Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte
ich der Kollegin Elvira Drobinski-Weiß und dem Kollegen Michael Schlecht zum jeweils 60. Geburtstag gratulieren, den sie am vergangenen Wochenende gefeiert
haben, und im Namen des ganzen Hauses gute Wünsche
übermitteln.
({0})
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt anstelle
des aus dem Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Abgeordneten Alexander Bonde den Kollegen Dr. Gerhard
Schick als neues Mitglied im Gremium gemäß § 10 a
des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes vor. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist der Kollege Schick in das Gremium gewählt.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5
Nr. 1 b GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 1 und 2 auf Drucksache 17/6273
({2})
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Energiewende zukunftsfähig gestalten
- Drucksache 17/6292 ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Volker Beck ({3}), Cornelia Behm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({4})
- Drucksache 17/6302 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Heinz-Joachim Barchmann,
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach
2013 - Konzept zum „Greening“ der Direktzahlungen vorlegen
- Drucksache 17/6299 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Wolfgang Wieland, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortlichkeit der Bundesregierung für
den Umgang des Bundesnachrichtendienstes
mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf
Eichmann
- Drucksache 17/4586 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Stuttgart 21 - Ergebnis des Stresstests respektieren - Keine Blockadepolitik
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/6290 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Rechtsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische
Mindestlöhne erleichtern
- Drucksache 17/4437 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Parteiengesetzes und eines
… Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 17/6291 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Herbert Behrens,
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Kommission zur Überprüfung des Abgeordnetenrechts - Mehr Transparenz und Verantwortung für das Gemeinwohl
- Drucksache 17/6305 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, Stephan
Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stuttgart 21 - Kein Weiterbau ohne Nachweis
der Leistungsfähigkeit und ohne Klärung der
Kosten und Risiken
- Drucksache 17/6320 -
ZP 11 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Einführung eines Ordnungsgeldes
- Drucksache 17/5471 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13})
- Drucksache 17/6309 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({14})
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({15})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Geschäftsordnungsausschusses
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Einführung eines Ordnungsgeldes
({16})
- Drucksache 17/6309 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({17})
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({18})
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Schmidt ({19}), Siegmund Ehrmann, Martin
Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Claudia Roth ({20}), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens
zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes
vorbereiten und unverzüglich umsetzen
- Drucksache 17/6301 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({21})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Tourismus
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,
Volker Beck ({22}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gutachten über die geplanten EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien
Präsident Dr. Norbert Lammert
beim Gerichtshof der Europäischen Union einholen
- Drucksache 17/6331 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({23})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
„Kulturelles Erbe 2.0“ - Digitalisierung von
Kulturgütern beschleunigen
- Drucksache 17/6296 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({24})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Personelle und institutionelle Kontinuitäten
und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich
NS-Vorgängerinstitutionen systematisch untersuchen
- Drucksache 17/6318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({25})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Dr. Rolf Mützenich, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Nahost-Friedensbemühungen neuen
Schwung verleihen
- Drucksache 17/6298 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({26})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Priska Hinz ({27}), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den Legislativvorschlägen der Europäischen Kommission „Wirtschaftspolitische
Steuerung in der EU“ ({28})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
Bundesregierung muss unverzüglich europäisch gestalten
- Drucksache 17/6316 ZP 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({29})
zu dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag für eine Verordnung ({30})
Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verordnung ({31}) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem
übermäßigen Defizit
- Ratsdok.-Nr. 14496/10 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten
- Ratsdok.-Nr. 14497/10 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
- Ratsdok.-Nr. 14498/10 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({32}) Nr. 1466/97 über
den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken
- Ratsdok.-Nr. 14520/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/5904, 17/6168 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({33})
Roland Claus
Priska Hinz ({34})
ZP 19 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({35}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht,
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über
Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur
übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet ({36})
und
Präsident Dr. Norbert Lammert
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ({37})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/5905, 17/6175 Berichterstattung:
Abgeordneter Garrelt Duin
ZP 20 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Einschränkung des Versammlungsrechts durch
Massenfunkzellenabfrage
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 9, 10, 13, 17 a und 40 werden abgesetzt. Hierdurch kommt es zu den ebenfalls in
der Zusatzpunktliste dargestellten Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 10. Juni 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({38}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallrechts
- Drucksache 17/6052 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({39})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der am 27. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss ({40})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin
Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Rekommunalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private-Partnerschaften stoppen
- Drucksachen 17/5776 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({41})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Können Sie sich auch damit anfreunden? - Das ist of-
fensichtlich so. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis p sowie
die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
4 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
- Drucksache 17/6070 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes
- Drucksache 17/6246 - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine beschleunigte Stilllegung von
Atomkraftwerken
- Drucksache 17/5179 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dorothee Menzner, Eva BullingSchröter, Ralph Lenkert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Atomgesetzes - Keine Übertragbarkeit
von Reststrommengen
- Drucksache 17/5472 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia
Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes
zur Änderung des Atomgesetzes und zur
Wiederherstellung des Atomkonsenses
- Drucksache 17/5035 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia
Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes
zur Änderung des Atomgesetzes - Abschalten der acht unsichersten Atomkraftwerke
- Drucksache 17/5180 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia
Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes ({42})
- Drucksache 17/5931 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({43})
- Drucksache 17/6361
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Marco Bülow
Dorothee Menzner
Sylvia Kotting-Uhl
- Bericht des Haushaltsausschusses ({0}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6362 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Sören Bartol
Heinz-Peter Haustein
Sven-Christian Kindler
Michael Leutert
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sofortige Stilllegung der sieben ältesten
Atomkraftwerke und des Atomkraftwerks
Krümmel
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Atomausstieg bis 2014 - Für eine erneuer-
bare und demokratische Energieversorgung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle,
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Versorgungssicherheit transparent machen -
Keine Experimente mit atomarer „Kaltre-
serve“
- Drucksachen 17/5478, 17/6092, 17/6109,
17/6361 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Marco Bülow
Dorothee Menzner
Sylvia Kotting-Uhl
c) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Rechtsrahmens für die Förderung der
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
- Drucksache 17/6071 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens
für die Förderung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien
- Drucksache 17/6247 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- Drucksache 17/6363 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Dorothee Menzner
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Energiewende jetzt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Atomzeitalter beenden - Energiewende jetzt
- Drucksachen 17/5182, 17/5202, 17/6363 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Dorothee Menzner
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({4})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
10 Jahre EEG - Auf dem besten Weg zu ei-
ner ökologischen und sozialen Energiewende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Erneuerbare Energie ausbauen statt Atom-
kraft verlängern
- Drucksachen 17/778, 17/799, 17/4953 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Dorothee Menzner
f) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6072 13366
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6248 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5})
- Drucksache 17/6365 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Auf dem Weg zu einem nachhaltigen, effizienten, bezahlbaren und sicheren Energiesystem
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil
({8}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Programm für eine nachhaltige, bezahlbare
und sichere Energieversorgung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutzschirm für Stromkunden - Bezahl-
bare Energiepreise gewährleisten
- Drucksachen 17/5181, 17/5481, 17/5760,
17/6365 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
h) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen
zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/6073 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung
des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/6249 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
({9})
- Drucksache 17/6366 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Nestle
- Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6367 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Klaus Brandner
Roland Claus
Priska Hinz ({11})
i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell,
Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Modernisierung der Stromnetze - Bürgernah,
zügig, für erneuerbare Energien
- Drucksachen 17/5762, 17/6366 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Nestle
j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker,
Hubertus Heil ({14}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Die Energieeffizienz verbessern - Auf dem eu-
ropäischen Sondergipfel zur Energiepolitik
am 4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen
vereinbaren
- Drucksachen 17/4528, 17/4785 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Nestle
k) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen
Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden
- Drucksache 17/6074 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
energetischen Sanierungsmaßnahmen an
Wohngebäuden
- Drucksache 17/6251 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({15})
- Drucksache 17/6358 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Präsident Dr. Norbert Lammert
Lothar Binding ({16})
Dr. Birgit Reinemund
- Bericht des Haushaltsausschusses ({17}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6360 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({18})
Roland Claus
Priska Hinz ({19})
l) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energieund Klimafonds“ ({20})
- Drucksache 17/6252 ({21}) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“({22})
- Drucksache 17/6075 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({23})
- Drucksache 17/6356 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Sören Bartol
Roland Claus
Sven-Christian Kindler
m)- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
klimagerechten Entwicklung in den Städten
und Gemeinden
- Drucksache 17/6076 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden
- Drucksache 17/6253 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({24})
- Drucksache 17/6357 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
n) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6077 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6254 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({25})
- Drucksache 17/6364 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
o) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({26}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Oliver
Krischer, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunkturpaket ({27}) unverzüglich für mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien nutzen
- Drucksachen 17/4017, 17/5225 Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel ({28})
p) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara
Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({29})
- Drucksache 17/5474 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({30})
- Drucksache 17/6349 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Hartmann ({31})
Jan Korte
Wolfgang Wieland
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Energiewende zukunftsfähig gestalten
- Drucksache 17/6292 ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Volker Beck ({32}), Cornelia Behm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Grundge13368
Präsident Dr. Norbert Lammert
setzes ({33})
- Drucksache 17/6302 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({34})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es liegen Entschließungsanträge der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke vor. Über vier Vorlagen werden wir im Anschluss an die Debatte namentlich
abstimmen.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat die Anträge der Fraktion der SPD, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zu Rückstellungen im Kernenergiebereich auf
den Drucksachen 17/5901, 17/5480 und 17/6119 nicht in
seine Beschlussempfehlung einbezogen. Diese Vorlagen
sollen heute nicht behandelt werden. - Ich höre auch
dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Auch dazu darf ich Einvernehmen feststellen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister Dr. Norbert Röttgen.
({35})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Hohe Haus wird heute nach mindestens 30-jähriger kontroverser und zum Teil unversöhnlicher Debatte
über die Energiepolitik in unserem Land einen energiepolitischen Konsens beschließen. Das ist ein Ereignis für
sich. Ich glaube, dass das heute im Zentrum steht und
auch als Signal an unser Land und an die Bevölkerung
geht.
Wir haben monatelang - beileibe nicht nur in den letzten drei Monaten - über Cent-Beträge, über halbe Prozentpunkte und über Jahreszahlen diskutiert. Diese Debatte hat das Land geprägt und geht heute über die
Fraktionen und die Parteien hinweg in eine gemeinsame
Entscheidung des Bundestages, des Parlaments, ein. Ich
glaube, nach den Gesprächen kann man sagen, dass sie
auch von allen Bundesländern akzeptiert wird und dass
sie ihr in der nächsten Woche zustimmen werden. Ich
glaube, dass das eine wirkliche Weichenstellung ist, mit
der unser Land jetzt dieses gemeinsames Projekt beschließt. Es ist ein nationales Gemeinschaftsprojekt, das
heute beschlossen wird. Das ist ein sehr guter Tag für
Deutschland, für unser Land.
({0})
Es ist damit nichts beendet, sondern dieses nationale
Gemeinschaftswerk geht jetzt los. Die Deutschen, unser
Land, wollen dabei mitmachen. Es ist wirklich ein Gemeinschaftsprojekt, nicht nur der Politik, sondern des
gesamten Landes.
({1})
Es sind die Unternehmen, die mitmachen wollen und
die mitmachen werden. Es ist das Handwerk, das sich
darauf freut, unser Land erneuerbar, innovativ und effizient zu machen.
({2})
Es ist die Elektroindustrie. Es ist die IT-Branche, die sich
darauf freut und vorbereitet hat, mit intelligenten Netzen
und intelligenten Leitungen ein ganz neues Industriefeld
zu entwickeln.
({3})
Es ist die Chemieindustrie. Es ist die Automobilindustrie
mit dem Projekt der Elektromobilität. Es ist der Maschinenbau. Es ist die Energiewirtschaft.
Einen Augenblick, bitte. Wir haben uns gerade darauf
verständigt, zweieinhalb Stunden zu debattieren. Dabei
besteht reichlich Gelegenheit, das, was jetzt in Zwischenrufen völlig unverständlich herüberkommt, in einer
für die deutsche Öffentlichkeit nachvollziehbaren Weise
vorzutragen. - Im Augenblick hat der Umweltminister
das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass man über
jedes Detail reden und dass man in dem einen oder anderen Punkt auch unterschiedlicher Auffassung sein kann.
Aber man muss auch ein Gespür dafür haben, dass es
jetzt nicht nur darum geht, recht zu haben und in einzelnen Punkten auf seiner Meinung zu bestehen,
({0})
sondern man muss auch begreifen, dass jetzt dieses nationale Werk in Deutschland losgeht. Wir laden Sie noch
einmal dazu ein und begrüßen es, dass Sie bei diesem
Projekt dabei sind. Es ist positiv für unser Land, dass es
jetzt losgeht. Sie sollten jetzt endgültig über Ihren Schatten springen. Das tun andere auch.
({1})
Es ist doch ausgesprochen positiv, wenn etwa der
Chef von Eon, der die Entscheidung über den Ausstieg
aus der Kernenergie so nicht befürwortet, sondern der
dagegen argumentiert hat, jetzt, nachdem mit dem heutigen Tag absehbar und klar ist, wie die Entscheidung ausgeht, öffentlich erklärt, diese Energiewende sei eine „riesige Chance“ für das Land. Es ist doch positiv, dass jetzt
alle, auch die Energiewirtschaft, sagen: Wir stellen uns
an die Spitze dieser Bewegung, die vorteilhaft sein wird
und die große Chancen für unser Land beinhaltet.
Wir alle hier im Haus wollen das gemeinsam. Es ist
die Koalition, die diesen Prozess angeführt hat,
({2})
aber wir alle kommen in diesem Prozess zusammen.
({3})
Es ist der Koalitionsvertrag, der dieses Land in das Zeitalter der erneuerbaren Energien führt.
({4})
Es sind nicht nur die Unternehmen, die an diesem Gemeinschaftswerk mitwirken werden, sondern das sind
die Wissenschaft und die Forschung. Das sind die
140 000 Ingenieure unseres Landes, die das als ihr Projekt ansehen. Es sind ganze Institute und Lehrstühle,
Forscher und Forschernetzwerke - ich war in der letzten
Woche in der TH Aachen -, die sich jetzt zu nationalen
Zentren der Energieforschung zusammenschließen, weil
sie wissen, dass es um die Zukunft unseres Landes geht.
Diese Forscher, Ingenieure, Wissenschaftler machen dabei mit. Das macht unser Land stark.
({5})
Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die dieses Projekt der Energiewende wollen, die mitmachen wollen
und werden.
({6})
Sie sind dabei. Sie wissen, dass dieser Prozess nicht umsonst ist. Natürlich ist das ein Investitionsvorhaben. Natürlich kostet das auch etwas. Aber es wird keinen überfordern. Die Leute wissen das. Die Leute wissen auch:
Wenn man die neue Energieversorgung haben möchte,
dann gehört auch eine neue Infrastruktur dazu. Wir brauchen die Leute gar nicht zu belehren und so tun, als würden sie sich immer nur die Rosinen herauspicken. Ich
bin davon überzeugt, dass die Menschen in diesem
Lande bei diesem Projekt der Energiewende und der
neuen Energiepolitik voll dabei sind. Es ist zuallererst
ein Bürgerprojekt, das heute in Gang gesetzt wird.
({7})
Denn genau das ist der Punkt: dass mit dem heutigen Tag
die Gesellschaft an den Start geht. Damit sind alle Streitigkeiten und Auseinandersetzungen in den Grundfragen
beigelegt.
Es mag zwar sein - so empfinde ich das bei Ihren
Zwischenrufen -, dass der eine oder andere doch noch
Schwierigkeiten hat, sozusagen ein parteipolitisches
Thema zu verlieren,
({8})
aber dadurch, dass der eine oder andere von Ihnen ein
parteitaktisches Thema verliert, gewinnt das Land umso
mehr. Sie haben sich in Ihren Parteien richtig entschieden, meine Damen und Herren.
({9})
Vollziehen Sie diesen Schritt nun konsequent weiter!
Aus solchen Streitigkeiten und Spaltungen der Gesellschaft mag man zwar parteipolitisches Kapital schlagen,
({10})
aber jetzt geht es darum, das Land voranzubringen.
({11})
Das haben Sie auch verstanden. Sie sollten sich in Ihren
Zwischenrufen nicht weniger intelligent benehmen als
gleich in Ihrem Abstimmungsverhalten.
({12})
Bekennen Sie sich dazu, dass Sie mitmachen! Es ist
richtig, dass Sie mitmachen, weil es zu dem Konsens dazugehört. Sie müssen und dürfen auch dazu stehen.
Was geschieht in der Sache? Wir haben beschlossen,
die Kernenergie in Deutschland mit klaren Zeitpunkten
versehen zu beenden.
Herr Minister, gestatten Sie Zwischenfragen?
Nein, ich würde gerne im Zusammenhang reden.
({0})
- Ja, ganz bestimmt.
Wir werden die Kernenergie erstmalig bezogen auf
konkrete Daten für jedes Kernkraftwerk in Deutschland
beenden. Es sind jetzt acht Kernkraftwerke, die nicht
mehr ans Netz gehen werden. Zwei davon sind seit Jahren nicht am Netz. Das heißt, es geht darum, dass
6,5 Gigawatt Leistung nicht mehr ans Netz gehen. Das
sind 6,5 von 93 Gigawatt gesicherter Leistung bei
82 Gigawatt Spitzenlast, die auf uns zukommen. Das ist
absolut verkraftbar.
Das ist alles anspruchsvoll, aber das werden wir sicher, weil wir alle diese Themen im Blick haben, realisieren und schaffen können. Ab dann gibt es einen sukzessiven und klar gestalteten Prozess, der Sicherheit
schafft. Alle können sich jetzt darauf einstellen und werden sich auch darauf einstellen.
Wir werden den Umstieg schaffen. Denn der Konsens, den wir herbeiführen, ist weit mehr als ein Ausstiegskonsens: Es ist ein Umstiegskonsens. Es geht um
den Umstieg auf erneuerbare Energien mit entsprechender Förderung, die aber immer weniger werden soll. Es
ist vielleicht einer der Diskussionspunkte, über die wir
noch reden müssen.
Meine Vorstellung bzw. die Vorstellung der Koalition
ist nicht, dass es umso besser ist, je länger und höher die
Förderung gewährt wird. Der Ehrgeiz bei den erneuerbaren Energien liegt vielmehr darin, dass sie im Markt ankommen und eines Tages keine Förderung mehr bekommen. Wir wollen nämlich die neuen Technologien
vorrangig mit marktwirtschaftlichen Mitteln in den
Markt einführen. Dieses Ziel verfolgen wir mit dem
EEG und der Novelle des EEG.
({1})
Wir machen darum das Erneuerbare-Energien-Gesetz
so wirtschaftsfreundlich und industriefreundlich, wie es
noch nie war, weil es alte Gegensätze sind, die neuen
Technologien zu fördern und gleichzeitig Industrieland
bleiben zu wollen. Um das klar zu sagen: Wir als Koalition wollen alle Beiträge leisten, dass wir Industrieland
bleiben. Wir wollen wirtschaftlich erfolgreich sein. Wir
wollen sogar an der Spitze stehen. Wir wollen Wachstum
haben, aber wir wollen und werden es schaffen, Wachstum so zu organisieren, dass wir nicht die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen aufzehren. Das ist das
große Projekt, das wir in der Energiepolitik realisieren.
Weit darüber hinaus schaffen wir eine Perspektive für
Natur und generationenverträgliches Wachstum, national
und international.
({2})
Die Energieversorgung wird dezentraler werden. Photovoltaik, Windenergie an Land und Biomasse bedeuten
dezentrale Energieversorgung. Es macht keinen Sinn,
die eine Technologie gegen die andere auszuspielen.
Windenergie an Land und Windenergie auf hoher See
sind unterschiedliche Technologien in unterschiedlichen
Entwicklungsstadien. Sie werden von uns spezifisch gefördert, weil wir die Technologien jetzt loslassen und
sich bewähren lassen wollen. Dann werden sich die besseren durchsetzen.
Die Versorgung mit erneuerbaren Energien wird mittelständischer sein. Wir werden als großes Industrieland
weiterhin das Engagement großer Energieversorgungsunternehmen brauchen. Aber es werden sich viel mehr
Mittelständler dort engagieren. Ob kleine oder mittelständische Unternehmen: Die Energieversorger werden
dezentral Energie erzeugen.
Die Energieversorgung in Deutschland wird technologisch anspruchsvoller werden, nicht nur die konventionellen Technologien, die fossile Energieversorgung und
die nukleare Energieversorgung. Es wird vielmehr ein
permanenter technologischer Lernprozess und Innovationsprozess in unserem Land starten. Die Energieversorgung wird sehr viel stärker vom Verbraucher her gesteuert, weil wir nicht mehr nur Leitungen haben, in die
Elektronen hineingeschossen werden - dabei ist der Verbraucher ein passiver Abnehmer -, sondern weil der Verbraucher in Zukunft mit intelligenten Zählern und intelligenten Leitungen selber bestimmen kann, wann er
welchen Strom zu welchem Preis beziehen will. Die Autonomie des Verbrauchers wird erheblich gestärkt werden.
Wir werden eine heimischere Energieerzeugung bekommen. Wir werden die Abhängigkeiten vom Import,
politische und geopolitische Abhängigkeiten, aber auch
die Volatilität des Preises, also wirtschaftliche Abhängigkeiten, reduzieren. Wir werden den Import, also dass
wir in Deutschland Geld verdienen und dafür Energiebrennstoff im Ausland kaufen müssen, deutlich reduzieren. Wir werden die Einkäufe aus dem Ausland ersetzen
durch eine Wertschöpfung in Deutschland. Dadurch sind
bereits bis heute 350 000 Arbeitsplätze in dieser Branche
entstanden. Es werden mehr werden, weil wir die heimische Wertschöpfung mit der Energieversorgung fördern.
({3})
Sie wird auch wettbewerbsfähiger werden.
({4})
Natürlich ist das ein Lernprozess, bei dem es um ständige Anpassungen geht.
({5})
- Das ist klar. Manche mögen die Selbsteinschätzung haben, dass sie nicht mehr lernen müssen und schon immer
alles wissen. Aber denjenigen, die von sich selber glauben und sich selber beklatschen, dass sie schon immer
alles gewusst haben und die beste Politik für Deutschland machen, sage ich: Ein bisschen Demut täte allen
gut.
({6})
Wir wollen das Land nach vorne führen.
({7})
Die erneuerbaren Energien werden durch diese Bundesregierung nach vorne gebracht. Es ist diese Koalition,
die die erneuerbaren Energien nach vorne führt. Der Anteil der erneuerbaren Energien beträgt derzeit 19 Prozent. Es ist diese Koalition, die in den letzten Monaten
den nun erzielten Konsens organisiert hat
({8})
und einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass unser
Land nun das - so glaube ich - mit Abstand bedeutsamste Investitions-, Innovations- und Modernisierungsprojekt in Angriff nimmt. Wir legen dafür die entsprechenden Gesetze vor. Es handelt sich um acht
Gesetzentwürfe, ein Gesetzgebungspaket, das den Rahmen dafür absteckt.
Manche im Ausland fragen: Werden die Deutschen
das schaffen? Kann man das überhaupt schaffen? Denn
es ist erstmalig und deshalb bislang einmalig, dass sich
ein großes Industrieland bereit erklärt, eine solche technologisch-wirtschaftliche Revolution durchzuführen.
Wir tun das, weil wir glauben, dass das gut für unser
Land ist. Aber selbst diejenigen im Ausland, die das beklagen, sagen: Wenn es ein Land schaffen kann, dann ist
es Deutschland. Die Botschaft des heutigen Tages lautet:
Die Deutschen machen sich ans Werk. Es wird gut für
unser Land sein, weil wir alle zusammenstehen. Also
machen wir uns ans Werk!
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
eben die Augen bei der Rede von Herrn Röttgen geschlossen hat, hat man sich gefragt: Ist er es eigentlich
selber oder sein Karikaturist, der da spricht? Das war
nicht ganz klar.
({0})
Herr Röttgen, ich nehmen Ihnen Ihre Rede wirklich
nicht übel. Wer zur Atomenergie seine Meinung so oft
gewechselt hat wie Sie, immer im Zusammenhang mit
der Frage „Welchen nächsten Job peile ich eigentlich an,
den des BDI-Geschäftsführers, den im Kabinett oder
vielleicht Schwarz-Grün?“, dem darf man nicht übel
nehmen, dass er so laut und mit so viel Pathos spricht;
denn so jemand muss sich eigentlich selber erst einmal
vom Gegenteil dessen, was er vorher so alles erzählt hat,
überzeugen.
({1})
Alle Achtung!
In einem hat er allerdings recht: Die Bürgerinnen und
Bürger sind die Trägerinnen und Träger der Energiewende. Nur sind sie das, Herr Röttgen, schon seit fast
30 Jahren. Die Wahrheit ist: Die Bürgerinnen und Bürger
haben dies gegen Sie und Ihre Regierungskoalition
durchgesetzt. Das ist es, was hier in Deutschland stattgefunden hat.
({2})
Natürlich wird der heutige Tag in die Geschichtsbücher eingehen; es ist wirklich ein historischer Tag. Die
weit übergroße Mehrheit des Hauses entscheidet sich gegen die Atomenergie und für den Ausstieg. Die SPD tut
das mit großem Selbstbewusstsein. Wir haben diesen
Schritt vor fast 30 Jahren bereits als notwendig erachtet,
vor der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.
({3})
- Ja, 1983, Hans-Jochen Vogel. - Wir haben das in einer
Art und Weise getan, Herr Röttgen, an der Sie sich hätten ein Beispiel nehmen können. Willy Brandt hat vor
25 Jahren öffentlich erklärt, sinngemäß: Dass wir einmal
an die Atomenergie geglaubt haben, das war ein Fehler.
Wir haben uns getäuscht in unserem Glauben an die Unfehlbarkeit des Menschen und der Technik, und wir sind
als Sozialdemokraten bereit, zu sagen: Diesen Fehler
müssen wir rückgängig machen.
Den Mut und die Größe, die Brandt und Vogel damals
hatten, hätten Sie heute an den Tag legen müssen. Dann
wäre das, was Sie da so erzählt haben, etwas glaubwürdiger geworden.
({4})
Millionen von Menschen brauchten keine EthikKommission in Deutschland, um zu wissen, dass es eine
Hybris ist, den Menschen fast gottgleich zum unfehlbaren Herrscher der bislang größten Risikotechnologie zu
erklären. Deshalb ist klar, der Unterschied zwischen Ihnen bei CDU/CSU und FDP einerseits und uns und auch
den Grünen andererseits liegt auf der Hand: Wir beschließen das hier aus voller Überzeugung, Sie jedoch
aus Gründen des schieren Machterhalts, der selbstverschuldeten Alternativlosigkeit und einer Haltung, die Sie
stets gern anderen seit Jahr und Tag vorwerfen, nämlich
blankem Opportunismus.
({5})
Herr Röttgen, ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangen
ist: Wir haben in diesem Haus bereits einmal einen Energiekonsens verabschiedet. 1998 hatten wir mit den Grünen endlich die Mehrheit und konnten nach einem langen Diskussionsprozess mit allen Teilen der
Gesellschaft, insbesondere mit der Energiewirtschaft
und der Industrie, dann vor elf Jahren den Ausstieg aus
der Atomenergie beschließen.
Mehr als 20 Jahre Zeit wollten wir uns für diesen
Ausstieg nehmen - wir sind damals auch von den Umweltverbänden kritisiert worden, dass wir es nicht
schneller wollten -, 20 Jahre Zeit, Schritt für Schritt heraus aus der Atomenergie, Schritt für Schritt hinein in
die erneuerbaren Energien. Das ist der große Unterschied zu dem politischen Handeln dieser Regierung.
Noch vor einem halben Jahr wollten CDU/CSU und
FDP, Frau Merkel und Herr Röttgen an der Spitze, die
Laufzeiten der Atomkraftwerke um 14 Jahre verlängern.
Sie wollten 14 Jahre längere Laufzeiten selbst für alte
Atomkraftwerke. Aus einem verlässlich geplanten Ausstieg aus der Atomenergie machten sie eine für die Industrie scheinbar verlässliche Verlängerung der Nutzung
der Atomenergie.
Die Folgen waren klar: Die Investitionen in die erneuerbaren Energien gerieten ins Stocken. Die Modernisierung des Kraftwerksparks kam zum Erliegen. Entlassungen bei den Kraftwerksbauern waren die Folge. Sie,
meine Damen und Herren, Frau Merkel, Herr Röttgen,
Herr Westerwelle und alle, die dazugehören, haben eine
der größten Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik
Deutschland, die erneuerbaren Energien, im vollen Lauf
gestoppt. Das ist es, was Sie hier vor einigen Monaten
getan haben.
({6})
Ich finde es gut, Herr Röttgen, dass Sie sich hier hinstellen und sagen: 350 000 Arbeitsplätze haben wir geschaffen. - Ja, mit einem Erneuerbare-Energien-Gesetz, gegen das Sie, Frau Bundeskanzlerin, hier im Haus
gestimmt haben! Das ist doch die Wahrheit, über die wir
hier heute sprechen.
({7})
Vor einem halben Jahr haben Sie Millionen von Menschen verunsichert. Diejenigen, die längst zum Träger
der Energiewende geworden waren, Herr Röttgen,
brauchten Sie nicht zu überzeugen; denn das waren sie
schon. Denjenigen haben Sie gesagt: April, April,
marsch zurück ins Atomzeitalter!
({8})
Das alles nur, weil Sie vier großen Energiekonzernen im
Hinterzimmer zwei- und dreistellige Milliardengewinne
zuschustern wollten.
({9})
Nun, keine sechs Monate später, die komplette Kehrtwendung!
Damit Sie mich nicht falsch verstehen, Frau Bundeskanzlerin: Wir freuen uns, dass Sie hier den Atomausstieg mit uns endlich gemeinsam beschließen. Wir tun
dies auch gerne zum zweiten Mal. Für Deutschland und
die Sicherheit in unserem Lande ist es ein guter Tag. Wir
freuen uns auch, weil dies für uns - übrigens auch für die
Antiatombewegung - ein Tag großer Genugtuung ist.
30 Jahre Häme, 30 Jahre Verleumdung, 30 Jahre Beleidigung und Diffamierung, das haben wir von Ihnen erfahren. Heute stimmen Sie endlich dem rot-grünen Ausstieg zu. Wir erleben heute einen Tag großer
Genugtuung.
({10})
Bei aller Chuzpe und allen rhetorischen Tricks und
Kniffen, mit denen Sie im Nachhinein Ihre energiepolitischen Wenden erklären wollen: Dieser Tag bedeutet
nichts anderes als Ihr energiepolitisches Waterloo; denn
dieser Ausstieg ist unser Ausstieg, und dabei wird es
auch bleiben.
({11})
Aber klar ist auch: Die Art und Weise, wie Sie es machen, ist mit erheblichen Risiken verbunden. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas und eine der
größten der Welt.
({12})
Im Kern unseres Landes ist die Industrieproduktion
Grundlage unseres Wohlstandes. Die Energieversorgung ist das Herz-Kreislauf-System der deutschen
Volkswirtschaft. Sie, Frau Merkel, operieren alle sechs
Monate am offenen Herzen, und zwar mit wechselnden
Diagnosen. Das muss jetzt ein Ende haben. Wissen Sie,
warum wir heute zustimmen? Nicht weil wir nicht
glaubten, es ginge auch schneller, sondern weil wir glauben, dass endlich wieder Planbarkeit und Berechenbarkeit in die Energiepolitik zurückkommen müssen, damit
Deutschland auch Industriestandort bleiben kann und
nicht ständig durch Sie, durch Ihr Hin und Her, verunsichert wird.
({13})
- Herr Kauder, ich weiß ja nicht, ob Sie Zeitung lesen.
Weil Sie immer so schön dazwischenrufen, mache ich
Sie darauf aufmerksam, dass gestern der Aufsichtsratsvorsitzende der BASF einen Artikel in der Bild geschrieben hat. Ich lese Ihnen daraus vor:
Insbesondere die energiepolitische Diskussion der
letzten Wochen zeigt aber, dass uns diese Erfolge zu
Kopf gestiegen sind. Wir halten für selbstverständlich, was nicht selbstverständlich ist. Wir ignorieren
die Industrie als Grundlage unseres Wohlstandes.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist: Er meint
Sie. Er meint das, was Sie hier im Land treiben. Alle
sechs Monate die Energiepolitik zu ändern, das kann nur
ein Land überleben, das so kräftig wie Deutschland ist.
Jedes andere Land wäre durch diese Form der Planlosigkeit der Energiepolitik, die Sie an den Tag gelegt haben,
in den Bankrott geritten worden.
({14})
- Nein, nein, Herr Kauder. - Was Frau Merkel veranstaltet, ist das größte wirtschaftspolitische Experiment seit
der deutschen Einheit. Mit einem Unterschied: Es war
unnötig. Wir waren auf einem guten, berechenbaren
Weg. Aber wer Energiepolitik in hektischen Wendungen
betreibt, muss wissen, dass das einfach Milliarden Euro
kostet.
({15})
Wer den Kraftwerksbau erst zum vollständigen Erliegen
bringt, um ihn dann umso schneller anzufahren, der
treibt die Preise in die Höhe. Wer alle Energieeinsparprogramme aus der Zeit der Großen Koalition verstümmelt oder ganz abschafft, der muss sich nicht wundern,
dass gegen steigende Strompreise niemand mit Kostensparen ankommen kann. Sie ganz persönlich, Frau Bundeskanzlerin, haben mit Ihrer Laufzeitverlängerung für
die Atomindustrie unserem Land wirtschaftlich enorm
geschadet. Die Kosten gehen in die Milliarden.
({16})
Es ist Ihre Stop-and-go-Politik, die alles viel teurer
macht. Mit dem berechenbaren und kontinuierlichen
Ausstieg von Rot-Grün wäre es wesentlich klüger gewesen. Diese Kostensteigerungen haben weder die Bürger
noch die Industrie zu verantworten. Ich bin froh, dass die
SPD-Ministerpräsidenten in den Verhandlungen mit Ihnen dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel der Teil der
energieintensiven Industrie, der bisher von zu hohen
Strompreisen entlastet wird, ausgeweitet wird.
Aber ich sage Ihnen auch: Wir wollen dafür sorgen,
dass es dabei bleibt, dass dieser Ausstieg konsequent ein
Umstieg in eine sichere, bezahlbare und nachhaltige
Energieversorgung wird, und zwar aus einem Guss. Wir
werden aufpassen, dass die deutsche Industrie am Standort bleiben kann. Wieso verweigern Sie sich eigentlich
dem klugen Vorschlag von Herrn Töpfer und von Herrn
Hauff, ein nationales Forum Energiewende einzurichten? Es ist doch Unsinn, zu glauben, dass wir mit den
Gesetzen hier das Problem bewältigt hätten.
Der Prozess, der jetzt kommt, ist das Schwierige. Es
ist doch keineswegs mit dem getan, was wir hier heute
verabschieden werden. Sie reden ständig mit Überschriften; aber auf das Kleingedruckte kommt es an. Wir brauchen auch ein energiepolitisches Preismonitoring. Wir
müssen nachsteuern, und das dürfen wir weder Ihnen
noch Ihren Ministern überlassen, weil Sie es nicht können. Das haben Sie doch in der Vergangenheit gezeigt.
({17})
Das muss außerhalb Ihrer Regierung stattfinden, am besten gleich hier im Parlament.
Sie werden auch nicht überrascht sein, dass wir nicht
jedem Gesetz hier zustimmen. Normalerweise brauchen
wir anderthalb Jahre für die Novellierung des EEG; das
ist ein kompliziertes Gesetz. Sie machen das in acht Wochen. Ich weiß nicht, ob Sie gelesen haben, was der Bundespräsident zu seiner Jahresbilanz in einem Interview
mit der Zeit gesagt hat. Er behauptet dort, dass mit den
Entscheidungsmöglichkeiten im Parlament Schindluder
getrieben wird und dass es so nicht geht. Wissen Sie, wen
er meint? Er meinte Sie, Frau Bundeskanzlerin, und Ihre
Regierung. Das ist das, was draußen gerade stattfindet.
({18})
Wir stimmen wirklich zu, weil wir Planbarkeit und
Berechenbarkeit zurückbekommen wollen, und nicht,
weil wir glauben, dass Ihre Politik unsere Zustimmung
verdient. Es geht um das, was in unserer Gesellschaft bei
aller Vielfalt und Verschiedenheit am Ende ebenfalls geschaffen werden muss: Vertrauen, Glaubwürdigkeit und
eben Berechenbarkeit von politischem Handeln - Prinzipien, meine Damen und Herren, die diese Regierung und
die Kanzlerin an der Spitze seit ihrem Amtsantritt vor
mehr als anderthalb Jahren Tag für Tag mit beklemmender Konsequenz Stück für Stück aufzubrauchen scheinen.
Ihre Stop-and-go-Politik, Ihre hektischen Wechsel in
der Energiepolitik, die heute zur Abstimmung stehen,
sind doch symptomatisch für die Politik, die Sie in
Deutschland betreiben. Das gleiche Muster dieses Politikversagens trifft doch auf alle anderen Felder ebenfalls
zu: auf die Bundeswehrreform, auf den Umgang mit
Steuern und insbesondere auf den Umgang mit der EuroKrise. Ich frage Sie, Frau Kanzlerin: Warum kommen
Sie eigentlich nicht auf die Idee, in Europa die Chance
der erneuerbaren Energien jetzt einmal zu nutzen und zu
sagen: „Lasst uns nicht noch 20 Jahre ergebnislos über
Desertec und den Strom aus der Sahara für Europa reden“? Wir sollten in Andalusien, in Griechenland, in
Portugal und auch in der Türkei anfangen.
({19})
Das wäre ein Wachstumsprogramm für Europa.
Sie schüren Ängste in Europa. Sie treiben die Antieuropäer in die Parlamente und in die Regierungen.
Europa braucht wieder Hoffnung, und erneuerbare Energien bringen Hoffnung und Arbeitsplätze in Deutschland
und in ganz Europa. Das brauchen wir jetzt und nicht
das, was Sie da derzeit treiben.
({20})
Beispiele für Ihre Stop-and-go-Politik habe ich genannt. Die Wählertäuschungen sind unglaublich groß
geworden; sie sind der Markenkern der Regierung. Der
Spiegel stellt in dieser Woche fest: „Es wird nicht regiert, sondern gedealt.“ Unter diesen Dealern scheint ein
rauer Ton zu herrschen. Sie warten jetzt wieder auf den
nächsten Knigge-Gipfel. Sie müssten mittlerweile gelernt haben, dass Sie von Freiherren keine Hilfe mehr
bekommen.
({21})
Aber es geht nicht nur um den Stil, sondern auch um
den Inhalt dessen, was Sie tun. Tatsache ist: Diese Koalition passte von Anfang an nicht in die Zeit, und sie hatte
nur zwei große Projekte: die Laufzeitverlängerung und
die Steuersenkung. Die Laufzeitverlängerung beerdigen
wir heute und die Steuersenkung, wenn Sie nicht klüger
werden, im Bundesrat, Frau Kanzlerin. Darauf können
Sie sich verlassen.
({22})
Der Vorgänger der heutigen Kanzlerin hat einmal den
Satz geprägt: „Erst das Land, dann die Partei.“ Bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, ist das immer umgekehrt.
Sie sind immer zuerst CDU-Taktikerin und nur gelegentlich, wenn wir Glück haben, auch einmal Kanzlerin.
({23})
- Wissen Sie: Es wäre doch nicht schlimm, wenn nur ich
das sagen würde. Aber lesen Sie einmal den Spiegel, die
Welt, die Bild und andere in dieser Woche, also Ihre konservativen Blätter. Von denen schreiben wir doch inzwischen unsere Reden ab, weil uns schlimmere Darstellungen gar nicht mehr einfallen können als die, die in der
Öffentlichkeit zu finden sind.
({24}) -
Volker Kauder [CDU/CSU]: So weit sind Sie
gekommen, dass Sie abschreiben! Sie schrei-
ben ab!)
- Nein, Herr Kauder. Aber ich habe Ihnen gegenüber einen Vorteil: Ich schaue in die Gesichter der Abgeordneten Ihrer Koalition, und diese Gesichter zeigen mir:
Ganz viele wissen, dass das stimmt, was ich hier gerade
sage, und Sie wissen es im Grunde natürlich auch.
({25})
Bei Ihnen ist Pfeifen im Walde.
Es geht wirklich um das, was in Deutschland gemacht
werden muss. Ihrer Regierung fehlt alles, was die politische Führung eines 80-Millionen-Volkes braucht: eine
gemeinsame Grundausrichtung, ein vertrauensvoller
Umgang, ein ordentliches Handwerk, eine konsequente
und entschiedene Führung. Was Sie da treiben, das trifft
aber leider nicht nur Sie, sondern das ist ein Turbo, ein
Katalysator für Politikverachtung in Deutschland. Es
trifft inzwischen alle Politikerinnen und Politiker in diesem Land, weil niemand mehr der Politik traut, weil die
Leute jeden Tag merken, dass man Ihnen nicht mehr
trauen kann, meine Damen und Herren. Sie sind verantwortlich für das, was hier in Deutschland passiert.
({26})
Welches Politikverständnis Sie haben, das offenbaren
Sie ja freundlicherweise, sodass man wörtlich zitieren
kann. Als die FAZ Sie am 22. Juni gefragt hat: „Warum
wollen Sie sich eigentlich treffen beim Thema Steuersenkung, und was ist Ihr Ziel?“,
({27})
haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, geantwortet:
Wann kommt was und wie kommt jeder dabei auf
seine Kosten?
Das ist das Ziel Ihres Treffens: Wie kommt jeder dabei
auf seine Kosten? - Das ist kein Motto fürs Regieren;
das ist das Motto eines Räuberhauptmanns, der auf der
Waldlichtung seine Beute verteilen will. Das ist das, was
Sie da machen.
({28})
Hier geht es nicht darum, wer in Ihrer Koalition auf
welche Kosten kommt. Hier geht es nicht darum, der
FDP eine Steuersenkung zu gönnen nach dem Motto
„Jede Milliarde ein Punkt mehr bei der Wahl“. Hier geht
es darum, dass Sie sich zum Beispiel an die Verfassung
unseres Landes halten, und das heißt: keine dauerhaften
Mehrausgaben, wenn man keine entsprechenden Mehreinnahmen dafür hat. Sie müssen Schulden senken in unserem Land und dürfen nicht der FDP Steuergeschenke
versprechen.
({29})
Auf der Waldlichtung verteilen Sie Beute, die es in
Deutschland nicht gibt, meine Damen und Herren.
({30})
Das ist die Politik eines ziemlich armseligen Räuberhauptmanns in dieser Regierung.
Alles, was da passiert, führt dazu, dass die Mitglieder
Ihrer Regierung Sie an bestimmte Dinge erinnern, was
normalerweise unser Job ist. In der Vergangenheit war es
nämlich immer so: Wenn etwas nicht funktionierte, hat
die Opposition gesagt: Frau Kanzlerin, bestimmen Sie
mal die Richtlinien der Politik! - Nun halte ich das inzwischen für eine Drohung. Aber mittlerweile fordert
das Ihr eigener Koalitionspartner von Ihnen.
Ich glaube, dass Sie in erheblichem Maße nicht nur
der Industrie und der Wirtschaft schaden, sondern auch
dem Vertrauen in die Verlässlichkeit der demokratischen
Politikgestaltung. Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklich
Mut haben, Frau Bundeskanzlerin, und wenn Sie etwas
für Deutschland tun wollen, dann kommen Sie nach dem
Herbst nicht mit dem soundsovielten Neustart zurück,
sondern hören Sie einfach auf! Das wäre der beste Neustart für unsere Republik, den wir uns derzeit vorstellen
können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({31})
Das Wort erhält nun der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Philipp Rösler.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Gabriel, waren Sie nicht
mal Umweltminister?
({0})
Ich finde, dafür haben Sie heute herzlich wenig zum
Thema geredet.
({1})
- Es war eher ein allgemeinpolitischer Teil. Es scheint ja
hoch herzugehen bei der Frage: Wer wird eigentlich
Kanzlerkandidat?
({2})
Zwei davon sitzen hier vorn, einer sitzt dahinter. Mir
liegt, anders als Ihnen, Herr Gabriel, Polemik vollkommen fern, aber ich glaube, wir haben heute die Kaltreserve der sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten gesehen.
({3})
In einem hat Herr Gabriel recht - das wird die Grünen
ärgern -: Die erste Partei, die das Thema Umweltpolitik
aufgebracht hat, waren in der Tat die Sozialdemokraten.
({4})
- Ich wäre auch ganz dankbar, wenn Sie jetzt ruhiger
wären. Ich wollte Sie zu Beginn einmal loben, ganz
kurz; es wird danach nicht so schön für Sie.
Herr Gabriel hat zu Recht einmal gesagt, dass die Sozialdemokraten die Umweltpolitik erfunden haben und
nicht die Grünen; denn es war Willy Brandt, der vom
blauen Himmel über der Ruhr gesprochen hat. Es waren
übrigens ebenfalls die Sozialdemokraten, die vehement
den Einstieg in die Kernenergie gefordert haben nach
dem Motto „Billiger Strom für alle“.
Sie haben Ihre Position geändert. Das haben Sie erklärt, und es wurde allgemein akzeptiert. Diese Regierungskoalition hat - ebenso wie Sie - die Ereignisse in
Fukushima wahrgenommen. Diese Ereignisse haben uns
nicht unbeeindruckt gelassen. Wir haben daraufhin gesagt: Das ist das erste Ereignis, die erste Katastrophe, die
aufgrund technischen Versagens zustande gekommen ist.
({5})
Es wäre verantwortungslos, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn eine Regierung in einem solchen
Fall nicht reagieren würde. Sie können sich winden, Sie
können dazwischenrufen, aber am Ende dieses Tages
werden Sie genau unserem Ausstiegsbeschluss zustimmen. Das zeigt: Sie unterstreichen die Richtigkeit unserer politischen Entscheidung.
({6})
Das können Sie guten Gewissens tun; denn Ihr Ausstiegsbeschluss war ausdrücklich ein anderer. Sie haben
nämlich nur den Ausstieg beschlossen. Sie haben aber
vergessen, zugleich als Alternative den Einstieg und den
Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland zu beschließen.
({7})
Sie haben sich damit zufriedengegeben, zu sagen: Wir
steigen hier aus. - Die notwendige Entscheidung zu treffen, die gebraucht worden wäre, um zum Beispiel den
Ausbau von Ersatzkapazitäten voranzutreiben, haben Sie
aber nicht gewagt.
({8})
Auch heute verweigern Sie sich solchen sinnvollen
Vorschlägen. Sie alle wissen: Wir brauchen bis zum Jahr
2013 10 Gigawatt und bis zum Jahr 2020 nochmals
10 Gigawatt Ersatzkapazitäten. Das bedeutet im Übrigen
nicht nur den Ausbau erneuerbarer Energien, sondern
auch den Zubau von konventionellen Kraftwerken. Ich
bin sehr gespannt, ob die Grünen dann den Mut haben,
auf unserer Seite zu stehen, wenn es darum geht, konventionelle Kraftwerke zu bauen.
({9})
Bisher sind Sie immer nur dabei, zu demonstrieren,
wenn es darum geht, neue Kraftwerke - seien es Kohlekraftwerke, Gaskraftwerke - oder die dazu notwendigen
Hochspannungsleitungen zu bauen.
({10})
Solch ein Verhalten hat nichts mit Glaubwürdigkeit zu
tun. Zur Ehrlichkeit hingegen gehört: Wer den Ausstieg
und den Umstieg will, der braucht den Einstieg in erneuerbare Energien, aber auch den Ausbau von konventionellen Kraftwerken.
({11})
Dafür werden jetzt im Gesetzespaket - Energiewirtschaftsgesetz, Netzausbaubeschleunigungsgesetz - die
Voraussetzungen geschaffen. Sie alle wissen: Wir müssen schneller vorankommen, wenn es darum geht, die
notwendigen Netze auszubauen. Bisher haben wir Planungszeiten von zehn Jahren, hinzu kommen noch die
Bauzeiten. Wir wollen diesen Zeitraum auf vier Jahre reduzieren.
Die Bundesländer, die Sie bereits angesprochen haben, haben alle gemeinsam - sechzehn zu null - ausdrücklich gefordert, dass wir den Netzausbau nicht nur
über die vorhandenen Gesetze beschleunigen, sondern
dass wir uns weiterhin dafür einsetzen, auf europäischer
Ebene das materielle Recht zu ändern, damit wir die
Möglichkeit haben, beim Netzausbau und beim Kraftwerksausbau schneller voranzuschreiten. Lieber Herr
Kollege Gabriel, das ist eine Ohrfeige für Sie; denn in
Ihrer Zeit als Umweltminister haben Sie genau das nicht
geschafft. Das war zum Schaden nicht nur der Umweltpolitik, sondern auch der deutschen Wirtschafts- und Industriepolitik.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner?
Nein. - Das wird nunmehr nachgeholt. Wir brauchen
nicht nur den beschleunigten Ausbau der Netze und der
konventionellen Kraftwerke, sondern auch ein besseres
Erneuerbare-Energien-Gesetz. Erstmalig wird hier auf
Markt und auf Effizienz gesetzt, weil wir davon überzeugt sind, dass es Quatsch ist, bei dem Ausbau der erneuerbaren Energien nur auf Subventionen und Regulierungen zu setzen. Wir werden - auch wenn Ihnen das
nicht gefällt - in diesem Bereich Marktprinzipien brauchen - wie beispielsweise die Marktprämie -, um beim
Ausbau der erneuerbaren Energien schneller voranzukommen. Das zeichnet die schwarz-gelbe Regierungskoalition aus, im Unterschied zu Ihrem rot-grünen Ausstiegsbeschluss von 2002.
({0})
Gleichzeitig geht es in der Tat darum, die Wirtschaft
nicht übermäßig zu belasten; denn sie steht in Bezug auf
die Energiepreise nicht nur in einem europäischen, sondern auch weltweiten Wettbewerb. Deswegen ist es richtig, sich auf europäischer Ebene für die Strompreiskompensation einzusetzen, um energieintensive Industrien zu
entlasten.
Gleichzeitig kommt es zu einer Entlastung des Mittelstandes in Deutschland, weil durch das neue Erneuerbare-Energien-Gesetz erstmalig kleine und mittelständische Unternehmen von der Energieumlage befreit
werden können und dadurch eine Erleichterung erfahren.
Das zeigt, dass wir nicht nur darauf achten, die Energieversorgung in Deutschland umzustellen, sondern dass
wir gleichzeitig ein Augenmerk darauf haben, dass unsere deutsche Wirtschaft gerade im Hinblick auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen wettbewerbsfähig bleibt. Sie von der SPD schauen als ehemals große
Volkspartei auf die großen Konzerne. Wir schauen auch
auf den Mittelstand in Deutschland.
({1})
In der Tat sind gerade diese Unternehmen in Bezug
auf die Energieumstellung sehr positiv gestimmt, aus einem ganz einfachen Grund. Die europäischen Nachbarn
fragen uns: Was passiert eigentlich gerade bei euch in
Deutschland, was macht ihr eigentlich im Bereich der
Energieumstellung? Da steht ein Fragezeichen und kein
Ausrufezeichen; denn man ist sehr gespannt, was gerade
in Deutschland passiert.
Unsere Nachbarn trauen uns zu, dass das, was wir uns
vorgenommen haben, möglich wird; sie haben sogar
Angst davor, dass das, was wir uns vornehmen, am Ende
erreicht wird, weil sie wissen: Wenn wir neue Produkte,
Dienstleistungen und Güter in den Bereichen der erneuerbaren Energien und der Effizienz produzieren bzw. bereitstellen, dann wird das ein Wettbewerbsvorteil für die
deutsche Wirtschaft im europäischen, aber auch im weltweiten Rahmen sein. Die Energieumstellung ist deswegen auch für die Wirtschaft nicht negativ, sondern ausdrücklich positiv, weil sie uns neue Chancen bietet im
Inland, im europäischen Markt, aber genauso im übrigen
Ausland.
({2})
Wir sind davon überzeugt, dass das, was wir auf den
Weg bringen, in der Tat ein großer Schritt auf dem Weg
zur Energieumstellung ist. Die Arbeit ist mit der Verabschiedung der vorliegenden Gesetzentwürfe nicht abgeschlossen; die Arbeit, die mit der Energieumstellung
verbunden ist, beginnt jetzt erst. Denn das, was vor uns
liegt, ist ein ähnlich großes Projekt wie die Wiedervereinigung - es ist fast schon gleichbedeutend -:
({3})
Gerade im Bereich der Infrastrukturprojekte haben wir
damals gesehen, dass es sehr wohl möglich ist, in der Sache Großes zu leisten, wenn sich ein ganzes Land anstrengt und alle gemeinsam an einem Ziel arbeiten. Das
geht im Bereich der Infrastruktur; das geht im Bereich
der Energieumstellung.
({4})
- Auch wenn Sie dazwischenrufen: Sie werden dem
Ausstiegsbeschluss zustimmen
({5})
und sich einmal mehr dem Einstieg in den Ausbau der
erneuerbaren Energie verweigern.
({6})
Das ist am Ende nicht glaubwürdig. Es geht hier nicht
um Ihre Politik, die Sie damals unter Rot-Grün begonnen haben; es geht hier um eine andere Politik, nämlich
eine vernünftige und realistische Umstellung der Energieversorgung in Deutschland.
({7})
Das ist der Unterschied zwischen einer Koalition, die regiert, und einer Opposition, die am Ende doch gegen die
wesentlichen Neuerungen der vorliegenden Gesetzentwürfe ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Röttgen, Sie müssen mir eine Sache erklären. Sie haben
heute gesagt, dass der Ausstieg aus der Atomenergie
eine Revolution ist. Im Dezember 2010 haben Sie uns
erklärt, dass die Verlängerung der Nutzung der Atomenergie eine Revolution ist.
({0})
Ich finde, Sie sollten innerhalb der Union einmal klären,
was eigentlich eine Revolution und was eine Konterrevolution ist, damit man sich darüber verständigen
kann.
({1})
- Herr Kauder, selbstverständlich.
Herr Kollege Gysi, für die Klärung dieses Unterschieds stellen Sie doch sicher Ihre sachverständige Beratung zur Verfügung.
({0})
Aber selbstverständlich, Herr Präsident. Ich wollte
das gerade Herrn Kauder anbieten. Da er davon keine
Ahnung hat, werde ich ihm das gerne erklären. Aber es
kostet Sie ein teures Essen - damit das klar ist!
({0})
Davon abgesehen wird der Bundestag heute mit den
Stimmen von Union, FDP, SPD und Grünen einen halbherzigen Atomausstieg beschließen. Es liegt nur an der
Atomkatastrophe von Fukushima, dass er angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse im Bundestag überhaupt zustande kommt. Einige Dinge, die Sie hier regeln, entsetzen und enttäuschen mich wirklich; denn ich glaube,
dass man konsequenter aus einer solchen Katastrophe
Schlussfolgerungen ziehen muss.
({1})
Auch die Grünen werden zustimmen; sie haben dafür
einen Parteitag gemacht. Ich muss den Grünen ehrlicherweise sagen: Das ist schon ein wenig wichtigtuerisch,
deshalb einen Parteitag zu veranstalten. Sie wussten
doch, dass es auf Ihre Stimmen gar nicht ankommt, weil
die Koalition eh die Mehrheit hat. Ich muss Ihnen aber
eines lassen: Sie haben eine fantastische Medienöffentlichkeit erreicht.
({2})
Ich muss über solche Tricks neu nachdenken.
Im Kern ging es Ihnen doch darum, der Union zu zeigen, dass Sie zu einer Koalition mit der Union fähig
sind. Sie wollen doch gerne die frühere Rolle der FDP
übernehmen und bei der Frage, ob nun die SPD oder die
Union regiert, zum Schalter werden.
({3})
Das ist ein bisschen schlicht.
({4})
- Das gilt aber für Sie, Herr Trittin.
Drei Parteien hätten wirklich einen Parteitag durchführen müssen: die CDU, die CSU und die FDP.
({5})
Wissen Sie auch, warum? Ihre Parteitage haben doch die
Verlängerung der Nutzung der Atomenergie beschlossen; Sie haben das katastrophalerweise im Dezember
umgesetzt. Bevor Sie jetzt einen Wechsel vornehmen,
hätten Sie Ihre Parteien eigentlich fragen müssen, ob sie
damit einverstanden sind.
({6})
Um Ihr Demokratieverständnis will ich mich aber nicht
weiter kümmern. Ich wollte nur auf die Begrenztheit
hinweisen.
({7})
Jetzt nehme ich zu den Zielen Stellung, die Sie aufgeben, die wir aber für wichtig halten. SPD und Grüne sagen, dass im Kern jetzt das beschlossen wird, was sie
schon 2002 beschlossen hatten. Wenn Sie diese Auffassung ernsthaft vertreten, dann sagen Sie damit, Fukushima hätte an Ihren Entscheidungen von 2002, wenn
Sie jetzt regieren würden, nichts geändert. Finden Sie
nicht, dass das deutlich zu wenig ist? Hätten Sie nicht sagen müssen: „Auch wir ziehen daraus Schlussfolgerungen und machen das eine oder andere wesentlich konsequenter“?
({8})
Das Zweite ist, meine Damen und Herren von SPD
und Grünen: Was Sie sagen, stimmt nicht ganz. Die Regierungskoalition legt jetzt immerhin konkrete Termine
für die Abschaltung einzelner AKW fest. Solche gab es
bei Ihnen gar nicht.
({9})
Das Hauptproblem ist aber ein anderes: Die Regierung bestimmt die Fristen nach den Amortisationszeiten
für die AKW und nicht nach der Machbarkeit. Auch dabei machen Sie mit.
({10})
Ich komme darauf noch zurück. Die Regierungskoalition
weigert sich, das Ganze unumkehrbar zu machen. Auch
das nehmen Sie letztlich in Kauf. Sie weigert sich auch,
die großen Energieriesen zu zerlegen und zu rekommunalisieren, um das Ganze wesentlich demokratischer zu
gestalten.
({11})
Was in Ihren Gesetzentwürfen überhaupt nicht enthalten
ist, ist die Antwort auf die Frage, wer eigentlich die Kosten der Energiewende zu bezahlen hat. Wo bleibt die soziale Abfederung? Dazu ist nichts geregelt.
({12})
Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Wissenschaftlich nachgewiesen ist nach unserer Auffassung,
dass der Ausstieg bis Ende 2014 machbar ist. Die Grünen haben gesagt: bis Ende 2017. Ich nehme das einmal
so hin. Trotzdem stimmen Sie jetzt dem Jahr 2022 zu.
Womit begründen die Bundesregierung und die Koalition in den Gesetzentwürfen, dass sie das Jahr 2022 nehmen? Sie sagen, dass die Atomkraftwerke sich andern13378
falls nicht amortisierten und die Atomkraftwerke nur
dann mit Gewinn bewirtschaftet werden könnten, wenn
man sie erst 2022 schließen würde. Das heißt, auf
Wunsch von Eon, EnBW, RWE und Vattenfall sind die
Fristen so gesetzt worden.
Ich sage Ihnen Folgendes: Es geht um die Frage der
Machbarkeit und nicht um die Frage, was sich für die
vier Energiekonzerne rechnet. Man kann die Bevölkerung nicht vier oder sieben Jahre länger dem FukushimaRisiko aussetzen, nur damit sich die AKW für diese vier
Konzerne rechnen. Genau das wird gemacht. Genau das
beschließen Sie mit.
({13})
Alle Parteien im Bundestag sagen: Der Ausstieg aus
der Atomenergie soll unumkehrbar sein. Das ist eine
wichtige industriepolitische Wende. Darauf ist hier
schon hingewiesen worden. Warum, Herr Kauder und
Herr Brüderle, weigern Sie sich, das Grundgesetz zu ändern? In Österreich steht in der Verfassung: Atomwaffen
und die Nutzung der Atomenergie sind verboten. - Warum nehmen wir das nicht in das Grundgesetz auf?
({14})
Wir haben doch eine Zweidrittelmehrheit dafür. Das ist
doch keine Schwierigkeit. Es gibt große Mehrheiten im
Bundestag und im Bundesrat dafür. Wenn wir das aufnehmen würden, wäre es unumkehrbar - das garantiere
ich Ihnen -, weil sich nie wieder eine Zweitdrittelmehrheit im Bundestag oder im Bundesrat fände, die bereit
wäre, den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig zu
machen.
({15})
Wenn Sie das nicht machen, dann machen Sie einen
Atomausstieg mit Rückfahrkarte. Herr Röttgen hat erklärt, ein solches Vorgehen würde künftige Mehrheiten
binden. Ja genau, das soll künftige Mehrheiten binden.
Deshalb nimmt man doch etwas in das Grundgesetz auf.
({16})
Er will sie eben nicht binden. Ich kann Ihnen schon jetzt
sagen, wie das laufen wird: 2013 werden Sie sich einen
Wiedereinstieg nicht trauen. Ich glaube zwar nicht, dass
Sie dann noch die Mehrheit haben werden; aber selbst
wenn Sie sie hätten, würden Sie sich das, wie gesagt,
nicht trauen. 2017 wird der Atomausstieg aber schon so
lange zurückliegen, dass Sie vielleicht sagen werden:
Jetzt könnte man doch wieder einsteigen. - Das möchte
ich nicht. Wir möchten der Bevölkerung diese Sorge
nehmen. Deshalb muss der Ausstieg ins Grundgesetz geschrieben werden.
({17})
Nun haben die Grünen schnell auch noch einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht. Darüber stimmen wir heute aber noch nicht abschließend ab. Für unseren Gesetzentwurf beantragen
wir übrigens eine namentliche Abstimmung. In Ihrem
Gesetzentwurf, lieber Herr Trittin und liebe Frau Künast,
nennen Sie das Jahr 2022 als Ausstiegsdatum. Damit sagen Sie der Bevölkerung: Selbst wenn wir ab 2013 regieren, werden wir nichts beschleunigen. Durch die Festschreibung des Jahres 2022 im Grundgesetz nehmen Sie
sich jeden Spielraum. Sie müssen dann auch offen und
ehrlich sagen,
({18})
dass Sie sich von dem Ausstiegsdatum 2017 völlig verabschiedet haben. Selbst wenn Sie die absolute Mehrheit
hätten, würden Sie beim Jahr 2022 bleiben. Ich finde,
das spricht gegen Sie.
({19})
Jetzt kommen wir zum dritten Punkt, zur Demokratisierung der Energieversorgung. Die Konzerne sind und
bleiben zu mächtig. Wie mächtig die vier Konzerne sind,
haben SPD und Grüne festgestellt, als sie versucht haben,
den Atomausstieg zu organisieren. Wir haben gesehen,
wie schwierig das war, wie weit sie den Konzernen entgegengekommen sind. Meines Erachtens sind sie ihnen
viel zu weit entgegengekommen; das ist aber eine andere
Frage. Die jetzige Regierungskoalition, die ja auf Wunsch
dieser vier Konzerne und natürlich auch anderer die Verlängerung der Laufzeiten beschlossen hat, schreibt jetzt
wieder in den Gesetzentwurf, dass man das auf diese
Weise macht, damit sich das rechnet und damit die Konzerne nicht einen halben Euro Verlust machen, nachdem
sie auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger und der anderen Unternehmen schon 100 Milliarden Euro Gewinne
gemacht haben. Deshalb werden so lange Fristen gewählt
und deshalb wird die Bevölkerung länger diesem Risiko
ausgesetzt.
Ich sagen Ihnen: Wenn wir die Macht der vier Konzerne nicht auflösen, wird die Politik ohnmächtig; das ist
das Problem. Deshalb schlagen wir eine Zerlegung und,
soweit es geht, eine Rekommunalisierung vor, damit die
Politik wieder zuständig wird für die Energieversorgung
der Bevölkerung genauso wie für die Wasserversorgung,
für Gesundheit und Bildung. Öffentliche Daseinsvorsorge gehört in öffentliche Hand und nicht in den Privatbesitz zur Profitmaximierung.
({20})
Ich verstehe die Energiekonzerne. Sie sagen: Wer
mehr Strom verbraucht, bekommt ihn billiger, und wer
weniger Strom verbraucht, bekommt ihn teurer. Marktwirtschaftlich ist das ja nicht unvernünftig gedacht, aber
wir wollen doch Energieeinsparung, wir wollen doch
Energieeffizienz. Erklären Sie beispielsweise einmal einer alleinerziehenden Mutter mit einem Kind, die relativ
wenig Strom verbraucht, wieso sie pro Kilowattstunde
mehr zahlen muss als ein Millionär mit einer Villa und
einem Swimmingpool. Das ist abstrus! Das kann man
nur politisch regulieren, aber Sie verweigern die politische Regulierung dieser Preise.
({21})
Uns ist das ein wichtiges Anliegen.
Zu dem, was Sie machen, kommt jetzt noch ein Zuckerbrot hinzu.
({22})
Sie fördern riesige Windparks in der Nord- und Ostsee.
Wer verdient daran? Die vier Konzerne, weil es die einzigen sind, die sich das Ganze leisten können. Sie bekommen also noch mehr geschenkt. Mein Gott, hören
Sie doch einmal auf, jeden Tag die Versicherungen, die
Banken und die Riesenkonzerne zu beschenken! Angeblich wollen Sie etwas für die kleinen und mittleren Unternehmen tun, aber Sie vergessen sie täglich. Deshalb
sage ich immer: Wir sind die einzige Mittelstandpartei.
({23})
Sie von der FDP bestreiten das noch, aber es ist wahr.
Bei der Solarenergie werden Produkte genutzt, die von
kleinen und mittleren Unternehmen hergestellt werden.
Da fördern Sie nicht. Nur die großen Windparks werden
unterstützt. Das entlarvt alles.
({24})
Nun kommen wir zum nächsten Punkt: die erneuerbaren Energien. Ich frage: Wo ist Ihre angekündigte Offensive für erneuerbare Energien geblieben? Alles, was Sie
hier beschließen wollen, hatten wir schon. Da gibt es
nichts Neues. Glauben Sie nicht, dass man deren Ausbau
viel stärker fördern muss, um die Energiewende so
schnell und zuverlässig wie möglich herbeizuführen,
und zwar - da hat Herr Gabriel recht - europaweit? Genau das wäre die Aufgabe; aber da versagen Sie.
Kommen wir zur sozialen Gestaltung. Das Ganze
kostet Geld. Ihre einzige Sorge betraf die energieintensiven Unternehmen. Diesen haben Sie schon zugesichert,
dass sie um bis zu 1,2 Milliarden Euro entlastet werden.
Das haben Sie sofort geregelt. Aber was arme Haushalte
machen, was kleine Unternehmen mit geringen Umsätzen machen, das kümmert Sie alles nicht. Genau das
können wir nicht akzeptieren.
({25})
Ich nenne noch einmal die Zahlen. Im Durchschnitt
verbraucht eine Bezieherin von Hartz IV Strom für
44 Euro im Monat. Im Hartz-IV-Satz sind aber nur
30,42 Euro für Storm vorgesehen. Woher soll sie die
Differenz nehmen? Sie zahlen ihr die ja nicht aus. Es
gibt jährlich 800 000 Sperren der Strom- und Gasversorgung. Gehen Sie einmal in einen solchen Haushalt, und
schauen Sie sich einmal an, wie Kinder ohne Gas und
Strom leben müssen. Ich halte das für grundgesetzwidrig. Deshalb fordern wir als Erstes: Strom- und Gassperren sind zu verbieten.
({26})
Das Zweite, das wir fordern, sind Stromsozialtarife.
Wir müssen jedes Energieunternehmen - ob öffentlich
oder privat: das spielt gar keine Rolle - verpflichten, in
einem bestimmten Umfang finanziell schwachen Haushalten Sozialtarife anzubieten. Dazu müssen sie verpflichtet werden. Sonst organisieren wir, bedingt durch
die Verteuerung des Stroms, eine Katastrophe.
Wir brauchen auch ganz dringend eine staatliche
Strompreiskontrolle. Da geht es nicht, wie Sie immer rufen, um Planwirtschaft. Das ist völliger Quatsch. Dann
hätten wir in der Bundesrepublik Deutschland bis zur
ersten Hälfte der Großen Koalition Planwirtschaft gehabt. Da gab es nämlich eine staatliche Strompreiskontrolle.
Da geht es um eine ganz andere Frage: Es geht um die
Frage der Zuständigkeit der Politik für eine Lebensfrage
der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen. Da
können Sie nicht immer sagen: Das geht uns gar nichts
an, das machen die vier Konzerne. SPD und Union haben uns erzählt, es gebe da so viel Wettbewerb, dass wir
keine staatliche Preiskontrolle bräuchten. Da kann ich
bloß lachen. Diese vier Konzerne sind doch in der Lage,
mittwochs miteinander zu telefonieren, und dann verabreden sie sich, wie sie uns zwei Wochen später abzocken. So läuft das. Deshalb möchte ich Ihre Zuständigkeit haben, damit die Wählerinnen und Wähler auch
wissen, an wen sie sich wenden müssen.
({27})
Dann brauchen wir einen Energiesparfonds. Ich will
Ihnen das auch erklären: In den ärmeren Haushalten und
bei den kleinen Unternehmen mit geringen Umsätzen
sind lauter technische Geräte im Einsatz, die einen hohen Stromverbrauch haben. Die können es sich nicht
leisten, neue Technik zu erwerben. Deshalb haben wir
die Schaffung eines Fonds vorgeschlagen, der jährlich
mit 2,5 Milliarden Euro zu bestücken ist. Damit muss
geholfen werden, dass neue Technik erworben wird;
denn wir alle brauchen die Energieeinsparung. Deshalb
müssen wir hier politisch handeln und aktiv werden.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig, Herr Bundestagspräsident.
Ich sage Ihnen: Alle Mehrkosten, die Sie verursachen,
werden allein die Bürgerinnen und Bürger sowie die
kleinen und mittleren Unternehmen zu tragen haben.
Das ist falsch. Wir können dem Ganzen nicht zustimmen. Von unserer Fraktion gibt es ein Nein, auch wenn
endlich der Ausstieg aus der Atomenergie beginnt. Das
begrüßen wir trotzdem.
({0})
- Nein, passen Sie auf: Ganz umgekehrt, Herr Kauder.
Stimmen Sie doch erst einmal der Grundgesetzänderung
zu.
({1})
Ich verspreche Ihnen: Wenn wir das Grundgesetz heute
ändern, lassen wir uns auch auf einen Kompromiss ein.
Mal sehen.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist
der Zeitpunkt, an dem man Dank aussprechen muss Dank an all die vielen Menschen, die weit über 30 Jahre
in diesem Land den Mut hatten, zu kämpfen, die sich
weit über 30 Jahre in diesem Land eingemischt und
friedlich demonstriert haben und auch nicht aufgehört
haben, zu kämpfen, als einige von ihnen kriminalisiert
wurden, als Wasserwerfer selbst an kältesten Tagen Wasser auf sie spritzten, als richtig Druck im Dorf und in der
Stadt war. Das will ich hier ausdrücken. Herzlichen
Dank an all diese; denn sie haben sich um die Zukunft
Deutschlands verdient gemacht.
({0})
Klaus Traube als einer, der mal in einem AKW mitgearbeitet hat, wurde kriminalisiert und unter Druck gesetzt. Marianne Fritzen in Gorleben ist eine, die wirklich
ihr ganzes Leben einem beharrlichen Kampf gewidmet
und Bewegungen immer wieder zusammengeführt hat.
Diesen gehört unser Dank.
