sagen: Es fehlt an Geld. - Vielmehr sollten wir uns nach
einem Blick zurück überlegen, wie wir in dieser guten
Konjunktur mit der Situation umgehen. Da kann ich Ihnen den kleinen Hinweis nicht ersparen, dass wir nach
dem Negativrekord 2005 mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit
- das waren 5 Millionen Arbeitslose - heute, nach der
Krise, glücklich bei einer Zahl von unter 3 Millionen Arbeitslosen stehen.
({1})
Auch die Kritik, dass es um Einsparungen geht, ist
offensichtlich unrichtig. Es gab 2007 600 000 Hilfebedürftige mehr. Wenn man das auf die Zahl der jetzt
Bedürftigen umrechnet, stellt man fest: Wir haben heute
für weniger Langzeitarbeitslose mehr Geld zur Verfügung als damals. Wenn man mit Zahlen arbeitet, sollte
man, so meine Bitte, schon korrekt mit den Zahlen umgehen.
({2})
Wir garantieren mit diesem Gesetzentwurf soziale Sicherheit. Gewisse Punkte greifen wir deswegen auch
ganz bewusst nicht an. Indem wir besondere Schwerpunkte setzen, geben wir aber die Chance für mehr Beratung vor Ort, für mehr Dezentralität, für mehr Effizienz,
für eine höhere Förderung junger Menschen, Alleinerziehender und Älterer.
Liebe Frau Pothmer, Sie haben vorhin die Fachkräfte
angesprochen. Wir haben hier schon einmal eine Debatte
geführt über Fachkräfte und ältere Menschen, die wir
wieder in den Arbeitsmarkt bringen wollen.
({3})
- Sie haben vorhin die Fachkräfte angesprochen. Ich
glaube, dass wir gerade in diesem Punkt sehr genau wissen, dass eine große Aufgabe und Herausforderung vor
uns liegt. Wir nehmen sie an, weil wir genau dieses
Potenzial zur Fachkräftesicherung heben wollen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann, wenn nicht
jetzt?
({5})
Zum einen zum Zeitpunkt einer Haushaltskonsolidierung, zum anderen und vor allem zum Zeitpunkt einer
überaus erfreulichen Konjunktur und deutlich sinkender
Arbeitslosigkeit wollen wir eine solche Reform durchführen. In einigen Regionen haben wir heute schon Vollbeschäftigung. Bei der Arbeitslosenzahl liegen wir unter
der 3-Millionen-Grenze. Es gibt 250 000 Arbeitslose
weniger als vor der Krise.
Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Ich
glaube auch, dass wir in der jetzigen Situation die richtigen Maßnahmen ergreifen, dass wir in Zeiten guter Konjunktur Steuergelder gezielt einsetzen und uns genau
überlegen, wo wir wie an die Menschen herankommen.
Denn Langzeitarbeitslosigkeit ist kein fester Block. Es
gibt Bewegung; das haben die letzten Monate gezeigt.
Nehmen wir den Schwung, nehmen wir die Bewegung mit durch die Konjunktur und durch ein gutes Gesetz! Ziehen wir bei diesem Thema an einem Strang!
Dann werden wir nach den Beratungen zu einem guten
Erfolg kommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6277 und 17/6319 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zusatzpunkt 16 auf:
38 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Staat Palästina anerkennen
- Drucksache 17/6150 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
- Drucksache 17/6298 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der
Debatte nicht mehr teilhaben können, uns die Eröffnung
der Aussprache und die notwendige Aufmerksamkeit zu
ermöglichen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
UNO beschloss 1948 die Gründung des Staates Israel für
die Jüdinnen und Juden nach dem durch Deutsche auf
Weisung von Hitler und seiner Regierung begangenen
einzigartigen Verbrechen - dem Versuch, die Jüdinnen
und Juden in Europa auszurotten.
6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet.
Nur durch in von unserem Land begangenen Verbrechen
kam es überhaupt zu einem solchen UN-Beschluss. Deshalb müssen wir Deutsche dafür eintreten, dass die Jüdinnen und Juden das Recht auf einen Staat haben, in
dem sie die Mehrheit stellen, aber ebenso selbstverständlich Nichtjüdinnen und Nichtjuden gleichberechtigt zu
behandeln haben.
({0})
Die UNO hat 1948 aber auch beschlossen, den Staat
Palästina zu gründen. Die arabischen Länder lehnten
dies damals ab und begannen stattdessen einen Krieg gegen Israel. Die Waffenlieferungen an Israel kamen übrigens nicht aus den USA, nicht aus Großbritannien oder
Frankreich, sondern mithilfe der Sowjetunion aus der
Tschechoslowakei. Letztlich gewann Israel und erweiterte sein Territorium.
Wie immer man zu dem Territoriumsgewinn steht: Es
entstanden die Grenzen, die bis 1967 einigermaßen hielten. Es ist bekannt, welche Kriege anschließend stattfanden. Die Palästinenserinnen und Palästinenser wollten
und wollen inzwischen endlich einen eigenen Staat.
In Übereinstimmung mit sämtlichen UNO-Beschlüssen soll der Staat Palästina in den Grenzen von 1967
proklamiert und anerkannt werden. Ein Austausch von
Territorien kann nur zwischen Israel und Palästina vereinbart werden. Die Palästinenserinnen und Palästinenser, die im Unterschied zu den Deutschen die Verbrechen
an den Jüdinnen und Juden nicht begangen haben, haben
einen Anspruch auf einen eigenen lebensfähigen Staat,
in dem sie souveräne Rechte ausüben.
({1})
Die Friedlichkeit zwischen beiden Staaten muss international garantiert und gewährleistet werden.
Die israelische Regierung sperrt sich zurzeit dagegen.
Viele Staaten unterstützen aber die Palästinenserinnen
und Palästinenser. Der französische Präsident Sarkozy
ist bereit, diesen Staat zu unterstützen und anzuerkennen. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister
warnen vor einseitigen Schritten. Ich frage Sie: Was soll
daran einseitig sein? Einseitig wäre es, wenn beide Staaten noch nicht gegründet wären und plötzlich eine Seite
damit begönne. Aber den Staat Israel gibt es seit 1948.
Es ist mehr als höchste Zeit, dass auch der Staat Palästina entsteht. Wenn Sie erklären, dass Sie warten wollen,
bis die israelische Regierung dies genehmigt, können Sie
auch sagen, dass es den Staat Palästina niemals geben
wird, wenn die israelische Regierung es eben nie genehmigen sollte.
Die Lage im Nahen Osten und in Nordafrika ist völlig
verändert. Wir wissen noch nicht, welche Strukturen in
Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain
entstehen. Gerade in einer solchen Situation wäre das
friedliche Nebeneinander der Staaten Israel und Palästina für den Friedens- und Demokratieprozess im Nahen
Osten und in Nordafrika ungeheuer wichtig.
({2})
Unsere Regierung trägt seit heute als Vorsitzende des
Sicherheitsrates der UNO eine hohe Verantwortung. Wir
müssen das Zwei-Staaten-Modell aktiv unterstützen, im
Interesse der Palästinenserinnen und Palästinenser, im
Interesse der Israelis, im Interesse aller Menschen im
Nahen Osten und der Weltgemeinschaft.
Es ist zu befürchten, dass ein Antrag auf Ausrufung
und Anerkennung des Staates Palästina und seine Mitgliedschaft in der UNO im Sicherheitsrat am Veto der
USA scheitern werden. Ich hoffe, die Bundesregierung
stimmt für die Gründung des Staates. Der Beschluss des
Sicherheitsrates kann aber durch eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der UNO aufgehoben werden: Mindestens 128 der 192 Mitgliedstaaten müssten dafür stimmen; das ist durchaus möglich. Auch hier sollte
Deutschland für die Gründung des Staates stimmen. Es
änderte sich noch nichts in der Region, aber der Druck
nähme zu, diesen Willen der Weltgemeinschaft zu realisieren. Die Bundesregierung darf dabei nicht zurückhaltend sein; sie muss aktiv werden. Halten Sie Ihre wichtigen Beziehungen zu Israel aufrecht, aber erkennen Sie
den Staat Palästina unbedingt an!
({3})
Wir sollten auch Palästina helfen, soweit wir können.
Auch das entspräche unserer besonderen historischen
Verantwortung.
({4})
Der Kollege Silberhorn hat das Wort für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der arabischen Welt vollzieht sich ein Umbruch fundamentalen Ausmaßes. Gleichzeitig stellen wir
fest, dass sich im Nahostkonflikt - das ist ja in unmittelbarer Nachbarschaft dazu - seit eineinhalb Jahren nichts
bewegt. Wir beobachten einerseits eine politische Dynamik in der arabischen Welt, die lange Zeit immun gegen
jeden Wandel erschien; andererseits stellt sich die Lage
im Nahostkonflikt ernüchternd dar. Das ist umso bedauerlicher, als die fundamentalen Veränderungen in der
arabischen Welt Fortschritte im Friedensprozess noch
dringlicher machen.
Frieden wird es aber nur mit einer Verhandlungslösung geben. Zu Recht appelliert der Europäische Rat in
seinen Schlussfolgerungen vom letzten Freitag an alle
Parteien, unverzüglich Verhandlungen aufzunehmen.
Dabei ist entscheidend, dass die beteiligten Parteien in
direkte Verhandlungen miteinander treten müssen; nur
dann wird es Fortschritte im Friedensprozess geben.
Deshalb sind wir skeptisch; die einseitige Ausrufung eines palästinensischen Staates dient diesem Ziel nicht.
({0})
Ein solcher Schritt hätte wohl vor allem symbolische Bedeutung; aber ob er uns dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung wirklich näher bringen würde, darf man mit Fug
und Recht bezweifeln. Auch die SPD-Fraktion spricht in
ihrem Antrag von einer symbolischen Anerkennung. Ich
glaube, man darf nicht verkennen, dass die Gefahr besteht, dass ein solches palästinensisches Vorgehen nicht
nur folgenlos bliebe, was Fortschritte im Friedensprozess anbelangt, sondern möglicherweise sogar zu einer
Verhärtung der jeweiligen Positionen führen könnte. Die
Perspektiven für eine Fortführung des Friedensprozesses
würden dadurch nicht besser. Es müsste in jedem Fall
weiterverhandelt werden, weil durch die einseitige Ausrufung eines palästinensischen Staates keine einzige offene Frage geklärt würde.
({1})
Wir müssen auch die Folgen für Israel bedenken. Alles andere als ein klares Nein zu einer einseitigen Staatsausrufung wäre ein eklatanter Bruch in der deutschen
Außenpolitik.
({2})
An einer so grundlegenden Frage zeigt sich, ob wir es
ernst meinen damit, dass die Sicherheit Israels Teil der
deutschen Staatsräson ist.
({3})
Deswegen ist die Idee einer einseitigen Ausrufung eines palästinensischen Staates kein Signal zum Aufbruch,
sondern eine diplomatische Sackgasse. Ich will allerdings auch sagen, dass ich durchaus nachvollziehen
kann, welche Frustration sich auf palästinensischer Seite
aufgebaut hat. Bei den Friedensverhandlungen tritt man
auf der Stelle. Sie kreisen seit Jahrzehnten um dieselben
Themen, ohne dass eine echte Perspektive für eine umfassende Lösung absehbar wäre.
Hinzu kommt, dass die Palästinenser in den letzten
Jahren substanzielle Fortschritte beim Aufbau eines
Staatswesens erzielt haben. Das haben die Experten der
Vereinten Nationen, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds wiederholt bestätigt. Auf der letzten
Konferenz der wichtigsten Geber für die palästinensischen Gebiete im April dieses Jahres kamen sie übereinstimmend zu dem Schluss, dass die palästinensische Autonomiebehörde die grundlegenden Voraussetzungen für
eigene Staatlichkeit geschaffen hat. Das ist ein großes
Verdienst von Premierminister Fayyad. Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Aufbau
staatlicher Strukturen unterstützt, unter anderem durch
die Einsetzung eines deutsch-palästinensischen Lenkungsausschusses im letzten Jahr.
Dennoch ist der einzig gangbare Weg zu einer tragfähigen Friedenslösung die Wiederaufnahme direkter Verhandlungen. Dazu bedarf es natürlich des politischen
Willens beider Seiten. Es bedarf auch der Aussicht auf
erreichbare Fortschritte in absehbarer Zeit. Deswegen
müssen wir beiden Seiten erhebliche Anstrengungen abverlangen.
Der palästinensischen Seite müssen wir deutlich machen, dass das Einheitsabkommen, das Anfang Mai in
Kairo mit der Hamas unterzeichnet worden ist, unter
dem Vorbehalt stehen muss, dass die Hamas das Existenzrecht Israels anerkennt, von Gewalt Abstand nimmt
und bisherige Abkommen anerkennt; denn es ist für Israel zu Recht schlicht inakzeptabel, mit einem Akteur zu
verhandeln, der als Zielsetzung seiner Charta formuliert,
die Existenz Israels zerstören zu wollen.
Die israelische Regierung muss endlich darlegen, wie
sie sich eine umfassende und gerechte Friedenslösung
vorstellt. Außer dem grundsätzlichen Bekenntnis zu einer Zwei-Staaten-Lösung haben wir dazu bisher wenig
Substanzielles gehört. Das gilt im Übrigen auch für die
viel beachtete Rede des israelischen Premierministers
vor dem US-Kongress vor wenigen Wochen. Was wir erwarten müssen, ist, dass Israel eine positive Vision für
eine Friedenslösung einbringt. Das würde es auch den
gemäßigten Kräften auf palästinensischer Seite ermöglichen, auf realistische Ziele hinzuarbeiten und das gegenüber der Bevölkerung auch zu vertreten.
Es gilt, gegenüber beiden Parteien immer wieder
deutlich zu machen, dass eine Friedenslösung in ihrem
eigenen Interesse ist. Israel würde dadurch aus dem Fokus der Kritik in der arabischen Welt genommen. Das ist
durchaus von Bedeutung; denn die Palästina-Frage ist
noch immer ein Thema mit großem Mobilisierungspotenzial in diesen Staaten. Angesichts des gegenwärtigen Umbruchs deutet manches darauf hin, dass die Politik der arabischen Regierungen stärker als bisher auf die
Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen wird. Die Dynamik des Wandels in der arabischen
Welt wird deshalb die Verhandlungsposition Israels tendenziell eher schwächen als stärken.
Die palästinensische Autonomiebehörde auf der anderen Seite hätte durch ein Friedensabkommen die
Chance, ihre eigene Legitimation zu stärken und bei der
Überwindung der Spaltung der palästinensischen Gesellschaft einen wichtigen Schritt voranzukommen. Deswegen muss es das Ziel sein, noch vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September dieses
Jahres die Verhandlungen zwischen beiden Partnern wiederzubeleben und eine Perspektive für echte Fortschritte
zu schaffen.
Die Grundelemente einer solchen Friedenslösung
sind seit langem bekannt: die Grenzen von 1967 als Ausgangspunkt für den Austausch von Land, eine Lösung
der Jerusalem-Frage, tragfähige Sicherheitsgarantien für
Israel einschließlich einer möglichen Sicherheitspräsenz
und eine Einigung hinsichtlich des Rückkehrrechts für
Flüchtlinge. Diese Parameter sind und bleiben Kernelemente einer dauerhaften Beilegung des Konflikts.
Vor wenigen Tagen - lassen Sie mich das abschließend erwähnen - hat sich die Geiselnahme von Gilad
Schalit zum fünften Mal gejährt. Zur heutigen Debatte
gehört daher auch der erneute Appell an seine Entführer,
Gilad Schalit freizulassen und seinem Leid und dem seiner Familie endlich ein Ende zu bereiten. Das wäre ein
echtes Zeichen von Menschlichkeit.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Günter Gloser für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Seit dem Beginn dieses Jahres weht der
Wind des Wandels durch die Nahostregion und durch
Nordafrika. Mit Überraschung und Staunen haben wir
das massenhafte Aufbegehren der Menschen gegen
Machthaber und Herrschaftssysteme in der Region gesehen, die jahrelang als nicht erschütterbar galten. Dieser
Prozess ist mit Leid und Tod verbunden, da die Auseinandersetzungen insbesondere in Libyen und Syrien,
aber auch im Jemen mit Gewalt geführt werden. Der
Prozess ist, wie wir täglich in den Nachrichten sehen,
noch nicht an sein Ende gekommen. Der Wind des Wandels in Tunesien, Ägypten und vielen anderen Staaten
hat das Fenster für neue Entwicklungschancen aufgestoßen.
Auch vor Palästina hat diese Entwicklung nicht haltgemacht. Die Palästinenser sind vielerorts auf die Straße
gegangen, um endlich das Ende ihrer zerstrittenen Doppelführung und eine Regierung für sich zu fordern, und
zwar weitgehend gewaltfrei. Dieser Hinweis ist mir sehr
wichtig. Es war zuerst die Bevölkerung Palästinas, welche den Wandel und Entwicklungschancen wollte, nicht
das politische Establishment. Die Menschen in Palästina
wollen nicht länger Opfer machtstrategischer Züge von
Einzelinteressen innerhalb der gespaltenen Regierung
bleiben. Religion spielte in dieser sozialen Bewegung
übrigens kaum eine Rolle. Die Forderung nach einer
Einheitsregierung für Palästina ist legitim und demokratisch.
({0})
Nun ist zu hoffen, dass der Prozess der Regierungsbildung wirklich vorankommt und den Nahostfriedensverhandlungen neuer Schwung verliehen werden kann, so
wie es in dem Titel unseres Antrags heißt. Ohne neuen
Schwung in den Friedensverhandlungen wird auch eine
aktivere Beteiligung der Menschen in Israel und Palästina nicht möglich sein. Aber nur damit wäre eine ausgehandelte Friedenslösung langfristig tragfähig.
({1})
Wo ist die israelische Friedensinitiative in diesen Verhandlungen? Ich und viele andere Kollegen haben aus
unseren jüngsten Gesprächen mit Partnern aus Israel den
Eindruck gewonnen, dass die neue Situation in der Region bei der Regierung Netanjahu Verunsicherung hervorgerufen hat, über die sie bis heute nicht hinausgekommen ist. Dabei könnte zumindest durch einen Stopp
des Siedlungsneubaus ein erstes positives Signal gegeben werden.
({2})
Auf palästinensischer Seite sehen wir im sogenannten
Fayyad-Plan einen konstruktiven Ansatz, die Voraussetzungen für eine Staatsgründung und einen dauerhaften
Frieden zu schaffen. Diese Einschätzung wird übrigens
von der Europäischen Union und vom Nahostquartett
geteilt. Was aber, wenn es bis zum Herbst zu keinen Verhandlungen kommt? Kann man den Palästinensern dann
den Wunsch nach der Ausrufung eines eigenen Staats
dauerhaft verwehren?
Eine Anerkennung kann nach Auffassung der SPDFraktion jedenfalls nur dann erfolgen, wenn drei Forderungen erfüllt sind, die vor allem die Sicherheit Israels
betreffen und bereits vom Nahostquartett formuliert worden sind - Kollege Silberhorn, ich möchte darauf hinweisen, dass es hier um eine Zusicherung der neu gewählten
Regierung und nicht der Fatah oder Hamas geht -:
({3})
die Anerkennung des Existenzrechts Israels, eine Garantie für Gewaltverzicht und die Zustimmung zu allen bisherigen Abkommen. Kollege Gysi, ich denke, da unterscheiden wir uns erheblich von Ihrem Antrag.
Nun komme ich zur Hauptkritik, die sich an die Bundesregierung und insbesondere an die Bundeskanzlerin
richtet. Auch wenn sie heute nicht anwesend ist, darf ich
das noch einmal formulieren. Frank-Walter Steinmeier
hat schon am 26. Mai an dieser Stelle gefragt: Wo ist eigentlich der wahrnehmbare deutsche Beitrag in der Nahostpolitik?
({4})
Ohne jede Not hat sich die Bundeskanzlerin im April
und noch einmal im Mai dieses Jahres gegen eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Staates Palästina
ausgesprochen. Damit hat sie, wie ich meine, eine gemeinsame europäische Initiative in dieser Frage von
vornherein und ohne Konsultation mit den Partnern verhindert. Friedensgespräche werden auf diese Weise nicht
wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher.
({5})
Durch die unbedingte vorauseilende Zustimmung zur
Position von Ministerpräsident Netanjahu hat sie auch
jene in der israelischen Regierung gestärkt, die offenbar
meinen, der Status quo sei besser als jede Verhandlungslösung. Solch einer Analyse sollten wir aber offen entgegentreten. Deutschland entmutigt sonst auch alle jene
Menschen in der Region weiter, die an eine Friedenslösung glauben. Das dient letztlich auch nicht der Sicherheit Israels, der wir uns ja alle verpflichtet fühlen.
Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels David Grossman hat dazu 2010 in Frankfurt gesagt - ich zitiere -:
Wer aber die Möglichkeit des Friedens aufgegeben
hat, ist schon geschlagen. Er hat das Schicksal des
anhaltenden Krieges im Grunde über sich selbst
verhängt.
Diese Worte wiegen umso schwerer, wenn man weiß,
dass David Grossmans eigener Sohn 2006 im LibanonKrieg von einer Hisbollah-Rakete getötet worden ist.
Deutschland sollte daher alles dafür tun, für diejenigen in der Nahostregion, die - so wie David Grossman den Glauben an eine Friedenslösung noch in sich tragen,
eine neue Perspektive zu schaffen. Das geht meines Erachtens nur im europäischen Kontext.
({6})
Die Bundeskanzlerin hat für die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union, die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU insgesamt ein Präjudiz geschaffen, das eine gemeinsame
Haltung Europas in der Frage der Anerkennung Palästinas nicht mehr zulässt. Damit verbaut sie Europa insgesamt die Möglichkeit zur Einflussnahme auf neue Verhandlungen. Jedem wirklich überzeugten Europäer muss
dies als deutsche Sonderwegpolitik erscheinen - was leider auch für andere Felder gilt, wie wir in den letzten
Wochen und Monaten gesehen haben.
Daher fordert die Bundestagsfraktion der SPD die
Bundesregierung und insbesondere die Kanzlerin mit
dem vorliegenden Antrag auf, den Fehler, den sie durch
ihren Alleingang verursacht hat, zu korrigieren. Ich wiederhole noch einmal: Das Ziel deutscher und europäischer Außenpolitik muss natürlich eine Verhandlungslösung für den Nahostkonflikt sein, und Europa muss diese
befördern. Wenn es aber nicht zu neuen Verhandlungen
kommt, dann müssen wir im europäischen Kontext beraten, welche Bedingungen wir an die Anerkennung einer
palästinensischen Regierung und eines palästinensischen
Staates knüpfen. Nur so können wir den Einfluss gewinnen, den wir brauchen. Dabei wären wir als Europäer
auch nicht allein. Mit Präsident Obama haben wir - nach
Jahren verfehlter Nahostpolitik durch die Bush-Administration - einen starken Partner im Einsatz für den
Frieden im Nahen Osten an unserer Seite.
Zum Schluss zitiere ich noch einmal aus der beeindruckenden Rede von David Grossman im letzten Jahr in
Frankfurt. Er sagt:
Ich möchte sie daran erinnern, dass weder Israel
noch Palästina eine Heimat, eine sichere Zukunft
und eine stabile Existenz haben werden, wenn ihr
Gegenüber nicht genau dasselbe haben kann. In
diesem Sinne sind die beiden Völker aneinander gebunden. … und nur, wenn sie das begreifen, werden
sie wirklich in der Lage sein, den Prozess wiederzubeleben.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Gysi, ohne jeden Zweifel steht Ihr heute
vorliegender Antrag im Kontext einer anderen Diskussion, die Ihre Partei beschäftigt hat. Deshalb verstehe
ich, dass der erste Teil Ihrer Rede durchaus an Ihre Partei
gerichtet war. Ich sage Ihnen persönlich, Herr Gysi: Sie
sind für mich in diesem Falle sehr glaubwürdig, und alles andere müssen Sie mit Ihrer Partei abmachen. Ich
habe Verständnis dafür, dass Sie das heute hier so eingeführt haben.
Wenn man aber ein Freund Palästinas ist und für Palästina etwas tun will, muss man sich fragen, ob Sie mit
Ihrem heutigen Antrag Palästina etwas Gutes tun oder ob
Sie Palästina nicht eventuell sogar schaden.