({1})
Ich erwähne auch die Winzerinnen und Winzer, die
Bäuerinnen und Bauern in Wyhl, den Bauern Maas aus
Kalkar oder Walter Mossmann, der uns bei so mancher
Demo oder auch an manchen Tagen in der Republik
Freies Wendland mit seinen Liedern zusammengeschweißt hat, wenn der Druck von außen sehr groß war.
Er hatte damals den Mut, zu sagen: Es steht überm Rhein
eine Burg aus Beton, weh denen, die drum herum wohnen. - Er drückte die Sorge aus: Wenn es nur nicht zu
spät ist. - All jenen gehört Dank.
({2})
Das gilt auch für Holger Strohm, der das Buch Friedlich in die Katastrophe geschrieben hat, für die Mütterinitiativen und für die „Ärzte gegen den Atomkrieg“. All
denen gehört der heutige Tag. Sie haben sich im Sommer
2001 über den ersten Atomausstieg gefreut. Auch wenn
viele von ihnen, was ich verstehe, jetzt nicht zufrieden
sind, ist das ein großer Schritt, den Deutschland mit seinen Bürgerinnen und Bürgern gemacht hat, die Demokratie gewagt haben, als man sie anfeindete. Dieser
Schritt gehört diesen Menschen, und das gehört in dieses
Protokoll.
({3})
Der Atomkonsens des Jahres 2001 war ein Zwischenschritt. Ich habe nie geglaubt, dass sich das Oligopol der
vier Atomkonzerne nicht dagegen wehren würde. Einen
Augenblick lang haben wir gedacht: Pacta sunt servanda. Sie unterschreiben etwas und halten sich daran.
Wir haben aber schnell gemerkt, dass dem nicht so ist.
Wir haben immer gewusst: Erst dann, wenn das letzte
Atomkraftwerk in diesem Land abgeschaltet ist, ist diese
Bewegung erfolgreich gewesen, und dann wird sie sich
neu ausrichten. Deshalb, meine Damen und Herren, sage
ich Ihnen: Sie können gerne von einem großen Konsens
sprechen. Auch die heutige Entscheidung, die deutschen
Kernkraftwerke stufenweise bis spätestens 2022 abzuschalten und die sieben ältesten Meiler plus Krümmel
sofort stillzulegen, ist nur ein Zwischenschritt der AntiAKW-, der Umwelt- und der Grünen-Bewegung. Wir
sind noch lange nicht fertig. Wir fangen jetzt erst richtig
an.
({4})
Was hat die Bewegung erreicht? Sie hat den Konsens
über den Ausstieg im Jahr 2001 erreicht. Außerdem hat
sie dafür gesorgt, dass Sie jetzt gezwungen sind, sich zu
bewegen. Gegen den erbitterten Widerstand des Energieoligopols und gegen den erbitterten ideologischen Widerstand der Pro-AKW-Parteien hat diese Bewegung erreicht, dass heute 17 Prozent des Stroms in Deutschland
aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Auch das ist
nur ein Zwischenschritt.
({5})
- Wenn es noch mehr ist, ist das schöngerechnet.
Immerhin hat dies auch der Bundeswirtschaftsminister erkannt, der hier gerade ein Erstsemesterseminar zum
Thema Wirtschaftspolitik abgehalten hat.
({6})
Aber immerhin, der Mann ist ja neu im Amt.
Ich sage Ihnen: Mit all Ihrem Gerede von einer Brückentechnologie, von einer Energierevolution und von
Energiewenden - nach dem Motto „Jetzt geht es erst
richtig los“ - haben Sie sich selbst widerlegt. Die Brücke,
die noch im letzten Jahr angeblich notwendig war, mussten Sie jetzt selbst ein Stück weit einreißen. Wer wollte,
konnte immer wissen. Carl Friedrich von Weizsäcker
zum Beispiel hat vor 25 Jahren, und zwar vor der Katastrophe von Tschernobyl, klar gesagt: Die Technik der
Solarenergie hat Fortschritte gemacht, die sie als hauptsächliche Energiequelle des kommenden Jahrhunderts
möglich erscheinen lässt. - Man konnte also wissen,
wenn man wissen wollte und nicht auf dem Schoß der
vier Stromkonzerne saß.
Eines ist klar: Jetzt können auch Sie von den Entscheidungen des heutigen Tages nicht mehr abrücken.
Jetzt hat die Bewegung einen Zustand der Stärke erreicht. Das wird heißen: Jetzt geht es mit voller Kraft in
eine zukunftsfähige, nachhaltige, dezentrale, effiziente
Energieerzeugung, die Sie jahrelang blockiert haben.
Jetzt ist Schluss mit den Milliardensubventionen für die
Atomenergie.
({7})
Ich muss an dieser Stelle auf eines hinweisen: Viele
sagen immer, die neuen Technologien seien so teuer.
Meine Damen und Herren, wovon reden wir hier? Für
die Atomenergie wurden ungefähr 200 Milliarden Euro
an Subventionen und Forschungsgeldern zur Verfügung
gestellt. Das ist noch nicht einmal alles. Hinzu kommt,
dass uns die Atomenergie hochradioaktiven Müll hinterlässt. Die Summen, die notwendig wären, um eine halbwegs sichere Lagerung des Atommülls zu gewährleisten
- wenn wir denn einen Ort dafür fänden -, sind noch gar
nicht bezifferbar. Insofern sage ich insbesondere in
Richtung der Abgeordneten der Koalitionsfraktionen:
Solche Zwischenrufe, wie Sie sie vorhin gemacht haben,
verbieten sich. Hören Sie auf, ideologisch zu sein!
({8})
Arbeiten Sie endlich mit daran, dass Deutschland ein
Land der erneuerbaren Energien wird, in dem der Müll
nicht jahrtausendelang von Generation an Generation
übergeben wird!
Ich stelle fest: Heute ist ein guter Tag. Allerdings hätten Sie, Frau Bundeskanzlerin, all dies schon im letzten
Jahr wissen können. Mir ist egal, ob Sie aus Wahlkampfsorge oder aus Überzeugung dazugelernt haben.
Mir reicht die Ironie der Geschichte, dass Sie sich jetzt
faktisch dem annähern müssen, was Sie jahrzehntelang
bekämpft haben.
({9})
Jetzt kann niemand mehr infrage stellen, dass
Deutschland die Energiewende will. Die Menschen in
Deutschland wollen nicht auf Kosten anderer Generationen leben, indem sie ihnen strahlenden Atommüll überlassen. Ich sage Ihnen: Die Menschen in Deutschland
wollen auch nicht durch Kohleverstromung und CO2Ausstoß auf Kosten nachfolgender Generationen leben.
Jetzt geht es in Richtung Nachhaltigkeit.
({10})
Von der Entscheidung, die Laufzeit zu verkürzen,
wird Schwarz-Gelb nicht abrücken können. Die heutige
Entscheidung zur erneuten Laufzeitverkürzung und zur
Abschaltung der acht ältesten Kernkraftwerke ist ein
Wegweiser für die weitere Entwicklung des Industriestandorts Deutschland. Ich sage ganz klar: Das ist auch
für die Industrie - und das wollten Sie immer - ein Zeichen der Klarheit. Rückwärts wird es nicht mehr gehen.
Es geht nur noch vorwärts, in das Zeitalter der Erneuerbaren. Heute ist ein Tag, von dem etwas ausgehen kann,
gerade weil die Pro-Atom-Parteien jetzt anders abstimmen müssen. Von heute an werden wir anders leben, anders transportieren und anders produzieren. Wir sind
noch nicht fertig. Dieser Umbau der Gesellschaft fängt
jetzt erst an.
({11})
Jetzt schaut die Welt auf uns. Wir werden dem gerecht
werden müssen. Die Größe der Aufgabe ist, zu zeigen,
dass das viertgrößte Industrieland der Welt diese Aufgabe meistert. Wir haben die Verantwortung, zu zeigen,
dass der Umbau funktioniert. Wir haben heute aber auch
die Verantwortung, nicht hierzulande etwas abzuschalten, was wir in anderen Ländern noch finanzieren. Auch
die Nichterteilung von Hermesbürgschaften, zum Beispiel für Brasilien, gehört zu einem eindeutigen Kurs.
Wir sind weder hier noch anderswo für die Atomenergie.
({12})
Zu diesem eindeutigen Kurs wird auch gehören, dass
wir in Zukunft neue Technologien, Effizienz und Wissen
mit anderen Gesellschaften und anderen Staaten teilen,
damit sich die derzeitigen Entwicklungs- und Schwellenländer wirtschaftlich entwickeln können und eine
gute Energieversorgung haben.
Wenn wir heute Ja sagen, dann handelt es sich definitiv um ein „Ja, aber“. Die Grünen stimmen zu, die von
Ihnen bis 2040 verlängerte Laufzeit auf 2022 zurückzusetzen - mit einem Stufenplan und einem festen Enddatum. Wir stimmen zu, dass die sieben ältesten Kernkraftwerke und Krümmel vom Netz genommen werden,
auch wenn wir wissen, dass es schneller gehen könnte
und man aus heutiger Sicht schon 2017 aus der Atomenergie aussteigen könnte.
({13})
Deshalb sagen wir: Ja, aber. Für all das zu sorgen, wird
die Aufgabe der Grünen nach der nächsten Bundestagswahl sein.
Die Sicherheit der verbleibenden AKW haben Sie
nach Fukushima nicht ehrlich geregelt.
({14})
Das kerntechnische Regelwerk gehört in den Bundesanzeiger. Das wäre eine der Lehren, die wir aus den Ereignissen in Fukushima ziehen müssten angesichts des
Wissens, dass auch hochtechnologische Länder solche
Unfälle erleben können.
Ein weiterer Punkt. Sie haben nicht den Mut, die Endlagerfrage offen anzupacken. Wir sagen: Wir brauchen
eine ergebnisoffene, bundesweite Suche nach einem
Endlager. Wir wollen den Stopp des illegalen Weiterbaus
von Gorleben, und zwar sofort.
({15})
Wer es mit der Energiewende ernst meint, sagt Ja
dazu, im Grundgesetz zu verankern, dass der Betrieb von
Atomkraftwerken untersagt wird. Auch diesen Antrag
haben wir eingebracht. Wir sagen Ja zur Verkürzung der
Laufzeiten. Wir sagen aber auch „aber“. „Aber“ sagen
wir zu Ihrem ehrgeizlosen Erneuerbare-Energien-Gesetz; ich weiß, dass die Bundesländer noch hier und dort
mit Ihnen darüber diskutieren werden. Das fängt schon
bei den Zielen an. Dass bis 2020 nur 35 Prozent des
Strombedarfs durch Ökostrom gedeckt werden sollen, ist
zu wenig. Wir müssen uns ein Ziel von deutlich über
40 Prozent setzen.
({16})
Wir müssen den Schwerpunkt auf dezentrale, kleine
Anlagen setzen. Wir müssen den Schwerpunkt außerdem
auf einen Netzausbau setzen, der nicht neue Konflikte
produziert. Gerade im 21. Jahrhundert müssen wir insbesondere bei diesem Thema den Bürgern unseren Respekt
ausdrücken, indem wir sagen: Jede Planung und jede Beschleunigung beginnt mit einer ehrlichen Bürgerbeteiligung.
Heute stellen wir eines fest: Deutschland steht an der
Schwelle, im 21. Jahrhundert Vorreiter für die Green
Economy zu sein. Wir Grüne werden diese Rolle annehmen und nicht nur heute dafür sorgen, dass beschlossen
wird, wie ausgestiegen wird. Wir wollen darüber hinaus
zeigen: Wir sind auch in Deutschland ein Garant für internationalen Klimaschutz und für eine internationale
Klimawende.
Ich bin heute stolz darauf - und auch ein bisschen gerührt -, was eine Bewegung, die früher diskriminiert und
kriminalisiert wurde, alles geschafft hat. Wir alle - ich
habe es am Anfang gesagt - haben unser Land verändert.
Ich sage Ihnen: Heute ist ein guter Tag für Deutschland.
Wir sind sehr stark, und wir werden weiterhin für Veränderungen sorgen, hin zu einer nachhaltigen, verantwortungsvollen Wirtschaft, die nicht auf Kosten anderer
lebt.
({17})
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Kruse für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Künast, über Ihre Rede habe ich mich gefreut,
weil Sie, die Sie die Einzigen sind, die tatsächlich in aller epischen Breite die Frage „Wer hat es erfunden?“
stellen dürften, es nicht getan haben. Das spricht für
Souveränität.
Sie haben die Frage aufgeworfen - natürlich rhetorisch gemeint -, ob die Grünen noch ein Thema haben
werden, wenn sie dieses Ziel erreicht haben. Ich gebe Ihnen auch in diesem Punkt recht: Selbstverständlich werden Sie wieder Themen finden; das kann ich aus der Erfahrung der Union belegen.
({0})
Die Union war es, die - in einem Alleingang, wenn man
so will - die soziale Marktwirtschaft eingeführt hat. Dies
ist ein Projekt, das heute weltweit Anerkennung findet
und von den Sozialdemokraten schon seit langem nicht
mehr kritisiert wird. Heute wird sie höchstens von einer
Partei kritisiert.
Aber damit war die Geschichte der Union noch nicht
beendet. Das Thema „Integration in das westliche Bündnis“ war anfangs auch keine Konsenspolitik.
({1})
- Lassen Sie mir doch die Chance, im Laufe meiner
Rede auch bei der SPD etwas Gutes zu finden. Anders
als Ihre Redner bin ich nicht der Meinung, dass jeweils
die eigene Partei allein selig machend ist. Bevor ich auf
die Ostpolitik zu sprechen komme - die einen Verdienst
hat; darüber bestand ebenfalls kein Konsens in diesem
Hause -, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass
uns die Integration in das westliche Bündnis gelungen
ist. Es trägt noch heute.
Lassen Sie mich auf das Thema Wiedervereinigung
zu sprechen kommen, das zumindest geschichtlich nicht
so weit zurückliegt, als dass sich die meisten Menschen
nicht mehr daran erinnern könnten und als dass wir uns
nicht mehr daran erinnern könnten, dass maßgebliche
Vertreter, nämlich die, die hier das operative Geschäft
geleitet haben, gesagt haben: Das geht nicht, das wollen
wir nicht. Das war übrigens Oskar Lafontaine. Auch
nach der Wiedervereinigung, die sicherlich ein großes
Kernthema der Union war, war es nicht so, dass wir
keine Themen mehr hatten. Das heißt, Ihnen wird es genauso gehen wie uns, die wir in der Lage sind, unsere
Positionen neu zu überdenken.
Als Sie sich gegründet haben, lag es wohl eher nicht
in Ihrer Gründungsabsicht, dass Sie die ersten Einsätze
der Bundeswehr mit verantworten. Sie haben sich damals richtig entschieden, aber es war in Ihrer Gründungsgeschichte nicht vorgesehen.
({2})
Herr Gabriel sieht das anders. Herr Gabriel ist weit in
die Geschichte zurückgegangen, um jemanden zu finden, der schon vor Tschernobyl etwas Kritisches über
die Atomenergie gesagt hat, wobei man sagen muss,
dass Willy Brandt zu jenem Zeitpunkt nicht mehr in der
operativen Verantwortung war.
({3})
- Ja, das hat er auf einem Parteitag gesagt. Wissen Sie,
das wäre in etwa so, als wenn ich jetzt das Buch Ein Planet wird geplündert hochhalten würde, das Herbert
Grühl als CDU-Abgeordneter geschrieben hat.
({4})
Wenn man will, dann kann man sich immer auf seine
Standpunkte zurückziehen.
({5})
- Sehen Sie, deswegen sind die Grünen gegründet worden. Helmut Kohl hat einmal gesagt - er konnte nämlich
reflektieren -: Es war ein Fehler, zu wenig auf Herbert
Gruhl zu hören. Das heißt, die uns sehr bekannte Debatte
aus dem Werbefernsehen - Stichwort: „Wer hat es erfunRüdiger Kruse
den?“ - hat noch einen anderen Teil. Es geht nicht immer nur darum, wer es erfunden hat, sondern es geht
auch darum, wer an der Umsetzung beteiligt ist. An dieser Umsetzung wollen und werden wir uns beteiligen.
Man darf hier auch einmal daran erinnern, wer die
Katalysatortechnik eingeführt hat, wer das erste Windrad
gebaut hat und wer das erste Umweltministerium eingerichtet hat.
({6})
- SPD Hessen 1970. Vorher war die Umweltpolitik beim
Innenministerium angesiedelt, und wir haben die ersten
Einspeiseregelungen eingeführt.
Ich glaube aber, das ist nicht der wesentliche Punkt,
sondern der wesentliche Punkt ist, zu erkennen, dass
man eine Neubewertung von Sachverhalten vornehmen
kann. Es ist richtig: In den 60er-Jahren ist ein kollektiver
Fehler begangen worden - übrigens im Einvernehmen
der großen Parteien -, nämlich die Entscheidung, maßgeblich auf Atomenergie zu setzen.
({7})
Solche Irrtürmer muss man dann auch mal wieder korrigieren.
Herr Gysi, Sie und Ihr System hatten mit kollektiven
Irrtümern ja viel zu tun; denn Sie haben immerhin
40 Jahre lang versucht, darauf eine Republik zu gründen.
({8})
Insofern war es sehr beeindruckend, wie Sie sich hier
hingestellt haben. Weil Sie Jurist sind, hatte ich von Ihnen eigentlich erwartet, dass Sie eine rückwirkende Abschaltung der Atomkraftwerke verlangen. Das Einzige,
was Sie hier tun, um sich zu legitimieren, ist, zu sagen:
Ich bin der brutalstmögliche Abschalter.
({9})
- Das müssen Sie erst einmal erreichen.
Es war ein wenig überraschend - das schaffen Sie
sonst ja eigentlich immer -, dass Sie heute die Bonizahlungen für die Banker ausgelassen haben. Ansonsten
landen Sie immer beim gleichen Thema.
({10})
Das mag etwas mit Ihrer Marke zu tun haben.
Sie haben hier den Energieverbrauch angesprochen
und uns vorgeworfen, dass wir jene begünstigen, die besonders viel Energie verbrauchen. Entschuldigung, aber
die größten Energieverbraucher sind eben nicht die Millionäre mit ihren Schwimmbecken.
({11})
Das mag zwar nach Ihrer Vorstellung so sein. Aber
die größten Energieverbraucher sind Unternehmen: zum
einen die Deutsche Bahn, mit der wir alle gerne fahren,
und zum anderen die sogenannte energieintensive Industrie. Nur weil der deutsche Arbeiter mit Ihrer Partei
keine Solidarität mehr hat, müssen Sie ihn jetzt nicht
verraten. Wenn Sie die energieintensive Industrie in diesem Land ihrer Basis berauben - das scheinen Sie ja zu
wollen, weil Sie sagen, dass sie mehr zahlen sollen als
der normale Einzelverbraucher -, dann vernichten Sie
Arbeitsplätze.
({12})
Wenn Sie diese Arbeitsplätze vernichten, dann vernichten Sie auch die Hoffnung, dass wir das, was wir uns
vorgenommen haben, auch umsetzen können.
Das, was wir uns umzusetzen vorgenommen haben,
mag im Augenblick wie ein nationaler Alleingang aussehen. Es gibt immer wieder Kritiker, die sagen: Wenn
man das schon macht, dann bitte nicht alleine. Es ist aber
nun einmal so: Irgendjemand muss sich zuerst bewegen.
In diesem Fall sind wir das. Das ist der einzige Punkt,
bei dem ich mit Herrn Gabriel auf einer Linie liege. Allerdings sage ich das und brülle es nicht.
Das ist ein Thema, das eine solche Dynamik hat, dass
dadurch ein Impuls für Europa gegeben werden kann.
Das ist das, was wir brauchen; denn die Impulse für Europa, die es früher gegeben hat - das Erreichen von Frieden, Freizügigkeit usw. -, sind Wirklichkeit geworden.
Das heißt, wir brauchen einen neuen Impuls. Wir wollen,
wenn wir über Europa diskutieren, nicht mehr nur über
Kostenfaktoren oder anonyme Bürokratie reden, sondern
wir brauchen für Europa eine Idee, die sinnstiftend ist.
({13})
- Frau Sager, ich danke Ihnen, dass Sie mich angesichts
einer verbleibenden Redezeit von null Sekunden retten.
Das geht zwar eigentlich nicht durch bilaterale Absprachen.
({0})
Frau Sager und ich sind uns aus Hamburg vertraut.
Aber ich stelle jetzt einmal ein Interesse an einer Zwischenfrage und die Genehmigung des Redners, eine solche Frage zu stellen, fest. - Bitte schön, Frau Sager.
Die Hamburger schaffen das auch ohne den Präsidenten.
Nein, das schon mal gar nicht.
({0})
Herr Kollege Kruse, Sie heben in Ihrer Rede sehr
stark darauf ab, dass jede Partei an den Punkt kommen
kann, an dem sie sagt: Wir müssen Positionen der Vergangenheit revidieren und uns gründlich damit auseinandersetzen, dass unsere Position vielleicht nicht richtig
gewesen ist. Ich habe großes Verständnis dafür, dass Sie
gegenüber Ihrer eigenen Fraktion jetzt nicht mit der Haltung auftreten: Seht, ihr Leute, ich habe euch ja schon
immer gesagt, dass das der falsche Weg war.
Als die Grünen ihre Position zum Beispiel in der Außenpolitik verändert haben, haben wir in der Partei, auf
Parteitagen und in der Öffentlichkeit eine sehr intensive
und sehr offene demokratische Auseinandersetzung darüber geführt. In einem demokratischen Verfahren haben
wir dann gesagt: Wir nehmen eine Richtungsänderung
vor; wir korrigieren uns.
Ich frage Sie - da denke ich ähnlich wie der Bundespräsident -: Glauben Sie nicht, dass es für die großen
Aufgaben, die jetzt vor unserem Land liegen, was diese
Energiewende angeht, besser gewesen wäre, wenn Ihre
Partei in einem ähnlich demokratischen, öffentlichen,
vielleicht auch von harten Auseinandersetzungen begleiteten Verfahren zu dieser Kurskorrektur gekommen
wäre?
({0})
Zunächst einmal darf ich sagen, dass ich, auch wenn
wir als Hamburger sehr vertraut sind, die Koordinierung
und Unterstützung des Präsidenten selbstverständlich
sehr begrüße.
Ich hatte den Eindruck, Frau Sager, dass die Debatte
in der Union doch sehr öffentlich gewesen ist und die
verschiedenen Standpunkte deutlich geworden sind.
Diese Debatte begann vor etwa einem Jahr, als es um
dieses Thema ging. Das war übrigens nicht mein
Wunsch, sondern ein Wählerauftrag; denn all diejenigen,
die die christlich-liberale Koalition gewählt haben,
wussten, dass es diese im Zusammenhang mit der Finanzierbarkeit des Klimaschutzes für wichtig erachtete, die
Laufzeit zu verlängern. Es gab einen Grundkonsens in
der Bevölkerung, wonach das okay war.
Damals gab es auch den Grundkonsens: Wir wollen
keine großen Strompreiserhöhungen. Das hat sich jetzt
nach Fukushima geändert. Die Bereitschaft der Menschen, mehr zu zahlen, ist in allen Teilen der Bevölkerung gewachsen. Auch dort folgen die CDU/CSU und
die FDP dem Souverän, was in einer Republik richtig ist.
Wir haben eine Debatte geführt. Wir haben sicherlich
trotz vieler bürgerlicher Aspekte, die uns verbinden, eine
unterschiedliche Kultur. Aber Sie können nicht sagen,
dass diese Debatte nicht öffentlich gewesen wäre. Sie ist
sogar sehr öffentlich gewesen; denn wir haben auch in
den Medien sehr intensiv diskutiert. Norbert Röttgen hat
für seine Position intensiv geworben. Ich bin in meinem
Wahlkreis durch Kreisverbände und Ortsverbände gelaufen und habe über Energiepolitik diskutiert, und zwar
schon seit letztem Juni. Insofern sind wir hier sehr breit
aufgestellt. Anders ist nicht zu verstehen, dass wir im
Herbst letzten Jahres die Laufzeitverlängerung - der
Text dazu bestand aus sechs Seiten - beschlossen haben.
Die restlichen 60 Seiten waren sehr gut. Wir haben die
Energiewende auf einer breiten Basis beschlossen. - Ich
danke für Ihre Frage.
({0})
Jetzt wird mir der Präsident gleich sagen, dass meine
Redezeit zu Ende ist. Ich glaube, dass wir, anders als
meine Redezeit, erst am Anfang einer sehr guten Entwicklung stehen. Ich freue mich sehr, dass es am Ende
einen breiten Konsens für diese herausragende Aufgabe
gibt. Das, worin wir unsere Vielfalt einbringen können,
ist die Umsetzung des Ganzen. Dafür haben wir bewährte Instrumente, sodass die Umsetzung sicher gelingen wird. Ein Wert ist auch, dass Union und FDP bei
diesem Thema, das sehr wirtschaftsnah ist, die Kompetenz dafür haben,
({1})
diesen Beschluss konsensuell umzusetzen. Das ist unser
Vorteil gegenüber Ihnen, Herr Gabriel.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich erteile das Wort nun dem Minister für Finanzen
und Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg, Herrn
Nils Schmid.
({0})
Dr. Nils Schmid, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Gerhard Schröder das Lukas-Evangelium zitiert, dann muss etwas Wichtiges geschehen sein. Er hat
nämlich angesichts des Kurswechsels der Regierungsmehrheit in diesem Haus gesagt, dass im Himmel mehr
Freude über einen einzigen reuigen Sünder ist als über
99 Gerechte. Diesem Zitat kann ich mich nur anschließen. Ich freue mich über viele Hundert reuige Sünder in
diesem Haus.
({2})
Doch kommt man angesichts der aktuellen Diskussion schon ein bisschen ins Grübeln. Wenn Parteien
25 Jahre brauchen, nämlich von dem Unglück in Tschernobyl bis zur Katastrophe in Fukushima, um zu erkennen, dass die Atomkraft eine nicht beherrschbare Technologie ist, dann frage ich mich: Wie lange brauchen
dann dieselben Parteien, um einzusehen, dass Steuersenkungen auf Pump ein Riesenfehler sind?
Minister Dr. Nils Schmid ({3})
({4})
In beiden Fällen gibt es keine sachlichen Gründe für
diesen plötzlichen U-Turn. Man kann leicht nachvollziehen, dass hier taktische Erwägungen eine Rolle gespielt
haben. So wie jetzt die Pläne für Steuersenkungen der
Rettungsring für den neuen FDP-Vorsitzenden sein sollen, so war der U-Turn bei der Kernenergiepolitik vor allem dem Ziel geschuldet, kurz vor der Landtagswahl in
Baden-Württemberg mit ganzer Kraft auf die Bremse zu
treten, um eine marode Landesregierung vor der Abwahl
zu retten.
Wie Sie sehen, ist dieser Versuch mächtig in die Hose
gegangen. Deshalb redet jetzt der Vertreter einer neuen
Landesregierung in Baden-Württemberg in diesem Hohen Hause.
({5})
Das zeigt: Verlässlichkeit, Planbarkeit und Prinzipientreue in der Politik werden von vielen Menschen in diesem Land eingefordert.
({6})
Sie müssen sich darauf verlassen können, dass nicht
Klientelinteressen, sondern Vernunft und Sachverstand
Entscheidungen leiten.
({7})
Nur dann kann das Vertrauen, das zerstört worden ist,
wieder zurückgewonnen werden.
Gerade die Unternehmen in Baden-Württemberg
brauchen verlässliche Rahmenbedingungen. Die Stadtwerke, die Mittelständler, die großen Industriekonzerne
und auch das Autoland Baden-Württemberg sind mehr,
als es in anderen Bundesländern der Fall ist, darauf angewiesen, dass gerade in der Energie- und Wirtschaftspolitik Verlässlichkeit, Planbarkeit und Investitionssicherheit gewährleistet sind.
({8})
Deshalb begrüßt die baden-württembergische Landesregierung, dass die neue Bundesregierung, wenn auch
handwerklich schlechter, zu dem alten Atomkonsens zurückkehren will, den Gerhard Schröder, Jürgen Trittin,
Frank-Walter Steinmeier, Werner Müller und viele andere ausgehandelt haben und der vor wenigen Monaten
ohne Not aufgekündigt worden ist. Aber auch da gilt der
Spruch vom reuigen Sünder. Wenn die Lernkurve der
CDU/CSU auch bei anderen Themen so steil ist, dann
kann man hoffen, dass bei den Steuersenkungen nicht
derselbe Fehler wiederholt wird.
({9})
Eines ist aber auch klar: Die Geschwindigkeit der
Energiewende in Deutschland entscheidet sich in BadenWürttemberg, nicht nur weil die neue Landesregierung
vier AKW und eine riesige Schuldenlast von der alten
Landesregierung geerbt hat - es ist eine schwere Hypothek, dass wir die Übernahme des Anteils an EnBW rein
durch Schulden finanziert haben -, sondern auch, weil es
ein Paradebeispiel dafür ist, was die schwarz-gelbe
Energiepolitik in der Vergangenheit an Versäumnissen
angerichtet hat. Ich denke nur an den wichtigen Bereich
der Windenergie.
Wo ist denn das böse Wort von der „Verspargelung
der Landschaft“ entstanden? Das war in BadenWürttemberg.
({10})
Die Herren Teufel, Kauder und Mappus haben dieses
Wort bis zum Gehtnichtmehr gebraucht und den Ausbau
der Windenergie in Baden-Württemberg verhindert. Jetzt
wollen sie plötzlich die Frontmänner der erneuerbaren
Energien sein.
({11})
Bevor wir von Verspargelung reden, würde ich lieber
darüber reden, dass jedes Windrad, das an einem geeigneten Ort aufgestellt ist, ein Ausweis baden-württembergischer Ingenieurskunst ist, auf den wir stolz sein sollten. Das ist technischer Fortschritt, der nicht verhindert
werden darf.
({12})
Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die CDU/CSUBundestagsfraktion bei der Förderung der Onshorewindenergie Verschlechterungen plant.
({13})
Bezeichnend ist auch, dass die baden-württembergische
Riege der CDU/CSU-Bundestagsfraktion um Herrn
Kauder und Herrn Pfeiffer nichts Besseres zu tun wissen, als den Bereich, der für Baden-Württemberg in den
nächsten Jahren besonders wichtig ist, weiter zu vernachlässigen und zu verschlechtern. Sie tun damit dem
Industriestandort Baden-Württemberg einen schweren
Tort an. Sie haben sich zu Recht in die hintere Reihe verzogen, Herr Kauder.
({14})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schlecht?
Dr. Nils Schmid, Minister ({0}):
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege Schlecht.
({0})
Herr Minister, in Baden-Württemberg gibt es insoweit
eine günstige Voraussetzung für die Energiewende, als
das Energieversorgungsunternehmen in Baden-Württemberg in öffentlichem Eigentum ist und damit öffentlicher
Kontrolle untersteht. Was mich allerdings verwundert,
ist erstens, dass Sie zur Geschäftspolitik der EnBW
- Ziel sollte es sein, den Energieumbau voranzubringen bekundet haben, auf diese keinen Einfluss nehmen zu
wollen, sondern die EnBW weiterhin als ganz normales
marktwirtschaftliches kapitalistisches Unternehmen arbeiten lassen wollen.
({0})
Zweitens wundert mich folgender Punkt: Selbst als
der Geschäftsführer der EnBW erklärt hat, er sei zwar
ein Atommann, aber wenn sich die poltischen Verhältnisse gewandelt hätten, sei er durchaus bereit, sich den
alternativen Energien zuzuwenden, aber das würde
8 Milliarden Euro kosten, hat sich die neue Landesregierung nicht einmal ansatzweise damit befasst, in ihr eigenes Unternehmen zu investieren, um den Umbau der
Energieversorgung voranzubringen. Das habe ich vermisst.
Herr Kollege, Sie müssen sich jetzt aber zeitlich ein
bisschen disziplinieren.
Noch einen Satz. - Warum haben Sie das nicht ganz
anders gehandhabt? Ist das nicht wirklich schon ein erstes großes Versagen Ihrer Politik im Hinblick auf den
Energieumbau?
({0})
Dr. Nils Schmid, Minister ({1}):
Darauf soll ich antworten? Herr Kollege, ein großes
Versagen Ihrerseits ist, zu verkennen, dass EnBW eine
AG ist. Deshalb gibt es keine Geschäftsführer, sondern
Vorstandsvorsitzende. Es gilt das Aktienrecht für das
Verhältnis zwischen Eigentümer und Vorstand. Deshalb
ist es selbstverständlich, dass die Landesregierung im
Rahmen des Aktienrechts Einfluss auf die Strategie, aber
nicht auf Einzelheiten der Geschäftspolitik nehmen
wird. Alles andere wäre rechtswidrig. Sie wollen mich
doch wohl nicht zu rechtswidrigem Verhalten auffordern?
({2})
Herr Minister, da Sie jetzt so schön damit angefangen
haben: Würden Sie noch eine Bemerkung der Kollegin
Flachsbarth einbeziehen wollen?
({0})
Dr. Nils Schmid, Minister ({1}):
Ja.
Bitte schön, Frau Dr. Flachsbarth.
Herr Minister, ich habe lediglich eine Nachfrage in
der Sache. Sie haben eben gesagt, dass die Unionsfraktion an der Verschlechterung der Bedingungen für den
Ausbau der Windenergie onshore maßgeblich beteiligt
gewesen sei. Könnten Sie mir bitte freundicherweise im
Detail nachweisen, wo das der Fall ist,
({0})
insbesondere in Bezug auf den SDL-Bonus oder das Repowering? Ich möchte das Gegenteil behaupten: Die
Unionsfraktion hat gemeinsam mit dem Koalitionspartner für eine maßgebliche Verbesserung der Bedingungen
im Vergleich zum Status quo gesorgt.
({1})
Dr. Nils Schmid, Minister ({2}):
Es geht zuerst um die Ausgestaltung der Degression
bei der Förderung der Windenergie. Ich bin der Auffassung, dass der jetzige Vorschlag nicht ausreichend ist.
Sie wissen ganz genau, dass in Baden-Württemberg ein
riesiger Nachholbedarf besteht.
({3})
Stellen Sie sich einmal vor: Weniger als 1 Prozent unseres Stroms wird aus Windenergie erzeugt. Vergleichbare
Länder wie Rheinland-Pfalz mit ähnlicher Topografie
und ähnlicher Windhöffigkeit haben bereits einen Anteil
von 10 Prozent erreicht. Jetzt haben die Südländer - übrigens auch Herr Seehofer für Bayern - erklärt, dass sie
sich langsam an diesen Schnitt heranrobben wollen. Dafür brauchen wir Unterstützung; denn eine dezentrale
Energieversorgung funktioniert nur, wenn wir die Gewinnung von Energie aus Wind, Wasser, Biomasse und
Sonne in den jeweiligen Regionen des Landes fördern.
Deshalb sage ich: Aus baden-württembergischer Sicht
ist die jetzige Ausgestaltung der Förderung von Windenergie im EEG nicht ausreichend. Darüber werden wir
noch diskutieren müssen.
({4})
Vor allem brauchen wir eine mentale Veränderung.
Ich höre ständig, wie die Chancen der erneuerbaren
Energien beschworen werden. Ich bin in den letzten Jahren und Monaten durch das Industrie- und Mittelstandsland Baden-Württemberg gereist und habe viele Unternehmen besichtigt. Darunter war kein einziges, das mit
großer Begeisterung neue AKW bauen wollte. Es gibt
aber ganz viele Unternehmen, die hochleistungsfähige
Windkraftanlagen oder Photovoltaikanlagen fertigen und
diese in die ganze Welt exportieren. Das ist die Zukunftschance des Industriestandorts Baden-WürttemMinister Dr. Nils Schmid ({5})
berg. Sie haben über Jahre hinweg zum Beispiel den
Ausbau der Windenergie als „Verspargelung der Landschaft“ verteufelt. Da sehen Sie einmal, wie rückständig
Sie waren!
({6})
Gerade weil wir das wichtigste Industrieland in
Deutschland sind, entscheidet sich die Energiewende in
Baden-Württemberg, auch wenn es um den Ausbau der
erneuerbaren Energien geht. Gerade in einem Industrieland wie Baden-Württemberg haben wir aufgrund
unserer gesunden Struktur aus Mittelständlern und Großindustrie sowie unserer Maschinen-, Anlagenbau- und
Elektroindustrie, die für die notwendigen technologischen Inputs für Anlagen zur Erzeugung erneuerbaren
Stroms sorgt, für den Ausbau der Speichertechnologie
und für die Verknüpfung von E-Mobilität und dezentraler Energieerzeugung, die Chance, Modellregion dafür
zu sein, wie die Energiewende funktionieren kann. Ich
sage Ihnen eines: Wir warten nur darauf, dass die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Haus uns endlich die Instrumente dafür in die Hand gibt. Alleine
schaffen wir das in Baden-Württemberg eben nicht.
Dazu gehört, dass Sie eine ordentliche Förderung der
erneuerbaren Energien hinbekommen; ich bin auf das
Beispiel Onshorewindenergie eingegangen. Dazu gehört, dass Sie Kapazitätsmärkte für Neubauten von
Kraftwerken schaffen. Wir sind uns einig, dass insbesondere hocheffiziente Gaskraftwerke dabei eine große
Rolle spielen. Dazu gehört auch, damit der Industriestandort gesichert wird, dass wir Rücksicht auf die energieintensiven Branchen nehmen.
Das ist das Paket, das Baden-Württemberg braucht;
das ist das Paket, das Deutschland braucht. Dieses Paket
lag vor zehn Jahren auf dem Tisch. Es lag mit beiden Facetten auf dem Tisch. Ich glaube, Herr Rösler war damals noch nicht dabei. Es gab den Ausstiegsfahrplan;
daran mögen sich manche vielleicht noch erinnern. Man
erinnert sich vielleicht auch noch daran, dass es ein EEG
gab, das damals eingeführt worden ist, vor allen Dingen
dank des Engagements von Hermann Scheer aus BadenWürttemberg.
({7})
Damals, als es um das EEG und die Frage ging, ob die
große Wasserkraft dabei berücksichtigt werden soll - Stichwort Rheinfelden -, war die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dagegen. Anschließend rühmen Sie sich, wie toll Sie
die erneuerbaren Energien in Baden-Württemberg ausbauen wollen. Ich glaube, die Realität spricht eine andere Sprache.
Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass wir endlich für
die Industrie, für die Wirtschaft, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg und in
Deutschland diese Sicherheit schaffen. Wirtschaftliche
Vernunft, soziale Balance und Nachhaltigkeit gehören
zusammen. Baden-Württemberg als starkes Industrieland wird seiner Verantwortung gerecht werden. Werden
auch Sie Ihrer Verantwortung gerecht.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Michael
Kauch das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn das,
was Herr Schmid hier gerade vorgetragen hat, von der
Kompetenz der neuen Wirtschaftspolitik in BadenWürttemberg zeugen soll, dann ist mir um das industrielle Kernland Deutschlands angst und bange.
({0})
Nicht Steuersenkungen werden auf Pump finanziert,
sondern die Ausgaben des Staates, die des Bundes und
auch diejenigen des Landes Baden-Württemberg. Nicht
die Beglückung von Philipp Rösler ist der Grund für
Steuersenkungen, sondern es sind die Interessen der hart
arbeitenden Normalverdiener, denen die Lohnerhöhungen vom Staat weggenommen werden. Das ist der Grund
für die Steuersenkungen.
({1})
Wir kehren auch nicht zu dem rot-grünen Atomdeal
mit den Konzernen zurück. Sie haben den Deal über
Reststrommengen gemacht. Dadurch konnten die Konzerne das Ausstiegsdatum immer weiter nach hinten
schieben. Wir legen ein neues Konzept vor. In diesem
Konzept gibt es klare Enddaten. Die Bürgerinnen und
Bürger sowie die Unternehmen können sich darauf verlassen: Es gibt einen klaren Fahrplan. Das gab es bei
Rot-Grün nicht.
({2})
Deshalb tun Sie nicht so, als ob Sie immer schon alles
gewusst hätten, meine Damen und Herren.
({3})
Herr Kollege Kauch, gestatten Sie eine Zwischenbemerkung? - Nein.
Frau Künast hat die Frage der demokratischen Debatte angesprochen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die
FDP hat es sich nicht leicht gemacht, hierbei einen
neuen Kurs einzuschlagen. Wir haben einen Parteitag
einberufen. Auf diesem Parteitag wurde kontrovers diskutiert. Am Schluss sind wir gemeinsam zu einem Er13388
gebnis gekommen. Das ist die demokratische Legitimation dafür, was wir heute hier im Deutschen Bundestag
beschließen werden.
({0})
Wir wollen uns vor allem damit beschäftigen, was die
Zukunft dieses Landes ist, während die Opposition hier
die Geschichte bis in die 50er-Jahre hinein bemüht hat.
Deswegen haben wir hier ein neues Erneuerbare-Energien-Gesetz vorgelegt. Dieses neue Erneuerbare-Energien-Gesetz hat zum einen das Ziel, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen, und zum anderen,
mehr Marktwirtschaft in dieses System zu bringen. Wir
werden mit diesem Gesetz die Produzenten von Ökostrom dazu bringen, sich stärker an den Bedürfnissen ihrer Kunden zu orientieren; denn unser Ziel ist nicht die
Beglückung von Unternehmen. Vielmehr wollen wir,
dass Verbraucherinnen und Verbraucher für das Geld, das
sie für ihren Strom zahlen, so viel Ökostrom wie möglich
bekommen, und zwar dann, wenn sie ihn brauchen, und
nicht nur dann, wenn die Erzeuger ihn ins Netz speisen
wollen.
({1})
Deshalb haben wir die Instrumente zur Direktvermarktung von Ökostrom verbessert. Wir haben die
Markt- und Netzintegration gestärkt. Dazu haben insbesondere die Koalitionsfraktionen das Instrument des
sogenannten Grünstromprivilegs, also der Direktvermarktung über Ökostromhändler, gegenüber dem Regierungsentwurf verbessert. Wir haben es geschafft, dass
auch wieder kleinere Händler eine Chance haben, dieses
Instrument wirtschaftlich zu nutzen, und wir haben die
Marktprämie für stetige erneuerbare Energien erhöht.
Wir haben jetzt auch bei Bestandsanlagen für Biomasse
dafür gesorgt, dass sie eine Prämie bekommen, wenn sie
sich flexibel an den Bedürfnissen des Marktes ausrichten.
Dies zeigt ganz klar: Wir wollen dahin, dass die erneuerbaren Energien die Hauptfunktion im Energiesystem übernehmen können. Die rot-grüne Politik bestand
immer nur darin, ein paar Anlagen zu bauen; aber wie
diese Anlagen in die Energieversorgung integriert werden, war nie ihr Thema. Aber das ist unser Thema.
({2})
Wenn Herr Schmid das Gesetz offensichtlich nicht
richtig gelesen hat, über das er hier spricht, dann tut es mir
leid. Aber ich glaube, es ist weniger ein Informationsdefizit als vielmehr der Versuch der baden-württembergischen Landesregierung, irgendwie darum herumzukommen, den Plänen der Bundesregierung zuzustimmen.
Sie suchen das Haar in der Suppe, und mag es auch noch
so klein sein.
({3})
Wenn Sie das Gesetz, das wir heute als Koalition einbringen, und die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen mit dem vergleichen, was Ihr Ministerpräsident
am Donnerstag im Kanzleramt vereinbart hat, dann stellen Sie fest: Das Ergebnis, das die Koalitionsfraktionen
erreicht haben, ist eine höhere Vergütung für die nächsten drei Jahre für die Onshorewindkraft als die, die Herr
Kretschmann im Kanzleramt zugestanden hat.
({4})
Wir erhöhen zwar im Vergleich zu diesem Ergebnis
die Degression um 0,5 Prozent, was einen Betrag von
0,045 Cent pro Jahr bedeutet; ich sage dies, um Ihnen
die Größenordnung darzustellen. Dafür erhöhen wir den
Systemdienstleistungsbonus im Verhältnis zu der Vereinbarung mit Herrn Kretschmann in der letzten Woche um
0,21 Cent, also um das Fünffache der Summe, die wir
bei der Degression darauflegen. Das machen wir deshalb, weil wir nicht wollen, dass man mit dem Bau von
Windkraftanlagen wartet. Wir wollen, dass sie jetzt gebaut werden; in den nächsten drei Jahren brauchen wir
den Aufwuchs. Deshalb verbessern wir die Bedingungen
für die nächsten drei Jahre. Das ist für die Windkraft an
Land sachgerecht, gerade in Bayern und BadenWürttemberg. Es ist unerträglich, zu sehen, wie Sie,
meine Damen und Herren, und insbesondere Sie, Herr
Schmid, Ihr parteipolitisches Süppchen kochen und den
Bürgern hier Halbwahrheiten erzählen.
({5})
Wir haben in der Tat auch den industriellen Mittelstand bei der Umlage für die erneuerbaren Energien entlastet.
Der muss allerdings jetzt mit dieser knappen Erwähnung zufrieden sein.
Das tun wir nicht deswegen, weil wir den Unternehmen etwas Gutes tun wollen, sondern wir tun das wegen
der Arbeitsplätze in diesem Lande. Gleichzeitig haben
wir aber den weiter gehenden Wünschen der Industrie
nicht entsprochen; denn eine Entlastung der Unternehmen bedeutet für andere eine Erhöhung der Umlage. Das
hat diese Koalition berücksichtigt. Wir haben den Mittelstand entlastet, aber die Großindustriewünsche eben
nicht erfüllt. Das ist sachgerecht.
({0})
Ich erteile das Wort für zwei Kurzinterventionen, zunächst dem Kollegen Fell und dann der Kollegin
Menzner. Bitte schön.
Herr Kollege Kauch, Ihre Aussage, es sei unerträglich, zu sehen, wie parteipolitische Süppchen gekocht
würden, fällt voll auf Sie zurück.
({0})
Wenn Sie sich an das Rednerpult des Deutschen Bundestages stellen und sinngemäß behaupten, unter RotGrün seien die erneuerbaren Energien nicht eingeführt
bzw. nicht genügend unterstützt worden, dann frage ich
Sie, warum in der Welt außerhalb Deutschlands staunend
zur Kenntnis genommen wird, dass Deutschland die
Technologieführerschaft in den erneuerbaren Energien
besitzt und seit zehn Jahren eine Industrie aufgebaut hat,
die inzwischen 370 000 Arbeitsplätze hat? Unter Ihrer,
der damaligen schwarz-gelben Regierung Kohl waren es
nur 30 000 Arbeitsplätze. Dies ist eine Erfolgsgeschichte, die Sie nicht wegreden können. Sie kochen Ihr
parteipolitisches Süppchen und wollen nicht wahrhaben,
was wirklich ist.
Es ist auch nicht so, dass Ihre Partei längst Ihren - vielleicht persönlichen - Aussagen gefolgt ist. Wie wollen
Sie in der Öffentlichkeit klarmachen, dass der Fraktionsvorsitzende der Freien Demokraten im nordrhein-westfälischen Landtag, Herr Papke, bezüglich Windenergieanlagen nur von Industriemonstern spricht und bei jeder
Bürgerinitiative gegen Windenergie auftritt. Wie wollen
Sie begründen, dass die Nachholbedarfe in den südlichen Bundesländern erst mit Ihrer Regierungsbeteiligung notwendig werden? Sie tragen doch die Verantwortung für die Blockade der Windenergie in der
Vergangenheit? Wie wollen Sie eigentlich jetzt die
Marktintegration, von der Sie so viel gesprochen haben,
begründen, wenn selbst der BDEW, der Bundesverband
der Energie- und Wasserwirtschaft, die Verschlechterungen im Zusammenhang mit dem sogenannten Grünstromprivileg, die Sie jetzt im Erneuerbare-Energien-Gesetz vornehmen, mit den Worten „Damit ist es tot“
kommentiert? Damit machen Sie dem entscheidenden
Instrument der Marktintegration den Garaus, und Sie
bringen eben nicht die von Ihnen als Zielvorstellung bezeichnete Marktintegration voran.
Es ist schlicht nicht wahr, was Sie sagen. Ich bitte Sie,
das hier in der Öffentlichkeit zuzugeben. Wir haben von
Ihnen keinen Einstieg in erneuerbare Energien zu erwarten. Wir erwarten allerhöchstens einen beschleunigten
Ausbau. Genau den nehmen Sie aber nicht in Angriff.
({1})
Frau Kollegin Menzner.
Danke, Herr Präsident. - Kollege Kauch, in der Begründung der 13. Novelle des Atomgesetzes finden wir
relativ wenig. Wir haben in den letzten Wochen miteinander vernommen, dass die vier Stromkonzerne überlegen und teilweise schon konkret angekündigt haben,
auf Entschädigungen zu klagen, und Sie legen an dieser
Stelle nicht nach. Die Begründung im Gesetzentwurf,
wieso Laufzeiten begrenzt werden, ist sehr dürftig, obwohl diese Begrenzung natürlich einen Eingriff in das
Eigentums- und Verfügungsrecht dieser Konzerne darstellt. Ich möchte Sie an eine Entscheidung zum Bundesberggesetz von 1991 erinnern. Da hat das Bundesverfassungsgericht entschieden - das möchte ich zitieren -:
Die Gründe des öffentlichen Interesses, die für einen solchen Eingriff sprechen, müssen so schwerwiegend sein, daß sie Vorrang haben vor dem Vertrauen des Bürgers auf den Fortbestand seines
Rechts, das durch die Bestandsgarantie des Art. 14
Abs. 1 Satz 1 GG gesichert wird.
Ich frage Sie, wieso die Koalition gerade vor dem
Hintergrund der Ankündigungen dieser Konzerne nicht
darauf hingewirkt hat, dass die 13. Novelle des ATG verfassungs- und entschädigungssicher wird.
({0})
Zur Erwiderung Herr Kollege Kauch.
Frau Menzner, ich danke Ihnen für die ausgesprochen
sachliche Intervention zu dem Thema, das Sie auch
schon im Umweltausschuss angesprochen haben.
Ich sage ausdrücklich: Wir teilen das Ziel, dass die
Verkürzung der Laufzeiten der Kernkraftwerke keine
milliardenschweren Entschädigungszahlungen an die
Konzerne nach sich zieht.
Vielleicht könnten Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden
eine gewisse Nachhilfe geben. Er hat uns gerade vorgeworfen, dass wir in der Begründung auf die Amortisationsfristen von Kernkraftwerken eingehen. Das ist genau die Begründung, die es an dieser Stelle braucht, Frau
Menzner. Es ist nämlich so, dass wir nicht in die Eigentumsrechte der Unternehmen eingreifen, sondern durch
die festen Abschaltdaten in Kombination mit den Übertragungsmöglichkeiten innerhalb des Zeitraums bis zur
Abschaltung aus unserer Sicht eine verfassungsfeste Lösung gefunden haben. Wir teilen das Ziel. Wir teilen
nicht Ihre Skepsis. Auf jeden Fall teilen wir nicht die polemische Kritik Ihres Fraktionsvorsitzenden.
({0})
Dann zu den Äußerungen von Herrn Fell. Herr Fell,
ich habe Ihnen nicht vorgeworfen, dass das EEG in der
von Rot-Grün beschlossenen Fassung den Anlagenbau
nicht angereizt hat. Insofern war es effektiv. Man kann
darüber streiten, ob es effizient war; aber es war effektiv.
Wir sind nur jetzt in der Situation, dass der Anteil der erneuerbaren Energien im Netz schon deutlich über
16 Prozent liegt. Wir wollen spätestens 2020 auf einen
Anteil von 35 Prozent kommen. Wir wollen bis 2050 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 80 Prozent.
Wenn es so ist, dass die erneuerbaren Energien den
Hauptanteil der Energieversorgung übernehmen müssen,
dann muss man sich heute andere Fragen stellen, als Sie
sich damals stellen mussten, als sozusagen das Rad ans
Laufen gebracht wurde.
({1})
Jetzt geht es um folgende Fragen: Wie bekommen wir
die erneuerbaren Energien in den Markt? Wie bekommen wir sie ins Netz? Wie beenden wir die Dauersub13390
ventionierung und damit eine schleichende Verstaatlichung des Energiemarkts über staatlich festgesetzte
Preise? All das sind Aufgaben, denen wir uns jetzt stellen müssen. Darauf geben wir mit den von uns vorgeschlagenen Änderungen zum EEG die Antworten.
Ich weise im Übrigen auf Folgendes hin: Die erneuerbaren Energien hängen nicht nur von der Vergütung ab.
Sie hängen auch davon ab, ob beispielsweise die Länder
und Kommunen ausreichend Flächen bereitstellen und
ob der Netzausbau beschleunigt wird. Deshalb machen
wir als Koalition die Erdverkabelung jetzt zum Regelfall. Bis zu einer Kostenhöhe von fast dem Dreifachen
einer Freileitung ist die Leitung als Erdkabel auszuführen.
({2})
Damit werden Bürgerproteste deutlich abgebaut.
Wir sorgen als Koalition gleichzeitig dafür, dass die
Erdverkabelung nicht vorgenommen wird, wenn naturschutzfachliche Gründe dagegenstehen. Das war von
den Ländern nicht gefordert worden. Das haben die Koalitionsfraktionen eingeführt, weil naturschutzfachlich
die Erdkabel eben nicht immer besser sind als Freileitungen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Auch die Leistungsbegrenzung beim Repowering, die
unter dem früheren Umweltminister Gabriel ins Gesetz
geschrieben worden ist, hebt diese Koalition auf; Stichwort „Verringerung von Höhenbegrenzungen“. Sie sollten uns nicht an Worten Einzelner messen, sondern an
den Taten der Mehrheit unserer Fraktion und unserer
Partei. Die steht ganz klar zu dem Kurs, den wir hier
heute beschließen werden.
({3})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kauch, Ihre Antwort zeigt: Sie sind die Getriebenen. Genau deshalb muss dieser Atomausstieg anders als
der im Jahr 2000 unumkehrbar werden. Wir brauchen einen unumkehrbaren Ausstieg - und das nicht erst in drei
Legislaturperioden, sondern wesentlich eher.
({0})
Der Atomausstieg, das ist das eine; zukunftsfähige
Energieversorgung zu organisieren, das ist das andere.
Für die Linke ist ganz klar: Die Energiewende muss einen Anteil der regenerativen Energien von 100 Prozent
zum Ziel haben, und sie muss sozial gestaltet werden.
({1})
Wenn ich mir die Gesetzentwürfe anschaue, komme
ich zu dem Schluss: Da droht schon eine gewisse Energiearmut für einkommensschwache Haushalte. Darum
einige Worte zur Novelle des Gesetzes über den Energieund Klimafonds. Der Fonds soll Verlässlichkeit bei der
Energiewende garantieren. Da geht es um soziale Absicherung, um regenerative Energien, um den Ausbau.
Ich frage mich: Ist das so? Ab 2013 gibt es nur noch
eine Säule, nämlich die Versteigerungserlöse aus dem
Emissionshandel. Das heißt, wenn die Preise für CO2Zertifikate sinken, ist weniger Geld in dem Fonds. Das
ist eine Gefahr, auf die ich hinweisen möchte.
Alternativ hätte man die Kernbrennstoffsteuer erhöhen können. Ich denke aber, die Koalition wollte es sich
nicht weiter mit den AKW-Betreibern verscherzen.
Schade! Wir brauchen mehr Geld in diesem Fonds. Denn
wir alle wissen: Die Energiewende kostet viel Geld.
Was enthält dieser Fonds? Forschung für Elektromobilität. Die Sachverständigen haben gesagt, sie gehöre
nicht hinein. Elektromobilität wird die Probleme des Individualverkehrs nicht lösen - das wissen wir alle -, und
wenn sie mit Atomkraftstrom betrieben wird, dann sowieso nicht.
({2})
Eine der größten Sünden sind die Zuschüsse für energieintensive Unternehmen in Höhe von 500 Millionen
Euro. Das ist der vierte Mechanismus zur Subventionierung der energieintensiven Unternehmen. Die Zuschüsse
sind gedacht als Ausgleich für emissionshandelsbedingte
Strompreiserhöhungen.
Um eines klarzustellen, damit Sie uns das nicht wieder vorwerfen: Natürlich sind wir für eine angemessene
Unterstützung der Unternehmen, wenn ein relevanter
Teil der Produkte im internationalen Wettbewerb steht.
Schließlich gibt es jenseits der EU vielfach keine vergleichbare Umweltgesetzgebung. Doch man muss berücksichtigen, dass Firmen bereits seit Jahren entlastet
werden:
Erstens. Der Spitzenausgleich und andere Nachlässe
bei der Stromsteuer bringen den Unternehmen 4,2 Milliarden Euro jährlich.
Zweitens die Ausgleichsregelungen im EEG. Und das
ist der Hammer: Während die Bürgerinnen und Bürger
über die EEG-Umlage die Energiewende finanzieren
müssen, wird bei der Industrie Geld damit verdient; denn
die erneuerbaren Energien führen an der Börse zu strompreissenkenden Effekten in Höhe von 0,6 Cent pro Kilowattstunde. Das heißt, es gibt einen Einspeisevorrang für
erneuerbare Energien, wodurch der jeweils teuerste
Strom aus fossilen Rohstoffen überflüssig wird. Die
EEG-Umlage für große energieintensive Unternehmen
aber wird auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde begrenzt.
Das heißt, das Ganze ist eine Gelddruckmaschine; das
wird auch von der Bundesregierung zugegeben.
Drittens die kostenlose Vergabe der CO2-Zertifikate
an die Industrie im Rahmen des Emissionshandels ab
2013. Hier hat sich die Lobby schamlos durchgesetzt.
Deutlich mehr Unternehmen als die Zahl derjenigen, die
tatsächlich mit energieintensiven Produkten im internationalen Wettbewerb stehen, profitieren davon.
Viertens - ich habe es schon genannt - die zusätzliche
Kompensation von Strompreiserhöhungen für die Industrie in Höhe von 500 Millionen Euro.
Und noch etwas: Die Bundesregierung hat letzten
Monat bei der EU-Kommission Zuschüsse von über
1 Milliarde Euro angemeldet; das haben wir zufällig erfahren. Wir fragen uns: Wer bezuschusst eigentlich die
Bürgerinnen und Bürger mit kleinem Einkommen?
({3})
Sollen die alles allein tragen? Im Bereich der energetischen Gebäudesanierung gibt es Steuererleichterungen
und Förderungen. Das ist ja gut - aber vor allem für die
Menschen, die ohnehin nicht arm sind und Steuern zahlen.
Fazit: Das Gesetzespaket führt zu einer extremen sozialen Schieflage. Das halten wir für ungerecht. Wir
wollen, dass der sozialökologische Umbau von der breiten Bevölkerung akzeptiert wird. Dabei geht es nicht nur
um Ökologie, sondern auch um soziale Aspekte. Das
muss gewährleistet sein. Sonst bekommen wir die Akzeptanz nicht hin, die wir dringend brauchen für
100 Prozent regenerative Energien.
({4})
Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
uns und für mich ist heute ein wichtiger Tag. Die unsinnigen Laufzeitverlängerungen vom letzten Herbst werden heute zurückgenommen. Das ist gut; denn wir wollen den Ausstieg aus der Atomkraft.
({0})
Deshalb habe ich mich gefreut, dass ein Redner der Koalition, Herr Kruse, aus meiner Sicht eine gute Rede gehalten hat, weil sie nachdenklich war.
({1})
Ich habe noch die großen Worte im Ohr, die vor einem halben Jahr gefallen sind: Es war von einem „Jahrhundertkonzept“ die Rede; die Kanzlerin sprach von einer „Revolution“, die bis zum Jahr 2050 trage; Herr
Westerwelle hat die „epochale Bedeutung“ hervorgehoben. Sie haben sich mit diesen großen Worten überboten.
Wer angesichts dieser großen Worte heute hier noch versucht, die Opposition mit frischen und nassforschen Reden anzugreifen, wie es Herr Röttgen und Herr Rösler
hier getan haben, der muss noch viel lernen, wenn er in
die Energiewende einsteigen will.
({2})
Was hat Herr Röttgen, der es offensichtlich nicht
mehr nötig hat, hier noch zu sitzen, im letzten Herbst gesagt? Die Grünen seien „energiepolitische Blindgänger“.
Ich kann nur sagen: Willkommen im Club, Herr
Röttgen! Wir wollen raus aus der Atomkraft, wir wollten
es im letzten Herbst. Das ist nicht besserwisserisch. Wir
wollten das schon im Herbst, weil wir wissen, dass die
Nutzung der Atomkraft falsch ist, und wir nicht Fukushima brauchen, um das zu lernen.
({3})
Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
einer Kollegin aus der Linksfraktion?
Bitte.
Frau Kollegin Höhn, ich möchte Sie fragen, ob ein Zitat, was sich heute in der Rheinischen Post findet und Ihnen zugeschrieben wird, richtig ist. Hier das Zitat:
Wenn wir 2013 mitregieren sollten, werden die
Grünen an dem Zeitraum festhalten, dass bis 2022
der letzte Meiler abgeschaltet werden soll. Das
heißt, wir werden den vorzeitigen Ausstieg 2017
auch nicht mehr als Zielsetzung im nächsten Wahlkampf haben.
Wir sagen: Wir wollen raus aus der Atomkraft. Anders als Sie von den Linken haben wir ein Konzept, wie
wir aus der Atomkraft herauskommen wollen.
({0})
Wir sind nicht diejenigen, die immer nur Forderungen
erheben und nicht deutlich machen, wie es geht.
({1})
Wir wollen mit der Mehrheit der Menschen in diesem
Land und der Mehrheit der Parteien raus aus der Atomkraft. Es ist gut für die Sache, wenn man nicht nur laut
schreit, sondern auch ein Konzept hat, wie man es umsetzen kann; das haben wir.
({2})
Die Koalition hat uns vorgeworfen, wir würden parteitaktisch agieren, das sei Klein-Klein. Herr Rösler, ich
habe mitbekommen, wie der Vizekanzler sozusagen zum
Vizekanzler der Kaltreserve wurde; denn man brauchte
die Kaltreserve - die unsinnige Idee, ein Atomkraftwerk
in der Kaltreserve zu halten -, um die FDP zu retten.
Dazu muss ich sagen: Das ist parteitaktisch motiviert,
das ist Klein-Klein. Da hätte ich von Ihnen etwas anderes erwartet, nämlich dass Sie dann vollständig aussteigen und nicht immer noch an der Kaltreserve festhalten.
Das wäre die richtige Politik gewesen.
({3})
Herr Rösler, ich habe gar kein Problem damit, dass
Sie als Wirtschaftsminister neu im Amt sind. Aber vielleicht muss man aufpassen, dass man da nicht große
Worte spuckt. Wenn Sie sagen, dass die Energiewende
erst jetzt angepackt werde, dann muss ich sagen: Zur
Energiewende gehört auch die Energieeffizienz. Sie waren letzte Woche in Brüssel. Da ging es um die Energieeffizienz. Genauso schlecht wie Ihr Vorgänger Brüderle
versuchen Sie alles zu tun, um die Beschlüsse zur Energieeffizienz in Brüssel zu blockieren. Hören Sie auf,
diese Beschlüsse zu blockieren!
({4})
Das schafft Arbeitsplätze. Es wäre Ihre Aufgabe als
Wirtschaftsminister, die 250 000 Arbeitsplätze zu schaffen, die in diesem Bereich möglich sind.
Dasselbe gilt für die erneuerbaren Energien. Sie streiten sich über die Windkraft auf dem Land. Herr Kauch
hat es richtig auf den Punkt gebracht - ansonsten war die
Rede furchtbar -: Sie streiten sich bei der Windkraft auf
dem Land um 0,05 Cent pro Kilowattstunde. Jeder weiß:
Wer wirklich raus aus der Atomkraft will, muss rein in
die erneuerbaren Energien und insbesondere die Windkraft auf dem Land fördern; denn sie hat Potenzial und
ist kostengünstig. Da wollen Länder einsteigen: Nordrhein-Westfalen - das Land hat fünf Jahre Blockade der
FDP hinter sich -, Baden-Württemberg und Bayern. Wer
wegen 0,05 Cent pro Kilowattstunde fightet, der hat die
Bedeutung der Energiewende noch nicht verstanden.
Wir müssen das Potenzial der Windkraft auf dem Land
besser nutzen. Wir müssen endlich die Blockade brechen, die die schwarz-gelbe Koalition in den Ländern
verursacht.
({5})
Zum Atomausstieg gehört auch die Frage der Endlagerung. Ich fand es interessant, dass Ministerpräsident
McAllister in seiner gestrigen Regierungserklärung eine
vollkommen neue Debatte angestoßen hat. Er sagte, in
Gorleben solle der Atommüll oberirdisch gelagert werden und er wolle die Senkung der Radioaktivität, sprich
das Transmutationsverfahren. Das hat übrigens auch die
Bundesforschungsministerin vor. Jeder, der sich etwas
auskennt, weiß: Transmutation heißt, wieder eine
enorme Atomwirtschaft aufzubauen, die mit enormen
Risiken verbunden ist. Das heißt: Wiederaufarbeitungsanlage. Das heißt: Atomwirtschaft. Wer aus der Atomkraft raus will, muss wirklich raus aus der Atomkraft
und darf keine Riesenprojekte im Bereich der Atomwirtschaft aufbauen.
({6})
Die Kanzlerin hat die Energiewende hier vorgegeben.
Dazu wurde sie durch die Katastrophe in Fukushima gezwungen. Wir werden darauf achten, dass da nicht nur
Energiewende draufsteht, sondern auch Energiewende
drin ist. Ich sehe ganz viele Abgeordnete der Koalition,
die diese Energiewende überhaupt noch nicht verinnerlicht haben und momentan bei jedem Punkt und Komma
dafür fighten, dass diese Energiewende nicht kommt.
Das ist ein schwerer Fehler. Wer aussteigt aus der Atomkraft, muss einsteigen in die erneuerbaren Energien und
die Energieeffizienz erhöhen. Das werden wir tun, darauf werden wir achten, und dabei werden wir Sie treiben. Wir haben noch viel Arbeit zu erledigen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich
stelle fest: Dies ist weniger eine historische als eine Historikerdebatte. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass
wir uns stärker dem Ausblick als dem Rückblick widmen.
({0})
Jetzt bin aber auch ich gezwungen, zu reagieren und zurückzublicken.
Ich möchte erst einmal festhalten, dass die Kernenergie früher unseren Wohlstand aufgebaut und die Industrialisierung gesichert hat, insbesondere von Süddeutschland. Das muss man an dieser Stelle einleitend
positiv bemerken dürfen.
({1})
Zweitens. Nachdem hier heute Morgen schon allen
Möglichen gedankt wurde - mit viel Pathos von Frau
Künast zum Beispiel -, möchte ich mich bei den vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kernkraftwerken bedanken, die täglich unsere Sicherheit sicherstellen. Sie sind in beruflicher Hinsicht am stärksten von
dem betroffen, was wir heute hier beschließen. Vielen
Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Kernkraftwerken.
({2})
Lassen Sie mich rückblickend etwas zu unserem Beschluss vom letzten Herbst sagen: Der Opposition ist es
damals gelungen, durch eine Medienkampagne zu suggerieren, dass es bei diesem Energiekonzept nur um die
Laufzeitverlängerung ging.
({3})
Sie wissen sehr genau, dass das nicht der Fall war. Durch
die Laufzeitverlängerungen wollten wir ein Mittel zum
Zweck schaffen. Wir wollten Zeit und Geld für den Umstieg generieren.
({4})
- Sie wissen doch, dass wir diese Zeit brauchen, weil wir
mit dem EEG damals zwar Kapazitäten geschaffen haben,
({5})
dass wir aber keine Versorgungssicherung hinbekommen
haben. Sie wissen, dass das die eigentliche Herausforderung ist. Sie wissen, dass wir Zeit brauchen, weil wir im
Bereich von Forschung und Entwicklung noch viel tun
müssen. Sie haben zum Beispiel die Photovoltaik zu früh
auf den Markt gebracht. Deshalb müssen wir jetzt über
die finanziellen Konsequenzen dieses falschen Entschlusses diskutieren.
({6})
Sie wissen alle, dass das, was wir heute hier entscheiden, Geld kosten wird - das muss man so klar ansprechen -, und Sie wissen, Frau Bulling-Schröter, dass es
auch um Verteilungsfragen geht. Es geht um die Frage:
Wer zahlt was? Dass Industrie und Wirtschaft, sofern
keine Potenziale zur Effizienzsteigerung vorhanden sind,
von der EEG-Umlage entlastet werden müssen, ist ein
zentraler Bestandteil dessen, was wir heute hier beschließen.
Nach Fukushima und nach der Revidierung unseres
letztjährigen Beschlusses haben wir weniger Zeit und
weniger Geld zur Verfügung. Daher stehen wir vor einer
anspruchsvollen Aufgabe. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Ausstieg der leichtere Teil dieser Aufgabe
ist. Ich glaube aber trotzdem, dass es entscheidend ist,
dass wir hier einen Konsens zustande bringen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Grünen, dass sie jetzt
kein Haar in der Suppe gesucht und auch keines hineingeschmuggelt haben.
({7})
Die Zustimmung der Grünen ist natürlich nur konsequent; denn der heutige Beschluss - das hat auch Ihre
Vorsitzende, Frau Roth, bei der Bundesdelegiertenkonferenz festgestellt - stellt eine Verbesserung gegenüber
dem Beschluss von Rot-Grün dar.
({8})
Das, was wir hier heute im Rahmen des Atomausstiegs beschließen, bringt Planungssicherheit für alle Beteiligten, für die, die in die Alternativen investieren wollen, aber auch für die Versorger. Ich meine, dass das, was
wir hier heute beschließen, aufgrund dieses breiten Konsenses nicht ins Grundgesetz aufgenommen werden
muss. In unserem Grundgesetz steht nicht einmal, welches Wirtschaftssystem die Bundesrepublik Deutschland
verfolgt.
({9})
Ich weiß, dass die Linke ein Problem damit hätte, die
immens erfolgreiche soziale Marktwirtschaft ins Grundgesetz zu schreiben. Daher ist es absolut unsinnig, einzelne technologische Entscheidungen dieses Hauses ins
Grundgesetz zu übernehmen. Das ist absolut falsch und
ein Schritt, den wir sicher nicht gehen wollen.
Ich hoffe im Übrigen, dass der Konsens gerichtsfest
ist. Auch ich habe an der einen oder anderen Stelle mit
Blick auf die Themen Gleichbehandlung und Eigentumsschutz meine Zweifel; das gebe ich offen zu. Frau
Künast, Sie als Juristin wissen, dass man das so oder so
sehen kann und dass es an dieser Stelle vor allem darauf
ankommt, an die Versorger zu appellieren. Sie sollten
aus meiner Sicht ganz genau überlegen, ob es angesichts
dieses politischen, vor allem aber auch gesellschaftlichen Konsenses Sinn macht, den Rechtsweg zu beschreiten.
Ich sage aber auch - ich habe mir das jetzt in der Debatte lange genug angehört -, dass sich der Konsens aus
meiner Sicht nicht mit Besserwisserei verträgt. Die Grünen treten jetzt besserwisserisch auf und sagen, sie hätten das schon immer gewusst, die unvorstellbaren Risiken der Kernenergie seien lange bekannt gewesen.
({10})
Für mich ist dies eine der letzten Gelegenheiten - das
gebe ich gerne zu -, mein ceterum censeo zu sagen und
Ihnen noch einmal die Fragen zu stellen, die Sie noch nie
beantwortet haben: Wenn das alles so ist, warum sind
Sie dann im Jahr 2000 nicht sofort ausgestiegen? Warum
haben Sie stattdessen ein hohes internationales Sicherheitsniveau attestiert?
({11})
Jenseits dieser Fragen, die Sie wahrscheinlich nie beantworten werden, freue ich mich, dass dieses ideologische
Kampfthema heute beendet wird. Ich weiß, dass sich bei
den Grünen noch der Phantomschmerz einstellen wird.
({12})
Ich erlebe momentan in etlichen Veranstaltungen, dass
sie geneigt sind, die alten Debatten noch einmal zu führen. Ich gebe für mich offen zu: Auch ich habe manchmal das Bedürfnis, da noch einmal draufzuhauen.
Es stellt sich auch die Frage, was die AKW-Folklore
in Zukunft machen wird, wenn sie nicht mehr sitzend,
singend, tanzend oder sonst irgendwie demonstrieren
dürfen.
({13})
Ich glaube, dass wir uns nicht der Vergangenheit widmen sollten, sondern ernsthaft der Frage, wie wir jetzt
beim Ausbau der erneuerbaren Energien weitermachen.
Wir müssen in beiden Reihen viel um Akzeptanz werben. Die Themen Vermaisung, Verbauung der Flüsse,
Verschandelung mit Leitungen usw. spielen immer noch
eine Rolle, und zwar nicht nur auf der rechten Seite, sondern ganz genauso auf der linken Seite dieses Hauses.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich
glaube, dass wir jetzt auch bei dem Thema Endlagerung
einen Konsens brauchen. Für mich steht klipp und klar
fest, dass das eine Aufgabe der Generation ist, die die
Kernenergie genutzt hat.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wissen und spüren, dass Glaubwürdigkeit in Bezug auf
demokratische Politik eine knappe Ressource ist. In diesem Land ist das Ansehen demokratischer Politik nicht
gerade ausgeprägt. Umso mehr muss ich feststellen, dass
die Art und Weise, wie heute hier von schwarz-gelber
Seite argumentiert wird, nicht gerade mithilft, die Glaubwürdigkeit demokratischer Politik insgesamt zu stärken.
Oder, um es anders zu sagen: Herr Bundeswirtschaftsminister und auch Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich
jetzt mit Herrn Seehofer hinstellen und die Ökohippies
mimen, dann glaubt Ihnen das - um es klar zu sagen keine Sau in Deutschland.
({0})
Ich sage das, Herr Bundeswirtschaftsminister, deshalb
ganz im Ernst, weil wir jetzt mit einem Mythos, den Sie
hier zu stricken versuchen, sofort aufräumen können. Sie
haben behauptet, Rot-Grün hätte vor zehn Jahren zwar
den Ausstieg auf den Weg gebracht, aber nicht den Einstieg in erneuerbare Energien. Ich frage Sie als Niedersachse, die wir beide sind, Herr Kollege Rösler: Sind
denn all die Windräder, die in Niedersachsen stehen, aus
Pappmaschee? Es ist reale Wirtschaft bzw. reale Wertschöpfung, die da stattfindet. Sie produzieren auch
Strom, Herr Rösler. Sie haben die Energiewende nicht
erfunden, wir haben sie vor zehn Jahren eingeleitet. Das
ist der Unterschied.
({1})
Ich sage Ihnen noch etwas zu Niedersachsen. Wir
beide kommen aus Niedersachsen. Unsere Heimat hat
nach wie vor etwas Gutes: eine industrielle Wertschöpfungskette von der Grundstoffindustrie bis hin zu Hightechschmieden. Aber wir alle aus unserer Generation haben erlebt, dass die Wirtschaft bzw. die Industrie einem
Strukturwandel unterlag und dass Arbeitsplätze - beispielsweise im Südosten Niedersachsens in der Stahlindustrie - verloren gingen.
Es war die rot-grüne, SPD-geführte Bundesregierung
unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, die durch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz mitgeholfen hat, dass wir
zum ersten Mal, bedingt durch die Förderung der erneuerbaren Energien, einen Aufwuchs an industriellen Arbeitsplätzen - beim Maschinenbau, in der Stahlindustrie,
im Handwerk und beim Schiffbau - in unserer Heimat
erlebten. Das können Sie nicht ignorieren. Das glaubt Ihnen auch kein Mensch, Herr Rösler.
({2})
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei einigen bedanken, die nicht mehr im Deutschen Bundestag
sind. Einer davon lebt auch nicht mehr. Ich erinnere an
Hermann Scheer, aber auch an den früheren Kollegen
Dietmar Schütz und den aktuellen Kollegen Rolf
Hempelmann. Sie haben aus unserer Sicht damals im
Deutschen Bundestag mitgeholfen, das ErneuerbareEnergien-Gesetz zu einer Erfolgsstory zu machen.
({3})
- Euch lobe ich sowieso den ganzen Tag. Seid nicht so
nervös.
({4})
- Wir haben das gemeinsam gemacht. Ich kann Renate
Künast nur sagen: Wenn sie einmal das Wort „RotGrün“ sagen würde, wäre ich ganz happy. Denn es war
Rot-Grün. Wir können gemeinsam stolz darauf sein.
({5})
Es war aber auch das rot-grüne Bündnis, das damals vor
10 Jahren einen gesellschaftlichen Großkonflikt, der unser Land 30, 40 Jahre lang polarisiert und gespalten hat,
befriedet hat. Es waren Sie, die das damals bekämpft und
mit Häme überzogen haben. Wenn ich mir einzelne Textbausteine aus der gerade von Herrn Nüßlein gehaltenen
Rede noch einmal ins Gedächtnis rufe - er sprach von
„AKW-Folklore“; damit meinte er die Bürgerinnen und
Bürger, die sich gegen die Atomkraft gewehrt haben -,
kann ich nur sagen: Sie haben nichts gelernt, und das,
was Sie hier machen, ist wenig glaubwürdig.
({6})
Wenn Sie sich jetzt in Sachen Atomausstieg mit zehn
Jahren Verzögerung an den rot-grünen Kurs anpassen, ist
das nichts, was wir ablehnen oder kritisieren würden.
Vorhin wurde von Nils Schmid schon aus der Bibel zitiert. Es ging da um „reuige Sünder“ und „Gerechte“. Sie
müssen aber eines zur Kenntnis nehmen: Das, was Sie
im Herbst letzten Jahres produziert haben, wirkt fort. Sie
haben einen Konflikt aufgerissen, aber Sie haben vor allen Dingen zu Rechts- und Planungsunsicherheiten beigetragen. Das Ergebnis war, dass wir einen Stopp bzw.
einen Stau und einen Attentismus bei den Investitionen
erlebt haben. Das gilt beispielsweise für die milliardenHubertus Heil ({7})
schweren Investitionen, die die Stadtwerke geplant hatten. Die wurden durch Ihre Laufzeitverlängerung erst
einmal auf Eis gelegt. All das wirkt leider Gottes fort.
Zu den Rechtsunsicherheiten. Der rot-grüne Ausstiegsbeschluss bzw. der Konsens mit der Energiewirtschaft war rechtssicher und unbeklagt. Das diesbezügliche Risiko schätzen wir beim Atomgesetz als nicht
besonders hoch ein. Wir wollen es auch nicht herbeireden, weil wir glauben, dass es heilbar ist. Beispielsweise
in Bezug auf Art. 3 Grundgesetz muss es eine plausible
Erklärung dafür geben, warum Gleiches ungleich behandelt werden kann. Die gibt es. Sie haben sie auf unsere
Nachfrage hin in den Ausschüssen nachgeliefert. Das erkennen wir an. Aber es gibt ein Restrisiko, das Sie im
Zweifelsfall auch politisch zu verantworten haben. Das
will ich an dieser Stelle klar zu Protokoll geben.
Mir ist wichtig, dass die erfolgreiche Energiewende in
Deutschland, die im Herbst letzten Jahres unterbrochen
wurde, jetzt konsequent fortgesetzt werden kann. Aber
ich muss sagen: In Ihren vorliegenden Gesetzentwürfen,
abgesehen vom Atomgesetz, ist eine Fülle von Vorschlägen enthalten, die aus meiner Sicht nicht angetan ist, die
Erreichung des Ziels einer bezahlbaren, einer sauberen
und einer nachhaltigen Energieversorgung dauerhaft zu
sichern.
Im Einzelnen. Wir werden erstens dem Atomgesetz
aus voller Überzeugung zustimmen, weil es ein Zurück
zum rot-grünen Ausstiegsbeschluss ist.
({8})
Wir werden zweitens Ihren Gesetzentwurf zum Erneuerbare-Energien-Gesetz ablehnen müssen - ich bin
mir noch nicht sicher, wie das im Bundesrat vor sich
geht; ich hoffe, dass noch die Chance besteht, den Vermittlungsausschuss anzurufen -, weil wir erleben werden, dass er eine Verschlechterung darstellt und den
Ausbau erneuerbarer Energien, vor allen Dingen der inländischen Windkraft, behindert.
Wir werden drittens klarmachen - das tun wir auch in
unserem Antrag -, dass das Energiewirtschaftsgesetz verbesserungswürdig ist. Was meine ich damit? Der Teil, der
lediglich die Umsetzung einer EU-Richtlinie beinhaltet,
ist vollkommen unstrittig; dem kann man ohne Weiteres
zustimmen. Aber ich will ganz deutlich sagen, dass Ihre
Vorschläge weder Ansätze zur Kommunalisierung noch,
Herr Bundesumweltminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, ausreichende Regelungen im Hinblick
auf die Bedenken energieintensiver Unternehmen enthalten. In den Verhandlungen hat sich auf Druck der Länder
eine ganze Menge zum Positiven bewegt. Aber ich
glaube, wir müssen weiterhin aufpassen, dass die energieintensiven Unternehmen in Deutschland, die im internationalen Wettbewerb stehen und eine Steigerung der
Kosten befürchten, nicht unter die Räder kommen. Hier
geht es uns nicht in erster Linie um die Konzerne, sondern um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
diesen energieintensiven Unternehmen. Wir wissen: Wir
brauchen auch die energieintensive Wirtschaft, damit die
Energiewende gelingt, weil sie Teil der Wertschöpfung
im Rahmen des Ausbaus erneuerbarer Energien ist, von
der chemischen Industrie bis zum Stahlbau.
Wir werden deutlich machen, dass das, was Sie bei
der energetischen Gebäudesanierung vorhaben, nicht
ausreichend ist. Sie erreichen damit noch nicht einmal
das Niveau, das die Große Koalition in diesem Bereich
erreicht hat. Sie haben die Mittel im letzten Jahr gekürzt.
Jetzt erhöhen Sie sie ein wenig. Aber das reicht nicht
aus. Sie haben vor allen Dingen keine Antworten auf die
Fragen der Mieter in Deutschland, die sich Sorgen machen, gegeben. Das müssen Sie sich deutlich ins Stammbuch schreiben lassen.
({9})
Der heutige Tag ist ein besonderer Tag. Er ist ein guter Tag für Deutschland, weil endgültig, ein für alle Mal,
mit der Nutzung der Atomkraft in diesem Land Schluss
gemacht wird. Aber das bedeutet nicht das Ende von
Energiepolitik. Wir müssen die Energiepolitik fortsetzen. 2013 muss das, was Sie jetzt unzureichend auf den
Weg gebracht haben, von einer anderen Mehrheit weiterentwickelt werden. Das ist nicht einfach, weil uns jetzt
Jahre verloren gehen. Aber ich sage an dieser Stelle: Wir
werden diesen Weg gehen, weil Deutschland im Bereich
der erneuerbaren Energien Ausrüster der Welt sein kann,
weil Deutschland Vorbild bei der Energieeffizienz sein
kann, weil das Vorbild der größten europäischen Volkswirtschaft in Europa und für Europa wirken wird und
weil andere Länder, wenn wir die Energiewende erfolgreich fortsetzen, unserem Beispiel folgen werden; da bin
ich mir sicher.
Ich will zum Schluss sagen: Das, was vor zehn Jahren
von den damals Verantwortlichen, von Bundeskanzler
Gerhard Schröder, von Frank-Walter Steinmeier und von
Jürgen Trittin, verhandelt und auf den Weg gebracht
wurde, haben Sie kritisiert. Wenn Sie Ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen wollen, Herr Rösler - ich nehme
Ihnen ab, dass Sie jemand sind, der sich persönlich darum bemühen will -, dann wäre es an der Zeit, denjenigen, die damals die richtigen Entscheidungen getroffen
haben - die Sie im Herbst letzten Jahres rückgängig gemacht haben und die Sie jetzt unterstützen -, mit Respekt zu begegnen und ihnen Anerkennung zu zollen. Das
würde Ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen. Sie würden sich keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn Sie
die Entscheidungen von damals als richtig anerkennen
würden. Herr Nüßlein, ich sage das nicht, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, sondern weil das im
Hinblick auf den Konsens, den wir für die künftige Energiewirtschaftspolitik in Deutschland, der größten Volkswirtschaft Europas, brauchen, wichtig wäre, um eine
saubere, sichere und nachhaltige Energieversorgung sicherzustellen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen klaren Kurs.
Wenn Sie sich diesem Kurs jetzt in Teilen anschließen,
werden wir uns nicht beschweren. Allerdings müssen
wir die Energiewende gestalten.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte eine Vorbemerkung machen. Gerade kommt über
den Ticker die Meldung, dass die Zahl der Arbeitslosen
in Deutschland in diesem Monat wiederum gesunken ist,
und zwar um etwa 70 000, und dass wir jetzt bei einer
Arbeitslosenquote von weniger als 7 Prozent, nämlich
bei 6,9 Prozent, angekommen sind.
({0})
Das ist die beste Zahl seit 1991.
Die von den Forschungsinstituten veröffentlichten
laufend erhöhten Wachstumszahlen zeigen, dass sich die
deutsche Wirtschaft in einer sehr stabilen und robusten
Situation befindet. Deshalb können wir uns den zugegeben riskanten Weg dieser Energiewende auch leisten.
Wir müssen dabei aber natürlich die Probleme angehen.
Wir dürfen nicht - so wie es Rot-Grün seinerzeit gemacht hat - nur den Atomausstieg beschließen und über
die Konsequenzen, die das Erreichen einer vernünftigen
Energieversorgung nach sich zieht, hinweggehen.
({1})
Es ist allmählich müßig, sich gegenseitig vorzuhalten,
wer was wann früher gemacht hat. Das ist absolut lächerlich. Natürlich hat Rot-Grün mit dem EEG einen guten Aufschlag gemacht. Aber das Gesetz hatte einen
Vorläufer, nämlich das Stromeinspeisungsgesetz. Das
wurde unter dem liberalen Wirtschaftsminister Helmut
Haussmann im Jahre 1990 im Bundestag verabschiedet.
Mit diesem Gesetz wurde erstmals die Einspeisung bevorzugt. Es wurde dann mit dem EEG fortgesetzt. Das
war eine konsequente Maßnahme. Ehre, wem Ehre gebührt. Man muss aber auch auf die Lücken hinweisen.
({2})
Jetzt passiert Folgendes: Jetzt überholt die Koalition
wieder Rot-Grün. Deswegen sind Sie gezwungen, beim
Atomausstieg mitzumachen. Ich bedaure allerdings sehr,
dass Sie nicht bereit sind, die Konsequenzen im Hinblick
auf die alternativen Energien zu ziehen.
({3})
Herr Heil, weil Sie mir eine Frage stellen wollen,
möchte ich Ihnen sagen: Ich habe von Ihrer Seite kein
Wort zum Netzausbaubeschleunigungsgesetz gehört. Jeder in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in der
Politik weiß, dass es ohne ein solches Gesetz nicht gehen
wird, da wir den Zeitplan sonst nicht einhalten können.
({4})
- Ich spreche zu Herrn Heil, Frau Höhn. Er hat dazu
nämlich nichts gesagt. - Wir werden Ihnen die Gelegenheit geben, in einer namentlichen Abstimmung zu zeigen, wie Sie sich dazu positionieren.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ja.
Herr Kollege Solms, ich werde Ihnen eine Zwischenfrage stellen und sie mit Erlaubnis des amtierenden Präsidenten so einkleiden, dass ich Ihre Frage gleich mit beantworte. Das ist ein heikler parlamentarischer Vorgang.
Wir sind ganz klar für den Netzausbau in Deutschland. Wir wissen, dass er für die Systemintegration der
erneuerbaren Energien unabdingbar ist. Die Frage, die
wir uns stellen, ist aber, ob Ihr NABEG, Ihr Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das Ziel erreicht. Daran haben
wir Zweifel. Sie sehen nämlich nichts vor, um die Akzeptanz des Netzausbaus nachhaltig zu stärken. Die Länder werden das, was Sie vorhaben, im Übrigen nicht mittragen.
({0})
Zu meiner Frage. Herr Solms, ich habe ein Zitat mitgebracht. Es stammt von Ihrem Kollegen Michael Fuchs,
der wie andere aus der Koalition heute erstaunlicherweise nicht zu diesem Thema redet. Das wäre wahrscheinlich auch ein wenig schwierig. Herr Fuchs sagte
am 7. März 2010 für die Koalition in der FAZ:
Volkswirtschaftlich bedeutet es einen enormen
Schaden, gut funktionierende Kernkraftwerke abzuschalten,
({1})
die weder durch Vogelschredderanlagen, also
Windkraft, noch durch Subventionsgräber, also Solarzellen, ersetzbar sind.
Sie tun jetzt so, als sei Schwarz-Gelb der größte Befürworter der erneuerbaren Energien. Herr Solms, ich
frage Sie deshalb allen Ernstes: Wie kommen dann solche Zitate zustande? Das ist doch eigentlich die Ideologie, der Sie nachgehangen sind. Sie mussten sich nach
Fukushima anpassen. Sie sollten sich dazu einmal bekennen.
({2})
Ich will die Aussagen von Herrn Fuchs nicht kommentieren. Ihre Frage müssten Sie ihm stellen.
({0})
Es ist doch angesichts einer solch radikalen Veränderung
völlig selbstverständlich, dass es verschiedene Meinungen gibt. Das ist doch auch in Ihrer Fraktion so.
({1})
Es gibt auch unterschiedliche Auffassungen in Bezug
auf die Details. Natürlich gibt es die auch bei uns. Ich
sage für die FDP doch auch, dass wir uns schwergetan
haben, diesen Weg mitzugehen. Denn wir haben die
Sorge, dass es auf dem Weg Einbrüche bei der Versorgungssicherheit geben wird. Außerdem sorgen wir uns,
dass die Bezahlbarkeit nicht gewährleistet werden kann
und es dadurch zu einem Nachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland kommt. Es ist die besondere Verantwortung des Wirtschaftsministers Philipp Rösler, darauf zu achten, dass dies nicht passieren wird. Das waren
unsere Einwände bei der Diskussion innerhalb der Koalition. Im Ergebnis sind diese Sorgen berücksichtigt
worden.
Natürlich ist heute die Diskussion nicht zu Ende. Wir
werden die Vorgänge jedes Jahr prüfen. Es wird ein Monitoring durch den Umweltminister und durch den Wirtschaftsminister geben. Dann werden wir die Ergebnisse
im Bundestag debattieren und möglicherweise Änderungsvorschläge beraten und verabschieden müssen. Das
ist doch selbstverständlich.
Ich bin auf Ihr Abstimmungsverhalten bei der anschließenden Abstimmung über das NABEG gespannt.
Es ist völlig unzweifelhaft, dass der Netzausbau beschleunigt werden muss. Wenn die Bundesländer Probleme damit haben, dann sollen sie im Bundesrat darüber beraten. Jetzt ist es Sache der gesetzgebenden
Körperschaft des Deutschen Bundestages, der die wirkliche Legitimation dafür hat - der Bundesrat hat sie nur
abgeleitet -, die Beschlüsse zu fassen. Danach können
sich die Bundesländer damit befassen.
Ich will betonen: Das ist ein sehr mutiger Schritt. Man
darf sich diesbezüglich keinen Illusionen hingeben. Man
darf nicht nur an die eigenen Träume glauben, sondern
muss auch zur Kenntnis nehmen, dass das Ganze mit erheblichen Risiken verbunden ist. Deswegen ist der Forderung von Philipp Rösler Rechnung getragen worden,
indem wir erforderlichenfalls ein Atomkraftwerk für die
nächsten zwei Winter in Kaltreserve bereithalten. Es
wäre gut, wenn wir sie nicht bräuchten, aber es kann
sein, dass wir sie brauchen.
Eines ist klar: Wir können es uns als Industriestandort
Deutschland nicht leisten, dass die Stromversorgung zusammenbricht.
({2})
Der Ausfall der Stromversorgung an einem Tag würde
Experten zufolge einen geschätzten Schaden von
6 Milliarden Euro zur Folge haben. Stellen Sie sich vor,
was das für sensible Bereiche von Unternehmen und
Verwaltungen bedeutet, in denen es beispielsweise hohe
Rechnerkapazitäten gibt. Auch in Krankenhäusern
könnte ein Stromausfall gesundheitliche Folgen für die
Patienten haben. Das dürfen wir nicht riskieren. Deswegen treten wir dafür ein, dass die Versorgungssicherheit
absolute Priorität hat. Der Wirtschaftsminister trägt dafür Sorge, dass die notwendigen Entscheidungen herbeigeführt werden, auch wenn es Kontroversen gibt und
manche dagegen stimmen.
Lassen Sie mich ein paar Worte zum Anlass sagen. Es
ist im demokratischen Sinne völlig selbstverständlich,
dass, wenn aufgrund eines Unglücks wie in Fukushima
die Sorgen in der Bevölkerung so stark wachsen, dass
circa 80 Prozent der Menschen den Ausstieg aus der
Atomwirtschaft wollen, die demokratischen Parteien darauf Rücksicht nehmen müssen und dem Willen der
Bevölkerung folgen. Aber sie müssen es auf eine verantwortungsvolle Weise machen. Die Mehrheit der Deutschen, die den Ausstieg aus der Atomkraft wünscht, will
gleichzeitig, dass die Energieversorgung ohne Gefahr eines Blackouts und zu bezahlbaren Preisen erhalten
bleibt. Das ist kein Widerspruch in sich, sondern es ist
die Aufgabe verantwortungsvoller Politik, die Entscheidungen so zu treffen, dass wir beides miteinander verbinden können.
Ich bin der absoluten Überzeugung: Wenn uns das gelingt, dann wird es einen richtigen Schub für die deutsche Wirtschaft geben, und dann werden wir, so wie
Philipp Rösler das vorhin gesagt hat, im europäischen
wie im weltweiten Wettbewerb einen großen Vorsprung
erzielen. Allerdings kommen zunächst harte Jahre auf
uns zu, in denen die notwendigen Voraussetzungen dafür
geschaffen werden müssen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich nach dieser von der Opposition primär
rückwärts geführten Atomdebatte zur Sachlichkeit zurückkommen
({0})
und auf einige Gesetze eingehen, die heute zur Abstimmung stehen.
Um zu erreichen, dass die Energiewende schneller als
zunächst geplant eintritt, brauchen wir - das ist unstrittig - auf vielen Gebieten gesetzliche Änderungen. Dazu
gehört unter anderem der gesamte Baubereich. Bereits
im Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass wir die klima13398
gerechte Entwicklung der Städte und Gemeinden stärken
wollen. Das ist mit den im Baugesetzbuch vorgesehenen
klimapolitischen Anpassungen gut gelungen. Wir geben
den Gemeinden einen zusätzlichen Gestaltungsrahmen
und schaffen im Bau- und Planungsrecht mehr Rechtssicherheit für die Erzeugung erneuerbarer Energien.
Mit dem Instrument des besonderen Städtebaurechts
muss allerdings sehr behutsam umgegangen werden.
Deshalb haben wir einen Regierungsvorschlag zu diesem Bereich nicht übernommen. Der Vorschlag bleibt
aber auf der Agenda, und wir wollen ihn nochmals sorgfältig überprüfen und auch weiter diskutieren, wenn wir
über den zweiten Teil des Baugesetzbuches reden.
Mit dem neuen Förderprogramm „Energetische Stadtsanierung“ wollen wir die Städte und Gemeinden unterstützen, einem klimagerechten Stadtumbau besser Rechnung zu tragen. Dreh- und Angelpunkt für die Erreichung
der Klimaschutzziele und für die Einsparung von Energie
ist jedoch der gesamte Gebäudebereich. 40 Prozent der in
Deutschland verbrauchten Endenergie und etwa ein Drittel der CO2-Emissionen entfallen allein auf diesen Sektor.
Dort liegen mit großem Abstand die größten Einsparpotenziale für Energie. Um diese zu erschließen, müssen wir
engagiert vorgehen.
Wir setzen dabei nicht auf Zwang, sondern auf Anreize und Verbraucherinformationen. Wir wollen die
Menschen überzeugen, viel für die Energieeffizienz zu
tun. Andere hier im Haus wollen sie dazu nötigen. Das
ist ein feiner, für den gesellschaftlichen Konsens aber
wichtiger Unterschied.
({1})
Ab dem kommenden Jahr werden wir die Mittel im
CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf jährlich 1,5 Milliarden Euro erhöhen.
({2})
Darin sind auch 150 Millionen Euro für direkte Zuschüsse enthalten. Durch steuerliche Anreize wollen wir
weitere Eigentümergruppen für die energetische Sanierung ihrer Gebäude gewinnen. Dabei dürfen wir weder
die Hauseigentümer noch die Mieter überfordern; wir
dürfen sie aber auch nicht „überfördern“. Das ist Unionspolitik.
Durch die drei Angebote - zinsgünstige Kredite der
KfW aus dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm oder
direkte Zuschüsse der KfW oder eine verbesserte steuerliche Abschreibung - bringen wir die energetische Sanierung von Wohngebäuden voran wie nie zuvor. So
stark wurde die energetische Sanierung in Deutschland
noch nie gefördert.
({3})
Lassen Sie mich noch einige wenige grundsätzliche
Bemerkungen aus kommunaler Sicht machen. Ohne die
Städte und Gemeinden wird die Energiewende nicht gelingen. Die Kommunen spielen auf dem Weg zu mehr
Energieeffizienz und mehr Klimaschutz eine Schlüsselrolle. Bereits heute haben sich viele Kommunen dem Klimaschutz verschrieben. So hat die Parlamentarische
Staatssekretärin Katherina Reiche in der Region Beeskow
in Brandenburg erst vor wenigen Wochen das tausendste
kommunale Klimaschutzprojekt der Nationalen Klimaschutzinitiative ausgezeichnet.
Die Kommunen haben darüber hinaus - das gilt auch
für den Bund und die Länder - bei der energetischen Sanierung ihres eigenen Gebäudebestandes eine große Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. Auch in
anderen Bereichen haben die Kommunen eine Schlüsselfunktion.
({4})
So werden erneuerbare Energien vor allem im ländlichen
Raum erzeugt. Vorhandene Stromtrassen müssen ertüchtigt und neue gebaut werden. Infra- und Speicherstruktur
sind unbestritten dringend notwendig. Dafür brauchen
wir die Städte, Gemeinden und Landkreise als Partner.
Für uns ist es wichtig, dass die Menschen vor Ort und
die Entscheider in den Gemeinderäten und Kreistagen
bei allen Vorhaben sehr frühzeitig eingebunden werden.
Hinzu kommt: Städte und Gemeinden übernehmen mit
ihren Stadtwerken bei einer dezentralen Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien wichtige Aufgaben, auf
die wir in Zukunft verstärkt angewiesen sein werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch diese wenigen Bemerkungen wird deutlich: Unsere höchst ambitionierten und anspruchsvollen Ziele bedürfen großer Anstrengungen vieler. Dazu gehören auch die Kommunen.
Die Energiewende in Deutschland wird nur mit den
Städten, Gemeinden und Landkreisen gelingen.
Wenn wir durch ein lernendes System die Energieerzeugung umbauen und gleichzeitig die Klimaschutzziele erreichen wollen, dann müssen wir die Kommunen
als wichtige Begleiter rechtzeitig beteiligen. Sie können
viel zum Erfolg beitragen, sie wollen aber zu Recht auch
mitgestalten, wenn es um ihre Belange geht; denn sie
stehen ebenso in der Verantwortung gegenüber ihren
Bürgern wie wir.
Ich bin fest davon überzeugt: Mit Optimismus und
Zuversicht werden wir die großen Herausforderungen,
die vor uns liegen, verantwortungsvoll meistern.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will nahtlos an das anschließen, was der Kollege Götz
und der Kollege Solms erwähnt haben. In der Tat haben
wir in dieser Debatte neben den zweifellos wichtigen
und schwierigen Debatten über die Entwicklung des
Atomgesetzes und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
weitere Komponenten vorgelegt und Antworten auf das
gegeben, was die Menschen genauso bewegt wie die
Fragen nach dem genauen Ende der Nutzung der Kernenergie, Antworten, die der rot-grüne Kompromiss nie
gegeben hat.
({0})
Deshalb musste er verbessert werden.
({1})
Die Widerstände zum Netzausbau, die wir überall
spüren, sind genau der Grund dafür, dass Sie sich geweigert haben, darüber nachzudenken, wie man Netze
schneller ausbauen kann.
({2})
Wir wollten und wollen weiterhin mehr intensive Bürgerbeteiligung. Wir schaffen mit diesem Gesetz gemeinsam mit den Ländern bundeseinheitliche Netzplanung.
Wir schaffen mit diesem Gesetz gemeinsam mit der
Bundesnetzagentur klare und transparente bundeseinheitliche Entscheidungsregeln, wann, wo und nach welchen Maßgaben eine 380-kV-Leitung gebaut wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ingrid Nestle von den Grünen?
Danke, nein. - Es wird geregelt, nach welchen Maßstäben eine Erdverkabelung im 110- und 220-kV-Bereich sinnvoll ist. Diese Antworten, die wir brauchen,
waren Sie nie bereit zu geben.
({0})
Es wurde hier immer wieder über Offshoreanlagen
gesprochen. Die schönsten Programme zur Offshorewindenergie nützen gar nichts, wenn es in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein einen organisierten Bürgerprotest gegen einen Netzausbau gibt und der Bund
gesetzgeberisch keine Maßgaben und keine Vorschläge
macht, wie Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung zusammengebracht werden können. Es ist das Verdienst des Bundeswirtschaftsministers, dass dies jetzt
mit dem NABEG gelingt.
({1})
Ich will ausdrücklich sagen: Die Bundesländer, und
zwar alle 16, egal wie sie geführt sind, haben in der Beratung zum NABEG anerkannt, dass wir weitere Veränderungen im materiellen Recht brauchen, um zu einer
Planungsbeschleunigung zu kommen. Ich sage mit allem
Ernst: Wir werden auf diesem Weg der Energieversorgung nur vorankommen, wenn wir uns auch bei bestimmten Absurditäten in der Raumordnung und der
Planfeststellung neu aufstellen.
Es ist für die Betroffenen nachgerade nicht verstehbar, dass man zwar ein Naturschutzgebiet unterhalb
einer bestehenden 380-kV-Leitung ausweisen kann,
aber über einem bestehenden Naturschutzgebiet keine
380-kV-Leitung errichten darf. Das macht keinen Sinn.
Das ist nicht konsistent. Es ist vor allen Dingen eine Verhinderung der Integration erneuerbarer Energien in unsere Elektrizitätsversorgung.
({2})
Lassen Sie mich auch zum Baurecht das Nötige
sagen. Mit der Erleichterung des Repowering von Windenergieanlagen an Land, mit der verbesserten baurechtlichen Anerkennung der Errichtung von Photovoltaikanlagen, mit der Klimaschutzklausel in dem Gesetz zur
Stärkung der klimagerechten Stadtentwicklung und mit
den nötigen neuen Regeln zur erleichterten Einsetzung
von KWK-Anlagen schaffen wir im Baurecht die nötigen Voraussetzungen, in der Stadt, im Ort, an den Gebäuden und im Bestand den Einsatz der Erneuerbaren zu
verbessern.
Diese nötigen Maßnahmen in der Novelle zum Baurecht, die wir heute vornehmen, wurden in den letzten
Jahren von den heute nicht mitmachenden Fraktionen
nicht einmal vorgeschlagen.
({3})
Sie werden sicherlich dagegen stimmen. Stattdessen haben die Grünen in ihrem Änderungsantrag zu diesem
Gesetzentwurf den schönen bau- und städteplanerischen
Instrumentenkasten Ihrer Vorstellungen vorgetragen und
wollen tatsächlich über die städtische Bauleitplanung
und darüber hinaus die Besitzer von Gebäudebeständen
in den Stadtteilen zu energetischen Sanierungen zwingen. Das ist eben der Unterschied zwischen Ihrer und
unserer Politik: Wir wollen die Energiewende mit den
Bürgern gestalten, nicht gegen die Immobilienbesitzerinnen und -besitzer in Deutschland.
({4})
Es ist bemerkenswert, dass es auch nach Rot-Grün
nicht dazu gekommen ist, die Privilegierung der Errichtung von kerntechnischen Anlagen im Außenbereich aus
dem Baugesetzbuch zu streichen. Bis zum heutigen Tage
ist die Errichtung von Kernenergieanlagen im Außenbereich nach § 35 des Baugesetzbuches privilegiert. Wir
sind es, die das in logischer Konsequenz unserer Entscheidungen aus dem Baugesetzbuch herausnehmen und
deutlich sagen: Wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, dann müssen wir auch die Privilegierung aus dem
Baurecht nehmen. Darauf sind Sie noch nie gekommen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Wir schaffen außerdem vereinfachte und verbesserte
steuerliche Absetzungsmöglichkeiten für diejenigen, die
in ihrem Immobilienbestand die energetische Sanierung
vorantreiben. Mit der 10-prozentigen Sonderabschreibung sichern wir zusätzliche Konjunktur in Handwerk
und Baugewerbe und schaffen mit diesem zusätzlichen
Instrument den Anreiz, schnell und ohne unnötige Belas13400
tung der KfW-Förderprogramme, die ebenfalls notwendig sind, weitere Investitionen in diesem Bereich für die
Immobilienbesitzerinnen und -besitzer auszulösen. Denn
wir wollen schneller und intensiver sanieren als in der
Vergangenheit.
Sie haben zweifellos das KfW-Gebäudesanierungsprogramm seinerzeit erfunden, aber es wäre nach Ihren
Vorstellungen in diesem Jahr ausgelaufen.
({6})
Wir sorgen dafür, dass es auf hohem Niveau verstetigt
und fortgesetzt wird. Das ist die Rechtslage, und es ist
das, was diese Koalition verantwortet.
Vielen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort Ingrid
Nestle.
Vielen Dank. - Herr Döring, Sie haben gesagt, wir
würden uns nicht trauen, über den Netzausbau zu reden;
deshalb würde unserem Konzept etwas fehlen. Ist Ihnen
bewusst, dass wir schon vor Ihrer Partei ein Konzept
nicht gegen, sondern für den Netzausbau vorgelegt haben?
Ist Ihnen bewusst, dass zum Beispiel in meiner Heimatregion die Energieleitung Breklum-Flensburg seit
Jahren fertig sein könnte, wenn sie, wie von den Grünen
gefordert, als Erdkabel geplant worden wäre? Dann wäre
sie Ende 2007 fertig geworden. Sie ist aber bis heute
nicht fertig. Wir verlieren Millionen über Millionen an
Kilowattstunden Strom und viel Geld, weil der Wind
nicht mehr abgeführt werden kann. Das liegt nicht daran,
dass wir bei den Erdkabeln blockiert haben, sondern Sie.
Wenn es Ihnen so wichtig ist, dass der Ausbau der
Energienetze jetzt vorangeht und die Stromleitungen gebaut werden, und wenn Ihnen die Bürgerbeteiligung so
wichtig ist, dann frage ich Sie, warum Ihr FDP-geführtes
Wirtschaftsministerium auf die Frage, was mehr Bürgerbeteiligung bedeutet, geantwortet hat: Wir machen eine
Infokampagne; wir werden besser informieren.
Ist das Ihre Form der Bürgerbeteiligung, besser zu informieren? Warum haben Sie nicht unsere Vorschläge im
Entwurf des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes berücksichtigt, auch neue Formen der Bürgerbeteiligung
aufzunehmen und mit den Bürgern gemeinsam die Netze
zu planen?
Ich war oft in den verschiedensten Teilen Deutschlands unterwegs und habe vor Ort um Akzeptanz für den
Netzausbau geworben. Haben auch Sie um Akzeptanz
für den Netzausbau geworben?
Ein letzter Punkt: Sie haben gesagt, dass Sie es nicht
gut finden, wenn die Leitungen über Häuser hinweg gebaut werden. Warum haben Sie dann keine Abstandsregelung mit aufgenommen? Sie hätten zum Beispiel
vorsehen können, dass Leitungen, die weniger als
300 Meter von einer Ortschaft entfernt verlaufen, unter
die Erde verlegt werden müssen. Warum haben Sie diesen Schutz der Bürger nicht mit aufgenommen? Damit
könnten Sie den Netzausbau entscheidend weiter beschleunigen. Das ist schon lange unsere grüne Position:
Wir sind für den Netzausbau, und zwar für einen menschenfreundlichen Netzausbau.
({0})
Kollege Döring, bitte.
Frau Kollegin Nestle, vielleicht wollen Sie es bewusst
missverstehen. Es macht doch keinen Sinn, in Deutschland eine Abstandsregelung ins Gesetz zu schreiben, solange wir im materiellen Recht keine Klarheit haben,
wie wir zum Beispiel die Naturschutzbelange Europas
mit den Herausforderungen unseres Netzausbaus zusammenbringen. Indem man so viele Abstandsregelungen
und andere Hürden aufbaut, dass man weder bei der
Wohnbebauung noch in Naturschutzgebieten eine Leitung verlegen kann, kann man einem Land alle Gestaltungsmöglichkeiten nehmen. Damit erreicht man leider
nicht das, was wir erreichen wollen, nämlich Beschleunigung.
Wenn Ihre Antwort auf die Beschleunigung lautet,
überall dort, wo dies gewünscht ist, Erdverkabelung vorzunehmen, dann weise ich darauf hin, dass das, was wir
jetzt mit dem Energiewirtschaftsgesetz lösen, indem wir
die Umlage der erhöhten Kosten für Erdverkabelung bei
110- und 220-kV-Leitungen im EnWG vorsehen, notwendig ist, um das Vorhaben überhaupt durchzusetzen.
Sie kennen doch selbst die technischen Probleme bei
der Erdverkabelung von 380-kV-Leitungen und insbesondere die Kostenherausforderung. Wenn Ihre Antwort
auf die Energiewende ist, dass die Netzentgelte um das
Fünf- bis Zehnfache steigen, dann kann ich nur sagen:
Nicht mit uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ein weiterer Punkt. Die Bürgerbeteiligung ist im
NABEG verankert. Aber Sie wissen doch genauso gut
wie ich, dass der Bundesinnenminister ein Mediationsgesetz und ein Planungsvereinfachungsgesetz in Vorbereitung hat. Diese Gesetze fassen das zusammen, was
mit den Ländern zusätzlich vereinbart wird. Wir haben
vorgeschlagen, bereits im Rahmen des Raumordnungsverfahrens die Träger öffentlicher Belange sowie die
Bürgerinnen und Bürger über die Trassenführung, die
Ziele und Pläne zu informieren und ihnen Mitsprachemöglichkeiten zu geben. Das ist schon realisiert und
wird durch das Mediationsgesetz rechtlich abgesichert.
Dahin entwickelt sich unser Netzausbaubeschleunigungsgesetz, also nicht in Ihre simple Richtung nach
dem Motto „Wir tun alles unter die Erde, und die Kosten
sind uns egal“. So einfach darf man es sich nicht machen.
({0})
Das Wort hat nun Thomas Bareiß für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Ich muss gestehen, dass ich angesichts der in
den letzten Wochen emotional geführten Debatte über
den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie sehr
skeptisch war. Ich habe das mehrfach gesagt, auch hier
im Parlament. Aber bei allem Für und Wider sehe ich in
dem, was jetzt vorliegt, die große Chance - das ist der
Grund, warum ich heute zustimme -, nach einer sehr
langen Debatte endlich einen wirklichen Konsens in unserer Gesellschaft hinzubekommen. Herr Heil, Frau
Höhn und Herr Gabriel, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass Rot-Grün bereits vor zehn Jahren einen
Konsens hinbekommen hat. Wenn Sie damals tatsächlich
einen Konsens hinbekommen haben sollten, dann nur
den über den Ausstieg. Es gab aber in den letzten zehn
Jahren keinen Konsens in unserer Gesellschaft über den
Einstieg:
({0})
Wo und wie steigen wir ein? Was müssen wir tun? - Sie
haben keinen Konsens über den Bau von Leitungen und
Pumpspeicherkraftwerken sowie über eine effiziente Gestaltung des EEG erzielt.
({1})
Deshalb finde ich es mehr als schade, dass Sie den großen Schritt, den wir nun machen, nicht mitgehen und den
Einstieg nicht unterstützen. Das wird uns in den Debatten der nächsten Jahre nichts nutzen.
({2})
Es geht in den nächsten Jahren - das ist ein wichtiger
Punkt, der bislang bei all dem strategischen Geplänkel
ein Stück weit zu kurz gekommen ist - um enorm viel.
Wir stehen vor einer enormen Herausforderung. Diese
möchte ich kurz beschreiben. Wir werden in den nächsten zehn Jahren den Anteil der erneuerbaren Energien
verdoppeln. Wir müssen unsere Ausbaurate in den
nächsten zehn Jahren verdoppeln.
({3})
Wir müssen noch schneller vorangehen als bisher.
Herr Kollege, gestatten Sie gleich zwei Zwischenfragen? Ja oder Nein?
Nein. - Wir müssen in den nächsten zehn Jahren nicht
nur den Anteil der erneuerbaren Energien, sondern auch
die Energieeffizienz verdoppeln. Dazu legen wir ein entsprechendes Konzept vor. Wir werden aber auch - man
hat den Eindruck, dass das gar keine Rolle mehr spielt die Klimaschutzziele im Auge behalten. Das Ziel, die
CO2-Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, steht
nach wie vor auf der Agenda. Dieses Ziel haben Sie sich
nie gesteckt. Wir werden an diesem Ziel festhalten, egal
was andere Länder in Europa oder anderswo auf der
Welt machen. Wir sind in diesem Bereich Vorbild. Es
gibt keine andere Industrienation auf der Welt, die so
ambitionierte Zielsetzungen hat wie Deutschland.
Wir steigen zudem aus der Kernenergie aus, wodurch
wir 25 Prozent unserer Stromerzeugung in den nächsten
zehn Jahren verlieren werden. Der Ausstieg aus der
Kernenergie ist kein Selbstzweck. Wir steigen aus der
Kernenergie aus, weil wir wissen, dass der Energiehunger auf der Welt in den nächsten 20 Jahren um 50 Prozent steigen wird. Deutschland muss und soll der
Technologieführer auf der Welt sein, der diesen Energiehunger nachhaltig, wirtschaftlich und ressourcenschonend stillt.
({0})
Das ist fester Bestandteil unserer Wachstums- und Wohlstandsstrategie für die nächsten zwei, drei Jahrzehnte.
Das ist das große Projekt, um das es heute geht. Das
müssen wir gemeinsam gestalten.
In den Ausschussdebatten und Anhörungen in dieser
Woche ging es meistens ganz konkret um die Sache. Die
Grünen behaupten nun, wir förderten die Windenergie
offshore zu stark und vernachlässigten die Windenergie
onshore und förderten nur die Großen und nicht die Kleinen. Das sind alte Spielchen. Das alles bringt doch
nichts. Wir brauchen doch alle: Wir brauchen sowohl
Offshore als auch Onshore, wir brauchen Biomasse, sowohl die kleinen als auch die großen Unternehmen, wir
brauchen Photovoltaik. Wir brauchen alle Ressourcen,
die wir in Deutschland nur heben können.
({1})
Wir brauchen ebenfalls die Wasserkraft. All diese Projekte verhindern Sie vor Ort immer wieder mit solchen
Scheindebatten, wie ich sie gerade beschrieben habe.
Das halte ich nicht für den richtigen Weg.
Wir müssen auch auf die Akzeptanz achten. Hierzu
möchte ich Herrn Gabriel direkt ansprechen, weil er
heute die Kosten noch einmal in besonderer Weise hervorgehoben hat. Ich mache mir Sorgen um die Akzeptanz, gerade vor dem Hintergrund der Kosten, und zwar
meine ich nicht nur die Industrie. Sie haben wir in diesem Gesetz in vielen Bereichen entlastet. Vielmehr mache ich mir Sorgen um den normalen Verbraucher, um
die Familien, die diese ganze Veranstaltung letztendlich
ebenfalls bezahlen werden.
Wenn Sie hier sagen: „Wir müssen die Kosten eindämmen“, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie
vor drei, vier Jahren ein EEG gebastelt haben, das auf
Teufel komm raus eine Technologie fördert, die Solarenergie, was dazu geführt hat, dass wir jetzt 7 Milliarden
Euro jährlich für die Solarenergie ausgeben. Die Hälfte
des gesamten EEG-Topfes geht in die Solarbranche; dabei wird nur 2,3 Prozent des Stromes tatsächlich von dieser Branche erzeugt.
Ein Großteil des Geldes, das wir für diese Branche
ausgeben, fließt direkt nach Asien und in andere Länder
- diese Länder kaufen natürlich auch Maschinen bei
uns -; meines Erachtens ist dieses Geld daher sehr ineffizient angelegt. Deshalb müssen wir auch dort umsteuern, was wir getan haben. Die christlich-liberale Koalition hat in den letzten zwölf Monaten die Mittel für die
Solarenergieförderung um 33 Prozent reduziert. Dies hat
mit dazu beigetragen, dass die Kostensituation besser
dargestellt werden kann und somit die Akzeptanz bei
den Bürgern wieder in stärkerem Maße gegeben ist und
für die Zukunft gesichert werden kann.
({2})
Wir müssen aber auch offen sagen, dass wir die erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren stärker in
den Markt bringen müssen. Wenn wir einen Anteil von
35 Prozent erneuerbarer Energien wollen, dann brauchen
wir mehr Markt- und Systemintegration. Auch die Erzeuger von erneuerbaren Energien werden Verantwortung in unserem Strom- und Energiekonzept übernehmen müssen. Das wird wehtun und Diskussionen
auslösen. Wir sind der Überzeugung, dass wir mit den
Instrumenten Marktprämie, Grünstromprivileg und anderen, die wir im EnWG und im EEG implementiert haben, den Weg zu mehr Markt, zu mehr Wettbewerb gehen. Auch das ist ein wichtiger Baustein in unserem
Energiekonzept für die Zukunft.
Trotz allem, auch mit Marktelementen und der Umsteuerung beim EEG, müssen wir darauf hinweisen, dass
das Ganze, wie schon gesagt, mehr kosten wird. Das Projekt, das wir jetzt vorhaben, wird Arbeitsplätze in einem
ganz wichtigen Sektor, einem Zukunftssektor, schaffen.
Wir müssen aber darauf achten, dass wir in anderen Sektoren keine Arbeitsplätze vernichten. Deshalb haben wir
in der Gesetzgebung einen großen Schwerpunkt darauf
gelegt, dass die energieintensiven Industrien auch weiterhin - sogar mehr als bisher - geschont werden. Wir haben
einen Schwerpunkt gerade auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen gelegt und diejenigen mit einem
Verbrauch zwischen 1 Gigawattstunde und 10 Gigawattstunden noch einmal in besonderer Weise entlastet. Das
trägt dazu bei, dass der Industriestandort Deutschland
auch hinsichtlich der Grundstoff- und Rohstoffsektoren
wettbewerbsfähig und zukunftssicher gestaltet werden
kann.
Meine Damen und Herren, das Projekt der Energiewende - auf der einen Seite Ausstieg aus der Kernenergie, auf der anderen Seite Einstieg in die neuen
Technologien - müssen wir gemeinsam angehen. Wie
gesagt, ich finde es schade, dass Sie nur die Hälfte des
Weges mitgehen. Ich fordere Sie noch einmal auf: Gehen
Sie gemeinsam mit!
({3})
Denn wir machen die Energiewende richtig, aus einem
Guss.
({4})
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Maria Flachsbarth für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den großen
Gedanken und grundsätzlichen Erwägungen dieser Debatte erlaube ich mir, Sie auf den letzten Metern noch
einmal zurück in die Mühen der Ebene und der gesetzgeberischen Details mitzunehmen, die wir auf die Novelle
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verwendet haben.
Diese Arbeit war grundlegend wichtig dafür, dass all
das, was wir heute debattiert haben, in die Realität umgesetzt werden kann.
Das EEG ist ein bewährtes Gesetz, das jetzt aber erwachsen werden muss. Wir brauchen es, um das Ziel zu
erreichen, innerhalb der nächsten Jahre den Anteil der
Erneuerbaren auf bis zu 35 Prozent des Strombedarfs zu
verdoppeln. Dazu haben wir auf der einen Seite die bewährten Instrumente erhalten: den Einspeisevorrang und
die für 20 Jahre gesicherte Vergütung. Auf der anderen
Seite müssen wir sehen, dass die Erneuerbaren jetzt
wirklich ein vollwertiger Marktteilnehmer werden, dass
sie sich als Wettbewerber einfügen, dass sie nachfrageorientierter werden. All dies ist bisher überhaupt nicht
der Fall. Deshalb haben wir das EEG qualitativ weiterentwickelt: mit der Einführung der Marktprämie, mit der
Öffnung der Flexibilitätsprämie auch für Bestandsanlagen und mit dem Grünstromprivileg. Wir haben das
Grünstromprivileg über die Novelle von vor einem halben Jahr hinaus weiterentwickelt und einen bestimmten
Anteil von fluktuierendem Strom eingeführt, damit wir
der großen Herausforderung gerecht werden können,
dass fluktuierender Strom seinen Markt erobert.
Ganz wichtig war uns - das haben schon viele Redner
aus der Koalition vor mir gesagt -, dass wir den Industriestandort Deutschland nicht überfordern, insbesondere
nicht die energieintensiven Betriebe, auch nicht die kleinen und mittelständischen energieintensiven Betriebe. Es
ist richtig, dass wir da Erleichterungen geschaffen haben.
Aber wir müssen natürlich vorsichtig sein, damit wir diejenigen Verbraucherinnen und Verbraucher, die eben
nicht privilegiert sind, nicht mit diesem Instrument überfordern. Wir müssen wissen, dass die Privilegierungen
insgesamt ein Kostenvolumen von 2 Milliarden Euro
ausmachen und dass die Umlage für Erneuerbare deshalb
nicht mehr 3 Cent pro Kilowattstunde, sondern 3,5 Cent
pro Kilowattstunde beträgt. Es ist ein richtiges Instrument, das aber sparsam und vorsichtig anzuwenden ist.
Wenn wir darauf schauen, wie denn nun die Instrumente bezüglich der Förderung der einzelnen erneuerbaren Energien im Detail neu justiert worden sind, so werden wir sehen: Es ist ohne Zweifel die Windenergie, die
weiterhin der große Lastesel für den Ausbau der Erneuerbaren bleibt. Auf der einen Seite ist es Wind offshore,
das heißt die großen Windparks im Meer, die viel Zuwachs in der Leistung, letztendlich aber auch viele Volllaststunden versprechen. Das Ganze ist und bleibt eine
technologische Herausforderung erster Güte, was die
Gründung und die Materialanforderungen in aggressiver
Seeluft und rauem Klima angeht. Deswegen ist neben
dem besonderen KfW-Förderprogramm von 5 Milliarden Euro und der Erleichterung des Netzanschlusses
auch an der Vergütung etwas gemacht worden: Im Rahmen des Stauchungsmodells wird die Anfangsvergütung
erhöht, die Degression verschoben und der Sprinterbonus in die Grundvergütung integriert, sodass wir wirklich einen Anreiz bieten können, in diese moderne, neue
Technologie zu investieren. Es erfordert einen großen
Kapitalbedarf. Doch wir sind sicher, dass sich auch Zusammenschlüsse, Konsortien von Stadtwerken, noch
mehr als bislang in dieser Technologie engagieren werden.
Aber wir haben auch im Bereich Onshore abweichend
vom Regierungsentwurf etwas getan, und zwar durch die
Fortführung des Systemdienstleistungsbonus bis zum
31. Dezember 2014 und durch wirkliche Erleichterungen
im Bereich des Repowerings; es wurden nämlich die Altersgrenzen der Anlagen und die Leistungserhöhungsobergrenze gestrichen. In Richtung des baden-württembergischen Wirtschaftsministers kann ich nur sagen: Die
Baden-Württemberger sollen ja alles außer Hochdeutsch
können; aber ich würde es auch einmal mit Rechnen probieren.
Auch in Bezug auf die Biomasse haben wir versucht,
einen Ausgleich zu finden. Biomasse ist eine regelbare
Erneuerbare, steht aber nicht unbegrenzt zur Verfügung.
Wir haben Flächenkonkurrenzen, wir haben möglicherweise strukturelle Verwerfungen durch zu große Marktmacht beim Einkauf von Substraten, durch Konkurrenzen
gegenüber der Viehwirtschaft, wir haben Akzeptanzprobleme bezüglich Vermaisung und unzureichender Effizienz. Wir mussten den Boni-Dschungel lichten. Auch
die problematische Kopplung von Gülle und NaWaRoBonus musste abgeschafft werden. All das ist im Rahmen
unserer Novelle erfolgt.
Wir haben nur noch zwei Rohstoffklassen. Wir haben
degressive Elemente im Bereich der Grundvergütung
und der Rohstoffklasse I in Bezug auf die Größen unserer Anlagen. Wir geben Anreize zum Einspeisen von
Biomethan. Wir helfen, sowohl bei kleinen als auch bei
größeren Anlagen Gülle zu verwenden. Wir erreichen
mehr Effizienz durch vorgeschriebene Wärmenutzung
von 60 Prozent, durch die Deckelung beim Einsatz von
Mais und dadurch, dass für Biogasanlagen ab 750 Kilowatt ab 2014 die Pflicht zur Nutzung der Marktprämie
eingeführt wird. Auch die Nutzung von Bioabfällen
- dort gibt es keine Konkurrenzen hinsichtlich der Nutzung - haben wir maßgeblich gefördert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles in allem: Ein
ausgewogenes Konzept. Das EEG hat sich wieder als ein
lernendes System erwiesen. Es ist fit für die nächste
Etappe. Wir sind einen guten Schritt weiter auf dem Weg
ins regenerative Zeitalter. An die Opposition gerichtet:
Das EEG ist und war ein Parlamentsgesetz. Geben Sie
deshalb Ihrem Herzen einen Stoß, und stimmen Sie diesem unserem guten Gesetz zu.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
will hier sagen: Ich bin stolz auf diese Koalition;
({0})
denn wir haben es in einem Kraftakt und in einem breiten Konsens geschafft, den andauernden Konflikt um die
Kernenergie in diesem Land zu befrieden.
({1})
Heute beschließen wir nicht nur den Ausstieg aus der
Kernenergie - das könnte ja jeder -, sondern auch den
Einstieg in die Energiewende, den Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Im Gegensatz zu früheren
Versuchen auf diesem Feld haben wir es geschafft, dabei
Ökologie und Ökonomie zu verbinden; wir spielen Ökologie und Ökonomie nicht wie in der Vergangenheit gegeneinander aus.
({2})
Die Koalition hat dafür gesorgt, dass es jetzt eine Balance zwischen den für die Energiewende notwendigen
Investitionsanreizen auf der einen Seite und der Erzeugung des notwendigen Innovationsdrucks zur Steigerung
der Effizienz auf der anderen Seite gibt. Wir müssen
jetzt dafür sorgen, dass es zum Beispiel bei der Einspeisevergütung bei einem für Unternehmen und Investoren
verlässlichen, planbaren Kurs bleibt. Planbarkeit ist
nämlich die Voraussetzung dafür, dass Kapitalmarkt und
technische Entwicklungen miteinander verknüpft werden können. Diese Planbarkeit, zum Beispiel bei der
Photovoltaik, gewährleistet die Transformation einer
von der Vorgängerregierung teilweise überförderten
Branche in eine unabhängige, hochprofitable Form der
Energieerzeugung, die ein Exportschlager für unsere Industrie werden kann.
Neben der Förderung der erneuerbaren Energien setzen wir zusätzliche Impulse. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen in Deutschland bis
zum Jahr 2020 um 40 Prozent und bis zum Jahr 2050 um
mindestens 80 Prozent zu senken. Das ist ein ambitioniertes Ziel, bei dem wir gerade beim Gebäudebestand
ein ganz erhebliches Potenzial an Einsparungen erkennen. Wir haben uns deshalb entschlossen, bei energetischen Sanierungsmaßnahmen an Gebäuden neben den
bereits vorhandenen KfW-Programmen eine steuerliche
Förderung zu etablieren. Dabei ist klarzustellen, dass es
sich hierbei um eine zusätzliche Förderung zu den bereits bestehenden Programmen der KfW-Bankengruppe
handelt. Gefördert werden, begrenzt auf die nächsten
zehn Jahre, Sanierungen beginnend ab dem 5. Juni dieses Jahres, also rückwirkend. Die Befristung bis zum
Ende des Jahres 2021 halten wir für wichtig; denn wir
wollen nicht wieder eine endlose Steuersubvention, sondern wir wollen bewusst einen zielgerichteten zusätzlichen Impuls zur Energieeinsparung setzen.
Diese Förderung ist auch deswegen zielgerichtet, weil
sie auf das Ergebnis der durchgeführten Sanierungsmaßnahmen abzielt. Die Vorgabe ist nämlich, dass nach der
Sanierung der KfW-Effizienzhaus-85-Standard erreicht
werden muss. Dieser Standard ist hoch. Es ist also ein
ambitioniertes Ziel. Aber wenn wir die Energieeinsparungen erreichen wollen, die wir uns vorgenommen haben, dann müssen wir dieses hohe Ziel setzen. Diese
steuerliche Förderung gibt es nur beim großen Paket.
Für die Einzelmaßnahmen, die auch immer wieder
diskutiert wurden, bleibt es bei den KfW-Förderprogrammen. Festzuhalten ist dabei, dass wir die KfW-Mittel für energetische Sanierungen gerade noch einmal erhöht haben, nämlich auf insgesamt 1,5 Milliarden Euro,
sodass wir jetzt zusammen mit der steuerlichen Förderung bei der energetischen Sanierung ein Gesamtpaket
von über 3 Milliarden Euro haben.
Dieses ansehnliche Paket wird seine Wirkung entfalten,
({3})
auch und gerade beim Handwerk und in der Bauindustrie. Durch die Hebelwirkung - das wissen wir - wird
das 16-Fache an Investitionen ausgelöst. Die Branche
vor Ort darf eine spürbare Auftragsbelebung erwarten mit allen Konsequenzen: Es wird zusätzliche Arbeitsplätze geben, zusätzliche Steuereinnahmen und - das
sage ich gerade in Richtung der Kommunen - zusätzliche Gewerbesteuereinnahmen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass wir mit dem
heute zu beschließenden Gesetzespaket einen weiteren
konsequenten Schritt hin zur Energiewende gehen. Wir
machen den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land
mit diesen Maßnahmen zusätzlich zum KfW-Programm
ein weiteres attraktives Angebot. Wir haben nunmehr
einen breit gefächerten Instrumentenkasten, und mit diesem Instrumentenkasten werden wir unserem anspruchsvollen Ziel einer nachhaltigen Verringerung der Treibhausgasemissionen und eines zügigen Umstiegs in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien ein ganzes Stück näher kommen. Deswegen: Stimmen Sie zu!
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir mit den Abstimmungen beginnen, weise
ich darauf hin, dass wir neben einer Vielzahl von einfa-
chen Abstimmungen auch insgesamt vier namentliche
Abstimmungen durchführen werden.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361, den
Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP
auf Drucksache 17/6070 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der vier Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD und
Grüne gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Vor unserer ersten namentlichen Abstimmung will ich
darauf hinweisen, dass es zahlreiche - wirklich zahlrei-
che - schriftliche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung gibt.1)
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Dazu ist namentliche Abstim-
mung vorgesehen. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Sind alle Plätze besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne
ich die erste namentliche Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die obligate Frage:
Ist noch jemand im Saale, der seine Stimme nicht abge-
geben hat? - Dann müssen wir noch einen Moment war-
ten.
Ich glaube, jetzt haben alle ihre Stimme abgegeben.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Bevor wir zu den einfachen Abstimmungen kommen,
hat Kollegin Kathrin Vogler Gelegenheit zu einer münd-
lichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.
1) Anlagen 2 bis 12
2) Ergebnis Seite 13412 D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen. Bis zur nächsten namentlichen Abstimmung
dauert es noch eine Weile, weil wir ungefähr 20 einfache
Abstimmungen absolvieren müssen. - Bitte schön, Kollegin Vogler.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie noch
einmal bitten, Platz zu nehmen. Es gibt jetzt eine mündliche Erklärung, und dann gibt es eine ganze Reihe einfacher Abstimmungen, für die eine gewisse Übersicht im
Hause notwendig ist.
({1})
Darf ich die Bitte noch einmal namentlich an die Regierungsbank richten?
({2})
Ich bitte Sie herzlich, Platz zu nehmen - Kollege
Burgbacher, Kollege Otto -, damit wir fortfahren können.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Mir ist es wichtig, ganz kurz Ihre Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Ich möchte Ihnen sagen,
dass ich gegen dieses Gesetz gestimmt habe, weil der
Weiterbetrieb der Atomkraftwerke bis 2022 konkret bedeutet, dass durch meinen Wahlkreis Steinfurt weiterhin
gefährliche Atomtransporte fahren: zum AKW in Lingen, zur Urananreicherungsanlage in Gronau und zum
Zwischenlager in Ahaus, und dies länger als notwendig.
In den Wochen nach dem Reaktorunglück von Fukushima haben in meinem Heimatort Emsdetten Montag
für Montag 300 oder mehr Menschen für ein schnellstmögliches Abschalten der Atomkraftwerke demonstriert. Sie haben mich dazu aufgefordert, dafür zu sorgen, dass das Wirklichkeit wird. Wenn wir hier heute das
verabschieden, was Sie vorgelegt haben, reicht das mir
und auch diesen Menschen nicht.
({0})
Die Urananreicherungsanlagen in Gronau und im benachbarten niederländischen Almelo werden sogar noch
ausgebaut. Die Menschen in Ahaus befürchten völlig zu
Recht, dass das dortige Zwischenlager schleichend zum
Endlager gemacht wird. Die AKW in Deutschland werden nach dem, was hier heute beschlossen wird, noch
25 000 Tonnen strahlenden Atommüll produzieren. Ich
kann nicht verantworten, dem zuzustimmen.
({1})
Deshalb stimme ich dem Dreizehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes nicht zu. Ich werde am Sonntag beim 300. Sonntagsspaziergang in Gronau mit vielen
Atomkraftgegnerinnen und -gegnern an der Urananreicherungsanlage für eine schnellstmögliche Abschaltung
der Atomkraftwerke demonstrieren.
({2})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/6368. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Grünen bei Enthaltung von SPD und Lin-
ken abgelehnt.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6361, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur Änderung des Atomgesetzes
auf Drucksache 17/6246 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD für eine beschleunigte Stilllegung von Atom-
kraftwerken. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe c sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361, den
Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/5179 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Damit ent-
fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.
Wir kommen zur Abstimmung über Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke zur Änderung des Atomgesetzes -
Keine Übertragbarkeit von Reststrommengen. Der
Ausschuss für Umwelt empfiehlt unter Buchstabe d sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5472 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hau-
ses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abge-
lehnt. Damit entfällt auch bei diesem Gesetzentwurf die
weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Atomgesetzes und zur Wiederherstellung des Atom-
konsenses. Der zuständige Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6361, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5035 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
Grünen und bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Damit
entfällt die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Atomgesetzes - Abschalten der acht unsichersten
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Atomkraftwerke. Der zuständige Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6361, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5180 abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Regie-
rungsfraktionen gegen die Stimmen von Grünen und
Linken bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. Auch
hier entfällt die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Atomgeset-
zes - Beendigung der Nutzung von Atomkraftwerken
zur kommerziellen Energieerzeugung in Deutschland.
Der zuständige Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe g
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6361,
den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/5931 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei
Stimmenthaltung von SPD und Linken abgelehnt. Auch
hier entfällt die weitere Beratung.
Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-
fehlungen des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/6361 fort. Unter
Buchstabe h empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5478
mit dem Titel „Sofortige Stilllegung der sieben ältesten
Atomkraftwerke und des Atomkraftwerks Krümmel“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen
bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Unter Buchstabe i empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/6092 mit dem Titel „Atomausstieg bis
2014 - Für eine erneuerbare und demokratische Energie-
versorgung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe j seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6109 mit dem Titel „Versorgungssicher-
heit transparent machen - Keine Experimente mit ato-
marer ‚Kaltreserve‘“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppo-
sitionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren
Energien. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6363, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/6071 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6369. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen der
übrigen vier Fraktionen abgelehnt.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6363, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Neuregelung des
Rechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energien auf Drucksache 17/6247 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/6363 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/5182 mit dem Titel
„Energiewende jetzt“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5202 mit dem Titel „Atomzeital-
ter beenden - Energiewende jetzt“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/4953. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/778 mit dem Titel „10 Jahre EEG - Auf dem besten
Weg zu einer ökologischen und sozialen Energiewende“.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak-
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/799 mit dem Titel „Erneuerbare
Energie ausbauen statt Atomkraft verlängern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD
und Linken angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirt-
schaftlicher Vorschriften. Der Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6365, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/6072 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken und Grünen bei Stimmenthaltung
der SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6365, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher
Vorschriften auf Drucksache 17/6248 für erledigt zu er-
klären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 17/6365 fort. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/5181 mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem
nachhaltigen, effizienten, bezahlbaren und sicheren
Energiesystem“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/5481 mit dem Titel „Programm für eine nach-
haltige, bezahlbare und sichere Energieversorgung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen, der
Linken und der Grünen gegen die Stimmen der SPD an-
genommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/5760 mit dem Titel „Schutzschirm für Strom-
kunden - Bezahlbare Energiepreise gewährleisten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stimmen der
übrigen Fraktionen angenommen.
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus
Elektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6366, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/6073 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Über diesen Gesetzentwurf
stimmen wir nun namentlich ab. Ich bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein-
zunehmen. - Ist alles für die Abstimmung vorbereitet? -
Dann eröffne ich die zweite namentliche Abstimmung.
Die obligate Frage: Haben alle anwesenden Kollegen
an der namentlichen Abstimmung teilgenommen? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis auch die-
ser namentlichen Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder
Platz zu nehmen, damit wir die Abstimmungen fortset-
zen können.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/6370. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6366, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netz-
1) Ergebnis Seite 13415 B
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
ausbaus Elektrizitätsnetze auf Drucksache 17/6249 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Modernisierung der Stromnetze - Bürgernah, zügig, für erneuerbare Energien“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6366, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5762 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und
der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Die Energieeffizienz verbessern - Auf
dem europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik am
4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen vereinbaren“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/4785, den Antrag der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/4528 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6358, die genannten Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP auf Drucksache 17/6074 sowie der Bundesregierung auf Drucksache 17/6251 zusammenzuführen
und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken
bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie
in der zweiten Abstimmung angenommen.
Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie
von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energieund Klimafonds“. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6356,
die genannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf
Drucksache 17/6252 ({0}) sowie der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/6075 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Stärkung der
klimagerechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6357, die genannten Gesetzentwürfe der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/6076 sowie der Bundesregierung auf Drucksache
17/6253 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen, der
SPD und der Linken bei Ablehnung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen, der SPD und der Linken gegen die Stimmen
der Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6364, die genannten Gesetzentwürfe der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/6077
sowie der Bundesregierung auf Drucksache 17/6254 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen, der SPD und der
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie
zuvor angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunkturpaket
({1}) unverzüglich für mehr Energieeffizienz und er-
neuerbare Energien nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5225,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4017 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, FDP und SPD gegen die Stimmen
der Grünen und Linken angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Änderung des Grundgesetzes - Gesetz zur
grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus der
Atomenergie. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6349, den Ge-
setzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5474 abzulehnen. Wir stimmen nun über diesen Ge-
setzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Wir
können mit der Abstimmung beginnen. Ich eröffne die
dritte namentliche Abstimmung.
Haben sich alle Mitglieder des Hauses an der Abstim-
mung beteiligt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Auch dieses Ergebnis wird später bekannt gege-
ben1).
Wir kommen zur nächsten Abstimmung, und zwar
über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/6292 mit dem Titel „Die Energiewende zukunftsfähig
gestalten“. Wir stimmen über diesen Antrag namentlich
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer
wiederum, ihre Plätze einzunehmen. - Da sie sie gar
nicht verlassen haben, sind wir bereit für die vierte und
letzte namentliche Abstimmung, die hiermit eröffnet ist.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre
Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis auch dieser Abstimmung wird
später bekannt gegeben2).
Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6302 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind der Tagesordnungspunkt 4 und die
Zusatzpunkte 3 und 4 absolviert.
1) Ergebnis Seite 13418 A
2) Ergebnis Seite 13420 B
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verursacher der Krise zur Kasse bitten - Neue
Bankenabgabe einführen
- Drucksache 17/6303 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Sahra
Wagenknecht für die Fraktion Die Linke das Wort.
({3})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“:
Das war für Walter Eucken, den bekannten Ökonomen
und Vater der sozialen Marktwirtschaft, eine der Grundlagen einer funktionierenden Wirtschaftsordnung. Dieses Prinzip wird heute komplett ignoriert. Die heutigen
Finanzmärkte sind ein Feld organisierter Haftungsfreiheit und kollektiver Verantwortungslosigkeit. Das ist
auch das Ergebnis der Politik Ihrer Regierung und der
Politik der Vorgängerregierungen.
Um über 300 Milliarden Euro ist die deutsche Staatsverschuldung allein infolge der Bankenrettung angestiegen. 300 Milliarden Euro: Das ist im Vergleich so viel
wie fast ein ganzer Bundeshaushalt. Und überhaupt: Die
Staatsverschuldung in Deutschland ist seltsamerweise
noch nie in so kurzer Zeit derart angestiegen wie in den
letzten Jahren, also just in der Zeit, in der dieses Land
von Politikern regiert wurde, die in ihren Sonntagsreden
gern von Schuldenbremsen und von Konsolidierung reden. Offenbar fällt Ihnen der öffentliche Schuldenstand
aber immer nur dann ein, wenn es um Ausgaben für Bildung oder um die Lebensgrundlage von Hartz-IV-Beziehern geht.
({0})
Für die Banken haben Sie dagegen eine Freibieranlage installiert, die Sie mit immer neuen Milliarden
auffüllen, damit sich die Herren Ackermann und Co
nach Belieben bedienen können; denn auch die als EuroRettung getarnten Milliardenpakete sind im Kern ja
nichts anderes als eine neue Runde der Bankenrettung.
Natürlich kann man dieses zynische Spiel immer weiterspielen. Theoretisch kann man es so lange weiterspielen, bis Deutschland genauso pleite ist wie Griechenland. Besser und eine wirkliche Bremse für die
eskalierende Staatsverschuldung wäre es aber vielleicht,
sich das Geld von dort zurückzuholen, wo es hingeflos13410
sen ist, nämlich von den Verantwortlichen für die
Finanzmarktkrise, von denen, die von den Rettungsmilliarden profitiert haben.
({1})
Eine ordentliche Bankenabgabe wäre ein wichtiger Hebel dafür. Die Einführung einer Millionärsteuer wäre ein
anderer wichtiger Hebel.