({0})
Denn eine Sache ist, etwas zu fordern; die andere Sache
ist das Timing: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wenn
ich mir vor Augen halte, worüber wir in den letzten Wochen diskutiert haben, kann ich nur sagen: So verständlich und vielleicht sinnvoll Ihr Antrag zu einem anderen
Zeitpunkt gewesen wäre, jetzt ist er nicht sinnvoll. Nach
meinem Dafürhalten schadet er den Palästinensern mehr,
als er ihnen hilft. Ein solcher Antrag könnte, wenn er
denn angenommen würde - er wird zum Glück nicht angenommen -, Erwartungen in Palästina wecken, die sich
angesichts der gegenwärtigen Situation in der Region
aufschaukeln und dann eventuell keine Kanalisation
mehr finden könnten.
Wir erleben außerdem, Herr Gysi, dass selbst führende Palästinenser, angefangen bei Herrn Fayyad, öffentlich davor warnen, diesen Schritt zu tun. Wir haben
in dieser Woche Gespräche mit führenden Vertretern der
arabischen Welt geführt - ich nenne sie bewusst nicht
beim Namen -, die uns gesagt haben: Wir warnen davor,
auch als Araber, diesen Schritt jetzt zu tun. Davor warnen sie auch die Palästinenser.
Das Ganze steht im Kontext mit der Frage: In welcher
Situation befinden wir uns im Augenblick? Lassen Sie
uns das einmal durchdeklinieren.
Wie ist die Situation in Israel? In Israel ist gegenwärtig eine große Verunsicherung festzustellen. Wir sind in
diesem Haus seit Jahren zu der gemeinsamen Feststellung gelangt, dass die Zeit gegen Israel arbeitet. Mittlerweile merken die Israelis, auch führende Israelis, dass
dies stimmt. Die innerisraelische Diskussion hat eine
neue Qualität. Bisher hat man auf eine flexiblere Haltung gedrängt. Dabei handelte es sich allerdings zumeist
um Leute, die im innerisraelischen Kontext eher als
„Softies“ angesehen worden sind. Jetzt haben wir eine
völlig neue Situation. So gab es die IPI, die Israeli Peace
Initiative. Gestandene Generäle und gestandene Funktionäre des Mossad machen plötzlich Vorschläge, die sie
vor einem Jahr nie gemacht hätten. Auf diese Situation
müssen wir uns einstellen. Wir haben es in der innerisraelischen Diskussion mit einem völlig neuen Kontext
zu tun. Wir können nur hoffen, dass sich die Initiatoren
der Israeli Peace Initiative durchsetzen. Dafür müssen
wir uns einsetzen.
Ich weiß nicht, ob Sie, Herr Gysi, in den letzten Tagen
mit Herrn Gehrcke gesprochen haben. Herr Gehrcke und
ich hatten die Gelegenheit, in unterschiedlichen Kontexten an drei oder vier verschiedenen Veranstaltungen zu
diesem Thema teilzunehmen. In diesem Rahmen wurde
mir klar, dass das, was ich jetzt sage, wirklich meinem
Inneren entspricht: Das Timing Ihres Antrags ist leider
völlig falsch.
Natürlich ist die Sicherheit in Israel nach wie vor das
Thema Nummer eins. In jeder Rede, die ich zu diesem
Thema halte, betone ich: Ich habe, auch zum heutigen
Zeitpunkt, volles Verständnis dafür, dass im Zentrum jeder israelischen Politik die Sicherheit des Staates steht.
Wenn ich mir vor Augen führe, dass dort immer neuere
Raketen, immer weiter reichende Raketen und immer
mehr Raketen zum Einsatz kommen, dann habe ich Verständnis dafür, dass Israel alles tut, um diese Gefahr abzuwehren.
Wie sieht es in Palästina aus? In Palästina gibt es
Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung. Selbst wenn
es dort zur Bildung einer Regierung kommt, wissen wir,
dass diese Regierung nicht für beide Teile, über die wir
sprechen, für das Westjordanland und Gaza, gleichermaßen sprechen kann. Die Staatlichkeit bzw. mögliche
Staatlichkeit ist eingeschränkt, weil die Durchsetzungsfähigkeit dieser Übergangsregierung, um es vorsichtig
zu formulieren, fragwürdig ist.
Allerdings ist in Palästina erfreulicherweise - das
wurde international begutachtet und wird befürwortet eine wesentliche Verbesserung beim Aufbau staatlicher
Strukturen zu verzeichnen; das finde ich sehr gut. Diese
Fortschritte werden allseits anerkannt. Das ist im Hinblick auf die Etablierung von Staatlichkeit ein ganz wesentlicher Schritt. Was die Situation in der arabischen
Welt betrifft, herrschen in Palästina allerdings Erwartungen, die wir bitte schön nicht strapazieren sollten, weil
sie, wie wir alle wissen, eventuell nicht erfüllt werden
können.
Wie ist die Situation in Amerika? Nach meinem Dafürhalten hat sich die Situation in Amerika seit Februar
dieses Jahres geändert. Die Vereinigten Staaten von
Amerika haben im Februar dieses Jahres eine Resolution
der Vereinten Nationen durch ihr Veto verhindert.
Deutschland hat zum Glück so wie alle anderen europäischen Staaten abgestimmt; das fand ich sehr gut.
({1})
Deutschland hat es also „gewagt“, sich bei diesem sensiblen Thema anders zu entscheiden als Amerika. Ich
sage Ihnen aber: Nach meinem Dafürhalten hat sich die
Situation in Washington geändert, und zwar durch den
Besuch von Netanjahu, durch die Rede Obamas und
durch die verbale Ohrfeige, die Netanjahu dem amerikanischen Präsidenten verpasst hat. Nach meinen Informationen aus Washington positioniert sich die amerikanische Regierung bei diesem Thema mittlerweile anders
als noch im Februar.
Ich komme zum Schluss. Man muss jetzt das Richtige
tun. Diesen übereilten Schritt darf man nicht machen.
Der Kontext muss verstanden werden. Wir als Europäer,
als Deutsche sollten Israel drängen - und durch die innerisraelische Entwicklung haben wir die Chance dazu -, in
einen Verhandlungsprozess einzutreten. Wir alle wissen
- ich brauche es nicht zu wiederholen -, dass die Determinanten bzw. Elemente einer möglichen Lösung seit
langem beschrieben sind. Jede mögliche Lösung, wenn
sie überhaupt möglich ist, wird sich plus/minus 5 Prozent an den einzelnen Elementen - ob es sich um die
Grenzen, um Flüchtlingsfragen oder um den Streitpunkt
Jerusalem handelt - entlanghangeln. Jetzt kommt es darauf an, auf Israel einzuwirken, in diesen Prozess einzutreten und ihn fortzuführen. Das muss bis zum Herbst
die Aufgabe sein. Die Dringlichkeit ist in Israel erkannt;
das ist unsere Chance. Deshalb drängen wir darauf, dass
die Bundesregierung im europäischen Kontext - möglichst mit den Amerikanern gemeinsam - die israelische
Regierung drängt, drängt und noch einmal drängt, diesen
Prozess anzunehmen, ihn zu beginnen und die Chancen
zu nutzen, die in ihm liegen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon gesagt worden: Die Palästinenser werden - jedenfalls wenn sich die Lage bis dahin nicht noch dramatisch verändert - in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Anerkennung eines palästinensischen
Staates beantragen. Genauer gesagt werden sie den Beobachterstatus als Non-Member-State beantragen, falls
sie nicht sogar vorher auf Mitgliedschaft im Sicherheitsrat setzen, dem die Amerikaner mit einem Veto entgegnen würden. Die PLO hat das letzten Sonntag erklärt.
Nach Gesprächen, die ich in New York, aber auch hier
geführt habe - andere werden auch Gespräche geführt
haben -, kann ich nur sagen: Mein Eindruck ist, dass die
Palästinenser sehr entschlossen sind. Herr Silberhorn, es
mag zwar sein, dass man nicht weiß, wie sich das entwickelt, und dass das risikobehaftet ist. Man muss aber anerkennen: So viel Bewegung in der internationalen Politik in Bezug auf diese Frage hat es lange nicht gegeben.
({0})
Hintergrund ist ohne Frage der völlige Stillstand im
Nahost-Friedensprozess. Die palästinensische Seite ist
zu Recht besorgt, dass die Siedler, je mehr Zeit vergeht,
immer mehr Fakten schaffen. Seit dem Oslo-Abkommen
von 1993 haben sich die Siedlungen in der Westbank
verdreifacht: von 100 000 auf 300 000; in Ostjerusalem
sind es zusätzlich 200 000 und wir alle wissen - Sie haben die Führung von Ir Amin wahrscheinlich auch mitgemacht -, dass die Besiedlung in Ostjerusalem mit besonders radikalen Siedlern erfolgt. Obwohl viele Israelis
wissen - das ist ein Zitat -, dass „der Siedlungsbau die
Fundamente des Staates Israel buchstäblich untergräbt“,
wurde leider unter allen israelischen Regierungen gleichermaßen weitergebaut. Ich sage sehr deutlich: Dieser
Siedlungsbau ist nicht nur nach internationalem Recht illegal, er ist auch nicht im Sicherheitsinteresse des Staates Israel.
Ich kann an dieser Stelle die Sorgen der Palästinenser
ein Stück weit verstehen.
({1})
Das ist nicht hinnehmbar. Immer weniger Menschen in
den palästinensischen Gebieten glauben deshalb noch an
die Zwei-Staaten-Lösung. Das ist ein großes Problem.
Eine ganz andere Frage ist, ob dieser Schritt tatsächlich
zielführend ist, um zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu
kommen. Der UN-Beauftrage Robert Serry, aber auch
der IWF haben der PA Staatsreife attestiert. Ich nenne in
diesem Zusammenhang das von der Europäischen Union
Kerstin Müller ({2})
unterstützte Staatsbildungsprogramm von Fayyad. Dennoch ist das Ganze - das will ich hier auch sagen - nicht
ohne Risiko. Herr Stinner, Sie haben Ministerpräsident
Fayyad erwähnt. Er hat gestern in einem Interview mit
der Washington Post sehr deutlich gesagt, das - Zitat „wäre nur ein symbolischer Sieg und würde an der
Realität der israelischen Besatzung nichts ändern“. Er
hat das warnend gesagt. In der Tat stellt sich die Frage:
Was passiert denn, wenn sich dadurch „on the ground“
für die Menschen nichts ändert?
Wenn man diese Frage der palästinensischen Führung
stellt, hat sie keine Antwort darauf. Ihre Mitglieder sagen, dass sie sich eine Win-win-Situation für beide Seiten versprechen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz
ehrlich: Das könnte natürlich auch gehörig schiefgehen.
Für mich ist daher klar: Wir müssen jetzt alles tun, damit
es schnell zu Verhandlungen kommt. Das dürfen nicht irgendwelche Verhandlungen sein, sondern müssen substanzielle Verhandlungen sein. Denn klar ist, dass die Palästinenser Verhandeln-um-des-Verhandelns-willen nicht
machen werden. Das muss man auch verstehen. Verhandlungen, um Zeit zu schinden, werden sie nicht akzeptieren. Sie sagen aber immer wieder, das sei ihre erste
Option, und das bleibe als erste Option auf dem Tisch.
Deshalb muss man an die israelische Regierung appellieren. Wenn sie den Gang zur UNO verhindern will, dann
muss sie jetzt ein konkretes und substanzielles Angebot
auf den Tisch legen. Das ist meine Position.
({3})
Zurzeit hat man den Eindruck - so geht es auch einigen
meiner Kollegen in Israel -, dass diese israelische Regierung dazu nicht bereit ist. Man muss sich nur die Rede
Netanjahus vor dem amerikanischen Kongress anschauen. Er hat fast alle Türen zugeschlagen - das ist unfassbar - und keine neuen Türen geöffnet.
Herr Kollege Stinner, Sie haben eben davon gesprochen, dass das eine Vorfestlegung vonseiten der Linken
ist. Vor diesem Hintergrund war es dann aber auch voreilig und unnötig, dass sich die Bundeskanzlerin vorschnell festgelegt hat, dass Deutschland auf jeden Fall
mit Nein stimmen wird.
({4})
Wenn wir den Druck auf beide Seiten aufrechterhalten
wollen, dann darf sich weder Deutschland noch Frankreich festlegen. Was für eine Kakofonie in Europa! Wir
wissen, dass diese beiden Länder der Motor Europas
sind. Deshalb müssen Deutschland und Frankreich sagen: Wir werden jetzt gemeinsam für eine Verhandlungslösung sorgen. Wie wir am Ende abstimmen, sehen
wir dann. - Es gibt dieses wunderbare Beispiel der
Stimmerklärung zu der gemeinsamen Siedlerresolution
von Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Das
sind die Parameter, die immer mehr zu den Terms of
Reference werden. Das war eine gute Erklärung.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme gleich zum Schluss. - Wir sollten versuchen, auf dieser Basis zu einer Sicherheitsratsresolution
zu kommen. Dann, Herr Gysi, hätte man etwas Substanzielles; das habe ich jedenfalls von palästinensischer
Seite gehört. Dann wären die Palästinenser auch bereit,
auf diesen konfrontativen Schritt, dem Antrag auf Anerkennung, zu verzichten.
Frau Kollegin!
Deshalb sage ich: Jetzt ist die Gunst der Stunde für
Verhandlungen. Daran muss diese Bundesregierung arbeiten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Thomas Feist für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland
bekennt sich ohne Wenn und Aber zur Zwei-StaatenLösung. Deutschland wird alles unternehmen und hat
bereits sehr viel unternommen, damit die Verhandlungen
nicht an diesem Punkt stehen bleiben und zum Erfolg
führen werden. Die Frage, ob es zu diesem Zeitpunkt
sinnvoll ist, sich auf eine einseitige Proklamation des
Staates Palästina festzulegen, würde ich allerdings mit
Nein beantworten, und zwar aus mehreren Gründen.
Zum Ersten ist es so, dass ein Staat ausgerufen werden soll, der - zumindest in meiner Wahrnehmung überhaupt keine funktionsfähige Regierung hat. Wenn es
Vereinbarungen zwischen der Fatah und der Hamas zur
Zusammenarbeit gibt, dann muss die Hamas vor den entscheidenden Verhandlungen natürlich ihrem Ziel, Israel
zu vernichten, abschwören. Das muss man als Voraussetzung für weitere Schritte einfordern.
({0})
Sie haben gesagt - das steht auch in den Anträgen -,
dies habe vor allem symbolischen Charakter. Nun stellt
sich die Frage: Welchen Wert hat eine solche Symbolpolitik? Herr Gysi, Sie haben gesagt, eine einseitige Proklamation des Staates Israel und eine einseitige Proklamation des Staates Palästina seien im Prinzip das
Gleiche. Wir wissen doch aber alle, dass es im OsloAbkommen II einen Passus gibt, der besagt, dass der
Status der Westbank und des Gazastreifens nicht einseitig verändert werden kann. Genau das aber wird versucht
durch diese Proklamation zu erreichen: die einseitige
Veränderung dieses Status. Deswegen können wir dem
nicht zustimmen.
Ich habe meinem Kollegen Weinberg aus Hamburg,
der hier vorne interessiert zuhört, gesagt: Es gibt auch etwas Interessantes am Antrag der Linken. Ich muss hinzufügen: Es war schon interessant, Herr Gysi, dass Sie
zu Ihrem Antrag eigentlich nichts gesagt haben. In diesem Antrag findet sich eine Schwarz-Weiß-Malerei, die
mir noch aus dem Land bekannt ist, in dem ich aufgewachsen bin. In diesem Land wurde durch spitzfindige
wissenschaftliche Theorie erklärt, dass eine Partei, die
an der Führung ist, immer recht hat. Es war völlig einfach, Gut und Schlecht, Freund und Feind sowie
Schwarz und Weiß voneinander zu trennen. Natürlich
waren wir immer für das revolutionäre palästinensische
Volk und gegen den imperialistischen Aggressor Israel.
Etwas von diesem Duktus findet sich auch in Ihrem Antrag wieder. Wenn Sie ihn noch einmal genau lesen, werden Sie das sehen.
({1})
- Ich weiß, dass Sie nicht gerne daran erinnert werden,
dass Sie, die Sie links außen von mir sitzen, eine andere
Vergangenheit haben und einer Partei mit dem Namen
SED angehört haben.
Ich muss Ihnen zu den vorliegenden Anträgen zweierlei sagen: Entweder sind sie überflüssig, oder sie sind
kontraproduktiv.
({2})
- Wenn unsere Bundeskanzlerin erklärt, Frau Müller,
dass sie diesem einseitigen Schritt nicht zustimmen wird
({3})
- nein, das war kein Fehler -, dann ist völlig klar, dass
die einseitige Proklamation ein symbolischer Akt sein
wird, den es übrigens schon einmal gab. 1988 gab es
eine einseitige Ausrufung des Staates Palästina in Algier.
Wenn wir die palästinensische Vertretung in Deutschland aufwerten sollen - das wurde in den Anträgen formuliert -, dann schauen Sie doch einfach auf die Internetseite www.palaestina.de. Es ist interessant, dass dort
nur von der Fatah gesprochen wird. Über die Hamas, die
an der Regierung beteiligt werden muss, ist kein Wort zu
lesen.
Eines ist völlig klar: Wir brauchen zunächst eine Anerkennung der Grenzen, eine Einigung über den Grenzverlauf. Dazu können wir inhaltlich wenig beitragen.
Das ist eine Sache, die beide Verhandlungspartner miteinander austragen müssen. Es ist ja nicht so, als habe sich
in dieser Richtung nichts getan. Es muss erwähnt werden, dass beispielsweise 85 Prozent der Straßenkontrollen im Westjordanland durch Israel eingestellt worden
sind. Es gibt durchaus ernsthafte Bemühungen, dieses
Vorgehen fortzuführen und zu einer Einigung zu kommen.
Wir sollten die Zeit nutzen und uns auf diplomatischen Kanälen dafür einsetzen, dass die Verhandlungen
neuen Schwung bekommen. Wir müssen die einseitige
Proklamation des Staates Palästina verhindern. Das wäre
ein Fehler. Deswegen werden wir unsere diplomatischen
Bemühungen weiter ausbauen.
({4})
Aber zum jetzigen Zeitpunkt zu fordern, dass wir diese
Anträge unterstützen, ist völlig verkehrt.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6150 und 17/6298 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 39 a und 39 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im
Ausland erworbener Berufsqualifikationen
- Drucksache 17/6260 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Sevim Dağdelen, Dr. Petra Sitte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung ausländischer Bildungs- und
Berufsabschlüsse wirksam regeln
- Drucksache 17/6271 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Helge Braun das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung legt dem Bundestag den Entwurf eines
Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen
vor. Mit diesem Gesetz verfolgen wir zwei wichtige
Ziele.
Erstens. Der eigene Berufsabschluss ist ein wichtiger
Teil der persönlichen Identität. Deshalb und aus Respekt
vor der Lebensleistung der hier lebenden Menschen ist
es wichtig, ihre tatsächlich vorhandenen Kompetenzen
ausdrücklich anzuerkennen und ihren Abschlüssen nicht
ohne schwerwiegende Sachgründe die Gleichwertigkeit
abzusprechen. Deshalb ist ein Rechtsanspruch auf ein
transparentes und in seinem Ergebnis nachvollziehbares
und zuverlässiges Anerkennungsverfahren ein wichtiges
integrationspolitisches Vorhaben.
({0})
Zweitens. Ein Land, das zunehmenden Fachkräftemangel beklagt, darf auch aus wirtschaftspolitischer
Sicht nicht darauf verzichten, die 285 000 Menschen in
ihren Berufen, in denen sie einen ausländischen Abschluss erworben haben, einzusetzen. Einem asiatischen
oder amerikanischen Techniker in Deutschland als vermeintlich ungelerntem Arbeiter wenig anspruchsvolle
Gelegenheitsjobs anzubieten, ist gesellschaftlich, integrationspolitisch und wirtschaftspolitisch nicht verantwortbar.
Der weitaus größte Teil der potenziellen Antragsteller
verfügt über einen beruflichen Abschluss. Nach der Auswertung eines Mikrozensus gehen wir davon aus, dass es
in Deutschland bereits 285 000 potenzielle Antragsteller
gibt. Davon haben rund 16 000 einen Hochschulabschluss, alle anderen verfügen über einen beruflichen
Abschluss. In der Wirtschaft werden Bewerber mit technischen Berufsabschlüssen, über die viele der potenziellen Petenten verfügen, stark nachgefragt.
Was bietet jetzt dieses Gesetz? Es gibt erstmals einen
Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren. Dieser
Rechtsanspruch besteht für jeden, der über einen ausländischen Abschluss verfügt und eine ernsthafte Erwerbsabsicht in Deutschland hat. Weitere Voraussetzungen oder Einschränkungen des antragsberechtigten
Personenkreises gibt es nicht. Das ist ein deutliches Zeichen der Willkommenskultur, auch für die Antragsteller
aus dem Ausland. Nach Eingang aller Unterlagen gibt es
eine dreimonatige Frist, damit das Verfahren auch
hinsichtlich seiner Dauer praktikabel und für den Antragsteller verlässlich ist. Ist eine Anerkennung nicht
möglich, erhält der Antragsteller Informationen über wesentliche Unterschiede zwischen seiner Qualifikation
und dem Erfordernis für eine deutsche Anerkennung, sodass er eine klare Perspektive dafür aufgezeigt bekommt, wie er durch Anpassungsqualifizierungen zu einer Anerkennung kommen kann.
Das Gesetz sieht ebenfalls vor, dass die Berufserfahrung bei der Feststellung der Qualifikation berücksichtigt wird. Wir wollen zwar nicht, dass Berufserfahrung
eine fundierte Ausbildung ersetzt, aber wir wollen auch
nicht, dass jemand, der bereits über eine zehnjährige Berufserfahrung verfügt, zum Beispiel wegen weniger
praktischen Anteilen in der Ausbildung keine Anerkennung bekommt. Das wäre nicht zu rechtfertigen.
({1})
Oberste Priorität - das sage ich hier sehr deutlich hat für die Bundesregierung die Qualitätssicherung unserer deutschen Abschlüsse. Mit dem Gesetz wollen wir
erreichen, dass die ausländischen Abschlüsse, für die es
ein Gleichwertigkeitszertifikat gibt, tatsächlich das deutsche Qualifikationsniveau erreichen. Wir gehen deshalb
einen nicht ganz einfachen Weg; denn die Stellen, die in
Zukunft die Gleichwertigkeit der ausländischen Abschlüsse anerkennen, sind die gleichen Stellen, die heute
in Deutschland dafür verantwortlich sind, deutsche Abschlüsse zu vergeben und die Qualität deutscher Abschlüsse zu sichern. Das erfordert zum einen hohe
Ansprüche an die Abstimmung zwischen den verschiedenen Partnern, insbesondere den Kammern. Zum anderen müssen wir als Bund die Aufgabe übernehmen, mit
einer zentralen Rufnummer und einer Informationsplattform dafür zu sorgen, dass jeder potenzielle Antragsteller leicht Zugang zu diesem System und letztlich zu der
entsprechenden Anerkennungsstelle findet.
Der Gesetzentwurf umfasst rund 350 Ausbildungsberufe und rund 60 bundesgesetzlich geregelte Berufe, insbesondere Heil- und Rechtsberufe. Damit ist ein ganz
überwiegender Teil der Personen, die sich in Deutschland befinden, erfasst. Die Abstimmung mit den 16 Bundesländern war von großem Einvernehmen und hoher
Fachlichkeit geprägt. Dies ist aus meiner Sicht ein Vorbild für Bund-Länder-Zusammenarbeit. Die Länder haben bereits ihre Bereitschaft erklärt, in Zukunft vergleichbare Regelungen für die Berufe zu schaffen, die in
ihren Zuständigkeitsbereich fallen.
({2})
Mit diesem Gesetz schlagen wir ein neues Kapitel bei
der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen auf.
Das ist ein wichtiges Signal für die Menschen, die hier
leben, aber auch ein wichtiges Signal für diejenigen, die
eine Arbeit in Deutschland aufnehmen wollen. Es führt
auch zu Verlässlichkeit bei der Fachkräftesicherung für
unsere Wirtschaft in Deutschland. In diesem Sinne bitte
ich das Hohe Haus um breite Zustimmung.