Die Bankenabgabe, die die Bundesregierung vorgeschlagen hat, ist aber, ich bitte Sie, doch nichts anderes
als eine Farce und Wählertäuschung. Angeblich sollen
so 70 Milliarden Euro zusammenkommen, damit die
Steuerzahler beim nächsten Crash geschont werden können. 70 Milliarden Euro! Dabei haben Sie die jährlichen
Einnahmen noch nie höher als mit 1,2 Milliarden Euro
angesetzt. Zurzeit sieht es eher so aus, als würde es etwa
die Hälfte sein. Selbst wenn 1 Milliarde Euro hereinkommen würde, wäre dies viel zu wenig.
Es gab einmal einen deutschen Staat, der viel Spott
dadurch auf sich gezogen hat, dass er Fünfjahrespläne
aufgestellt hat. Ich muss sagen: Hier ist die Bundesregierung wirklich weiter. Sie stellt jetzt offensichtlich Siebzigjahrespläne auf; denn wenn man mit der Bankenabgabe 1 Milliarde Euro pro Jahr hereinholt, dann heißt
das: In genau 70 Jahren hat man die 70 Milliarden Euro,
mit denen man dann für die nächste Finanzkrise gewappnet sein will.
({2})
Das heißt, nach den Planungen der Bundesregierung darf
die nächste Finanzkrise in frühestens 70 Jahren stattfinden.
Da fragt man sich schon, ob man Ihnen zu so viel Zukunftsoptimismus gratulieren soll oder ob man Sie nicht
besser für einen derartigen Realitätsverlust von Herzen
bedauern muss.
({3})
Es spricht zumindest wirklich verdammt wenig dafür,
dass sich die Realität an Ihre Pläne halten wird.
Der nächste Crash hat längst begonnen. Das liegt
auch daran, dass die letzte Finanzkrise im Grunde nie
wirklich aufgearbeitet wurde. Es läuft doch alles weiter,
als hätte es diese Krise überhaupt nie gegeben. Es laufen
weiter die gleichen absurden Geschäftsstrategien. Es
laufen weiter die gleichen halsbrecherischen Hebelfinanzierungen. Es laufen weiter die gleichen giftigen Finanzprodukte.
Allein die Deutsche Bank hat von den internationalen
Rettungspaketen in der Größenordnung von gut 20 Milliarden Euro profitiert. Die Deutsche Bank hat von diesen über 20 Milliarden Euro keinen Cent zurückgezahlt.
({4})
Natürlich ist es dann für die Deutsche Bank umso leichter, jetzt wieder üppige Dividenden auszuschütten und
ihre Manager mit Boni zu verwöhnen, während in
Deutschland Krankenhäuser chronisch unterfinanziert
sind und bei Niedrigverdienern aus angeblichen Sparzwängen der Heizkostenzuschuss gestrichen wurde. Sie
finden das offenbar völlig normal. Ich muss sagen: Ich
finde das skandalös und unerträglich.
({5})
Sehen Sie sich doch bitte einmal das Geschäftsmodell
der privaten Großbanken an. Wenn die Aufgabe einer
Bank darin besteht, Ersparnisse in volkswirtschaftliche
Investitionen zu lenken, dann ist die Deutsche Bank
längst keine Bank mehr, sondern sie ist eher eine gigantische Wettbude, die ihre sagenhaften Gewinne zum großen Teil damit macht, auf nahezu alles, was die Welt so
bietet, Lebensmittel, Rohstoffe, Staatsanleihen, waghalsige Wetten zu verkaufen oder selber einzugehen.
Dabei haben von der Deutschen Bank konstruierte
Giftpapiere bekanntlich schon in der letzten Finanzkrise
eine üble Rolle gespielt, denn die Deutsche Bank war einer der ganz großen Player in diesem Geschäft, amerikanische Hypothekenkredite zu verbriefen. Da man relativ
genau wusste, dass diese Hypothekenkredite irgendwann
faul werden, hat man gleich noch die Wette gegen diese
Hypothekenkredite mitverkauft und sich daran eine goldene Nase verdient. Diese Geschäftspraktiken haben
stattgefunden. Sie haben sich am Ende darin niedergeschlagen, dass der deutsche Steuerzahler die IKB, die
Landesbanken, die WestLB und andere, retten musste,
weil dieser Finanzmüll nämlich genau dort angekommen
ist.
Gestern hat sich in den USA die Bank of America zur
Zahlung von 8,5 Milliarden Dollar Schadensersatz verpflichten müssen, weil sie Schrottpapiere im Volumen
von 16,5 Milliarden Dollar verkauft hat, weil sie also genau das Gleiche gemacht hat, was die Deutsche Bank in
noch ganz anderer Größenordnung getan hat. Ich frage
die Bundesregierung: Wann werden Sie endlich die
Deutsche Bank dazu zwingen, Schadensersatz für die zig
Milliarden an Finanzmüll zu zahlen, der bei der IKB und
bei den Landesbanken und damit letztlich beim Steuerzahler abgeladen wurden? Machen Sie doch einmal etwas in dieser Frage, wenn Sie die Staatsverschuldung
wirklich bremsen wollen.
({6})
- Das ist für Sie ein Rechtsstaat, dass die Banken abzocken, dass sie abstruse Geschäftsmodelle machen und
dass der Steuerzahler dann die Verluste trägt. Ich muss
sagen, ich habe vom Rechtsstaat eine andere Vorstellung.
({7})
Deswegen frage ich Sie auch: Wie lange noch wollen
Sie das Geld der Steuerzahler in diesem schwarzen Loch
verbrennen, statt die Ackermänner und Co endlich daran
zu hindern, finanzielle Massenvernichtungswaffen zu
basteln, die uns allen irgendwann um die Ohren fliegen
werden? Sie wissen doch genauso gut wie wir, dass uns
das um die Ohren fliegen wird. Dass sich die Staatsschuldenkrise so zuspitzt, hat auch etwas mit diesen Kreditausfallversicherungen zu tun, die nicht zuletzt die
Deutsche Bank kreiert, verkauft, mit denen sie handelt
und sich so eine goldene Nase verdient.
({8})
Deswegen fordert die Linke: Legen Sie die Finanzmafia endlich an die Kette, statt sich von ihr in immer
neuen Runden am Nasenring durch die Manege ziehen
zu lassen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
Kollege Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege
Flosbach.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Hier gibt es einen Vorschlag der Linken,
die Verursacher der Finanzkrise zur Verantwortung zu
ziehen. Wenn wir uns diesen Antrag ansehen, so sehen
wir mehr als deutlich, dass dies ein sehr untauglicher,
durchsichtiger und sehr plumper Versuch ist, im Grunde
das private Bankensystem und sogar das öffentlichrechtliche Bankensystem in Deutschland zu zerschlagen.
({0})
Sie haben gar nicht über die Verursacher der Finanzkrise gesprochen. Sie haben alle Ihre Pauschalurteile, die
Sie regelmäßig hier vortragen, wiederholt und uns Ihre
ideologischen sozialistischen Ergebnisse vorgestellt, wie
man die Banken im Grunde zerschlagen kann.
Wenn Sie sich mit den Ursachen der Finanzkrise beschäftigt hätten, dann müssten Sie heute die Frage stellen, wer die Verursacher der Finanzkrise waren. Waren
es die USA selbst, die niedrige Zinsen in den Markt gegeben haben? Waren es die Banken in den USA, die
Kredite an Personen vergeben haben, die nicht kreditfähig waren? Waren es diejenigen, die diese Kredite mit
der sogenannten Verbriefung gebündelt und beispielsweise nach Deutschland verkauft haben? Waren es die
Banken in Deutschland, die sie gekauft haben, wie die
IKB, die Hypo Real Estate und andere Banken oder die
Landesbanken, die kein eigenes Risikomanagement
mehr wahrnahmen und diese Papiere einfach übernommen haben? Waren es die Ratingagenturen, die einen
Stempel aufgedrückt haben? Waren es die Aufsichtssysteme, die nicht funktioniert haben, oder waren es wirklich auch politische Rahmenbedingungen?
All das müssen wir selbstverständlich fragen. Aber so
einfach, wie Sie es dargestellt haben, ist die Welt nun
einmal nicht. Sie müssen die Zusammenhänge beachten.
Dann kämen Sie nicht auf solche Ideen wie die, das Bankensystem zu zerschlagen.
({1})
Sie haben als Lösung vorgeschlagen, dass die Banken
in Deutschland, und zwar die privaten Banken und auch
beispielsweise die Landesbanken, neben der normalen
Besteuerung eine zusätzliche Bankenabgabe in Höhe
von 0,15 bis 0,30 Prozent der Bilanzsumme zahlen sollen. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon einmal mit einer
Bilanzsumme einer deutschen Bank beschäftigt haben.
Sie haben sicherlich die der Deutschen Bank im Blick
gehabt. Denn Ihr Vorschlag zielt genau darauf ab, bei der
Deutschen Bank über die übliche Besteuerung hinaus
den gesamten Gewinn zu kassieren. 100 Prozent Versteuerung: Das ist Ihr Vorschlag. Er gilt aber nicht nur
für die Deutsche Bank, sondern auch für die Commerzbank, die Landesbanken und alle privaten Banken. Das
ist der Ansatz, den wir betrachten müssen. Hier wird im
Grunde versucht, 100 Prozent der Gewinne der Banken
abzugreifen.
Sie haben auch von sozialer Marktwirtschaft gesprochen und Walter Eucken erwähnt. Jede Gesellschaft
braucht ein funktionierendes Bankensystem. Wer ist eigentlich der größte Mittelstandsfinanzierer in Deutschland? Wer begleitet unsere deutschen Unternehmen ins
Ausland, um am Weltmarkt aktiv zu sein? Wie kommt es
dazu, dass wir 40 Prozent unseres Wachstums dem Export verdanken? Die große Zahl an qualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland hängt von einer funktionierenden
Wirtschaft und einem funktionierenden Bankensystem
ab.
({2})
- Das ist so. Die Linken haben noch nie mit der Wirtschaft umgehen können. Sie wissen immer noch nicht,
dass erfolgreiche Sozialpolitik nur dann machbar ist,
wenn wir auch ein starkes Wirtschaftssystem haben, um
entsprechende Erträge zu erwirtschaften.
({3})
Sie müssen Ihren Horizont erweitern. Er wird immer
noch von einer Mauer begrenzt. Die Deutschen in Ost
und West haben in 20 Jahren Deutschland wieder nach
vorne gebracht. Was Sie vorschlagen, ist aber weit von
der Wirklichkeit entfernt.
Wir haben in den letzten Jahren erfolgreiche Politik
gemacht, um die Finanzmärkte zu stabilisieren. Frau
Wagenknecht, Sie haben von den Auswirkungen der
Krise gesprochen. Sie müssen mit den richtigen Zahlen
und mit den Zahlen operieren, die auch für die Bevölkerung wichtig sind.
Ich möchte aus der Zwischenbilanz der Bundesanstalt
für Finanzmarktstabilisierung vom 28. Januar 2011 zitieren. Die Bundesanstalt ist für uns das entscheidende
Gremium in Deutschland. Sie hat die Finanzkrise bewertet:
Im internationalen Vergleich ist der Aufwand für die
Bankenstabilisierung in Deutschland moderat … In
Deutschland gelang die Stabilisierung, anders in anderen Staaten, ohne einen Bank-Run, ohne eine
Überlastung des Staates und ohne soziale Verwerfungen.
({4})
Auch Zusammenbrüche von Kreditinstituten konnten vermieden werden. Nach dem Rezessionsjahr
2009 erholte sich die deutsche Wirtschaft in beeindruckender Schnelligkeit.
Das sollten Sie in dieser Zwischenbilanz vom 28. Januar
nachlesen.
Sie haben von der Staatsverschuldung gesprochen.
Wie ist denn die Erhöhung der Staatsverschuldung entstanden? In der Tat bürgen wir als Staat immer noch für
über 200 Milliarden Euro an ausgesonderten Papieren
oder auch Krediten, die in den Bad Banks der Hypo Real
Estate oder der Westdeutschen Landesbank lagern.
Aber in jedem Monat werden diese Papiere Zug um
Zug verkauft. Dadurch wird sich unsere Verschuldung
reduzieren. Der Verschuldung in Höhe von 200 Milliarden Euro stehen - so hoffen wir jedenfalls - Vermögenswerte in gleicher Höhe gegenüber, die dazu führen, dass
unsere Verschuldung Zug um Zug abgebaut wird. Das
dürfen Sie nicht verheimlichen.
({5})
- Herr Schick, wenn ich zum Ende gekommen bin, können Sie eine Kurzintervention machen. Dann werde ich
Ihnen erwidern.
Entscheidend ist, dass die Verschuldung Zug um Zug
abgebaut wird. Das ist einer unserer Erfolge. Dadurch
haben wir unsere Wirtschaft stabilisiert.
Wir haben aber auch auf die Krise reagiert, und zwar
in zwei großen Bereichen, nämlich durch Regulierung
und eine Bankenabgabe, die ich gleich noch darlegen
möchte. Das Wichtigste ist, dass wir die Banken durch
höhere Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen stabilisiert haben. Hier geht es darum, Verluste aufzufangen
und vor allen Dingen die Widerstandsfähigkeit der Banken zu stärken. So kann sich die Krise nicht auf gleiche
Weise wiederholen.
Wir haben die europäische Aufsicht im Banken-, Versicherungs- und Wertpapierbereich gestärkt, aber auch
im Ausschuss für Systemrisiken oder im Finanzstabilitätsrat, der gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds als globales Frühwarnsystem funktioniert.
Das sind wichtige Maßnahmen, die es bisher nicht gab.
Wir haben zudem die Vergütungssysteme in Banken und
Versicherungen verändert und sie auf Nachhaltigkeit
ausgerichtet. Wir haben die Eigenbeteiligung bei Verbriefungen erweitert und federführend das Verbot ungedeckter Leerverkäufe nicht nur in Deutschland, sondern
auch in Europa durchgesetzt.
Es sind sicherlich noch einige Dinge zu regeln - das
hat gestern der Finanzmarktkongress der Unionsfraktion
gezeigt -, wenn es um Schattenbanken, Ratingagenturen
und Derivate geht. Aber das Entscheidende ist: Wir haben mit den oben beschriebenen Maßnahmen die Märkte
deutlich stabilisiert. Wir sind auch bei der Bankenabgabe
Vorreiter. Alle Europäer schauen auf Deutschland, um
herauszufinden, wie wir die Bankenabgabe gestaltet haben. Die meisten europäischen Länder wollen unser System übernehmen. Auch die Europäische Kommission
prüft eine entsprechende Gesetzesvorlage.
Was ist unter einer Bankenabgabe zu verstehen? Die
Banken müssen entsprechend der Höhe ihrer Risiken in
den Bilanzen Beiträge an einen Restrukturierungsfonds
zahlen. Hier geht es nicht um die Kosten der bisherigen
Krise, sondern darum, in Zukunft Krisen anders abzuwickeln. In Zukunft werden wir Geld haben, um systemrelevante Banken abzuwickeln oder über Brückenbanken
zu restrukturieren. Das sorgt für Stabilität und schont
den Geldbeutel des Steuerzahlers. Das ist das Entscheidende für uns in Deutschland.
({6})
Die G 20 haben in Pittsburgh eine faire und nachhaltige Beteiligung des Finanzsektors verlangt. Ich sehe das
genauso. Herr Schäuble hat auf der gestrigen Tagung
deutlich gemacht: Wir brauchen eine gerechte Lastenverteilung, wenn wir die Legitimität nicht verlieren wollen.
Wir können nicht verlangen, dass alle Regeln global
sind. Wir müssen unter Umständen Regeln auch nur in
Europa oder in der Euro-Zone durchsetzen. Ich bin sehr
froh, dass sich auch das Europäische Parlament für die
Einführung einer Finanzmarktsteuer ausgesprochen hat.
Herr Barroso hat deutlich gemacht, dass er es für richtig
hält, eine solche Steuer in Europa gemeinsam einzuführen. Wer die Länder um uns herum und die großen
Märkte USA, Japan oder Russland betrachtet, sieht, dass
dort keine Finanzmarktsteuer existiert. Aber nahezu alle
Länder der G 20 - dazu gehören auch die Schweiz, Singapur und Hongkong - haben bereits eine Finanzmarktsteuer eingeführt. Wir wissen sicherlich, dass wir mit einer Finanzmarktsteuer die Krise nicht verhindert hätten,
weil sie ganz anders entstanden ist. Frau Wagenknecht,
lesen Sie das einfach einmal nach! Aber eine solche
Steuer ist wichtig für eine gerechte Lastenverteilung und
sorgt für einen finanziellen Beitrag der Finanzbranche.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Bevor ich dem nächsten Redner in unserer Debatte das
Wort erteile, darf ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der vier
namentlichen Abstimmungen bekannt geben. Zum Ergebnis der ersten namentlichen Abstimmung über den
von den Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung
des Atomgesetzes: abgegebene Stimmen 600. Mit Ja haben gestimmt 513, mit Nein haben gestimmt 79, Enthaltungen 8. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 600;
davon
ja: 513
nein: 79
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({2})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({12})
Michaela Noll
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({17})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({24})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({25})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Vizepräsident Eduard Oswald
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({26})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({27})
Hubertus Heil ({28})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({29})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({30})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({31})
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({32})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({33})
Michael Roth ({34})
Marlene Rupprecht
({35})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({36})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({37})
Werner Schieder ({38})
Ulla Schmidt ({39})
Silvia Schmidt ({40})
Carsten Schneider ({41})
Swen Schulz ({42})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({43})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({44})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({45})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({46})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({47})
Michael Link ({48})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({49})
Burkhardt Müller-Sönksen
({50})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({51})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({52})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({53})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({54})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({55})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({56})
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({58})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Harald Terpe
Vizepräsident Eduard Oswald
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Dr. Rolf Koschorrek
Franz Obermeier
Arnold Vaatz
SPD
Marco Bülow
Frank Hofmann ({59})
FDP
Dr. Rainer Stinner
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({60})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Kolbe
Dieter Stier
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Memet Kilic
Monika Lazar
Dr. Hermann Ott
Till Seiler
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Zweite namentliche Abstimmung, Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze, Drucksache 17/6073, Fraktionen CDU/CSU und FDP: abgegebene Stimmen 601.
Mit Ja haben gestimmt 316, mit Nein haben gestimmt
214, Enthaltungen 71. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 601;
davon
ja: 316
nein: 214
enthalten: 71
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({61})
Manfred Behrens ({62})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({63})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({64})
Dirk Fischer ({65})
Axel E. Fischer ({66})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({67})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({68})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({69})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Vizepräsident Eduard Oswald
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({70})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({71})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({72})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({73})
Michaela Noll
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({74})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({75})
Anita Schäfer ({76})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({77})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({78})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({79})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({80})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({81})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({82})
Peter Weiß ({83})
Sabine Weiss ({84})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({85})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({86})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({87})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({88})
Michael Link ({89})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({90})
Burkhardt Müller-Sönksen
({91})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({92})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({93})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({94})
Nein
CDU/CSU
Franz Obermeier
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({95})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({96})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({97})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({98})
Hubertus Heil ({99})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({100})
Frank Hofmann ({101})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({102})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({103})
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({104})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({105})
Michael Roth ({106})
Marlene Rupprecht
({107})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({108})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({109})
Werner Schieder ({110})
Ulla Schmidt ({111})
Silvia Schmidt ({112})
Carsten Schneider ({113})
Swen Schulz ({114})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({115})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Dr. Rainer Stinner
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({116})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Kolbe
SPD
Hans-Ulrich Klose
Peer Steinbrück
FDP
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({117})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({118})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({119})
Monika Lazar
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({120})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({121})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Eduard Oswald
Dritte namentliche Abstimmung, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Gesetz zur
grundgesetzlichen Verankerung des Ausstiegs aus der
Atomenergie -, Fraktion Die Linke: abgegebene Stimmen 599. Mit Ja haben gestimmt 71, mit Nein haben gestimmt 461, Enthaltungen 67. Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach der Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 599;
davon
ja: 71
nein: 461
enthalten: 67
Ja
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({122})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({123})
Manfred Behrens ({124})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({125})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({126})
Dirk Fischer ({127})
Axel E. Fischer ({128})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({129})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({130})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({131})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({132})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({133})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({134})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Vizepräsident Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({135})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({136})
Anita Schäfer ({137})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({138})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({139})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({140})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({141})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({142})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({143})
Peter Weiß ({144})
Sabine Weiss ({145})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({146})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({147})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({148})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({149})
Hubertus Heil ({150})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({151})
Frank Hofmann ({152})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({153})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({154})
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({155})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({156})
Michael Roth ({157})
Marlene Rupprecht
({158})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({159})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({160})
Werner Schieder ({161})
Ulla Schmidt ({162})
Silvia Schmidt ({163})
Carsten Schneider ({164})
Swen Schulz ({165})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({166})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({167})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({168})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({169})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({170})
Michael Link ({171})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({172})
Burkhardt Müller-Sönksen
({173})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({174})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({175})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({176})
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({177})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({178})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({179})
Monika Lazar
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({180})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({181})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Vierte namentliche Abstimmung, Antrag der Fraktion
der Sozialdemokraten, „Die Energiewende zukunftsfähig gestalten“: abgegebene Stimmen 596. Mit Ja haben
gestimmt 140, mit Nein haben gestimmt 320, Enthaltungen 136. Der Antrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 595;
davon
ja: 139
nein: 320
enthalten: 136
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({182})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({183})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({184})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({185})
Hubertus Heil ({186})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({187})
Frank Hofmann ({188})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({189})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({190})
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({191})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Vizepräsident Eduard Oswald
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({192})
Michael Roth ({193})
Marlene Rupprecht
({194})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({195})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({196})
Werner Schieder ({197})
Ulla Schmidt ({198})
Silvia Schmidt ({199})
Carsten Schneider ({200})
Swen Schulz ({201})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({202})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({203})
Manfred Behrens ({204})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({205})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({206})
Dirk Fischer ({207})
Axel E. Fischer ({208})
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({209})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({210})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({211})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({212})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({213})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({214})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({215})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({216})
Anita Schäfer ({217})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({218})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({219})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({220})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Vizepräsident Eduard Oswald
Thomas Strobl ({221})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({222})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({223})
Peter Weiß ({224})
Sabine Weiss ({225})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({226})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({227})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({228})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({229})
Michael Link ({230})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({231})
Burkhardt Müller-Sönksen
({232})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({233})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({234})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({235})
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({236})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({237})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({238})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({239})
Monika Lazar
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({240})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({241})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Eduard Oswald
- So weit die Bekanntgabe der Ergebnisse der vier namentlichen Abstimmungen.
Wir fahren in unserer Debatte fort. Für die sozialdemokratische Fraktion spricht unser Kollege Manfred
Zöllmer.
({242})
- Bitte schön, Kollege Zöllmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Forderung, die Verursacher der Krise zur Kasse zu bitten, hatte während der Finanzmarktkrise bei allen hier
im Bundestag vertretenen Parteien Hochkonjunktur. Seit
den Ereignissen von 2007 haben wir hier im Bundestag
vielfach über die Aufarbeitung der Finanzkrise diskutiert. Eine Vielzahl von Gesetzen wurde beschlossen, in
Deutschland und ebenso in Europa und in den USA.
Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, aber diese
Debatte gibt eine gute Möglichkeit, ein paar Aspekte näher zu beleuchten, zum Beispiel eine Antwort auf folgende Frage zu geben: Ist es gelungen, in Deutschland
die Verursacher der Krise für die Kosten der Krise zur
Kasse zu bitten? Die Antwort ist einfach; sie lautet Nein.
({0})
Das Versprechen der Kanzlerin, dies zu tun, hat sich
als Falschaussage erwiesen. Nun kann man fragen: Warum soll man jemandem glauben, der permanent seine
Meinung wechselt und heute dies und morgen das verkündet, wie wir es eben erlebt haben? Aus „Die Verursacher sollen für die Krise zahlen“ - so wörtlich Frau
Merkel - wurde „Die Verursacher sollen für mögliche
zukünftige Finanzmarktkrisen zahlen“. Dann ging es um
die Bankenabgabe; sie sollte dies leisten. Doch wir haben sie immer noch nicht, und in der ursprünglich von
der Bundesregierung intendierten Form ist es noch nicht
einmal eine Versicherungslösung.
Das, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat,
ist ein Armutszeugnis.
({1})
Wie lange sollen wir eigentlich noch warten, bis zumindest eine Minimalbeteiligung des Bankensektors an zukünftigen Krisen wirklich auf den Weg gebracht wird?
({2})
Verstecken Sie sich doch nicht hinter dem Bundesrat!
Wer alle Änderungsanträge von Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss zu diesem Thema
ablehnt - es handelt sich um Änderungsanträge, die dafür sorgen sollten, dass die Banken substanziell, also
wirklich Geld in den Rettungsfonds einzahlen -, der darf
sich nicht beschweren, wenn der Bundesrat nun tätig
wird, um wenigstens die größten Ungerechtigkeiten der
Verordnung zu beseitigen.
Der Bundesrat hat mit 16 : 0 Stimmen solche Kompromissvorschläge auf der Basis der genannten Änderungsanträge gemacht. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, alle Versuche, die Großbanken zu
schonen, endlich aufzugeben und dafür zu sorgen, dass
die Bankenabgabe Realität wird.
({3})
Wir wissen, dass die Summe, die da in jedem Jahr zusammenkommt, nur dann ausreichen wird, wenn die
nächste Finanzmarktkrise erst in 100 Jahren kommt.
({4})
- Okay, dann nehmen wir das entsprechend zu Protokoll.
({5})
- Ja, es war ein sehr kompetenter Zwischenruf; das kann
ich nur bestätigen.
Nachdem die Beratungen im Finanzausschuss und im
Bundestag beendet sind und der ganze Vorgang beim
Bundesrat liegt, entdecken nun die Linken dieses Thema
und fordern, wie wir eben gehört haben, eine neue Bankenabgabe einzuführen. Ich kann mich im Übrigen nicht
an Änderungsanträge der Fraktion Die Linke im Finanzausschuss erinnern. Dort haben sie die Bankenabgabe
nur abgelehnt. Nun kann man ja sagen, besser zu spät als
nie; aber im Bundesrat haben alle Länder den Kompromissvorschlägen zur Bankenabgabe zugestimmt, auch
die Länder mit Regierungsbeteiligung der Linken.
({6})
Nun kann man fragen: Was soll dieser Antrag? Wollen Sie von dieser Zustimmung ablenken, wollen Sie von
der Antisemitismusdebatte ablenken, haben Sie auf der
fraktionsinternen Resterampe für Anträge noch einmal
nachgeschaut und etwas gefunden, was Sie schon einmal
beiseite gelegt haben, was aber für diese Zwecke immer
noch geht?
({7})
- Ja, das weiß ich. - Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, seriöse Politik geht nun wirklich anders.
Es gibt ein Instrument, das eine Beteiligung des Finanzsektors insgesamt, nicht nur der Banken, an den
Kosten der Krisen sicherstellte. Das ist die Finanztransaktionsteuer, die Sie auch in Ihrem Antrag fordern. Wer
sich anschaut, wie die Bundesregierung bisher mit diesem Thema umgegangen ist, der kommt ins Staunen. Es
ging nach dem Motto: Rin in die Kartoffeln, raus aus
denselben. In der Regierung ging das dann so, dass sich
der Finanzminister gegen den Wirtschaftsminister positionierte und Teile der CDU gegen die FDP agierten;
dann wurde es in die Haushaltsplanung übernommen
und anschließend wieder aus der Haushaltsplanung herausgeschmissen. Vor kurzem hatten wir noch eine Debatte im Bundestag zu diesem Thema. Dies alles ist
wirklich der Beleg dafür, dass wir es hier nicht mit einer
seriösen Regierung, sondern mit einer Chaostruppe zu
tun haben.
({8})
Es gab und gibt viel Widerstand. Aber es ist Bewegung in diesem Thema. Dieses Thema ist ein sehr gutes
Beispiel für die Aussage, dass Politik das hartnäckige
Bohren dicker Bretter ist; das ist wirklich ein ganz dickes Brett. Viele Bürgerinnen und Bürger, viele Abgeordnete auf unterschiedlichen Ebenen, viele zivilgesellschaftliche Gruppen arbeiten an diesem Thema und
fordern die tatsächliche Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Dieser Druck zeigt Wirkung. Wir haben eben
gehört, dass es Bewegung in Europa gibt. Wir hoffen,
dass diese Bewegung auch in die richtige Richtung geht;
dann werden wir es nachdrücklich unterstützen.
Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Versuche,
die Finanztransaktionsteuer zu diskreditieren, in sich zusammenbrechen. Die Riester-Renten-Lüge, also die Behauptung, mit dieser Steuer würden die kleinen RiesterSparer getroffen, ist in sich zusammengefallen. Dann
gibt es immer die Warnung vor der Abwanderung der Finanzmärkte nach Asien. Herr Kollege Flosbach hat es
eben schon angesprochen: In Singapur und in Hongkong
gibt es eine Stamp Tax, in Hongkong ist sie sogar so ausgestaltet, dass sie der Finanztransaktionsteuer sehr nahe
kommt. Bei den Gesprächen, die wir als Finanzausschussmitglieder dort geführt haben, ist deutlich geworden, dass der Chef der Börse die Wirkung der Finanztransaktionsteuer ausdrücklich begrüßt hat. Er hat
gesagt, sie habe ein dämpfende Wirkung auf die Finanzmärkte, auch gebe es keine Probleme mit dem High Frequency Trading.
Wir fordern deshalb, dass sich die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen ohne Wenn und Aber für
die Implementierung der Finanztransaktionsteuer einsetzen. Dann hätten wir wirklich eine Beteiligung der Verursacher an den Kosten der Krise. Unsere Unterstützung
in dieser Frage haben Sie.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Dr. Volker Wissing.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirbt bekanntlich mit dem Slogan: „Dahinter steckt immer ein
kluger Kopf“. In der fünften Zeile Ihres Antrages zitieren Sie die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Trotzdem
steckt hinter Ihrem Antrag kein kluger Kopf.
({0})
Sie fordern, dass wir die Verursacher der Krise zur Verantwortung ziehen. Das tun wir auch. Es laufen vor den
Gerichten in aller Welt zahllose Verfahren mit dem Ziel,
Verantwortlichkeiten zu klären und Schuldfragen zu beantworten. Wo Schuld festzustellen ist, werden die Verantwortlichen auch verurteilt. Das hat in Ihrem Antrag
keine Berücksichtigung gefunden, weil Sie sich mit der
Gewaltenteilung schwertun. Sie tun sich auch mit dem
Rechtsstaat schwer. Das haben Sie, Frau Wagenknecht,
anschaulich demonstriert: Sie haben hier die Meinung
vertreten, dass man, wenn eine Bank riskante Papiere an
eine andere Bank verkauft und sich bei der Bank, die sie
gekauft hat, ein Risiko ereignet, den Verkäufer staatlich
bestrafen müsse; das war Ihre Vorstellung.
({1})
Das ist in einer mitteleuropäischen Rechtskultur nicht
möglich. Wir haben gewachsene rechtsstaatliche Strukturen. Damit mögen Sie wenig Erfahrung haben. Vielleicht haben Sie auch wenig Verständnis dafür. Vielleicht
haben Sie auch keine Zuneigung zu unserem Rechtsstaat. Ich sage Ihnen: Wir haben diesen Rechtsstaat, und
wir werden ihn gegen all Ihre Angriffe verteidigen.
({2})
Schuldfragen zu klären, ist nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, sondern der Justiz. Das wollen wir
in Deutschland so belassen, und deswegen bekämpfen
wir Ihre Politik.
({3})
Schuld lässt sich auch nicht beliebig kollektivieren, sondern sie muss im Einzelfall nachgewiesen werden. Wenn
Sie schreiben, dass weitere milliardenschwere Risiken
der Banken auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt
worden sind, dann sollten Sie in der Lage sein, das konkret zu benennen, oder Sie sollten schweigen. Das ist
eben der Unterschied zwischen Ideologie und Sachpolitik. Die eine Seite will polemisieren, die andere will Lösungen erarbeiten.
({4})
Ihr Antrag polemisiert.
Sie kritisieren den Gewinn der Deutschen Bank und
führen ihn als Beleg für einen Verstoß gegen die Anwendung des Verursacherprinzips bei der Bewältigung der
Finanzkrise an. Was für ein Unsinn! Wenn Sie das Verursacherprinzip einfordern, dann müssen Sie konkret sagen, was die Deutsche Bank verursacht hat. Ein hoher
Gewinn einer Bank ist noch kein Verstoß gegen die gesetzlichen Regeln. Ihren Umkehrschluss, dass die Krisenbewältigung der Bundesregierung falsch sei, weil die
Deutsche Bank Geld verdiene, halte ich für sehr gewagt.
Ich glaube, es ist eine Zumutung, wenn man sich so etwas hier im Hohen Hause anhören muss.
Es ist in Deutschland so, dass wegen der Finanzmarktkrise höhere Lasten zu tragen sind; aber das ist
nicht die Schuld der privaten Banken, sondern dafür
trägt der öffentliche Bankensektor die Verantwortung.
Dass Sie das immer wieder ignorieren, weil es in Ihre
Ideologie nicht hineinpasst, macht Ihre Anträge leider
nicht klüger.
Es ist bedenklich, dass Sie bis zum Abwinken auf
dem Verursacherprinzip herumreiten. Wenn Sie dieses
Prinzip auf die Deutsche Bank anwenden wollen, dann
müssen Sie zuerst einmal sagen, was diese Bank verursacht hat. Wenn Sie nicht nachweisen können, dass diese
Bank etwas verursacht hat, dann müssen Sie sie von den
Bankenabgaben konsequenterweise ausnehmen. Das
wollen Sie vielleicht; wir wollen das nicht.
Wir sind gemeinsam mit der Bundesregierung einen
anderen Weg gegangen. Wir stellen keine wie auch immer geartete Schuldfrage in den Vordergrund, und wir
machen die Zahlung der Bankenabgabe nicht von einer
Verantwortung für die Krise abhängig, sondern wir wollen, dass sich der gesamte Bankensektor an künftigen
Bankenrestrukturierungen beteiligt; denn nach unserer
Auffassung ist es nicht die Aufgabe des Steuerzahlers,
Bankenrestrukturierungen zu finanzieren. Festzustellen
ist eine gefahrgeneigte Tätigkeit der Finanzbranche, und
deswegen soll die Finanzbranche auch künftige Restrukturierungen finanzieren und einen entsprechenden Fonds
speisen.
({5})
Dafür sorgen wir, und das ist auch vernünftig. Deswegen
unterstützen wir diesen Weg der Bundesregierung ausdrücklich.
Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin Sahra Wagenknecht?
Ja, bitte.
Bitte schön, Frau Kollegin Wagenknecht.
Sie haben gerade so eifrig den Rechtsstaat verteidigt.
Ich frage Sie einfach einmal etwas zu einer konkreten
Praxis der Deutschen Bank; Sie wollten ja Beispiele hören. Es gibt das sehr interessante und lesenswerte Buch
des amerikanischen Finanzjournalisten Michael Lewis.
Er schildert darin unter anderem ein Treffen von einem
führenden Investmentbanker der Deutschen Bank mit
einer Gruppe von Hedgefonds-Managern. Bei diesem
Treffen hat der deutsche Banker die Hedgefonds-Manager überzeugt, gegen die von der Deutschen Bank selbst
konstruierten Papiere zu wetten. Dabei fragte einer der
Hedgefonds-Manager den Investmentbanker der Deutschen Bank relativ ungläubig: Wer ist denn eigentlich
der Idiot auf der anderen Seite? Wer ist eigentlich so verrückt und kauft den Finanzmüll, den Sie dort konstruiert
haben? Darauf sagte dieser Banker der Deutschen Bank
relativ kurz und kühl: Düsseldorf, stupid Germans. Düsseldorf, dumme Deutsche.
Finden Sie solche Geschäftspraktiken rechtsstaatlich?
Finden Sie, dass das einfach so laufen gelassen werden
kann? Wir alle wissen: In Düsseldorf saß die IKB, sitzt
die WestLB. Das waren die Käufer. Die Lasten trägt der
Steuerzahler. Ist es Ihr Rechtsstaatsverständnis, dass wir
alle jetzt diese Last mittragen und bezahlen, während die
Deutsche Bank - mit ähnlichen Praktiken übrigens wieder fleißig Geld scheffelt?
Ich habe mir schon gedacht, dass Sie in Ihrer Frage
die Dinge genauso durcheinanderbringen wie vorher in
Ihrem Redebeitrag. Deshalb wiederhole ich, was ich vorhin gesagt habe: Es ist nicht Aufgabe des Deutschen
Bundestages, festzustellen, ob eine Bank gegen bestehende Gesetze verstoßen hat;
({0})
das ist Sache der Justiz. Das haben Sie offenbar immer
noch nicht verstanden; aber es ist so.
Dann haben Sie angesprochen, dass die Deutsche
Bank gesagt haben soll, dass die Landesbanken, also öffentliche Banken - das sind die Banken, die Sie für klüger halten -, so dumm gewesen seien, Papiere zu kaufen,
die private Banken nicht haben wollten. Daraus ziehen
Sie merkwürdigerweise den Rückschluss, dass man in
Deutschland mehr von diesen öffentlichen Banken
schaffen sollte, bis man nur noch öffentliche Banken hat.
Bei Ihnen geht einfach alles durcheinander. Sie versuchen, die Realität in Ihre Ideologie zu pressen, bringen
uns idiotische Anträge, die alles andere als logisch sind,
({1})
und haben außer irgendwelchen Parolen gegen Banken
keine einzige Lösung für die Bewältigung der Finanzmarktkrise zu bieten. Weil Sie keine schlüssigen Konzepte haben und weil das alles jeglicher Logik entbehrt,
schaffen Sie es auch nicht, Ihre Vorstellungen mit einem
modernen Rechtsstaat in Einklang zu bringen. Deswegen sage ich Ihnen: Sie sind auf dem Holzweg. Wenn
das eine Antwort auf Ihre Frage ist, dann habe ich sie Ihnen gern gegeben.
({2})
Wir können weiterhin feststellen, dass Ihre These, man
solle die Deutsche Bank verstaatlichen, nun wirklich alles
andere als eine gute Idee ist. Es war die ungute Verquickung von staatlicher Sicherheit mit einer höheren Risikobereitschaft und mangelnder Professionalität des öffentlichen Bankensektors - das haben Sie mit Ihrer Frage
gerade noch einmal angesprochen -, die dazu geführt hat,
dass Landesbanken massiv in die Krise gerutscht sind.
Deswegen hat der deutsche Steuerzahler heute ein Problem. Daraus kann man nicht den Rückschluss ziehen
- ich sage es Ihnen noch einmal -, dass man mehr Banken
verstaatlichen müsse; denn dann würden Sie das Risiko
für den Steuerzahler noch weiter erhöhen. Ich weiß nicht,
ob die Linke das irgendwann versteht: Es ist der öffentliche, nicht der private Bankensektor, der dem deutschen
Steuerzahler die Probleme bereitet.
({3})
Sagen Sie doch bitte nicht immer wieder: Der Weg ist
die Bankenverstaatlichung. - Ich weiß nicht, welche
Lehren die Linke aus der Finanzmarktkrise gezogen hat;
mehr Staatsbanken benötigt Deutschland jedenfalls
nicht.
({4})
Sie sollten sich einmal die Mühe machen, Ihre Politik
zu Ende zu denken. Ich finde auch das, was Sie über den
Beschluss der französischen Nationalversammlung zur Finanztransaktionsteuer schreiben, nicht besonders logisch.
Sie heben den Beschluss des französischen Parlaments
hervor und sagen: Weil Frankreich eine Finanztransaktionsteuer vorschlägt, muss man sie jetzt flächendeckend
einführen. - Sie sollten der Entscheidung des französischen Parlaments einmal die Entscheidungen all der anderen Parlamente gegenüberstellen, die nämlich keine
Beschlüsse hinsichtlich der Finanztransaktionsteuer gefasst haben. Wenn Sie das tun, dann ergibt sich weltweit
ein eindeutiges Meinungsbild.
Wir haben die Diskussion auf der Ebene der G 20 und
auf anderen Ebenen immer wieder geführt. Es ist im Übrigen, Herr Kollege Zöllmer, ein Märchen - das erzählen
Sie hier immer wieder, aber es bleibt ein Märchen -,
dass sich die Bundesregierung international nicht für
eine Finanztransaktionsteuer einsetzt. Das Gegenteil ist
richtig.
({5})
Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesfinanzminister, setzt sich auf europäischer Ebene für eine
Finanztransaktionsteuer ein. Wir als Koalitionsfraktionen haben dem Bundesfinanzminister dafür auch grünes
Licht gegeben. Aber wir haben eines immer klar gesagt:
Wir wollen keine Finanztransaktionsteuer, die den
Finanzplatz Deutschland schwächt und andere Finanzplätze stärkt.
Wir machen im Deutschen Bundestag keine Finanzpolitik für den Finanzstandort Großbritannien, sondern
wir machen Finanzpolitik für unseren Standort. Wenn
Großbritannien nicht bereit ist, in Europa gemeinsam
eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, dann halten
wir es aus deutschem Interesse nicht für vertretbar, eine
solche Steuer hier einzuführen. Sie können dieses Märchen bei der nächsten Debatte wieder erzählen und sagen, in Deutschland werde das alles blockiert; dadurch
wird es immer noch nicht wahr.
({6})
- „Wir“, das ist die Koalition, Frau Kollegin Kressl.
({7})
Wenn Sie die Beschlüsse, die wir hier gemeinsam gefasst haben, nachgelesen hätten, dann wüssten Sie, dass
dem so ist.
Wir haben eine klare Haltung in dieser Frage. Die
FDP jedenfalls macht eine Finanztransaktionsteuer ohne
UK nicht mit, weil wir nicht bereit sind, unsere Finanzstandorte zu opfern und andere zu fördern. Wir machen
im Deutschen Bundestag immer noch Politik fürs deutsche Volk.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unser Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte
schön, Kollege Dr. Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte zeigt sehr gut, welche Einschätzungen es
bezüglich der Finanzkrise gibt. Da hören wir als Erstes
von Herrn Flosbach, dass in Deutschland eigentlich alles
ganz toll gelaufen ist. Dabei werden die Lasten für die
Bürgerinnen und Bürger völlig verharmlost.
Die Fakten zeigen da leider etwas anderes. Der Fiscal
Monitor des Internationalen Währungsfonds vom April
2011 zeigt auf, dass Deutschland nach Irland und noch
vor den USA das Land ist, welches - im Verhältnis zur
Größenordnung der Wirtschaftsleistung und auch in absoluten Größen - am stärksten von dieser Finanzkrise
betroffen ist. Ich finde, es geht einfach nicht, das zu verharmlosen und so zu tun, als gebe es hier keine Last.
({0})
- Die Zahlen: Für Deutschland 10,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so sagt der IWF, und in den USA sind
es 3,4 Prozent. Die genauen Zahlen für die anderen Länder können wir im Ausschuss im Detail gerne durchgehen.
Weiterhin geht es nicht an, die durch die Finanzkrise
offengelegten Geschäftspraktiken von Großbanken, die
bis zu Betrug, Untreue und anderen strafrechtlich relevanten Delikten reichen, zu übersehen.
({1})
Da kann man doch nicht sagen, das sei nur ein Justizproblem. Vielmehr braucht eine soziale Marktwirtschaft immer auch ein ethisches Fundament.
({2})
Wenn sich die Politik einer Bewertung dessen enthält,
was auf den Märkten passiert, dann können wir als Gesetzgeber doch einpacken.
In den USA ist es nicht so, dass nur die Justiz darauf
eingehen würde. Es gibt auch einen Bericht des USSenats, der die Rolle der Großbanken sehr genau betrachtet. Ich finde, auch in Deutschland sollte man entsprechend reagieren und untersuchen, was wir zu einer
Verbesserung unseres Finanzsystems beitragen können.
Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern eine Jubelrunde in
Form einer Finanzmarktkonferenz veranstaltet.
({3})
Ich halte es für notwendiger, kritisch an die Sache heranzugehen, anstatt sie zu verharmlosen.
Ganz konkret: Weil wir davon ausgehen müssen, dass
es gerade in Deutschland aufgrund der Finanzkrise sehr
hohe Kosten gibt, muss die Frage beantwortet werden:
Wer trägt die Kosten dieser Krise? Ich kenne aus der Koalition keine Antwort auf diese Frage. Deswegen befürchten wir - gemeinsam mit vielen Menschen in diesem Lande -, dass das wieder am unteren Ende der
Einkommensskala in Deutschland passiert, und zwar so,
wie Sie schon die Kosten für die Wiedervereinigung
finanziert haben, nämlich über höhere Staatsverschuldung und durch steigende Sozialversicherungsabgaben.
({4})
Das würde die kleinen Leute treffen. Deshalb soll es das
nicht geben.
({5})
Es gibt einen Vorschlag, wer die Kosten dieser Krise
tragen soll. Er kommt von der Linkspartei. Leider müssen wir sagen: Dieser Vorschlag funktioniert nicht. Es
geht verfassungsrechtlich nicht, den Haushalt mit einer
Sonderabgabe aufzufüllen. In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes vom März 2010 steht, dass die
Abgabe nicht dem allgemeinen Haushalt zur Gesamtdeckung zur Verfügung stehen kann. Das gilt genauso
für die Verluste des Haushalts bei vergangenen Unterstützungsleistungen. In der juristischen Literatur wird
das Thema auf diese Weise bewertet. Der Vorschlag der
Linken wird also nicht funktionieren. Deshalb sollten
wir uns mit den Vorschlägen beschäftigen, die funktionieren. Ich kann mich der Kritik des Kollegen Zöllmer
nur anschließen: Bei den Beratungen zur Bankenabgabe
hätte die Linkspartei Änderungsvorschläge einbringen
können, um das Ganze anders auszugestalten.
({6})
Wie lautet unsere Antwort auf die Frage, wie die Kosten der Krise bewältigt werden können? Sie lautet: Vermögensabgabe. Wir sagen: Die Kosten dieser Finanzkrise sollen mit einer einmaligen Abgabe auf große
Vermögen - netto über 1 Million Euro pro Person - abgetragen werden. Denn die Schuldenlast ist zu hoch und
gefährdet die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.
Wir wollen nicht, dass die kleinen Leute, die am wenigsten von dem Boom vor der Finanzkrise profitiert haben,
diese Last tragen sollen. Wir geben eine ehrliche Antwort auf die Frage, wer die Kosten dieser Krise tragen
soll. Geben auch Sie endlich diese Antwort!
({7})
Der zweite Teil des Antrags, über den wir heute diskutieren, bezieht sich auf die Finanztransaktionsteuer.
Die Entwicklung bei diesem Thema ist spannend: Selten
haben Initiativen aus der Bevölkerung, aus der Zivilgesellschaft so schnell den Weg in die Parlamente und die
Gesetzgebung gefunden. Es ist teilweise atemberaubend,
wie die schlechten Argumente gegen die Steuer nach
und nach wegkippen. Zuletzt ist auf der Reise einer Delegation des Finanzausschusses nach China deutlich geworden: Man kann nicht einfach sagen, dass diese Steuer
aufgrund des Wettbewerbs mit den asiatischen Börsenplätzen für uns gefährlich sein könnte. Nein, dort gibt es
bereits Steuern, die dem ähneln, was wir hier vorschlagen.
Jetzt ist eine neue Situation eingetreten: Die EUKommission hat im Rahmen der Planungen für die
nächsten Jahre vorgeschlagen, zur Finanzierung des europäischen Haushaltes eine solche Steuer zu realisieren.
Jetzt kommt es darauf an, wie sich die Bundesregierung
und der Deutsche Bundestag zu diesem Vorschlag verhalten. Wer für eine Finanztransaktionsteuer ist, muss
jetzt die Europäische Kommission unterstützen und dafür sorgen, dass dieser Vorschlag ein Erfolg wird.
({8})
Dann geht es eben nicht mehr, darauf zu verweisen,
dass London vielleicht nicht mitmacht; es ist ein Vorschlag der Europäischen Kommission für die gesamte
Europäische Union. Deswegen wollen wir von Bundesaußenminister Westerwelle keine Absage zu diesem Vorschlag mehr hören; wir wollen hier auch nicht hören,
man sei irgendwie doch für eine Finanztransaktionsteuer.
Es braucht jetzt ein klares Ja aus Deutschland zu diesem
Vorschlag der Europäischen Kommission.
({9})
Daneben müssen wir die Frage stellen: Was ist jetzt für
die Finanzmärkte das Wichtigste? Da wurde vom Kollegen Flosbach lange darüber diskutiert, wer alles schuld
gewesen sein könnte. Da wird häufig Nebel verbreitet, indem gesagt wird, alles sei superkomplex. Ich finde, es ist
notwendig, dass wir uns der Prioritäten bewusst sind und
schauen, was die wichtigsten Aspekte sind, die wir angehen müssen, um unsere Banken stabiler zu machen, damit
eine solche Krise nicht mehr eintritt. Es gibt viele Punkte;
aber ein wichtiger Punkt ist - das zeigt auch die Wissenschaft immer deutlicher -: Wir müssen unsere Banken
mit mehr Eigenkapital ausstatten,
({10})
und zwar nicht nur risikogewichtet. Vielmehr brauchen
wir eine Schuldenbremse für Banken.
Man muss sich das einmal vorstellen: Bevor eine
Bank einem Unternehmen Geld leiht, will sie eine entsprechende Eigenkapitalquote sehen; sie will, dass dieses Unternehmen stabil wirtschaftet. Wenn es aber um
die Bank selber geht, meint man, man könne auch weniger als 3,3 Prozent eigenes Kapital haben, um seine
Geschäfte zu finanzieren. Ich halte es für keine seriöse
Geschäftspolitik, wenn Banken eine so geringe Eigenkapitalquote aufweisen. Ich glaube, wir müssen hier verstärkt einen Schwerpunkt setzen: Unsere Banken müssen
gut mit Eigenkapital ausgestattet sein.
Ich fordere die Bundesregierung auf, an dieser Stelle
endlich von der Bremse zu gehen und sich in Brüssel
nicht für eine Verwässerung, sondern für eine Verschärfung der Bankenregulierung einzusetzen und das zentrale Instrument einer Schuldenbremse für Banken endlich aktiv voranzutreiben, damit eine solche Krise nicht
noch einmal eintritt. Tun Sie etwas in diese Richtung!
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Dr. Schick. - Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Hans
Michelbach. Bitte schön, Kollege Michelbach.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach der Finanzmarktkrise im Herbst 2008
haben wir alle Anstrengungen unternommen, um unsere
Finanzmärkte besser und sicherer zu gestalten. Deutschland hat diese globale Krise schneller und erfolgreicher
überwunden als erwartet. Wir erhalten für unsere Krisenbewältigung international hohe Anerkennung und Zustimmung. Das ist ein Fakt.
In diesem Sinne war gestern ein guter Tag für die
Finanzmärkte, einerseits, weil das griechische Parlament
Verantwortung gezeigt und das Sparpaket beschlossen
hat, andererseits, weil unsere Fraktion alle für den Finanzmarkt wesentlich Verantwortlichen in unserem Saal
versammeln konnte, um dort über die Schwerpunkte der
Finanzmarktregulierung zu debattieren. Das war ein guter Tag für unsere Finanzmärkte.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Vorstände unserer
großen systemischen Banken auf dieser Veranstaltung
erstmals deutlich erklärt haben, dass sie bereit sind, hinsichtlich der Staatsanleihen Verantwortung zu übernehmen, und eine Gläubigerbeteiligung in Aussicht gestellt
haben. Es ist wichtig, dass Verantwortung übernommen
wird; denn das Wichtigste ist, dass neues Vertrauen geschaffen wird.
({0})
Es muss klar sein, dass sich diese Koalition bei der
Krisenbewältigung von niemandem übertreffen lässt,
schon gar nicht von der Opposition. Der wirtschaftliche
Aufschwung ist gelungen. Natürlich braucht man für einen wirtschaftlichen Aufschwung und die Schaffung
neuer Arbeitsplätze private Banken, die bereit sind, Risiken zu übernehmen. Dies ist die Grundlage unserer sozialen Marktwirtschaft.
({1})
Dieser wirtschaftliche Aufschwung ist unser Aufschwung. Ich weiß, dass dies der Opposition nicht gefällt. Deshalb stellen Sie wöchentlich neue Schaufensteranträge, die viel Populismus enthalten und in denen Sie
den Teufel an die Wand malen und Verunsicherung verbreiten. Sie erfinden neue Abkassiermodelle und propagieren - das hat heute insbesondere Frau Wagenknecht
getan - Ihre Feindbilder. Wir brauchen aber keine Feindbilder. Wir brauchen zusätzliche Investitionen und neue
Arbeitsplätze. Wir haben uns vorgenommen: über
1 Million weniger Arbeitslose in Deutschland. Das ist,
was letzten Endes zählt.
({2})
Wir wollen den Finanzmarkt solider und widerstandsfähiger machen und alle Produkte und Marktteilnehmer
strikt regulieren. Das muss das Hauptziel sein. Wir verharmlosen nichts. Wir setzen vielmehr ethische Maßstäbe. Bei der Finanzmarktregulierung haben wir es natürlich - das muss man sehen - mit einer wichtigen und
auch schwierigen Abwägung zu tun. Es geht um erfolgversprechende Regeln zwischen Staat und Markt. Diese
Aufgabe gehen wir sehr verantwortungsbewusst an. Es
geht aber auch um Wohlstand und Zukunftschancen. Das
gehört zusammen; das kann man in einer freien sozialen
Marktwirtschaft nicht voneinander trennen.
Von den Grünen wird mit der Vermögensabgabe ein
Abkassiermodell als Patentrezept in den Raum gestellt.
Man muss sich doch einmal fragen, ob das international
Konsens ist. Es ist doch völlig falsch, sich auf nationaler
Ebene ständig neue Steuern einfallen zu lassen, die international umgangen werden können. Letzten Endes haben Sie dann nur Ihre Feindbilder propagiert. Das ist
doch der Punkt. Das dient der Allgemeinheit nicht. Das
bringt keine neuen Investitionen und schafft keine neuen
Arbeitsplätze. Deswegen sage ich: Lassen Sie diese
Spielchen. Lassen Sie diese Abkassiermodelle auf nationaler Ebene.
({3})
Schlimm ist, dass die Opposition die deutschen Banken dafür geißelt, dass sie wieder Gewinne erwirtschaften. Diese Gewinne sollen, so die Opposition, möglichst
schnell wegbesteuert werden. Das ist Ihre Philosophie.
Das ist aber nicht unsere Philosophie, weil es hinsichtlich Investitionen und Arbeitsplätzen absolut kontraproduktiv ist. Das dient unserer Wirtschaft und dem Standort Deutschland nicht. Das würde der Gesundung des
Finanzmarktes und der Umsetzung einer höheren Eigenkapitalquote, die Basel III vorsieht, entgegenstehen. Das
ist der Punkt: Wir müssen den Banken gönnen, dass sie
Gewinne erwirtschaften. Dann können sie eine hohe Sicherheit durch eine angemessene Eigenkapitalquote gewährleisten.
Die zentrale Lehre aus der Finanzmarktkrise muss
sein, dass wir vor allem eine stärkere und effizientere
Regulierung der Finanzmärkte brauchen. Wir brauchen
klare Restrukturierungsverfahren in Europa, mehr
Rechte der BaFin, eine klare Finanzaufsicht in der EU
sowie Transparenz und Sicherheit. In diesem Zusammenhang muss natürlich auch neues Vertrauen entstehen. Es zerstört sicher die gesellschaftliche Akzeptanz
unserer Marktwirtschaft, wenn die Gewinne privatisiert
werden und die Verluste auf Dauer der Steuerzahler tragen soll. Aber dem haben wir einen Riegel vorgeschoben.
Bei unseren Entscheidungen geht es nicht um kosmetische Reparaturen, sondern wir haben ganz konkrete
Maßnahmen getroffen. Das Restrukturierungsgesetz, die
Eigenkapitalunterlegung im Rahmen von Basel III, die
Regelungen zu den Leerverkäufen und die Regelung
zum Rating - all das sind wesentliche Schritte in die
richtige Richtung. Wir müssen deutlich machen, dass
wir bei der Bankenabgabe eine gute Abwägung getroffen haben. Wir haben sie hier im Deutschen Bundestag
beschlossen. In der nächsten Woche werden wir zusammen mit dem Bundesrat eine Lösung finden, damit sie
auch dort beschlossen wird. Dann haben wir auch auf
diesem Gebiet einen wesentlichen Schritt getan.
Ich glaube, wir müssen uns auch mit der möglichen
Einführung einer Finanztransaktionsteuer offensiv auseinandersetzen. Zuerst muss man sich aber fragen, welche Lenkungswirkung solch eine Steuer haben kann.
Ohne zu wissen, wie sich diese neue Steuer auswirken
würde, kann man sie nicht verantwortungsbewusst beschließen. Wir dürfen zum Schluss nicht die Situation
haben, dass nur der Bankkunde oder der Verbraucher auf
nationaler Ebene sie zahlt. Das muss international abgestimmt sein; hier muss eine internationale Lösung gefunden werden. Denn es kann nicht so sein, dass der Bankkunde vor Ort, der nicht die Möglichkeit hat,
internationale Bankgeschäfte zu tätigen, am Ende der
Dumme ist.
Es ist ganz wichtig, dass wir dem Kommissar, der im
Finanzausschuss war, Glauben schenken. Er hat deutlich
gesagt: Es ist unverantwortlich, eine Bewertung vorzunehmen, wenn keine unvoreingenommene Prüfung hinsichtlich einer positiven Lenkungsfunktion durch die
EU-Kommission vorliegt. Warten wir ab, bis es konkrete
Ergebnisse gibt.
({4})
Dann können wir eine klare Entscheidung treffen. Es
geht um sachliche Bewertungen, um Lenkungswirkungen,
({5})
um eine seriöse Entscheidung und um verantwortliche
Politik.
({6})
Es geht aber nicht um ideologische Feindbilder und Entschließungen, die Sie immer wieder mit diesen Abkassiermodellen hier vortragen.
Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger haben verstanden, dass wir die Dinge gut abwägen und vernünftig
voranbringen. Es geht darum, auch den wirtschaftlichen
Erfolg, den Erfolg für unseren Wirtschaftsstandort, den
Erfolg für die Arbeitsplätze, den Erfolg für die Investitionen in Verbindung mit der privaten Finanzwirtschaft
sicherzustellen. Das gelingt immer besser. Darauf können wir gemeinsam stolz sein.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Sieling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist heute wieder eine ganz „große“ Debatte über Bankenregulierung, Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise
usw. Ab und zu wird man von Bürgerinnen und Bürgern
darauf angesprochen, dass der Deutsche Bundestag
manchmal wie ein Raumschiff wirkt. Leider bestätigen
Debatten wie diese das deutlich. Ich muss das auch in
Richtung der Koalition sagen.
Sie haben gestern angefangen, das Raumschiff mit
Captain Kirk, Mr. Spock und allen möglichen anderen zu
besetzen. Mit Ihrer großartig inszenierten Konferenz haben Sie versucht, das alles, was Sie bisher nicht geleistet
haben, als Erfolg darzustellen. Das war schon gestern lächerlich. Man lädt einen Herrn Ackermann ein. Von dem
lässt man sich ein bisschen kritisieren, um seine eigenen
Maßnahmen gut darstellen zu können. So macht man
das. Die Debatte heute zeigt, dass Sie völlig abgehoben
sind. Sie haben bisher nichts richtig Wirksames auf den
Weg gebracht. Die Verursacher werden nicht herangezogen.
({0})
Dabei haben wir doch die Gefahren der Krise noch
lange, lange nicht abgewehrt. Das ist eine Tatsache. Darum entgleist diese Debatte hier und heute auch.
({1})
- Ich sage es Ihnen auch konkret. Sie reden hier schön
und machen woanders die Dinge schlecht. Darf ich Ihnen ein ganz aktuelles Beispiel nennen? In schwierigen
Beratungen - immerhin unter tätiger Mithilfe der Bundesregierung - wurde erreicht, eine Lösung für die
WestLB zu finden. Was machen die Vertreter von FDP
und CDU heute im Landtag von Nordrhein-Westfalen?
Sie stimmen dagegen.
({2})
- Wenn Sie sich in dieser Frage mit der Linken in ein
Boot setzen, ist das eher Ihr als unser Problem.
({3})
Ich finde es unverantwortlich, was Sie an dieser Stelle
machen.
({4})
- Die Aufregung in Ihren Reihen spricht Bände. Dazu
muss ich gar nichts mehr sagen.
({5})
Sie sind in der Verantwortung, jetzt zu zeigen, wie Sie
das vom Eis bekommen wollen.
({6})
Genauso verhält es sich mit Ihrer sogenannten Bankenabgabe. Herr Michelbach bläst hier einen Ballon auf,
indem er sagt, es gebe Leute, die den Banken ihre Gewinne neiden. Nein, nein, ganz und gar nicht. Nur ist es
so: Die Gewinne der Banken von heute sind die Folge
der Bankenrettung von 2008, die im Übrigen unter der
Regie von Peer Steinbrück stattfand. Darum machen die
Banken heute wieder Gewinne. Wir sagen: Auch sie
müssen wirksam zur Finanzierung der Lasten herangezogen werden. Das darf nicht weiter dem Steuerzahler
aufgebürdet werden. Auch darum geht es an dieser
Stelle.
({7})
- Ich bin konkret, Herr Kollege. Ich bin deshalb konkret,
weil die Bankenabgabe, die Sie vorschlagen, in keiner
Weise diesem Ziel entspricht. Sie entspricht nicht Ihrem
selbstgesetzten Ziel; denn Sie sagen, das sei eine Versicherungslösung für die Zukunft. Wahrscheinlich gilt sie
- das wissen Sie auch - im Hinblick auf das Jahr 2098.
Sie brauchen für diesen Fonds 70 Milliarden Euro. In
diesem Jahr werden Sie, wenn Sie es überhaupt noch auf
die Reihe bekommen, vielleicht 600 Millionen Euro erreichen. Ihr selbst gesetztes Ziel erreichen Sie nicht.
Das, was Sie an dieser Stelle vorschlagen, ist keine Beteiligung des Finanzsektors an den Lasten der Krise.
({8})
- Wir haben Gott sei Dank über den Bundesrat zumindest einige Initiativen zur Verbesserung angeregt. Diese
Initiativen haben wir als sozialdemokratische Fraktion
- das gilt auch für die anderen Oppositionsfraktionen;
die Grünen gehen auf jeden Fall in die gleiche Richtung
- auch in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das haben wir getan, um die geplante Bankenabgabe wenigstens ein wenig wirksamer zu machen und zu verhindern,
dass sie angesichts der unzureichenden Heranziehung
der Gewinne eine Großbankenverschonungsregelung
wird.
({9})
Deshalb haben wir einen Satz von 25 Prozent vorgeschlagen.
({10})
Der Bundesrat bzw. die Finanzminister haben sich zumindest schon auf 18 Prozent hochbewegt. Das ist ein
Schritt in die richtige Richtung.
Wir haben Vorschläge gemacht. Auch diese haben die
Finanzminister im Bundesrat einstimmig beschlossen.
Dabei ging es darum, im Bereich der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken eine Entlastung zu erreichen.
Derivate und anderes sollten stärker herangezogen werden. Das ist - besonders weil die FDP da Gott sei Dank
nicht viel mitzureden hat, in Hessen aber schon - ein
Problem insbesondere der CDU. Denn Herr
Fahrenschon von der CSU und Carsten Kühl, der Finanzminister von Rheinland-Pfalz, haben diesen Kompromiss ausgehandelt.
Ihre Leute im Bundesrat haben da wieder blockiert.
Das führte dazu, dass selbst diese lächerlich kleine Bankenabgabe bislang nicht eingeführt werden konnte. Sie
müssen sich bewegen, meine Damen und Herren. Wir
helfen Ihnen selbst bei dieser kleinen Nummer.
({11})
Erstens machen Sie also bei der WestLB das kaputt,
was Sie vorher aufgebaut haben. Zweitens machen Sie
aus der Bankenabgabe nichts Ordentliches. Drittens lassen Sie - wir haben dazu gerade schon den Chefblockierer Wissing von der FDP gehört - auch bei der Finanztransaktionsteuer alle im Regen stehen. Merken Sie
eigentlich nicht, dass Sie in dieser Frage in Europa die
letzten Mohikaner sind?
({12})
- Natürlich sind Sie die letzten Mohikaner. - Herr
Wissing hat die Bundesregierung bzw. Herrn Schäuble
scheinheilig gelobt. Gleichzeitig hat man aber gesagt:
Wir stimmen nicht zu. - Vor einigen Tagen haben wir
über einen Antrag zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer diskutiert. Sie, Herr Michelbach, haben ihn einen Schaufensterantrag genannt. Ihre Leute im französischen Parlament, die UMP, haben dem Inhalt dieses
Antrags mittlerweile zugestimmt. Die Fraktion von
Herrn Sarkozy unterstützt dieses Anliegen, weil sie
weiß, dass dies keine Schaufensterangelegenheit ist.
({13})
Wie weit sind wir bis jetzt? Selbst Berlusconi in Italien - mit dem Sie sehr viel zu tun haben, wir überhaupt
nichts - spricht sich inzwischen für eine Finanztransaktionsteuer aus.
({14})
Barroso und die EU-Kommission sind schon genannt
worden.
({15})
Der Zug fährt, und alle marschieren voran. Aber CDU
und CSU lassen sich von der FDP am Nasenring durch
den Deutschen Bundestag ziehen und bekommen es
nicht hin, dieses wirklich wirkungsvolle Mittel auf den
Weg zu bringen.
({16})
Zum Schluss möchte ich die nachfolgenden Redner
bitten, nicht wieder das Märchen zu erzählen, wir seien
der Auffassung, dass man damit alle Finanzkrisen dieser
Welt, so auch die letzte, hätte verhindern können. Natürlich nicht!
({17})
Das sagt niemand. Die Finanztransaktionsteuer ist ein
Element, das dazu beitragen kann, dass die Blase an den
Märkten ein bisschen schrumpft. Außerdem kann sie dafür sorgen, dass Geld, das wir dringend benötigen, um
Steuergelder zu schonen, in die öffentlichen Haushalte
fließt und dass die Schuldigen an der Finanzierung der
Folgen dieser Krise beteiligt werden. Darum geht es.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Björn Sänger. Bitte schön,
Kollege Björn Sänger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag zeigt eines ganz deutlich:
dass es sehr schwierig ist, aus einem guten Tee mit einem zweiten Aufguss noch ein schmackhaftes Getränk
zu machen.
({0})
Bei schlechtem Tee und mehrfachem Aufguss wird es
schier unerträglich. Nichts anderes ist Ihr Antrag. Er
wurde aus - gefühlt - mindestens fünf Anträgen, die uns
bisher von den Linken zu diesem Thema und ähnlichen
Themen vorgelegt wurden, schnell zusammengeschustert. Dies zeigt eines ganz deutlich: dass Copy and Paste
nichts bringt, wenn man von der Sache nichts versteht.
({1})
- Ich weiß, Herr Kollege Troost, Sie kommen nach mir.
Dann können Sie darauf eingehen. Ich freue mich schon
darauf.
Frau Kollegin Wagenknecht, die Tatsache, dass Sie
die drei Seiten Ihres Antrags in einen Zusammenhang
mit der sozialen Marktwirtschaft gestellt haben, zeigt
auch ganz deutlich, dass Sie von der sozialen Marktwirtschaft nichts verstehen.
({2})
Wie denn auch? Soziale Marktwirtschaft gedeiht in einem Klima der gesellschaftlichen Freiheit. Von Freiheit
haben Sie und Ihre Partei nun wirklich keine Ahnung.
({3})
Das ist in etwa so, als würde der Papst im kommenden
September, wenn er von diesem Pult zu uns sprechen
wird, eine Grundsatzrede über das Kinderkriegen halten.
({4})
Sie möchten die Verursacher der Krise zur Rechenschaft ziehen. Dabei beschäftigen Sie sich mit der Deutschen Bank. Das ist legitim. Auch ich bin kein ausgewiesener Freund der Deutschen Bank. Aber ich stelle fest,
dass die Deutsche Bank während der gesamten Krise
keine Staatshilfe in Anspruch genommen hat. Ich stelle
allerdings auch fest, dass es sicherlich fragwürdige Praktiken, die juristisch aufgearbeitet werden, gegeben hat
und gibt.
Ich sage Ihnen: Es gehören immer zwei dazu. Es gehört jemand dazu, der jemand anderen über den Tisch
ziehen und ein unsauberes Geschäft abschließen will.
Aber es gehören auch Leute dazu, die sich über den
Tisch ziehen lassen. Damit sind wir bei den Landesbanken und den Sparkassen, die laut Ihrem Antrag mit der
Krise nichts zu tun haben. Die Landesbanken gehören
aber mehrheitlich den Sparkassen, und die Sparkassenvorstände sitzen in den jeweiligen Verwaltungs- und
Aufsichtsräten; auch dies gehört zur sozialen Marktwirtschaft.
Wenn man in einem Aufsichtsgremium sitzt, kann
man sich auf zweierlei Weise verhalten: Man kann das
tun, was man tun soll, nämlich die Aufsicht führen, oder
man kann sich bei Schnittchen Anekdoten über die
Kommunalpolitiker, die im Aufsichtsgremium der eigenen Sparkasse sitzen, erzählen. Möglicherweise ist an
der einen oder anderen Stelle die Priorität ein bisschen
verschoben worden. Deswegen sind die Landesbanken
auch in die jetzige Situation geraten.
Sie schimpfen des Weiteren auf die Großbanken; auch
das ist nichts Neues. Lehman und die IKB waren aber
keine wirklich großen Banken. Sie möchten mithilfe einer neuen Bankenabgabe, der dann durch zukünftige
Anträge eine Bankenabgabe 2.0 bzw. eine Bankenab13432
gabe reloaded folgen werden, eine Prävention für künftige Krisen schaffen. Ich weiß nicht, wie das, was Sie
jetzt planen - mit der Frage der Verfassungsrechtlichkeit
will ich mich schon gar nicht beschäftigen -, funktionieren soll. Sie wollen eine Abgabe auf die Bilanzsumme,
und zwar unabhängig davon, ob das Institut Gewinn
macht oder nicht. Das kann man machen. Es ist aber
nicht sinnvoll, wenn man zukünftigen Krisen vorbeugen
will. Ein verantwortlicher Bankmanager muss den Gewinn verwenden, um Eigenkapital aufzubauen. Eine vernünftige Eigenkapitalbasis ist der richtige Ansatz. Eine
Substanzbesteuerung - nichts anderes wäre das - führt
mit Sicherheit dazu, dass die Banken nicht gut für eine
nächste Krise gerüstet sind. Deshalb ist die Bankenabgabe in der Form, wie sie die schwarz-gelbe Bundesregierung bzw. die schwarz-gelbe Koalition beschlossen
hat, der richtige Ansatz. Denn es wird ein Fonds geschaffen, der im Bedarfsfall bei der Restrukturierung
hilft.
Es hilft nichts, die Gewinnerzielungsabsicht der Branche zu geißeln. Wer soll denn den Industriestandort
Deutschland finanzieren, wenn wir keine großen Banken
und keine Privatbanken mehr haben? Bei allem Respekt
vor der Leistungsfähigkeit unserer Sparkassen und Genossenschaftsbanken: Diese Banken allein werden diese
große Aufgabe in unserem Land nicht schultern können.
Dafür sind die zu bewegenden Volumina schlichtweg
viel zu groß. Diesen Bankensektor zu zerschlagen, bedeutet, die Axt an die Industriearbeitsplätze zu legen, die
uns gut durch die Krise geführt haben. Das werden wir
Ihnen als Regierungskoalition nicht durchgehen lassen.
({5})
Ich fasse zusammen: Was Sie hier vorhaben, ist nichts
anderes als ein Karnevalsumzug durch den Wald, insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Kapital bzw. die Banken relativ scheue Rehe sind. Sie haben schlichtweg - das hat sich sehr deutlich gezeigt eine vollkommen andere Vorstellung davon, wie die
Wirtschaftsordnung in diesem Land gestaltet werden
sollte. Ihre Vorstellung von einer Bankenabgabe ist, unsere Banken ans Ausland abzugeben. Das wollen wir
ausdrücklich nicht. Deswegen werden wir dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Axel Troost.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Kollegin Wagenknecht hat darauf hingewiesen,
dass die Staatsverschuldung durch die Bankenkrise, statistisch gesehen, um 300 Milliarden Euro angestiegen
ist. Daraufhin wurde gesagt: Ja, das ist, statistisch gesehen, richtig. In dieser Summe sind aber auch viele Bürgschaften enthalten. - Herr Kollege Schick hat gesagt,
dass die Bankenabgabe nicht rückwirkend, sondern nach
vorne ausgerichtet werden muss.
Reden wir doch einmal konkret nach vorne ausgerichtet darüber, was jetzt passiert. Reden wir doch einmal
über die ehemalige private Hypo Real Estate. Das war
ein privates Unternehmen, das unter großem Druck verstaatlicht werden musste. An dieser Bank hängt bzw.
schlummert eine Bad Bank in einer Größenordnung von
173 Milliarden Euro.
({0})
Das betrifft die Zukunft, wohlgemerkt. Seien wir einmal
optimistisch - ich bin von Natur aus Optimist - und gehen davon aus, dass noch 90 Prozent der faulen und
schwierigen Papiere - sonst wäre es keine Bad Bank realisiert werden können. Es bleiben also nur 10 Prozent
übrig. 10 Prozent sind 17,3 Milliarden Euro. Diese
Summe wird anschließend in vollem Umfang als Staatsverschuldung auf den Bund zukommen. Das ist eine
Größenordnung, mit der man die Kinderversorgungseinrichtungen in der gesamten Bundesrepublik auf einem
hohen Niveau finanzieren könnte. Das gilt sowohl für
Investitionen als auch für die Betreuung.
Da stellt sich in der Tat die Frage: Wer soll das bezahlen? Fließt das stillschweigend Jahr für Jahr in 2-, 3oder 5-Milliarden-Schritten in den öffentlichen Haushalt
hinein, oder wollen wir die Verursacher der Krise heranziehen?
Ich war gestern auf dem Kongress der CDU/CSUBundestagsfraktion, den ich übrigens besser fand, als
manche hier behauptet haben. Herr Ackermann hat in
der Tat darauf hingewiesen, dass die Deutsche Bank,
wenn es sehr schlecht läuft, im Rahmen der jetzt geplanten Bankenabgabe mit bis zu 800 Millionen Euro betroffen wäre. Er hat darauf hingewiesen, dass das vor Steuern 1,5 Milliarden Euro wären. Bei einer solchen
Summe bekommt man erst einmal einen Schreck. Wenn
man aber weiß, dass die Deutsche Bank in diesem Jahr
einen Gewinn von 10 Milliarden Euro vor Steuern machen will, dann stellt man fest: Das sind gerade einmal
15 Prozent.
({1})
- Nein, wohlgemerkt, aus den 800 Millionen Euro werden 1,5 Milliarden Euro vor Steuern.
Ich bin nicht nur Optimist, sondern auch kompromissbereit und schlage vor: Stellen wir doch durch eine andere Form einer Bankenabgabe sicher, dass die Deutsche
Bank Jahr für Jahr mindestens 3 Milliarden Euro in einen Fonds einbezahlt. Vor Steuern sind das rund
5 Milliarden Euro. Das sind dann 50 Prozent ihres Gewinns, 50 Prozent sozusagen für die Allgemeinheit, damit die Kosten, die durch die Bankenkrise verursacht
wurden, abgedeckt werden können, und 50 Prozent, die
man dann, neben der Körperschaftsteuer, an die Aktionäre ausschütten kann.
({2})
Das ist die politische Frage, um die es letztlich geht.
({3})
Es geht nicht um eine, wie Herr Kollege Wissing gesagt hat, juristische Verurteilung. Das Juristische wird
unter anderem in den USA geprüft. Vielmehr geht es darum, politisch und ökonomisch die Verantwortung der
Banken für diese Krise und die dadurch entstandenen
Kosten deutlich zu machen. Die Deutsche Bank gehört
nun einmal zu denen, die von der gesamten Deregulierung der letzten Jahrzehnte mit Abstand am meisten - es
sind Dutzende Milliarden - profitiert hat. Deswegen sind
wir der Meinung, dass hier Veränderungen stattfinden
müssen. Mit einer anderen Form einer Bankenabgabe
könnte endlich realisiert werden, dass die privaten Banken - und in erheblichem Maße die Deutsche Bank - in
die Finanzierung eingebunden werden.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss auf die Finanztransaktionsteuer eingehen. In der Tat ist zwischen gestern und
heute einiges passiert, sowohl was Italien - man will angeblich sofort, noch für 2012 wirksam, eine Börsenumsatzsteuer oder eine Finanztransaktionsteuer einführen als auch was den Vorschlag von Barroso angeht. Ich
finde, wir müssen dieses Thema verfolgen und von dieser Stelle aus unterstützen.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
der Kollege Dr. Frank Steffel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Sänger, auch wenn ich Ihren Vergleich zwischen dem
Papst und dem Kinderkriegen und Frau Wagenknecht
und der Marktwirtschaft nicht ganz verstanden habe, ist
meine Präferenz klar: Mir ist lieber, der Papst sagt etwas
zum Kinderkriegen als Frau Wagenknecht zur Marktwirtschaft.
({0})
Ich interpretiere das einmal in diese Richtung.
Der Kollege Zöllmer von der SPD hat sich sehr zutreffend zum Thema „Motive der Linken für diesen Antrag“ geäußert. Insofern muss ich das nicht noch einmal
wiederholen. Zur Sache selbst haben meine Kollegen
Flosbach und Michelbach viel Richtiges und auch das
Notwendige gesagt.
Weil die Debatte immer etwas verkürzt geführt wird
und daher in die falsche Richtung läuft, möchte ich aus
Sicht von CDU/CSU klar sagen: Wir setzen uns für eine
Bankenabgabe ein. Wir sind sehr zuversichtlich, dass
wir in der nächsten Woche im Bundesrat eine Bankenabgabe beschließen werden. Aber es gibt offensichtlich einen Grunddissens. Wir wollen eine Bankenabgabe als
Schutzschirm für die Zukunft und nicht als primäre
Strafe für Geschehnisse in der Vergangenheit, deren Ursprung wir ohnehin nicht verlässlich zuordnen können.
Dazu ist in der Debatte eine Menge gesagt worden.
Uns geht es bei der Bankenabgabe nicht um Abkassieren oder gar um eine Verstaatlichung der großen Banken - auch das wurde schon beantragt -, sondern uns
geht es darum, in der Zukunft Risiken von den deutschen
Banken und vom deutschen Steuerzahler fernzuhalten.
Das muss das wesentliche Motiv sein; denn in einem
sind wir uns doch einig: Was wir in den letzten zwei,
drei Jahren auf dieser Welt, in Europa und in Deutschland erlebt haben, darf und soll sich nicht wiederholen.
Die Politik muss aus den Geschehnissen der Vergangenheit alle notwendigen Konsequenzen ziehen: zum
Schutze der Bankkunden, zum Schutze der Bankanteilseigner, nämlich vieler Millionen Kleinaktionäre, zum
Schutze des deutschen Mittelstandes, zum Schutze der
Bundesrepublik Deutschland, des Steuerzahlers und aller, die dazu gehören, und nicht zum Schutze der Banken, wie immer behauptet wird.
Die Banken erfüllen in einer sozialen Marktwirtschaft
eine wesentliche, existenzielle Funktion. Das kann doch
niemand ernsthaft bestreiten. Deswegen ist natürlich der
Eindruck verheerend, der hier von Ihnen erweckt wird,
wonach es in diesem Prozess in den letzten Jahren dazu
gekommen ist, dass die Banken gar nichts bezahlen,
während die kleinen Leute die Zeche begleichen.
Dieser Eindruck ist übrigens aus zwei Gründen verheerend: Zum einen - das werden Sie verstehen - ärgert
mich das politisch. Es nutzt Ihnen natürlich, wenn Sie
den Eindruck erwecken: Die Großen lässt man laufen,
und die Kleinen hängt man. Dieser Eindruck hilft Ihnen
natürlich politisch, während er allen anderen Fraktionen
in diesem Parlament schadet. Zum anderen ärgert mich
das aber auch gesellschaftspolitisch; denn es ist verheerend, wenn die Menschen in Deutschland das Gefühl haben, hier könnten irgendwelche Menschen in den Konzernen machen, was sie wollen, während sich die Politik
überhaupt nicht darum kümmert.
({1})
Deswegen will ich Ihre Frage, wer die Zeche bezahlt,
klar beantworten. Zur Wahrheit gehört: Die Zeche dieser
Finanzkrise zahlen alle Menschen in Deutschland. Das
ist übrigens genauso wie bei der Atompolitik. Den Preis
für den Ausstieg aus der Atomenergie zahlen auch alle
Menschen in Deutschland. So wie wir es in unserer sozialen Marktwirtschaft immer halten, tragen die starken
Schultern wesentlich mehr als die schwächeren. Darauf
legen wir als eine - ich sage jetzt nicht: als die letzte 13434
verbliebene Volkspartei in diesem Parlament auch ausdrücklich großen Wert.
({2})
Liebe Frau Paus, ich kann Ihnen dazu zwei Zahlen
nennen:
({3})
5 Prozent der deutschen Steuerzahler zahlen 42 Prozent
des Lohn- und Einkommensteueraufkommens. 50 Prozent der deutschen Steuerzahler zahlen 95 Prozent. Die
unteren 50 Prozent der Einkommen all derer, die fleißig
arbeiten, sind von Steuern so gut wie überhaupt nicht betroffen. Sozialer geht es nicht.
({4})
Deswegen ist es auch richtig, dass dem Eindruck widersprochen wird, die Kleinen zahlten die Zeche. Nein, in
Deutschland tragen starke Schultern mehr als schwache.
Das ist auch richtig, und das braucht diese soziale
Marktwirtschaft auch.
({5})
Ich will Ihnen im Übrigen noch einen Hinweis geben:
Ich kann es schon gar nicht mehr wiederholen, weil es
immer wieder gesagt wird, aber Sie erwecken den Eindruck, als ob die Finanzmärkte der Welt in Deutschland
zu regeln wären. Lieber Herr Troost, Sie haben viel zu
viel Ahnung von diesem Thema, um nicht zu wissen,
dass es unter den Top-100-Banken dieser Erde nur noch
eine deutsche Bank gibt. 99 von 100 Banken, die auf
dieser Erde wirklich eine große Rolle spielen, haben ihren Sitz überhaupt nicht in Deutschland. Wir führen also
Phantomdiskussionen, wenn wir glauben, mit dieser Debatte könnten wir das Monster Finanzmarkt zähmen.
Das werden wir damit nicht zähmen können.
Wir unterstützen Bundesfinanzminister Schäuble und
die Bundeskanzlerin ausdrücklich bei ihrem Bestreben,
auf internationaler Ebene im Rahmen der G 20 oder auf
europäischer Ebene die Finanztransaktionsteuer einzuführen. Ich will es noch einmal sehr klar sagen - wir haben das vor drei Wochen hier diskutiert -: Wir sind dafür, auf internationaler Ebene diejenigen für die Kosten
der Krise aufkommen zu lassen, die zumindest eine
große Mitverantwortung tragen. Kollege Flosbach hat
darauf hingewiesen: Es gibt nun wirklich sehr viele Facetten und damit auch sehr viele Verantwortliche, durch
die diese katastrophale Situation in den letzten Jahren
verursacht wurde.
Ich will noch ein Wort zur Deregulierung sagen. Wir
müssen heute gemeinsam attestieren, dass in den letzten
20 Jahren Deregulierung im Vordergrund der Politik
stand. Wir alle glaubten, wir täten unseren Bürgern, der
Gesellschaft, dem deutschen Mittelstand, den deutschen
Banken, den deutschen Konzernen und der europäischen
Wirtschaft insgesamt einen Gefallen, wenn wir in einen
Deregulierungswettlauf mit Amerika, mit Asien insgesamt, mit Russland, Indien und vielen anderen eintreten
würden. Wir müssen heute gemeinsam attestieren: Dieser Weg war falsch.
Es ist an der Zeit, mehr über Regulierung als Primat
der Politik zu reden und auf internationaler Ebene insbesondere im Finanzbereich den Pegel zwischen Deregulierung und Regulierung möglichst wieder ein Stückchen
mehr in Richtung Regulierung, staatliche Aufsicht, zu
schieben.
({6})
Das war im Übrigen - Herr Troost, ich bin Ihnen sehr
dankbar für Ihren Hinweis - eine der wesentlichen Erkenntnisse - ich möchte fast von unisono sprechen gestern auf der, wie ich fand, außerordentlich interessanten Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({7})
Wenn es eine Gesellschaftsordnung gibt, die in der
Lage ist, das zu tun, dann ist dies unsere soziale Marktwirtschaft. Sie hat sich als anpassungsfähig und lernfähig erwiesen, und zwar im Gegensatz zu Staatsdoktrinen, ob Kommunismus, Neoliberalismus, Sozialismus,
wie immer sie auch heißen. Eine Erkenntnis der Krise ist
zumindest für mich: Die Zeit der Ideologien ist vorbei.
Das mag mancher bedauern; bei Ihnen, Frau Wagenknecht,
habe ich diesen Eindruck.
Die Menschen erwarten von uns zu Recht, dass wir
das richtige Maß zwischen Allmacht des Staates und
Allmacht des Marktes finden. Ich sage für die CDU/
CSU: Wir wollen beides nicht.
({8})
Im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft muss man in
vielen Einzelbereichen abwägen: Wo ist die Allmacht
des Staates möglicherweise schädlich, und wo ist die
Allmacht des Marktes alles andere als hilfreich? Die soziale Marktwirtschaft setzt auf einen starken Staat, aber
trotzdem auf Freiheit, um Wohlstand zu schaffen. Sie
verbindet soziale Sicherheit mit Freiheit. Deswegen wollen wir einen starken Staat als Hüter unserer Ordnung.
Wir haben in dieser Legislaturperiode - ich habe das
einmal nachsehen lassen - das 46. Mal hier im Deutschen Bundestag über eine Bankenabgabe und die Finanztransaktionsteuer gesprochen. Das ging zumeist auf
Ihre Anträge zurück, im Finanzausschuss unzählige
Male. Auch heute habe ich den Eindruck: Wir haben uns
zwar alle bemüht, aber etwas richtig Neues, mit Verlaub,
liebe Kolleginnen und Kollegen, hat zu diesem Thema
keiner mehr zu sagen. Es gilt der alte Satz - deswegen
schöpfe ich meine Redezeit auch nicht aus -: Es ist alles
gesagt, nur nicht von jedem.
Ich wünsche einen schönen Nachmittag.
({9})
Kollege Dr. Steffel, jetzt geben wir aber schon noch
der Frau Kollegin Nicolette Kressl das Wort. - Bitte
schön, Frau Kollegin.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich gehe davon aus,
dass Herr Steffel seine restliche Redezeit nicht mir übertragen hat.
({0})
- Dann kann man ja vielleicht darüber verhandeln.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte heute kann schon ein Anlass sein,
eine Analyse darüber zu machen, inwieweit die Bankenabgabe, wie sie von der Bundesregierung vorgeschlagen
worden ist, tatsächlich die richtige Antwort auf die Fragen ist, die die Finanzmarktkrise uns aufgegeben hat.
Ich rekapituliere, dass die Bundeskanzlerin von dieser
Stelle aus zum Thema Bankenabgabe gesagt hat - sie hat
dies noch nicht widerrufen -, die Bankenabgabe sorge
dafür, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in
Zukunft nicht mehr durch die Kosten einer solchen Krise
belastet werden. Hier müssen wir konstatieren: Das war
nicht richtig, und das ist nicht richtig. Ich finde, es wäre
Zeit, diese Aussage zu widerrufen, weil sie einfach nicht
den Tatsachen und der Wahrheit entspricht.
({1})
Wir wissen inzwischen alle, dass die Einzahlungen in
den Fonds viel zu niedrig sind, um eine in näherer und
mittlerer Zukunft ähnliche Krise, wie wir sie hatten, allein durch die Mittel aus dem Fonds auszugleichen. Es
geht nicht um so zynische Bemerkungen in der Art: Das
kommt nächste Woche. Vielmehr wissen wir aus der
Historie, dass die Phasen, in denen Krisen entstehen, in
der letzten Zeit durchaus kürzer geworden sind
({2})
und dass wir uns darauf einstellen müssen, dass es in
diesem Bereich deutlich volatiler wird und wir uns nicht
darauf ausruhen können nach dem Motto: Wir sorgen
mit einem kleinen Topf dafür, dass in 70 Jahren genügend Geld vorhanden ist. - Ich finde, das ist nicht mehr
die richtige Aussage, mit der wir Finanzmarktpolitik für
die Zukunft machen können.
({3})
Die zweite Analyse, die sich daraus ergibt, ist - auch
das muss deutlich gesagt werden -, dass durch die geplante Bankenabgabe keiner der Finanzmarktakteure an
den durch die Krise entstandenen Kosten beteiligt wird.
Ich finde, das darf hier auch niemand behaupten. Das
Geld, das in diesen Fonds eingezahlt werden soll, ist für
die Zukunft viel zu wenig, auch wenn ich es im Zusammenhang mit den entstandenen Kosten müßig finde,
über 1 Milliarde Euro mehr oder weniger zu diskutieren,
wie das vorhin von der Koalition versucht wurde. Wir
wissen: Die Krise hat unsere Wirtschaft belastet. Sie hat
unseren Etat belastet. Wir müssen uns daher überlegen:
Wie beteiligen wir die Finanzmarktakteure an den entstandenen Kosten?
Wir sind der Überzeugung, dass es ein guter Weg ist,
eine Finanzmarkttransaktionsteuer einzuführen.
Es wäre gut, wenn sich die Koalition bei der Unterstützung der Finanztransaktionsteuer nicht immer wieder
selbst dementieren würde, was wir auch heute wieder erleben konnten. Ich will das an einem Punkt deutlich machen. Herr Wissing hat vorhin deutlich gesagt: Die Finanzmarkttransaktionsteuer gibt es für uns - deshalb
habe ich nachgefragt, wer mit „uns“ gemeint ist - nur
dann, wenn sich Großbritannien beteiligt.
Gott sei Dank kann man so etwas inzwischen schnell
googeln, und ich darf Ihnen ein Zitat des Bundesfinanzministers vom 23. Juni vorlesen. Herr Schäuble hat gesagt: „Die niedrigste Regelungsebene wäre die EuroZone.“ Das bedeutet, Herr Wissing und der Finanzminister treten auch heute noch mit unterschiedlichen Aussagen zur Finanzmarkttransaktionsteuer auf. Sie behaupten
aber tatsächlich, Sie würden in Europa mit einer Stimme
auftreten. Das ist völlig absurd und hiermit widerlegt.
({4})
- Könnten Sie das noch einmal wiederholen, Herr
Steffel?
({5})
Der entscheidende Punkt ist - ich will an dieser Stelle
etwas stärker ins Detail gehen -, dass in der Frage der
Restrukturierungsverordnung zur Bankenabgabe ein
sehr ungewöhnlicher Vorgang stattfindet. Es gab eine
16 : 0-Entscheidung der Länder für die Verschärfung der
Verordnung in diesem Bereich, um die deutschen Banken dazu zu bringen, sich stärker zu beteiligen, als bisher
vorgesehen war.
Was passiert? Es wird, wenn ich mich nicht täusche,
mit dem Land Hessen über Bande gespielt - man denke
nur an die Regierungsbeteiligung -, und es bewegt sich
nichts. Ich finde, es ist ein unerträglicher Vorgang, dass
bei dem, was ohnehin schlecht genug ist und was wir
nicht für ausreichend halten, jetzt noch so lange gezockt
wird, nur um die privaten Großbanken zu schonen. Das
kann nicht der richtige Weg sein.
Ich fordere alle auf, endlich dafür zu sorgen, dass zumindest die verbesserte Fassung so schnell wie möglich
durch die Länder auf den Weg gebracht werden kann.
({6})
- Das habe ich gesagt. Es ist immer noch unzureichend,
aber besser als nichts. Im Übrigen, Herr Troost, schließe
ich mich allen Fraktionen an. Es wäre besser gewesen,
Sie hätten statt eines eigenen Antrags Änderungsanträge
vorgelegt.
Bei der Rede von Frau Wagenknecht fand ich es besonders waghalsig, dass sie ernsthaft behauptet hat, mit
diesem Antrag würde es gelingen, die bestehenden Defizite in der Finanzmarktstruktur zu verändern. Entschuldigung, das ist absurd. Sie sollten Ihre eigenen Anträge
lesen.
({7})
Darin geht es um die Höhe der Bankenabgabe, mit einer
deutlichen Abschöpfung verbunden, und um eine Finanztransaktionsteuer. Wenn Sie ernsthaft behaupten,
damit seien die Probleme gelöst, die Sie beschrieben haben und die wir zumindest zum Teil ebenfalls sehen,
dann muss ich sagen: Ein bisschen mehr Niveau wäre im
Parlament angebracht.
({8})
- Doch, ich habe genau zugehört.
({9})
Ich will noch auf zwei einzelne Punkte in diesem Antrag eingehen und darauf hinweisen, dass bei der Bankenabgabe auch bestimmte verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten sind. Das müssen wir bei Sonderabgaben in Deutschland immer im Blick behalten. Deshalb fand ich es, ehrlich gesagt, ein bisschen populistisch, dass Sie in Ihrem Antrag die Sparkassen und
Volksbanken von der Abgabe ausnehmen wollen. Man
kann eine risikoorientierte Bewertung vorziehen, um sie
weniger zu belasten, statt sie einfach auszunehmen.
Man sollte auch nicht vergessen, dass es zwar richtig
ist, dass die allermeisten Sparkassen und Volksbanken
nicht die Verantwortung tragen, dass aber auch sie von
den Stabilisierungsmaßnahmen profitiert haben. Auch
das gehört zur Wahrheit. Man sollte damit sehr ernsthaft
umgehen.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung zum
Thema Abgabe. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben,
die wir bei der Bankenabgabe berücksichtigen müssen,
gelten im Übrigen auch bei der Vermögensabgabe, Herr
Schick. Insofern glaube ich: Je weiter wir uns von der
Finanzmarktkrise entfernen, umso genauer muss man
die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten beachten. Wir
sollten gemeinsam darüber reden, ob eine gruppenorientierte Vermögensabgabe wirklich ein besserer Weg wäre
als eine entsprechende Vermögensbesteuerung.
Ich fasse zusammen: Die Bankenabgabe ist nicht die
richtige Lösung. Sie reicht nicht aus. Wir glauben, dass
der Antrag der Linken nicht die richtigen Antworten
gibt.
Ich fordere alle gemeinsam auf, beim Thema Finanzmarkttransaktionsteuer in Europa gemeinsam voranzugehen. Damit können wir mehr durchsetzen als mit der
Debatte, die wir heute führen.
Vielen Dank.
({10})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unsere Kollegin Bettina Kudla.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Eine wirklich strukturierte Politik ist - ich
denke, das hat die Debatte gezeigt - in dem Antrag der
Linken nicht erkennbar. Sie bringen zwei Dinge durcheinander: Beiträge zur Risikovorsorge für die Zukunft
und zusätzliche Beiträge zum Steueraufkommen und damit zum Ausgleich der Kosten der Krise. Es ist absolut
richtig, mit der von der Bundesregierung in diesem Jahr
eingeführten Bankenabgabe auf eine Risikovorsorge zu
setzen. Der langfristig - ich betone: langfristig - angepeilte Betrag von bis zu 70 Milliarden Euro wird zukünftig einen stabilen Beitrag zur Bewältigung von Krisensituationen leisten. Die Zuführung zum Restrukturierungsfonds erfolgt sukzessive. Einerseits muss Risikogesichtspunkten Rechnung getragen werden; andererseits
darf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen nicht eingeschränkt werden. Heutzutage wird viel
von nachhaltiger Politik gesprochen. Die Bankenabgabe
ist eine langfristige und damit den Finanzmarkt nachhaltig stabilisierende Weichenstellung.
Nun zur Finanzmarkttransaktionsteuer. Hier haben
die Vorredner bereits die möglichen Facetten ausführlich
beleuchtet. Die Bundesregierung hat sich klar zur Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer bekannt und
hat auf internationaler Ebene intensiv um diese Steuer
geworben. Ich zitiere die Zeitung Die Welt vom gestrigen Tage:
Die EU-Kommission will bis Donnerstag die Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer beschließen … Der Vorschlag greift Forderungen aus Deutschland, Frankreich und Österreich
auf. Die jeweiligen Regierungen hatten im vergangenen Jahr eine Steuer auf sämtliche Finanztransaktionen gefordert.
Dass ebendiese Forderungen keine hohlen Phrasen gewesen sind, können Sie in zahlreichen Pressestatements
von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel nachlesen.
Vielleicht täte Ihnen das einmal gut.
Am Beschluss der Europäischen Kommission ist zu
begrüßen, dass eine Finanzmarkttransaktionsteuer eingeführt werden soll. Eine neue Steuer in Form einer EUSteuer ist jedoch abzulehnen.
({0})
Die nationalen Staaten müssen die Möglichkeit haben,
eine Finanzmarkttransaktionsteuer selbst zu erheben und
innerhalb der nationalen Haushalte zu vereinnahmen.
({1})
Die Einführung einer EU-Steuer - der EU-Haushalt finanziert sich nun einmal aus den nationalen Eigenmitteln - würde bedeuten, dass die Eigenmittelobergrenze
überschritten wird,
({2})
also der Betrag, der den Beitrag der EU-Länder zum EUHaushalt auf 1,04 Prozent des Bruttonationaleinkommens deckelt. Es würde jeglichen Konsolidierungsbemühungen der nationalen Haushalte widersprechen, falls
der Beitrag zum EU-Haushalt erhöht würde. Schließlich
haben wir zurzeit keine Krise des Euro. Wir haben ein
Problem der zu hohen Verschuldung der nationalen Staaten.
Eine pauschale Verurteilung von Finanzinstituten lehnen wir ab. Die Banken haben nun einmal eine zentrale
Rolle - das wurde bereits mehrfach betont - bei der Kreditvergabe. Die Möglichkeit, einen Kredit in Anspruch
zu nehmen, ist für den mittelständischen Unternehmer
genauso wichtig wie für den Privatmann. Wir wollen
gute Rahmenbedingungen für eine soziale Marktwirtschaft. Unternehmen brauchen die Chance, Gewinne zu
machen; denn dies schafft Arbeitsplätze und sichert die
Einnahmen des Staates. Ich bin sehr froh, dass große
Bankinstitute wie die Deutsche Bank und die Commerzbank nach den schwierigen Jahren der Finanzkrise weiterhin bzw. wieder Gewinne machen; denn über diese
Gewinne zahlt zum Beispiel die Commerzbank die
Staatshilfen wieder zurück.
Unternehmen dürfen nicht durch eine verantwortungslose Politik zur Abwanderung ins Ausland veranlasst werden. Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist
es für Unternehmen und ganz besonders für Finanzinstitute sehr einfach, ihren Sitz und ihre Geschäftstätigkeit
ins Ausland zu verlegen. Damit wäre niemandem geholfen, im Gegenteil: Die Volkswirtschaft würde geschwächt.
Die Finanzmarktpolitik muss ausgewogen sein. Dieser Ausgewogenheit kommt man in großen Schritten näher, wenn man folgende drei Themen betrachtet: Eigenkapitalbildung durch Basel III, Bildung eines Restrukturierungsfonds durch die Bankenabgabe und Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer. Ich bin der
Meinung, dass eigentlich eine klare Strukturierung dieser drei Maßnahmen vorliegt.
Das Wichtigste ist, dass die Unternehmen erst einmal
selbst Vorsorge betreiben. Durch Basel III sollen sie
selbst Reserven bilden, damit etwaige Verluste nicht
gleich existenzgefährdend werden. Durch die Bankenabgabe wird ein Krisenfonds eingerichtet, der für die Fälle
gedacht ist, in denen Banken trotz des erhöhten Eigenkapitals in eine Existenzkrise geraten. Ich halte es für ganz
entscheidend, dass man dieses Thema jetzt erst einmal
angegangen ist, auch wenn das Volumen des Bankenfonds noch nicht befriedigend ist. Aber wichtig ist die
Entscheidung, dass man ihn einrichtet und dass die Unternehmen in diesen Topf einzahlen.
({3})
Die Finanzkrise hat viele Ursachen. Unter anderem
haben Sie in Ihrem Antrag auf die Probleme der Landesbanken hingewiesen.
({4})
Diese Probleme sind nicht einfach durch irgendwelche
anonymen Banken oder anonymen Verursacher entstanden.
({5})
Diese Probleme sind durch eine verfehlte Geschäftspolitik entstanden.
({6})
Gerade die Landesbanken haben es versäumt, sich mit
dem Thema „Sinnvolles Geschäftsmodell“ auseinanderzusetzen. Hinzu kam Verantwortungslosigkeit, gepaart
mit Missmanagement, und Gremien wie Vorstand und
Aufsichtsrat sowie Eigentümer waren an all diesem beteiligt.
Umso wichtiger ist es, dass die Politik ihr Augenmerk
darauf richtet, dass aus der jüngeren Generation gut ausgebildete Unternehmer und Vorstände nachwachsen. Wir
brauchen einen entsprechenden Nachwuchs in Führungspositionen. Gleich zu Beginn der Legislaturperiode
hat die Bundesregierung dazu ein Stipendienprogramm
mit dem Ziel aufgelegt, Hochbegabte unter der Bedingung zu fördern, dass sie sich gleichzeitig gesellschaftlich engagieren. Ich betone das deswegen, da wir die
Folgen der Finanzkrise nicht allein durch ein gesetzliches Regelwerk des Finanzmarktes lösen können, sondern nur durch eine Politik, die einerseits gute Ausbildung und Verantwortungsbereitschaft fördert und
andererseits Unternehmern wie Arbeitnehmern entsprechende Chancen bietet.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Antrag der
Fraktion Die Linke geht an der Realität vorbei. Die Bundesregierung ist auf dem richtigen Weg. Auf dem Gebiet
der Regulierung der Finanzmärkte tut sich eine ganze
Menge. Lassen Sie uns daran weiter gemeinsam arbeiten.
({7})
Vielen Dank, Frau Kudla. - Nun schließe ich die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6303 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 h sowie
die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:
Vizepräsident Eduard Oswald
41 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie im Gesetz zum Schutz der Teilnehmer am
Fernunterricht ({0})
- Drucksache 17/6208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 27. Oktober 2010 zur Änderung
des Abkommens vom 11. August 1971 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/6257 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Irland zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/6258 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Februar 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/6259 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiebetriebene-Produkte-Gesetzes
- Drucksache 17/6278 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tabea
Rößner, Marieluise Beck ({5}), Volker Beck
({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pressefreiheit europaweit umsetzen - Medien
als wichtigen Grundpfeiler der Demokratie
stärken
- Drucksache 17/6126 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zugang zu medizinischem Cannabis für alle
betroffenen Patientinnen und Patienten ermöglichen
- Drucksache 17/6127 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Monika Lazar, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen
- Drucksache 17/6130 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({9})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Heinz-Joachim Barchmann,
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach
2013 - Konzept zum „Greening“ der Direktzahlungen vorlegen
- Drucksache 17/6299 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Wolfgang Wieland, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortlichkeit der Bundesregierung für
den Umgang des Bundesnachrichtendienstes
mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann
- Drucksache 17/4586
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/4586 - das
betrifft den Zusatzpunkt 5 b - soll federführend beim Innenausschuss beraten werden. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 j auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 42 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen
- Drucksachen 17/6107, 17/6337 Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Kerstin Tack
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Nicole Maisch
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6337, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6107 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Die Tagesordnungspunkte 42 b bis 42 j betreffen die
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 42 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 278 zu Petitionen
- Drucksache 17/6110 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen dieses
Hauses. - Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? Niemand. Die Sammelübersicht 278 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 279 zu Petitionen
- Drucksache 17/6111 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 279 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 280 zu Petitionen
- Drucksache 17/6112 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die sozialdemokratische Fraktion. Wer stimmt
dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 280 ist
mit dem von mir erwähnten Stimmverhalten angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 281 zu Petitionen
- Drucksache 17/6113 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Somit ist die Sammelübersicht 281 einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 282 zu Petitionen
- Drucksache 17/6114 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Wer
stimmt dagegen? - Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist mit dem
von mir erwähnten Stimmverhalten die Sammelübersicht 282 angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 283 zu Petitionen
- Drucksache 17/6115 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 283 mit
dem Stimmverhalten, wie ich es erwähnt habe, angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 284 zu Petitionen
- Drucksache 17/6116 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 284
angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 285 zu Petitionen
- Drucksache 17/6117 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Linksfraktion. Die Sammelübersicht 285 ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 42 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 286 zu Petitionen
- Drucksache 17/6118 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Stimmenthaltungen? - Keine. Somit ist
die Sammelübersicht 286 mit dem Stimmverhalten, das
ich erwähnt habe, angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Stuttgart 21 - Ergebnis des Stresstests respektieren - Keine Blockadepolitik
Ich eröffne die Aussprache.
Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Dr. Stefan Kaufmann für die Fraktion der CDU/
CSU.
({3})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits viermal über das Bahnprojekt Stuttgart 21 debattiert. Die aktuelle Entwicklung macht es nötig, dass wir uns heute in
dieser Aktuellen Stunde mit dem sogenannten Stresstest
für dieses Infrastrukturprojekt und vor allem dem nicht
akzeptablen Verhalten der Grünen in diesem Zusammenhang befassen müssen.
Nur zur Erinnerung: Im Herbst letzten Jahres wurde
im Rahmen einer Schlichtung zwischen Projektbefürwortern und Projektgegnern unter anderem ein Stresstest
vereinbart. Dabei handelt es sich um eine Simulation des
zukünftigen Zugverkehrsaufkommens in der badenwürttembergischen Landeshauptstadt. Dieser Test soll
klären, ob der geplante Tiefbahnhof tatsächlich bis zu
30 Prozent mehr Zugverkehr bewältigen kann als der
jetzt bestehende Kopfbahnhof zu Spitzenzeiten. Die Projektträger haben sich verpflichtet, die Infrastruktur entsprechend nachzubessern, falls sich dies im Zuge des
Stresstests als notwendig erweisen sollte.
Das Ergebnis des Stresstests wird von einem unabhängigen und renommierten Verkehrsberatungsinstitut in
der Schweiz geprüft, am 11. Juli den fünf Projektpartnern zur Verfügung gestellt und hernach am 14. Juli der
Öffentlichkeit präsentiert. Genau so und nicht anders
wurde das Vorgehen in der von Heiner Geißler moderierten Schlichtung von allen Seiten, Gegnern und Befürwortern von Stuttgart 21, anerkannt.
({0})
Mit am Tisch saßen damals die heutigen Mitglieder der
baden-württembergischen Regierung Winfried Hermann
und Winfried Kretschmann. Auch sie haben diesem Verfahren damals zugestimmt.
({1})
Im vergangenen Landtagswahlkampf haben die Grünen den Mund sehr voll genommen und den Bürgerinnen
und Bürgern gerade in Stuttgart durchaus mit Erfolg
weisgemacht, dass sie bei einer Regierungsübernahme
das Projekt stoppen würden.
({2})
Jetzt müssen die neuen Regierungsparteien seriöserweise ihren Wählerinnen und Wählern erklären, dass wir
in Deutschland in einem Rechtsstaat leben, in dem Gesetze und geschlossene Verträge unabhängig von Ministersesseln Bestand haben; denn nach allem, was man
weiß, wurde der Stresstest bestanden.
({3})
Offiziell ist dies nicht, weil die Bahn der Prüfung der Ergebnisse durch das Schweizer Institut zu Recht nicht
vorgreifen wollte.
Unterdessen ist der Verkehrsminister Hermann außer
Rand und Band geraten. Er wirft der Bahn Foulspiel vor,
weil aus Bahnkreisen das Ergebnis des Stresstests durchgesickert sei und er selbst bis auf ein paar Präsentationsfolien rein gar nichts über diesen Stresstest wisse. Der
Frankfurter Rundschau gab er aber schon vergangenen
Donnerstag zu verstehen, dass die Bahn den Stresstest
wohl irgendwie bestanden habe. Da frage ich mich
schon, von welcher Seite aus irgendetwas durchgesickert
ist.
({4})
Bis vergangene Woche hatte man den Eindruck: Der
neue baden-württembergische Verkehrsminister ist noch
nicht aus seiner Oppositionsrolle herausgekommen und
braucht etwas länger, um zu begreifen, was es heißt, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das wurde zum
Beispiel deutlich, als er die Zuständigkeit für die Realisierung von Stuttgart 21 einem anderen Ressort übertragen wollte. Wer, wenn nicht der Verkehrsminister, soll
sich denn bitte um dieses Infrastrukturprojekt kümmern?
Offensichtlich verheddert sich Winfried Hermann immer
mehr in seinem Bemühen, es der Partei und den Stuttgart-21-Gegnern recht zu machen, und scheut dabei auch
vor der Unwahrheit nicht zurück.
Auf dem Stuttgarter Marktplatz hat er bei einer Bürgerversammlung die Öffentlichkeit - ich muss es in dieser Deutlichkeit sagen - hinters Licht geführt, und zwar
Befürworter und Gegner gleichermaßen. Er sagte: Die
Informationen zum Stresstest für den neuen unterirdischen Bahnhof muss die Bahn frühzeitig herausrücken.
Es ist ein Ärgernis, dass die Bahn ihre Ergebnisse erst
drei Tage vor dem 14. Juli mitteilen und einen Tag später
mit der Vergabe von Bauleistungen beginnen will. So hat
die Landesregierung nicht wirklich Zeit, zu prüfen und
zu diskutieren. - Ende des Zitats. Auf ausdrückliche
Nachfrage von Versammlungsteilnehmern hin wiederholte er seine angebliche Unkenntnis der Stresstestergebnisse.
Richtig ist aber: Verkehrsminister Hermann hatte zu
diesem Zeitpunkt bereits seit Tagen Kenntnis über den
Stand und die Ergebnisse des Stresstests. Es gibt ausreichend Belege dafür, dass der Minister in die von der
Bahn durchgeführte Computersimulation für den geplanten Tiefbahnhof stets eingeweiht gewesen ist. Es wurden
sogar noch Forderungen der Grünen in die Simulation
eingearbeitet. Bei der Präsentation des 31-seitigen Abschlussberichts zum Test im sogenannten Lenkungskreis
am 16. Juni war ein hochrangiger Vertreter des Verkehrsministeriums persönlich zugegen. Winfried Hermann
sagt also in der Öffentlichkeit bewusst die Unwahrheit
und wirft mediale Nebelkerzen, um zu verbergen, dass er
kaum noch rationale Argumente gegen eine zügige Fortführung dieses bedeutenden Infrastrukturprojekts hat.
Dies entspricht so gar nicht dem Anspruch, mit dem die
neue Landesregierung angetreten ist. „Neue Transparenz
und Offenheit“ scheint nur dann zu gelten, wenn es der
grünen Ideologie entspricht. Schade, dass Ministerpräsident Kretschmann seinem zwischenzeitlich beim Koalitionspartner SPD und in der Öffentlichkeit in Ungnade
gefallenen Minister am Dienstag auch noch treuherzig
den Rücken gestärkt hat.
({5})
Deutlichere Worte wären hier angebracht gewesen - im
Übrigen auch zur Gewalteskalation bei der sogenannten
Montagsdemo vergangene Woche durch die sogenannten
Parkschützer.
Mittlerweile werden selbst innerhalb der grün-roten
Koalition erhebliche Zweifel nicht nur am Verhalten des
Ministers, sondern auch an seiner Eignung laut. Diese
Zweifel konnte Minister Hermann gestern im Landtag
trotz Zurückruderns nicht ausräumen. Deshalb sollte
sich Winfried Hermann ernsthaft überlegen, selbst die
notwendigen Konsequenzen zu ziehen, zumindest aber
zur Wahrheit zurückzukehren.
({6})
Es kann jedenfalls nicht sein, dass eine Minderheit die
Zukunft des Landes Baden-Württemberg blockiert, und
es darf nicht sein, dass Süddeutschland vom europäischen Schnellbahnnetz abgehängt wird. Deshalb fordern
wir die Landesregierung in Stuttgart auf: Halten Sie
rechtsverbindliche Verträge und den Schlichterspruch
ein! Akzeptieren Sie das Ergebnis des Stresstests ohne
weitere Bedingungen! Verteidigen Sie Stuttgart 21 und
den Rechtsstaat gegen gewalttätige Aktionen von Teilen
der Projektgegner! Setzen Sie sich dafür ein, dass Stuttgart 21 und die Neubaustrecke gebaut werden und sichern Sie damit die Zukunft unseres Landes! Helfen Sie
mit, dass der Bau in einer Atmosphäre des gegenseitigen
Respekts und Vertrauens erfolgen kann.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Stuttgart 21 ist ein Infrastrukturprojekt von nationaler
Bedeutung und darf nicht grüner Parteitaktik oder linker
Technologiefeindlichkeit zum Opfer fallen.
Danke sehr.
({0})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der
Kollege Uwe Beckmeyer für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Kollege Uwe Beckmeyer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, das Thema bedarf zumindest in diesem
Hause als Erstes einer gewissen Entemotionalisierung;
({0})
das hat es verdient. Was wir eben gehört haben, war,
glaube ich, nicht in diesem Sinne.
Was uns hier vorliegt, ist der Antrag auf eine Aktuelle
Stunde - ich zitiere -: „Stuttgart 21 - Ergebnis des
Stresstests respektieren - Keine Blockadepolitik“.
({1})
Sie haben eben den Eindruck erweckt, als sei der Stresstest erfolgt, habe schon einen Stempel, sei schon in der
Welt.
({2})
Weil ich seriös arbeite, habe ich vor zwei Tagen Herrn
Dr. Grube eine Mail geschickt, in der ich ihm geschrieben habe, dass Sie eine Aktuelle Stunde mit diesem Titel
beantragt hätten und dass ich als Sprecher der Arbeitsgruppe Verkehr der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion wünschte, dass mir zur Vorbereitung dieser Aktuellen Stunde die Ergebnisse, vielleicht auch die
vorläufigen Ergebnisse, des Stresstests übermittelt würden.
({3})
Ich bekam die Antwort nicht von Herrn Dr. Grube,
sondern von dem dafür zuständigen Konzernvorstand
Technik, Herrn Dr. Kefer.
({4})
- Ja. - Darin heißt es: Bezug nehmend auf unser heutiges Telefonat. Wir haben unsere Ausarbeitung zum obigen Thema plangemäß am 21. Juni in elektronischer
Form an SMA - das sind die Schweizer - zur Begutachtung überspielt. Die Fachdokumentation wird dazu in
Papierform am 30. Juni - das ist heute - an das Land Baden-Württemberg übergeben. Die SMA-Begutachtung
wird bis zum 11. Juli fertiggestellt und im Anschluss allen Beteiligten zur Verfügung gestellt. Die öffentliche
Diskussion der Ergebnisse des Stresstests und der Zertifizierung durch die SMA erfolgt in einer gemeinsamen
Sitzung am 14. Juli. - Das ist die Sitzung mit Herrn
Geißler, dem eingesetzten Mediator, Vermittler, wie
auch immer.
In Ihrer Rede heute haben Sie erklärt, es sei schon alles mehr oder weniger im grünen Bereich, alles fertig.
Die Bahn selbst ist vorsichtig genug, dies noch nicht zu
erklären, weil die SMA noch ihren Stempel daruntersetzen muss. Sie muss noch erklären, dass das Ganze plausibel ist. Diese Plausibilitätserklärung des verabredeten,
von allen im Grunde akzeptierten und damit auch von
Winfried Hermann akzeptierten Gutachters, diese Zertifizierung, wie auch immer das heißen mag, muss gegeben werden.
Erst dann liegt ein akzeptierter Stresstest vor. Dann
erst wird der Vermittler, Herr Geißler, feststellen können,
in welchen Bereichen der Stresstest im Hinblick auf unsere Vorgaben - mit allem, was in den letzten Tagen in
der Presse stand: 30 Prozent Zuwachs, Zugänglichkeit
für Familien und Behinderte usw. -, Bestand hat und inwieweit eine Realisierung möglich ist.
Kommen wir nun zu einem weiteren wichtigen Punkt;
und darüber haben nicht wir zu entscheiden, sondern der
DB-Vorstand: Kann der DB-Vorstand die vorgegebenen
Baumaßnahmen mit dem vorhandenen Geld - 4,5 Milliarden Euro, inklusive der restlichen 420 Millionen
Euro der Risikomarge - durchführen? Diese Entscheidung hat der Bahnvorstand zu treffen.
Herr Präsident, das Licht leuchtet hier immer noch
auf. Das leuchtet schon die ganze Zeit. Haben Sie die
Uhr noch einmal zurückgestellt, oder was ist los?
Es ist das Wesen der Aktuellen Stunde, Herr Kollege
Beckmeyer, dass man immer fünf Minuten Redezeit hat.
Ja, gut, aber das leuchtet schon die ganze Zeit.
Nein, nein. Fünf Minuten sind untrüglich fünf Minuten. Wenn man aber ganz unsicher ist, kann man auch
noch dort oben auf die Uhr im Saal schauen. Wir haben
extra wegen Ihnen diese Uhr dort installieren lassen,
Herr Kollege.
({0})
Diese jetzt verbrauchte Zeit wird mir hoffentlich noch
zugestanden.
({0})
Wir sind bei der Übergabe immer sehr genau.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Entscheidung, über die ich gerade gesprochen habe, wird
die Bahn treffen müssen. Sie wird sie auch treffen, und
zwar im Sinne ihres eigenen Verständnisses von Wirtschaftlichkeit. Insofern gilt: Wenn Heiner Geißler sagt,
der Ausgang des Stresstestes sei offen, so ist ihm beizupflichten.
Aber - und da widerspreche ich dem einen oder anderen in Stuttgart - diesem Stresstest liegt eine Verabredung zugrunde, und zwar darüber, wie er durchgeführt
und bewertet wird. Das geschieht nämlich zunächst
durch die Bahn, dann durch die SMA, und schließlich erfolgt die Bewertung durch den Sachverständigenkreis
um Herrn Geißler. Das ist - so denke ich - der richtige
Weg. Darum habe ich im Hinblick auf die ganze Aufregung der letzten Tage die Bitte: Tragen wir nicht dazu
bei, dass sich das fortsetzt.
Herr Kollege.
Ich rate zu Gelassenheit und dazu, dass dem Gremium
um Heiner Geißler am 14. Juli der Raum gegeben wird,
die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorzustellen. Am Ende
des Tages werden alle die, die sagen: „Dieser Stresstest
war erfolgreich“, zufrieden sein.
Herr Kollege!
Dann hat er aber auch ein entsprechendes Testat bekommen.
Auch das Einpacken verlängert nicht die Redezeit.
Dann hat er auch alles, was wir nötigerweise brauchen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich bedanke mich für
die Zeit, die Sie mir gewährt haben.
({0})
Habe ich doch gar nicht; würde ich auch niemals.
Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was
Grüne und SPD in Stuttgart inszenieren, ist schlicht
Volksverdummung. Das beweist auch die Rede des Kollegen eben. Die SPD hat sich vor der Landtagswahl klar
zu Stuttgart 21 bekannt. Jetzt lässt sie den grünen Koalitionspartner Angriffe gegen die Bahn und gegen S 21
führen - und schweigt. Sie berät, aber sie schweigt.
Auch zu den gewaltsamen Übergriffen von fanatisierten S-21-Gegnern hat sie wenig gesagt. Die SPD muss
sich aber durchsetzen und der Bahn zu ihrem Recht verhelfen. Von ihr erwarten wir ein klares Bekenntnis zu
Stuttgart 21 und zu entschlossenem Handeln.
({0})
Die SPD ist aber offensichtlich auch von ihrem
Selbstwertgefühl her in der Landesregierung nur Juniorpartner. Sie wirkt wie der Bettvorleger des grünen
Ministerpräsidenten und nicht wie eine aktive Partei, die
die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler wahrnehmen möchte.
({1})
Der Wechsel zu einer grün-geführten Regierung hat
offenbar nicht - wie der eine oder andere gehofft hat zu einer Befriedung der Situation in Stuttgart geführt. Im
Gegenteil: Das Chaos in der Landesregierung hat in den
letzten Tagen massiv zugenommen. Offenbar wird Zauberlehrling Kretschmann die Geister, die er im Wahlkampf rief, nicht wieder los. Zum Erreichen der Macht
war dem Zauberlehrling die machtpolitische Instrumentalisierung dieses Themas gut; zum verantwortungsvollen Umgang mit der Macht reicht das aber nicht aus.
Wenn Demonstranten Sachbeschädigungen oder Angriffe auf Polizisten begehen, ist das nicht nur rechtswidrig;
({2})
es ist auch nicht vom Demonstrationsrecht des Grundgesetzes gedeckt. Es stellt auch im Hinblick auf das vertretene Ziel ein Armutszeugnis dar: Offensichtlich geht es
den Leuten im Wesentlichen um Krawalle und nicht
mehr um Sachargumente. Die Landesregierung unter
Kretschmann muss endlich die Rechtslage akzeptieren,
dies auch in den eigenen Stellungnahmen deutlich
machen und deeskalierend wirken. Das Kabinett
Kretschmann wirkt aber nicht deeskalierend.
({3})
Wir fordern die Landesregierung von BadenWürttemberg ebenso wie die Grünen und die SPD im
Bund auf, sich nicht nur deutlich von den gewalttätigen
Auseinandersetzungen vom 21. Juni zu distanzieren,
sondern sich auch klar zum Rechtsstaat zu bekennen.
Das schließt das Bekenntnis zu geschlossenen Verträgen
und rechtsverbindlichen Entscheidungen mit ein.
({4})
Die Gegner des Projekts argumentieren, das Projekt
Stuttgart 21 sei illegitim. Was ist das für eine Selbstherrlichkeit einer in absoluten Kategorien denkenden Meinungsclique mit einer vermeintlich übergeordneten Moral!
({5})
Eine von den Grünen geförderte Empörungskultur ersetzt keinen nachhaltigen politischen und demokratischen Prozess.
({6})
Es birgt eine Gefahr für unsere Demokratie, wenn wir
gemeinsame Regeln und Gesetze der Laune eines Augenblicks unterwerfen.
({7})
Die FDP setzt sich seit Jahren dafür ein, dass das
Quorum für Volksentscheide in Baden-Württemberg
deutlich gesenkt wird. Dahinter steht auch eine liberale
Grundüberzeugung. Es kann aber nicht darum gehen,
eine aktuelle Stimmung auszunutzen und deshalb im
Parforceritt die Landesverfassung zu ändern. Wenn dann
aber noch ein Volksentscheid nur dazu dienen soll, die
von den Grünen selbst geschaffene Regierungskrise zu
beenden, zeugt das eindeutig von Hilflosigkeit.
({8})
Meine Damen und Herren, der Umgang des Verkehrsministers mit dem Projektpartner Bahn ist schlicht unverschämt. Obwohl sein Ministerium im gemeinsamen
Lenkungskreis mit am Tisch sitzt, gibt sich Herr
Hermann unwissend; er behauptet, widerspricht, be13444
Hartfrid Wolff ({9})
hauptet, widerspricht. Ich frage mich: Was ist das für ein
Persönlichkeitsprofil? Der Stuttgarter Verkehrsminister
ist eben nicht nur der Minister für die Stuttgart-21-Gegner, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger in BadenWürttemberg; sie schätzen Ehrlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Verkehrsminister Hermann hat
vielleicht ein Parteibuch, aber sonst nichts, was ihn für
sein politisches Führungsamt qualifiziert.
({10})
Stuttgart 21 stärkt den Wirtschaftsstandort BadenWürttemberg, schafft neuen Wohnraum und Arbeitsplätze.
({11})
Anders als mit den Grünen und ihren allergischen
Reaktionen auf Großvorhaben aller Art ist die Umsetzung wichtiger Infrastrukturprojekte mit uns weiterhin
möglich;
({12})
wir bleiben bei unserer klaren Linie. Die FDP steht im
Bund wie in Baden-Württemberg zu Stuttgart 21; sie
steht zu Rechtsstaatlichkeit, Offenheit und für eine Zukunft für Baden-Württemberg.
({13})
Michael Schlecht hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Zu den Merkwürdigkeiten der Überschrift dieser Aktuellen Stunde hat der Kollege Beckmeyer schon alles gesagt; das erspart mir ein bisschen Redezeit.
({0})
Man muss eines sehr deutlich sagen: Der sogenannte
Stresstest, um den es hier geht, war von Anfang an eine
Farce.
({1})
Bei der sogenannten Schlichtung wurde Ende November
letzten Jahres vereinbart, dass der Stresstest transparent
und unter Beteiligung der Gegner von Stuttgart 21
durchgeführt wird. Vereinbart war, dass die Inputvariablen und die Rechenmethoden gemeinsam entwickelt und
abgestimmt werden. Nichts davon ist eingehalten worden. Von daher ist alles, was unter der Überschrift
„Stresstest“ läuft, von vornherein eine Farce und im
Grunde nichts wert. Das ist der erste Skandal, den man
deutlich benennen muss.
({2})
Jetzt hat die Bahn im stillen Kämmerlein alleine vor
sich hin gerechnet, genauer: Sie hat manipuliert. Sie hat
so lange gerechnet - das kann man den Gerüchten in der
Presse entnehmen -, bis etwas herauskam, das ihr in den
Kram passte.
({3})
Das ist schlichtweg eine Manipulation.
({4})
- Sie haben eine Aktuelle Stunde zu Gerüchten beantragt.
({5})
Dazu muss man sich doch irgendwie verhalten.
({6})
Dass die Bahn die Ergebnisse ihres Manipulationstests - so muss man ihn im Grunde genommen nennen zwei Wochen vor der vereinbarten Veröffentlichung an
die Presse weitergegeben hat, ist schlichtweg eine Unverschämtheit. Dahinter steckt Folgendes: Der RamboKurs der Bahn soll legitimiert werden, damit schnell
weitergebaut werden kann. Das Entscheidende ist - das
ist der eigentliche Skandal -, dass die Regierung hier in
Berlin der eigentliche Motor des Rambo-Kurses der
Bahn in Stuttgart ist. Dieses Projekt soll mit Gewalt
schnell durchgezogen werden.
({7})
In den Ergebnissen dieses Manipulationstests wird
stolz darauf verwiesen, dass die Vorgabe einer 30-prozentigen Leistungssteigerung erfüllt wird - zumindest liest
man das in den Zeitungen -, und das, ohne jemals geprüft
zu haben, ob mit dem jetzigen Bahnhof eine 30-prozentige oder noch höhere Leistungssteigerung möglich
wäre. Nach unseren Berechnungen, nach unseren Einschätzungen, nach dem, was uns das Bündnis sagt, ist
das in jedem Fall möglich. Insofern ist die Erfüllung der
Bedingungen dieses sogenannten Stresstests von vornherein fraglich.
Hinzu kommt, dass ein moderner Taktfahrplan mit
Stuttgart 21 nicht möglich ist. Es gibt mittlerweile Aussagen des angenehmen Herrn Kefer, denen man entnehmen muss, dass er dem zustimmt. Das sind die wirklichen Skandale, die sich schon jetzt abzeichnen.
Hinzu kommt, dass dieser Stresstest anders geplant
war. Der Stresstest war - im Gegensatz zu dem, was hier
erzählt wird - als Grundlage für die weitere Diskussion
gedacht. Hinzu kommt, dass neben dem erfolgreichen
Stresstest die von Herrn Geißler formulierten fünf oder
sechs weiteren Konditionen erfüllt sein müssen, damit
man aus Geißlers Sicht überhaupt über den Weiterbau
von Stuttgart 21 nachdenken kann.
({8})
All diese Punkte sind nach dem, was man bisher hört,
nicht abgearbeitet. Daher kann man nicht sagen, dass mit
der Präsentation der Ergebnisse dieses Manipulationstestes irgendein Tor aufgestoßen oder eine Entscheidung
für Stuttgart 21 getroffen wird.
({9})
Selbst wenn diese Tests alle positiv verlaufen würden:
Die Menschen in Stuttgart haben einen viel umfassenderen Blick. Viele Menschen in Stuttgart lehnen Stuttgart 21 nicht deshalb ab, weil der Bahnsteig einen zu
starken Winkel und vieles andere mehr hat, sondern weil
es selbst in der reichen Schwabenmetropole viele soziale
Missstände gibt. Die Kinderarmut ist zu hoch, Kitaplätze
fehlen usw.
({10})
All das passt nicht damit zusammen, dass bei diesem
Wahnsinnsprojekt Milliarden und Abermilliarden verpulvert werden. Das ist eine ganz entscheidende Motivation für viele Menschen in Stuttgart, gegen dieses Projekt zu sein. Diese Motivation, gegen das Projekt
anzutreten, wird bestehen bleiben. Ich finde, deswegen
sollten diese Menschen unterstützt werden.
({11})
Zum Schluss: Man muss schon einmal fragen, was
hinter dieser Rambo-Methode der Bahn und der Bundesregierung steckt. Worum es im Kern geht, ist vollkommen klar:
({12})
Das Projekt Stuttgart 21 ist kein Eisenbahnprojekt. Im
Kern ist das ein Immobilienprojekt.
({13})
Mit der Querlegung des Bahnhofs werden Grundstücke
frei. Es ist vollkommen klar, dass Union und FDP, leider
aber auch die SPD, im Zweifelsfall für Immobilienspekulanten viel mehr Verständnis haben als für die Menschen in einer Stadt.
({14})
Das Projekt ist noch nicht durch. Es kann noch zu Fall
gebracht werden, wenn die Stuttgarterinnen und Stuttgarter mit vielfältigen Protesten dagegen antreten und
sich dagegen auflehnen, wie das im letzten Sommer und
Herbst der Fall war.
Kollege Schlecht.
Ich bin gleich fertig. - Wir haben es in unserer Hand.
Wir haben die Chance, dieses Projekt zu Fall zu bringen.
Danke schön.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Dr. Anton
Hofreiter.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es entbehrt nicht eines gewissen Amüsements, wenn sich ein Vertreter dieser Regierungskoalition über eine Landesregierung aufregt.
({0})
Laut Beobachtungen aller politisch Interessierten und
übereinstimmender Kommentare in allen Zeitungen ist
die momentane schwarz-gelbe Bundesregierung mit Abstand die schlechteste Bundesregierung, die dieses Land
je hatte. Daher wären etwas mehr Bescheidenheit und
Demut angemessen.
({1})
Es gab allerdings Zeiten, in denen die CDU/CSU
durchaus in der Lage war, Regierungen vernünftig zu
führen. Aus diesen Zeiten stammt ein ehrenwerter Politiker namens Heiner Geißler. Auf die massiven Anwürfe
gegen den Verkehrsminister in Baden-Württemberg,
Herrn Hermann,
({2})
möchte ich Ihnen mit einem Zitat dieses seriösen Kollegen von Ihnen, der aus Zeiten stammt, als Sie noch zu
vernünftiger Politik in der Lage waren, antworten. Auf
die Frage, ob er Herrn Hermann für einen guten oder
schlechten Minister hält, antwortet Herr Geißler, CDUPolitiker:
Er ist vor allem ein Überzeugungstäter und mir lieber als alle angepassten Politik-Yuppies.
({3})
Herr Hermann ist Herrn Geißler also lieber als alle angepassten Politik-Yuppies.
({4})
Jeder kann jetzt selber entscheiden, wer zu dieser Kategorie gehört. Mir würde der eine oder andere einfallen.
({5})
Vollkommen amüsant ist, dass ausgerechnet am heutigen Tag betont wird, dass einmal getroffene Entscheidungen nicht revidiert werden können.
({6})
Das entbehrt nicht unfreiwilliger Komik.
({7})
Was haben wir heute hier im Bundestag gemacht?
Wir haben mit großer Einigkeit den Ausstieg aus der
Atomenergie beschlossen. Für uns war dies eine konsequente Fortsetzung unserer Politik, für Sie eine
180-Grad-Wende.
({8})
Die Vertreter dieser Koalition, die heute bei einem ganz
entscheidenden Thema, der Energieversorgung für das
bedeutendste Industrieland Europas, diese 180-GradWende ihrer Politik und ihre komplette Kapitulation unterschrieben haben, sagen: Bei einem Bahnhof - der
Bahnhof ist, glaube ich, nicht ganz so bedeutend wie
das, was wir hier heute beschlossen haben ({9})
darf eine neu gewählte Regierung, ein neu gewähltes
Parlament keine anderen Entscheidungen treffen. Entschuldigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
lächerlich!
({10})
Geben Sie es ruhig ehrlich zu; denn an dem heutigen Tag
haben Sie sich komplett der Lächerlichkeit preisgegeben.
Jetzt schauen wir uns das Ganze an; man kann sich
hier eigentlich nur wiederholen. Herr Beckmeyer hat
wunderbar vorgelesen, wie der Stresstest vonstatten geht
und wann die Ergebnisse veröffentlich werden sollen.
Sie haben heute eine Aktuelle Stunde dazu beantragt.
Wie wäre es, einfach auf die Ergebnisse des Stresstests
zu warten und sich heute nicht groß darüber aufzuregen?
Dass die Bahn falsch spielt, das kennen wir zu Genüge. Wer in der letzten Legislaturperiode im Verkehrsausschuss war, weiß - das wird jeder zugeben, wenn er
ehrlich ist -, wie wir alle gemeinsam, auch die damaligen Vertreter der Regierungsfraktionen, mehr oder weniger gegen die Privatisierung der Bahn - dieses Vorhaben
ist schiefgegangen - gekämpft haben.
({11})
- In der letzten Legislaturperiode war Herr Lippold Ausschussvorsitzender, und auch er war auf unsere Seite.
({12})
Aufgrund dieser Erfahrung wissen wir, dass die Bahn,
wenn ihr etwas wichtig ist, durchaus nicht immer ganz
seriös spielt.
({13})
Ihnen von der FDP empfehle ich, Ihren ehemaligen
verkehrspolitischen Sprecher Horst Friedrich zu fragen.
Sie von der CDU/CSU sollten einmal bei Norbert
Königshofen nachfragen. Beide können Ihnen erzählen,
dass die Bahn in für sie entscheidenden Fragen nicht immer hundertprozentig seriös spielt. Also sollte man sich
überhaupt nicht darüber aufregen, dass eine Landesregierung Zweifel an den Zahlen der Bahn hat.
({14})
Fassen wir zusammen: Sie wollen uns hier erzählen,
dass in einer Demokratie gefallene Entscheidungen nicht
revidiert werden können; das ist am heutigen Tag völlig
unglaubwürdig. Sie wollen uns hier erzählen, dass die
Bahn immer alle Zahlen seriös präsentiert.
({15})
Das ist völlig unglaubwürdig; das glauben Ihre eigenen
Vertreter nicht. Entspannen Sie sich, seien Sie gelassen,
und wir schauen, wie das Ganze weitergeht.
Vielen Dank.
({16})
Steffen Bilger hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Hofreiter, ich weiß nicht, ob die
Aussagen über die Bahn, die Sie gerade getroffen haben,
für den Vorsitzenden des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages angemessen sind.
({0})
Die Süddeutsche Zeitung schrieb Montag: Stresstest
bestanden, Stuttgart 21 kann wohl mehr, als die Gegner
dachten. Und weiter. Von Baden-Württembergs Verkehrsminister Hermann kann man das noch nicht sagen. Dem ist wenig hinzuzufügen. Ob der Stresstest tatsächlich bestanden wurde, wird die Untersuchung der
Schweizer Firma SMA zeigen. Da diese aber in die aufwendigen Simulationen der DB AG eingebunden war,
gehe ich davon aus, dass von den Schweizern tatsächlich
das Okay kommen wird: Stresstest bestanden.
Wie wir mittlerweile wissen, ist das voraussichtliche
Ergebnis auch der grün-roten Landesregierung schon
lange bekannt. Sie wurde stets auf dem Laufenden gehalten. Das geschah teilweise in mehrstündigen Sitzungen, an denen auch der Verkehrsminister oder seine
engsten Mitarbeiter teilgenommen haben.
Für Winfried Hermann hätte ich einige Ideen, wie er
in seiner neuen Aufgabe an Kontur gewinnen könnte:
Wie wäre es beispielsweise mit einem sachlichen Umgang mit Stuttgart 21? Wie wäre es mit einem unideologischen Blick auf dieses demokratisch legitimierte Großprojekt? Wie wäre es mit einem verantwortungsvollen
Verhalten, das einem Mitglied der Exekutive angemessen ist?
({1})
Und wie wäre es vor allem mit mehr durchdachten Äußerungen? Denn dieses ständige „Ich dementiere“ wird
jedenfalls nicht lange gut gehen.
Verantwortung übernehmen ist jetzt angesagt - und
nicht, den Verschwörungstheoretikern unter den S-21Gegnern ständig neue Nahrung zu geben. Dass er sich
gestern im baden-württembergischen Landtag noch nicht
einmal dazu durchringen konnte, klar zu sagen, dass er
das Ergebnis des Stresstests akzeptieren werde - wie es
alle Parteien in der Schlichtung vereinbart hatten -, ist
bezeichnend. Deshalb frage ich: Ist das der neue Politikstil der Grünen, sobald man an der Macht ist?
Winfried Hermann hat über die Bahn gesagt: „Bahn
spielt foul“. Aber wenn hier einer foul spielt, dann ja
wohl Winfried Hermann selbst. Mit allen Tricks - teilweise auch entgegen den Vereinbarungen in der Schlichtung - versucht er, von seinem Infrastrukturverhinderungsministerium aus Stuttgart 21 zu verteuern, damit es
über die vertraglich maximal vorgesehenen 4,5 Milliarden Euro kommt.
So weit wir es aber nun überblicken, werden weder
ein neuntes oder zehntes Gleis notwendig sein noch
sonst sehr teure Nachbesserungen. Im Gegenteil: Nach
jetzigem Stand wird es 40 Millionen Euro kosten, die
Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Übrigens sind das
tatsächlich sinnvolle Neuerungen, die wir der Schlichtung durch Heiner Geißler zu verdanken haben. Die von
den Projektgegnern - bis hin zu Ministerpräsident
Kretschmann - prophezeiten und herbeigesehnten Unsummen im hohen dreistelligen Millionenbereich haben
sich klar als das entpuppt, was sie sind: falsche Prophezeiungen. Der Kostenrahmen wird durch die mit dem
Stresstest verbundenen Verbesserungen nicht im Ansatz
gesprengt.
({2})
Noch einmal zu Hermann und dem Foulspiel: Die
Grünen werden die Geister nicht mehr los, die sie gerufen haben. Vor der Landtagswahl haben sie den Protest
auf die Straße geholt, um das demokratisch legitimierte
Projekt Stuttgart 21 zu verhindern.
({3})
Jetzt sind sie an der Macht, und der Protest ist immer
noch da. Mit falschen Versprechungen wurden Wähler
gelockt.
({4})
- Ich sage zu Ihnen von der Linken nur: 2,8 Prozent bei
der Landtagswahl - mit dem Spruch: „Wählt uns, und
wir verhindern Stuttgart 21.“ - Aber die klare Mehrheit
der Wähler hat Parteien gewählt, die für Stuttgart 21
sind.
({5})
Fast 70 Prozent haben CDU, SPD und FDP gewählt.
Und jetzt? Letzte Woche wurden neun Polizisten verletzt, und es entstand Sachschaden in Millionenhöhe.
({6})
Dazu, dass sich Winfried Hermann darüber aufregt,
dass von der Bahn das Stresstestergebnis durchgesickert
ist, kann ich nur sagen: Wer im Glashaus sitzt, sollte
nicht mit Steinen werfen. Wie wir jetzt wissen - das
wurde schon gesagt -, hat er selbst sich zuerst der Presse
gegenüber zum Stresstest geäußert. Erst danach sickerten auch von der Bahn Erkenntnisse zum Stresstest
durch.
Dass aber der baden-württembergische Verkehrsminister dann auch noch der Bahn, die Baurecht hat, eine
Mitschuld an den Ausschreitungen der vergangenen Woche - nach dem Motto „Ihr hättet ja nicht weiterbauen
müssen“ - gegeben hat, ist schlichtweg völlig daneben.
({7})
Meine Damen und Herren, angemessen wäre nicht
nur eine klare Distanzierung von der Gewalt gewesen,
sondern auch eine Distanzierung von denen, die diese
Gewalt geschürt und sie anschließend sogar noch als
friedliche Feierabendstimmung verharmlost haben. Wer
aber bei den selbst ernannten Parkschützern, die für die
Eskalation mitverantwortlich waren - die die Gewalt erst
leugneten und dann der Polizei die Schuld gaben, wie
vor einigen Wochen geschehen -, als neuer Minister einen Antrittsbesuch am Bauzaun macht, der diskreditiert
sich selbst. Diese Unterwerfungsgeste von Winfried
Hermann war völlig unangebracht.
({8})
Was bleibt den Grünen jetzt noch? Vielleicht eine
kleine Resthoffnung auf die Volksabstimmung zu
Stuttgart 21, die im Herbst stattfinden soll? Wie man
hört, macht sich nun plötzlich auch die neue Landesregierung Sorgen, ob ein Volksentscheid in dieser Frage
überhaupt verfassungsgemäß ist. Wie auch immer: Angesichts der stetig wachsenden Zustimmung für Stuttgart 21 freue ich mich auf die Volksabstimmung, wenn
sie denn stattfindet. Besonders freue ich mich auf die
Zusammenarbeit mit der SPD bei dieser Volksabstimmung, gemeinsam für Stuttgart 21.
Herr Kollege.
Die Grünen in Bund und Land und konkret Ministerpräsident Kretschmann fordere ich auf: Stellen Sie sich
der Realität! Sie müssen endlich Ihrer Verantwortung in
der Landesregierung nachkommen. Die Menschen in
Baden-Württemberg verdienen es.
Vielen Dank.
({0})
Ute Kumpf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Damen und Herren
auf den Rängen! Wir sind nicht im Landtag von BadenWürttemberg, wir sind in Berlin.
({0})
Es geht auch nur um einen Bahnhof. Es geht nicht um
Leben und Tod. Wie Sie feststellen, beschäftigt das Projekt Stuttgart 21 aber auch uns in Berlin. Vor allem in
Richtung von CDU/CSU und FDP muss ich sagen: Mir
ist nicht ganz erklärlich, warum Sie dieses Thema auf
die Tagesordnung gesetzt haben.
({1})
Sind das Nachwehen, weil Sie die Wahl in BadenWürttemberg verloren haben? Warum wird hier über jemanden gerichtet, und warum wird hier jemand verurteilt, der nicht präsent ist?
({2})
Oder wollen Sie vielleicht alte Geschichten aufrollen?