({3})
Das Wort hat nun Swen Schulz für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich liegt
der lang ersehnte Gesetzentwurf vor. Wir haben wirklich
lange darauf warten müssen. Bereits in der Großen Koalition hat die SPD mit dem damaligen Arbeitsminister
Swen Schulz ({0})
Olaf Scholz einen Vorstoß unternommen. Dieser ist von
der Union abgelehnt worden.
({1})
Am 1. Dezember 2009 hat die SPD-Bundestagsfraktion hier einen Antrag eingebracht. Kurz danach legte
dann auch die Bundesregierung ein Papier vor: Eckpunkte zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen und Berufsabschlüssen. Wir mussten aber bis
heute auf die erste Lesung eines Gesetzentwurfs warten.
Jetzt stellt sich die Frage: Hat sich das lange Warten gelohnt? Die Antwort lautet: Leider bleibt der Gesetzentwurf hinter den im Eckpunktepapier der Bundesregierung selbst formulierten Ansprüchen zurück. Dass es
erheblichen Änderungsbedarf gibt, zeigt schon die Tatsache, dass der Bundesrat, und zwar quer durch alle Länder, unabhängig davon, wie die Landesregierungen
parteipolitisch zusammengesetzt sind, viele Änderungsvorschläge - 100 an der Zahl - zu dem Gesetzentwurf
eingebracht hat. Leider sind sie von der Bundesregierung in der Entgegnung, jedenfalls zum größten Teil,
einfach vom Tisch gewischt worden. Dabei sind die
wichtigsten Forderungen des Bundesrates direkt dem
Eckpunktepapier der Bundesregierung entnommen. Ich
will das an einigen Stellen aufzeigen.
Im Eckpunktepapier ist von einer Erstanlaufstelle die
Rede, die geschaffen werden soll. Im Gesetzentwurf findet sich dazu nichts mehr. Herr Staatssekretär, Sie haben
hier von einer Telefonhotline und von Internetangeboten
gesprochen. Das reicht nicht.
({2})
Im Eckpunktepapier sind Angebote zur Ergänzungsund Anpassungsqualifizierung genannt. Im Gesetzentwurf ist davon praktisch nicht mehr die Rede. Es stellen
sich folgende Fragen: Wer bietet sie an? Wer finanziert
sie? Wie wird es den Leuten ermöglicht, sie tatsächlich
in Anspruch zu nehmen? Auch das ist eine Leerstelle im
Gesetzentwurf.
Weiterhin sind in Ihrem Eckpunktepapier Unterstützungsangebote zur Verbesserung der Qualität und bundesweiten Vergleichbarkeit der Bewertungen aufgeführt.
Völlig richtig, das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Es
darf kein Lotteriespiel sein, ob ein Abschluss anerkannt
wird oder nicht. Es darf nicht vom Wohnsitz abhängen,
weil regional unterschiedliche Stellen zuständig sind, ob
ein Abschluss anerkannt wird. Auch das ist im Gesetzentwurf nicht genügend geregelt.
Im Eckpunktepapier wird auch von Mehrkosten gesprochen, die die erfolgreiche Durchsetzung dieses Gesetzes mit sich bringe, wenn man die Anerkennung richtig umsetzen möchte. Im Gesetzentwurf ist die ganze
Zeit von Kostenneutralität die Rede. Es ist doch sogar
so, dass Sie an anderer Stelle massive Einsparungen und
Kürzungsmaßnahmen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorsehen. Das reicht nicht aus, um dieses
Anerkennungsgesetz tatsächlich zum Erfolg zu führen.
({3})
Ich will nicht missverstanden werden: Dieser Gesetzentwurf ist nicht falsch.
({4})
Er enthält in der Tat auch einige Verbesserungen. Aber
das ist nicht genug. Es ist vollkommen klar, dass dieses
Gesetz so nicht zu einem Erfolg führen kann. Es wird so
keinen entscheidenden Beitrag zur Integration und zur
Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten. Deswegen
muss der Gesetzentwurf nachgebessert werden.
Die SPD-Fraktion - ich habe es schon gesagt - hat
bereits im Dezember 2009 Vorschläge gemacht. Auch
der Bundesrat hat Vorschläge vorgelegt. Wir treten jetzt
in die Beratungen ein und setzen darauf, dass die Regierungskoalition diese Beratungen ernst nimmt. Wir
werden im Ausschuss eine Sachverständigenanhörung
durchführen. Ich glaube, dass eine ganze Menge an Verbesserungsvorschlägen gemacht werden wird. Wir setzen darauf, dass dann das eine oder andere von Ihnen berücksichtigt wird, damit die Anerkennung in Zukunft
funktioniert.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Heiner Kamp für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wer was gelten will, muss
andere gelten lassen. - Diesen Grundsatz haben FDP
und Union beherzigt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt,
die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen erheblich zu erleichtern.
Natürlich haben auch schon Vorgängerregierungen
bemerkt, dass etwas schiefläuft, wenn im Ausland ausgebildete Ärzte nur fachfremd eine Betätigung finden.
Natürlich hat man die fehlende Flexibilität unseres Arbeitsmarktes beklagt und über die Barrieren innerhalb
unseres Ausbildungssystems lamentiert. Der entscheidende Unterschied insbesondere zu den von SPD und
Grünen getragenen Vorgängerregierungen ist, dass wir
es nicht bei Wehklagen belassen haben. Mit dem Anerkennungsgesetz haben wir tatsächlich etwas zuwege gebracht, das sich sehen lassen kann.
({0})
Das hat seinen Grund. Die FDP ist der festen Überzeugung, dass Arbeit und Beschäftigung der beste Impfstoff gegen Isolation und Parallelgesellschaften sind.
Wir müssen Menschen, die zu uns gekommen sind, etwas gelten lassen, um mit Goethes Worten zu sprechen.
Denn dann kommen sie tatsächlich in Deutschland an.
Dann finden sie bei uns eine neue Heimat. Arbeit als
Identifikations- und Integrationsfaktor Nummer eins
kann diesbezüglich Wunder wirken.
Doch das Anerkennungsgesetz beschränkt sich keineswegs darauf, die Folgeschäden einer jahrzehntelang
fehlgeleiteten Integrationspolitik zu beheben. Es konzentriert sich beileibe nicht nur auf die bereits bei uns lebenden Mitbürger. Nein, das Anerkennungsgesetz öffnet
auch ausländischen High Potentials, Leistungsträgern
und Qualifizierten, die ihre Chance in Deutschland nutzen wollen, die Tür zu unserem Land. Mit diesem Gesetz
wird Deutschland weltoffener, internationaler und dynamischer.
Das Anerkennungsgesetz ermöglicht es Ärzten, Krankenschwestern, Altenpflegern, aber auch Wirtschaftsprüfern, noch im Ausland die vorhandenen Abschlüsse an
den deutschen Referenzausbildungen und -berufen messen zu lassen, und erleichtert ihnen damit den Schritt in
Richtung des deutschen Arbeitsmarktes. Dass wir diese
Frischzellenkur an Fachkräften dringend benötigen, ist
mittlerweile auch in die letzten Winkel der Republik gedrungen.
Der demografische Wandel zwingt uns dazu, unsere
Pforten zu öffnen. Gerade diese Woche haben wir die
Meldung erhalten, dass im Bereich von Industrie und
Handel 40 000 Lehrstellen unbesetzt sind. Das sind
25 Prozent mehr als im letzten Jahr. Selbst in beliebten
Ausbildungsberufen wie Mechatroniker oder Bankkaufmann fehlen schon jetzt Bewerber. Es muss uns doch
wachrütteln, wenn uns trotz Wehrpflichtaussetzung und
doppelter Abiturjahrgänge die Bewerber ausgehen.
Wir legen ganz klar den Schwerpunkt auf die Ausschöpfung des inländischen Potenzials. Hier müssen wir
alle Reserven aktivieren. Mit dem gelungenen Fachkräftekonzept der Bundesregierung und vernetzten Maßnahmen wie der erfolgreichen Einstiegsqualifizierung und
den Bildungsketten beschreiten wir den richtigen Weg.
Aber ohne qualifizierte Zuwanderung werden wir uns
nicht retten können. Andere Länder haben bereits die
Nase vorn. Wir können es uns nicht leisten, gut ausgebildete Menschen an uns vorbeiziehen zu lassen. Wir müssen auf Deutschland als attraktives Ziel aufmerksam
machen. Wir müssen den roten Teppich ausrollen. Wir
müssen schließlich dankbar sein, wenn die Menschen
bei uns arbeiten möchten und dafür in ihrer Heimat einiges aufgeben.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung trägt dem
Arbeitsauftrag der Koalitionsfraktionen Rechnung. Wir
schaffen erstmals einen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren. Was zunächst seltsam klingt, ist ein
echter Paradigmenwechsel: Nach einheitlichen Kriterien
und in einem einheitlich geregelten Verfahren wird für
die vom Gesetz erfassten Berufe geprüft, ob die im Ausland erworbene Qualifikation mit unserer heimischen
gleichwertig ist.
Ein weiterer wichtiger Wegepunkt ist die Aufhebung
der Kopplung von Berufsausübung und Zugang zum Anerkennungsverfahren an die Staatsangehörigkeit, die es
bislang bei einigen Berufen gab. Damit ist im Großen
und Ganzen Schluss. Fortan werden in den meisten Berufen Qualität und Inhalte eines Abschlusses entscheidend sein. Staatsangehörigkeit und Herkunft sollen und
werden bei der Frage der Anerkennung einer Qualifikation kaum mehr eine Rolle spielen. Das ist richtig so,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ein wichtiger Beitrag dieses neuen Gesetzes besteht
in der Lichtung des unüberschaubaren Dschungels an
Anerkennungsregeln. Hier fräsen wir den Wust der uneinheitlichen Anerkennungspraxis zu einem guten Teil
weg. Damit beseitigen wir auch derzeit noch bestehende
Marktbenachteiligungen. Das sorgt für eine wesentliche
Verbesserung der bisherigen Bewertungspraxis.
Bei den Strukturen, die das Anerkennungsverfahren
durchführen sollen, schaffen wir keinen bürokratischen
Wasserkopf. Das ist uns wichtig. Denn wir wollen praxistaugliche und bürgernahe Lösungen. Deshalb nutzen
wir die bestehenden Strukturen zur Bewertung im Ausland erworbener Abschlüsse. Die Institutionen, die bereits heute die Anerkennungsverfahren von Spätaussiedlern und Unionsbürgern begleiten, werden auch die
Anerkennungsverfahren nach dem neuen Gesetz durchführen. Ich bin mir sicher, dass Industrie- und Handelskammern wie auch die Handwerkskammern einen ausgezeichneten Job machen werden.
Außerdem gewährleisten wir ein rasches Verfahren.
Drei Monate ab Vorliegen aller erforderlichen Unterlagen muss eine Entscheidung erfolgen. Das ist flott und
zeigt, dass wir es ernst meinen.
Den Antragstellern werden wir mit Beratungsangeboten zur Seite stehen. Dafür wird es unter anderem - das
wurde schon angesprochen - eine Internetseite, eine Telefonhotline und regionale Anlaufstellen geben. Auch
den Menschen, die aus dem Ausland mit ihrer Qualifikation nach Deutschland kommen möchten, müssen und
werden wir Informationsangebote unterbreiten. „Willkommen in Deutschland!“, das rufen wir Menschen mit
Abschlüssen aus dem Ausland zu, ob sie bereits hier leben oder noch zu uns kommen möchten.
Mit dem Anerkennungsgesetz leisten wir einen echten Beitrag zur Integration. Der Gesetzentwurf ist eine
sehr gute Grundlage für unsere parlamentarischen Beratungen. Auf die konstruktive Arbeit an dem Gesetz im
Ausschuss freue ich mich. Nächste Woche werden wir
dazu bereits in einer öffentlichen Anhörung Gelegenheit
haben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat nun Agnes Alpers von der Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wenn eine Lehrerin aus der
Türkei, ein Ingenieur aus dem Irak oder eine Erzieherin
aus China gehofft haben, mit dem neuen Anerkennungsgesetz endlich ihre Berufsabschlüsse hier in Deutschland
anerkennen zu lassen, dann haben sie alle Pech gehabt.
({0})
Das Gesetz bezieht nur Berufe ein, die bundeseinheitlich
geregelt sind.
({1})
Abschlüsse, für die die Bundesländer zuständig sind,
und Schulabschlüsse werden nicht berücksichtigt. Auch
wer älter als 55 Jahre ist und wer den Berufsabschluss
vor mehr als zehn Jahren gemacht hat, hat keine Chance
auf Anerkennung. Sagen Sie mir: Wie soll sich ein Antragsteller bei diesem Wirrwarr aus Länder- und Bundesrecht sowie vielen anderen Bedingungen noch zurechtfinden?
({2})
Der Dschungel aus Zuständigkeiten ist insgesamt noch
größer geworden, obwohl die Bundesregierung immer
vermittelt hat, ein transparentes und schlankes Anerkennungsverfahren für alle etablieren zu wollen. Das ist gescheitert.
Ich hatte von diesem Gesetz erwartet, dass Begleitung
und Unterstützung für die Betroffenen, also die Beratung
bei dem Anerkennungsverfahren, auf jeden Fall gesichert sind. Doch weit gefehlt! Das Gesetz sieht keine
kontinuierliche Beratung vor. Dies hat auch der Bundesrat im Mai umfänglich kritisiert. Wer gedacht hat, dass in
diesem Gesetz das Recht auf Nachqualifizierung, dass
man also noch einzelne Teile einer Ausbildung für eine
Anerkennung nachholen kann, festgeschrieben wird und
die Vorschriften dazu sucht, der muss sich das Gesetz
ganz genau anschauen. Nachqualifizierungen für Berufe,
über die eine staatliche Stelle entscheidet, sind noch aufgeführt. Aber bei den Ausbildungsberufen, über die die
Kammern entscheiden, taucht die Nachqualifizierung
noch nicht einmal im Gesetz auf. Ich finde es einfach erstaunlich, welchen Beitrag die Bundesregierung hier
leistet, um Fachkräfte zu sichern.
({3})
Eines steht fest: Ohne Beratung und Nachqualifizierung
wird dieses Gesetz für die Betroffenen wirkungslos bleiben.
({4})
Im Wesentlichen sollen die Kammern darüber entscheiden, ob die Berufsabschlüsse anerkannt werden.
Die Bundesregierung meint, dass die Kammern an den
Inhalten näher dran sind und diese Lösung kostengünstiger sei.
({5})
Ich gebe zu bedenken, dass die Kammern, die sehr nah
an der Ausbildung dran sind und weit ins Detail gehen,
möglicherweise keine Lösung für all die Abschlüsse aus
all den unterschiedlichen Ländern bieten können. Wir
wollen deshalb eine zentrale und unabhängige Stelle für
die Anerkennung einrichten.
({6})
Eine gibt es schon lange: die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen.
({7})
Das würde sich auch für die Betroffenen rechnen. Die Zentralstelle erhebt Gebühren zwischen 100 und 200 Euro.
Die Kammern planen mit kostendeckenden Gebühren
zwischen 1 000 und 5 000 Euro für jeden Antrag. Für
uns ist wichtig: Das Recht auf Anerkennung muss möglichst viele erreichen. Deshalb muss es gebührenfrei
sein.
({8})
Halten wir noch einmal fest: Bei vielen Berufsabschlüssen entscheiden allein die Arbeitgeber bzw. die
Kammern über die Anerkennung. Das erklärte Ziel des
Gesetzes ist ausschließlich die bessere Nutzung der Arbeitskraft für den deutschen Arbeitsmarkt. Kein Wort
über die Bedeutung der Anerkennung für die betroffenen
Menschen! Das ist wieder einmal typisch für unsere
Bundesregierung.
({9})
Aus meiner Sicht hat die Bundesregierung die Aufgabe, ein Anerkennungsgesetz zu verabschieden, das die
Menschen mit ihren Abschlüssen, ihren Leistungen und
ihren Kompetenzen anerkennt, ihre rechtliche und soziale Gleichstellung gewährleistet, sie endlich willkommen heißt und ihnen Perspektiven aufzeigt. Das haben
Sie bisher noch nicht geschafft.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Staatssekretär Braun hat den
Gesetzentwurf mit einem einzigen Satz eigentlich schon
beschrieben: Wir gehen nicht den einfachen Weg. - Allerdings! Anstatt allen gut qualifizierten Personen einen
Zugang zu einem einheitlichen Anerkennungsverfahren
zu eröffnen, ist dieser Gesetzentwurf ein Flickenteppich
mit vielen unterschiedlichen, undurchschaubaren und
restriktiven Regelungen geworden.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregierung bei weitem hinter ihrer Ankündigung, die Integration durch eine transparente und einfache Anerkennungspraxis zu fördern, zurück. Das verwundert nicht bei
dieser Regierung, die sich auch ansonsten weigert, die
Situation für ausländische Fachkräfte in Deutschland zu
verbessern. Dass sich die Bundesregierung nur zu
wachsweichen Regelungen durchringen konnte, lässt
sich schon nach der Lektüre von § 1 des Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes erahnen. Während im Referentenentwurf der Zweck des Gesetzes noch lautete, den
Betroffenen eine „adäquate“ Beschäftigung zu ermöglichen, ist im Gesetzentwurf nur noch die Rede von einer
„qualifikationsnahen“ Beschäftigung. Frau Schavan will
angeblich verhindern, dass der vielzitierte Arzt Taxi
fährt. Wenn der Arzt in der Praxis aber nur die Möglichkeit erhält, für ein niedriges Gehalt als Krankenpfleger
zu arbeiten, wird er womöglich das Taxifahren bevorzugen.
Das Hauptproblem dieses Regelwerks ist aber nicht
das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz. Dieses enthält tatsächlich einige positive Ansätze; sie wurden
heute schon beschrieben. Die mangelnde Transparenz
und Einheitlichkeit der Verfahren folgen im Wesentlichen daraus, dass die allgemeinen Regelungen des
Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzes nur gelten, sofern die berufsrechtlichen Regelungen nichts anderes bestimmen - aber sie bestimmen anderes.
In vielen Gesetzen wie der Bundesrechtsanwaltsordnung, der Bundesärzteordnung oder dem Krankenpflegegesetz wird das Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz sogar pauschal für unanwendbar erklärt. Dadurch
werden entscheidende Fortschritte verhindert. Zum einen wird bei manchen Berufen, wie dem Arztberuf, bei
Drittstaatsabschlüssen kein Anpassungslehrgang oder
eine Defizitprüfung verlangt, sondern immer eine Vollprüfung. Es ist überhaupt kein Grund ersichtlich, warum
nicht auch hier eine gezielte Beseitigung der Defizite das
Ziel sein soll.
Zum anderen wird die Anerkennung vergleichbarer
Berufe unterschiedlich geregelt. Die Bundesregierung ist
offenbar nur bereit, in denjenigen Bereichen großzügige
Anerkennungsregelungen einzuführen, in denen ein erhöhter Bedarf an Fachkräften besteht. Ziel ist also die
Wahrung rein wirtschaftlicher Interessen und nicht die
Integration und Gewährleistung der Entfaltungsmöglichkeiten der gut ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger.
Das ist Egoismus und Missachtung zugleich.
({1})
Vier wesentliche Bereiche hat die Bundesregierung
ganz außer Acht gelassen:
Erstens. Es ist völlig ungenügend, dass die Betroffenen keinen Anspruch auf Beratungen und Begleitung
während des Anerkennungsverfahrens erhalten.
Zweitens. Die Angebote für passgenaue Anpassungsqualifizierungen und berufsbezogenes Deutsch müssen
dringend ausgebaut werden. Wer dafür sorgt und wie das
geschehen soll, ist bisher völlig offen.
Drittens. Der Gesetzentwurf gibt keine Antwort auf
die Frage, wer künftig für Qualitätssicherung, Einheitlichkeit und Fairness bei den Anerkennungsverfahren
sorgen soll.
Viertens. Es ist ein Armutszeugnis für Frau Schavan,
dass sie nicht einmal versucht hat, die Anerkennung von
nichtreglementierten Hochschulabschlüssen verbindlich
zu regeln.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung im weiteren
Gesetzgebungsverfahren nachbessert. Wir fordern, dass
nicht einzelne Gruppen bevorzugt werden, sondern dass
alle die gleichen Chancen erhalten. Das fördert die Integration und wirkt einer Zweiklassenpolitik entgegen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Albert Rupprecht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Kollege Schulz, zur Historie des Ganzen; ich glaube, da
braucht es ein paar Richtigstellungen.
Erstens. Es war nicht der Minister Scholz, der die Initiative ergriffen hat. Es war die Ministerin Böhmer, die
ursprünglich die Initiative ergriffen und das zum Thema
gemacht hat. In einem zweiten Schritt hat das dann die
Frau Schavan aufgegriffen.
({0})
Zweitens gehört zur Richtigstellung dazu, dass die
häufig gepriesene Regierung der Großen Koalition
({1})
im Vergleich zur Regierung der jetzigen christlich-liberalen Koalition schlichtweg administrativ nicht in der
Lage war, ein solches Gesetz rechtzeitig vorzulegen.
Diese Regierung hat es im Kreuz, und deswegen liegt
das Gesetz jetzt auch vor.
({2})
Noch einmal: Sie hatten elf Jahre Zeit. Die Grünen
hatten auch einige Jahre Zeit. Im Übrigen: Um die Bedeutung der Grünen bei diesem Thema einmal präsent zu
machen: Zur Halbzeit der Debatte hier ist von den ordentlichen Mitgliedern der Grünen im Ausschuss für
Bildung und Forschung einzig Kai Gehring anwesend;
alle anderen ordentlichen Mitglieder der Grünen in diesem Ausschuss sind gar nicht da.
Noch einmal: Sie hatten elf Jahre Zeit. Fakt ist, dass
viele darüber reden, aber wir es machen.
Herr Kollege Schulz, Sie hatten in einer Ihrer Reden
beispielsweise die Forderung erhoben, nach sechs Monaten müsse das Verfahren abgeschlossen sein. Wir
Albert Rupprecht ({3})
übertreffen Sie. Nach unseren Vorstellungen soll es nach
drei Monaten abgeschlossen sein.
({4})
Wenn Sie Ihre früheren Forderungen mit dem vergleichen, was wir jetzt beschließen wollen, wäre es durchaus
fair, anzuerkennen, dass wir in einigen Punkten Ihre Vorschläge übererfüllen.
({5})
Das Anerkennungsgesetz ist ein Riesenschritt in Richtung von mehr Integration, in Richtung von mehr qualifizierten Fachkräften in Deutschland und - das ist auch
wichtig - in Richtung von weniger Lasten für unsere sozialen Sicherungssysteme. 16 Millionen Menschen mit
Migrationshintergrund leben in Deutschland. Viele dieser
Bürgerinnen und Bürger sind gut ausgebildet, qualifiziert
und gut integriert, sogar hervorragend integriert. Nichtsdestotrotz sind es noch ein paar zu viel, deren Potenziale
brachliegen.
Das Anerkennungsgesetz ist nicht nur ein strukturell
bedeutendes Gesetz. Ich bin der Meinung, dass es durchaus das Label verdient, dass es in der Integrationspolitik
ein historischer Schritt ist.
({6})
Was wir vorschlagen, führt nicht dazu, dass das hohe Niveau der Abschlüsse in Deutschland - das war uns als
Unionsfraktion ein großes Anliegen - gesenkt wird. Wir
machen keine, wie Frau Sager es immer wieder eingefordert hat, individuelle Kompetenzfeststellung, bei der
man seitenweise hochkomplexes Material von Fachleuten bekommt, das kein Unternehmer beurteilen kann,
was letztendlich im Ergebnis dazu führt, dass unser hohes Qualitätsniveau in Deutschland gesenkt wird. Wir
vergleichen die vorhandenen Qualifikationen mit den
hohen deutschen Qualifikationen.
({7})
Das ist der Bewertungsmaßstab. Das ist er, und das
bleibt er, weil wir wollen, dass das hohe deutsche Niveau gehalten wird.
({8})
Das Anerkennungsgesetz ist darüber hinaus auch
handwerklich sehr gut gemacht.
({9})
Es ist keine banale Geschichte, sondern es ist ein hochkomplexes Gesetz und betrifft 60 Berufsgesetze und
Verordnungen - viele Ministerien sind involviert -, eine
Vielzahl von Berufsgruppen mit eigener Historie und eigenen Traditionen, 350 Ausbildungsberufe. Im Bereich
der Rechtsanwälte - das nur zur Erinnerung - soll das
Staatsangehörigkeitserfordernis gestrichen werden. Das
Beamtengesetz soll für Drittstaatler geöffnet werden.
Die Approbation soll von der Staatsangehörigkeit entkoppelt werden. Das alles sind tiefe Eingriffe in historisch gewachsene Strukturen und Traditionen.
({10})
Dass es viele Diskussionen braucht, dass es auch eine
intensive Abstimmung mit den Betroffenen braucht,
({11})
ist richtig und notwendig. Diese Arbeit hat das Ministerium, wie ich finde, in exzellenter und hervorragender
Weise gemacht.
({12})
Die Abstimmung mit den Ländern war sehr sachorientiert und in den allermeisten Bereichen einvernehmlich. Es gibt nur wenige Punkte, bei denen noch
grundsätzliche Fragen offen sind. Darüber hinaus gibt es
zu Detailregelungen, was das Operative und den Vollzug
betrifft, noch Gesprächsbedarf. Aber von den Grundsätzen her ist das Allermeiste inzwischen einvernehmlich.
({13})
Deswegen ein Dankeschön und Gratulation an Staatssekretär Braun, der mit seinen Mitarbeitern im Hause
wirklich eine intensive und exzellente Arbeit geleistet
hat.
({14})
Ein Dankeschön auch an die Kammern, die bei der
Umsetzung eine Schlüsselrolle spielen. Auf die Kammern kommt in den nächsten Monaten eine bedeutende
Aufgabe zu. Wir werden nichtsdestotrotz das komplexe
Werk im parlamentarischen Verfahren genau überprüfen.
Es gibt durchaus ernstzunehmende Anliegen der Berufsverbände. Dabei muss klar sein, dass es nicht um Gruppen, Partialinteressen und Willkür geht, sondern dass
faire, sachliche und nachvollziehbare Prinzipien im Vordergrund stehen.
Strittig ist beispielsweise die Frage der Defizitprüfung. Ist sie ausreichend, oder ist die Kenntnisprüfung
notwendig? Wir sind der Meinung, dass die Kenntnisprüfung faktisch eigentlich bedeutet, dass die Prüfung in
Deutschland noch einmal vollzogen werden müsste, wodurch im Grunde die Türen geschlossen werden. Darum
sollte die Defizitprüfung die Regel sein. Die Kenntnisprüfung darf nur die absolute Ausnahme bilden. Wir
werden uns insbesondere den Bereich der Heilberufe im
Hinblick darauf noch einmal genau anschauen.
({15})
Als letzten Aspekt nenne ich den Rechtsanspruch auf
Nachqualifizierung. Natürlich wird es Nachqualifizierungen geben. Der Bedarf wird vorhanden sein, wenn
der Abschluss nicht anerkannt ist. Bildungsträger wer13752
Albert Rupprecht ({16})
den entsprechende Angebote machen. Das ist zu erwarten, aber das wird sich automatisch regeln.
({17})
Die Frage ist, wer das Ganze bezahlt.
({18})
Hier gilt dasselbe, was für andere Bürger in Deutschland
auch gilt: Wer bedürftig ist, kann auf die laufenden Programme - beispielsweise der Arbeitsmarktpolitik - zugreifen.
({19})
Wer nicht bedürftig ist, muss die Kosten aus eigener Tasche zahlen. Eines geht aber nicht: dass wir für ausländische Bürger einen Rechtsanspruch kreieren, der für deutsche Bürger nicht gilt. Wer eine solche Forderung für
Ausländer erhebt, diskriminiert letztendlich Inländer.
Das ist mit uns nicht zu machen.
({20})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Den Rest heben wir uns auf für die zweite und die
dritte Lesung.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Damen und Herren! Herr Rupprecht, da
Sie sich ein bisschen über die viele Kritik beschwert haben, will ich zunächst einmal mit dem Positiven beginnen: Die Regierung hat bei diesem Thema Kurs gehalten. Ich nehme Ihnen durchaus ab, dass Sie sich ein
Berufsqualifikationsanerkennungsgesetz - sogar ein gutes - zum Ziel gesetzt haben. Dass Sie Kurs gehalten haben, ist, wie ich finde, bei dieser Regierung bemerkenswert, angesichts von Volten bei der EU-Politik und
Pirouetten in der Energiepolitik.
({0})
Darum lohnt es sich, das einmal positiv hervorzuheben,
zumal wir den Kurs auch unterstützen.
({1})
Wir brauchen endlich ein gutes Anerkennungsgesetz
für Menschen, die im Ausland Qualifikationen erlangt
haben: für die irakische Krankenschwester, die möglicherweise in Deutschland gerade putzt, für den Kfz-Mechatroniker, der möglicherweise Taxi fährt oder auf Sozialleistungen angewiesen ist.
Aber: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Ich kann
mich noch sehr gut erinnern, dass uns die zuständige
Ministerin, Frau Schavan, im Spätherbst 2009 versprochen hat: Noch vor dem Sommer legen wir ein Gesetz
vor. Damals habe ich gelernt, immer nachzufragen: Welchen Sommer meinen Sie bitte? Jetzt immerhin, vor dem
Sommer 2011, reden wir das erste Mal über ein
Berufsqualifikationsanerkennungsgesetz. Ich kann nur
sagen: Endlich.
Denn die Betroffenen - zwischen 300 000 und
500 000 im Land befindliche Menschen - und auch die
Unternehmen warten schon sehnlichst darauf. Sie haben
hohe Erwartungen geweckt, auch dadurch, dass Sie das
Ganze immer als Ihren Willen bekundet haben. Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf ebenfalls eher in der Größe
einer Schnecke ausgefallen. Das muss ich leider sagen.
({2})
Er bleibt eindeutig hinter Ihrem eigenen Punktepapier
zurück. Der Wirrwarr an Anlaufstellen bleibt erhalten.
Ich frage mich manchmal schon selbst, wer denn bei
welchem Berufsfeld der richtige Ansprechpartner ist.
Die Beratung der Personen, die ein Anerkennungsverfahren beantragen wollen, ist absolut ungenügend geregelt.
({3})
Es ist vollkommen unklar, wie Sie die Gleichwertigkeit von Verfahren erreichen wollen. Ein Beispiel ist das
Anerkennungsverfahren für einen Kfz-Mechatroniker in
Berlin oder in Bayern. Es ist nicht erkennbar, wie Sie die
Gleichwertigkeit erreichen und das Verfahren nicht zu
einer Lotterie werden lassen wollen,
({4})
wobei die Chance auf Anerkennung davon abhängt, wo
man wohnt. Vollkommen unklar ist auch, wer das Wissen sammelt. Wissensmanagement ist überhaupt kein
Thema in diesem Gesetzentwurf. Das klingt ganz einfach: Die eine Kammer sammelt Informationen über die
einen Berufe und die andere über die anderen. Wenn
man aber genauer hinschaut, stellt man fest, dass es sehr
viele Länder auf dieser Welt gibt, in denen Kfz-Mechatroniker ausgebildet werden. Die zuständige Kammer
muss wissen, was die berufliche Ausbildung in jedem
einzelnen Land beinhaltet, und zwar nicht nur heute,
sondern auch vor 5, 10 oder 15 Jahren.
({5})
Manche Länder gab es vor 15 Jahren noch gar nicht.
Daniela Kolbe ({6})
({7})
Das ist wirklich eine knifflige Aufgabe. Zum Thema
Wissensmanagement steht nichts im Gesetz. Von Ihnen
höre ich nur, dass das Wirtschaftsministerium Daten
sammeln soll. Ich finde, das ist ungenügend.
Größtes Problem ist aber die Prämisse, die hinter dem
Gesetzentwurf steht: Es darf nichts kosten. Ich glaube,
das wird an vielen Stellen ein Problem werden. Ich
greife ein Problem heraus: Viele Antragsteller werden
eine Gleichwertigkeitsbescheinigung nicht bekommen.
({8})
- Das habe ich in Gesprächen mit Fachleuten erfahren.
({9})
Ich bin jetzt einmal sehr optimistisch und sage: Jeder
Dritte bekommt eine Gleichwertigkeitsbescheinigung.
Wenn Sie sagen wollen, dass das mehr sind, dann melden Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage. Ich finde, ich
bin optimistisch, wenn ich von jedem Dritten ausgehe.
({10})
Das bedeutet, dass zwei Drittel der Antragsteller ohne
Gleichwertigkeitsanerkennung dastehen. Was ist mit denen? Sie sollen eine Anpassungsqualifizierung machen.
Wo finden die denn statt?
({11})
In Ihrem Fachkräftekonzept schreiben Sie: Verbesserte
Angebote für Anpassungs- und Ergänzungsqualifikationen zur vollen Arbeitsmarktintegration bei nur teilweise
nachgewiesenen Qualifikationen bilden eine Herausforderung, der sich alle stellen müssen. - Das Gesetz stellt
sich dieser Herausforderung aber überhaupt nicht. Wer
bezahlt das denn?
({12})
Wo kommen die Maßnahmen her? Wie ermöglicht man
es dem Taxifahrer, der entsprechend seiner Qualifikation
arbeiten will, seinen Lebensunterhalt in der Zeit der
Qualifikationsmaßnahme zu bestreiten? Wer bietet ihm
eine realistische Möglichkeit, die Qualifizierungsmaßnahme anzutreten? Ich sehe die große Gefahr, dass Sie
die Erwartungen, die Sie geweckt haben, enttäuschen
werden.
({13})
Die Schnecke ist auf dem richtigen Weg. Sie ist auch
in die richtige Richtung unterwegs. Wir freuen uns, dass
sie auf dem Weg ist. Ich glaube aber, dass noch viel zu
tun ist. Wir müssen die Schnecke anstupsen und sie ein
bisschen größer machen. Ich freue mich auf die Anhörung, die leider nur zwei Stunden dauern wird. Ich finde,
das ist dramatisch wenig, aber wir werden versuchen, Ihnen auf die Sprünge zu helfen und aus diesem Gesetzentwurf ein bisschen mehr herauszuholen.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6260 und 17/6271 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Zusatzpunkte 17 bis 19 auf:
ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Priska Hinz ({0}), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter sowie der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den Legislativvorschlägen der Europäischen Kommission „Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU“ ({1})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
Bundesregierung muss unverzüglich europäisch gestalten
- Drucksache 17/6316 ZP 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag für eine Verordnung ({3})
Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verordnung ({4}) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem
übermäßigen Defizit
- Ratsdok.-Nr. 14496/10 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten
- Ratsdok.-Nr. 14497/10 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
- Ratsdok.-Nr. 14498/10 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({5}) Nr. 1466/97 über
den Ausbau der haushaltspolitischen Überwa13754
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
chung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken
- Ratsdok.-Nr. 14520/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/5904, 17/6168 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({6})
Otto Fricke
Roland Claus
Priska Hinz ({7})
ZP 19 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über
Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur
übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet ({9})
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ({10})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/5905, 17/6175 Berichterstattung:
Abgeordneter Garrelt Duin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wir Grüne beantragen heute, dass die
Bundesregierung den Weg freimacht. Das ist ein bisschen ungewöhnlich. Normalerweise wirft man uns vor,
die Dagegen-Partei zu sein. In dieser historischen Situation, in der die Europäische Union eine kleine Revolution machen will - so beschrieben es manche Publizisten
letztes Jahr -, indem sie einen Schritt in Richtung einer
stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung geht,
wodurch wir Europa gemeinsam voranbringen können,
sind die Rollen plötzlich vertauscht. Auf dieser Seite des
Hauses sitzen die Dagegen-Koalition und die DagegenRegierung.
({0})
Worum geht es? Ein Jahr lang habe ich von Ihnen gehört - das haben Sie auch mehrfach beschlossen -, dass
Sie bei Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt automatische Sanktionen wollen. Sie wollen die
quasi-automatische Mehrheit. All diese Punkte höre ich
von Ihnen seit einem Jahr. Sie haben Ihre Regierung
dazu aufgefordert. Doch was ist vor zwei Wochen passiert? Die Bundeskanzlerin kam von einem Treffen mit
Herrn Sarkozy wieder, auf dem sie genau diesen Punkt
eingestampft hat, und zwar nicht, weil alle in Europa dagegen wären. Das Europäische Parlament hat darauf gedrungen, diese Stärkung des Stabilitätspaktes zu bekommen, die von Deutschland jetzt in den Orkus geschüttet
wird. Verkehrte Welt!
({1})
Mit welcher Begründung machen Sie das? Sie erklären uns: Wir müssen verhindern, dass in der künftigen
Wirtschaftsregierung bei den Indikatoren im sogenannten Scoreboard ein symmetrischer Ansatz herrscht,
({2})
ansonsten würde Europa Deutschland die Exportkraft
rauben und - böse, böse - dafür sorgen, dass unser Aufschwung nicht mehr stattfindet. Sie haben mit diesem
Thema einen Popanz aufgeblasen.
({3})
Glauben Sie wirklich, dass die Europäische Kommission
kein Interesse daran hat, dass sich Deutschland wirtschaftlich verbessert? Oder haben Sie Angst, dass die
Europäische Kommission aufschreibt, wo auch Deutschland noch besser werden kann, und versucht, dies einzufordern, damit wir in ganz Europa endlich zu ausgeglichenen Leistungsbilanzen kommen? Diesen Popanz
haben Sie aufgeblasen. Jetzt verticken Sie das deutsche
Interesse an einem stärkeren Stabilitäts- und Wachstumspakt, um einen Popanz zu retten. Das ist wirklich ein
schwaches Stück dieser Dagegen-Regierung.
({4})
Dieses Thema ist aber auch eine Gelegenheit, über Ihren Stil zu reden. Das Europäische Parlament hat sich
auf eine Position verständigt. Das Europäische Parlament hat Vorschläge vorgelegt, um die umgekehrte
Mehrheit und die Symmetrie zu erreichen. Der Rat hat
sich auf etwas verständigt. Verschiedene Positionen im
Rat sind ausgehandelt worden. Alle in Europa, das Europäische Parlament mit dem ganzen Haus und der Rat unter ungarischer Ratspräsidentschaft mit allen anderen
Staaten, haben sich auf einen Deal geeinigt, der jedem
etwas gibt, aber auch jeden etwas kostet.
Dann kommt die Bundesregierung mit der Haltung:
Ganz oder gar nicht, wir kriegen alles, sonst machen wir
nichts. Dies machen Sie, obwohl Sie genau wissen, wie
wichtig in der jetzigen Situation eine Stärkung der wirtschaftspolitischen Überwachung und des Stabilitäts- und
Wachstumspakts ist. Mit dieser Art, hinter der sich wieder Ihre Unionsmethode versteckt, verhindern Sie Lösungen in der Europäischen Union. So funktioniert
Europa nicht.
({5})
In unserem Antrag geht es nicht darum, dass Sie gegen die Prüfung in Bezug auf Euro-Bonds und gegen die
Einführung eines delegierten Rechtsaktes waren; es geht
nicht um alles, bei dem Sie dagegen waren. Es geht um
die zwei entscheidenden Punkte, die jetzt noch auf dem
Tisch liegen. Gerade meine Kollegen von der FDP werden zumindest einem dieser Punkte zustimmen müssen;
denn im Moment droht es gerade Ihrer Fraktion im Europäischen Parlament, von dieser Regierung an der Nase
herumgeführt zu werden.
Seit einem Jahr rennen Sie mit Forderungen herum.
Sie beschließen diese mehrfach hier im Haus. Jetzt
plötzlich werden von der Regierung rechtliche Bedenken
vorgetragen. Geben Sie es einfach zu: Die Dagegen-Regierung hat es verditscht und möchte das hier nicht zugeben. So funktioniert das nicht.
Danke sehr.
({6})
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als ich den Antrag der Grünen „Bundesregierung muss unverzüglich europäisch gestalten“ las,
habe ich mich sehr gewundert. Der Antrag ist in einer
Sprache geschrieben, die nicht unbedingt an ein Dokument des Deutschen Parlamentes erinnert.
({0})
Es scheint so, als wollten Sie um Ihren Antrag unbedingt
einen Popanz aufbauen; aber darauf möchte ich jetzt
nicht näher eingehen.
Zum Inhalt: In Ihrem Antrag behaupten Sie, die Bundesregierung würde die haushalts- und wirtschaftspolitische Steuerung in der EU blockieren. Sie kritisieren
- das haben Sie jetzt noch einmal deutlich dargelegt die von der Bundesregierung vertretene Auffassung zur
wirtschaftspolitischen Überwachung. Es ist schon abenteuerlich, wenn Sie der Bundesregierung Verzögerung
bei der Durchsetzung von Maßnahmen des Stabilitätsund Wachstumspaktes vorwerfen. Das Legislativpaket
der Kommission zur Stärkung des Wachstumspaktes,
welches Sie in Ihrem Antrag ansprechen, also das sogenannte Sixpack, wurde auf dem Europäischen Rat im
März 2011 bestätigt mit der Zielrichtung, auf dieser Basis die Gespräche mit dem EU-Parlament zu beginnen.
Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Nun zu dem Sixpack, das Deutschland unmittelbar
am stärksten betrifft. Ich finde es schon grob fahrlässig,
mit welcher Lässigkeit Sie darüber sprechen.
Die wirtschaftlichen Probleme in den Staaten der südeuropäischen Euro-Länder, aber auch in manchen NichtEuro-Ländern der EU haben vor allem eine Ursache: die
mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft. Diese fehlende Wettbewerbsfähigkeit bedeutet,
dass der Staat zu wenig Steuereinnahmen bei gleichzeitig zu hohen Ausgaben für soziale Sicherung und Arbeitslosigkeit hat. Dies führt zu hoher Staatsverschuldung.
Die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit kann man
an vielen Kriterien festmachen, zum Beispiel am Anteil
der Industriearbeitsplätze, am Anteil der Privatwirtschaft
am Bruttonationaleinkommen, an der Qualität der Infrastruktur, am Bildungswesen, aber auch an der Leistungsbilanz, also Exporte minus Importe. Die südeuropäischen
Länder sind von einem hohen Leistungsbilanzdefizit gekennzeichnet. Deutschland wiederum hat aufgrund seines starken Exportes einen hohen Leistungsbilanzüberschuss. Will man die Krise in den südeuropäischen
Staaten überwinden, so muss die Wettbewerbsfähigkeit
dieser Staaten gestärkt werden. Die Bundesregierung
vertritt hierzu die klare Auffassung, dass der asymmetrische Ansatz gewählt werden muss. Dieser Ansatz wurde
auch auf dem Europäischen Rat vom März dieses Jahres
bestätigt.
Was bedeutet nun der asymmetrische Ansatz? Eine
wirksame Koordinierung der Wirtschaftspolitik muss
sich an den Besten orientieren und nicht an den Schlechtesten. Die Gesamtheit wird nicht besser, wenn die wirtschaftlich stärkeren Länder schwächer werden.
({1})
Ich bitte Sie, das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Dann verbessert sich nämlich für die schwächeren Länder nichts, rein gar nichts. Das wäre ungefähr so, als
wenn Sie den beiden deutschen Fußballnationalmannschaften vorschlagen würden, sie sollten Birgit Prinz
und Philipp Lahm aus der Mannschaft herausnehmen,
dann gehe es den Mannschaften anderer Länder besser.
Das kann es nicht sein.
({3})
Der sogenannte symmetrische Ansatz, der im Antrag
der Grünen vorgeschlagen wird, wird daher von der
Bundesregierung zu Recht abgelehnt.
({4})
Dieser Ansatz würde eine Schwächung der EU insgesamt bedeuten, wenn ein Teil der Staaten sich auf einem
niedrigeren wirtschaftlichen Niveau befindet.
Ich wiederhole: keine Nivellierung der Wettbewerbsfähigkeit von Staaten, sondern Orientierung an der Wettbewerbsfähigkeit der Besten. Sie können doch nicht
ernsthaft wollen, dass die Wirtschaft in Deutschland
schwächer wird. Wollen Sie das den Menschen sagen?
Und wollen Sie vielleicht noch hinzufügen: „Verliert
möglichst in Deutschland eure Arbeitsplätze“?
Übrigens: Vor einigen Wochen haben sich im Handelsblatt zwölf namhafte Professoren zur aktuellen
Europapolitik unter dem Titel „Zwölf gegen Merkel“
geäußert. Dem Titel können Sie entnehmen, dass die
Wissenschaftler der Bundesregierung nicht unbedingt
freundlich gesonnen waren. Einer der Professoren aber
stellte Folgendes fest:
Da es keine schlechten Standorte gibt, sondern nur
falsche Wirtschaftsstrukturen, sind solche Faktoren
zu analysieren, die Fehlanpassungen begünstigen.
Viele
- insbesondere die Grünen; das gehört allerdings nicht
zum Zitat ({5})
fixieren sich auf außenwirtschaftliche Ungleichgewichte. Aber: Außenhandelsüberschüsse sind auch
Ausdruck von Arbeitsteilung und Entwicklungsstatus. Gleiches gilt für Sparquoten …
Deutschland ist nun einmal ein hochtechnisiertes Exportland. Die Regierungsfraktionen setzen sich dafür
ein, dass dies auch so bleibt. Deutschland kann strukturell in einer globalisierten Welt durchaus weiterhin einen
Leistungsbilanzüberschuss haben.
({6})
- Doch.
({7})
Und nun zu den Anträgen der Linken. Diese Anträge
wenden sich gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt
an sich. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn es Probleme
gibt, muss man sich mit den Ursachen auseinandersetzen. Unsolide Haushaltspolitik und fehlende Wettbewerbsfähigkeit sind die Ursachen der Verschuldung von
Staaten. Folglich müssen diese Ursachen beseitigt werden. Das wird aber nur gelingen durch solide Haushaltspolitik, gepaart mit Maßnahmen zur Verbesserung der
Wettbewerbsfähigkeit. Schließlich heißt es ja „Stabilitäts- und Wachstumspakt“, beides ist genannt. Dazu gehören auch ein wettbewerbsfähiges Lohnniveau und gute
Rahmenbedingungen, damit die Löhne entsprechend
steigen können.
Die Einführung der Schuldenbremse hat sich in
Deutschland bewährt. Sie sollte auch in den Verfassungen anderer Länder verankert werden. Ich finde es kontraproduktiv, dass Sie hier zentrale Forderungen, die die
Bundesregierung in Brüssel durchgesetzt hat, torpedieren. Hören Sie auf, Forderungen zu stellen, die nicht im
Interesse unserer Bürger sind! Nur eine florierende Wirtschaft in Deutschland und Europa ist Garantie für Wohlstand. Nur eine starke deutsche Wirtschaft bedeutet
Chancen für die Menschen und soziale Sicherheit.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Michael Roth für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
scheint seitens der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen kein gesteigertes Interesse daran zu geben, öffentlich über Europa zu debattieren.
({0})
Das haben wir in der jüngsten Vergangenheit allzu oft erlebt.
({1})
Insofern bin ich den Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen für ihren Antrag ausgesprochen dankbar.
({2})
In Sonntagsreden spielt die Wirtschaftskoordination
eine ganz zentrale Rolle. Es dürfte keinen Politiker und
keine Politikerin geben, der bzw. die nicht immer wieder
sagt: Jetzt müsste koordiniert werden; das ist überfällig.
Wie es konkret in der Praxis ausschaut, darüber wird
aber zu Recht gestritten. Dass Sie das nicht gerne hören,
weiß ich. Dennoch sollte man Ihnen den einen oder anderen Hinweis ins Stammbuch schreiben.
({3})
Die Krise ist sicherlich maßgeblich verursacht durch
eine unzureichende, nicht vorhandene Regulierung bzw.
Kontrolle unserer Finanzmärkte. Die Ursachen finden
sich aber auch in fehlender Koordination der Wirtschafts-, der Haushalts-, der Finanz- und der Sozialpolitik. Das greift tief in nationale Souveränitäten ein. Deswegen ist es gut, dass wir diese Diskussion heute hier im
Bundestag führen, auch wenn ich sie mir zu einer etwas
attraktiveren Zeit gewünscht hätte.