Fakt ist doch, dass Ihr Vertreter, Herr Heiner Geißler,
einen Schlichterspruch gesprochen hat. Dieser Schlichterspruch wurde sowohl von den Gegnern als auch von
den Befürwortern getragen. In diesem Schlichterspruch
wurde ein Verfahren ausgehandelt. Es wurde festgelegt,
wie der Stresstest bzw. Faktencheck durchgeführt wird,
wie er zeitlich ablaufen wird, wann was überreicht wird
und welche Fakten einfließen werden; manche Fakten
wurden vom Verkehrsministerium Baden-Württemberg
nachgereicht. Der Zeitplan stand. Auch Sie haben in Gesprächen mit Herrn Grube erfahren, dass das Datum
14. Juli eingehalten werden muss. Weil sonst alles neu
hätte ausgeschrieben werden müssen, stand der 14. Juli
als Schlichtungstag fest. Warum also diese Aktuelle
Stunde? Klären Sie das doch bitte im Landtag von Baden-Württemberg, aber nicht im Deutschen Bundestag.
Der Deutsche Bundestag hat sich mit diesem Thema eigentlich gar nicht mehr zu befassen; das ist das Erste.
({3})
- Nein. Hier ist schlichtweg der falsche Ort.
({4})
Ihnen, Kollege Hofreiter, muss ich sagen: Es ist wenig hilfreich, wenn einem die Argumente ausgehen, ein
Bahn-Bashing zu inszenieren und die Bahn als unseriös
darzustellen. Auch das hilft uns nicht weiter.
({5})
Vielleicht - Sie sind ja neuer Vorsitzender des Verkehrsausschusses - hat Ihr Verhalten auch damit zu tun, dass
manche Grüne, wenn sie in Führungspositionen kommen, Schwierigkeiten haben, Verantwortung zu übernehmen.
({6})
Vielleicht gilt das nur für männliche Grüne; das weiß ich
nicht. Ich lasse die Frauen aber einmal außen vor. Sie
müssen sich der Verantwortung stellen und so agieren,
wie es sich für einen Ausschussvorsitzenden gehört. Das
gilt natürlich auch für einen Minister.
({7})
Man darf nicht in Rollenkonflikte geraten.
({8})
Das Gleiche gilt für den Kollegen Schlecht; ich
glaube, er war schon lange nicht mehr in Stuttgart. Ich
finde es übrigens sehr schön, dass sich so viele NichtStuttgarter Gedanken über Stuttgart machen und uns immer wieder furchtbar gute Ratschläge geben.
({9})
Die Leute in Stuttgart wollen endlich Klarheit, egal in
welche Richtung. Sie wollen ein Ergebnis. Sie wollen,
dass durch den Schlichterspruch eine Entscheidung gefällt wird.
Wahrscheinlich werden auch Sie in den letzten Wochen Besuch von Schulklassen aus Ihren Wahlkreisen
bekommen haben. Die Schulklassen aus meinem Wahlkreis Stuttgart haben die Faxen inzwischen dicke.
({10})
Sie wollen nicht mehr demonstrieren. Sie haben auch die
Belastungen dicke, die durch die Demonstrationen entstanden sind.
({11})
Die Jugend will also Klarheit, egal wie das Verfahren
ausgeht. Auch die Stadt ist am Rand der Erschöpfung.
({12})
Es demonstrieren auch Leute von außerhalb. Es sind
doch nicht nur die Einheimischen, die in Stuttgart vor
dem Bahnhof stehen. Es sind auch Menschen aus anderen Regionen, aus ganz Baden-Württemberg und aus
ganz Deutschland. Die Stuttgarter machen bei den Demonstrationen also nicht die Mehrheit aus. Bleiben Sie
bei den Fakten.
Sie sollten zur Kenntnis nehmen - das tut mir persönlich sehr leid -, dass wir bei den Wahlen die Mehrheit
nicht erreicht haben. Die CDU kommt in BadenWürttemberg noch immer auf 39 Prozent. Wir haben mit
einer hauchdünnen Mehrheit die grün-rote Regierung
stellen können.
({13})
Wir müssen bei den Fakten bleiben, wenn es um Demokratie geht. Sie als Bundestagsabgeordnete müssen akzeptieren, dass die Linke in Stuttgart nicht die Mehrheit
hat. Sie hat auch in Baden-Württemberg oder hier im
Deutschen Bundestag nicht die Mehrheit.
({14})
Am 14. Juli 2011 werden uns die Ergebnisse des Faktenchecks vorliegen. Herr Geißler hat uns und den Verantwortlichen im Schlichterspruch Folgendes aufgetragen: Es muss um ein neuntes und zehntes Gleis erweitert
werden. Der zweigleisige Ausbau zum Flughafen muss
erfolgen. Die Wendlinger Kurve muss kreuzungsfrei angebunden werden. Die Ferngleise von Zuffenhausen
müssen angeschlossen werden. Alle Strecken von Stuttgart 21 müssen zusätzlich mit konventioneller Technik
ausgestattet werden. Die Deutsche Bahn muss sich verpflichten, für den Bahnknoten Stuttgart eine Simulation
durchzuführen. Der Bahnhof muss behindertengerecht
sein. Maßnahmen für den Katastrophenalarm müssen
vorgesehen werden. All dies wird am 14. Juli 2011 auf
den Tisch kommen. Herr Geißler hat sich bereit erklärt,
den Faktencheck durchzuführen. Lassen Sie uns das Ergebnis abwarten.
Wenn zwischen den beiden Koalitionspartnern Dissens besteht - das wissen Sie; Sie haben den Koalitionsvertrag gelesen -, dann wird es einen Volksentscheid geben. Der Volksentscheid wird für den Fall, dass er
notwendig wird, bereits vom Justizministerium vorbereit. Vielleicht brauchen wir ihn aber gar nicht. Denn
vielleicht kommt es aufgrund des Ergebnisses des Gutachtens dazu, dass Stuttgart 21 gebaut werden kann. Wir
waren immer im Dissens; das wissen Sie. Warten Sie
also den 14. Juli 2011 ab. Ich glaube, an diesem Datum
hat in Frankreich irgendetwas Revolutionäres stattgefunden. Vielleicht werden auch wir eine Revolution starten.
Danke schön.
({15})
Werner Simmling hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Verantwortung, die Grün-Rot in Sachen Stuttgart 21 zu übernehmen hat, lastet schwer. Man hat den Eindruck, dass sie
sogar zu schwer auf ihren Schultern lastet. Das Chaos,
das im Moment dort herrscht, liebe Frau Kumpf, ist der
Grund, weshalb wir das Thema Stuttgart 21 hier heute
zum x-ten Mal debattieren.
Das Regieren hat sich die grün-rote Landesregierung
in Baden-Württemberg sicher nicht so vorgestellt.
({0})
Bereits unmittelbar vor seiner Vereidigung kündigte
Winfried Hermann an - ich darf das einmal wiederholen -,
dass er den Bau nicht mehr betreuen und die Verantwortung an ein anderes Ministerium abgeben würde, wenn
es bei dem geplanten Volksentscheid eine Mehrheit für
den neuen Bahnhof gibt.
({1})
Bei dieser Haltung kann man doch nur mit dem Kopf
schütteln. Das geht nicht. Das zeigt einmal mehr, welches Demokratieverständnis und welches Verantwor13450
tungsbewusstsein die Grünen und in diesem Fall insbesondere Winfried Hermann an den Tag legen.
({2})
Die euphorische Erwartungshaltung, die Bündnis 90/
Die Grünen vor der Wahl in Bezug auf eine Verhinderung von Stuttgart 21 bei ihrer Klientel geschürt hat,
scheint nun in eine tiefe Enttäuschung und Resignation
umzuschlagen. Um dies zu verhindern, versucht die
grün-rote Landesregierung nun alles, um Stuttgart 21 zu
torpedieren. Man versucht, den Stresstest, dem Ende
November 2010 alle Beteiligten - ich wiederhole: alle
Beteiligten - in der Schlichtung mit Heiner Geißler zugestimmt haben, zu diskreditieren, und zwar noch bevor
die Ergebnisse offiziell vorgestellt wurden.
Minister Hermann, der noch nie einen Hehl aus seiner
Abneigung gegen Stuttgart 21 machte, beklagt sich in
der Öffentlichkeit darüber, dass er bzw. die Landesregierung angeblich keinerlei Informationen über den Stand
der Untersuchungen habe. Wie kann das denn sein? Der
Minister ist doch Mitglied im Lenkungskreis Stuttgart 21. Er war informiert. So aber macht man Stimmung. So sorgt man für böses Blut. Die Folge waren
schwere Ausschreitungen bei den Demonstrationen der
vergangenen Tage mit acht leichtverletzten und einem
schwerverletzten Polizisten. Das ist ein übler Beweis für
die verantwortungslose Politik der neuen Regierung.
Anstatt zu deeskalieren, wird eine Blockadepolitik vorbereitet, und die Bürger werden weiter verunsichert. Ich
appelliere an dieser Stelle an die baden-württembergische Landesregierung und fordere sie auf, ihrer Verantwortung endlich gerecht zu werden und die Spielregeln,
die alle Beteiligten - Bund, Land, die Stadt Stuttgart, die
Region Stuttgart, der Flughafen Stuttgart und die Bahn gemeinsam aufgestellt haben, auch einzuhalten und sich
an unsere rechtsstaatlichen Grundsätze zu halten.
Wie muss es jetzt weitergehen? Jetzt müssen schnellstens die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, den
politischen und gesellschaftlichen Konflikt um Stuttgart 21 zu lösen, das heißt Rückgewinnung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Es gilt jetzt, das offizielle
Ergebnis des Stresstests abzuwarten, welches nach der
Überprüfung durch die Züricher SMA am 14. Juli vorgelegt wird. Auch das ist ein Teil aus der Vereinbarung
vom November 2010, dem alle Beteiligten zugestimmt
haben.
Um es klar zu sagen, Herr Beckmeyer: Es war Herr
Hermann, der aus dem Nähkästchen plauderte und damit
ein Informationschaos anrichtete. Wenn der geplante
Bahnhof die vorausgesetzten 30 Prozent mehr Verkehr
abfertigen kann, dann wird Grün-Rot bauen müssen. Ich
sage Ihnen: Die Mehrheit der Stuttgarter wird sich sehr
darauf freuen; denn es ist eine große städtebauliche
Chance für Stuttgart, um alte Bausünden wiedergutzumachen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ulrich Lange hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es droht den Grünen in Baden-Württemberg ein
Ergebnis, das nicht ins parteipolitische Kalkül passt. Lieber Toni Hofreiter, ich habe bisher Ihre Reden als Fachpolitiker zum Thema Bahn inhaltlich durchaus immer
wieder geschätzt. Aber das, was Sie hier an inhaltsloser
Polemik und Unverschämtheit gegenüber der Deutschen
Bahn und ihren Mitarbeitern, die diesen Test nach bestem Wissen und Gewissen nach fachlichen Regeln
durchgeführt haben,
({0})
vorgebracht haben, geht einfach zu weit. Wie wollen Sie,
lieber Toni Hofreiter, bei der nächsten Ausschusssitzung,
die Sie leiten, so viel Vertrauen aufbauen, dass wir mit
der Deutschen Bahn im Ausschuss weiterhin vernünftig
zusammenarbeiten können? Ich fand Ihre Rede gelinde
gesagt einen Skandal,
({1})
und Sie täten gut daran, sich bei der DB AG, bei den
Mitarbeitern und beim Vorstand, dafür zu entschuldigen.
({2})
Ich will auf die Fakten selbst nicht mehr eingehen. Ich
stelle aber fest: Ihr Verkehrsminister war eingebunden.
Ihr Verkehrsminister könnte hier sein, wenn er wollte.
Liebe Kollegin Kumpf, insofern stimmt Ihr Einwand
nicht: Er könnte hier auf der Bundesratsbank sitzen, so
wie heute Vormittag Ihr Finanzminister, aber Sie haben
Angst, Ihren Verkehrsminister hierher zu bringen, weil
er sich dann äußern müsste.
({3})
Das will er aber nicht; denn das hätte unter Umständen
die nächste Blamage und das übernächste Dementi zur
Folge. So kann man keine glaubwürdige Politik gestalten; dabei legen Sie doch immer so viel Wert darauf.
({4})
Seien Sie mir nicht böse, aber wenn Winfried
Hermann einen Stresstest als Minister hätte machen
müssen, dann hätte er ihn nicht bestanden; denn er dementiert permanent und behauptet, er wisse etwas nicht
oder er kenne das alles nicht. Ich fragen Sie ganz offen:
Was hat er die ersten Tage und Wochen in seinem Ministerium gemacht? Das war doch sein Thema! Lieber Toni
Hofreiter, sagen Sie Winfried Hermann: Wir glauben
ihm nicht!
({5})
Auch die Äußerungen im Rahmen der Randale - wir
erinnern uns an die letzten Bilder, als es Randale gab wirkten alles andere als deeskalierend. Ich habe die Demonstranten gehört. Das Ganze wurde dann auch noch
als Freudenfest bezeichnet. Ich frage mich schon, ob wir
angesichts von Schneisen der Verwüstung und verletzten
Polizisten „Freudenfeste“ feiern können. Meine Damen
und Herren der SPD, hier sind auch Sie gefordert - auch
Sie tragen Regierungsverantwortung in Stuttgart, wenn
auch nur als Juniorpartner -, auf Ihren Koalitionspartner
einzuwirken. Tun Sie das endlich,
({6})
damit Ihr Wunsch, Stuttgart 21 realisieren zu können,
Wirklichkeit werden kann.
({7})
Kollege Schlecht, Ihre Rede war eine Rede im Sinne
eines besten Krawallbürgers.
({8})
Sie enthielt leider nur Unterstellungen und war ohne jede
Substanz.
Die Süddeutsche Zeitung - Kollege Steffen Bilger hat
sie schon zitiert -, die bisher kein großer Freund von
Stuttgart 21 war, hat vor kurzem schön geschrieben:
„Den Grünen gehen die Hürden aus“. Ja, den Grünen gehen die Hürden aus, und aus purer Panik und Verzweiflung zweifelt man jetzt das Baurecht an. Das kann ja
wohl nicht sein.
Lieber Kollege Beckmeyer, statt hier hinsichtlich irgendeines Stresstests herumzueiern, der vielleicht vorliegt oder auch nicht vorliegt, sollten Sie lieber Ihrem
Fraktionsvorsitzenden der SPD in Stuttgart folgen und
die Grünen auffordern, das Baurecht der Bahn zu akzeptieren. Machen Sie es so wie Ihr Parteikollege, der Koalitionspartner in Stuttgart, und eiern Sie nicht rum. Das
war wirklich peinlich.
Wir freuen uns über einen zukunftsorientierten und
technisch hervorragend geplanten Tiefbahnhof.
Herr Kollege.
Ich bin mir sicher: Zusammen mit unserem Verkehrsminister und der DB werden wir die Eröffnung von
Stuttgart 21 als Freudenfest feiern - für Stuttgart, für
seine Bürger und für alle Bahnreisenden.
Herzlichen Dank.
({0})
Martin Burkert spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Egal wie man zu
Stuttgart 21 steht, eines ist für alle, denke ich, klar: Wir
wollen in Deutschland ein effizientes und modernes
Schienennetz. Die Eisenbahn ist das umweltfreundlichste und effektivste Verkehrsmittel, das wir in
Deutschland haben. Darin sind sich hier alle einig, zumindest diejenigen, die eine ökologisch und ökonomisch
sinnvolle Verkehrspolitik machen.
Der Grund, warum wir uns heute hier versammelt haben, ist der noch nicht vorgelegte Stresstest. In der Tat
wird viel davon abhängen, wie dieser Stresstest ausfallen
wird. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der rechten Seite dieses Hauses, ich habe viel Verständnis für Ihren Schockzustand, in dem Sie sich nach der Wahl in Baden-Württemberg anscheinend noch befinden, aber
warum man heute eine Aktuelle Stunde durchführt, obwohl das Ergebnis dieses Tests erst am 14. Juli 2011 präsentiert wird, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Normalerweise greift man in ein laufendes Verfahren nicht
ein, aber das hängt wohl wirklich noch mit der Wahl in
Baden-Württemberg zusammen.
Nach der ganzen Diskussion um Stuttgart 21 steht
fest: Wir brauchen in der Tat eine öffentliche Darstellung, um diese dann ausführlich und in einer breiten Öffentlichkeit erörtern zu können. Deswegen wird am
11. Juli 2011 den Projektpartnern das Ergebnis vorgelegt, und am 14. Juli 2011 wird Heiner Geißler das Ergebnis dann auch öffentlich erörtern. All das wurde festgelegt.
Ich plädiere eindringlich dafür, das Ergebnis in Ruhe
zu diskutieren und nicht wieder vorschnell Schlüsse zu
ziehen, wie das heute schon wieder der Fall war. Das gilt
für alle Beteiligten: Bahn, Bundesregierung, Landesregierung, Kommune und auch Stuttgart-21-Kritiker.
Eines darf nicht mehr passieren - das muss man der
Vorgängerregierung vorwerfen -, nämlich dass man die
Bevölkerung am Schluss wieder vor vollendete Tatsachen stellt. Herr Minister Ramsauer, in einer Sache bin
ich mit Ihnen einig: Sie sagten gestern im Handelsblatt:
Besonnenheit ist das oberste Gebot. In der Tat gilt es
jetzt, in dieser Frage Besonnenheit zu bewahren.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Großprojekte einen arbeitsmarkt- und verkehrspolitischen Sinn ergeben
müssen. Ein Projekt wie Stuttgart 21 - das wissen Sie
aus den Medien - verschlingt immense Investitionsmittel von Bund, Ländern und Kommunen und damit natürlich unsere Steuergelder. Klar muss für uns auch sein,
dass der demokratische Prozess eingehalten werden
muss. Entscheidungen müssen transparent getroffen
werden. Wenn ein offizielles Ergebnis vorliegt und aufgrund der Faktenlage eine Entscheidung getroffen wird,
dann muss diese umgesetzt werden. Wir müssen zur
Sachlichkeit zurückkehren. Das betrifft alle Beteiligten.
Auch der neue Ministerpräsident ist aufgerufen, zu
deeskalieren. Keiner von uns will mehr Straßenschlachten sehen. Diffamierungen und pauschale Anschuldigungen über mangelnde Fachkompetenz sind ebenso fehl
am Platz wie Beschimpfungen und Verunglimpfungen.
Gerade in diesem Zusammenhang möchte ich diejenigen
erwähnen, die am Stuttgarter Hauptbahnhof ihrer Arbeit
nachgehen, und auch diejenigen, die auf der Baustelle
am Bahnhof arbeiten. Egal welche Lösung am Schluss
zum Tragen kommt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Deutschen Bahn AG oder einer der Baufirmen dürfen auf keinen Fall Opfer von Angriffen und Beschimpfungen werden. Das haben wir leider alles gesehen. Es
darf keine Bilder mehr geben, auf denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitsstelle - das muss
man sich in Deutschland einmal vorstellen - nur noch
unter Polizeischutz erreichen können.
Aus meiner Sicht müssen wir sofort zur Sachlichkeit
zurückkehren und dann ab dem 14. Juli die Ergebnisse in
aller Ruhe bewerten. Unterschiedliche Aspekte wird es
geben. Ich bin davon überzeugt, Heiner Geißler wird sie
in seine Überlegungen einbeziehen. Das ist eine seiner
großen Lebensaufgaben, die er mit Bravour meistert.
Eine Frage ist auch: Was wäre denn bei einem Baustopp? Lieber Toni Hofreiter, liebe Fraktion der Grünen,
wie sähen denn die Auswirkungen auf das System
Schiene aus? Was würde denn mit der Realisierung der
transeuropäischen Netzkorridore passieren? Was würde
ein Baustopp für die Deutsche Bahn AG bedeuten, was
für die Region? Frau Kumpf ist darauf eingegangen. Wie
würden Alternativen aussehen? Welche Kosten würden
bei einem Baustopp entstehen? Dazu habe ich von Ihnen
heute keinen Ton gehört.
Es gilt: Für Sachlichkeit und Transparenz müssen die
Signale auf Hp 1 gestellt sein. Für alle Nichteisenbahner:
Hp 1 bedeutet, das Signal auf Grün zu stellen. Nach
15 Jahren Planung und Diskussion gilt jetzt: Volle Fahrt
für die beste Lösung dieses Projekts. Ich prophezeie, es
wird wohl gebaut.
Herr Minister, eine Frage bleibt zum Schluss noch offen: Welche Lehren ziehen wir denn für die zukünftigen
Infrastrukturprojekte in Deutschland aus Stuttgart 21?
({0})
Hier, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sind alle
aufgerufen, Lösungen zu suchen und umzusetzen. Ich
kann Ihnen sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion arbeitet
daran.
Herzlichen Dank.
({1})
Karin Maag hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt gelernt, dass dieser Stresstest zu einem Stressfaktor für die Landesregierung in BadenWürttemberg geworden ist. Dass wir das Ganze hier im
Bundestag diskutieren, Frau Kumpf, hat natürlich einen
tieferen Sinn: Wir sind in diesem Projekt nämlich Vertragspartner. Mir ist es nicht egal, wenn die Landesregierung alles versucht, um das Projekt zu torpedieren. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir hier darüber reden.
({0})
Herr Kollege Hofreiter, was Sie über ein Bundesunternehmen, die Deutsche Bahn AG, gesagt haben, war
einem Vorsitzenden des Ausschusses nicht angemessen.
({1})
Ich fände es angebracht, dass Sie sich hier oder direkt
bei der Bahn dafür entschuldigen.
({2})
Ich will aber jetzt kurz auf die Schlichtung zurückblicken, die mir wichtig ist. Die Schlichtung zu Stuttgart 21
war ein Erfolg. Gräben, die sich durch Stuttgart gezogen
haben, sind wieder zugeschüttet worden. Darauf hat
auch die Kollegin Kumpf hingewiesen. Die Argumente
werden wieder als Argumente wahrgenommen.
Wir haben ein Modell geschaffen, Herr Kollege, das
vorbildhaft dafür stehen kann, wie künftig Großprojekte
vernünftig und in einem guten Rahmen der Bevölkerung
vermittelt werden können. Egal, auf welcher Seite wir in
Stuttgart stehen: Dieses Handeln im Geiste der Schlichtung dürfen die Bürger von uns Politikern aller Parteien
und selbstverständlich auch von der Bahn als Bundesunternehmen erwarten.
Jetzt komme ich zu dem ehemaligen Kollegen im
Bundestag und jetzigen grünen Verkehrsminister, Herrn
Hermann. Er trägt derzeit viel dazu bei, dass diese Annäherung und das Einvernehmen wieder torpediert wird.
Das Notwendige zum Stresstest haben wir mehrfach
gehört. Die Landesregierung ist selbstverständlich Mitglied im Lenkungskreis, und die Deutsche Bahn hat den
Lenkungskreis regelmäßig über die Arbeiten informiert.
Selbstverständlich werden die Ergebnisse erst am
14. Juli veröffentlicht.
Weil es ein Bundesprojekt ist - der Stresstest gehört
zu Stuttgart 21 -, will ich jetzt noch einmal das Verhalten und sehr einseitige Amtsverständnis des Ministers
beleuchten. Jeder Minister leistet einen Amtseid. Er
schwört unter anderem, dass er die Rechte wahren und
seine Pflichten gewissenhaft erfüllen wird. Zu diesen
Pflichten gehören Aufrichtigkeit und Wahrheit. Seine
Pflichten erfüllt ein Minister sicherlich nicht gewissenhaft, wenn er, ob autorisiert oder nicht, einem Journalisten der Frankfurter Rundschau Auskunft erteilt und anschließend offensichtlich wider besseres Wissen erklärt,
der Landesregierung liegen noch keine Materialien zum
Stresstest vor.
Wenn der Ministerpräsident die Diskrepanz nun mehr
oder weniger gequält so erklärt, dass dem Land keine
Originalunterlagen, sondern nur Zwischenberichte vorliegen, dann ist das sicherlich richtig. Aber ob das etwas
an der Sache ändert, wage ich zu bezweifeln. Dass er
doch informiert war, hat der Minister nun auch verklausuliert, um es so auszudrücken, eingeräumt.
Der Vorgang verdeutlicht aber vor allem, dass der
Minister bestenfalls noch nicht im Amt angekommen ist
und offensichtlich in seiner Rolle in der Opposition im
Bundestag, also im Dagegensein, verharrt, ohne sich
über die Verantwortung, die er mittlerweile zu tragen
hat, auch nur ansatzweise Gedanken zu machen.
Schlimmstenfalls will er das gar nicht. Schlimmstenfalls
will er - so verstehe ich die Äußerungen - mit der Macht
des Amtes, aber ohne die Verantwortung des Amtes zu
übernehmen, das Bahnhofsprojekt verhindern. Zu dieser
Linie passt, dass er bereits kurz nach den Koalitionsverhandlungen gesagt hat, wenn Stuttgart 21 gebaut werde,
dann fühle er sich als Minister nicht mehr zuständig.
Er hat eines nicht erkannt. Es geht darum, dass er das
Recht wahren muss. Bahn, Bund und die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg sind jetzt Partner.
Es geht um Vertragstreue. Es geht darum, wie man mit
Vertragspartnern umgeht. Man muss einen Vertragspartner nicht mögen, aber man muss ihn respektieren und
fair behandeln. Das ergibt sich aus dem Recht in diesem
Land. Dazu gehört auch, ein gemeinsames Projekt zu
fördern. Man macht sich sonst schadensersatzpflichtig.
Es geht auch um die Souveränität eines Mitglieds der
Landesregierung. Ein Minister kann und darf nach meinem Verständnis nicht mehr oberster Projektgegner sein.
Es ist sicherlich nicht angenehm, meine Damen und Herren von den Grünen, der eigenen Klientel Wahrheiten
beizubringen.
({3})
- Nein, ich debattiere es hier, weil Ihr Minister dieses
Projekt torpediert. Es ist ein Bundesprojekt.
Frau Kollegin, Sie können es gerne hier debattieren,
aber nicht mehr innerhalb Ihrer jetzigen Redezeit. Sie ist
nämlich längst um.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich bin schließlich und endlich der Auffassung: Wer
Baurecht ignoriert, wer seiner Projektförderungspflicht
nicht nachkommt,
Frau Kollegin!
- der ist nicht geeignet für ein Ministeramt, der ist
eine Belastung.
Frau Kollegin!
Ich halte den Ministerpräsidenten meines Landes allerdings für so klug, dass er, wenn er schon den obersten
Gegner des Projekts in die Regierung einbezogen hat,
dies erkennt und die Konsequenzen zieht.
Vielen Dank.
({0})
Thomas Strobl hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nur um es noch einmal klar zu sagen: Die Art und
Weise, wie der Kollege Dr. Hofreiter hier über ein für die
Verkehrsinfrastruktur in Deutschland und in Europa bedeutendes Unternehmen gesprochen hat - im Übrigen
handelt es sich um ein Unternehmen, dessen Eigentümer
der Bund ist und für das wir alle hier eine besondere Verantwortung tragen -, und insbesondere seine Behauptung, dass es in diesem Unternehmen an der Tagesordnung sei, die Unwahrheit zu sagen und zu täuschen
({0})
- das hat er wohl gesagt; zumindest hat er sinngemäß gesagt, dass dort die Unwahrheit gesagt und getäuscht wird
und dass das eigentlich immer so ist; das kann man im
Protokoll nachlesen -, werden der Verantwortung, die
wir als Bundestagsabgeordnete für dieses Bundesunternehmen haben, nicht gerecht, genauso wenig wie seiner
Verantwortung als Vorsitzender des Verkehrsausschusses. Herr Kollege Lange, das geht nicht zu weit, sondern
das geht überhaupt nicht. Herr Hofreiter, nehmen Sie das
unverzüglich zurück, und entschuldigen Sie sich dafür.
Anderenfalls sollten Sie die Konsequenzen in Ihrem
Amt als Vorsitzender des Verkehrsausschusses ziehen.
Das geht so nicht.
({1})
- Frau Kollegin, wir führen hier eine Debatte, und ich
bin auf einen Vorredner eingegangen, der einen Redebeitrag geleistet hat, der nach meiner Meinung so nicht im
Raum stehen bleiben kann. Auf diesen Redebeitrag bin
ich - das ist der Sinn einer Debatte - soeben eingegangen.
({2})
Zu den Inhalten ist Folgendes zu sagen: Niemand anderes als Ihr Parteikollege Winfried Hermann, der grüne
Verkehrsminister in Baden-Württemberg, hat das Thema
Thomas Strobl ({3})
Stresstest in die Welt gesetzt und auch, dass die Bahn
vermutlich diesen Test bestanden hat. Daraufhin hat die
grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg sogar eingeräumt, dass Stuttgart 21 offenbar nicht vor
überdimensionierten Kostensteigerungen steht. Wenn
das richtig ist, was in die Welt gesetzt worden ist, dann
steht dem Weiterbau technisch und rechtlich nichts mehr
entgegen. Besprechen Sie das doch mit Ihrem Parteikollegen, dem grünen Verkehrsminister Winfried Hermann
in Baden-Württemberg! Ich habe ihn nicht gebeten,
diese Debatte anzuzetteln. Das hat er aus freien Stücken
getan. Fragen Sie ihn nach seiner Motivation! Möglicherweise wird er Sie aufklären.
({4})
Mein Rat wäre, dass die Grünen langsam aufhören,
dieses Projekt ständig zu blockieren, zu diskreditieren
und neue Hürden aufzubauen. Auch Sie, meine Damen
und Herren von den Grünen, sollten darauf hinwirken,
dass die Landesregierung in Baden-Württemberg dem
nachkommt, wozu sie vertraglich verpflichtet ist, nämlich dieses Projekt zu befördern. Dazu passt nicht, Hürden aufzubauen und zu blockieren.
Ich möchte noch einen Vorschlag machen. In BadenWürttemberg regiert eine Bürgerregierung. Warum gibt
es nicht - das fände ich ganz vernünftig - ein Dialogforum, in dem Befürworter, Gegner und Sachverständige
das Projekt Stuttgart 21 öffentlich und transparent begleiten, mit einer Persönlichkeit - ähnlich wie Heiner
Geißler - als Moderator? In einem solchen Dialogforum
könnten Gegner und Befürworter ihre Argumente
austauschen und das Projekt öffentlich begleiten. Ein
solches Forum hätte die neue Landesregierung längst
einrichten können. Statt Hürden aufzubauen und zu blockieren, könnte sie als Bürgerregierung so einen konstruktiven und sinnvollen Beitrag zur Begleitung dieses
Projektes leisten.
Es ist aber bemerkenswert, dass schon die Ergebnisse
der Schlichtung unter dem Moderator Heiner Geißler,
den die Grünen vorgeschlagen haben, immer nur dann
mit Applaus bedacht wurden, wenn sie ins Konzept
passten.
Das erinnert an die Geschichte von dem Dogmatiker,
der immer sagt: Die Ergebnisse und der Kompromiss
sind mir dann recht, wenn sie sich zu 100 Prozent mit
meinen Positionen decken. - Eine solche Denkweise ist
in einer Demokratie nicht konstruktiv; sie ist auch nicht
verantwortlich.
Der wahre Hintergrund ist klar: Die Grünen haben
Angst, bei ihren Wählerinnen und Wählern das Gesicht
zu verlieren und eingestehen zu müssen, dass sie ein
zentrales Wahlkampfversprechen, nämlich Stuttgart 21
zu verhindern, nicht einhalten können.
({5})
Daher kommen auch die nervösen Aktivitäten des
grünen Verkehrsministers, den Ministerpräsident
Kretschmann zwar noch einen ehrenwerten Mann nennt;
dies tut er aber durchaus mit der notwendigen Ironie.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn
Winfried Hermann von der Sprachverwirrung redet, die
über ihn gekommen sei, hängt das mit dieser Nervosität
zusammen. Wir sind nicht in Babylon, sondern in der
Bundesrepublik Deutschland, und es ist schon zu klären,
allerdings nicht hier - das wird im baden-württembergischen Landtag geschehen -, wie genau es der grüne Verkehrsminister mit der Wahrheit nimmt. Sein Verhalten
zeigt zumindest eines, dass er nämlich ein Dogmatiker in
der Politik ist, der nach der Pippi-Langstrumpf-Methode
verfährt: Er macht sich die Welt, widdewidde wie sie
ihm gefällt.
({6})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist dann auch abgelaufen.
Das ist wohl wahr.
({0})
Deswegen ist meine Schlussbemerkung: Warten wir alle
- beruhigen Sie auch den grünen Verkehrsminister in
Baden-Württemberg - die Ergebnisse des Stresstests ab.
Warten wir ab, was SMA dazu sagt.
Herr Kollege.
Warten wir ab, was der Kollege Heiner Geißler dazu
sagt, und dann führen wir die Debatte
Herr Kollege.
- in aller Sachlichkeit weiter.
Vielen Dank.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen
- Drucksache 17/5712 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hierzu ist verabredet worden, eine Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Für die Bundesregierung hat die Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Insolvenzrecht ist ein unerlässlicher Bestandteil einer sozialen Marktwirtschaft in einer freien und offenen Gesellschaft. Ziel eines jeden Insolvenzverfahrens
ist die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger. Die
strikte Orientierung am Gläubigerinteresse kann aber
dazu führen, dass das für den Einzelfall angemessene
und zugleich im gesamtwirtschaftlichen Interesse liegende Ergebnis nicht in der Zerschlagung des Unternehmens, sondern darin liegt, das Unternehmen fortzuführen und zu sanieren. Eine Sanierung ist immer dann
volkswirtschaftlich sinnvoll, wenn der Fortführungswert des Unternehmens den Liquidationswert übersteigt.
Das Insolvenzverfahren gibt nicht vor, ob ein Unternehmen zu retten oder zu liquidieren ist. Es setzt einen neutralen Rechtsrahmen, in dem die Beteiligten unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung die für sie vorteilhafteste Lösung finden und
umsetzen können.
Wir brauchen in Deutschland eine Kultur der zweiten
Chance. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass dieser Ansatz zu wenig beherzigt wurde. Zudem legt das
geltende Recht den Beteiligten vermeidbare Hindernisse
in den Weg zu der für sie bestmöglichen Lösung.
Mit dem heute zur Debatte stehenden Regierungsentwurf wollen wir den Rechtsrahmen für Insolvenzen in
Deutschland verbessern. Ich hoffe, dass wir mit dieser
Novelle einen Schritt in Richtung einer sanierungsfreundlicheren Wirkung des Verfahrens tun können und
ihm noch mehr als schon bislang das Stigma des Scheiterns nehmen.
Die Gründe für Insolvenzen sind vielfältig. Die vorherrschende Meinung, ein Unternehmen gerate stets aufgrund persönlichen wirtschaftlichen Versagens in eine
Schieflage, ist falsch, hat aber unmittelbar nachteilige
Konsequenzen. Die Unternehmer scheuen den Gang
zum Insolvenzgericht. In der Folge werden Insolvenzverfahren in der Regel erst beantragt, wenn die letzte
Masse verbraucht, die Chance auf Sanierung vertan und
die Quote für die Gläubiger gering ist.
Genau hier setzt der Gesetzentwurf an: Wir beseitigen
gezielt Hindernisse, die einer frühzeitigen Einleitung des
Insolvenzverfahrens im Wege stehen. Das Verfahren
wird vorhersehbarer, das Störpotenzial Einzelner wird
beseitigt.
Wie erreichen wir das? Wir stärken im Gesetzentwurf
den Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl des Insolvenzverwalters. Die jetzige Möglichkeit der Abwahl
durch die Gläubiger einige Monate nach Verfahrenseröffnung kommt regelmäßig zu spät.
({0})
Deshalb soll künftig ein vorläufiger Gläubigerausschuss
schon an der Bestellung des vorläufigen Verwalters mitwirken.
Das Insolvenzplanverfahren wird weiter ausgebaut,
indem wir die Anteilsinhaber des insolventen Unternehmens einbeziehen und damit einen Geburtsfehler der Insolvenzordnung beheben.
({1})
Gleichzeitig beschleunigen wir das Planverfahren und
beseitigen Obstruktionspotenzial und Verfahrenshindernisse. Dies erleichtert Sanierungen.
Die Eigenverwaltung wird vereinfacht und den Unternehmern so ein Stück die Angst vor dem Kontrollverlust
genommen. Wir führen zum Beispiel mit dem sogenannten Schutzschirmverfahren eine besondere Spielart des
Eröffnungsverfahrens ein und greifen damit Vorschläge
aus dem parlamentarischen Raum auf. Diese Möglichkeit soll dem Schuldner aber nur eröffnet werden, wenn
noch keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt. Damit werden
einerseits die Gläubigerrechte gewahrt und andererseits
Anreize für einen früheren Insolvenzantrag gesetzt.
Der Gesetzentwurf sieht vor, die fachliche Kompetenz bei den Gerichten durch eine stärkere Konzentration
und durch zusätzliche Anforderungen an die Qualifikation der Insolvenzrichter und der Rechtspfleger zu steigern.
({2})
Der Vorschlag, die Konzentration bei den Gerichten vorzunehmen, was dann natürlich jeweils in der Verantwortung der Landesjustizminister zu erfolgen hat, hat den
Bundesrat in seiner Gegenäußerung besonders beschäftigt. Nach meinem Dafürhalten müssen wir uns im weiteren Verfahren bei unseren Beratungen noch einmal genau ansehen, wie es gekommen ist, dass in manchen
Ländern diese Konzentration erfolgt ist, auch ohne dass
wir es schon ausdrücklich im Gesetz vorsehen. Da hat
man genau dies bereits vorgenommen, sodass dann natürlich der Sachverstand aufgrund der Durchführung
mehrerer Verfahren an jeweils einem Gericht schon
deutlich ausgeprägter ist. In anderen Ländern ist dies
nicht der Fall; es hält sich mit ungefähr acht zu acht, wie
wir es bewerten, wohl die Waage. Hier gibt es Beratungsbedarf im Hinblick darauf, dass von Teilen der
Landesjustizminister Probleme bei den Umsetzungsmöglichkeiten gesehen werden.
Der Regierungsentwurf will aber nicht nur die Insolvenzordnung verbessern, sondern er enthält auch ein
vollständig neues Insolvenzstatistikgesetz. Das mag sich
ein wenig spröde anhören. Wir werden dadurch in Zukunft für die praktische Arbeit sehr viel genauere Angaben über Insolvenzen und die finanziellen Ergebnisse
von Insolvenzverfahren erhalten, indem wir detaillier13456
tere Informationen auch von den Insolvenzverwaltern
und nicht nur den Gerichten einholen.
Das vorliegende Sanierungsgesetz enthält die richtigen Leitlinien zur Erleichterung der Fortführung und Restrukturierung von Unternehmen im Interesse aller Gläubiger, vom Lieferanten bis zum Arbeitnehmer. Die
immer wieder vorgenommene Anpassung der Insolvenzordnung an die Erfahrungen, die in der Praxis mit der
Anwendung der einzelnen Instrumente gemacht werden,
prägt die Gesetzgebung, auch die der vergangenen Legislaturperioden. Immer wieder hat man sich Reformen
und Änderungen der Insolvenzordnung vorgenommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt.
Ich denke dabei an die Konzentration auf das Planverfahren, an die Steigerung der Eigenverwaltung und andere Punkte.
Wir werden uns noch mit weiteren Vorschlägen, wie
im Koalitionsvertrag vereinbart, zu befassen haben. Ich
meine hier die Verbraucherinsolvenzen. Ferner stellt sich
die Frage der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen und anderem. Es handelt sich um Themen, die den Bundestag
und insbesondere den Rechtsausschuss schon früher intensiv beschäftigt haben. Wir sollten diesen Gesetzentwurf, natürlich mit Zustimmung des Bundesrates, bezüglich Wirkung und Anreizen so gestalten, dass es in der
Praxis zu den Verbesserungen kommt, die ich genannt
habe. Dann sind wir auf einem guten und richtigen Weg.
Wir müssen in der Bilanz des geltenden Rechts leider
feststellen, dass die Erwartungen, die wir hier im Bundestag, meistens über Koalitionsfraktionsgrenzen hinweg, formuliert haben - dass es stärker zu Eigenverwaltung, zu früheren Insolvenzanträgen, zu mehr
Perspektive auf Sanierung kommt -, im erhofften Umfang nicht erfüllt worden sind. Deshalb setzen wir mit
den in diesem Gesetzentwurf enthaltenen Stellschrauben
an diesen Punkten an.
Ich freue mich auf die Beratungen. Intensive Debatten
finden schon statt; es gibt Anhörungen. Ich hoffe auf
Ihre Unterstützung bei der Durchführung dieses Gesetzgebungsverfahrens.
Vielen Dank.
({3})
Burkhard Lischka spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
wir uns hier heute eine Stunde Zeit nehmen, um über das
Insolvenzrecht und einen möglichen Reformbedarf zu
debattieren, dann hat das einen guten Grund: Das Insolvenzrecht ist kein Randthema für einige wenige Fachleute wie Insolvenzrichter oder Insolvenzverwalter. Auf
Grundlage dieses Rechts wird Jahr für Jahr über die Zukunft oder das Aus von etwa 32 000 Unternehmen und
Hunderttausenden von Arbeitsplätzen entschieden. Beim
Insolvenzrecht geht es deshalb nicht nur um 359 Paragrafen im Bundesgesetzblatt, sondern im konkreten Einzelfall immer auch um Gefühle und Emotionen: um Wut,
Sorge, Trauer über den Verlust der beruflichen Existenz
oder des Arbeitsplatzes genauso wie um Hoffnung oder
vielleicht die Freude, wenn die Sanierung eines Unternehmens gelingt.
Sie haben recht, Frau Ministerin: Das Ziel eines modernen Insolvenzrechts muss es sein, Unternehmen, die
sich in einer Schieflage befinden, frühzeitig unter die
Arme zu greifen, sie zu sanieren, Arbeitsplätze zu erhalten, anstatt sie plattzumachen und abzuwickeln.
Die Kernfrage, mit der wir uns jetzt anhand des vorgelegten Gesetzentwurfs zu beschäftigen haben, ist ganz
einfach: Dienen die Vorschläge, die Sie jetzt auf den
Tisch gelegt haben, tatsächlich dazu, die Sanierung, das
heißt die Fortführung von Unternehmen, zu erleichtern ja oder nein? Das ist die simple Frage. Das ist aber auch
der Prüfmaßstab, mit dem wir Sozialdemokraten Ihren
Gesetzentwurf beurteilen werden.
Frau Ministerin, da gibt es Ansätze, die in die richtige
Richtung weisen. Zu Recht beklagen Sie - Sie haben das
auch eben getan -, dass viele Unternehmer häufig viel zu
spät einen Insolvenzantrag stellen, quasi dann, wenn das
Kind bereits in den Brunnen gefallen ist und es in dem
Unternehmen nichts mehr zu retten gibt. Insofern teile
ich Ihre Einschätzung, dass wir Anreize setzen müssen,
dass Unternehmer frühzeitig einen Antrag stellen. Das
erhöht die Chancen auf die Rettung eines Unternehmens
und den Erhalt der Arbeitsplätze. Aber, Frau Ministerin,
ich habe Zweifel, ob Sie diesen guten und richtigen Ansatz in Ihrem Gesetzentwurf immer konsequent zu Ende
gedacht haben.
So schlagen Sie beispielsweise vor, dass ein Unternehmer nicht, wie bisher, erst dann einen Antrag stellen
kann, wenn er tatsächlich zahlungsunfähig, das heißt
pleite, ist. Künftig soll das ein Unternehmer schon tun
können, wenn Zahlungsunfähigkeit lediglich droht. Sie
wollen dann - Sie haben das eben erläutert - einen
Schutzschirm aufspannen, unter dem der Unternehmer
frei von Vollstreckungsmaßnahmen drei Monate lang an
der Sanierung seines Unternehmens arbeiten kann. So
weit, so gut.
Der Pferdefuß liegt allerdings darin, dass dieser
Schutzschirm in der Praxis höchst löchrig sein wird. Was
wird nämlich in der Praxis passieren? Der Unternehmer
stellt, wie von Ihnen gewünscht, einen Antrag. Davon
bekommen seine Banken Wind, und sie werden ihm zunächst einmal sämtliche Kredite kündigen. Das heißt,
der Unternehmer ist dann wirklich pleite.
Was machen Sie? Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass
damit das Schutzschirmverfahren automatisch beendet
ist und sich der Unternehmer in der ganz normalen Insolvenz befindet. Das heißt, erst locken Sie den Unternehmer unter Ihren Schutzschirm, und dann, wenn das Gewitter beginnt, ziehen Sie den Schirm weg und lassen
den Unternehmer im Regen stehen. Das ist doch grotesk,
Frau Ministerin. Das ist kein Schutzschirm, den Sie da
aufspannen, sondern das ist die Aufforderung, schlicht
und einfach in eine Sackgasse zu laufen.
({0})
Lassen Sie uns das weitere Gesetzgebungsverfahren
wirklich dafür nutzen, hier zu Regelungen zu kommen,
nach denen derjenige, der frühzeitig einen Antrag stellt,
auch tatsächlich die faire Chance bekommt, an der Sanierung seines Unternehmens zu arbeiten, selbst dann,
wenn aus der drohenden eine tatsächliche Zahlungsunfähigkeit wird. Anreize für die Praxis sollten wir hier setzen, anstatt irgendwelche Scheinlösungen zu präsentieren, Frau Ministerin.
Ich will noch einen zweiten Punkt herausgreifen, bei
dem ich wirklich ernsthafte Zweifel an der Praxistauglichkeit Ihres Gesetzentwurfes habe. Sie wollen - Sie haben das eben angesprochen - die Zahl der Insolvenzgerichte weiter reduzieren. Künftig soll es nur noch ein
Insolvenzgericht pro Landgerichtsbezirk geben. Zur Begründung führen Sie an, dass das zu einer Qualitätsverbesserung der Rechtsprechung führt. Weil große Gerichte sich besser spezialisieren könnten als kleine, so
sagen Sie, würde das dazu dienen, die Rechtsprechung
zu verbessern.
Frau Ministerin, welches Problem wollen Sie da eigentlich lösen? Ist Ihnen während Ihrer Amtszeit irgendwann zu Ohren gekommen, dass unsere Gerichte nicht
vernünftig arbeiten würden, dass unsere Richter bei der
Anwendung des Insolvenzrechts irgendwie Probleme
hätten? Das Gegenteil ist der Fall. Um die Qualität unserer Rechtsprechung und Gerichte beneiden uns andere
Staaten. Das ist einer der glänzendsten Standortvorteile,
die dieses Land weltweit hat. Hören Sie doch bitte damit
auf, Probleme lösen zu wollen, wo gar keine Probleme
sind!
({1})
Es gibt nichts, aber auch rein gar nichts, was Ihre Annahme rechtfertigen würde, dass große Gerichte besser
arbeiten als kleine. Der Deutsche Richterbund hat Ihnen
erst vor wenigen Wochen eine Statistik vorgelegt, aus
der eindeutig hervorgeht, dass die Rechtsmittel- und Beschwerdequote bei kleinen Insolvenzgerichten keinen
Deut höher ist als bei großen Insolvenzgerichten. In Ihrer Rede sind Sie darauf nicht eingegangen, sondern haben eigentlich stereotyp Ihr Credo von der Schließung
zahlreicher Insolvenzgerichte wiederholt.
Was bedeutet das? Das bedeutet, dass in Zukunft beispielsweise die Menschen, die sich in einem Privatinsolvenzverfahren befinden, die also ohnehin nichts haben,
150 Kilometer und mehr bis zum nächsten Insolvenzgericht fahren müssen. Das hat mit der Bürgerfreundlichkeit der Justiz - das Wort führen Sie, Frau Ministerin, ja
sehr gern im Mund - gar nichts zu tun. Das ist ein Akt
der Bürgerunfreundlichkeit, und zwar zulasten der
Schwächsten in dieser Gesellschaft, derjenigen, die ohnehin am Rande des Existenzminimums leben.
Das Ganze ist im Übrigen kein Randproblem. Wir haben im letzten Jahr 109 000 Privatinsolvenzverfahren
gehabt. Diesen Personen plus 32 000 Unternehmern
wollen Sie jetzt die Wege verlängern. Hören Sie in dem
Zusammenhang doch einmal auf Ihre Länderkollegen!
Die Landesjustizminister lehnen diesen Vorschlag fast
unisono ab. Sie wissen, wovon sie reden, Frau Ministerin.
Es kommt noch etwas anderes dazu. Unsere Insolvenzgerichte arbeiten vor allen Dingen deshalb besonders gut
- das ist meine Erfahrung -, weil sie eingebettet sind,
eingebettet in ein kleinteiliges Netzwerk aus Schuldnerberatungsstellen, Verbraucherzentralen und Wohlfahrtsverbänden, in dem gerade die Menschen im Privatinsolvenzverfahren über Jahre hinweg intensiv beraten und
betreut werden. Wenn Sie die Länder dazu zwingen, Insolvenzgerichte zu schließen, zerstören Sie auch diese
gut funktionierenden Netzwerke, ohne zu wissen, ob
sich über die Entfernungen, die Ihnen vorschweben, ähnliche Netzwerke überhaupt etablieren lassen.
({2})
Frau Ministerin, das ist keine Weiterentwicklung des Insolvenzrechts, sondern schlicht und einfach ein Abbruch
in der Fläche.
Deshalb werden wir Sozialdemokraten Ihren Gesetzentwurf kritisch begleiten. Es gibt richtige Ansätze, jawohl, aber es gibt auch Regelungen, die aus unserer
Sicht weder praxistauglich noch sachgerecht noch
durchdacht sind. In den kommenden Wochen haben Sie
die Möglichkeit, an diesen Regelungen zu arbeiten und
Veränderungen vorzunehmen. Tun Sie das, korrigieren
Sie einzelne Regelungen! Das dient den Betroffenen, es
dient der Justiz und dem Wirtschaftsstandort Deutschland.
Danke.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth WinkelmeierBecker für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es hat lange genug gedauert bis zur heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfs zur Vereinfachung der
weiteren Sanierung von Unternehmen. Ich bin froh darüber, dass es jetzt so weit ist. Denn zwölf Jahre nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung müssen wir konstatieren, dass nicht alle Erwartungen erfüllt worden sind, mit
denen wir damals den Wechsel von der Konkursordnung
zur Insolvenzordnung vorgenommen haben. Etliche
Punkte sind zu ändern, einige davon jetzt in einem ersten
Schritt. Weitere Schritte werden folgen, zum Beispiel in
Bezug auf die Verbraucherinsolvenz, die Konzerninsolvenz und dergleichen.
Der Entwurf hat sehr viel Zustimmung gefunden,
auch in der Fachwelt. Wir hören aber auch viele Verbesserungsvorschläge. Ich sage ausdrücklich unsere Bereitschaft zu, wirklich zuzuhören, wenn Anregungen aus der
Praxis kommen. Wir wollen ein Gesetz erlassen, das in
der Praxis funktioniert. Es ist ein Gesetz, bei dem nicht
Ideologie im Vordergrund steht. Vielmehr wollen wir
gute Regelungen finden, um Sanierungen zu ermöglichen.
Die Bilanz der Insolvenzen in Deutschland ist immer
noch zu schlecht. Sanierungsfähige Unternehmen werden liquidiert; Arbeitsplätze gehen verloren. Das Leid
der Betroffenen ist auch etwas, was uns dabei umtreibt.
Wir wollen nicht, dass Menschen ihr Lebenswerk verlieren, dass sie ihre Löhne nicht bekommen oder dass sie
selber in Insolvenz geraten, weil eine Forderung, die sie
gegen andere haben, ausfällt.
Diese Ziele sind nicht neu; sie lagen bereits der damaligen Insolvenzreform zugrunde. Wir müssen darüber
nachdenken, warum diese Reform nicht geklappt hat.
Aus meiner Sicht ist in diesem Zusammenhang nicht unwesentlich, dass wir an den Interessen der handelnden
Personen - an ihren irrationalen und rationalen Beweggründen - ein Stück weit vorbeigeregelt haben. Das
muss auch eine vermeintlich trockene Materie wie das
Insolvenzrecht noch besser berücksichtigen. Deswegen
müssen wir uns die vier Player, die wir auf dem Spielfeld
haben, noch einmal im Hinblick darauf, was sie vom
Verfahren erwarten, genau anschauen und uns überlegen,
wie wir besser an sie herankommen.
Im Mittelpunkt stehen die Gläubiger. Es geht im Insolvenzverfahren darum, dass ihre Forderungen durchgesetzt werden. Sie sind zwar die Hauptbetroffenen, waren bislang aber immer nur in der Zuschauerrolle. Nach
der Antragstellung sind bis zum ersten Zusammentreffen
des Gläubigerausschusses drei bis fünf Monate vergangen, dann ist die Messe gelesen. Alle wesentlichen Entscheidungen sind bis dahin längst getroffen. Dementsprechend haben die Gläubiger dann kein Interesse
mehr; Gläubigerversammlungen finden ohne Gläubiger
statt.
Wir wollen, dass die Fachkunde der Gläubiger deutlich stärker einbezogen wird. Deshalb bieten wir das Instrument des vorläufigen Gläubigerausschusses an, der
viel früher in das Verfahren einbezogen werden soll,
nach Möglichkeit direkt bei Verfahrensbeginn. Wir verkennen dabei nicht, dass es hier einen Zielkonflikt gibt:
einerseits die möglichst frühe Gläubigerbeteiligung, andererseits ein schnelles Verfahren. Wenn der Antrag einmal gestellt ist, dann muss der Verwalter schnell bestellt
werden und schnell agieren, gerade dann, wenn es sich
um ein noch lebendes Unternehmen handelt, das saniert
werden soll.
Wir haben das Problem, mitwirkungsbereite Gläubiger zu finden, die die Gesamtheit der Gläubiger repräsentieren. Es soll nicht nur ein Bankenvertreter gefunden
werden, der dann für alle Gläubiger spricht, sondern die
Gläubigerbeteiligung muss repräsentativ sein.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Schuldner den
Antrag gut vorbereiten. Demnächst müssen sie direkt zu
Beginn eine Liste der Gläubiger einreichen. Das soll
ausdrücklich eine Anregung sein, sich bereits in diesem
frühen Stadium darum zu kümmern, welcher Gläubiger
mitwirkungsbereit ist oder in welche Richtung eine Sanierung gehen kann. All diese Punkte werden die Vorbereitung eines Insolvenzverfahrens verbessern.
Unabhängig davon hat ein vorläufiger Gläubigerausschuss aber auch dann noch seinen Sinn, wenn der Verwalter die Arbeit bereits aufgenommen hat. In den ersten
Wochen werden viele wichtige Entscheidungen getroffen, die über Wohl und Wehe, über Sanierung oder Zerschlagung des Unternehmens entscheiden können. Deshalb ist die Einbeziehung der Gläubiger auch an der
Stelle wichtig.
Wir gehen mit dem Gesetzentwurf auch darauf ein,
dass die Gläubiger natürlich nicht in eine Sanierung investieren, also neues Geld hineinstecken wollen, wenn
der Wertzuwachs hinterher gar nicht ihnen, sondern den
Anteilseignern zukommt. Deshalb führen wir den DebtEquity-Swap als neues Instrument ein. Ferner erhöhen
wir die Durchsetzbarkeit des Plans gegen einzelne Gläubiger, die obstruieren und eine vernünftig agierende
Mehrheit erpressen wollen.
Wir sind optimistisch, dass wir damit die Möglichkeiten der Gläubiger, konstruktiv an einem Plan mitzuwirken, insgesamt erhöhen, sodass die Gläubiger merken,
dass es sich lohnt, die Zeit zu investieren, und dass wir
bessere Ergebnisse erzielen können.
({0})
Ich möchte auf eine Gläubigergruppe kurz besonders
eingehen; wir wissen, dass die Gläubiger keine homogene Gruppe bilden, sondern ganz unterschiedliche Interessen haben. Mir läge es sehr am Herzen, dass wir uns
mit der Interessenlage der Arbeitnehmer beschäftigen.
Vor zwei Jahren haben wir eine große Diskussion über
die Anfechtung von Lohnnachzahlungen geführt. Dabei
ging es um Fälle, in denen erarbeitete Löhne zurückgezahlt werden mussten. Ich würde mir wünschen, dass wir
uns Gedanken darüber machen, wie wir diesem Missstand vor allem bei kleineren Einkommen, jedenfalls bei
Einkommen bis zu einer bestimmten Höchstgrenze, begegnen können.
({1})
Der zweite wichtige Player ist der Schuldner. Dass
der Schuldner so lange zögert, ist häufig einer der
Gründe dafür, dass Sanierungen schwierig werden; denn
er verpulvert die letzten Ressourcen. Das, was vielleicht
noch für eine Sanierung gebraucht werden könnte, ist
dann weg, weil der Schuldner einfach nicht rechtzeitig
den Weg zum Insolvenzrichter gefunden hat. Da braucht
man sich nicht zu wundern: Der Schuldner scheut natürlich das Stigma der Insolvenz; er scheut den Kontrollverlust, der droht, wenn ihm ein Verwalter vor die Nase gesetzt wird, auf dessen Auswahl und Vorgehen er keinen
Einfluss hat. Viele haben schon selbst oder in ihrem Umfeld erlebt, dass Familienunternehmen mit großer Tradition schnell zerschlagen worden sind. Es hätte sicherlich
nicht immer andere Lösungen gegeben; das ist klar. Ich
halte es aber auch für sehr verständlich, dass der Gang
zum Insolvenzrichter Ängste auslöst.
Wir müssen auch sehen: Es liegt nicht immer am
Schuldner, dass er sich in der Krisensituation befindet.
Da kann etwa ein Geschäftspartner ausgefallen sein. Es
kann auch sein, dass der Schuldner ein Einsehen hat und
den nötigen Sachverstand schon eingekauft hat, weil er
lieber mit einem selbst ausgewählten Sanierer als mit einem ihm vorgesetzten Verwalter in das Verfahren geht.
Für diese Fälle wollen wir die Möglichkeiten erweitern,
mit eigenem Personal, mit eigenem Berater oder unter
eigener Wahrnehmung der Funktion in das Verfahren zu
gehen, um mehr Planbarkeit und Kontrolle zu ermöglichen und damit den Anreiz zu geben, frühzeitig das Verfahren zu beantragen, anstatt es mit aller Macht und
letztlich ohne Erfolg nach hinten zu verschieben.
Wir eröffnen diese Chance mit dem neuen Schutzschirmverfahren bei drohender Zahlungsunfähigkeit und
dem leichteren Zugang zur Eigenverwaltung. Damit soll
der Schuldner auch in der Krise die Kontrolle behalten.
Das gibt es aber nicht zum Nulltarif; wir müssen uns die
Schwierigkeiten, die Sie genannt haben, genau anschauen. Dreh- und Angelpunkt wird letztendlich sein,
dass der Schuldner das Verfahren mit den Gläubigern gut
vorbereitet, dass er die Gläubiger mit einem Plan davon
überzeugt, dass Sanierungschancen bestehen, sodass sie
bereit sind, Kreditlinien weiter offenzuhalten und vielleicht auch neues Geld hineinzustecken; damit steht und
fällt das Schutzschirmverfahren.
Wir hoffen, mit dem Zusammenspiel des Anreizes zu
früherer Antragstellung und der besseren Beteiligung der
Gläubiger, die frühzeitig einbezogen werden, zu einer
größeren Zahl von Sanierungen zu kommen, sodass die
Forderung nach einem eigenständigen Sanierungsverfahren zunächst zurückgestellt wird.
Der dritte Player sind die Gerichte. Bei den Gerichten
führt das Insolvenzrecht häufig ein Schattendasein; es
steht im Schatten anderer Fachgebiete. Wenngleich wir
auf unsere Gerichte sicherlich sehr stolz sind und sie für
Deutschland ein guter Standortfaktor sind, trifft das für
das Insolvenzrecht eher nicht zu: Da werden teilweise
Unternehmenssitze verlegt, damit man nicht nach deutschem Insolvenzrecht und mit deutschen Gerichten agieren muss;
({2})
da geht man teilweise ganz bewusst in den angelsächsischen Raum. Dort werden hoch gestellte Richter in diesem Fachbereich tätig, zum Teil sogar Bundesrichter.
Bei uns ist es der Richter am Amtsgericht im Zusammenspiel mit dem Rechtspfleger. Außerdem haben sie
zum Teil nur ein kleines Pensum solcher Fälle, was dazu
führt, dass sie die Routine, die man braucht, nicht entwickeln können. Deshalb halten wir daran fest - ich unterstütze das nachdrücklich -, dass wir zu einer weiteren
Konzentration der Insolvenzgerichte kommen und nur
eines pro Landgerichtsbezirk haben. So oft muss man
nicht zum Insolvenzrichter, dass die Entfernung eine so
große Bedeutung hätte, dass das nicht zumutbar wäre.
({3})
Sie kommen bitte zum Ende, Frau Kollegin.
Zuletzt ein Blick auf die Verwalter: Für sie ändert sich
in diesem Stadium der Reform noch nicht so viel. Sie
müssen sich damit auseinandersetzen, dass die Gläubiger ihnen in Zukunft noch stärker auf die Finger schauen
und Vorschläge machen werden. Für die Verwalter wird
die Arbeit also nicht bequemer. Gute Verwalter werden
sich darüber aber keine Sorgen machen müssen.
Wir müssen uns jetzt alle zusammen an die Detailarbeit machen. Ich glaube, dass wir zu einer guten Regelung kommen können, und freue mich auf die Beratungen.
Herzlichen Dank.
({0})
Richard Pitterle hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen zehn Jahren gab
es 340 000 Unternehmensinsolvenzen. 5 Millionen Männer und Frauen haben dabei ihre Arbeit verloren. Mit
diesem Gesetzentwurf soll erreicht werden, dass Unternehmen, die in Schieflage geraten sind, saniert werden
können und somit die Abwicklung verhindert wird. Das
finden wir gut, weil so die Möglichkeit eröffnet wird,
Arbeitsplätze zu erhalten, statt sie den Bach runtergehen
zu lassen.
({0})
Allein das kann Grundlage dafür sein, dass die Unternehmen wieder auf die Füße kommen und später neue
Arbeitskräfte einstellen.
Auch der vorgesehenen Stärkung der Gläubigerrechte
stimmen wir zu. Für größere Insolvenzverfahren soll ein
vorläufiger Gläubigerausschuss schon vor Eröffnung des
Insolvenzverfahrens eingesetzt werden. Neu ist, dass
ihm ein Vertreter oder eine Vertreterin der Arbeitnehmer
angehören muss, und zwar unabhängig von der Höhe ihrer Forderungen im Insolvenzverfahren. Zudem hat der
vorläufige Gläubigerausschuss das Recht, den Insolvenzverwalter mitzubestimmen.
Die Stellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Insolvenzverfahren ist trotzdem unbefriedigend.
Sie wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht wesentlich verbessert. Gerade im Vorfeld von Insolvenzen
rackern sich Arbeitnehmer ab, machen Überstunden, tolerieren das Ausbleiben von Gehältern, verzichten sogar
auf Urlaubsgeld. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens
ist vielfach die Chance vorbei, diese Vorleistung jemals
vergütet zu bekommen. Daran ändert dieser Gesetzentwurf nichts.
Außerdem ist durch das Insolvenzgeld die Lohnzahlung nur für die letzten drei Monate vor der Insolvenz
gesichert. Nach wie vor müssen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer befürchten, dass vor der Insolvenz gezahlte Gehälter vom Insolvenzverwalter zurückverlangt
werden. Wie oft habe ich als Fachanwalt für Arbeitsrecht
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern diese Regelung
des Gesetzes erklären müssen. Diese Menschen haben
durch die Insolvenz ihren Arbeitsplatz verloren und wurden plötzlich mit Rückzahlungsforderungen konfrontiert, obwohl sie das Geld längst für Miete und sonstigen
Lebensaufwand ausgegeben hatten. Von den Betroffenen
versteht das keiner. Dass die Bundesregierung dieses
Unrecht duldet und die Insolvenzanfechtung gegenüber
der vor der Insolvenz erfolgten Lohnzahlung nicht beseitigt hat, ist ein Schwachpunkt dieses Gesetzentwurfs.
({1})
In der gestrigen Anhörung gab es Einigkeit darüber, dass
man diese Ungerechtigkeit durch Nachbesserung im Gesetz abstellen kann. Tun Sie es also, Frau Justizministerin.
Wir finden es auch völlig ungenügend, dass Ihre Vorschläge nicht vorsehen, die Ansprüche aus Sozialplänen
und Aufhebungsverträgen gegen Ausfall zu schützen.
Für einen Arbeitnehmer, der sich nach 30 Jahren Schufterei bereit erklärt hat, sich den Arbeitsplatz durch eine
Abfindung abkaufen zu lassen, um eine Kündigung zu
vermeiden, ist es eine Ungerechtigkeit, wenn er mit leeren Händen dasteht. Das sollte geändert werden.
({2})
Wenn es die Intention des Gesetzentwurfs ist, die Abwicklung von Unternehmen zu vermeiden, so sind die
hier vorgesehenen Änderungen bisher unzureichend. Es
wäre unberechtigt, alle Insolvenzverwalter unter Generalverdacht zu stellen. Aber jeder, der mit Insolvenzen
zu tun hat, weiß, dass es für unseriöse Insolvenzverwalter zahlreiche Möglichkeiten der Bereicherung, Vorteilsnahme und Korruption gibt. Die Erfahrung zeigt, dass
manche Insolvenzverwalter nicht zuallererst das Allgemeinwohl, das Unternehmen, die Gläubiger und die Arbeitsplätze im Blick haben, sondern vor allem die eigenen Interessen.
Ich frage mich auch: Warum gibt es keine formalen
Anforderungen an die Qualifikation der Insolvenzverwalter? Allein der gesunde Menschenverstand sagt, dass
die Kenntnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen Voraussetzung sein muss, um die Chance der Sanierung eines Unternehmens zu erkennen und die Sanierung erfolgreich zu betreiben. In Ihrem Gesetzentwurf steht
jedenfalls an keiner Stelle, dass Insolvenzverwalter über
diese konkreten Erfahrungen und Qualifikationen verfügen müssen. Nicht nur bei den Gerichten, die die Tätigkeit der Verwalter kontrollieren sollen, sondern auch bei
den Verwaltern selbst muss mehr Qualifikation verlangt
und nachgewiesen werden.
({3})
Die Fälle, in denen die Gläubiger leer ausgehen, während die Insolvenzverwalter von der Insolvenz passabel
leben können, sind leider nicht selten. Professor
Haarmeyer von der Gläubigerschutzvereinigung bestätigte, dass 70 Prozent der Verfahren ohne Quote enden,
das heißt ohne Geld für die Gläubiger. Bei einem solchen Sachverhalt sagt der Volksmund: außer Spesen
nichts gewesen. Auch hier wäre eine Steuerung über die
Vergütungsstruktur der Insolvenzverwalter möglich.
Vorschläge von Fachleuten gibt es genügend. Zum Beispiel könnte man über eine Deckelung der Vergütung einerseits und eine Erfolgsprämie beim Erreichen einer
Quote von 30 Prozent andererseits nachdenken.
Damit eine größere Masse und somit die Chance für
eine Sanierung erhalten bleibt, muss gesetzlich klargestellt werden, dass die Umsatzsteueransprüche, die vor
dem Eintritt des Insolvenzfalls entstanden sind, nicht als
Masseverbindlichkeiten anzusehen sind.
Schließlich: Insolvenzgerichte sollten das letzte Wort
über die Bestellung von Insolvenzverwaltern behalten.
Nur durch ein unabhängiges Gericht ist gewährleistet,
dass ein unabhängiger Insolvenzverwalter bestellt wird.
Nur so ist gewährleistet, dass die Verfahren nicht nur
von den Interessen der Großgläubiger geleitet werden.
Ich habe meine Zweifel daran, dass die Konzentration
der Gerichte sinnvoll ist. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, den Ländern weiterhin freizustellen, ob sie von der
Möglichkeit der Konzentration Gebrauch machen wollen oder nicht.
({4})
Ich bin auf alle Fälle gespannt, welche Schlussfolgerungen die Koalition aus der gestrigen Anhörung ziehen
wird und ob der Entwurf in dem von mir vorgeschlagenen Sinne noch verbessert wird.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat Ingrid Hönlinger das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir alle erinnern uns: Vor
circa zwei Jahren haben der Warenhauskonzern Arcandor und seine Tochtergesellschaften Quelle und Karstadt
die Eröffnung des Insolvenzverfahrens vor dem Essener
Amtsgericht beantragt. Das Kaufhaus Quelle war endgültig am Ende, Karstadt konnte gerade noch durch einen Privatinvestor gerettet werden. Von dieser Insolvenz
waren 43 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen. Sie und ihre Familien mussten oft wochen- und monatelang um ihre Zukunft bangen.
Mit Blick auf die volkswirtschaftlichen Auswirkungen, aber auch mit Blick auf die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer müssen wir uns das Thema Unternehmensinsolvenzen genau anschauen. Die zentrale Frage
lautet: Sind die Mittel der geltenden Insolvenzordnung
ausreichend, um angemessen auf die Situation von bedrohten Unternehmen zu reagieren? Die Antwort lautet
Nein. Die erfolgreiche Sanierung von Unternehmen im
Insolvenzverfahren stellt noch immer die Ausnahme dar.
Ein Blick auf die Zahlen reicht aus, um uns den dringenden Handlungsbedarf vor Augen zu führen. Im letzten Jahr haben rund 32 000 Unternehmen bei deutschen
Amtsgerichten das Insolvenzverfahren beantragt. Damit
ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Vergleich
zum Vorjahr um 2,1 Prozent zurückgegangen. Das Jahr
2009 war aber auch das Jahr der Krisen und ist daher
nicht die richtige Bezugsgröße. Die Zahlen zeigen: Wirtschaftskrisen führen auch dazu, dass wir uns die Insolvenzordnung genau anschauen müssen.
Wir Grünen haben uns schon vor einem Jahr mit diesem Thema auseinandergesetzt. Über unsere Verbesserungsvorschläge wurde hier im Bundestag diskutiert. Es
freut uns, dass die Bundesregierung, wenn auch ein Jahr
später, jetzt diesen Gesetzentwurf vorlegt, in dem einige
unserer Forderungen aufgegriffen werden; aber es fehlen
doch noch entscheidende Komponenten.
Das Hauptziel der Insolvenzreform muss die frühzeitige Rettung und Restrukturierung von Unternehmen
sein. Unternehmen sollten möglichst erst gar nicht insolvent werden. Es sollten schon vorher Sanierungsmöglichkeiten greifen. Momentan fehlt eine institutionelle
Verankerung, um grundsätzlich lebensfähige Unternehmen noch vor der Stigmatisierung durch ein eröffnetes
Insolvenzverfahren zu sanieren. Wir sollten deshalb
überlegen, wie wir es auch gestern in der Anhörung diskutiert haben, sanierungsbedürftigen Unternehmen ein
Reorganisationsverfahren bzw. ein Sanierungsverfahren
- eventuell vor einer spezialisierten Kammer für Handelssachen - zu ermöglichen, um so das Stigma der Insolvenz zu vermeiden. Österreich erzielt damit schon
sehr gute Erfolge.
Kommt es dann doch zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, sind natürlich die fachliche Kompetenz und
auch die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters oder
der Insolvenzverwalterin Voraussetzungen für ein erfolgreiches Verfahren. Ich stimme Ihnen zu: Richterinnen und Richter an Insolvenzgerichten müssen fachlich
in der Lage sein, darüber zu entscheiden, welchen Verwalter oder welche Verwalterin sie bestellen. Hier
könnte man ebenfalls daran denken, den Sachverstand,
der an den Kammern für Handelssachen besteht, zu nutzen. Kontraproduktiv ist es aber, dem vorläufigen Gläubigerausschuss - so ist es im Gesetzentwurf vorgesehen - so weitgehend die Befugnis der Bestellung der Insolvenzverwaltung einzuräumen. Dieses Verfahren birgt
nämlich die Gefahr, dass sich die Insolvenzverwaltung
auf wenige Spezialistinnen und Spezialisten beschränkt im schlimmsten Fall auf die, die großen Gläubigern wie
Banken oder Versicherungen nahestehen. Wir meinen,
die Insolvenzverwaltung muss auch neuen Verwalterinnen und Verwaltern offenstehen. Konkurrenz ermöglicht
auch im Bereich der Insolvenzverwaltung eine qualitative Steigerung.