Der Ansatz der Kommission, das sogenannte Sixpack
bzw. die Rehn-Vorschläge, ist im Grundsatz richtig.
Aber eine alleinige Verschärfung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes führt doch in die Irre. Ich bitte Sie,
Frau Kudla, und Ihre Kolleginnen und Kollegen um ein
Stück mehr Realitätssinn. Die gegenwärtige Krise, die
Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union, hat
nicht in allen Mitgliedstaaten mit einer Infragestellung
des Stabilitäts- und Wachstumspaketes zu tun. Das trifft
Michael Roth ({4})
auf Griechenland sicher zu. Schauen Sie sich aber einmal die Situation in Irland an; dort hat man eine FDPPolitik in Reinkultur betrieben. Schauen Sie sich einmal
die Situation in Portugal oder Spanien an; dort hat man
auf dem Weg der Haushaltskonsolidierung gute Fortschritte erzielt. Diese Länder hatten eine niedrigere Verschuldungsrate als beispielsweise die Bundesrepublik
Deutschland.
Wenn Sie sich die Situation in der Bundesrepublik
Deutschland vor Augen führen und sich fragen, warum
die Verschuldung in Deutschland gerade in der jüngsten
Vergangenheit massiv zugenommen hat - das werfe ich
Ihnen gar nicht vor, auch wenn Sie zumindest in der
Großen Koalition daran beteiligt waren -, stellen Sie
fest: Wir haben die Krise durch massive öffentliche Investitionen zu schultern versucht. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind wir
halbwegs erfolgreich aus der Krise gekommen.
({5})
Jetzt immer zu behaupten, Schulden seien per se von
Übel, ist doch völliger Blödsinn.
Der Ansatz, den meine Fraktion und unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament fahren, ist
genau der richtige. Wir müssen endlich differenzieren:
Investitionen in überflüssige und überbordende Bürokratie sind der falsche Weg. Aber nachhaltige Investitionen
in erneuerbare Energien, in Forschung und in Innovationen sind in Griechenland genauso nötig wie in Spanien,
in Portugal, in Irland und in Deutschland. Das war einer
der wesentlichen Ansätze, die vom Europäischen Parlament verfolgt worden sind und die von Ihnen - ich kann
niemanden direkt ansprechen, weil seitens der Bundesregierung heute niemand da ist ({6})
bzw. von der Bundesregierung beharrlich blockiert worden sind. Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung.
Dass Sie seitens der CDU/CSU und der FDP sich dieser
Erkenntnis wieder verweigern, irritiert mich schon.
Denn ich habe in Ihren jüngsten Anträgen zumindest ab
und zu mal gelesen, dass auch Sie dafür und der Meinung sind, dass reines Sparen um des Sparens willen die
Länder nicht aus der Krise führt, sondern dass wir auch
Wachstum, Beschäftigungsimpulse sowie nachhaltige
Investitionen brauchen. Hier haben Sie offenkundig
nichts dazugelernt.
({7})
Wir stellen uns ganz selbstbewusst dem symmetrischen Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Ich
weiß natürlich, dass Ihnen das nicht passt. Ideologisch
ist das für Sie Gift. Denn es geht doch nicht allen Ernstes
darum, dass wir, die wir einen symmetrischen Abbau der
Ungleichgewichte einfordern, die deutschen Exporte
vermindern wollen. Wir müssen uns aber selber fragen:
Inwieweit haben wir einen Beitrag dazu geleistet, dass
die Bilanzen in vielen Mitgliedstaaten so aussehen, wie
sie aussehen? Es besteht also nicht nur ein Auftrag zum
Handeln in den Ländern, die ein Defizit haben, sondern
auch bei denjenigen, die einen Überschuss aufweisen.
Das bedeutet für uns gesetzlich vorgeschriebene Mindestlöhne in allen Branchen. Weiter heißt das für uns, die
Binnennachfrage anzukurbeln.
({8})
Mit überholter Ideologie hat das überhaupt nichts zu tun,
zumal wir das zu Recht immer wieder innenpolitisch
einfordern. Es hat aber eben auch Auswirkungen auf die
gesamte Europäische Union. So viel Solidarität sollte
man zumindest von Ihnen erwarten können - gerade
auch angesichts der Tatsache, dass Sie ebenso wie wir
dafür eintreten, unsere Arbeitsmärkte zu öffnen und Arbeitnehmerfreizügigkeit walten zu lassen. Das muss sozial flankiert werden. Mindestlöhne sind da ein wichtiger Aspekt.
({9})
Ebenso begrüßen wir, dass die liberale Europaabgeordnete Sylvie Goulard ebenso wie wir konditionierte
Euro-Bonds einfordert. In der Europäischen Union brauchen wir konditionierte Gemeinschaftsanleihen. Auch
das ist eine Forderung, die von der Bundesregierung
brüsk abgelehnt worden ist.
({10})
In all dem zeigt sich wieder einmal, dass die Europapolitik der Bundeskanzlerin bzw. dieser Regierung kläglich gescheitert ist. Es ist heute noch nicht abzusehen,
wie groß die Kollateralschäden in der Europäischen
Union sind, die diese Regierung und Sie zu verantworten
haben. Die Methoden der Bundeskanzlerin - das wird
auch angesichts der Verhandlungen im Rahmen des Sixpacks eindrücklich deutlich - sind ganz einfach geprägt:
Frau Merkel spaltet die Europäische Union, indem sie
die südeuropäischen Länder beschimpft und die Klischees und Vorurteile des Boulevards bedient. Sie sorgt
nicht mehr für Partnerschaft, Kooperation und gegenseitiges Vertrauen, sondern haut erst einmal so richtig auf
die anderen drauf. Wir brüskieren die Luxemburger bzw.
die Partnerstaaten. Dann beschweren wir uns darüber,
dass wir in der Europäischen Union nicht gemeinsam
vorankommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Silberhorn?
Bitte schön.
Herr Kollege Roth, Sie treten zum wiederholten Male
für Euro-Bonds ein. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie unter Euro-Bonds Anleihen verstehen, die sich von den
bisherigen Finanzhilfen, die die Mitgliedstaaten der
Euro-Zone gewähren, dadurch unterscheiden, dass die
Geberländer nicht anteilig haften, sondern dass eine gesamtschuldnerische Haftung besteht, dass also jeder einzelne Mitgliedstaat eine Garantie für die gesamte Kredit13758
summe übernimmt? Wenn dies der Fall ist: Glauben Sie,
dass Sie die Öffentlichkeit davon überzeugen können?
Denn mit Euro-Bonds würde ein Modell eingeführt, bei
dem sich Solidarität als Einbahnstraße darstellt. Weshalb
wehren Sie sich dagegen, dass jeder, der zu einem Kredit
beiträgt, anteilig haftet, sodass sich nicht der eine auf
den anderen verlässt, sondern jeder, der gibt, weiß, worauf er sich einlässt?
Lieber Herr Kollege Silberhorn, wenn die bisherige
Krisenbewältigungspolitik in der Europäischen Union
große Erfolge gezeitigt hätte, könnte ich Ihre Bedenkenträgerei noch verstehen. Wie sieht es aber aus? Die
Wahrheit ist: Ihre Regierung hat bislang alle Vorschläge,
die auf den Tisch gelegt wurden, brüsk abgelehnt. Sie
hat sich anfänglich gegen jegliche solidarische Hilfe für
andere Länder ausgesprochen. Die Hilfe kam. Sie hat
sich gegen einen Rettungsschirm ausgesprochen. Der
Rettungsschirm kam. Sie hat sich für eine Befristung des
Rettungsschirms ausgesprochen. Die Entfristung wird
mit dem ESM sehr wahrscheinlich kommen, es sei denn,
Sie erklären uns, dass Sie dem nicht zustimmen wollen.
Nichts hat gefruchtet. Nun haben wir es abermals mit einem Rettungspaket für Griechenland zu tun, obwohl Ihre
Regierung erklärt hat, dass es das letzte gewesen sei und
dass man eine klare Strategie verfolgen würde, um aus
der Krise herauszukommen.
Es ist niemandem zu verdenken, angesichts des
Scheiterns der bisherigen Krisenstrategien über neue
Wege nachzudenken. In meiner Fraktion und unter den
Befürworterinnen und Befürwortern von Gemeinschaftsanleihen ist niemand dabei, der nicht auch der Meinung
ist, dass Staaten wie Deutschland einen Beitrag zu leisten haben. Selbstverständlich muss Deutschland einen
Beitrag leisten. Wir helfen den Staaten, die in eine Krise
geraten sind, unter bestimmten Bedingungen nachhaltig,
weil wir deren Refinanzierungschancen massiv erhöhen.
Selbstverständlich zahlen auch wir einen Preis. Den
Preis zahlen wir jedoch so oder so. Wir zahlen ihn auch
jetzt schon für die Problembewältigung in Griechenland.
Sie können den Bürgerinnen und Bürgern nicht ständig
einreden, dass das, was sich derzeit in der Europäischen
Union abspielt, ohne solidarische Beiträge auch aus
Deutschland zu richten ist.
({0})
Diese Ehrlichkeit erwarte ich von Ihnen. Sie können
nicht einfach auf kleinkarierte Weise sagen: Gemeinschaftsanleihen sind eine Solidarität der Einbahnstraße.
Nein, sie sind eine Solidarität der Zweibahnstraßen. Dafür steht meine Fraktion. Ich hoffe, dass wir Sie irgendwann noch davon überzeugen können.
({1})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei weitere
Punkte erwähnen: Wir sind davon überzeugt, dass der
Weg der Renationalisierung, der von Frau Bundeskanzlerin Merkel maßgeblich zu verantworten ist, in die Irre
führt. Es gibt nun eine neue Methode, und zwar die
Unionsmethode. Diese führt dazu, dass die Staats- und
Regierungschefs immer mehr Verantwortung bekommen
und dass Gemeinschaftsinstitutionen geschwächt werden. Auch an dieser Stelle sehe ich keinen substanziellen
Erfolg, der mit dem Namen dieser Regierung verbunden
ist.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Zum Schluss möchte ich auf die Merkel’sche Methode der Beliebigkeit nochmals zu sprechen kommen.
Sie lehnen erst einmal alles brüsk ab. Sie legen sich mit
jedem Partner an. Dann wird es über den Hinterhof aber
doch so gemacht, wie Sie es immer abgelehnt haben. Ich
bin mir sicher: In Ihrem tiefen Inneren sind Sie der Überzeugung, dass das der falsche Weg ist. Heute wäre Ihre
Chance gewesen, deutlich zu machen, dass Sie bereit
sind, gemeinsam mit uns einen anderen und besseren
Weg für die Europäerinnen und Europäer zu suchen und
zu finden. Leider haben Sie diese Chance nicht ergriffen.
Vielen Dank und ein schönes Wochenende.
({0})
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
befinden uns inmitten einer schweren Schuldenkrise.
Wir mussten für drei Euro-Länder Rettungspakete
schnüren. Wir mussten Hilfe zur Selbsthilfe leisten, weil
europäische Regeln nicht durchgesetzt werden konnten
oder sich Länder nicht an Regeln gehalten haben. Wir
haben also nicht zu wenig Europa, sondern brauchen ein
stärkeres Europa. Wir brauchen einen stärkeren Stabilitätspakt. Wir müssen die Gemeinschaftsinstitutionen
stärken. Denn nur ein starkes Europa kann künftig Krisen verhindern.
Vor allem müssen die Mitgliedstaaten der Verantwortung nachkommen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Das ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Im Falle Griechenlands heißt das, dass die Versprechungen nach den
erfolgreichen Abstimmungen im Parlament auch umgesetzt werden müssen. Das gilt insbesondere im Hinblick
auf die Privatisierung. Ich möchte hier auch ausdrücklich den griechischen Premierminister Papandreou loben, der mit der parlamentarischen Zustimmung zu
weiteren Reformen den ungeordneten Staatsbankrott
Griechenlands verhindert hat. Damit wurden Deutschland und auch Europa vor einer schweren Krise bewahrt.
Das verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung.
({0})
Wir ziehen zwei Schlussfolgerungen aus der Staatsschuldenkrise. Wir brauchen ein stärkeres Europa. RetOliver Luksic
tungspakete darf es nur in äußersten Notfällen, also als
Ultima Ratio, geben. Sie dürfen nicht zum Dauerzustand
werden, sie erkaufen nämlich nur Zeit, um die Ursachen
der Probleme anzugehen. Dafür ist in der Tat entscheidend, dass die Haushalts- und Wirtschaftspolitik in
Europa schon früher überwacht und, wenn nötig, korrigiert wird.
Um dies zu erreichen, hat die Kommission sechs Gesetzgebungsvorschläge zur Stärkung des Stabilitätspaktes und zur makroökonomischen Überwachung vorgelegt. Die FDP-Bundestagsfraktion ist überzeugt, dass die
Rehn-Vorschläge in die richtige Richtung gehen. Jetzt
geht es darum, auf europäischer Ebene einen Kompromiss zu finden, damit es nicht mehr zu Rettungspaketen
kommen muss; denn klar ist: Je länger die Politik in die
falsche Richtung läuft, je länger Reformen verschlafen
und je länger zu hohe Schulden gemacht werden, desto
teurer wird es am Ende.
Um eine wirksame Prävention zu erreichen, müssen
die Gemeinschaftsinstitutionen gestärkt werden. Die
Sanktionierung von Fehlverhalten muss weitestgehend
entpolitisiert werden, also aus der Hand der Mitgliedstaaten genommen werden; denn sonst bleiben die Täter
ihre eigenen Wächter. Der Kompromiss von Deauville
darf nicht das letzte Wort bleiben. Wir brauchen weitgehend automatisierte und weiter als bisher gehende in
Brüssel verhandelte Sanktionen
({1})
gegen die Staaten, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen. Wir brauchen einen neuen Stabilitätspakt. Ich setze
darauf, dass das Europäische Parlament einiges in diese
Richtung durchsetzen wird.
Noch wichtiger als die institutionellen Verfahren in
Brüssel sind strukturelle Reformen in den Mitgliedstaaten. Die geforderte vernünftige makroökonomische Koordinierung besteht gerade darin, die Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedstaaten zu stärken. Ich kann nur
wiederholen, was Frau Kudla gesagt hat: Deutschlands
Leistungsbilanzüberschüsse sind nicht schuld an den Defiziten anderer Mitgliedstaaten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegin Sarrazin?
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Luksic, ist die FDP-Bundestagsfraktion dafür, dass sich die Liberalen im Europaparlament mit ihrer Forderung nach einer umgekehrten Mehrheit zur Einleitung des Verfahrens im präventiven Arm
des Stabilitätspakts durchsetzen? Wenn Sie einen Kompromiss eingehen wollen, dann kann ich Ihnen sagen: Es
gibt in Europa keinen mehr, der gegen diese Position ist,
außer der von Ihnen getragene Bundesregierung. Deswegen sagen Sie doch einfach: Teilen Sie die Position oder
nicht?
Lieber Kollege Sarrazin, wir teilen diese Position.
Wir setzen auf das Europäische Parlament, dass diese
wichtige Forderung nicht nur im reaktiven, sondern auch
so weit wie möglich im präventiven Arm durchgesetzt
wird.
Es freut mich, dass Sie sich in dieser Sache so engagieren.
({0})
Ich hätte mir Ihr Engagement auch bei der Enthaltung
zum Euro-Rettungsschirm gewünscht. In dieser wichtigen Stunde haben Sie sich leider enthalten.
({1})
Das war daneben.
({2})
Ihr Problem mit Leistungsbilanzüberschüssen ist,
dass Sie eine staatsfixierte Weltsicht zugrunde legen. Es
ist nicht die Bundesregierung oder der Staat, der festlegt,
welches Modell wir haben, sondern es sind Unternehmen, Arbeitnehmer und Konsumenten in Deutschland,
die über unsere Wirtschaftsstruktur entscheiden. In dieser Hinsicht haben Sie leider ein grundsätzliches Problem in Ihrem Verständnis. 2010 gingen gerade einmal
0,6 Prozent unseres Exports nach Griechenland. Das
Problem in Griechenland wäre nicht gelöst, wenn statt
deutschen italienische, russische oder chinesische Produkte importiert würden.
Der symmetrische Ansatz, den Sie fordern, hilft bei
der Bewältigung der Problemursachen nicht. Er lindert
nicht einmal die Symptome.
({3})
Unser asymmetrischer Ansatz bedeutet, dass wir uns an
den Besten in der Welt und nicht an den Schwächsten in
Europa orientieren. Kurzum: Ihre Forderung nach einem
symmetrischen Ansatz in der wirtschaftspolitischen Koordinierung bedeutet, Leistungsbilanzüberschüsse abzubauen - da sind Sie sich, von den Grünen bis zur Linkspartei, einig -, aber ich kann Ihnen sagen: Ein Programm
zum Abbau deutscher Exporte und damit zum Abbau
deutscher Arbeitsplätze wird unsere Koalition nicht mitmachen.
({4})
Im Antrag der Grünen heißt es:
Europa ist kein Durchboxen von Mindermeinungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die Bundesregierung hat die Beteiligung privater Gläubiger im
ESM-Vertrag verankert.
({5})
Die CACs kommen. Auch beim Thema der Beteiligung
privater Gläubiger an einem weiteren Griechenlandpaket
gibt es Bewegung. Nach Ihrem Antrag hätten wir das zugunsten der Mehrheitsmeinung aufgeben müssen. Es ist
gut, dass die Bundesregierung die Minderheitenmeinung
in Europa durchgesetzt hat. Das ist gut für Deutschland
und für den Euro-Raum.
Wenn Sie am Verhandlungstisch säßen, würden Sie
den Krisenländern die notwendigen Reformen ersparen.
({6})
Eine Einsetzung von Euro-Bonds bedeutet, Geld zu verleihen, ohne die notwendigen Anpassungsprogramme zu
berücksichtigen. Das hilft weder beim Schuldenabbau
noch beim Thema Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.
Wir setzen auf Fordern und Fördern, auf Hilfe zur
Selbsthilfe.
Es geht eben nicht, wie Sie es suggerieren, um deutsche Interessen, sondern es geht um die richtigen ordnungspolitischen Regeln für Europa und für einen stabilen Euro. Deswegen wollen wir die EU und den
Stabilitätspakt jetzt stärken. Wir wollen mehr und nicht
weniger Kontrolle durch die Europäische Kommission
und das Europäische Parlament. Die Mitgliedstaaten
müssen notwendige Reformen umsetzen, statt auf Brüssel zu verweisen.
Ihr Ansatz wäre nicht im deutschen Interesse und
schlecht für Europa. Es ist gut, dass die Bundesregierung
ihre Position offensiv einbringt und durchsetzt, wie beim
Thema Gläubigerbeteiligung. Die Gestaltungskraft der
Grünen haben wir bei Ihrer Enthaltung zum Rettungsschirm leider vor Augen geführt bekommen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Michael Schlecht für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es steht
schlecht um Europa,
({0})
solange die beiden Fraktionen des Deutschen Bundestages, die die Regierung bilden, die Mehrheit haben; denn
Sie haben Ansichten, die auf die Zerstörung des europäischen Integrationsprozesses hinauslaufen.
({1})
- Ich erkläre Ihnen das. Bleiben Sie doch ganz ruhig. Sie
können etwas lernen, wenn Sie hier zuhören.
({2})
Ihre Position, die Sie hier jetzt mehrfach vorgetragen
haben, ist, dass die Außenhandelsungleichgewichte, die
Leistungsbilanzüberschüsse, überhaupt kein Problem
sind und dass dies eine vermeintliche Stärke Deutschlands ist. Das ist ein großer Irrtum. In diesem Punkt besteht eine große Differenz.
Wenn man alle Außenhandelsüberschüsse Deutschlands der letzten zehn Jahren aufaddiert - es hat ja immer Überschüsse gegeben -, dann erhält man eine
Summe in der Größenordnung von 1,2 Billionen Euro.
Diese 1,2 Billionen Euro Außenhandelsüberschuss sind
und waren nur möglich, weil es auf der anderen Seite
Länder gibt, die Außenhandelsdefizite in entsprechender
Größenordnung haben, das heißt im Klartext, sich verschulden mussten. Da Deutschland gut 60 Prozent seines
Außenhandels mit seinen europäischen Partnerländern
betreibt, ist klar, dass sich die Außenhandelsüberschüsse
Deutschlands vor allen Dingen in einer zunehmenden
Verschuldung dieser Länder widerspiegeln. Der Überschuss in Deutschland findet sich also spiegelbildlich in
dieser Verschuldung wieder. Insofern muss die Verschuldung in diesen Ländern - sei es in Griechenland, Portugal oder wo auch immer - immer in einem inneren
Zusammenhang mit der deutschen Wirtschaftspolitik gesehen werden. Es kommt also gerade hier von Deutschland aus zu einer Verschärfung dieses Problems.
Die spannende Frage ist natürlich, warum es diesen
Außenhandelsüberschuss überhaupt gibt. Der zentrale
Indikator für die internationale Wettbewerbsfähigkeit
- Frau Kudla, ein paar Indikatoren haben Sie ja aufgeführt -, nämlich die Lohnstückkosten, hat mir bei der
Betrachtung hier bisher gefehlt. Die Produktivitätsentwicklung und die Lohnentwicklung werden quasi in diesem Indikator zusammengefasst.
({3})
Den Außenhandelsüberschuss gibt es, weil die Lohnstückkosten in Deutschland in den letzten zehn Jahren
gerade einmal um 6 Prozent gestiegen sind, während sie
in allen anderen europäischen Ländern um 20 bis 30 Prozent gestiegen sind.
Hier in Deutschland haben die Unternehmer also
durch diese sehr schwache Steigerung der Lohnstückkosten einen ganz dramatischen Wettbewerbsvorteil gehabt.
({4})
Die Ursache dafür liegt darin - das ist eigentlich der
größte Skandal, den man benennen kann -, dass die
Reallöhne in Deutschland in den letzten zehn Jahren um
4,5 Prozent gesunken sind. Das ist der zentrale Skandal,
der hier zu einer massiven Ungerechtigkeit geführt hat.
({5})
Dieser Skandal führte eben auch dazu, dass sich die
anderen Länder aufgrund dieser - ich sage es einmal so ungeordneten Wettbewerbsvorteile und vor allem der
Schwächung der Binnennachfrage hier am Ende massiv
verschuldet haben. Das Lohndumping in Deutschland ist
nicht nur dadurch bedingt, weil es keinen Mindestlohn
gibt, sondern vor allen Dingen durch die Agenda 2010,
durch den Lohndumpingmechanismus in Form von Befristung, Leiharbeit, Minijobs und dem Arbeitslosengeld II,
also Hartz IV. Das ist sozusagen die Ursache für diesen
Prozess. Dafür trägt Rot-Grün große Verantwortung. Das
sind die entscheidenden Ursachen für die jetzige Situation.
Eines muss man ganz klar sagen: Wenn Europa gerettet werden soll, dann brauchen wir in Deutschland eine
Umkehr dieser Entwicklung. Wir müssen wieder hin zu
einer ganz anderen Lohnentwicklung kommen. Dies erreichen wir nur, wenn die Agenda 2010 stückchenweise
auf eine vernünftige Ordnung am Arbeitsmarkt zurückgeführt wird.
Es gibt ferner die Möglichkeit, dass es durch Stärkung
der Binnennachfrage mehr Importe gibt. Dann gibt es
auch die Möglichkeit, dass sich ein Teil der Exportwirtschaft eher auf binnenländische Verwendungen konzentriert. Damit lässt sich der Exportüberschuss abbauen.
Dadurch ist es möglich, dass die anderen Länder nicht
mehr wie noch heute in die Verschuldung getrieben werden. Am Ende fragt man sich dann, wie das alles passieren konnte.
Ich danke Ihnen vielmals.
({6})
Nun hat Karl Holmeier für die CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem hier zur Debatte stehenden Antrag haben sich
die Grünen endgültig als politisch verantwortungsbewusster Partner disqualifiziert.
({0})
Es würde schlecht um Europa stehen, Herr Schlecht,
wenn die Linken in unserem Parlament das Sagen hätten.
({1})
Europa braucht ein starkes Deutschland. Das wird in
der aktuellen Situation bei der Rettung finanziell angeschlagener Mitgliedstaaten der Europäischen Union
deutlicher denn je. Gott sei Dank hat Europa ein starkes
Deutschland. Durch die erfolgreiche Arbeit der christlich-liberalen Koalition ist Deutschland vom Bremsklotz
zur Lokomotive in Europa geworden. Ich wiederhole:
vom Bremsklotz zur Lokomotive.
({2})
Diese Stärke ist aber keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Deutschland ist deswegen wirtschaftlich so leistungsfähig, weil es verantwortungsbewusst und erfolgreich regiert wurde und weiter regiert wird, weil
Deutschland innovative und erfolgreiche Unternehmen
hat und weil wir tüchtige und fleißige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land haben. Nur deshalb sind wir heute eine echte Stütze im gesamten europäischen Währungsraum.
Wer sich wie Grüne und Linke in dieser Situation hinstellt und uns erklären will, dass wir auf europäischer
Ebene wirtschaftlich erfolgreich agierende Staaten bestrafen sollen, der schwächt Deutschland und unterschreibt damit das Todesurteil für den Euro und die
Europäische Union.
({3})
Vielleicht will das der eine oder andere von Ihnen sogar.
Letztlich waren es doch die Grünen und die SPD, die
2004 den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht
haben.
({4})
Die christlich-liberale Koalition hingegen hat das
Ziel, den Euro als dauerhafte und zuverlässige Währung
weltweit zu etablieren.
({5})
Wir wollen mit verantwortungsbewusster Politik die
wirtschaftliche Säule der Währungsunion stärken, um
gegen künftige Krisen besser gerüstet zu sein.
({6})
Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit in der gesamten
Union verbessern. Hierin sind wir uns mit unseren europäischen Partnern im Übrigen einig. Das scheint an den
Grünen jedoch vorbeigegangen zu sein. Vom Platzenlassen irgendwelcher Kompromisse kann daher keine Rede
sein.
({7})
Es ist geradezu eine Unverschämtheit, der Bundesregierung vorzuwerfen, sie wolle die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verhindern.
({8})
Lesen Sie die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von letzter Woche. Darin steht eindeutig, dass alle
Mitgliedstaaten fest entschlossen sind, alles Erforderliche zu tun, um den Stabilitäts- und Wachstumspakt uneingeschränkt umzusetzen.
Dabei ist Deutschland übrigens zum Teil bereits über
seinen Schatten gesprungen, um mit den anderen Mitgliedstaaten zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen; denn auch wir würden eigentlich gern bereits im
präventiven Bereich die sogenannte umgekehrte Abstimmung einführen, um einen Automatismus für Warnungen und Sanktionen zu ermöglichen.
({9})
In einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten
kann man seine Vorstellungen aber nicht immer voll
durchsetzen.
({10})
Ich denke außerdem, wir sollten uns nicht zu stark auf
die umgekehrte Abstimmung im präventiven Arm versteifen. Die Realität zeigt, dass solche Maßnahmen in
der Praxis weit weniger Bedeutung haben als zunächst
angenommen.
({11})
So befinden sich heute bereits 24 der 27 Mitgliedstaaten
in einem Defizitverfahren. Hier konnte die Hürde auch
ohne den Automatismus genommen werden.
Außerdem ist das Kompromissangebot zur Aufnahme
einer Überprüfungsklausel, das die europäischen Finanzminister dem Europäischen Parlament gegenüber in dieser Sache gemacht haben, ein faires Angebot, um auch
hier zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen.
({12})
Weit wichtiger als die Durchsetzung der umgekehrten
Mehrheit erscheint mir, im Rahmen der makroökonomischen Ungleichgewichte nicht Länder wie Deutschland
ins Visier zu nehmen, die erfolgreich sind und sogar
Leistungsbilanzüberschüsse zu verzeichnen haben. Eine
Bestrafung dieser Länder wäre für die gesamte Europäische Union absolut kontraproduktiv. Das habe ich
eingangs bereits klargemacht.
({13})
Hierin sind sich die Staats- und Regierungschef sowie
die EU-Finanzminister auch einig. Ich würde mich
freuen, wenn sich diese Erkenntnis auch bei den Oppositionsfraktionen in unserem Parlament durchsetzen
würde. Zum Lernen ist es bekanntlich nie zu spät.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu den Legislativvorschlägen der Europäischen Kommission zur wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU mit dem Titel „Bundesregierung muss unverzüglich europäisch gestalten“. Wer
stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/6316? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der
Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke zu mehreren EU-Vorlagen zur haushalts- und wirtschaftspolitischen Überwachung der Mitgliedstaaten.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/6168, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/5904 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der vier übrigen Fraktionen bei Ablehnung der
Linken angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
zu Verordnungsvorschlägen des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Korrektur bzw. die
Vermeidung übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6175, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5905 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD,
FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 20 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Einschränkung des Versammlungsrechts durch
Massenfunkzellenabfrage
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Michael Leutert, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
19. Februar dieses Jahres war ich in Dresden. Dort
wurde an diesem Tag von vielen Tausenden Bürgerinnen
und Bürgern aus Initiativen, Vereinen, Verbänden, Parteien, kirchlichen Gruppierungen und Gewerkschaften
der größte Naziaufmarsch Europas zum wiederholten
Male verhindert.
({0})
Das ist eine zivilgesellschaftliche Leistung, auf die wir
alle stolz sein sollten.
({1})
Leider wurde an diesem Tag nicht nur der größte Naziaufmarsch Europas verhindert; die Polizei hat auch
eine der größten Datenabfragen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Dresdens gestartet. Fast 1 Million
Handydaten von 330 000 Bürgerinnen und Bürgern
- das sind ungefähr 10 Prozent der gesamten sächsischen Bevölkerung und zwei Drittel der Dresdnerinnen
und Dresdner - wurden erhoben. Dabei spielte es keine
Rolle, wer erfasst wurde. Es wurden Unbeteiligte erfasst.
Es wurden Demonstranten, Anwälte, Journalisten, Ärzte
sowie Mitglieder der Landtage und des Bundestags erfasst.
Diese Vorgehensweise bei der Erhebung der Datensätze durch die Funkzellenabfrage ist ein klar rechtswidriger Akt, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund
ist: Eine Funkzellenabfrage ist in gewissem Sinne eine
digitale Rasterfahndung. Die digitale Rasterfahndung ist
deshalb hochproblematisch, weil sie in bestimmte
Grundrechte - ich nenne nur die Unschuldsvermutung
als Beispiel - eingreift. Sie ist daher nur bei schwersten
Verbrechen vorgesehen - dies hat der Gesetzgeber klar
definiert -: bei Mord, Totschlag, Kinderpornografie,
Hochverrat oder Terrorismus. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Was haben friedliche Proteste gegen Nazis mit diesen Kriterien zu tun? Was hier passiert
ist, ist nichts anderes als eine beispiellose Kriminalisierung antifaschistischen Engagements.
({2})
Die zweite Rechtswidrigkeit, die hier begangen
wurde, ist: Wir wissen mittlerweile, dass die Funkzellenabfrage schon am 18. Februar begonnen wurde, sozusagen präventiv eingesetzt wurde. Das ist wiederum ein
klarer Rechtsbruch. Wir wissen mittlerweile auch, dass
Gespräche abgehört und SMS mitgelesen wurden.
Wir befassen uns heute im Bundestag damit, weil es
sich nicht um eine rein sächsische Angelegenheit handelt, sondern weil die Ursachen auch auf Bundesebene
zu suchen sind. Ich möchte daran erinnern, dass auf Bundesebene seit Jahren ein gesellschaftliches Klima geschaffen wurde, das mit dafür sorgt, dass antifaschistisches Engagement in unserer Gesellschaft kriminalisiert
wird.
({3})
- Hören Sie mir bitte zu! Dann werden Sie es vielleicht
verstehen.
Es gibt seit einiger Zeit die sogenannte Extremismusklausel; diese haben Sie durchgesetzt. Das heißt, jede
Initiative, die vom Bund Fördergelder für Aktionen gegen rechts haben möchte, muss unterschreiben, dass sie
auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.
({4})
- Nein. Das setzt aber die Vermutung voraus, dass Initiativen gegen Nazis nicht auf dem Boden der freiheitlichdemokratischen Grundordnung stehen könnten. Bis zur
Kriminalisierung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
({5})
Ihnen allen liegt der neue Verfassungsschutzbericht
vor. Wenn Sie ihn genau lesen, stellen Sie fest, dass insbesondere in Ostdeutschland die Zahl der Straftaten und
der Organisationsgrad der Nazis zunehmen. Wenn wir
ernsthaft etwas dagegen tun wollen, müssen wir das antifaschistische Engagement in unserer Gesellschaft als Bestandteil ebendieser Gesellschaft stärken. Daher darf es
erstens keine weiteren Mittelkürzungen in diesem Bereich geben. Zweitens muss klargestellt werden, dass
Instrumente zur Terrorismusbekämpfung nicht gegen zivilgesellschaftliches Engagement eingesetzt werden dürfen.
({6})
Was wäre denn der nächste Schritt, wenn solche Instrumente gegen Antifa-Demonstranten eingesetzt würden?
Drittens hoffe ich, dass sich nach den Vorfällen in Sachsen ab sofort die öffentliche Debatte über die Vorratsdatenspeicherung erledigt hat.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Clemens Binninger für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! An meinen Vorredner gerichtet: Angesichts der Ereignisse, die wir neben der friedlichen Großdemonstration, die in der Tat beachtens- und unterstützenswert war,
an diesem Tag in Dresden ebenfalls erleben mussten,
hätten Sie wenigstens einen Satz zu den vielen verletzten
Polizisten verlieren und die Randale verurteilen müssen;
({0})
das wäre notwendig gewesen. Aber Fehlanzeige an dieser Stelle, wie immer!
({1})
Heute hat der Bundesinnenminister den Verfassungsschutzbericht 2010 vorgestellt. Eine der zentralen Aussagen dieses Berichtes lautet: Die Gewaltbereitschaft von
Rechtsextremisten und Linksextremisten nimmt in einem besorgniserregenden Maße zu.
({2})
Es gibt kaum noch Hemmungen, Gewalt auszuüben. Wir
stehen am Beginn einer möglicherweise verhängnisvollen Gewaltspirale.
Der 19. Februar 2011 in Dresden war, abgesehen von
der friedlichen Großdemonstration, die zu Recht unsere
Unterstützung verdient, leider ein Tag, der diese These
belegt hat.
({3})
Dieser Tag wurde von einigen Chaoten bedauerlicherweise zu einer Gewaltorgie umfunktioniert: Steinwürfe,
brennende Barrikaden, mehr als 100 verletzte Polizeibeamte, über 600 Straftaten, mehr als 23 Fälle schweren
Landfriedensbruchs.
({4})
Da hat in Dresden eine kleine Minderheit mit ihrer Gewaltbereitschaft das gute Anliegen einer großen Mehrheit diskreditiert und für eine Gewaltorgie gesorgt. Das
müssten wir genauso verurteilen. Diesbezüglich war bei
Ihnen an dieser Stelle aber Fehlanzeige.
({5})
Die mehr als 600 Straftaten, die größtenteils vermummt begangen wurden, müssen jetzt von der Polizei
und der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden. Polizei
und Staatsanwaltschaft in Dresden haben sich dazu einer
Ermittlungsmethode bedient, die wir mit der großen
Mehrheit dieses Hauses in § 100 g Strafprozessordnung
beschlossen haben. Es handelt sich also um geltendes
Recht; das muss man an dieser Stelle dazusagen.
({6})
Mit der Funkzellenauswertung ist es möglich, festzustellen, wessen Handy zur Tatzeit am Tatort war. Diese
Maßnahme wurde angewandt.
({7})
Sie ist bei erheblichen Straftaten zulässig. Ein besonders
schwerer Fall des Landfriedensbruchs ist eine erhebliche
Straftat.
({8})
Das ist überhaupt keine Frage. Dies ist eine zulässige Ermittlungsmethode.
({9})
Sie wurde übrigens genau so durchgeführt, wie es das
Gesetz vorsieht:
({10})
auf Antrag der Staatsanwaltschaft, angeordnet von einem Richter. Jetzt wird versucht, diese Maßnahme zu
skandalisieren.
({11})
- An die Adresse der Linken: Wenn Sie mit unserer
Strafprozessordnung ein Problem haben, dann sagen Sie
es einfach. Aber versuchen Sie nicht, irgendetwas vorzutäuschen.
({12})
Jetzt stürzt man sich auf die unbestreitbar große Zahl
der dabei gewonnenen Handydaten, der Telefonnummern; man erhält weder Inhalte noch Informationen über
die Anschlussinhaber. Einige Tausend Daten wurden so
generiert.
({13})
Darauf stürzt man sich jetzt.
Man muss sich fragen: Ist das in der Strafprozessordnung vorgesehen oder nicht?
({14})
Ich sage Ihnen deutlich: Dieses Vorgehen ist nicht ausgeschlossen. Die Menge dieser Daten ergibt sich allein aus
dem Tatort, aus der Tatzeit und aus der Anzahl der anwesenden Personen.
({15})
- Herr Kollege Montag, wenn man eine solche Maßnahme in einer Großstadt zur Tageszeit am Rande einer
Großveranstaltung durchführt, dann ist es fast zwangsläufig, dass mehr Daten generiert werden, als wenn man
die gleiche Maßnahme zur Nachtzeit in einem Industriegebiet durchführt.
({16})
Jetzt wird gesagt: Das Vorgehen war nicht verhältnismäßig. Das mag eine Rechtsfrage sein. Tatsache ist:
Diese Maßnahme wurde so durchgeführt, wie es in der
Strafprozessordnung vorgesehen ist. Es gibt keinen
Grund, sie zu skandalisieren. Wenn Sie diese Maßnahme
als solche ablehnen, da Sie sie aus rechtspolitischen
Gründen nicht wollen, etwa weil Sie gegen den § 100 g
der Strafprozessordnung sind, dann muss man entspreClemens Binninger
chende Vorlagen einbringen. Aber die Durchführung
dieser Maßnahme nach Antrag der Staatsanwaltschaft
und nach Genehmigung durch einen Richter ist kein
Grund, sie zu skandalisieren.
Karin Schlottmann schreibt heute in der Sächsischen
Zeitung sinngemäß, was die Bewertung der gesamten
Debatte angeht, sehr treffend: Ein Teil der Kritiker hat
offensichtlich zu wenig Wissen über die Rechtslage und
die Möglichkeiten, die Polizei und Justiz haben,
({17})
und der andere Teil der Kritiker versucht, diesen Anlass
zu skandalisieren, ihn zu benutzen. Beides ist nicht zulässig. Sie, meine Damen und Herren von den Linken,
gehören zu beiden Teilen. Stellen Sie Ihre Versuche ein!
Es glaubt Ihnen sowieso niemand.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
weiß nicht, wer von Ihnen sich noch daran erinnern
kann, wo er am 19. Februar 2011 war. Es war ein Samstag, es war ziemlich kalt, und ich war wie einige andere
hier im Saal in Dresden und habe friedlich gegen Neonazis demonstriert. Ich gebe zu: Ich habe mich wie eine
gute Demokratin gefühlt. Ich habe mein Demonstrationsrecht wahrgenommen.
({0})
Ich habe mich Verfassungsfeinden in den Weg gestellt,
Menschen, die anderen Menschen ihr Lebensrecht aberkennen und eine Ideologie vertreten, die ich nur als auf
die Straße bringend empfinden kann. Wenn Nazis auf die
Straße gehen, dann gehe ich auch. Da waren noch
10 000 und mehr Menschen, die das genauso gemacht
haben, zumeist friedlich: MdBs, MdLs, Anwälte, Journalisten, Touristen und auch Menschen, die in Dresden
leben.
Wo genau in Dresden ich mich aufgehalten habe, erfrage ich gerade bei der Dresdner Polizei;
({1})
denn jetzt, vier Monate später, erfahren wir: Im Nachgang zu dieser Demonstration sind in zwei Schritten
1 Million Daten erfasst worden, Handydaten: Wer war
wann wo eingeloggt?
({2})
„Wer“ meint die Telefonnummer.
({3})
- Das ist richtig, die Telefonnummer.
({4})
Ich gebe zu: Dieses Vorgehen erzeugt bei mir wirklich
eine ganz massive Gänsehaut.
({5})
- Sie sagen: Lassen Sie Ihr Handy zu Hause! Überprüfen
Sie bitte Ihr Verhältnis zum Grundgesetz und zu Grundrechten wie dem Demonstrationsrecht!
({6})
Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass ich mein Demonstrationsrecht wahrnehme und indirekt ins Visier der
Polizei gerate. Bei mir stellt sich das Gefühl ein: Ich
werde hier kriminalisiert. Im Zusammenhang mit der
Demonstration am 19. Februar in Dresden hatte ich das
Gefühl auch schon vorher.
({7})
Da wurde öffentlich durchaus kritisch gegenüber denen
diskutiert, die friedlich gegen Nazis demonstrieren wollten.
Ja, es ist nicht wegzudiskutieren: Von den Gegendemonstrationen ist erhebliche Gewalt ausgegangen,
({8})
auch schwerer Landfriedensbruch.
({9})
Die Polizei muss da ermitteln. Allerdings hätte ich mir
gewünscht, dass die Polizei schon vor Ort hätte ermitteln
können. Ich habe leider nicht die Zeit, zur Polizeitaktik
zu sprechen,
({10})
die ich nicht den Polizeibeamten vor Ort anlaste.
Eine Möglichkeit - das stimmt - ist der § 100 a StPO.
Man kann bei schweren Straftaten eine Funkzellenabfrage machen, um genau diese Daten zu erheben.
({11})
Ob schwerer Landfriedensbruch diesen Tatbestand erfüllt,
({12})
Daniela Kolbe ({13})
das mögen andere entscheiden; ich bin keine Juristin.
Aber selbst wenn er erfüllt ist, sehe ich zwei Probleme:
Das erste Problem: Die Ergebnisse der Funkzellenabfrage sind auch in Akten von Menschen aufgetaucht, die
wegen definitiv nicht schwerer Straftaten angezeigt worden sind bzw. gegen die ermittelt worden ist, zum
Beispiel wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Es ist ein Skandal, dass das in Deutschland vorkommt.
({14})
Erst dadurch, dass das als rechtswidrig erkannt worden
ist, ist es an die Öffentlichkeit gekommen und zurückgenommen worden. Die Gänsehaut bei mir bleibt trotzdem
angesichts dessen, wie der Staat mit Menschen und mit
Daten umgeht.
Das zweite Problem: die Verhältnismäßigkeit. Es gab
einen Bericht des sächsischen Justizministers und des
sächsischen Innenministers an Herrn Tillich. Darin steht
zu den ersten 200 000 Daten, was die Verhältnismäßigkeit angeht: Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
wurde in besonderem Maße durch die dezidierten zeitlichen und räumlichen Einschränkungen im richterlichen
Beschluss Rechnung getragen.
Im Endeffekt sind es jetzt 200 000 plus 800 000 Daten wegen irgendeiner anderen Straftat; wir wissen nicht
genau, weshalb diese Daten erhoben worden sind. Es
sind 1 Million Daten vom 18. und 19. Februar aus verschiedensten Orten der Stadt. Einmal flapsig zusammengefasst: Zwei Tage ist die halbe Stadt Dresden - mit
mehreren Tausend Menschen, die dazugekommen sind überwacht worden. Das wird als verhältnismäßig bezeichnet. Das kann nur sächsische Verhältnismäßigkeit
sein.
({15})
Ich persönlich glaube, dass hier zwischen der Wahrung
der Persönlichkeitsrechte und der Strafverfolgung
schlecht, wirklich schlecht abgewogen worden ist.
Beides, dass Daten in Akten vorkamen, in die sie
nicht gehören, und diese massive Datensammlung, löst
bei mir einen schalen Nachgeschmack aus. Was jetzt nötig ist, ist Aufklärung. Wir müssen dringend die zahlreichen offenen Fragen aufklären. Das muss im sächsischen Parlament geschehen.
({16})
Ich sage Ihnen auch, warum diese Aufklärung nötig
ist. Ich empfinde es so, dass hier das Grundvertrauen
zwischen dem Bürger, der sein Demonstrationsrecht
wahrnimmt, und dem Staat ein Stück weit bröcklig geworden ist. Die Fragen müssen beantwortet werden, damit ich mein Demonstrationsrecht wieder wahrnehmen
und auch in den Baumarkt gehen kann, ohne mich überwacht fühlen zu müssen.
Dieses Grundvertrauen würde auch hergestellt, wenn
endlich die politische Verantwortung übernommen
würde. Hier ist der sächsische Innenminister, Herr Ulbig,
am Zug. Ich bin gespannt, wann auch er das endlich einsieht.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Piltz für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch immer wieder erstaunlich, dass man
sich am späten - oder am frühen, je nachdem - Freitagnachmittag hier Dinge anhören muss, von denen die
Kollegen offensichtlich glauben, dass sie sonst keiner
mitbekommt.
({0})
Frau Kolbe, es war schon interessant, was Sie hier geliefert haben. Ich stelle fest: Sie bekommen eine Gänsehaut, wenn Daten gesammelt werden. Dann frage ich
mich, wie Sie eigentlich Mitglied Ihrer Fraktion sein
können,
({1})
wenn die Innenminister, die der SPD angehören, und der
innenpolitische Sprecher der SPD ganz großartig erklären, man müsse die Vorratsdatenspeicherung unbedingt
wieder einführen, und zwar für sechs Monate, und möglichst viele Daten sammeln.
({2})
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Ihre Stimme gehört hätte
({3})
bzw. die Beschreibung des klinischen Zustandes Ihrer
Gänsehaut. Das habe ich wirklich vermisst.
Es ist auch interessant, wenn Sie sich hier hinstellen
und sagen: Ob schwerer Landfriedensbruch eine Voraussetzung für eine Funkzellenabfrage ist oder nicht, weiß
ich nicht. - Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Das lernt man im ersten Semester. Es wäre
schön, wenn man dies auch in der ersten Legislaturperiode im Parlament lernen würde. Es ist nämlich so.
Schönen Gruß vom Gesetz.
({4})
Interessant finde ich auch, dass § 100 g StPO, gegen
den Sie jetzt so viel Gänsehaut entwickeln, auch von der
SPD verabschiedet worden ist.
({5})
Das ist sehr spannend und zeigt, wie Ihr Verhältnis zum
Rechtsstaat wirklich ist. Die Innenminister dürfen die
Vorratsdatenspeicherung fordern, und Sie bekommen
Gänsehaut. Viel Spaß dabei!
({6})
Ebenfalls erstaunlich ist, dass die Fraktion der Linken
sich hier immer so aufspielt, als sei gerade sie die Hüterin des Rechtsstaates.
({7})
Wenn man Ihnen zuhört, bemerkt man ganz deutlich,
dass es Ihnen um das Gegenteil geht. Herr Leutert - das
haben Sie sehr deutlich gemacht -: Es ging Ihnen nicht
um das Versammlungsrecht oder um friedliche Demonstrationen, sondern es ging Ihnen um „die beispiellose
Diskriminierung antifaschistischen Engagements“.
({8})
- Ich habe überhaupt nichts dagegen.
({9})
Ein Schelm, der nicht auf die Idee kommt, dass Sie
mit dieser Bugwelle, die Sie vor sich herschieben, etwas
vertuschen wollen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten
eine Aktuelle Stunde zum Linksextremismus beantragt.
({10})
Man könnte auf die Idee kommen, Sie wollten Ihr nicht
geklärtes Verhältnis zum Antisemitismus vertuschen.
Darum geht es Ihnen doch eigentlich.
({11})
Es ist selbstverständlich - ich glaube, da sollte sich
das Hohe Haus einig sein -, dass die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut in diesem Rechtsstaat ist.
({12})
- Wissen Sie, nur weil Sie laut schreien, haben Sie nicht
recht.
({13})
Es ist selbstverständlich, dass sich Vorfälle wie die in
Dresden nicht wiederholen dürfen, Vorfälle - das muss
man leider sagen -, bei denen auch rechtswidrig gehandelt worden ist.