({0})
- Danke.
({1})
Wichtig ist uns bei der Neuregelung der Insolvenzordnung auch, dass nicht nur große Unternehmen ins Blickfeld geraten, sondern auch die Interessenlage kleinerer
Unternehmen berücksichtigt wird. Eine Überlegung wäre,
die Bestimmung einzuführen, dass Gläubigerforderungen,
die in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte am Schuldnerunternehmen umgewandelt werden sollen, nur dann umgewandelt werden können, wenn die Alteigner zustimmen. Das könnte es insbesondere Familienunternehmen
erleichtern, einen Insolvenzantrag zu stellen, wenn es erforderlich ist. Außerdem könnten wir so für Betriebe und
Beschäftigte eventuell die Gefahr abwenden, dass sich
Schnäppchenjäger an Insolvenzen bereichern.
Steuerliche Flankierungsmaßnahmen sucht man im
Gesetzentwurf vergeblich. Dazu ist in ihm leider gar
nichts enthalten. Wir wünschen uns, dass auch steuerliche Komponenten bei einer Neuregelung des Insolvenzrechts berücksichtigt werden.
Wir sehen also: Der Regierungsentwurf enthält einige
brauchbare Vorschläge. Weitere Verbesserungen sind
dringend erforderlich, um das Insolvenzrecht zu aktualisieren, die Chancen auf Sanierung zu erhöhen und präventive Maßnahmen zur Unternehmensrettung zu
etablieren. Wir Grünen werden uns weiter konstruktiv
beteiligen, wenn es um diese Thematik geht. Wir wollen
mit unseren Verbesserungsvorschlägen erreichen, dass
Arbeitsplätze, wo immer möglich, erhalten werden, dass
wir Unternehmen in schwierigen Zeiten eine Brücke
bauen, dass unnötige Investitionen vermieden werden
und dass damit der Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt gestärkt wird. Jeder gerettete Arbeitsplatz, jedes
Unternehmen, das einen schwierigen Anpassungsprozess übersteht, und jede Firma, die eine zweite Chance
erhält, sind ein Gewinn für die Menschen und für die
Wirtschaft.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Heider für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg:
Das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung
von Unternehmen trägt seinen Namen zu Recht. Im Wesentlichen geht es um drei Punkte: Erstens. Es stärkt den
Einfluss der Gläubiger insbesondere in Bezug auf die
Auswahl des Insolvenzverwalters. Zweitens. Das Insolvenzplanverfahren wird ausgebaut und gestrafft. Drittens. Der Zugang zur Eigenverwaltung wird erleichtert.
Darüber hinaus bietet das Gesetz eine Chance zur
Etablierung bzw. Erneuerung einer Sanierungskultur.
Wie wichtig ein Umdenken, ein Mentalitätswechsel im
Insolvenzbereich ist, zeigt folgendes Beispiel - ich
nenne Ihnen bewusst kein Beispiel aus aktuellen Insolvenzverfahren, sondern eines, das Sie alle möglicher13462
weise kennen -: In den Buddenbrooks beschreibt
Thomas Mann den Bankrott als den bürgerlichen Tod
des Kaufmanns, als etwas Grässlicheres als das Ende des
Lebens, als Tumult, Zusammenbruch, Ruin, Schande,
Verzweiflung und Elend - für ihn, für seine Familie, aber
auch für viele seiner Beschäftigten. Diese Vorstellungen
haben sich bis heute nicht geändert. Auch heute,
134 Jahre nach Einführung der allgemeinen deutschen
Konkursordnung von 1877 - ungefähr der Zeit, in der
die Buddenbrooks spielen - und zwölf Jahre nach dem
Inkrafttreten der Insolvenzordnung, wird die Eröffnung
eines Insolvenzverfahrens in Deutschland oftmals als
das katastrophale Ende unternehmerischen Handelns angesehen.
Dies kann sich durch die erste Stufe der Insolvenzreform ändern. Der Konkurs ist das Risiko unternehmerischen Handelns. Er gehört zu den Sanktionen kaufmännischer Fehler. Diese können vielfältiger Natur sein:
Investitionen in falsche Produkte - „am Markt vorbei“
nennt man das -, fehlendes Risikomanagement, mangelnde Kostenkontrolle, Kapitalbindung durch zu hohe
Lagerbestände, explodierende Rohstoffkosten, Missmanagement im Unternehmen bis hin zu dolosem Verhalten.
Der Antrag auf Insolvenz soll für den redlichen Gläubiger die Chance auf eine erfolgreiche Unternehmenssanierung sein. Die geltende Insolvenzordnung stellt - die
Bundesministerin der Justiz hat es einleitend gesagt den Verfahrenszweck der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung vornan. Hieran wird sich auch nach Verabschiedung dieses Gesetzes nichts ändern. Demgegenüber
sind Liquidation und Unternehmenserhaltung durch einen Insolvenzplan sekundäre Verfahrenszwecke, die
dem übergeordneten Zweck der Gläubigerbefriedigung
dienen.
Die Insolvenzordnung und ihr Zweck sind Ausdruck
der freien Marktwirtschaft und ihrer Regeln; das soll
auch so bleiben. Ziel der Gesetzesnovellierung ist, die
Sanierung von Unternehmen attraktiver zu gestalten und
Anreize für den Schuldner zu schaffen, bei drohender
Zahlungsunfähigkeit frühzeitig den Antrag zu stellen;
denn allein dies hilft, die Gläubiger nach Möglichkeit zu
befriedigen, Arbeitsplätze zu erhalten und einen mit der
Insolvenz einhergehenden volkswirtschaftlichen Schaden abzuwenden.
Im vergangenen Jahr sind 8 500 der 32 000 Insolvenzen, die Sie, Frau Hönlinger, gerade genannt haben,
mangels Masse abgewiesen worden; das sind mehr als
25 Prozent aller angemeldeten Insolvenzverfahren.
„Mangels Masse abgewiesen“ heißt, dass das Vermögen
des Schuldners nicht ausreicht, um die Verfahrenskosten
zu decken. Auch diesen Unternehmen wollen wir klarmachen, dass die frühzeitige Antragstellung - bereits bei
drohender Zahlungsunfähigkeit - der richtige Weg ist,
um eine Sanierung erfolgreich abzuschließen, statt abzuwarten, bis es zu spät ist.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet
hier den richtigen Weg. Das Insolvenzplanverfahren
wird entschlackt, die Eigenverwaltung wird gestärkt,
und das Sanierungsvorbereitungsverfahren - Stichwort:
Schutzschirm - wird neu eingeführt. Der Erfolg der Sanierung erfordert jedoch eine rechtzeitige Kommunikation und eine Konsenssuche zwischen den Beteiligten:
zwischen den Gläubigern und den Schuldnern, aber auch
zwischen den Insolvenzgerichten und den Verwaltern.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil ich hier Handlungsbedarf sehe. Die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses bereits bei Eingang des Schuldnerantrages
ist grundsätzlich ein geeignetes Mittel, eine frühzeitige
Kommunikation zwischen Gläubigern und Insolvenzgericht zu fördern. Darüber hinaus ist es zentrales Anliegen
des Gesetzentwurfes, die Gläubiger frühzeitig in das
Verfahren einzubinden.
Vertreter der Praxis haben uns in der Anhörung darauf
hingewiesen, dass die Einsetzung eines vorläufigen
Gläubigerausschusses oft sehr aufwendig und schwerfällig ist. In dringenden Fällen kann dadurch der Erfolg, die
Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes und damit die
Sanierung, gefährdet werden. Die verpflichtende Einberufung eines solchen Gläubigerausschusses bei einem
Unternehmen mit einer Bilanzsumme und einem Umsatz
von nur 2 Millionen Euro und einer Anzahl von zehn Arbeitnehmern im Jahresdurchschnitt erscheint daher im
Hinblick auf unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht sachgerecht. Ich würde mir hier eine
moderate Anhebung der Schwellenwerte auf etwa die
Größenordnung für mittlere Kapitalunternehmen wünschen. Ergänzend könnte eine Sollvorschrift bestimmen,
dass ein vorläufiger Gläubigerausschuss auch dann einzurichten ist, wenn mit dem Eröffnungsantrag vom
Schuldner alle erforderlichen Daten eingereicht werden.
Hierzu sollten namentlich Vorschläge nebst Gruppenzuordnung sowie Einverständniserklärungen der beteiligten Personen gehören. Das würde sogar noch über die
Beschleunigung im Verfahren hinausgehen und eine
Mitarbeit des Schuldners vor dem Verfahren erfordern.
Auch wenn angesichts des breiten und nachhaltigen
wirtschaftlichen Aufschwungs die Folgen der Finanzund Wirtschaftskrise mehr und mehr aus dem Blick der
Öffentlichkeit geraten - wir haben aktuell nur noch rund
2,8 Millionen Arbeitslose -, besteht auf diesem Feld
nach wie vor Handlungsbedarf. Die Wirtschaft und die
Betroffenen erwarten von uns zu Recht, dass wir in diesem Parlament einen praktikablen Vorschlag machen.
Darauf sollten wir in der anstehenden Beratung gemeinsam hinwirken. Chancen zur Sanierung der betroffenen
Unternehmen braucht es in guten wie in schlechten Zeiten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ingo Egloff für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden
aus den Erfahrungen, die wir in zehnjähriger Praxis mit
der novellierten Insolvenzordnung gemacht haben, Konsequenzen gezogen. Die Sachverständigenanhörung am
gestrigen Tage hat deutlich gemacht, dass der Regierungsentwurf an etlichen Stellen nachgebessert werden
muss. Ich denke, das muss das Ziel unserer gesetzgeberischen Tätigkeit im Rechtsausschuss und auch hier im
Bundestag sein.
Ziel ist, ein Insolvenzrecht zu schaffen, das zuallererst
darauf setzt, Unternehmen zu erhalten und zu sanieren,
deren Prognose darauf hindeutet, dass sie nach erfolgter
Entschuldung oder Umschuldung weiter am Markt bestehen können. Darüber hinaus müssen wir angesichts
der mittelständischen Struktur unserer Wirtschaft dafür
sorgen, dass die Durchführung eines Insolvenzverfahrens von den eigentümergeführten Unternehmen nicht
mehr als Makel angesehen wird. Einige meiner Vorredner haben bereits darauf hingewiesen: Die Unternehmen
müssen das Insolvenzverfahren als Chance wahrnehmen, in einer schwierigen Situation durch professionelle
Hilfe gegebenenfalls die Weiterexistenz des Unternehmens zu organisieren.
({0})
Es gilt - das zeichnet den Entwurf aus - den Gläubigereinfluss bei der Auswahl des Insolvenzverwalters zu
stärken; das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite
müssen wir verhindern - auch darauf ist von meinen
Vorrednern schon hingewiesen worden -, dass bestimmte Gläubigergruppen wie Banken und Versicherungen dafür sorgen, dass Insolvenzverwalter nach ihrem Gusto bestellt werden. Wir müssen uns daher die
Regelung des § 56 Abs. 3 des Entwurfes genau ansehen.
Ich bin der Auffassung, dass dieser Paragraf so nicht
bleiben kann, weil hier das Recht des Insolvenzrichters,
einen Insolvenzverwalter abzulehnen, in einer Art und
Weise eingeschränkt wird, wie es meines Erachtens nicht
sachgerecht ist.
({1})
Vonseiten des Bundesrates gibt es an der Regelung im
vorgesehenen § 22 a in Bezug auf die Schwellenwerte
Kritik. Man kann in der Tat darüber nachdenken, ob die
dort angesetzten Werte nicht zu niedrig sind. Ob allerdings, wie in der Sachverständigenanhörung gestern dargestellt, die Werte des § 267 Abs. 2 HGB der richtige
Ansatzpunkt sind oder ob man nicht Werte suchen muss,
die dazwischen liegen, wird Gegenstand der Beratungen
im Ausschuss sein. Wir sollten darauf achten, dass wir
eine sachgerechte Lösung finden.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene grundlegendste
Änderung betrifft § 225 a. Hier findet in der Tat ein Paradigmenwechsel statt. Lassen Sie mich einmal in der
Geschichte des Insolvenzrechts zurückgehen: Schon in
den 70er-Jahren wurde unter Bundesjustizminister HansJochen Vogel eine Kommission eingesetzt, die in diese
Richtung gearbeitet hat; aber bei jeder Insolvenzrechtsreform ist eine derartige Regelung abgelehnt worden.
Wir müssen allerdings verhindern, dass Unternehmen in
andere europäische Länder ausweichen, um die Möglichkeiten des dortigen Insolvenzverfahrens in Anspruch
zu nehmen. Deswegen ist es zunächst positiv zu bewerten, dass wir diese Regelung in § 225 a vorsehen. Die
Umwandlung von Forderungen in Gesellschaftsanteile
kann in der Tat Vorteile haben. In der Begründung des
Gesetzentwurfs wird das deutlich:
Durch den Wegfall von Verbindlichkeiten kann eine
Überschuldung des Unternehmens beseitigt werden; gleichzeitig kann das Erlöschen von Zins- und
Tilgungspflichten die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens wiederherstellen.
Das kann man im Gesetzentwurf nachlesen.
Die Anwendung der vorgesehenen Regelung ist dann
richtig, wenn die Forderungsumwandlung mit dem Ziel
verbunden ist, das Unternehmen fortzuführen und frisches Kapital einzubringen. Die Frage ist aber, ob das
immer so funktioniert. Angesichts der Aspekte, die gestern in der Anhörung angesprochen worden sind, sollten
wir uns im Gesetzgebungsverfahren darüber verstärkt
Gedanken machen.
Es gibt Beispiele aus dem angelsächsischen Raum.
Als Beispiel ist die Deutsche Nickel AG genannt worden
- das ist die Firma, die bei der Einführung des Euro die
1-Euro-Münzen geprägt hat -, die 2004 in die Insolvenz
gegangen ist. Sie hat durch Ausweichen in den angelsächsischen Rechtsbereich versucht, die Vorteile des
dortigen Verfahrens in Anspruch zu nehmen. Am Ende
ist sie trotzdem in Konkurs gegangen, weil die Gläubiger, diejenigen, die die Forderungen aufgekauft haben,
das Unternehmen haben hängen lassen. Das waren
Fondsgesellschaften aus Amerika und England, die darauf spekuliert haben, die lukrativen Teile zu verwerten
und den Rest in die Insolvenz gehen zu lassen.
Dieses Verhalten kennen wir aus der Vergangenheit
durch Beteiligung von Fondsgesellschaften, insbesondere amerikanischen Fondsgesellschaften, an deutschen
mittelständischen Unternehmen. Deswegen lohnt es sich
im Interesse der Arbeitsplätze und im Interesse der Unternehmen, darüber nachzudenken, ob wir in diesem Bereich nicht Sicherungsmechanismen einführen können
und wie wir das systematisch so ausgestalten können,
dass wir auf der einen Seite den Vorteil haben, dass die
Unternehmen in Deutschland bleiben, und auf der anderen Seite Nachteile ausschließen können.
Die gestrige Anhörung war ein guter Ansatz. Es war
eine ausgesprochen sachliche Diskussion mit vielen Anregungen. Wir nehmen die Anregung der Bundesjustizministerin gerne auf, in den Ausschussberatungen weiter
gemeinsam am vorliegenden Gesetzentwurf zu arbeiten,
um am Ende das zu erreichen, was wir alle erreichen
wollen: ein Insolvenzrecht auf der Höhe der Zeit, das
seinen Zweck für die deutschen Unternehmen, für die
deutsche Wirtschaft erfüllt.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Stephan Mayer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir können zunächst
feststellen, dass sich unser Insolvenzrecht bewährt hat;
aber wir müssen aufgrund der Erfahrungen der jüngsten
Wirtschafts- und Finanzkrise zur Kenntnis nehmen, dass
unsere Insolvenzordnung in der praktischen Anwendung
durchaus Defizite und Schwächen aufweist.
Die Insolvenz kann, muss aber nicht das Ende eines
Unternehmens bedeuten. Die Erfahrungen der Vergangenheit haben gezeigt, dass viele Unternehmer bedauerlicherweise zu lange warten, bis sie mit Sanierungsmaßnahmen in ihren Unternehmen beginnen oder - wenn es
ansteht - einen Insolvenzantrag stellen, und das deutsche
Insolvenzverfahren teilweise zu unflexibel und zu wenig
kalkulierbar ist. Dies hat - es wurde bereits angesprochen - in der Vergangenheit dazu geführt, dass Unternehmen ihren Sitz ins Ausland verlegt haben, insbesondere nach Großbritannien, um dem deutschen
Insolvenzrecht bzw. dem deutschen Insolvenzverfahren
zu entgehen. Dies zeigt uns, dass ein zeitgemäßes Insolvenzrecht ein wichtiger Aspekt und ein wichtiger Bestandteil eines modernen Wirtschaftsstandortes ist. Deswegen ist es richtig, dass unser Insolvenzrecht novelliert
wird. Der vorliegende Gesetzentwurf beweist, dass die
christlich-liberale Koalition nach wie vor - allen Unkenrufen zum Trotz - handlungsfähig ist, insbesondere im
Bereich der Innen- und Rechtspolitik.
Wichtig ist - das ist der entscheidende Punkt dieses
Gesetzgebungsvorhabens -, dass Sanierungsmaßnahmen
früher einsetzen. Insbesondere müssen die Gläubigerinteressen stärker berücksichtigt werden. Es geht auch
darum, die Gläubiger zu beteiligen, wenn ansteht, den
Insolvenzverwalter festzulegen. Das Ziel muss immer
die Neustrukturierung bzw. Neuausrichtung des Unternehmens sein, ebenso - das sage ich ganz deutlich - die
Sicherung der vorhandenen Arbeitsplätze.
Zwei wichtige Aspekte des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes sind, dass das Insolvenzplanverfahren ausgebaut und gestrafft wird und dass die Eigenverwaltung attraktiver gestaltet wird.
Gerade von der Eigenverwaltung ist in der Vergangenheit bedauerlicherweise zu wenig Gebrauch gemacht
worden. Selbst wenn die Zahlungsunfähigkeit drohte,
die Gläubiger aber durchaus Vertrauen in den Unternehmer hatten und dies auch deutlich zum Ausdruck gebracht haben, haben die Insolvenzgerichte bisher zu wenig von dieser Möglichkeit der Eigenverwaltung
Gebrauch gemacht. Deswegen ist es richtig, die Eigenverwaltung insgesamt attraktiver zu gestalten, in der
Hoffnung, dass dann in der Praxis häufiger davon Gebrauch gemacht wird.
Ich finde es sehr erfreulich, dass jetzt verpflichtend
festgelegt wird, dass in jedem Gläubigerausschuss ein
Arbeitnehmervertreter Sitz und Stimme hat. Das war
bisher nicht der Fall.
Ich glaube, man kann wirklich festhalten: Der Gesetzentwurf ist ein gelungener und ausgewogener Spagat,
mit dem einerseits das berechtigte Interesse des Schuldners berücksichtigt wird, sein Unternehmen nach Möglichkeit fortzuführen, mit dem andererseits aber auch in
Betracht gezogen wird, dass es berechtigte Gläubigerinteressen zu wahren gilt und dass natürlich auch jegliche
Missbrauchsmöglichkeiten ausgeschlossen werden müssen.
Es ist auch festzuhalten, dass der Gesetzentwurf von
allen Seiten - insbesondere vonseiten der betroffenen
Verbände - sehr positiv begleitet wurde. Ich bin auch
sehr dankbar dafür, dass schon im Vorfeld, vor der Vorlage des Gesetzentwurfs, sehr intensiv darauf geachtet
wurde, den Interessen der Bundesrechtsanwaltskammer,
des Deutschen Anwaltsvereins und auch des Deutschen
Richterbundes Rechnung zu tragen. Dies hat auch die
gestrige Sachverständigenanhörung gezeigt.
Wir müssen uns jetzt im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren mit Sicherheit die Möglichkeit geben
und auch die Zeit nehmen, entsprechende Änderungen
vorzunehmen. Ich möchte hier zwei Dinge explizit ansprechen.
Zum einen bin ich persönlich der Überzeugung, dass
es richtig ist, die Schwellenwerte für die verpflichtende
Durchführung eines Insolvenzplanverfahrens zu erhöhen. Ich bin der Auffassung, dass dieses Insolvenzplanverfahren vor allem für größere Unternehmen Anwendung finden sollte. Wenn man die Schwellenwerte
weiterhin auf dem niedrigen Niveau belässt, dann sehe
ich die Gefahr, dass es in der Praxis zu zeitlichen Verzögerungen kommt, weil viele kleinere Unternehmen aus
meiner Sicht für dieses verpflichtende Insolvenzplanverfahren nicht geeignet sind. Wohlgemerkt: Wenn das Insolvenzplanverfahren auf freiwilliger Basis durchgeführt
wird, dann kann es natürlich durchaus auch für kleinere
Unternehmen Anwendung finden.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht die
Konzentration der Insolvenzgerichte. Ich möchte uns
hier schon auch dazu aufrufen, uns wirklich noch einmal
sehr intensiv mit der Notwendigkeit auseinanderzusetzen.
({0})
Ich sage das ganz offen: Es ist ein berechtigter Grundsatz und auch ein berechtigter Wunsch, dass die Verfahren sachdienlich gefördert und auch schneller erledigt
werden. Ich persönlich bin aber auch der Überzeugung,
dass es nicht unbedingt zu einer stärkeren Konzentration
der Insolvenzgerichte kommen muss.
Ich möchte hier auch auf die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Bezug nehmen, der sehr deutlich
zum Ausdruck bringt, dass die Erfahrung genau das Gegenteil gezeigt hat. Die Bundesländer, die von dieser
Konzentrationsmöglichkeit schon bisher Gebrauch gemacht haben - Berlin, Hamburg, Sachsen -, weisen beileibe keine schnelleren Verfahrenszeiten als die BundesStephan Mayer ({1})
länder auf, die von der Konzentrationsmöglichkeit
bisher noch nicht Gebrauch gemacht haben. Gerade Flächenländer wie Niedersachsen und Bayern haben,
glaube ich, schon auch berechtigte Interessen, wenn es
darum geht, ob die dezentrale Struktur unserer Insolvenzgerichte weiterhin aufrechterhalten werden soll.
Ich bin der festen Überzeugung, dass auch der Aspekt
der Bürgernähe hier mit zu berücksichtigen ist. Gerade
bei Verbraucherinsolvenzen geht es um Personen, die
nicht vermögend sind und die größtenteils über keinen
privaten PKW verfügen. Denen aufzuoktroyieren und
zuzumuten, dass sie 100 bis 150 Kilometer bis zum
nächsten Landgericht fahren müssen, halte ich persönlich für überzogen. Ich glaube, deswegen sollten wir uns
dieses Themas noch einmal sehr intensiv annehmen.
Das gilt auch für die Konzentrationswirkung bei Unternehmensinsolvenzen, weil ich der Meinung bin, dass
es durchaus einen Mehrwert bieten kann, wenn der Insolvenzrichter das Unternehmen, das ins Schlingern und
in Kalamitäten gerät, schon zu einem Zeitpunkt kannte,
als es noch prosperierend war. Ich glaube, die Sachkunde
des Insolvenzrichters ist hier ganz wichtig.
Ich persönlich bin auch nicht der Auffassung, dass unsere Insolvenzgerichte und die dabei tätigen Insolvenzrichter bisher eine schlechte Arbeit geleistet haben ganz im Gegenteil. Auch wenn ein Insolvenzrichter von
der Anzahl her vielleicht noch nicht so viele Insolvenzverfahren bearbeitet hat, heißt dies beileibe nicht, dass er
qualitativ schlecht ist. Ganz im Gegenteil: Ich glaube,
wir sind bisher gut damit gefahren, dass die Insolvenzgerichte eine dezentrale Struktur haben. Dieser Punkt wäre
es meines Erachtens wert, im weiteren parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren Berücksichtigung zu finden. In diesem Sinne freue ich mich auf eine intensive
und konstruktive Diskussion dieses Gesetzentwurfes.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5712 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf
die Sowjetunion
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie alle kennen Vergils Aeneis, die Geschichte,
nach der Aeneas mit seinen Gefährten aus dem zerstörten Troja flieht und am Ende die Küste Italiens erreicht.
Der Karlsruher Kulturwissenschaftler und Philosoph
Sloterdijk nimmt dieses Bild auf und sagt, Europa sei der
Kontinent, auf dem die Menschen eine zweite Chance
hätten. Ich finde dieses Bild wunderbar. Es trifft auch zu:
nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts, nach all
den Schreckensszenarien, nach dem Grauen, nach der
Brutalität, nach der Kaltblütigkeit des Mordens, des
noch nie dagewesenen Deportierens und auch Ausrottens ganzer Völkerschaften.
In dieser Debatte anlässlich des 70. Jahrestages des
Überfalls Hitler-Deutschlands auf die damalige Sowjetunion steht am Anfang, nicht nur weil es unvermeidlich
ist, sondern weil es der Wahrheit entspricht, die Tatsache, dass der Auslöser dieses ganzen Schreckens das
Naziregime war. Darum kommt kein vernünftig denkender Mensch herum. Es hat im Übrigen nicht mit dem Angriff auf die Sowjetunion begonnen, sondern schon vorher mit dem Angriff auf Polen, mit den ganzen Vorläufen
des Regimes und mit dem zu späten Erkennen, auch von
intellektuell anspruchsvollen Menschen, der totalitären
Potenziale.
Wer angefangen hat, wer das ganze Elend ausgelöst
hat, ist unbestritten. Alle Versuche, aufzurechnen, was
wir in vielen Diskussionen erleben, helfen dabei im
Grunde genommen nicht weiter. Es ist wahr, dass uns
das Leid, das über Millionen von Menschen der damaligen Sowjetunion gebracht worden ist und das hinterher
in der Folge zur Vertreibung von Millionen von Menschen geführt hat, bewegt und erschüttert. Aber es kann
die Verantwortung für den Beginn nicht ungeschehen
machen.
Es ist nicht schwer - es ist auch kein Fehler -, wenn
man sich das eingesteht. Ich würde sogar sagen: Den
Schrecken der eigenen Vergangenheit erkennen und das,
was es anderen angetan hat, bereuen, zeigt die Reife einer Gesellschaft. Wenn wir uns weltweit umsehen, stellen wir fest: Es gibt keine Gesellschaft und kein Land,
das so die eigenen Tabus aufgegriffen hätte, Gräben zugeschüttet hätte und sich selbst über seine eigene Katastrophengeschichte klar geworden ist wie Deutschland.
Manche meinen vielleicht, wir hätten es bitter nötig gehabt.
Wenn ich heute in den anderen Ländern die geringe
Bereitschaft sehe, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen und der eigenen Gesellschaft die eigenen Fehler vorzuhalten, dann würde ich sagen, dass wir eine sehr
gute Leistung vollbracht haben und zu Recht die zweite
Chance in Europa verdient haben. Wir haben, so gut es
geht, die Trümmer unserer eigenen Geschichte beiseitegeräumt, was auch die heutige Diskussion zeigt, die wir
zum 70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die
Sowjetunion auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Man fragt sich bei solchen Gelegenheiten, wie es eigentlich möglich gewesen ist - man wird es nie richtig
begreifen -, dass im vergangenen Jahrhundert Europas
Verfassungs- und Kulturgeschichte mit Renaissance und
Aufklärung beiseitegewischt worden sind und die Bindung an Werte und unveräußerliche Menschenrechte geradezu ausgeschaltet wurde. Dass totalitäre Versuchungen und Potenziale nicht rechtzeitig erkannt wurden,
bleibt unbegreiflich. Nach jedem Buch, das man dazu
liest, und jedem Dokumentarfilm, den man sich ansieht,
stellt man sich wieder die Frage, wie es nur dazu kommen konnte, und steht immer wieder vor dem Unfassbaren.
Die Schreckensspur begann und endete nicht mit dem
Angriff auf die damalige Sowjetunion. Es war insgesamt
das totalitäre System sowohl der Nazis als auch - das
füge ich hinzu - später des Stalinismus, die das Gesicht
der Epoche so übel zugerichtet haben, wie es Joachim
Fest treffend beschrieben hat. Es hat lange gedauert, bis
der Terror dieser Ideen, Beglückungsbanner und politischen Lügen beseitigt worden ist und die Befreiung zur
Realität wurde.
Vaclav Havel hat das wie kein anderer für die erschöpften Menschen beider Regime und der Kriege zum
Ausdruck gebracht. Er beschreibt den Versuch, in einem
bescheidenen ideologiefreien Raum zu leben, der es den
Menschen - so drückt er sich wörtlich aus - erlaube, auf
einfache Art würdig zu leben, mit der Unvermeidbarkeit
von Widersprüchen, mit der Unvollkommenheit der
Welt, aber auch - so füge ich hinzu - ohne Gier nach
Größe oder anderen Verheißungen als Verrechnungen für
die Mühen des Alltags. Das sollte man als politisches
Programm übernehmen.
Wenn heute für uns in Europa die Menschenwürde als
Quellcode unseres politischen Umgangs und unserer
Verfassung insgesamt - nicht nur der geschriebenen gilt und wenn wir uns tagtäglich bewusst werden, dass
wir in Erinnerung an die Katastrophengeschichte uns bemühen müssen, in Partnerschaft mit Russland und allen
unseren europäischen Nachbarn zu leben, dann kann
sich das nicht nur auf Regierungsgeschäfte konzentrieren.
Wir müssen täglich ein Stück menschliches Zusammenleben organisieren. Wir müssen in einem menschlichen Miteinander leben, weil man nur dann Einflüsterungen begegnen kann, die in anderen Uniformen immer
wieder auftreten werden.
({0})
Deshalb will ich zu dem Jahrestag sagen: Er sollte uns
heute nicht nur veranlassen, über den Angriff nachzudenken; er sollte uns vielmehr veranlassen, auch mit
Blick auf die Zukunft darüber glücklich zu sein, dass die
Gefahr eines Krieges zwischen den Staaten Europas
nach meiner Überzeugung heute gebannt ist. Damit wird
aber noch unfassbarer, was vor 70 Jahren geschehen ist.
Sich daran zu erinnern, auch wenn es nur eine Dreiviertelstunde im deutschen Parlament ist, bleibt notwendig.
Wir müssen uns jeden Tag vergewissern, was zu tun ist,
damit sich so etwas nicht wiederholen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 22. Juni wäre prädestiniert als ein trauriger Gedenktag für eines der düstersten Kapitel der deutschen
Geschichte. Dieser Tag erinnert uns daran, dass von ihm
vor genau 70 Jahren unendliches Leid ausging, begleitet
von schwer begreifbaren Verbrechen.
Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein rassistischer Vernichtungskrieg. Er sollte für die Deutschen Lebensraum im Osten erobern, die angebliche Judenherrschaft in Russland brechen und die minderwertige
slawische Rasse dezimieren und hinter den Ural verdrängen.
Die Verbrechen verteilen sich auf die vier Jahre zwischen 1941 und 1945, vom Anfang bis zum Ende. Ihr
Ausmaß wird in Zahlen festgehalten, die unsere Vorstellungskraft überfordern: 27 Millionen getötete Menschen
in dem überfallenen Land, davon 14 Millionen Zivilisten. Das bedeutete mindestens einen Trauerfall in praktisch jeder Familie. Hinter diesen Zahlen verbergen sich
unauslöschliche Erinnerungsbilder von traumatischen
Erlebnissen. Dazu gehören die sofortige Erschießung aller gefangen genommenen Politoffiziere der Sowjetarmee nach dem sogenannten Kommissarbefehl, der
mindestens 7 000 Opfer forderte, die grausame, auf Vernichtung zielende Behandlung von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen fast 60 Prozent
ihre Gefangenschaft nicht überlebten, und die systematische Liquidierung von 2,5 Millionen Juden in den eroberten Gebieten. Im Zuge dieser rassenideologischen
Vernichtungspolitik wurden schon ab August 1941
ganze Gemeinden ausgelöscht. Die Schlucht von Babi
Jar bei Kiew, in der allein am 29. und 30. September
1941 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen wurden, steht als ein Erinnerungsort für Hunderte anderer. Dazu gehören auch der Versuch, im Winter 1941/42 das eingeschlossene Leningrad, die
zweitgrößte Stadt der Sowjetunion, schlicht verhungern
zu lassen, mit mindestens 800 000 Toten in den 900 Tagen der Belagerung, die Verschleppung von 2,8 Millionen Sowjetbürgern als Zwangsarbeiter und ihre rücksichtslose und erniedrigende Behandlung und dann,
während des Rückzugs, die Politik der verbrannten Erde,
der ganze Dörfer, Städte, Kulturlandschaften und wiederum Millionen von Zivilisten zum Opfer fielen.
Wenn wir heute hier im Deutschen Bundestag an den
22. Juni 1941 erinnern, von dem all dies grausame Geschehen ausging, dann bewegen wir uns auf dem Boden
gesicherter Erkenntnisse der Wissenschaft mit vielen
Beiträgen auch von deutschen und russischen Historikern. Das war nicht immer so. Nach 1945 ist alles, was
mit dem Unternehmen Barbarossa zusammenhing, lange
Zeit verdrängt oder verfälscht worden. Es hat lange Zeit
gedauert, bis die sogenannte Präventivkriegsthese als
Lüge entlarvt und widerlegt wurde. Es hat auch lange
gedauert, bis die Legende von der sauberen Wehrmacht
korrigiert werden konnte. Das geschah in der breiten Öffentlichkeit erst mit der berühmten Wehrmachtsausstellung nach 1995. Über mehrere Jahrzehnte hinweg schuf
der Kalte Krieg für viele ehemalige Täter und Mittäter
eine willkommene Legimitation, die alten Feindbilder zu
konservieren und dabei von der eigenen Mitverantwortung für die Verbrechen des Krieges gegen die Sowjetunion abzulenken.
Eine überzeugende Aufarbeitung der Geschichte
schafft die Voraussetzungen für eine angemessene Erinnerungskultur. Diese Voraussetzungen bestehen heute.
Die Erinnerung aber mit Leben zu füllen, das ist eine
Herausforderung, der sich jede Generation von neuem
stellen muss.
({0})
Wenn wir das heute versuchen, müssen wir eigentlich
zunächst über ein Wunder sprechen, das Wunder nämlich, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland
und Russland nach all diesen Traumata der Jahre 1941
bis 1945 über die Jahrzehnte hinweg so positiv entwickelt haben. Wir bezeichnen uns heute wechselseitig als
strategische Partner. Umfragen zeigen, dass die übergroße Mehrheit der russischen Bevölkerung ein positives
Deutschlandbild pflegt. Die Wirtschaftsbeziehungen
zwischen unseren beiden Ländern entwickeln sich gut.
Große Erwartungen knüpfen sich an das Projekt der Modernisierungspartnerschaft. Es bestehen über hundert
deutsch-russische Städtepartnerschaften. Seit 2001 bemüht sich der Petersburger Dialog, die Zivilgesellschaften beider Länder näherzubringen. Auch in den Kulturbeziehungen haben wir viele Aktivitäten, vom
Jugendaustausch über das gerade angelaufene deutschrussische Wirtschaftsjahr bis zu dem für 2012 vorgesehenen Deutschlandjahr in Russland und dem Russlandjahr in Deutschland.
Wenn man sich überlegt, dass es tatsächlich in praktisch jeder russischen Familie ein Kriegsopfer gab, dass
noch immer am 9. Mai, dem eigentlichen russischen Nationalfeiertag, der Sieg über Hitler-Deutschland gefeiert
wird und an diesem Tag die Veteranen mit ihren Ordensbrüsten das Stadtbild bestimmen und dass all diese
schrecklichen Ereignisse, die niemand vergessen kann,
von Deutschland ausgingen, dann kann man das real
existierende dynamische und positive deutsch-russische
Verhältnis von heute nur als Wunder bezeichnen und
Dankbarkeit dafür empfinden.
({1})
Aber es gibt zum 70. Jahrestag des Überfalls auf die
Sowjetunion auch von Schattenseiten zu berichten. Sie
betreffen die Aufarbeitung des Unrechts, die Entschädigung der Opfer und die Vollständigkeit der Erinnerungsarbeit. Ich spreche hierbei von Opfergruppen, die bisher
zu wenig gewürdigt wurden. Hier stößt man an erster
Stelle auf das Schicksal der 5,7 Millionen sowjetischer
Kriegsgefangener, die in doppelter Weise einem grausamen Schicksal unterworfen waren. Ihre Behandlung im
deutschen Gewahrsam führte zu der entsetzlich hohen,
von mir schon genannten Verlustquote von annähernd
60 Prozent, während die Quote zum Beispiel für Kriegsgefangene aus westlichen Ländern 3,5 Prozent an Opfern nicht überstieg.
Die Russen, die ihre Kriegsgefangenschaft überlebten, fanden zu Hause zunächst einmal für lange Zeit
Ächtung, Ausgrenzung, ja, in vielen Fällen sogar eine
Fortsetzung von Lagerhaft in dem System des stalinistischen Gulag vor. Es dauerte bis zum 24. Januar 1995, bis
Präsident Jelzin ein Dekret zur Wiederherstellung der
gesetzmäßigen Rechte der russischen Kriegsgefangenen
unterzeichnete, wodurch sie wenigstens den Status von
Kriegsteilnehmern erhielten und ihre negative Sonderstellung in der Gesellschaft beendet wurde.
Aber die ehemaligen Kriegsgefangenen erhielten weder Zugang zu den 1991 und 1993 eingerichteten Stiftungen in Moskau, Kiew, Minsk und Warschau, in die
Deutschland 766 Millionen Euro zur Weitergabe an Opfer des Nationalsozialismus einzahlte, noch zu der im
Jahr 2000 gegründeten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die zwischen 2001 und 2007 Auszahlungen in Höhe von 4,4 Milliarden Euro an 1,6 Millionen Opfer in 100 verschiedenen Ländern vornahm,
hauptsächlich an Menschen, die als Zwangsarbeiter für
Deutschland gelitten hatten, ausdrücklich aber nicht an
die Kriegsgefangenen, deren Leistungsberechtigung in
§ 11 der Stiftungssatzung ausdrücklich ausgeschlossen
wurde.
Immer wieder wird völkerrechtlich darauf verwiesen,
dass Kriegsgefangene eben Opfer des sogenannten allgemeinen Kriegsschicksals seien und dass ihre Entschädigung insofern Sache ihrer Herkunftsländer sei, die dafür
Mittel aus Reparationszahlungen nutzen müssten. Aber
trifft diese Einordnung ins allgemeine Kriegsschicksal
tatsächlich auf die sowjetischen Kriegsgefangenen in
deutscher Hand zu, auf Menschen, die in Güter- und
Viehwaggons transportiert wurden, die häufig und auch
zu Winterzeiten im Freien untergebracht wurden und die
in den berüchtigten Mannschaftslagern, in den Stalags,
von völlig unzureichender Ernährung, von Hunger,
schwerster Zwangsarbeit sowie Krankheiten und Seuchen in so erschreckend großer Zahl dezimiert wurden?
Längst ist erwiesen, dass sich die Unterscheidung von
Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen auf der einen Seite
und Kriegsgefangenen auf der anderen Seite so nicht
aufrechterhalten lässt. Das wird auch durch drei neuere
Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages aus den Jahren 2010 und 2011
bestätigt, die im Zusammenhang mit einer Petition in Sachen Entschädigung der Kriegsgefangenen erstellt worden sind. Diese Petition liegt dem Deutschen Bundestag
seit September 2006, also seit jetzt annähernd fünf Jahren,
vor und wurde bis heute nicht abgeschlossen. Eingereicht
hat sie die Organisation KONTAKTE-KOHTAKTbl, die
sich in bewunderungs- und unterstützungswürdiger
Weise der noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen
annimmt. Ich finde, das ist ein Grund, auch einmal von
diesem Haus aus einen herzlichen Dank an diese engagierten Zeitgenossen zu sagen.
({2})
Die Leute von KONTAKTE zahlen aus privaten Stiftungsgeldern Einmalsummen von 300 Euro an die Betroffenen aus und übersenden dieses Geld verbunden mit
einem persönlichen Anschreiben. Es ist berührend, wenn
man sieht, wie häufig auf diese eher symbolische Anerkennung des Leidens ausführliche Dankschreiben zurückkommen.
Es ist wirklich Zeit, zu versuchen, hier zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Wir können dieses
Thema nicht allein engagierten Privatpersonen überlassen oder gar auf die bevorstehende biologische Erledigung setzen. Wir sollten einen gemeinsamen Weg finden
und uns gerade durch den 70. Jahrestag des 22. Juni
1941 dazu mahnen lassen, zumindest einen Weg für eine
Geste des Bedauerns und der Anerkennung des Leids der
vergessenen Opfer des Vernichtungskrieges gegen die
Sowjetunion zu finden. Dass zu diesen die 14 Millionen
Zivilopfer, aber eben auch die über 3 Millionen umgekommenen Kriegsgefangenen gehören, daran hat uns gerade wieder ein Appell von Aktion Sühnezeichen zusammen mit vier weiteren Organisationen eindringlich
gemahnt; das Memorandum trägt den Titel „Aus dem
Schatten der Erinnerung“.
Es wäre gut - damit möchte ich schließen -, wenn unsere heutige Debatte uns alle motivierte, es nicht weiter
zuzulassen, dass wir auch 70 Jahre nach dem 22. Juni
1941 noch von vergessenen Opfern in diesem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sprechen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Michael
Glos das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe sehr viele
Debatten in diesem Hohen Hause erlebt. Aber dies ist
eine der berührendsten Debatten, der ich jemals beiwohnte und in der ich das Wort ergreifen durfte. Es ist
vor allen Dingen spürbar, wie sich alle Seiten dieses
Hauses einig sind.
Wir gedenken heute des 22. Juni 1941. An jenem Tag
vor 70 Jahren überschritten die deutschen Truppen die
Grenze der damaligen Sowjetunion und lösten mit diesem Überfall eine beispiellose Serie von Gewalt aus, die
dann auch zu Gegengewalt führen musste. Kollege
Wolfgang Gerhardt hat die Vorgeschichte geschildert
und deutlich gemacht, dass wir an der Geisteshaltung
festhalten müssen, zu sagen, nie mehr dürften Krieg, Unrecht, Faschismus usw. die Oberhand gewinnen. Es war
auch sehr berührend, was der Herr Kollege Erler an
Schrecken geschildert hat.
Ich zitiere Helmut Kohl, den Kanzler der deutschen
Einheit, der bereits 1995 in Moskau erklärt hat:
Die historische Verantwortung bleibt: Das nationalsozialistische Regime in Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg entfesselt. Es hat den Vernichtungsfeldzug … geplant und begangen.
Der heutige Tag ist ein Tag der Erinnerung an Schrecken, Leid und Vernichtung. Voller Schmerz und Trauer
gedenken wir all der Opfer dieses furchtbaren Krieges
und vor allen Dingen des Rassenwahns des Naziregimes.
Es ist dann aber auch ein Grund, da wir das alles nicht
wiedergutmachen können, nach vorne zu blicken.
Vor dem Hintergrund menschenverachtender Ideologien wurde dieser grausame Vernichtungskrieg ausgelöst, dessen Schrecken hier zu beschreiben mir nicht
möglich ist. Herr Kollege Erler hat einen Versuch gemacht. Aber ich glaube, die ganzen Schrecken und Leiden können wir, die Generation danach, uns nicht vorstellen. Erfreulich ist, dass Russland und Deutschland,
aber auch die Länder, die zur ehemaligen Sowjetunion
gehört haben, zusammen einen langen Weg der Versöhnung zurückgelegt haben.
Im vergangenen Jahr feierten wir gemeinsam den
20. Jahrestag der Überwindung der deutschen Teilung,
die ebenfalls eine direkte Folge des schrecklichen Zweiten Weltkriegs gewesen ist. Unsere russischen Freunde
- ich war letzte Woche in Moskau - sprechen vom Großen Vaterländischen Krieg und sind stolz darauf, dass sie
diesen Vaterländischen Krieg überstanden und gewonnen haben. Auch unsere Bundeskanzlerin Angela
Merkel war schon bei Siegesparaden in Moskau. Das ist
etwas, was nicht vom ganzen deutschen Volk sofort verstanden worden ist. Ich halte diese Geste der Bundeskanzlerin für sehr berechtigt.
Trotz der schmerzhaften Erinnerungen an die Leiden
der Kriegsjahre begegnen sich Russen und Deutsche inzwischen - das haben, glaube ich, die allermeisten von
uns schon gespürt - sehr offen und in aufrichtiger
Freundschaft und Zuneigung. Die wirtschaftlichen Beziehungen, die Verflechtungen wachsen stetig. Ich halte
das für ungeheuer wichtig. Russland ist heute unser
wichtigster Energielieferant, ich kann sagen: unser wichtigster Energiepartner.
Wir müssen alles dafür tun, dass nicht nur Russland
und Deutschland, sondern auch Russland und Europa
noch stärker als in der Vergangenheit zusammenwachsen. Ich habe vor einer stärkeren Abhängigkeit von
Russland - davor wird immer wieder gewarnt - überhaupt keine Angst. Im Gegenteil: Ich möchte, dass die
Zusammenarbeit in Zukunft noch stärker wird. Ich kann
mir durchaus vorstellen, dass Russland eines Tages Mitglied der Europäischen Union wird. Ich glaube, das wäre
zum Vorteil beider Seiten. Wir müssen Schritt für Schritt
an dieser Aufgabe arbeiten.
Ziel unserer Politik muss auch sein, dass zwischen
den Menschen, vor allen Dingen in Russland und in
Deutschland, dauerhaft Friede und Freundschaft gewährt
sind. Und Freundschaft schafft Frieden. Nichtsdestotrotz
ist dieser Tag eine stete Mahnung. Der 70. Jahrestag des
Überfalls Hitlerdeutschlands gibt Anlass zu Trauer, Erinnerung, aber auch zu hoffnungsvollen Ausblicken auf
die Zukunft.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh darüber, dass es in diesem Hause möglich geworden ist, dass sich alle Fraktionen auf diese Debatte geeinigt haben. Ich finde, es ist ein hoffnungsvolles
Zeichen, dass man auch in diesen Fragen gemeinsam
nachdenkt, gemeinsame Verantwortung hat und gemeinsame Botschaften abgeben kann. Ich würde mich freuen,
wenn diese Botschaften auch in Russland - in Moskau,
in der Duma und bei den Menschen - aufgenommen
werden. Das ist der Gestus, mit dem wir hier diskutieren
und der uns über die Fraktionsgrenzen hinweg verbindet.
Die Dramatik dieses Verbrechens, dieses rassistischen
Vernichtungskrieges, der Vernichtung von Millionen
Menschen - Leid, Dreck, Elend, Blut, Not: all das ist von
Deutschland ausgegangen -, kann man sich heute nur mit
dem Versprechen in Erinnerung rufen: So etwas darf nie
wieder eintreten. Die Botschaft nach 1945 - auch aus
Deutschland, mit Blick auf Buchenwald und auf die befreiten Konzentrationslager - war: Nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg. Diese Botschaft verbindet, und
diese Botschaft gilt weiterhin. Ich glaube, sie muss von
uns immer wieder vorgetragen werden.
({0})
Ich möchte ein paar Zeilen aus einem Gedicht von
Jewgenij Jewtuschenko, das ich mit einer großen inneren
Bewegung gelesen habe, zitieren - er hat es 1961, also
vor 50 Jahren, geschrieben; es behandelt die nächste
Etappe, die Etappe des Kalten Krieges; dieses Gedicht
hat folgende prägende Zeilen -:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
…
Dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir drauf Antwort gibt:
Meinst du, die Russen woll’n … Krieg?
Ich glaube, dass sich viele diese Frage gestellt haben,
auch in unserem Lande. Diese Frage ist Gott sei Dank in
einer völligen Klarheit der Erkenntnisse beantwortet
worden: Weder die Russen wollen Krieg, noch die Deutschen wollen Krieg, noch Europa will Krieg. Krieg muss
aus der Geschichte der Völker verbannt werden.
({1})
Ich finde, dieses Gedicht ist gewaltig. Es bewegt mich
sehr.
Ich möchte diesen Gedanken aufnehmen und fortführen mit einer Überlegung zu dem, was für mich der
nächste Einschnitt in der Geschichte der Republik West
gewesen ist, ein sehr bedeutsamer Einschnitt: die
Rede, die der damalige Bundespräsident Richard von
Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde des
Deutschen Bundestages gehalten hat. Das war ein großer
Einschnitt. Das war eine große Rede. Sie lässt sich in einem Grundgedanken zusammenführen - ich zitiere von
Weizsäcker -:
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns
alle befreit von dem menschenverachtenden System
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. …
Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als
das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu
erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.
Diese Rede von Weizsäckers - der 8. Mai als Tag der
Befreiung und nicht als Tag der Niederlage - hat in
Deutschland West, in Gesamtdeutschland eine Wende
des Denkens eingeleitet. Es war eine sehr wichtige Rede,
eine wichtige Feststellung, die quer durch alle Fraktionen getragen werden kann.
Ich will Ihnen eine zweite Überlegung vortragen, und
zwar aus einem Buch, das mich sehr bewegt. Es ist von
Arno Lustiger, einem jüdischen Überlebenden der KZ
Auschwitz und Buchenwald. Er hat ein bewegendes
Buch über die Verbrechen Stalins an den Jüdinnen und
Juden geschrieben. Er kommt darin zu dem Urteil:
… ist es unerlässlich, der Millionen sowjetischer
Soldaten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitlerdeutschland gefallen sind oder in der Gefangenschaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre die
Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des
mörderischen Nazismus gerettet.
Das schreibt Arno Lustiger in seinem Buch.
Dieser Botschaft eines unmittelbar Betroffenen kann
man sich als Parlament, als Deutscher Bundestag, nur
anschließen.
({2})
Wir haben uns zu bedanken. Wir haben das zu achten,
was hier passiert ist und was geleistet worden ist.
Ich möchte sehr gern, dass wir gemeinsam darüber
nachdenken, wie man in Europa ein gesichertes System
des Friedens immer weiter ausbauen kann - das geht
nicht ohne Russland - und wie wir in Europa bessere
persönliche Beziehungen schaffen. Ich würde mir wünschen, dass wir die Frage der Visafreiheit gegenüber
Russland endlich klären, und zwar hier im Parlament gemeinsam klären.
({3})
Ich möchte mir wünschen, dass wir eine Art und Weise
der wirtschaftlichen Beziehungen und der sozialen Sicherheit entwickeln, bei der man bereit ist, voneinander
zu lernen. Ich möchte mir wünschen, dass Kultur, Kunst
und Literatur uns verbinden. Da können wir unendlich
viel lernen.
Wenn wir in diesem Sinne, bei allem Streit und allen
Widersprüchen hier im Parlament, wieder ein Stück weit
Gemeinsamkeiten finden, wäre ich dafür dankbar. Der
Kalte Krieg ist zu Ende, und wir müssen unseren Beitrag
dazu leisten, dass er endgültig überwunden wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
froh, dass die Initiative unserer Fraktion für diese Debatte zu einer so einmütigen Atmosphäre führt. Für uns
alle - das haben Sie richtig beschrieben, Herr Gehrcke ist im Rückblick der 8. Mai der Tag der Befreiung. Wir
verdanken das den Soldaten aus den Völkern der Sowjetunion genauso wie unseren amerikanischen, britischen
und französischen Freunden, die uns befreit haben von
der Hitler-Diktatur, welche - das sollte man auch immer
dazusagen - das deutsche Volk zu verantworten hatte.
Die dafür Verantwortlichen waren keine Fremden, die zu
uns gekommen sind; sie kamen aus der Mitte des Volkes,
und sie hatten leider auch große Unterstützung in unserem Volk.
Am 22. Juni 1941 begann mit dem Überfall auf die
Sowjetunion das schlimmste Kapitel in dem schrecklichen Kapitel des Zweiten Weltkrieges: ein Angriffs- und
Vernichtungskrieg, der nicht nur darauf abzielte, einen
Krieg zu gewinnen, Territorium zu gewinnen, sondern
auch darauf, die Menschen, die in diesem Land lebten,
zu vernichten, zu dezimieren, zu liquidieren. Das sieht
man ganz deutlich an den Worten, die Hitler schon im
Frühjahr 1941 sprach: „Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz als bisheriger Unterdrücker muss beseitigt werden“.
Das sieht man auch, wenn man die Worte des Reichslandwirtschaftsministeriums zur Belagerung von Leningrad liest, wo es darum ging, 5 Millionen Menschen auszuhungern, damit die gewonnenen Lebensmittel dem
deutschen Volk zur Verfügung stehen sollten.
Es ging darum, die Völker der Sowjetunion - die Russen, die Ukrainer, die Weißrussen - zu vernichten. Wir
sollten uns an diesem Tag vor den Opfern verneigen und
vielleicht auch darüber nachdenken, ob wir den Opfern
nicht eine würdigere Form des Gedenkens an diesen Tag
und an diese schlimmen Verbrechen schuldig sind.
In Berlin gibt es das Sowjetische Ehrenmal für die
Krieger, für die Befreier. Es gibt aber keinen Ort und
auch keine feste Stunde für das Gedenken an alle sowjetischen Kriegsopfer.
An einem solchen Tag sollte man über die offenen
Fragen des Gedenkens reden. Dazu gehört für mich ganz
entscheidend die Frage der überlebenden sowjetischen
Kriegsgefangenen. Denn in der Tat - Herr Erler hat das
völlig richtig beschrieben -: Sie fielen aus allen Rastern
heraus. Nach ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft
wurden sie in der Sowjetunion diskriminiert, als potenzielle Vaterlandsverräter verachtet und von den Entschädigungen ausgeschlossen. Von uns wurden sie nicht als
Zwangsarbeiter - weil Soldaten - betrachtet. Sie wurden
auch von den Entschädigungswerken, die wir nach 1990
mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und den entsprechenden Versöhnungsstiftungen - wie mit der Zwangsarbeiterstiftung - ins Werk gesetzt haben, am Ende nicht berücksichtigt.
Es gibt noch 7 000 bis 8 000 Überlebende aus dieser
Gruppe. Manche von ihnen kamen in die Konzentrationslager. Andere kamen ins sogenannte Russenlager.
Die Sterblichkeitsrate in beiden Lagern war die gleiche.
Deshalb sollten wir uns bei aller Einigkeit fragen - da
spreche ich Sie an, Herr Glos; denn Sie haben in der Debatte diese Einigkeit ja festgestellt -, ob wir nicht über
die Fraktions- und Parteigrenzen hinaus eine Geste ins
Werk setzen, um diesen Menschen zu helfen. Damit können wir zugleich deutlich machen, dass wir das Unrecht
als Unrecht der Deutschen sehen und uns dazu verpflichtet fühlen, für diese Menschen etwas zu tun. Es geht
nicht darum, mit ihnen über Reparationsrecht und dergleichen Fragen zu reden, sondern ihnen im Angesicht
der Geschichte konkret zu helfen.
({0})
Meine Damen und Herren, Patrick Desbois hat in seinem Buch über den vergessenen Holocaust - die Ermordung der ukrainischen Juden - gesagt: Ein Krieg ist erst
vorbei, wenn die letzten Opfer beerdigt sind. - Ich bin
froh, dass die Bundesregierung eine Initiative von dem
Kollegen Jerzy Montag und mir zur Unterstützung eines
Gedankens des American Jewish Committee aufgegriffen hat, wonach man damit beginnt, die Massengräber
der ermordeten Juden in der ehemaligen Sowjetunion
- also in der Ukraine, in Russland und in Weißrussland als würdige Gedächtnis- und Begräbnisstätten herzurichten.
Wenn die Täter - die Mitglieder des SD und der SS -,
die die Morde begangen haben, im Krieg gefallen sind,
wurden sie nach Deutschland zurückgebracht, bekamen
dort Ehrengräber oder sind auf den Soldatenfriedhöfen
beerdigt worden. Aber die Opfer der ersten Massenerschießungen, die den Beginn der systematischen Ermordung der Juden Europas bedeuten, sind oftmals an Orten
verscharrt worden, die man nicht als Begräbnisstätten erkennen kann und die der Vergessenheit anheimfallen.
Ich finde, wir sollten eine solche Initiative verstärken,
damit diese Taten nicht in Vergessenheit geraten. Das ist
unsere Aufgabe, die Aufgabe der Deutschen, und nicht
Volker Beck ({1})
die Aufgabe der Völker, auf deren Territorium diese Verbrechen verübt wurden.
Das ist meines Erachtens eine weitere Konsequenz aus
dieser Gedenkdebatte. Ich wünsche mir, dass wir uns zum
75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion in einem
angemesseneren, protokollarisch würdigeren Rahmen
daran erinnern. Ich glaube, das sind wir den Russen, den
Ukrainern und den Weißrussen sowie den Menschen aus
den zentralasiatischen Staaten, die an diesem Krieg ebenfalls als Soldaten beteiligt waren, einfach schuldig. Deshalb sollten wir uns nach dieser Debatte interfraktionell
über dieses Thema noch weiter austauschen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 22. Juni
1941 eröffnete das Deutsche Reich auf breitester Front
zwischen der Ostsee und den Karpaten den Krieg gegen
eine offensichtlich überraschte Sowjetunion. Damals zog
Hitler in seiner Wehrmacht eine unvorstellbar große Militärmacht für den sogenannten Kreuzzug Europas gegen
den Bolschewismus zusammen: 153 Divisionen mit
knapp über 3 Millionen Soldaten, 3 600 Panzern und
600 000 Motorradfahrzeugen standen zur Verfügung.
Hinzu kamen weitere 600 000 Mann aus damals verbündeten Staaten. Es war ein von langer Hand geplanter
Überfall auf die Sowjetunion mit dem Hintergedanken,
einen ideologischen Weltanschauungskrieg und rassenbiologischen Vernichtungskrieg zu führen.
Im Vordergrund standen die Eroberung von Lebensraum im Osten sowie - es wurde eben schon gesagt - die
Vernichtung der Sowjetunion. Es ist unbestritten - da ist
die Geschichtsschreibung heute Gott sei Dank eindeutig -,
dass mit dem Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 die sofortige Liquidierung von gefangenen kommunistischen
Kommissaren der Roten Armee angeordnet worden ist.
Damit ist klar, dass dies keine normale militärische
Auseinandersetzung war, sondern damit weitere Ziele
Hitlers von Anfang an verbunden waren.
Kein Land in Europa hat im Zweiten Weltkrieg einen
so hohen Preis gezahlt: Offizielle russische Angaben gehen von 27 Millionen Opfern aus. Die Gegenreaktion,
die schrecklichen Verbrechen der Roten Armee an Deutschen, sind nicht mit der Ursache zu verwechseln, nämlich mit dem Vernichtungszug der Wehrmacht, der von
Anfang an zu erheblichen Opfern in der russischen Zivilbevölkerung geführt hat.
Der 22. Juni 1941 markiert den Tiefpunkt der fast tausendjährigen gemeinsamen Geschichte beider Völker.
Ich bin froh, dass in der heutigen Debatte in jeder Rede
auch die positiven Seiten zum Ausdruck gekommen
sind. Wir haben eine positive Grundstimmung gegenüber Russland.
Die gemeinsame Geschichte umfasst ein großartiges
Fundament der Kultur; hier haben wir viele Dinge gemeinsam erreicht. Beispielsweise wurde die WolgaSteppe schon früh von schwäbischen und pfälzischen
Bauern beackert. Deutsche Handwerker, Hoflieferanten,
Kaufleute zogen nach Russland. Zwischen 1692 und
1695 waren es sogar deutsche Diplomaten, die Russland
auf einer wichtigen und erstmaligen Mission in China
vertraten - der Reisebericht ist sehr empfehlenswert und damit diese neue Welt erschlossen haben.
Wenn man sich die gemeinsame Geschichte anschaut
- angefangen bei von Clausewitz, der gemeinsam mit
Russen gekämpft hat, bis zu Katharina der Großen -,
dann ist dieser Zivilisationsbruch im Zweiten Weltkrieg,
der sich insbesondere gegen Russland gerichtet hat,
umso unverständlicher; er stellt einen Bruch in der langen gemeinsamen Geschichte dar.
Heute blicken wir auf eine Zeit zurück, die von Frieden und gemeinsamen Anstrengungen, um diesen Frieden zu erhalten und die Partnerschaft und Freundschaft
zu stärken, geprägt ist. In einem Jubiläumsmarathon im
vergangenen Jahr - 65 Jahre Kriegsende, 40 Jahre Ostverträge, 35 Jahre OSZE-Akte, 25 Jahre Perestroika und
20 Jahre deutsche Wiedervereinigung - richtet sich der
Blick weniger in die Vergangenheit, selbst wenn die heutige Debatte auch genutzt worden ist, um noch offene
Fragen anzusprechen, deren Klärung wir uns annehmen
wollen; ich stimme zu, dass wir die Klärung der Fragen
gemeinsam angehen sollten. Der Blick richtet sich vielmehr auch in die Zukunft. Herr Gehrcke, Sie haben gesagt, wir müssten versuchen, den Kalten Krieg endgültig
zu überwinden. Gerade was viele Vorurteile gegenüber
Russland angeht, haben wir tatsächlich noch einige Arbeit vor uns. Wir sollten mit dieser Debatte beginnen,
diese Arbeit anzugehen. Dafür sollten wir alles tun.
({0})
Unsere politischen Initiativen mit Russland sind fortzuführen. Sie sind nicht auf den wirtschaftlichen Bereich
zu begrenzen. Michael Glos hat die Energiepartnerschaft
angesprochen; das ist ein weites Feld. Wir sollten versuchen, aus den wirtschaftlichen Initiativen - ich denke
beispielsweise daran, dass Ministerpräsident Putin im
vergangenen November in Deutschland die Einrichtung
einer Freihandelszone von Lissanon bis Wladiwostok
angesprochen hat - auch in politischer Hinsicht etwas zu
machen. Wir sollten es nicht bei der wirtschaftlichen Kooperation belassen, sondern versuchen, auf Basis unserer
gemeinsamen kulturellen und politischen Geschichte
mehr zu erreichen. Auf Basis der wirtschaftspolitischen
Zusammenarbeit können wir jedoch gemeinsam auch
außenpolitisch viel schaffen.
({1})
Russland ist heute einer unserer wichtigsten Partner.
Viele Konflikte, die zum außenpolitischen Alltag gehören - ich denke an den Iran-Konflikt, an den Konflikt im
Nahen Osten, an Konflikte in Zentralasien oder an Frozen Conflicts -, sind nur zu lösen, wenn wir gemeinsam
mit Russland aktiv sind und eine gemeinsame außenpolitische Konzeption erarbeiten.
Deshalb richte ich den Blick auch heute optimistisch
in die Zukunft. Trotz der schrecklichen Verbrechen, die
im deutschen Namen von Deutschen am russischen Volk
begangen wurden, treffen wir auf eine junge Generation
in Russland, die uns vorurteilsfrei als privilegierten Partner ansieht und über die wirtschaftliche Kooperation mit
uns gemeinsam viel erreichen will. Darum werbe ich
auch im Namen meiner Generation dafür, dass wir diese
Chance nutzen.
Herzlichen Dank.
({2})
Der Kollege Peter Beyer hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wer Wind
sät, wird Sturm ernten“. - Jeden Tag laufen wir Parlamentarier an dieser mahnenden Inschrift in der Wandelhalle des Reichstagsgebäudes vorbei. Das kyrillische
Graffiti gehörte zu den Kraftausdrücken der sowjetischen Besatzer, die 1945 ihr rotes Siegesbanner auf diesem Gebäude hissten. Zorn und Hass sind es, die uns aus
den wenigen noch verbliebenen Lebenszeichen an den
Wänden entgegenschlagen.
Man entschied sich bei den Renovierungsarbeiten
nach Rücksprache mit dem damaligen russischen Botschafter, eine Vielzahl der Inschriften und Lebenszeichen der Besatzer zu entfernen. Die Argumentation lautete damals: Die Sprüche könnten die deutsch-russische
Freundschaft stören. Mit dem Wissen um das Leid, das
Nazideutschland säte, sind diese Graffiti nur zu verständlich. „Aus dem Kessel bis nach Berlin“, steht an
einer Stelle im Umgang des Plenarbereichs. Generalfeldmarschall von Reichenau befahl 1941 die totale Vernichtung des Sowjetstaates. Das war die Losung des „Unternehmens Barbarossa“.
Am 22. Juni 2011 jährte sich zum 70. Mal der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion - der
Anlass für unsere heutige Debatte. Zwar hatte HitlerDeutschland die Apokalypse des Zweiten Weltkrieges
längst begonnen, dennoch markiert der 22. Juni 1941
eine neuerliche Zäsur mit dem Beginn unvorstellbaren
Leids. Das Unheil, die Verbrechen und die Opferzahlen
sind auch heute nur schwer zu begreifen. An diesem Tag
wurden Grenzen überschritten - in jeder Hinsicht. Es
folgte ein rassenideologischer Vernichtungs-, Versklavungs- und Eroberungskrieg mit Massenerschießungen,
Deportationen und Hungerpolitik - eine Volkskatastrophe. Hitler säte Leid und Qualen. Seine Ernte: verbrannte Erde, Hunger und Tod, kurzum: ein Weltbrand.
Über die Bedeutung und Einordung des 8. Mai 1945,
des Kriegsendes, ist viel gesagt und geschrieben worden.
Dem totalen Krieg folgte die totale Niederlage, und danach erst, wie es Richard von Weizsäcker 1985 kritisierte, die Einordnung der Niederlage als Bedingung für
Befreiung und Freiheit.
Es bleibt mithin unsere Aufgabe, für uns und künftige
Generationen das Gedenken an dieses Datum wachzuhalten und die Lehren aus diesem dunklen Kapitel zu
ziehen, wohl wissend, dass das Leid selbst mit dem
Kriegsende 1945 nicht aufhörte, weder für die Balten,
für die Menschen in weiten Teilen Osteuropas, für die
aus ihrer Heimat Vertriebenen noch für die Russen
selbst, die unter den Verbrechen Stalins, den Gulags,
wahrscheinlich am meisten gelitten haben.
Die Kriegserinnerungen verbinden Deutschland und
Russland bis zum heutigen Tag.
„Wer Erinnerung sät, wird Zukunft ernten.“
Ein Zeugnis des Gedenkens sind die zahllosen
Kriegsgräber. Die Pflege der Kriegsgräber ist eine wichtige Aufgabe. Sie halten die Mahnung des 22. Juni 1941
ebenso lebendig wie zum Beispiel Ausstellungen über
die Schicksale der Zwangsarbeiter, die es heute in
Deutschland und Russland in Gedenkstätten sowie Museen gibt.
Vor eineinhalb Jahren rief eine internationale Initiative, die übrigens auch vonseiten der Union tatkräftig
unterstützt wurde, dazu auf, Tausende vergessene Holocaust-Massengräber in Osteuropa als würdige Gedenkstätten zu schützen. Dieser Aufruf, der mehr als
1,5 Millionen osteuropäischen Juden, die zwischen 1941
und 1943 von NS-Einsatztruppen, Wehrmachts- und
Polizeieinheiten erschossen und in Gruben verscharrt
wurden, zu gedenken und ihnen ihre Würde zurückzugeben, zeigt Wirkung. Die Initiative wird federführend
vom Berliner Büro des American Jewish Committee koordiniert und auch von der Bundesregierung unterstützt.
Heute muss es uns besonders um die weitere Förderung und Intensivierung des zivilgesellschaftlichen Dialogs gehen. Erst kürzlich hatte ich die Gelegenheit, an
der XI. Deutsch-Russischen Städtepartnerkonferenz teilzunehmen. Bundespräsident Christian Wulff würdigte
die Kooperationen zwischen deutschen und russischen
Kommunen ausdrücklich, als er die Repräsentanten aus
rund 70 deutschen und 50 russischen Städten im Schloss
Bellevue begrüßte.
„Ernten, was man sät.“
70 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion sprechen beide Seiten von einer verlässlichen
Partnerschaft mit dichten wirtschaftlichen Verflechtungen, Investitionen und bilateralem Handel. Die Erinnerung an das Bild einer umfassenden Katastrophe, wie es
Bundespräsident Roman Herzog zeichnete, lässt denPeter Beyer
noch keinen Zweifel an der Verantwortung der Deutschen für begangenes Unrecht, aber ebenso wenig an ihrer festen Entschlossenheit, als wichtigste Lehre aus der
Geschichte eine neue politische Kultur des Zusammenlebens in Europa zu fördern.
Es gibt in den bilateralen Beziehungen zwischen
Deutschland und Russland keine erkennbaren großen
Konflikte. Dennoch muss es uns stets Pflicht und Anliegen zugleich sein, die Bemühungen der russischen Partner hinsichtlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Menschenrechten unterstützend zu begleiten. Die Qualität der künftigen deutsch-russischen Beziehungen wird
ganz entscheidend davon abhängen, ob Deutschland und
Russland verantwortungsvoll miteinander umgehen und
ob in Russland künftig diejenigen Kräfte tonangebend
sein werden, die einen besonderen russischen Weg befürworten, oder diejenigen, die für eine weitere Annäherung an Europa eintreten.
Beide Staaten befinden sich in einem als evolutionär
zu bezeichnenden Prozess der Annäherung. Es ist eine
Beziehung, die reift, die wächst, die erwachsen wird, die
sich weiter normalisiert.
Die Inschriften der russischen Besatzer sind nicht allein Bestandteil dieses Baudenkmals, des Reichstagsgebäudes. Sie stehen symbolisch für die Mahnung auch an
uns als politisch verantwortlich Handelnde, die Existenz
der Völker in Europa und in der Welt niemals mehr zu
gefährden.
Herzlichen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
dieser vereinbarten Debatte. Ich gestehe, es fällt mir
schwer, diese Debatte mit der üblichen Formel zu beenden. Deshalb möchte ich den Wunsch, den alle Redner
hier vorgetragen haben, noch einmal verstärken, dass die
Botschaft dieser Debatte tatsächlich nach draußen dringt
und wir gemeinsam an der Umsetzung der Dinge arbeiten, die heute hier von allen in den Mittelpunkt gestellt
wurden.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Artikel-115-Gesetzes
- Drucksache 17/4666 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
- Drucksache 17/6241 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({3})
Dr. Gesine Lötzsch
Sven-Christian Kindler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Barthle für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Einführung einer strikten Begrenzung der Neuverschuldung im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland ist eine historisch-politische Leistung der Großen Koalition während der letzten
Legislaturperiode. Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das unwiderrufliche Bekenntnis zu dauerhaft
soliden und tragfähigen öffentlichen Finanzen in
Deutschland. Darin, lieber Kollege Carsten Schneider,
waren und, denke ich, sind wir uns einig: Es muss endlich Schluss sein in Deutschland mit der Finanzierung
der Wünsche von heute zulasten der Generationen von
morgen.
({0})
Ich erinnere mich allerdings auch, dass die Gewerkschaften bei der Einführung der Schuldenbremse im
Grundgesetz öffentlich dagegen eingetreten sind. Auch
in Teilen der SPD-Fraktion gab es da nur gebremste Begeisterung.