({14})
Genauso selbstverständlich ist es aber, dass auch Demonstrationen gegen Nazis keine Rechtfertigung dafür
bieten dürfen, Gewalt anzuwenden.
({15})
Wer diese Position verteidigt, darf hinterher nicht nach
dem Schutz der Versammlungsfreiheit schreien. Entweder, oder - beides passt nicht zusammen. Ich wundere
mich, dass Sie in diesem Zusammenhang das Wort
„Rechtsstaat“ überhaupt noch in den Mund nehmen.
Zur Sache selbst nur so viel: Der Vorfall - das ist bereits gesagt worden - muss vom Sächsischen Landtag
und der sächsischen Landesregierung umfassend aufgeklärt werden. Das ist Sache der zuständigen Gremien im
Lande. Es ist anmaßend, wenn manche Kollegen meinen, darüber könnten wir hier entscheiden. Im Übrigen
hat der Bundestag nicht die Dienstaufsicht über die
Dresdner Polizei, und das ist auch gut so.
({16})
Es ist gut, dass der Polizeipräsident die Konsequenzen
gezogen hat und zurückgetreten ist. Wir sagen auch, dass
sich ein solcher Vorfall aus unserer Sicht nicht wiederholen sollte.
Natürlich hat es Auswirkungen auf die Versammlungsfreiheit, wenn man damit rechnen muss, dass alle
Daten ausgewertet werden. Diese mittelbare Einschränkung der Versammlungsfreiheit ist schwerlich hinzunehmen; aber wir leben weder in einem Staat, der das erlaubt, noch in einem Staat, in dem das die Regel ist. Das
ist ein extremer und, soweit ich weiß, ein Einzelfall. Es
wäre besser, wenn das gar nicht passiert wäre.
Wir werden genau hinschauen, welche Konsequenzen
wir für die StPO ziehen müssen. Die sächsische Landesregierung hat eine Initiative im Bundesrat angekündigt.
Wir werden prüfen, was notwendig ist. Ich würde mich
freuen, wenn wir hier eine sachliche Debatte darüber
führen könnten
({17})
und wenn wir dafür einen anderen Anlass als heute hätten.
Vielen Dank.
({18})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Jerzy Montag das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dieser Debatte geht es in erster Linie - so hat es die
Linke gewollt, und darauf will ich eingehen - um das
Versammlungsrecht. Deswegen steht diese Frage für
mich im Mittelpunkt und an erster Stelle.
Am 13. Februar dieses Jahres haben Neonazis zu
Hunderten oder gar Tausenden in Dresden demonstriert.
Sie haben dies eine Woche später, am 19. Februar, wiederholt. Was wünschen wir Abgeordnete, was wünscht
sich der Deutsche Bundestag in so einer Situation von
den Menschen in unserem Land? Dass sie Zivilcourage
zeigen, dass sie aufstehen, dass sie sich den Neonazis in
den Weg stellen, dass es Demonstrationen gibt. Diese
Demonstrationen hat es gegeben. In Dresden haben viele
Tausende demonstriert. Deswegen will ich mich von dieser Stelle aus ausdrücklich bedanken und meine Hochachtung vor all denjenigen ausdrücken, die dort demonstriert haben.
({0})
Ebenso ist völlig klar - auch das muss angesprochen
werden; das dürfen Sie nicht verschweigen oder verschämt im Nebensatz sagen, Kollegen von der Linken -,
dass es an diesem 19. Februar schwere Straftaten gegeben hat, auch mit vielen verletzten Polizisten. Ich will
sagen: Das ist für uns nicht hinnehmbar. Ich erkläre
meine Hochachtung auch vor den Polizeibeamten, die
verletzt worden sind.
({1})
Diese Straftaten müssen mit den Mitteln des Gesetzes
verfolgt werden.
Was ist aber stattdessen passiert? Es sind an 14 Plätzen in Dresden innerhalb bestimmter Zeiträume von der
einen Polizeieinheit fast 140 000 Kommunikationsvorgänge und von einer anderen Polizeieinheit, von der des
Landeskriminalamtes, mehrere Hunderttausend Kommunikationsvorgänge, zusammen fast 1 Million Kommunikationsvorgänge, abgefischt worden. Das sind fast
1 Million Grundrechtsbeeinträchtigungen. Das ist in einem unglaublichen und monströsen Ausmaß ein Eingriff
in die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern, und
zwar nicht nur in das Grundrecht der informationellen
Selbstbestimmung, sondern auch in das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit.
({2})
Es ist doch völlig klar: Wenn Bürgerinnen und Bürger, die nichts Unrechtes tun, die nur ihr Grundrecht auf
Demonstrationsfreiheit geltend machen, in einem solchen Ausmaß in polizeiliche Ermittlungen einbezogen
werden und wissen, dass das geschieht, dann beeinträchtigt das das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Das
liegt doch absolut auf der Hand.
({3})
Deswegen ist es wichtig, dass wir über diese Grundrechtsverletzungen hier, an dieser Stelle, diskutieren.
Das ist keine Landesangelegenheit.
({4})
Die gesetzlichen Vorgaben sind nicht so klar, wie Sie
meinen. Die Funkzellenabfrage ist nur erlaubt bei ganz
bestimmten Telefonnummern. Es gibt dazu eine Ausnahmevorschrift. Diese Ausnahmevorschrift ist aber an ganz
enge Voraussetzungen geknüpft. Diese engen Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall offensichtlich missachtet worden. In die Begründung des Entwurfes eines
Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung haben Sie, meine Damen und Herren von
der Union und der SPD, in der letzten Legislaturperiode
in Bezug auf § 100 g Strafprozessordnung geschrieben:
Wenn bei dieser Ausnahmevorschrift der Funkzellenabfrage mit Drittbetroffenheit unzumutbar viele Dritte betroffen sind, dann muss von dieser Maßnahme Abstand
genommen werden.
Genau das Gegenteil ist in Dresden geschehen. Es ist
nicht Abstand genommen worden, obwohl fast 1 Million
Dritte betroffen waren. Man hat es sehenden Auges getan. Es ist doch klar, dass man, wenn man in einer großen Stadt am Ort und zum Zeitpunkt einer großen Demonstration solche Abfragen startet, hundertausendfach
unschuldige, nicht betroffene Dritte in diese Maßnahmen
einbezieht. Deswegen hätte diese Maßnahme unterbleiben müssen.
({5})
Weil das nicht geschehen ist, werden wir uns hier
nach der Sommerpause darüber unterhalten müssen - die
Grünen werden dazu Vorschläge machen -, was an der
Strafprozessordnung, einem Bundesgesetz, geändert
werden kann und muss, damit sich solche Vorfälle nicht
wiederholen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Sensburg für
die Unionsfraktion.
({0})
Herr Kollege Montag, ich möchte Ihnen für die einführenden Worte zur Zivilcourage der Personen, die in
Dresden demonstriert und gezeigt haben, dass sie so etwas, wie es in Dresden geplant war, nicht akzeptieren,
ganz herzlich danken. Ich möchte mich auch für die
Worte an die Polizei bedanken, die nämlich nicht nur
dazu da ist, Straftaten zu verfolgen, sondern auch dazu,
solche Demonstrationen zu ermöglichen, es Menschen
zu ermöglichen, von ihrem Demonstrationsrecht GeDr. Patrick Sensburg
brauch zu machen. Deswegen ist es, glaube ich, richtig,
hier diese Worte auszusprechen. Dafür herzlichen Dank.
Die juristischen Schlussfolgerungen, die Sie gezogen
haben, kann ich allerdings nicht teilen.
({0})
Ich muss auch ganz ehrlich sagen: Diese von den Linken
beantragte Aktuelle Stunde zeigt, dass sie eine Täuschungstaktik betreiben. Sie probieren, das Versammlungsrecht, das wir schützen und ermöglichen wollen,
mit Straftaten, die es zu verfolgen gilt, zu vermischen.
Wir müssen trennen: Versammlungsrecht auf der einen
Seite und die Straftaten, die die Polizei verfolgen muss
und soll, auf der anderen Seite.
({1})
Das sollten Sie nicht zusammenwerfen, sonst wird die
Polizei nicht der Aufgabe gerecht, Demonstrationen zu
ermöglichen.
({2})
Wenn Sie sich Art. 8 des Grundgesetzes einmal anschauen, dann werden Sie merken, dass das Versammlungsrecht unter dem Vorbehalt steht, dass die Versammlung friedlich und ohne Waffen stattfindet.
({3})
Wenn eine Versammlung nicht friedlich stattfindet, dann
muss das Versammlungsrecht geschützt werden und es
muss möglich sein, dass die Polizei Ermittlungsmaßnahmen gegen die Straftäter durchführt.
({4})
Es haben Ermittlungsmaßnahmen stattgefunden, und
diese waren rechtmäßig.
Ich muss sagen: Ein Abfischen oder ein Phishing
- diesen Eindruck wollten Sie wahrscheinlich mit dem
Wort „Abfischen“ erwecken - hat mit Sicherheit nicht
stattgefunden, wenn im Rahmen des § 100 g Strafprozessordnung in Verbindung mit dem TKG Daten
({5})
zur Verfolgung erheblicher Straftaten im Einzelfall erhoben worden sind,
({6})
und dies nur dann, wenn es erforderlich war.
({7})
Erhebliche Straftaten lagen vor.
({8})
Sie haben gerade bezweifelt, dass es sich um Einzelfälle
handelte. Es kam zu 57 Fällen von Landfriedensbruch
und 112 Körperverletzungen an Polizeibeamten.
({9})
Sie werden es wahrscheinlich als nicht erheblich einstufen, wenn es um Polizeibeamte geht. Was sagen Sie zu
112 Körperverletzungen an Polizeibeamten und zu
78 Sachbeschädigungen? Auf einen Polizeibeamten ist
übrigens eine Eisenstange geworfen worden. Sie ist am
Helm abgeprallt. Dazu kann ich nur sagen: Das sind erhebliche Straftaten. Hier galt es, die Täter zu ermitteln.
Das war erforderlich. Ein Großteil der Personen ist nämlich vermummt gewesen.
({10})
Da frage ich auch die Kollegin Kolbe: Haben Sie
denn Anzeige erstattet? Ist denn von Ihnen, die Sie mitdemonstriert haben, Anzeige gegen die Täter erstattet
worden?
({11})
Anscheinend nicht. Welche Ermittlungsmaßnahmen
bleiben denn dann übrig? Dann ist die Nutzung der
Funkzellendaten eine Maßnahme, um zu ermöglichen,
dass die Straftaten aufgeklärt werden können,
({12})
und darum geht es der Polizei.
Wie viele Taten sind unterm Strich tatsächlich verfolgt worden? Es wird bisher in 330 Verfahren gegen bekannte Straftäter und in 354 Verfahren gegen bisher noch
nicht bekannte Straftäter ermittelt. Übrigens sind insgesamt 223 Verfahren bereits bei der Staatsanwaltschaft
eingeleitet worden. Da wollen wir doch einmal abwarten, was bei diesen Verfahren herauskommt.
Ich finde, Sie sollten Ihre Täuschungstaktik unterlassen. Sie werfen das Versammlungsrecht, das wir gewährleisten wollen, und die Verfolgung von Straftaten durcheinander,
({13})
indem Sie so tun, als wollten wir mit der Verfolgung von
Straftaten Versammlungen unmöglich machen. Ganz im
Gegenteil: Dadurch werden sie erst möglich gemacht.
Dass Sie jetzt hier so viel dazwischenrufen, zeigt doch
nur Ihr gestörtes Verhältnis zur Rechtsordnung und zum
Rechtsstaat.
({14})
Sonst würden Sie das doch nicht machen, sondern uns
unterstützen.
({15})
Die Beantragung der Aktuellen Stunde ist durchschaubar. § 100 g der Strafprozessordnung ist verfassungsgemäß und verhältnismäßig eingesetzt worden. Das müssen auch Sie akzeptieren.
Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
eine kurze geschäftsleitende Bemerkung. Da jetzt mehrmals der Wunsch nach weiteren Wortmeldungen an mich
herangetragen wurde, weise ich darauf hin, dass wir uns
in der Aktuellen Stunde befinden. Ich weiß, es tut allen
Beteiligten leid, dass es nicht möglich ist, Zwischenfragen zu stellen, Zwischenbemerkungen zu machen oder
gar mit Kurzinterventionen auf persönliche Anwürfe
einzugehen. Aber so sind nun einmal die Regeln. Wenn
Sie es anders wollten, müssten Sie eine Debatte zu diesem Thema beantragen. Insofern ist es allerdings auch
nicht hilfreich, wenn man sich gegenseitig als „Spinner“,
„Lügner“ oder anderes hier bezeichnet, weil auch darauf
nicht geantwortet werden kann. Außerdem können diejenigen, die die Aktuelle Stunde am Fernseher verfolgen,
diese Zwischenrufe auch gar nicht hören und deshalb die
Reaktionen nicht verstehen.
Wir fahren jetzt in der Aktuellen Stunde fort. Das
Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Sehr verehrte Gäste! Ich habe in den letzten Tagen ein
Gespräch mit einem Kollegen aus meiner Gewerkschaft,
der Deutschen Polizeigewerkschaft, geführt, der in Dresden Dienst tut. In diesem Gespräch hat er drei Dinge gesagt, die ich beachtenswert finde:
Er hat erstens gesagt: Die politisch etablierten Parteien haben es nicht geschafft, durch ihre Politik ein Anwachsen der Zahl der extremen Kräfte am rechten und
linken Rand unserer Gesellschaft zu verhindern. Jetzt
sollen wir, die Polizei, so sagte er zweitens, die Kohlen
aus dem Feuer holen. Dazu werden wir aber weder personell noch durch eine eindeutige Rechtslage hinreichend ausgestattet. Wenn dann - drittens - etwas schiefgeht, zieht die Politik ihren Kopf aus der Schlinge und
sucht sich ein Bauernopfer.
Wir schaffen es tatsächlich nicht, liebe Kollegen und
Kolleginnen, den Menschen immer zu erklären, warum
und wie wir Entscheidungen in diesem Hause treffen.
Als Beispiel möchte ich nur eines anführen: Ich finde es
erschreckend, dass nur etwa die Hälfte der Bevölkerung
versteht, warum wir in Europa verschiedenen Ländern
helfen müssen. Augenscheinlich schaffen wir es nicht,
klarzumachen, warum dies nötig ist.
Zu seinem zweiten Punkt. Zur Personalsituation haben wir hier schon viel gesagt. Ich möchte in Bezug auf
Dresden darauf hinweisen, dass Innenminister Ulbig
festgestellt hat, dass der Einsatz am 19. Februar Chefsache war. „Chefsache“ heißt, er hatte den Hut auf, er hat
die Einsatzlinien festgelegt, und er war über alles informiert: über 20 000 friedlich Demonstrierende, über verletzte Polizeibeamte, über Rechtsextreme, die einen
Treffpunkt von Jugendlichen überfallen haben, und über
Linksextreme, die Pkws angezündet haben. Anschließend - so beschreibt er es in seinem Bericht - hatte er
23 Fälle von schwerem Landfriedensbruch festgestellt
und, weil er meinte, diese Straftaten seien von erheblicher Bedeutung, eine Funkzellenauswertung beantragt.
Kollege Sensburg, hier geht es nicht darum, was wir
beide persönlich als schwere Straftat erachten. Wenn wir
die Menschen fragen würden, deren Autos angezündet
wurden, würden sie diese Tat als schwerwiegend ansehen. Hier stellt sich aber die Frage: Was sehen der Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht als schwerwiegende Straftat an? Dies ist leider nicht so eindeutig.
Das heißt, dass die Bedingungen im Hinblick auf die Katalogstraftaten und die Verjährungsansprüche, die das
Bundesverfassungsgericht festgelegt hat, nicht erfüllt
sind. Es gibt, bei weitester Auslegung, die Möglichkeit,
hier eine besonders schwerwiegende Straftat festzustellen, wie es das Gericht getan hat. Aber das ist nicht
selbstverständlich.
Ich komme aus Niedersachsen. Dort hat ein Gericht,
als es um eine Katalogstraftat ging, also um eine Straftat,
bei der diese Anordnung normalerweise erfolgt, die
Entscheidung getroffen, eine Funkzellenauswertung
abzulehnen, da der Bundesgesetzgeber, also wir, die Vorratsdatenspeicherung nicht geregelt hat und das Bundesverfassungsgericht Bedenken hat. Hier reden wir allerdings über ein Demonstrationsgeschehen, über ein
Geschehen, das in erheblichem Maße grundrechtsrelevant ist.
In diesem Zusammenhang hat sich auch das Oberverwaltungsgericht Bremen geäußert. Damals ging es um
die Frage: Darf die Polizei zur Verfolgung von Straftaten
Bildaufzeichnungen machen? Das Oberverwaltungsgericht Bremen hat festgestellt: Besteht auch nur die Möglichkeit, dass jemand, der an einer Demonstration teilnimmt, dokumentiert wird, verhindert dies, dass die
Menschen ihr Grundrecht nach Art. 8 des Grundgesetzes
frei ausüben können.
({0})
Noch einmal: Hier geht es nicht um persönliche Meinungen. Hier geht es um Recht. Das bestehende Gesetz
fordert eine besondere Verhältnismäßigkeit. Der Innenminister schreibt dazu in seinem Bericht - er ist mehrfach zitiert worden -:
Bei Beantragung der Maßnahme war das Ausmaß
des Datenaufkommens nicht einschätzbar.
Ich frage Sie, meine Herren und Damen: Wie können
Sie die Verhältnismäßigkeit feststellen, wenn Sie gar
nicht feststellen, wie viele davon überhaupt betroffen
sind?
({1})
Wenn man aber feststellt, dass im ersten Fall 140 000 Daten vorliegen, dann ist spätestens der Moment gekommen, in dem jemand sagen muss: Jetzt stelle ich fest,
dass das Ganze nicht mehr verhältnismäßig ist. - Das ist
nicht passiert.
({2})
Zum dritten Punkt, den der Kollege ansprach. Innenminister Ulbig hat den Einsatz zur Chefsache erklärt, es
wurden Fehler gemacht - sonst hätte Polizeipräsident
Hanitsch nicht seinen Sessel räumen müssen -, und eigentlich sollte sich der Innenminister nicht hinter seinen
Beamten verstecken, sondern die Konsequenzen ziehen.
({3})
Unser Fazit lautet: Mein Kollege von der Polizei hatte
recht. Wir müssen endlich den Auftrag annehmen, klare
und verfassungsgemäße Regeln zur Datensammlung und
zur Verwendung von Daten Dritter zu treffen. Frau Piltz,
ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie angekündigt haben,
dies zu tun. Als Parlament sind wir für den Schutz aller
Grundrechte der Bürger und Bürgerinnen verantwortlich. Lassen Sie uns handeln, um zu verhindern, dass
mein Kollege von der Polizei recht behält!
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Diese Diskussion verläuft gemischt: Einerseits findet eine sachliche Diskussion statt - Herr
Kollege Montag, Ihr Beitrag war ausgesprochen sachlich; vielen Dank -, andererseits eine - ich sage es einmal so - politisch getriebene Diskussion; an dieser Stelle
schaue ich in Ihre Richtung, liebe Kollegen von der Linken.
({0})
- Lassen Sie mich doch ausreden. Man hört Sie sowieso
nicht, Frau Kollegin.
({1})
Der Titel der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, lautet „Einschränkung des Versammlungsrechts
durch Massenfunkzellenabfrage“. Ich muss sagen: Ich
dachte eigentlich, dass Sie aufgrund Ihrer Vergangenheit
wissen, wovon Sie sprechen, wenn Sie eine Debatte zu
diesem Thema beantragen. Aber Sie, Herr Leutert, haben unter anderem von digitalen Rasterfahndungen geredet. Solche Schlagworte entlarven, dass Sie diese
Aktuelle Stunde aus rein politischen Motiven beantragt
haben.
({2})
Sie stellen Rechtsradikalismus und Linksradikalismus
aus Ihrer Perspektive in einseitiger Art und Weise dar,
anstatt über das Thema der Aktuellen Stunde, nämlich
die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, zu sprechen.
({3})
Es ist sehr wichtig, sich kurz mit der Faktenlage zu
beschäftigen, statt nur irgendwelche Schlagworte in die
Diskussion zu werfen. Es fand eine Kundgebung statt,
die Rechtsradikale vorangetrieben haben. Zu Recht ist
ein breites bürgerliches Engagement entstanden, um sich
dem entgegenzustellen. Es war vorhin interessant, zu beobachten, dass Sie, als dieses Stichwort fiel, geklatscht
haben. Als aber zur Sprache kam, dass bei der gleichen
Aktion sehr viele Polizisten, nämlich über 100, verletzt
wurden, haben sich die Hände Ihrer Fraktionsmitglieder
nur zur Hälfte bewegt.
({4})
Das spricht Bände. Daran wird deutlich, wie Sie zu diesen Vorgängen stehen und zu welchem Zweck Sie diese
Aktuelle Stunde nutzen wollen.
Es ist Teil unserer demokratischen Kultur, dass Menschen ihre Meinung frei äußern dürfen, müssen und sollen. Es ist das Recht und die Pflicht eines jeden Bürgers,
Demonstrationen anzustoßen und daran teilzunehmen.
Es ist aber auch das Recht eines jeden Bürgers, gewisse
Rechtsgüter zu schützen. Dass mein Auto und die Unversehrtheit meines Körpers geschützt werden - das gilt
übrigens auch für Polizisten -, ist ein Recht, das wir mithilfe unserer Rechtsordnung schützen müssen. Diese
beiden Dinge muss man erwähnen. Das haben Sie so
nicht getan.
({5})
Die Frage, wie man das in eine Verhältnismäßigkeit
bringt, ist doch der Kernpunkt, über den Sie hier nicht
gesprochen haben. Man muss sich das Ganze einmal genau anschauen. Es wurde eine Anordnung getroffen, die
einen maßgeblichen Eingriff zur Folge hatte. Gerichtlich
betrachtet könnte er zunächst einmal als durchaus angemessen angesehen werden. Ich glaube, dass er auch angemessen war. Allerdings wurden Daten - das hat sich
danach gezeigt - in wesentlich größerem Umfang genutzt, als zunächst beabsichtigt war. Das ist ein Punkt,
mit dem man sich intensiv beschäftigen muss. Wenn es
dabei um die Landespolizei geht, dann ist der Ort, an
dem man sich damit beschäftigen muss, das Land Sachsen. Deswegen wird das - Frau Kollegin Piltz hat das
schon gesagt - dort sicherlich auch eingehend geprüft
werden.
Wenn wir einen Bezug zur Bundesebene herstellen
wollen, müssen wir uns zu Recht § 100 g StPO ansehen.
Das ist eine Anregung, die wir durchaus aufnehmen können. Ich finde schon, dass es angemessen ist, diesen Vorfall dafür zum Anlass zu nehmen. Wenn Sie das dann
aber ausposaunen und es auf den Rechts- und den Linksextremismus beziehen, wie Sie es getan haben, ist das,
glaube ich, der Sache nicht angemessen.
({6})
- Doch, das war so.
Die Funkzellenabfrage wurde später massiv weiter
genutzt. Die Daten wurden, wie inzwischen herauskam,
später auch für andere Verfahren genutzt. Das ist eine
Maßnahme, die längst außerhalb dessen steht, was gerechtfertigt ist. Daraus wurden auch Konsequenzen gezogen.
({7})
Wir können aus dem Fall auch lernen, dass Daten, die
einmal in großem Maßstab erhoben wurden, häufig auch
für ganz andere Zwecke verwendet werden, als ursprünglich vorgesehen war. Das ist etwas, was unsere
Fraktion bzw. die Liberalen schon immer befürchtet haben. Das ist übrigens auch unsere Position, wenn es darum geht, wie man mit Daten umgeht, die für längere
Zeit gespeichert werden. Unser Vorschlag war und ist
auch weiterhin, dass man sehr vorsichtig damit umgehen
muss, überhaupt Daten zu erheben.
({8})
- Daten nicht so zu verwenden war schon immer unsere
Position, liebe Kollegen. Ich wüsste gar nicht, dass Sie
jetzt irgendetwas Neues gehört haben könnten. Denn
wenn Telekommunikationsunternehmen Daten vorrätig
halten, gibt es immer andere, die darauf zugreifen möchten. Deswegen ist es gut und klug, sich an dieser Stelle
sehr vorsichtig zu verhalten. Den Rest - da bin ich mir
ganz sicher - wird man sich im Land Sachsen anschauen.
Ich sage noch einmal: Wir sollten uns § 100 g StPO
noch einmal in Ruhe anschauen und dann vielleicht eine
sachgerechte Debatte zu diesem Thema führen.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wende mich erst einmal an meine Kollegen von der
Union: Dass Sie heute versuchen, das polizeiliche Verfahren einer massenhaften Funkzellenabfrage in Sachsen, das bereits als rechtswidrig erkannt worden ist, als
eine ganz normale Ermittlungsmethode darzustellen, ist
der eigentliche Skandal in der heutigen Diskussion.
({0})
Was die FDP-Kollegen angeht: Auch wir werden den
Vorschlag aufgreifen, uns die Strafprozessordnung in
diesem Zusammenhang anzuschauen und hier erneut darüber zu diskutieren. Sie wollen sich immer den Anstrich
einer sogenannten Bürgerrechtspartei geben. Das, was
Sie heute hier geboten haben, hat aber mit Sachlichkeit
absolut nichts zu tun. Es ist einfach nur noch peinlich.
({1})
Heute ist mehrfach zu Recht gesagt worden, dass das
polizeiliche Vorgehen in Dresden mit der Verhältnismäßigkeit der Mittel nichts, aber auch gar nichts mehr zu
tun hatte.
Im Rahmen der Vorstellung des Bundesverfassungsschutzberichtes ist erneut dargelegt worden, dass die Anzahl der Nazigewalttaten vor allem in Ostdeutschland
angestiegen ist. Es ist gerade deswegen überhaupt nicht
hinzunehmen, dass eine Demonstration gegen Nazis mit
über 20 000 Menschen, wie sie in Dresden stattgefunden
hat, insgesamt kriminalisiert wird. Dies ist bereits im
Vorfeld geschehen. Denn auch schon vorher wurde das
Bündnis „Nazifrei! - Dresden stellt sich quer“ beobachtet.
({2})
Die betroffenen Bürgerinitiativen, die diese Demonstration organisiert haben, wussten nicht, dass sie schon im
Vorfeld - Stichwort § 129 - ausgespäht wurden. Das ist
in der Tat - hierbei handelt es sich übrigens um Bundesgesetze - eine Kriminalisierung von Antifaschisten. Das
ist einfach nicht hinzunehmen.
({3})
Die sächsische Regierung schwindelt sich in diesen
Tagen im Übrigen von einer Lüge zur nächsten. Heute
wissen wir, dass ganze Stadtteile total überwacht wurden.
({4})
Die Daten Zehntausender Handynutzer wurden erfasst.
1 Million Handydatensätze sind gespeichert worden; das
ist schon mehrfach gesagt worden. Sogenannte IMSICatcher wurden eingesetzt, um direkt mitzuhören, was in
den Handygesprächen vor Ort gesagt wurde. Wir bekommen hiermit einen Vorgeschmack auf die Pläne von
CDU und SPD - das ist der einzige Punkt, in dem ich der
Kollegin Piltz zustimmen kann -, die uneingeschränkte
anlasslose Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen
und das Kommunikationsverhalten der gesamten Bevölkerung zu erfassen. Das lehnen wir ganz klar ab. Aber
genau das hat dort stattgefunden.
({5})
- Hier geht es darum, dass Zehntausende unbescholtener
Bürger, über die wir heute kaum geredet haben,
({6})
ebenfalls abgehört wurden; das müssen Sie sich klarmachen.
({7})
Es gibt keinen Grund, zu glauben, es sei der Polizei nur
darum gegangen, einzelne Gewalttäter unter Zehntausenden Nazigegnern zu identifizieren. Wenn Neonazis in
der Vergangenheit irgendwo in Sachsen einen Migranten
oder einen Obdachlosen zusammengeschlagen haben,
hat die Polizei noch nie - ich betone: noch nie - flächendeckende Abhörmaßnahmen durchgeführt; Sie müssen
mir erst das Gegenteil beweisen. Das heißt natürlich
nicht, dass wir das fordern. Entscheidend ist aber, welche verhältnismäßigen Mittel zu welchem Zeitpunkt eingesetzt werden. Es wird deutlich, dass es Ihnen vor allem
um eines geht: Der Feind steht auf der Seite der Antifaschisten und eben nicht auf der Seite der Neonazis.
({8})
Das ist hier das große Problem.
({9})
- Ich glaube, ich habe hier das Wort.
In den Augen der sächsischen Regierung ist jeder kriminell, der dazu beigetragen hat, den Naziaufmarsch am
19. Februar 2011 zu verhindern. Nicht anders ist zu erklären, dass dort im Vorfeld allen Ernstes Abhörmethoden gegen das Bündnis „Dresden - Nazifrei“ eingesetzt
worden sind. Ich hoffe, dass es Klagen von Journalisten
und Anwälten geben wird; denn auch der Überwachungsschutz wurde verletzt.
({10})
Anwälte, Journalisten und auch Parlamentarier haben
Berufsgeheimnisse. Sie dürfen deshalb nicht überwacht
werden. Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse
hat diesen Skandal als „Demokratie auf Sächsisch“ bezeichnet. Dem kann ich eigentlich nur in einer Hinsicht
widersprechen: Es handelt sich in diesem Fall nicht nur
um Sachsen. So etwas gibt es auch in anderen Teilen der
Republik.
Die Bundesregierung darf sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen. Ich hoffe, dass wir eine auswertende
Debatte führen werden, und zwar nicht nur in Bezug auf
den § 100. Wir fordern, dass die Daten nach der Aufklärung dieses Sachverhalts unter Beteiligung von Datenschutzbeauftragten gelöscht werden. Das ist das Mindeste, was passieren sollte. Aber erst einmal muss der
Fall aufgeklärt werden. Die Bundespolizei hat dort übrigens mit Verbindungsbeamten im Einsatzstab gearbeitet,
das heißt, auch bei ihr liegt die Verantwortung, mitzuwirken, dass die Aufklärung vorangeht. Der Einsatz dort
hat fast eine halbe Million DM - Entschuldigung: Euro gekostet.
({11})
Kollegin Jelpke, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum letzten Satz. - Wir werden unsere begonnene Auswertung dieses Einsatzes fortführen. Ich
hoffe, dass wir von den antifaschistischen Bündnissen
viel Unterstützung bekommen.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Wir haben nun fast eine Stunde über
das Thema Einschränkung der Versammlungsfreiheit
durch Massenfunkzellenabfrage vor dem Hintergrund einer Neonazidemonstration in Dresden im Februar dieses
Jahres diskutiert. Man muss es deutlich sagen: Das
rechtfertigt dem Grunde nach keine Befassung des Bundestags in einer Aktuellen Stunde.
({0})
Denn es fanden nicht unerhebliche Ausschreitungen unter Ausnutzung des Demonstrationsrechts statt. Im Anschluss daran hat die sächsische Polizei zur Ermittlung
der Straftaten und der Straftäter die Daten von zahlreichen Handynutzern überprüft und ausgewertet.
({1})
Das ist ein klassisches Thema für den Sächsischen Landtag.
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, ich danke Ihnen dennoch für diese Aktuelle
Stunde. Sie haben völlig recht: Das in Art. 8 unseres
Grundgesetzes verankerte Recht der Versammlungsfreiheit ist ein zentrales Grundrecht, das es zu schützen gilt.
In Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz heißt es - ich zitiere -:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.
({2})
Ich betone: „friedlich und ohne Waffen“. Allerdings erleben wir seit Jahren, dass Demonstrationen keineswegs
friedlich ablaufen. Im Gegenteil: Es kommt immer wieder zu teils heftigen Ausschreitungen und Gewalt gegen
Personen und Sachen, und zwar sowohl seitens der rechten wie seitens der linken Szene. Durch die Gewaltbereitschaft wird das Versammlungsrecht immer wieder
missbraucht, und dieser Missbrauch führt zur Gefährdung des Grundrechts als solchem. Deshalb gebietet der
Schutz des Versammlungsrechtes, diejenigen zu ermitteln, die dieses Recht missbrauchen und infrage stellen.
({3})
Wie aber ermittelt man die teils vermummten Täter
mit Erfolg?
({4})
Wie zieht man Demonstranten, die sich Mützen über den
Kopf ziehen, um nicht erkannt zu werden und um in dieser Anonymität Gewalt auszuüben, zur Verantwortung?
Der Berliner Innensenator Körting warnte am Dienstagmorgen in einem Gespräch mit dem Tagesspiegel vor
einer Eskalation der Gewalt zwischen Rechts- und
Linksextremisten: Er befürchte vor allem, dass bei Extremisten auf jede Aktion eine Gegenaktion folge - das
ist sicherlich berechtigt -,
({5})
und dem gelte es, Einhalt zu gebieten. Der Innensenator
hat vollkommen recht: Die Spirale der Gewalt und die
Bereitschaft, das in Art. 8 Grundgesetz verankerte Recht
auf Versammlungsfreiheit für die eigenen Zwecke zu
missbrauchen, müssen wir mit allen nötigen, aber natürlich auch rechtmäßigen Mitteln unterbinden.
({6})
Wenn dies, wie hier, mit legitimen Mitteln auf der
Grundlage unserer Gesetze geschieht, dann ist das in
Ordnung und nicht in Zweifel zu ziehen.
Die Erhebung der Funkzellendaten durch die Polizei
- das ist mehrfach ausgeführt worden - findet ihre
Grundlage in § 100 g StPO. Danach dürfen bei Verdacht
auf eine Straftat von erheblicher Bedeutung auch ohne
Wissen des Betroffenen Verkehrsdaten erhoben werden,
soweit dies für die Erforschung des Sachverhalts oder
die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten
erforderlich ist. Ich frage Sie allen Ernstes: Was wollen
Sie sonst in einer solchen Situation machen?
Es lag ein richterlicher Beschluss des Amtsgerichts
vor. Die Maßnahme lag auch in einem engen zeitlichen
und räumlichen Zusammenhang zu den Ausschreitungen. Herr Wiefelspütz, dass auch Unbeteiligte in das
Fahndungsraster gerieten, das liegt leider - ich betone:
leider - in der Natur der Sache, weil die Provider nicht
zwischen Unbeteiligten und Beschuldigten unterscheiden, wenn sie alle Verbindungsdaten einer Funkzelle bekannt geben.
({7})
Dazu komme ich gleich, Herr Montag.
({8})
Zwei Dinge möchte ich ausdrücklich betonen, weil
hier rein aus politischen Gründen versucht wird, das in
anderer Weise darzustellen:
Erstens. Die ermittelten Daten bestehen nicht aus Gesprächsinhalten.
({9})
Bei den ermittelten Daten handelt es sich um sogenannte
Verbindungsdaten. Als Ergebnis der Abfrage wird der
Polizei eine Vielzahl von Verkehrsdaten übermittelt. Die
Polizei erkennt anhand dieser Daten aber lediglich, welche Mobilfunkanschlüsse wann, wo und wie verwendet
wurden. Sie ersieht aus den Daten nicht einmal, wer der
Anschlussinhaber ist.
({10})
Sie sieht damit erst recht nicht, welche Personen miteinander kommuniziert haben oder welchen Inhalt diese
Gespräche oder die versandte SMS hatten.
Zweitens. Durch die Zahl mag man jetzt zunächst einmal misstrauisch werden, weil man mit dieser Fahndungsmaßnahme natürlich eine große Zahl von Personen
ermittelt hat, aber ich sage noch einmal: Wenn eine Massendemonstration, die wir grundsätzlich für richtig halten, missbraucht wird, besteht natürlich auch das Risiko,
dass mit dieser Methode zu viele Menschen erfasst werden.
({11})
- Natürlich haben die Extremisten sie missbraucht.
({12})
- Die nicht, von denen rede ich nicht.
({13})
- Die sind leider miterfasst worden, aber das war nicht
das Ziel der Aktion.
Ich muss Ihnen ganz offen und ehrlich sagen - das ist
hier zum Glück bei einigen Kollegen schon mehrfach
angeklungen -: Ich vermisse hier eine eindeutige Stellungnahme zur Unterstützung der Polizei, die sich in diesen Situationen mit Gewalttätern auseinandersetzen
muss. Dazu hat hier bis zum jetzigen Zeitpunkt jedes
Wort der Antragsteller gefehlt.
({14})
Kollege Brandt, achten Sie bitte auf das Signal.
Frau Präsidentin, ich sehe, dass meine Redezeit leider
schon zu Ende ist. Ich komme zum Schluss.
In der Süddeutschen Zeitung vom 24. Juni 2011 heißt
es:
Bisher wurde über den Einsatz der Methode vor allem nach schweren Straftaten wie dem Holzklotzwurf von einer Autobahnbrücke in Niedersachsen
berichtet. Aber bei einer Demonstration?
Das war die Frage. Ich sage zum Schluss: Ja, notfalls
und im Einzelfall auch bei einer Demonstration. Wenn
hier wegen vorsätzlicher Delikte wie versuchtem Totschlag, 37 Körperverletzungen zum Nachteil von Polizeibeamten
({0})
und Landfriedensbruch ermittelt wird, dann sind diese
Methoden gerechtfertigt.
Danke schön.
({1})
- Ja, da gehören Sie hin.
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe mich spät entschlossen, hier doch das Wort zu
ergreifen. Ich will Ihnen nicht Ihre Zeit stehlen,
({0})
aber mir scheint doch, dass ein paar Dinge klargestellt
werden müssen.
({1})
Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet - das werden
Sie nicht bestreiten, lieber Herr Montag -:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.
({2})
Sie wissen, dass ich ein berühmter Verfassungsrechtler
bin.
({3})
Man kann Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz auch folgendermaßen lesen, Herr Ströbele - und ich glaube, Sie werden
mir nicht widersprechen -: Alle Deutschen haben das
Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und
ohne Waffen zu versammeln - mit oder ohne Handy. Das ist nicht absurd oder lächerlich.
({4})
Bei dieser großen Versammlung am 19. Februar 2011
in Dresden haben sich über 10 000 Menschen friedlich
und ohne Waffen versammelt. Ich gehe davon aus, dass
die meisten dieser Menschen - oder zumindest Tausende, Herr Sensburg - auch ein Handy in der Tasche
hatten.
({5})
Die meisten dieser Menschen - 99 Prozent - haben
friedlich von ihrem Grundrecht Gebrauch gemacht. Einige wenige haben schwere Straftaten zum Nachteil von
Polizisten begangen. Dafür gibt es überhaupt keine Entschuldigung, und diese Straftaten müssen geahndet werden. Das ist überhaupt keine Frage. Ich denke, darin sind
wir uns alle hier von links bis rechts einig.
({6})
Das kann gar nicht streitig sein.
Es kann aber doch nicht wahr sein, dass ein friedlicher Versammlungsteilnehmer, der ein Handy in der
Tasche hat, damit rechnen muss, durch die Funkzellenabfrage an diesem 19. Februar 2011 mit seinen Verkehrsdaten in dieser oder jener Akte aufzutauchen. Ich muss
als friedlicher Versammlungsteilnehmer, der keine Straftaten begeht und gegen den es keinen konkreten Verdacht gibt, das Vertrauen haben, dass ich nicht Gegenstand polizeilicher Beobachtung werde und dass keine
Daten von mir erfasst werden. Das kann doch an dieser
Stelle überhaupt nicht streitig sein.
({7})
Man muss erst einmal auf die Idee kommen, dass das etwas mit der durchaus legitimen Diskussion über Vorratsdatenspeicherung zu tun haben könnte. Nichts hat das
damit zu tun.
({8})
Hier hat Strafverfolgung stattgefunden, weil es in der Tat
einen konkreten Verdacht auf schwerste Straftaten gab.
Aber dann die Daten von Zehntausenden von Menschen
über Funkzellenabfrage zu erfassen, wenn die von der
Demonstration mit ihrer Freundin telefonieren oder mit
jemand anderem kommunizieren, so wie wir das alle tun
- das kann doch nicht wahr sein.
Lieber Kollege Brandt, lieber Kollege Sensburg, man
kann über vieles streiten. Aber dass hier das Prinzip der
Verhältnismäßigkeit massiv verletzt worden ist, ist mit
Händen zu greifen. Ich möchte gerne dazu beitragen,
dass wir nicht eine parteipolitische Debatte gegen oder
für den sächsischen Innenminister oder wen auch immer
führen. Wir müssen sehen, dass der aus meiner Sicht
durchaus legitime Einsatz nach § 100 g StPO - über Einzelheiten kann man reden - an vielen Stellen sinnvoll ist,
um schwerste Straftaten aufzuklären. Es darf aber nicht
sein, dass die Möglichkeiten dieses Paragrafen so ausgelegt werden - das ist auch von einem Richter abgesegnet
worden -, dass es zu Kollateralschäden oder einer Verletzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit kommt und
damit letztlich § 100 g StPO infrage gestellt wird. Wir
blamieren uns doch alle miteinander, wenn wir das
Recht in dieser völlig unverhältnismäßigen Form anwenden.
Es kann nicht sein, dass Zehntausende von friedlichen
Versammlungsteilnehmern Opfer einer Strafverfolgung
werden und dass ihre Daten ausgelesen werden. Das ist
nicht in Ordnung. Das müssen wir abstellen. Wenn das
anders nicht möglich ist, dann müssen wir das entsprechende Gesetz präzisieren.
({9})
Es müsste doch in diesem Haus einen großen Konsens dahin gehend geben, dass das nicht sein darf, gerade
wenn wir verhindern wollen, dass schwere Straftaten
begangen werden oder wenn wir Täter von schweren
Verbrechen ermitteln wollen. Die Möglichkeiten nach
§ 100 g StPO sind an vielen Stellen sinnvoll angewandt
worden. Am 19. Februar dieses Jahres ist man in Dresden weit über das verfassungsrechtlich zulässige Ziel hinausgeschossen. Das ist eine schwere Grundrechtsverletzung. Ich möchte sehr dafür werben, dass wir uns an
dieser Stelle einig sind.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({10})
Das Wort hat der Kollege Günter Baumann für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Natürlich kann jede Fraktion eine Aktuelle
Stunde beantragen - das ist auch gut so -, auch wenn es
Freitagnachmittag ist. Das ist alles kein Problem. Aber
es muss ein Thema mit Bundesbezug sein.
({0})
Für mich ist das eindeutig ein Thema, das im Land Sachsen geklärt werden muss. Der Landtag hat sich diese
Woche damit beschäftigt und gesagt: Dieses Thema gehört in unser Land, nicht nach Berlin.
({1})
Ich möchte ganz kurz etwas zur Vorgeschichte sagen,
weil hier vieles untergegangen ist. Jedes Jahr am 13. Februar - das ist gut so - gedenken friedliche Menschen in
Dresden der Bombardierung ihrer Stadt, gehen auf die
Straße und verleihen ihrer Trauer Ausdruck. Das muss
möglich sein. Wir sind verpflichtet, eine solche Veranstaltung abzusichern. Einige Redner haben es schon gesagt - ihnen gebe ich 100 Prozent recht -: Wir müssen
im Vorfeld mehr dafür tun, dass weder rechte noch linke
Chaoten diese Veranstaltung stören können. Wir alle
müssen etwas mehr dafür tun, dass dies möglich ist.
In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass diese
Versammlungen am 13. und 14. Februar in Dresden
missbraucht werden, weil von Rechten Demonstrationen
beantragt werden, die genehmigt werden müssen. Wir
alle kennen die Gesetze bestens. Dieses Recht wird
missbraucht, um dort aufzumarschieren, was uns allen
wehtut; das ist gar keine Frage. Infolgedessen kommen
meistens zusätzlich linke Chaoten. Dadurch entstehen
die berühmten Straßenschlachten.
In diesem Jahr war das in Dresden besonders extrem,
weil die Rechten die Versammlung instrumentalisiert haben und den Krieg, so wie er war, geleugnet haben; das
kann man nicht dulden. Das ist ein Missbrauch auf dem
Rücken der Dresdner Einwohner. Ich denke, in diesem
Punkt sind wir uns einig. Wir sind alle wütend, wenn wir
sehen, dass linke Chaoten dazukommen und sich den
Rechten entgegenstellen. Das führte dann zu Straßenschlachten. Ich denke, das kam zu wenig heraus: In
Dresden gab es Straßenschlachten. Arnold Vaatz hat das
von vielen Bürgerinnen und Bürgern in seinem Wahlkreis gehört. Die Stadt hat gebrannt. Es haben Mülltonnen gebrannt. Es wurden Steine in Fensterscheiben
friedlicher Bürger geworfen. Es ging dort also chaotisch
zu.
Die Frage ist, was man in einer solchen Situation machen kann. Soll man zuschauen, Wasserwerfer einsetzen
oder was auch immer? Frau Lühmann, Sie haben das
Thema angesprochen. Wenn man zwischen zwei chaotischen Gruppen steht, muss man vielleicht einiges tun,
was man normalerweise nicht macht.
In Dresden wurden 112 Polizisten zum Teil schwer
verletzt. Das kann man nicht hinnehmen. Es wurden insgesamt 687 Straftaten registriert. Die Spitze - im wahrsten Sinne des Wortes - war, dass eine Eisenspitze hinterrücks auf Polizisten geworfen wurde. Das ist eindeutig
versuchter Totschlag, und das kann man nicht hinnehmen.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen,
den Polizistinnen und Polizisten ganz herzlich zu danken, die jeden Tag in unserem Land an irgendeiner Stelle
stehen und die auch in Dresden standen und einen Superjob für unsere Sicherheit leisten. Herzlichen Dank allen
Polizisten, die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt und dafür gesorgt haben, dass halbwegs Ordnung herrschte!
({3})
Ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will, dass die Straftaten aufgeklärt
und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Die
sächsische Polizei hat eine Sonderkommission gegründet - das ist, glaube ich, in solchen Fällen üblich - und
hat als Ermittlungsansatz bei der Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Funkzellenabfrage gestellt. Auch das ist
ein ganz normales Vorgehen. Die Staatsanwaltschaft hat
den Antrag geprüft, und ein Richter hat ihn genehmigt.
Ich frage mich, ob Sie die Unabhängigkeit der Richter
abschaffen wollen, weil das Vorgehen Ihrer Meinung
nach nicht in Ordnung war. Dann muss man das deutlich
sagen.
Wir sagen: Wenn ein Richter das nach der Prüfung
durch den Staatsanwalt genehmigt, dann ist das in Ordnung. Dann darf es gemacht werden. Das ist auch in dieser Form erfolgt.
({4})
- Dazu komme ich noch. - 45 Strafverfahren wurden
eingeleitet und bearbeitet. Der sächsische Innenminister
hat deutlich gesagt, dass es hierbei zu einer Datenerfassung kam, die nicht zulässig war. Diese Daten wurden
aus den Akten herausgenommen. Das wurde geklärt. Es
sagt niemand, dass in Dresden alles zu 100 Prozent sauber gelaufen ist.
({5})
Es gab den Beschluss eines Richters. Danach wurde
gehandelt. In einigen Fällen wurden Daten verwendet, in
denen dies nicht zulässig war. Das ist korrigiert worden.
Insofern ist das in Ordnung. Es wird auch weiter aufgearbeitet.
Der Landtag hat sich diese Woche damit beschäftigt.
Marko Schiemann, mein Kollege im Landtag, hat gesagt, dass dieses Thema eindeutig nicht nach Berlin gehört; es sei keine Angelegenheit der Bundesregierung,
sondern ein Dresdner bzw. ein sächsisches Thema, das in
Sachsen aufgearbeitet werden solle. Dem kann man
nichts entgegensetzen.
({6})
Ich komme zum Schluss. Ich denke, wenn eine Stadt
brennt und es in den Straßen zu Chaos kommt, sollten
wir alle Mittel nutzen, dagegen vorzugehen. Das müssen
wir bekämpfen. Dazu gehört auch die Funkzellenabfrage
nach Genehmigung eines Richters.
Wir sind auch verpflichtet, alles zu tun, um unsere
Polizistinnen und Polizisten und unsere Bürgerinnen und
Bürger vor den Chaoten zu schützen. Dabei ist jedes
Mittel recht, welches das Gesetz zulässt.
Herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
({7})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. Juli 2011, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.