Die glaubwürdige Umsetzung der Vorgaben der
Schuldenbremse ist daher eines der zentralen finanzpolitischen Ziele der Koalition. Die aktuelle Haushaltsentwicklung des Bundes zeigt, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Wir werden im laufenden und in den kommenden Jahren deutlich unter der im Rahmen der Schuldenbremse maximal erlaubten Nettokreditaufnahme liegen. Das ist solide Finanzpolitik und zeigt, dass der
SPD-Entwurf politisch eigentlich ins Leere läuft.
({1})
Denn der Haushalt 2011 ist der erste, der im Rahmen der
neuen Schuldenbremse aufgestellt wurde. Gerade in den
ersten Jahren ihrer Anwendung ist deren Einhaltung für
die Glaubwürdigkeit der Schuldenbremse von besonderer Bedeutung.
Lassen Sie mich daher noch einmal auf den Punkt
bringen, warum wir den SPD-Gesetzentwurf gerade
auch vor diesem Hintergrund entschieden ablehnen. Ziel
der Regelungen zum Abbaupfad ist es, für die Jahre
2011 bis 2015 einen geordneten, unumkehrbaren Weg
hin zu der ab 2016 regulär geltenden Schuldenregel des
Art. 115 Grundgesetz festzulegen. Die jährlichen Haushalte sind dann mit der Maßgabe aufzustellen, dass die
Einnahmen aus Krediten 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes nicht überschreiten. Diesem Ziel müssen die
Haushaltsaufstellung und die mittelfristige Finanzplanung entsprechen. Der Bund erfüllt diese Forderung
vollständig. Es gilt, bis dahin den Übergangspfad verlässlich und verbindlich auszugestalten.
Klar ist: Nicht jede neue Erkenntnis, nicht jede neue
Entwicklung kann zu einer nachträglichen Anpassung
vorgegebener Obergrenzen führen, zumal diese bereits
einmal verbindlich festgelegt und auch öffentlich klar
kommuniziert worden sind. Ein mehr oder weniger laufendes Nachjustieren des Abbaupfades würde zu einem
hektischen Anpassungsmarathon führen, der am Ende
niemandem hilft. Die Bevölkerung verlöre jeglichen Bezugspunkt und jegliche Kontrollmöglichkeit, um zu beurteilen, ob das, was wir Haushaltspolitiker machen,
auch entsprechend der Schuldenregel geschieht.
Im Ergebnis würde damit die Glaubwürdigkeit der
Schuldenbremse in den ersten Jahren nicht gestärkt, sondern erheblich geschwächt. Wir wollen aber einen festen, sozusagen in Stein gemeißelten Abbaupfad und
keine Gummirutsche. Darum geht es letztendlich.
Daher ist unser Weg ein anderer. Die Berücksichtigung veränderter Umstände geschieht immer ganz konkret im Rahmen des jeweiligen Haushaltsaufstellungsverfahrens. Die Erfahrung zeigt: Der Umgang mit
entsprechenden Ermessensspielräumen muss auch praktisch umsetzbar sein.
Die SPD - das erschließt sich aus ihrem Gesetzentwurf - denkt etwas anders. Ihr Ziel scheint es zu sein,
sich dem, wie Sie es nennen, „Geist der Schuldenbremse“ durch abstrakt-technokratische Vorgaben anzunähern. Ich will es einfach einmal auf den Punkt bringen
und dabei ein Bild benutzen: Man hat den Eindruck, Sie
beschwören einen Flaschengeist. Denn mit dem Aufbauschen theoretischer Möglichkeiten gehen Sie eigentlich
an der Wirklichkeit vorbei. Sie arbeiten sich an Nebenkriegsschauplätzen ab. Diese Nebenkriegsschauplätze
erinnern an Sandkastenspiele. Das geht komplett an den
wirklich wahren und großen Herausforderungen unseres
Landes vorbei.
({2})
Einen Vorwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Sozialdemokraten, kann ich Ihnen nicht ersparen.
Sie reden auch in Ihrem Gesetzentwurf von Konsolidierung und vom „Geist der Schuldenbremse“; aber dort,
wo die SPD regiert, zum Beispiel in NRW, geschieht genau das Gegenteil. Dort werden zunächst einmal die
Schulden erhöht, und zwar exorbitant und sogar verfassungswidrig.
Dort, wo Grün-Rot regiert, in Baden-Württemberg,
könnte man, wenn man wollte, schon im kommenden
Jahr wieder bei einer Nettokreditaufnahme von null sein,
was die Vorgängerregierung bereits erreicht hat.
({3})
Aber was sagt die dortige grün-rote Regierung? Sie sagt:
Wir wollen die Nullverschuldung erst im Jahre 2020 erreichen. - Das ist der letztmögliche Zeitpunkt.
({4})
Bis dahin will man Schulden machen. Nichts anderes geschieht in Baden-Württemberg.
({5})
Mir sei eine weitere Anmerkung erlaubt. Wenn die
SPD jetzt vehement für eine Nachjustierung eintritt, so
frage ich mich, ob sie dies auch in der umgekehrten Situation getan hätte. Wären Sie auch für eine Anpassung
des Abbaupfades eingetreten, wenn sich daraus ein größerer Verschuldungsspielraum ergeben hätte? Das wäre
im Sinne Ihres Gesetzentwurfes zumindest konsequent.
Aber das hätten Sie, so vermute ich, natürlich nicht gewollt. Auch dieses Gedankenkonstrukt entlarvt Ihre
Willkür bei der Handhabung Ihrer Form der Schuldenbremse. Das - ich wiederhole es - ist der Grund, weshalb wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Ich möchte betonen: Die Menschen in BadenWürttemberg und in ganz Deutschland erwarten von uns
eine solide, verlässliche Finanzpolitik im Geist der
Schuldenbremse. Das ist genau das, was wir machen.
({6})
Wir haben im Rahmen unseres Zukunftspaketes eine
ganze Reihe konkreter Sparmaßnahmen beschlossen und
auf den Weg gebracht; weitere setzen wir um.
({7})
Unser Konzept fußt auf der Idee wachstumsorientierter
Konsolidierung.
({8})
Die Entwicklung, die wir bisher zu gewärtigen haben,
gibt uns in dieser Beziehung vollkommen recht. Erst vor
wenigen Tagen hat das Ifo-Institut die Wachstumsprognose für dieses Jahr erneut angehoben, auf 3,3 Prozent
- von solchen Wachstumszahlen haben wir in früheren
Zeiten nur geträumt -,
({9})
und das nach einem Jahr, das sogar noch höhere Wachstumsraten aufwies.
Wir befinden uns in einer ausgesprochen positiven
Entwicklung. Das macht sich auch an der Situation der
öffentlichen Haushalte bemerkbar. Die Steuereinnahmen
entwickeln sich konjunkturbedingt sehr positiv. Die
Ausgaben in den sozialen Sicherungssystemen gehen
aufgrund der historisch niedrigen Arbeitslosenquote zurück. Die Zahl der Arbeitslosen liegt bei unter
3 Millionen. Demnächst sind vielleicht, um es salopp
auszudrücken, die Mitarbeiter der Jobcenter arbeitslos.
({10})
Gerade in dieser Situation, in der konjunkturell bedingte Mehreinnahmen zu gewärtigen sind, muss man
immer wieder darauf hinweisen, dass sich strukturelle,
dauerhafte Verbesserungen des Haushalts am strukturellen Defizit orientieren. Auf das strukturelle Defizit hebt
die Schuldenbremse ab. Das ist uns in diesem Hause zu
jeder Stunde bewusst.
({11})
Uns geht es darum, das strukturelle Defizit im Sinne der
Schuldenregel abzubauen.
Selbstverständlich wollen wir die Bürgerinnen und
Bürger an den Früchten der positiven Wirtschaftsentwicklung teilhaben lassen - das ist unser Ziel -,
({12})
aber immer unter der Prämisse, dass die Schuldenregel
eingehalten wird. Noch haben wir eine riesige Schuldenlast zu tragen. Der Weg hin zu dem von der Schuldenregel vorgegebenen ausgeglichenen Haushalt des
Jahres 2016 hat gerade erst begonnen. Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen, auch wenn er anstrengend ist.
({13})
Die christlich-liberale Koalition traut sich zu, dieses Ziel
zu erreichen. Auch die Menschen trauen es uns zu.
({14})
Deshalb machen wir das.
Herzlichen Dank.
({15})
Der Kollege Carsten Schneider hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal etwas Verbindendes. Herr Kollege
Barthle, es ist richtig: Wir haben im Bundestag im
Jahr 2009 unter Federführung eines SPD-Finanzministers gemeinsam die Schuldenbremse im Grundgesetz
verankert. Der Hintergrund war, dass es uns seit 1969
unter verschiedenen Koalitionen nicht mehr gelungen
ist, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Deswegen kam es zu der Übereinkunft - sie ist vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise, die Europa seitdem erreicht hat, wie ich glaube, noch verbindlicher -, uns
konstitutionell, also in der Verfassung, einen engeren
Rahmen zu setzen. Dieser Beschluss gilt.
Nun befinden wir uns in der ersten Phase der Anwendung der Schuldenbremse. Es ist teilweise kompliziert,
sie zu verstehen; denn sie hat sehr viel mit makroökonomischen Daten, die der Bevölkerung und manchmal
auch dem Kollegenkreis nur schwer zu erklären sind, zu
tun.
In der Analyse des ersten Jahres kommen wir als
SPD-Fraktion in Anbetracht dessen, was Sie und Ihr
Bundesfinanzminister vorgelegt haben, zu dem Ergebnis, dass die jetzige Regelung Lücken aufweist. Die Lücken bestehen insbesondere darin, dass man den Abbaupfad von seinem Startpunkt bis zu seinem Endpunkt
manipulativ handhaben kann. Ich mache diesen Vorwurf
ungern, aber genau das tun Sie.
Entgegen dem gesamten finanzwissenschaftlichen
Sachverstand vom Bundesrechnungshof, von der Bundesbank und dem Sachverständigenrat halten Sie an veralteten Zahlen fest. Diese veralteten Zahlen vom Juni
2010 führen dazu, dass Sie im Rahmen der Anwendung
der Schuldenbremse, so wie Sie sie planen, zusätzliche
Kredite in Höhe von 50 Milliarden Euro aufnehmen
können.
({0})
- Können.
({1})
Wir als SPD-Fraktion sind folgender Auffassung: Der
Geist der Schuldenbremse sieht vor, dass man sich die
derzeitige Situation ansieht. Das heißt, dass man die
Zahlen vom Ende des Jahres 2010 heranziehen muss. Da
war das Defizit viel geringer, weil wir eine exzellente
wirtschaftliche Lage hatten. Von da an muss man den
Pfad nach unten gehen. Dies tun Sie aber nicht. Sie hätten heute die Gelegenheit, das, was Sie eben hier behauptet haben, umzusetzen und gesetzlich bzw. rechtlich
verbindlich zu machen.
Bei uns besteht Argwohn darüber, dass Sie diese zusätzlichen Kreditermächtigungen von 50 Milliarden
Euro - das sind Zahlen der Deutschen Bundesbank,
nicht der SPD-Fraktion - nutzen werden und wollen.
({2})
- Lieber Kollege Fricke, ich habe den Bundeswirtschaftsminister so vernommen. Ich werde ihn gleich
noch zitieren. - Sie wollen diese 50 Milliarden Euro nutzen, um der FDP und der Koalition wahrscheinlich im
Jahr 2013 - das ist naheliegend; das ist ein Wahljahr mit zusätzlichen Steuersenkungen zu helfen. Dem Land
werden sie aber zusätzliche Schulden hinterlassen.
Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Jede Steuersenkung auf Pump - wir werden 2013 ohnehin neue Kredite
aufnehmen müssen - ist eine Steuerentlastung, die wieder zurückkommen wird; denn Sie werden noch mehr
Zinsen zahlen und die Steuern letztendlich erhöhen müssen. Das wollen wir nicht mitmachen.
Wir als SPD-Fraktion stehen für eine klare, transparente und solide Finanzpolitik. Aus diesem Grund wollen wir dem Entscheidungsspielraum, den sich der Bun13476
Carsten Schneider ({3})
desfinanzminister gesichert hat - denn er kennt seine
Koalition und seine Kombattanten -, um 2013 - das ist
meine Vermutung - Steuersenkungen auf Pump zu finanzieren, einen Riegel vorschieben. Wenn Sie Ihre
Sonntagsreden tatsächlich ernst meinen, dann könnten
Sie heute unserem Vorschlag zustimmen. Das wäre ganz
einfach.
({4})
Das tun Sie aber nicht, weil Sie diesen Spielraum bewusst bestehen lassen wollen, obwohl eine breite Mehrheit im Bundestag die Schuldenbremse, die eine Neuordnung der finanzpolitischen Situation und Einlassungen
mit sich bringen sollte, beschlossen hat. Sie verspielen
auf diese Weise Glaubwürdigkeit und politische Unterstützung; dies werfe ich Ihnen vor. Sie verspielen sie
langfristig, nicht nur in der Bevölkerung, sondern wahrscheinlich auch im Parlament. Denn wenn man schon
bei der ersten Anwendung des Ernstfalls schummelt,
wenn man Spielräume nutzt, die einem durch eine gute
Konjunktur in den Schoß fallen, und wenn man die Neuverschuldung nicht konsequent abbaut, damit wir aus der
Abhängigkeit von den Finanzmärkten herauskommen
und das Primat der Politik endlich wieder etwas gilt,
dann ist das ein Armutszeugnis für diese Regierung und
letztendlich - das mache ich Ihnen zum Vorwurf - für
das Parlament. Denn das Budgetrecht des Parlaments ist
unser Kernrecht. Es ist in vielen Fragen über den europäischen Bereich bereits ausgehöhlt. Sie aber billigen
dem Bundesfinanzminister einen Spielraum zu und nehmen ihn sich selbst. Es ist schon atemberaubend, wie
schnell Sie sich von finanzpolitischer Solidität verabschiedet haben.
({5})
Um das zu unterstreichen, habe ich hier ein Zitat von
Herrn Vizekanzler Rösler aus der Welt vom 24. Juni
2011. Er sagt:
Eine konkrete Steuersenkungsperspektive ist ein
wichtiges Mittel, um weitere Ausgabenwünsche abzuwehren, und kann so helfen, den Haushalt tatsächlich nachhaltig zu konsolidieren.
Das ist schon Dialektik. Man will die Steuern senken,
also die Einnahmen reduzieren, um den Haushalt zu
konsolidieren. Das verstehe ich nicht ganz; das muss ich
aber auch nicht.
Ich will nur sagen: Wenn ich mir Ihre mittelfristige
Finanzplanung, Stand 2010, und die Eckpunkte für 2012
anschaue - nächste Woche wird ja im Kabinett der Beschluss gefasst -, dann muss ich feststellen: Sie haben
allein auf der Ausgabenseite 18 Milliarden Euro Mehrausgaben, weil Ihr Sparpaket, das Herr Kollege Barthle
hier gerade so schön dargestellt hat, nur in einem Punkt
gegriffen hat, nämlich da, wo es die sozial Schwächsten
trifft.
({6})
Das haben Sie konsequent umgesetzt. Der Rest sind
Luftbuchungen. Die Finanztransaktionsteuer kommt
nicht vor; sie ist mittlerweile herausgebucht.
({7})
Das Gleiche gilt für die Brennelementesteuer etc. All
dies kommt nicht.
Ich will jetzt nicht auf die Bundeswehrreform eingehen, Herr Kollege Barthle. Ich schätze ja Herrn de
Maizière sehr. Aber das Stückwerk, das er von Herrn zu
Guttenberg übergeben bekommen hat, führt dazu, dass
von den Einsparungen in Höhe von 8 Milliarden Euro
5 Milliarden nicht verwirklicht werden können, was sich
jetzt hier niederschlägt.
Dass die FDP darüber sauer ist, kann ich verstehen;
denn ihre Entlastungsperspektive ist dadurch vollkommen weg. Dass jetzt aber Geschäfte zulasten des Staates
gemacht werden - der eine bekommt mehr Geld zum
Ausgeben, der andere bekommt es im Wege von Steuersenkungen -, wodurch im Endeffekt die Schulden steigen und die Kredite in einer historischen Situation, in
der wir Wachstum haben, das wir hoffentlich behalten
werden - ich bin allerdings sehr skeptisch, ob sich das
langfristig in Deutschland halten wird -, nicht abgebaut
werden, zeigt, dass Sie an dieser Stelle versagen. Es
wäre Ihre verdammte Pflicht, die exzellenten Zahlen zu
nutzen, um das Defizit deutlich weiter herunterzufahren.
Sie hätten heute hier die Chance, Glaubwürdigkeit,
auch im Hinblick auf den Kabinettsbeschluss in der
nächsten Woche, zu zeigen und als Parlament der Regierung etwas Maßgebliches mit auf den Weg zu geben. Ich
kann Sie dazu nur auffordern. Im Interesse der Unabhängigkeit der Bundesrepublik in der Finanzierung und zur
Vermeidung der Abhängigkeit von Investoren, davon, ob
sie uns Geld geben oder nicht, wäre das notwendig.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Konjunktiv ist wohl Ihr liebster Freund, Herr
Kollege Schneider: „Ich habe die Vermutung,“ „ich
denke“, „ich glaube“, „Sie haben den Plan“, „Sie werden
das tun“. Es ist nicht nur so, dass der Konjunktiv Ihr
Freund ist, sondern Sie können sogar in die Zukunft sehen. Das ist, finde ich, für einen Politiker in der Opposition toll, und das ist auch in Ordnung.
Beim Haushalt - das ist vielleicht wichtig für die Zuhörer - geht es am Ende doch nur um eines: um Zahlen,
um Fakten, um das, was passiert. Um das für die Zuhörer
zu verdeutlichen, die nicht ständig mit dem Haushalt zu
tun haben und meinen, der Haushalt sei wie in der
Schule Mathematik, etwas, was man nicht gerne mag,
will ich einfach einmal erklären, worum es geht.
Die Politik hat immer Schulden gemacht. Da ist - ich
glaube, Kollege Schneider, da sind wir uns einig - keine
Partei in der Vergangenheit ohne Fehler gewesen. Man
hat - sogar in vordemokratischen Zeiten - immer wieder
versucht, das irgendwie zu vermeiden. Es ist fast nie gelungen. Warum? Weil es immer einfacher ist, sich zu
verschulden, als zu erklären, warum etwas nicht geht,
warum man für etwas kein Geld hat; denn es ist immer
derjenige beliebter, der sagt: „Das machen wir; Bürger,
wenn du das willst, dann geben wir es dir“, und der sich
das Geld vermeintlich irgendwo anders holt. Das ist so,
obwohl wir alle Steuerzahler sind.
Ich finde es immer wieder bemerkenswert, wenn man
mit Schülern redet und sie als Steuerzahler begrüßt. Sie
erkennen dann, dass sie wirklich Steuerzahler sind. Auch
alle Zuhörer haben heute schon Steuern gezahlt, nämlich
zum Beispiel immer dann, wenn sie etwas eingekauft haben und Mehrwertsteuer zahlen. Sie zahlen damit nicht
nur für den Bund, sondern auch für die Länder, die Kommunen und sogar für Europa.
Angesichts dessen hat sich die Politik immer wieder
entschieden, Schuldenbremsen einzuführen, und hat dabei alle möglichen Argumentationen bemüht: Wir müssen uns verhalten wie ein Kaufmann. Man darf Schulden
nur dann machen, wenn man dafür investiert, nach dem
Motto: Wenn du dir ein Haus kaufst und dafür Schulden
machst, hast du ja das Haus als Gegenwert.
All diese Dinge, die man versucht hat, haben am Ende
nicht funktioniert. Ich bleibe dabei: Verschuldung funktioniert nur - da, glaube ich, gehen wir noch konform -,
wenn wir in der Verfassung möglichst konkret die Grenzen dessen darlegen, was an Verschuldung geht.
({0})
Ich persönlich würde sogar noch hinzufügen: und wenn
wir klare Regeln dafür aufstellen, was im Falle der Verletzung passiert, nach dem Motto: Wer die Verschuldung
über einen bestimmten Grad erhöht, der muss automatisch diese oder jene Steuer erhöhen, also im Sinne einer
automatischen Bestrafung.
Jetzt geht der Streit bei der neuen Schuldenbremse
um Folgendes: Man hat gesagt: 2016 wollen wir bei der
Verschuldung irgendwo hier unten sein, bei 0,35 Prozent, ungefähr bei 11 Milliarden Euro.
({1})
Daran kommt keiner vorbei. Das will keiner bestreiten.
Sie bestreiten auch nicht, dass wir das wollen und dass
das nach den Regeln gilt.
Jetzt ist die Frage: Von welchem Wert im Jahre 2010
geht man aus? Die einen haben gesagt: Wir gehen von
einem Wert aus, den wir am Anfang des Jahres 2010
messen bzw. der grob zu peilen ist. Bei Herrn Steinbrück
war das im Jahre 2010 einmal eine Neuverschuldung
von 86 Milliarden Euro.
({2})
Das wäre eine steile Kurve gewesen. Der Bundestag hat
dann eine Neuverschuldung von 80 Milliarden Euro beschlossen. Wir haben gesagt: Aha, dann bauen wir von
80 Milliarden Euro ab.
({3})
- Vom Bundestag, nicht von Herrn Steinbrück; denn wir
hatten ja schon gespart.
({4})
Im faktischen Verlauf des Jahres - das ist das, worauf ich
hinaus will; es geht um konkrete Zahlen - ist die Neuverschuldung im Haushalt dann ja, wie wir alle wissen,
weit heruntergegangen, nämlich auf Mitte 40 Milliarden
Euro.
Jetzt kommt die Frage: Gehe ich von den Mitte
40 Milliarden Euro am Ende des Jahres aus? Gehe ich
davon aus, was am Anfang beschlossen wurde, gehe ich
von Steinbrücks 86 Milliarden Euro aus? Hier müssen
wir feststellen: Die Verfassungsgesetzgeber waren hier
nicht präzise genug; das stimmt. Deswegen wollt ihr
korrigieren, und deswegen haben wir gesagt: Das Fairste
ist, wenn wir als Basis die Zahlen vom Mai, wenn wir
alle Meldungen nach draußen geben, die Finanzplanung
machen und wissen, wie hoch die Verschuldung im Jahre
2010 voraussichtlich sein wird, nehmen. Somit kamen
wir auf einen Betrag von 65 Milliarden Euro. Das war
weit unter dem, was Steinbrück vorgeschlagen hat, und
auch weit unter dem, was Sie vermutet haben. Weil wir
all das gemacht haben, sind die Abbauschritte in den
nächsten Jahren so, wie sie sind.
Jetzt könnte man ja sagen: Das ist uns nicht genug,
wir wollen mehr sparen. - Herr Kollege Schneider, jetzt
habe ich eine einfache Frage zu diesem Abbaupfad:
Würden Sie mir zustimmen, dass wir, gingen wir nach
Ihrer Rechnung von 44 Milliarden Euro aus, um auf ungefähr 11 Milliarden Euro zu kommen, im Jahre 2011
bei einer Neuverschuldung von ungefähr 38 Milliarden
Euro liegen müssten, während wir nach unserem Modell
bei ungefähr 56 Milliarden Euro liegen könnten? Ich betone: nicht können, sondern könnten. Würden Sie mir
auch zustimmen, dass wir, wenn wir am Ende des Jahres
2011 unter Ihrer Zahl von 38 Milliarden Euro sind, sogar
mehr erreicht haben, als Sie wollen, dass wir aber trotzdem noch weit weg von dem sind, was wir könnten? Ich
glaube schon. Daran, welche Zahlen nachher tatsächlich
herauskommen, müssen Sie die Sparpolitik messen. Erst
dann können Sie beurteilen, ob sie erfolgreich ist.
Sie werden wie ein begossener Pudel dastehen, wenn
am Ende des Jahres in der Gesamtrechnung herauskommt, dass wir selbst unter Ihrer Sparlinie sind. Jetzt
kommt die Frage: Warum sind Sie sich nicht sicher, ob
wir nicht vielleicht doch unter Ihrer Sparlinie sein werden? Wenn Sie sich sicher sind, dann stellen Sie sich hier
hin und sagen Sie, dass wir die Neuverschuldung, die
nach Ihrer Modellrechnung möglich ist, nicht erreichen
werden.
Warum erreichen wir die? Hier liegt der Unterschied:
Sparen heißt immer, die Ausgaben zu senken.
({5})
Wenn Sie das nämlich nicht tun, dann bekommen Sie im
Zweifel immer wieder dasselbe Problem, nämlich dass
Sie selbst in guten Zeiten nicht auf eine positive Seite
kommen. Für den Privatbürger heißt das ganz einfach: In
dem Moment, in dem er seine Ausgaben an die Einnahmen anpasst - das kann sich jeder sagen, der aus der
Schule in die Lehre gekommen ist oder der nach dem
Studium einem Beruf nachgeht und auf einmal mehr
Einnahmen hat -, hat er verloren. Das funktioniert nicht.
Für die Politik gilt erst recht: Man muss die Ausgaben
stabil halten. Das ist auch ein Grund, warum wir bei der
Schuldenbremse besser dastehen.
Es stimmt: Es geht nicht nur um die Ausgaben, aber
es ist wichtig, sie stabil zu halten. Hier besteht ein großer
Unterschied zwischen Ihrem und unserem Anspruch. Ich
will Ihnen und auch den Haushältern der SPD - jedenfalls den meisten - ausdrücklich zugutehalten:
({6})
Sie wollen auch sparen. Das ist aber nicht die Meinung
der Sozialdemokratischen Partei und auch nicht die Ihrer
Fraktion; denn überall da, wo Sie an der Regierung sind
und Macht haben - das kann der Bürger anhand der tatsächlichen Zahlen erkennen -, steigen die Ausgaben.
({7})
Ich empfehle jedem, einfach einmal zu schauen, wie sich
in den Ländern, in denen die SPD an der Regierung ist,
die Ausgaben nach oben bewegen, während die Ausgaben in den anderen Ländern und auch im Bund stabil
bleiben.
Wenn Sie sich mein Heimatland und das Heimatland
des Kollegen Kampeter, Nordrhein-Westfalen, anschauen,
dann erkennen Sie, dass sie dort hochgehen. Die Begründung dafür lautet zum Beispiel: Wir verzichten auf Studiengebühren. - Das ist nämlich leichter. Deswegen sind
aber mehr Mittel aus dem Haushalt für die Universitäten
notwendig. Genau daran merken Sie, wie es zu solchen
Dingen kommt, die Sie eigentlich gar nicht wollen.
Jetzt könnte man immer noch sagen: Vielleicht setzen
Sie sich in Ihrer Fraktion noch durch. Daran glaube ich
aber nicht angesichts der anderen Debatten, in denen die
Haushaltspolitiker, die ja in allen Fraktionen unbeliebt
sind,
({8})
nicht vertreten sind. Dann wird genau das Gegenteil gefordert und gesagt: Ich hätte noch gerne dafür Geld, ich
hätte noch gerne hierfür Geld; es wäre doch schön, wenn
man da noch etwas machen könnte, und es wäre nur gerecht, wenn man hier und da noch etwas tun würde. Dann muss man diese klaren Grenzen einhalten.
Ich komme zur Quintessenz Ihres Gesetzentwurfs, in
dem es heißt, dass das Budgetrecht des Parlamentes in
seinen Entscheidungsspielräumen durch all die Maßnahmen, die diese Koalition beschließe, sehr stark eingeschränkt werden würde. Maßgeblich für das Budgetrecht
ist eine zentrale Frage, nämlich auf welcher Basis die
Neuverschuldung angesetzt wird und wie die Neuverschuldung nachher unterm Strich aussieht.
Beim Ansatz der Neuverschuldung werden wir sehen
- das wird nächste Woche der Fall sein, wenn der Minister den Haushaltsentwurf 2012 vorlegt -, wie die Vorgabe der Regierung ist. Wenn wir das als Koalition so
gut wie in den letzten Jahren machen und als Haushälter
in der Koalition weiter so vertrauensvoll zusammenarbeiten, dann werden die Zahlen noch besser werden.
Weil Sie mir immer erklärt haben, die SPD sehe das
anders, will ich Ihnen zum Abschluss noch etwas sagen.
Ich habe mir angesehen, wie die Meinung der SPD war.
Es stimmt, die Mehrheit von Ihnen hat damals zugestimmt. Schauen wir uns aber einmal an, wie sich Frau
Nahles zur Schuldenbremse geäußert hat.
({9})
Frau Nahles, immerhin in einer der wesentlichsten Positionen Ihrer Partei auf Bundesebene, hat erklärt, die SPD
sollte die Schuldenbremse ablehnen, mit der Begründung:
Ich finde es fragwürdig, wenn die jetzige Politikergeneration Regeln ins Grundgesetz aufnehmen will,
die ab 2020 die Handlungsspielräume zukünftiger
Generationen in einer Weise einschränken,
({10})
die die heutige Generation nie akzeptiert hätte.
({11})
- Schauen Sie genau, wer klatscht.
({12})
Wer sich weiter verschuldet und im Kern keine Schuldenbremse haben will, der schränkt Handlungsspielräume ein, die wir uns gerade erarbeiten, auch für Steuersenkungen, die wir vereinbart haben und zu denen die
FDP steht, genauso wie ihr Koalitionspartner.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Roland Claus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
wir aus der vergangenen bewegenden Debatte zum
70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion etwas
hinübernehmen können, dann meines Erachtens dies,
immer und überall für gesellschaftliche Zustände einzutreten, in denen Demokratie gestärkt und nicht untergraben wird. Das hat auch etwas mit diesem Thema zu tun.
Seit Mitte 2009 ist die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Der Begriff ist eine geniale Erfindung.
Ich vermute, dass er aus der Abteilung „Überschriften“
der SPD kommt. Dort sitzt ein sehr leistungsfähiges
Team. Wer kann sich schon einem solchen Begriff widersetzen und nicht für die Begrenzung von Schulden
sein? Schaut man näher hin, auch was die Wirkung betrifft, ist es in Wahrheit aber eine Bildungsbremse, eine
Wirtschaftsförderungsbremse, eine Sicherheitsbremse,
eine Bremse für den Osten und eine Demokratiebremse.
Deshalb gibt es gute Gründe, warum die Linke gegen
dieses Konstrukt der Schuldenbremse ist. Dabei bleibt
es.
({0})
Ich will das an ein paar Beispielen belegen. Die
Schuldenbremse ist in Wirklichkeit eine Bildungsbremse. In meinem Wahlkreis wird gerade ein Gymnasium verschenkt, das bisher dem Land gehört. Der
Grund ist, dass das Land nicht in der Lage ist, weiterhin
die anstehenden Sanierungs- und Investitionskosten zu
zahlen, obwohl das Land schon etliche Millionen in
diese Schule hineingesteckt hat. In seiner Not verschenkt
das Land das Gymnasium, in der Hoffnung, dass das
Gymnasium weiterbetrieben wird. So sieht die Realität
der Wirkung Ihrer Schuldenbremse aus. Wichtiger wäre
doch, in diesem Land endlich Geld in die Hand zu nehmen und das überkommene Bildungssystem zu reformieren.
({1})
Die Schuldenbremse ist in Wirklichkeit eine Bremse
für Investitionen und Wirtschaftsförderung. Ein Mittelständler in meinem Wahlkreis will eine größere Investition tätigen und hat auch die Zusage für entsprechende
Fördermittel des Bundes.
({2})
- Dafür gibt es doch Fördermittel. Das ist doch keine Erfindung von mir, Herr Kollege. Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bitte!
({3})
Warum kann er die Investition nicht machen? Weil
das Land nicht in der Lage ist, die Fördermittel zu kofinanzieren.
Die Schuldenbremse ist in Wirklichkeit eine Bremse
für die öffentliche Sicherheit. Da kommen Polizeirevierchefs aller Couleur zu den Abgeordneten und suchen
händeringend Unterstützung, weil unserem neuen Landesfinanzminister in seiner Sparwut nichts anderes einfällt, als öffentlich anzukündigen, jede dritte Polizistinnen- und Polizistenstelle zu streichen. Deshalb ist Ihre
Schuldenbremse in Wirklichkeit eine Sicherheitsbremse.
Die Bremse hat auch zur Folge, dass sich die Abstände zwischen den armen und reichen Bundesländern
nicht verringern, sondern vergrößern. Das schadet dem
Osten, weil vor dem Hintergrund eines verfestigten Niedriglohnsektors im Osten die reicheren Bundesländer im
Süden und Westen die besseren Fachkräfte mit besseren
Lohn- und Gehaltsmöglichkeiten einfach wegkaufen
können.
({4})
So zementieren Sie weiter die Ungleichheit, statt auf die
Angleichung der Lebensverhältnisse hinzuwirken.
({5})
Die Schuldenbremse ist auch eine Demokratiebremse; denn Länder und noch mehr die Kommunen
können immer weniger selbst entscheiden. Deshalb gab
es gute Gründe, dass das vernünftig und gut regierte
Land Berlin,
({6})
aber auch Mecklenburg-Vorpommern und SchleswigHolstein dieser Initiative im Bundesrat nicht zugestimmt
haben.
({7})
Wie wir gesehen haben, kann sich der Bund immer
noch selber helfen. Hier befassen wir uns mit der reinen
Lehre. Sie aber haben zeitgleich mit der Aufnahme der
Schuldenbremse ins Grundgesetz im Zuge der Bankenrettung die bisher höchste Verschuldung in Kauf genommen. Diese Bundesregierung und diese Koalition machen in der laufenden Legislaturperiode neue Schulden
in Höhe von etwa 120 Milliarden Euro,
({8})
so viel wie nie zuvor. Das ist etwa so viel, wie dem Land
Sachsen in der gesamten Legislaturperiode, also in vier
Jahren, zur Verfügung stehen.
({9})
Das ist die Wahrheit, über die man hier reden muss und
die Sie mit so wunderbaren Begriffen wie Schuldenbremse wegreden wollen.
({10})
Beim Haushalt geht es immer um eine Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben. Die Schuldenbremse
thematisiert lediglich die Ausgabenseite. Sie ist ein
Spardiktat. Ein Nachdenken über andere Einkommensmöglichkeiten und Steuergerechtigkeit ist Ihnen fern. Es
ist in diesem Land aber bitter nötig.
({11})
Nun hat die SPD-Fraktion einen Gesetzentwurf vorgelegt, den man auf die Formel „Schulden besser bremsen“ bringen könnte. Das ist die Botschaft, die Sie verkünden. Sie wollen die Berechnungsgrundlage ändern,
damit der Finanzminister weniger tricksen kann. Ich
stelle fest: Das ist ein Rückfall in die Agenda-2010Logik.
Liebe SPD-Kollegen, wir schreiten mancherorts Seit’
an Seit’.
({12})
Wir kritisieren gemeinsam und zutiefst berechtigt diese
Bundesregierung. Aber unter dem Motto „Schulden besser bremsen“ in Wahrheit Bildung, Wirtschaftsförderung, öffentliche Sicherheit, sozialen Ausgleich und
letztendlich die Demokratie zu bremsen, ist mit der Linken nicht zu machen.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Hinz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Claus, es kann doch nicht angehen, dass wir als
Parlamentarier glauben, nur durch zusätzliche Verschuldung politische Schwerpunkte im Haushalt setzen zu
können.
({0})
Es geht vielmehr darum, durch eine gerechte Steuerbeteiligung und Steuerverteilung, aber auch durch eine
gute Ausgabenpolitik und teilweise auch durch Ausgabenkürzungen und Umschichtungen Spielräume zu eröffnen.
({1})
Dann sind auch politische Schwerpunktsetzungen möglich.
Es geht aber nicht an, dass die Verschuldung in
Deutschland bei 80 Prozent des BIP liegt - die
Maastricht-Kriterien sehen höchstens 60 Prozent vor -,
und Sie so tun, als wäre keine Schuldenbremse notwendig.
({2})
Das heißt, Sie wollen die Nettokreditaufnahme weiter
steigern. Dazu sagen wir Grünen ganz klar: Das hat
nichts mit nachhaltiger Haushaltspolitik zu tun. Auch
wir wollen, dass die Schuldenbremse eingehalten wird.
({3})
Ich komme zu Ihnen, Herr Kollege Fricke. Sie haben
gesagt, man müsse sich an Zahlen und Fakten orientieren. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen. Schon heute betragen die Zinszahlungen 38 Milliarden Euro jährlich.
Sie sollen laut Finanzplanung bis 2014 auf fast
50 Milliarden Euro anwachsen.
({4})
- Sie können auf fast 50 Milliarden Euro anwachsen.
Das ist trotzdem nicht witzig.
({5})
Wenn die Zinszahlungen auf „nur“ 45 Milliarden Euro
anwachsen, ist das auch nicht schön. Daher ist es notwendig, die Nettokreditaufnahme so schnell und so effektiv wie möglich zu senken.
({6})
Deswegen sind wir der Meinung, dass die Schuldenbremse nicht durch Buchungstricks ausgehebelt werden
darf. Es kann doch nicht wahr sein, dass man aufgrund
der konjunkturellen Entwicklung, die im letzten Jahr
glücklicherweise gut war, mehr Schulden aufnimmt. Jeder Euro, der die Verschuldung erhöht, bedeutet eine höhere Zinsbelastung für die nächsten Jahre. Wir unterstützen den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion,
({7})
weil wir der Meinung sind, dass solche Buchungstricks
nicht in Ordnung sind.
Auch sonst ist die Koalition durchaus findig, wenn es
darum geht, die Schuldenbremse auszuhebeln. Nehmen
wir als Beispiel das im Vermittlungsausschuss erzielte
Ergebnis zum ALG II. Es ist vereinbart worden, dass der
Bund die Finanzierung der Grundsicherung im Alter
übernimmt.
({8})
- Das unterstützen wir. - Aber das muss sauber finanziert werden.
({9})
Es ist doch falsch, für die Finanzierung die Bundesagentur für Arbeit bluten zu lassen und bis 2015 den Sozialversicherungen 10 Milliarden Euro mehr aufzubürden.
({10})
Priska Hinz ({11})
Dieser Verschiebebahnhof trägt nicht zu Haushaltsklarheit und -wahrheit bei. Vielmehr wird damit die Schuldenbremse manipuliert.
({12})
Auszubaden haben das die Versicherten. Hier wird auf
dem Rücken derjenigen, die arbeitslos sind, gespart. Vor
allen Dingen gibt es blinde Kürzungen bei erfolgreichen
Programmen wie dem Gründerzuschuss. Dieser Missbrauch der Schuldenbremse schwächt zusätzlich die Finanzausstattung der Arbeitslosenversicherung und lässt
keinen Puffer mehr zu. Was hätten wir ohne Puffer in
den Hochzeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise gemacht? Damals haben wir einen Puffer in der Sozialversicherung gebraucht. Wir können doch jetzt nicht davon
ausgehen, dass die Konjunktur weiterhin so gut bleibt.
Deswegen ist es falsch, dass Sie die Haushalte der Sozialversicherungen durch Haushaltstricks überfordern.
Hier sind wir auf keinen Fall auf Ihrer Seite, obwohl wir
für die Übernahme der Finanzierung der Grundsicherung
durch den Bund sind.
({13})
Ein noch heftigerer Verstoß gegen die Schuldenbremse würden die Steuersenkungen bedeuten, die die
FDP gefordert hat und von denen die CDU/CSU noch
nicht so recht weiß, ob sie sie zulassen soll oder nicht.
Ich darf an dieser Stelle Lars Feld zitieren, der in diesem
Jahr in den Sachverständigenrat aufgenommen wurde.
Er hat laut Handelsblatt vom 27. Juni gesagt:
Die Konsolidierung der Staatsfinanzen muss Vorrang vor Steuersenkungen haben. Konjunkturell bedingte Steuermehreinnahmen dürfen nicht zuletzt
wegen der Schuldenbremse nicht für dauerhafte
Steuersenkungen verwendet werden.
Genau so ist es. Steuersenkungen belasten die Haushalte
strukturell und sorgen für dauerhafte Einnahmeausfälle.
({14})
Ich erinnere nur an die Mövenpick-Steuer, die die FDP
durchgesetzt hat. Auch diese hat zu dauerhaften Steuerausfällen und damit zu Defiziten geführt. Liebe Damen
und Herren von der Koalition, es trägt nicht zu guter und
seriöser Haushaltspolitik bei, wenn Sie wieder mit solchen Vorschlägen kommen, nur weil zurzeit konjunkturell bedingt ein bisschen Mehreinnahmen zu verbuchen
sind.
({15})
- Es gibt noch viele Haushaltsrisiken, die Sie noch gar
nicht abgedeckt haben.
({16})
Erstens sind diese Mehreinnahmen schon im Eckwertebeschluss der Bundesregierung eingepreist.
({17})
Zweitens gibt es Finanz- und Haushaltsrisiken, die noch
gar nicht abgedeckt sind, ob es die Bundeswehrreform,
die Brennelementesteuer oder die Finanztransaktionsteuer ist. Das alles muss doch finanziert werden. Deswegen ist es falsch, wieder strukturelle Steuerausfälle
durch Steuersenkungen zuzulassen.
Stattdessen wäre es notwendig, mehr für den Abbau
umweltschädlicher Subventionen zu tun.
({18})
Auch da sind Sie bislang überhaupt nicht gut, im Gegenteil. Sie wollen jetzt schon wieder energieintensive Betriebe mit Zuschüssen bedenken. Das ist in der Anhörung des Haushaltsausschusses von fast allen
Sachverständigen gegeißelt worden, weil es überhaupt
keinen Sinn macht, sie zusätzlich zu entlasten. Stattdessen könnten Sie 10 Milliarden Euro steuerschädliche
Subventionen streichen.
({19})
Auch das könnte dazu beitragen, dass man die Nettokreditaufnahme senkt.
({20})
Meine Damen und Herren, es bleibt mir am Schluss,
noch einmal zu sagen, dass es falsch ist, über Steuersenkungen zu philosophieren und sich über Buchungstricks
Ausgabenpuffer zu erwirtschaften, die schlicht zu mehr
Zinsen führen. Es wäre sinnvoller, Sie würden zu seriöser Haushaltspolitik zurückkehren, die die Grünen immer vorschlagen,
({21})
nämlich konsolidieren und Subventionen kürzen, um
dann in die Zukunft zu investieren. Dabei muss man
richtige Schwerpunkte setzen: Ökologie, soziale Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit.
Danke schön.
({22})
Der Kollege Aumer hat nun für die Unionsfraktion
das Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin!
Liebe Kollegen! Ich nehme an, der Großteil dieses Hauses hat dieselbe Meinung, was die Konsolidierung unseres Staatshaushaltes betrifft.
({0})
- Zumindest auf dieser Seite ist die Meinung wohl sehr
gefestigt.
({1})
Frau Hinz, Sie haben „Sie haben Haushaltsprobleme“
gesagt und dabei uns angeschaut. Meines Erachtens haben nicht wir als Koalition diese Probleme. Vielmehr haben wir als Staat eine gemeinsame Verantwortung, nachhaltige Haushaltspolitik zu betreiben. Es muss das Ziel
des ganzen Hauses sein, eine verlässliche Haushaltspolitik zu betreiben.
Mit der Einführung der Schuldenbremse haben wir
als Deutscher Bundestag eine wesentliche Entscheidung
für die Zukunft unseres Landes und für die Nachhaltigkeit der Haushaltspolitik getroffen. Unsere Bundeskanzlerin hat vor einiger Zeit in ihrer Regierungserklärung
gesagt, dass unser Staat über Jahrzehnte über seine Verhältnisse gelebt hat. Damit hatte sie vollkommen recht.
Gerade ich als Junger darf die Herausforderungen der
Zukunft gemeinsam mit Ihnen allen annehmen, um unseren Staat in eine andere Zukunft zu führen, in der
Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen gefragt ist. Dazu
gehört, dass man nicht im Klein-Klein verharrt und über
Details streitet, sondern die großen Linien zieht.
({2})
Das große Ziel ist das, was wir im Grundgesetz festgelegt haben, nämlich dass wir ab 2016 nicht mehr Geld
ausgeben, als wir einnehmen. Es ist zuvor schon gesagt
worden, dass alle Regierungen in den letzten Jahrzehnten nicht mehr das Ziel der Haushaltskonsolidierung im
Blick hatten. Deswegen sind wir alle gefragt, die Schuldenbremse einzuhalten, auch die PDS.
({3})
Herr Kollege Claus, wenn Sie sagen, die Schuldenbremse sei eine Bildungsbremse, dann haben Sie das
Prinzip der Schuldenbremse nicht verstanden.
({4})
Das ist traurig und wenig nachhaltig.
({5})
Das ist nicht die Realität. Schauen Sie sich an, was die
Bundesregierung gemacht hat: Sie hat überall gespart,
nur nicht im Bildungs- und im Forschungsbereich.
({6})
- Ja, von den Ländern; das ist egal.
({7})
Aber die Tatsache, dass man ganz bewusst Spielräume gelassen hat, muss man ebenfalls zur Kenntnis
nehmen. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, diese
Spielräume konsequent zu nutzen. Wir als christlich-liberale Koalition machen dies und haben in allen Bereichen Konsolidierungsmaßnahmen getroffen. Beispielsweise haben wir Regelungen auf den Weg gebracht, um
die Finanzmärkte zu regulieren, gleichzeitig haben wir
darauf geachtet, unsere Wirtschaft nicht abzuwürgen.
Ich halte es für die Aufgabe der nächsten Jahre, dass
wir gemeinsam sparen, dass wir eine glaubwürdige Politik machen. Das, was Sie mit Ihrem hier eingebrachten
Antrag verfolgen, ist unglaubwürdig.
({8})
Aus meiner Sicht verlieren Sie vielmehr den Sinn und
Zweck der Schuldenbremse aus den Augen. Sie betreiben hier reinen Populismus.
Ihnen geht es darum, sich auf Kosten derjenigen zu
profilieren, die versuchen, trotz der großen Zwänge der
Schuldenbremse eine realistische Politik umzusetzen.
Gab es denn von der SPD Vorschläge, wie man die
Schuldenbremse einhalten kann, gab es Vorschläge, wie
man eine realistische Politik gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern umsetzen kann?
({9})
Das ist die Aufgabe der Regierung. Sie können polemisch sein und in den Tag hineinleben. Aber Sie verlieren das aus den Augen, was uns allen wichtig ist: verantwortungsvolle und ehrliche Politik für die nächsten
Jahrzehnte und für die kommende Generation zu machen.
Wir haben heute mit den weitreichenden Beschlüssen
im Energiebereich einen wichtigen, nachhaltigen Beitrag
geleistet, was die Zukunft der kommenden Generationen
angeht. Dafür ist die große Kraftanstrengung des gesamten Hauses notwendig. Die Aufgabe auch der Linken ist
es, einen realistischen Weg zu gehen. Den beschreiten
Sie nicht nur nicht in der Energiepolitik, sondern diesen
Weg verlieren Sie auch bei der Konsolidierung unserer
Haushalte aus den Augen.
({10})
Es muss uns allen und vor allem der Bundesregierung
ein großes Anliegen sein, dass wir unseren Haushalt ausgleichen, aber zugleich auch die richtigen Entscheidungen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit treffen. Wenn es
die Haushaltsspielräume zulassen, sollten wir aber auch
steuerliche Maßnahmen ergreifen und Bezieher von
mittleren und niedrigen Einkommen entlasten, um ihnen
die Teilhabe am Aufschwung zu ermöglichen. Allerdings ist auch da die Zusammenarbeit mit Ihnen schwierig, meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition. Sie nehmen zwar für sich in Anspruch, gerade diese
Klientel zu vertreten, tun aber wenig, um entsprechende
konkrete Gesetzentwürfe vorzulegen.
Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Wir halten uns
an das, was im Grundgesetz verankert ist, und führen die
Politik fort, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht
haben. Die SPD verliert oft das Ziel aus den Augen,
etwa bei der Rente mit 67 oder bei Hartz IV.
({11})
Sie wissen nicht mehr, was Sie alles beschlossen haben, was wir gemeinsam Großes in der Großen Koalition
auf den Weg gebracht haben, um unser Land in eine gute
Zukunft zu führen. Deswegen fordere ich Sie auf: Nehmen Sie diese Herausforderung mit uns an, gehen Sie
den Weg der Nachhaltigkeit und der Verlässlichkeit auch
in der Haushaltspolitik. Wichtig ist, dass die Menschen
das Gefühl haben, dass in der Politik Kontinuität
herrscht. Dazu gehört auch die Kontinuität der Haushalte, die Verlässlichkeit der Planungen der Regierung.
Wir lehnen Ihren Antrag ab und arbeiten weiter daran,
das Ziel der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse einzuhalten.
({12})
Leisten auch Sie hierzu Ihren Beitrag!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Hagedorn
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Am Anfang möchte ich noch ganz kurz etwas zu Ihnen,
Kollege Claus, sagen, weil man es Ihnen nicht durchgehen lassen kann, dass Sie so tun, als sei es die Schuldenbremse, die für all das verantwortlich ist, was Sie hier
teilweise zu Recht angeprangert haben, etwa fehlende
Investitionen im Osten und fehlende Investitionen in Bildung.
({0})
Das alles hat mit der Schuldenbremse nichts zu tun, sondern das ist die verfehlte Politik der jetzigen Koalition.
Da stimme ich Ihnen zu.
({1})
Es sind die Auswirkungen dieses sogenannten Sparpaketes, das eindeutig - die Kollegin Hinz hat schon darauf
hingewiesen - eine massive soziale Schieflage in diesem
Land verursacht, zulasten gerade der östlichen Bundesländer und strukturschwacher Regionen, zulasten auch
der Stadtstaaten wie Berlin und vor allen Dingen zulasten der Menschen, die dringend auf Investitionen in Bildung, in Ausbildung, in lebenslanges Lernen und auf
eine Chance, aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszukommen, warten. Aber all das, Kollege Claus, hat mit
der Schuldenbremse an sich nichts zu tun, sondern das
ist das Ergebnis dieser verfehlten Politik.
({2})
Den Rest meiner Redezeit möchte ich jetzt lieber den
vier Fraktionen widmen, die eigentlich für die Schuldenbremse sind. Ich sage „eigentlich“, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Schwarz-Gelb; denn wer wirklich für
den Geist der Schuldenbremse ist - wir haben sie vor
zwei Jahren gemeinsam eingeführt -, der müsste eigentlich diesem Antrag der SPD zustimmen.
({3})
Es ist schon eine große Enttäuschung, dass Sie das
nicht tun. Natürlich entlarven Sie damit ein Stück weit,
wie wenig ernst es Ihnen mit dem Sparen tatsächlich ist.
Das, was mein Kollege schon ausgeführt hat, brauche
ich hier nicht zu wiederholen. Ich will noch einmal deutlich machen - es sollte Sie stutzig machen, dass dass
nicht nur die SPD-Fraktion und die Grünen sagen, sondern auch die Bundesbank, der Sachverständigenrat und
der Bundesrechnungshof, etwa in einer Sachverständigenanhörung des Haushaltsausschusses im Herbst letzten Jahres, und das seitdem kontinuierlich -, dass Sie mit
Ihrer frei gewählten Interpretation der Schuldenbremse
auf dem Holzweg sind und dass Sie sich damit selbstverständlich einen zusätzlichen Kreditrahmen von 50 Milliarden Euro - ich beziehe mich auf Zahlen der Bundesbank - schaffen wollen. Natürlich müssen wir vermuten,
dass dieses Geld eine Art Kriegskasse für das Jahr 2013
ist; das ist doch wohl logisch.
({4})
Wir werden es zusammen erleben.
Das Schlimme daran ist, dass Sie mit diesem Ansinnen erneut auf einem wichtigen Politikfeld, dem der Einführung der Schuldenbremse - darüber hat es in diesem
Haus vor gar nicht langer Zeit einen breiten parteiübergreifenden Konsens gegeben -, das gewonnene politische Renommee aufs Spiel setzen. Wir alle haben den
Menschen das Versprechen gegeben, stärker zu konsolidieren, nicht um des Sparens willen, sondern um in Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen Gestaltungsspielräume zu schaffen für Bildung, Mobilität,
Infrastruktur und Investitionen in die Energiewende, die
wir gemeinsam zu bewältigen haben; wie wir alle wissen, ist das, was Sie vorhaben, komplett unterfinanziert.
({5})
Um diese Zukunftsinvestitionen nicht auf Pump tätigen zu müssen, brauchen wir die Schuldenbremse, allerdings in der verschärften Form, wie sie unisono von Bundesbank, Sachverständigenrat und Bundesrechnungshof
verlangt worden ist, das heißt auf der Basis der 2010 zugrundegelegten 44 Milliarden Euro und nicht auf Basis
der von Ihnen zugrunde gelegten über 65 Milliarden Euro.
({6})
Wenn Sie hier immer so tun, als wenn Sie durch Sparen in der letzten Zeit das ursprünglich in der Großen
Koalition festgelegte Ziel einer bestimmten Nettokreditaufnahme erreicht hätten, dann ist das wirklich Volksverdummung.
({7})
Sie profitieren nämlich von konjunkturellen Effekten
- das wissen Sie auch -, und konjunkturelle Effekte dürfen entsprechend den Regelungen zur Schuldenbremse
eben nicht für langfristige, nachhaltige strukturelle Ausgaben und schon gar nicht für Steuersenkungen, lieber
Kollege Fricke, verfrühstückt werden.
Kollegin Hagedorn, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Fricke?
Aber selbstverständlich, gern.
Geschätzte Frau Kollegin Hagedorn, ich sage an Stellen wie dieser immer: Okay, in jedem Gedanken, den
man sich macht, kommt zum Ausdruck, dass man etwas
Positives erreichen will. Ich gehe davon aus, dass hinter
Ihrer Schuldenbremse etwas Vernünftiges steckt.
Hinter meiner?
Hinter der Schuldenbremse, so wie die SPD sie sich
vorstellt und wie sie von den Grünen unterstützt wird.
Man behauptet, diese Form sei besser, transparenter, klarer und gerechter.
Der Kollege Barthle und ich möchten einfach gerne
wissen, wie viele Milliarden Euro Schulden wir, diese
Koalition, nach Ihrer Vorstellung am Ende dieses Jahres
gemacht haben dürfen. Können Sie eine Zahl nennen?
Können Sie „circa soundso viel Milliarden Euro“ sagen?
Wenn Sie das könnten, dann könnten wir uns am Anfang
des nächsten Jahres wieder treffen und sagen: „Wir haben die Schuldenbremse eingehalten“, oder Sie können
sagen: Seht, ihr habt sie nicht eingehalten. - Das wäre
eine schöne Sache. Bringen Sie es zustande, uns eine
grobe Zahl - plus/minus 1 Milliarde Euro - zu nennen?
Lieber Herr Schulmeister,
({0})
ich will gerne auf Ihre Frage eingehen,
({1})
aber nicht in der Form, die Sie intendieren.
Zunächst einmal: Es ist nicht meine Schuldenbremse
oder die der SPD oder die der Grünen, sondern unsere
gemeinsame; darauf habe ich ausdrücklich hingewiesen.
({2})
Es geht darum, die Auslegung des Schuldenabbaupfades zu konkretisieren, und zwar deshalb - das hat der
Kollege Schneider hier gesagt -, weil wir in der Sachverständigenanhörung zu unserer gemeinsamen Schuldenbremse mit Bundesrechnungshof, Bundesbank und
Sachverständigenrat festgestellt haben, dass es diese Interpretationslücke gibt.
({3})
Diese Lücke - Sie interpretieren so, wir interpretieren
anders - wollen wir schließen. Wir wollen eine gesetzliche Festlegung, um ein für alle Mal Klarheit zu schaffen.
({4})
- Mein lieber Kollege Fricke - wir reden hier im Plenum
und nicht im Haushaltsausschuss -,
({5})
ich spreche in erster Linie, weil ich von den Menschen
außerhalb dieses Saales, für die „Schuldenbremse“ ein
schwer zu verstehender Begriff ist, verstanden werden
möchte. Es geht darum - das verstehen die Menschen -,
dass Sie durch Ihre freie Interpretation, die von den
Sachverständigen nicht geteilt wird, die Chance haben,
zusätzlich 50 Milliarden Euro an Krediten aufzunehmen.
({6})
- Das sagen Sie jetzt. Wenn Sie es nicht tun, dann stimmen Sie doch unserem Entwurf zu! Das wäre doch der
Beweis für Glaubwürdigkeit.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss zum
Schluss kommen. Ich möchte aber noch einen Aspekt
aufgreifen, den die Kollegin Prinz ({8})
Hinz - Entschuldigung, Priska - hier schon angesprochen hat.
({9})
Es geht um das, was die Koalition sonst noch alles
macht, um die Schuldenbremse auszutricksen. Dabei ist
die Belastung der sozialen Sicherungssysteme eines der
schwerwiegendsten Probleme. Das gilt insbesondere für
die Bundesagentur für Arbeit.
Der Kollege Schneider hat es schon angesprochen.
Um die Regelungen der Schuldenbremse einzuhalten,
haben Sie vor einem Jahr ein sogenanntes Sparpaket aufgelegt. Mit diesem Sparpaket wollten Sie den Unternehmen und den Verursachern der Wirtschaftskrise BelasBettina Hagedorn
tungen zumuten. Diese Belastungen kommen nicht; die
haben sich in Luft aufgelöst. Das Einzige, was Sie wirklich umsetzen, ist Ihr völlig unsoziales Sparpaket zulasten des Etats von Frau von der Leyen im Bereich Arbeit
und Soziales. Das sind ungefähr 40 Prozent des gesamten Sparpakets. Das führt dazu, dass das, was Sie bei der
Bundesagentur für Arbeit, bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern jetzt sparen, nur ein Bruchteil dessen ist, was
noch folgt. In Wahrheit kommt die große Welle an Einsparungen und Kürzungen erst noch auf die Länder zu.
Ich war vor kurzem bei einer Veranstaltung in Berlin.
Da musste ich den Leuten mitteilen: Wenn Sie glauben,
dass das, was durch dieses Sparpaket in diesem Jahr bei
der Bundesagentur für Arbeit hier eingespart wird, nämlich 136 Millionen Euro, schon viel ist, dann irren Sie
sich; Sie müssen realisieren, dass sich das in den nächsten Jahren nach den Beschlüssen der Koalition allein für
Berlin bis 2015 auf über 500 Millionen Euro pro Jahr
steigern wird. Dieses Geld fehlt der Generation, der wir
mit der Schuldenbremse eigentlich Chancen für die Zukunft erhalten wollen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Brackmann für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gemeinhin sagt man: Mens agitat molem. Zu
Deutsch: Der Geist bewegt die Materie. - Aber der Geist
Ihres Entwurfs hat offenbar nicht einmal Ihre eigenen
Kolleginnen und Kollegen erreicht; denn wir müssen
feststellen: Bei dieser trockenen Materie konnte offenbar
nicht erreicht werden, dass Ihnen allen klar ist, worum es
bei der Berechnung der Schuldenbremse eigentlich geht.
Jedenfalls war die inhaltliche Debatte offenbar anders
angelegt.
Deshalb ist das hier eine Diskussion, die viele Bürger
nicht verstehen, die mit dem Geist der Schuldenbremse
wenig zu tun hat und vor allen Dingen mit dem Ergebnis
überhaupt nichts zu tun hat. Die Schuldenbremse
schreibt den Endpunkt auf 2016 fest. Mit Ihrem Entwurf
sagen Sie, dass Sie für das, was wir im Grundgesetz in
Bezug auf den Abbaupfad festgeschrieben haben - der
Abbau hat im Übrigen linear zu erfolgen und endet 2016
bei einem Fixpunkt -, eine flachere Entwicklung haben
wollten.
Wir sprechen in dieser Situation über eine sehr trockene Materie und vergessen dabei, dass wir eine extrem
gute wirtschaftliche Lage haben. Die Nettokreditaufnahme ist weitaus geringer, als wir geplant haben. Wir
werden bei unter 40 Milliarden Euro landen. Die Arbeitslosenzahlen sinken. Gerade heute wurde verkündet,
dass wir 228 000 Arbeitslose weniger haben als vor exakt einem Jahr. Die Wirtschaft boomt - 3,3 Prozent mehr
Wachstum -, und die Steuereinnahmen sprudeln.
Einmal weg von dieser trockenen Materie Ihres Entwurfs: Eine Schuldenbremse muss man nicht nur dem
Geist nach, sondern auch dem Inhalt nach leben.
({0})
- Das wäre doch gut, wenn wir das täten.
({1})
Das setzt aber auch voraus, dass wir das Geld dafür aufbringen. Denn man muss die Schuldenbremse nicht nur
wollen, man muss sie auch leben. Das Einhalten der
Schuldenbremse erreicht man nämlich nicht über Ausgaben, sondern darüber, dass man Ausgaben eben nicht tätigt.
({2})
Wir alle wissen, was eine zu hohe Staatsverschuldung
bedeutet. In diesen Tagen können wir im Mittelmeerraum sehr genau beobachten, welche Bedeutung das hat.
Getreu dem Motto „Spare in der Zeit, dann hast du in der
Not“ wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Die jährliche Neuverschuldung ist nach wie vor
viel zu hoch. Das wissen wir.
({3})
Im Jahre 2011 kann sie nach dem beschlossenen Haushalt 48 Milliarden Euro betragen. Wir werden die Nettoneuverschuldung in diesem Jahr so weit reduzieren können, dass wir auf unter 40 Milliarden kommen werden.
Hier fängt es an, blümerant zu werden. Der Behauptung von Herrn Schneider, wir könnten 50 Milliarden
mehr Schulden machen, als das nach Ihrem Antrag möglich sei, liegen offenbar Zahlen zugrunde, die aus der
Zeit stammen, als wir den Haushalt 2011 beschlossen
haben. Wir müssen aber linear abbauen; schon deshalb
stimmen diese 50 Milliarden nicht. Das ist eine schlichte
Irreleitung der öffentlichen Diskussion.
({4})
- Die Bundesbank hat das zu Beginn dieser Diskussion
gesagt; sie sagt es eben nicht heute. Sie meinen jetzt,
dass wir uns auf einen anderen Wert kaprizieren müssen.
Wo aber sind wir dann, wenn Sie uns schon Trickserei
und - wie Sie es nannten, Herr Schneider - Schummelei
vorwerfen? Wo sind denn die konkreten Zahlen, die Frau
Hagedorn nicht nennen konnte?
Wir hätten die Möglichkeit, 53 Milliarden Nettoneuverschuldung zu machen. Die Regierung hat diesen Wert
doch gar nicht ausgeschöpft, und wir als Bundestag auch
nicht.
({5})
Wir haben bereits zusammengekürzt, und zwar anders,
als Finanzminister Steinbrück das seinerzeit noch begründet hatte. Weil er wusste, dass man nur mit Zahlen
operieren kann, die vorliegen, ist er davon ausgegangen,
dass wir mit Soll-Zahlen operieren. Damit hätten wir
diese 53 Milliarden ausschöpfen können. Im Laufe des
Jahres 2010 zeichnete sich aber eine Verbesserung ab.
Da haben wir bereits gesagt: Wir gehen auf die
44 Milliarden herunter. - Wenn wir jetzt Ihren Gesetzentwurf zugrunde legen, müssten wir retrospektiv völlig
neue Berechnungen durchführen und unser ganzes Zahlenwerk neu aufdröseln. Inhaltlich - und das ist das eigentlich Dramatische - würde das noch nicht einmal etwas bringen.
Wie sehen denn die Zahlen aus? Wenn wir die
44 Milliarden zugrunde legen, dann müssten wir bei dem
linearen Abbau jedes Jahr knapp 6 Milliarden weniger
ausgeben. Das wären dann für 2011 38 Milliarden. Wir
haben aber gerade vernommen, dass wir unter
40 Milliarden gehen. Das heißt, wir erreichen bei der
Nettoneuverschuldung ohnehin genau diesen Wert, sodass Ihr Gesetzentwurf auch dort ins Leere laufen
würde. Wenn wir das für 2012 weiterrechnen, müsste die
Nettoneuverschuldung um weitere 6 Milliarden sinken.
Das hieße, die Nettoneuverschuldung dürfte nur noch
32 Milliarden betragen.
Warten Sie die nächste Woche einmal ab. Ich bin ganz
gespannt.
({6})
Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung uns einen
Haushaltsentwurf vorlegt, bei dem die Nettoneuverschuldung unter diesen 32 Milliarden liegen wird. Das
wird dann der schlagende Beweis dafür sein, dass wir
konsequent eine solide Haushaltspolitik betreiben, deren
Ansätze noch unter denen liegen, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf wollen. Das ist außerdem der schlagende
Beweis für einen supersoliden Haushalt der Regierungskoalition, der den Menschen in Deutschland eine vernünftige Zukunft sichern wird.
({7})
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die
Konsequenz dessen, worüber wir seit anderthalb Jahren
diskutieren: intelligent zu sparen, um Wachstum zu produzieren.
({8})
Die Folgen dieser Politik ernten wir heute. Mit unserem Wachstum erreichen wir über natürliche Einnahmeerhöhungen, dass wir die Schuldenbremse locker einhalten. Wenn heute in diesem Hause von Frau Hinz unter
Hinweis auf die ALG-II-Verhandlungen vorgetragen
wird, dass wir die Bundesagentur für Arbeit geschröpft
hätten, kann ich nur sagen: Das gesamte Vermittlungsverfahren war weder von uns initiiert noch war es darauf
angelegt, dass wir in den Vermittlungsverfahren mehr
Geld ausgeben oder dass es für den Bund teurer und damit die Einhaltung der Schuldenbremse auch noch zusätzlich erschwert wird. Insofern sollten Sie bei den
Leisten bleiben.
({9})
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Schuldenbremse zum Erfolg geführt wird.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Artikel115-Gesetzes. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6241, den
Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/4666 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Die Linke bei Zustimmung der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Danach entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 21 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Somit rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu einem Antrag
auf Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens
- Drucksache 17/6384 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/6384, die Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/6290
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Günter Krings von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Koalitionsfraktionen haben den Deutschen
Bundestag, also auch die Opposition, im Zusammenhang
mit unserem heute auch förmlich einzubringenden Gesetzentwurf zum Bundestagswahlrecht - das gebe ich
unumwunden zu - auf eine lange Geduldsprobe gestellt.
Aber diese Geduldsprobe ist zu Ende: Wir, die Koalition,
haben in dieser Sitzungswoche unseren Gesetzentwurf
vorgelegt. Ich freue mich besonders, dass wir zumindest
mit der ersten Lesung die heute ablaufende Frist einhalten; es ist schade, dass wir sie nur mit der ersten Lesung
und nicht, wie es sich eigentlich gehört - auch das habe
ich schon beim letzten Mal gesagt -, mit der dritten Lesung einhalten.
({0})
Aber - wir haben das schon in den letzten Debatten erklärt - es ist auch eine komplizierte, komplexe Materie.
Es wäre sicherlich noch schöner gewesen, vielleicht
schon fraktionsübergreifende Konsenspunkte zu haben;
aber alle anderen Fraktionen - ich nehme das gar nicht
übel; denn das gebot die Zeit - haben ihre Anträge bereits vorgelegt. Wir nutzen die Regelungen, die uns das
Grundgesetz und die Geschäftsordnung vorgeben, um im
Bundestag über die vier verschiedenen Anträge zu debattieren und uns in Anhörungen und Ausschusssitzungen zu beraten. Das ist das gesetzlich vorgesehene Verfahren.
Ganz überraschend dürfte das, was wir in dieser Woche vorgeschlagen haben, nicht sein. Wir haben uns
schon mehrfach öffentlich zu den Grundstrukturen unserer Vorschläge geäußert; das haben der Kollege Ruppert,
der Kollege Uhl, ich und andere getan. Ich habe an dieser Stelle seit zweieinhalb Jahren erklärt: Wir wollen das
Wahlrecht nicht komplett umkrempeln; wir wollen einen
minimalinvasiven Eingriff, weil sich das Wahlrecht - die
Verbindung aus Erst- und Zweitstimme und das System
des personalisierten Verhältniswahlrechts - im Kern bewährt hat. Wir wollen nur so viel reformieren, wie notwendig ist, um die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen.
({1})
Deswegen schlagen wir dem Haus eine Lösung vor, die
sich eng an den Ursachen des Problems orientiert. Es ist
in der Politik ohnehin ratsam, Lösungen zu finden, die
mit den Ursachen des Problems etwas zu tun haben.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns ausdrücklich
nicht den Auftrag gegeben, die Überhangmandate abzuschaffen. Wir gehen die entscheidende Ursache des negativen Stimmgewichts an. Das sind nicht zentral die
Überhangmandate, sondern das ist die Verknüpfung der
Landeslisten in der Bundesrepublik Deutschland. Diese
Landeslisten müssen getrennt werden. Das ist eine verblüffend einfache Erkenntnis. Wenn das Problem die
Verknüpfung der Landeslisten ist, ist die Lösung die
Trennung der Landeslisten. Der Kern unseres Vorschlags
- so simpel ist das - ist die Streichung eines einzigen Paragrafen, des § 7 Bundeswahlgesetz, der diese Verbindung bislang möglich gemacht hat.
Zu dem Vorschlag konkret: Wir schlagen ein einfaches Verfahren mit zwei Rechenschritten und einem dritten, ergänzenden Schritt vor. Im ersten Schritt werden
die 598 Mandate des Deutschen Bundestages auf die
16 Bundesländer aufgeteilt. Nach welchem Kriterium?
Auch darüber gibt es Diskussionen. Wir haben gesagt:
Das beste Kriterium ist die Wahlbeteiligung. Wir können
nicht immer die mangelnde Wahlbeteiligung beklagen
und sagen, dass es für die Aufteilung egal ist, wie hoch
die Wahlbeteiligung ist. Wir werden dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit dann gerecht, wenn wir die Aufteilung nach der Wahlbeteiligung und nicht nach der Bevölkerungszahl vornehmen.
Der zweite Rechenschritt ist ebenfalls ganz einfach.
In jedem Bundesland werden die einzelnen Mandate entsprechend dem Wahlergebnis auf die Parteien aufgeteilt.
Wir haben uns entschlossen, einen dritten, ergänzenden Schritt vorzunehmen - eine Modifikation -; denn
wir müssen einräumen, dass durch die Kappung der Landeslisten relativ viele Reststimmen übrigbleiben. Das
kann zu Verwerfungen zwischen den Parteien führen.
Das betrifft übrigens große wie kleine Parteien; das will
ich hier einmal ganz deutlich sagen. Eine Partei hat
Pech, wenn sie aufgrund dieser Trennung in 16 Ländern
knapp vor dem nächsten Mandat hängenbleibt. Ich finde
es nur fair, dafür einen gewissen Ausgleich vorzusehen,
diese Reststimmen einzusammeln und zusätzlich auf die
Landeslisten, die die meisten Reststimmen haben, zu
verteilen. Das ist ein sinnvoller Schritt, auch wenn der
Bundestag dadurch um einige wenige Mandate erweitert
werden könnte. Wir gehen nach sehr klaren Rechnungen
davon aus, dass wir dabei im einstelligen Bereich bleiben. Wir würden deutlich weniger stark zulegen, als das
bei den Ausgleichsmandaten der Fall wäre, die die SPD
vorgeschlagen hat. Das könnte 30 bis - im ungünstigsten
Fall - 100 Ausgleichsmandate bedeuten. Unser Vorschlag bedeutet eine vertretbare, ganz geringfügige Ausweitung des Bundestages.
Ist das ein perfekter Vorschlag? Nein, natürlich ist das
kein perfekter Vorschlag. Es ist aber mit Abstand der
beste Vorschlag von denen, über die in diesem Haus und
in der Wissenschaft diskutiert wurde;
({3})
denn wir beseitigen das negative Stimmgewicht nach
den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. In
dem entsprechenden Urteil wurde festgestellt, akzeptabel sei ein negatives Stimmgewicht allenfalls in seltenen, unvermeidbaren Ausnahmefällen. In diesem Sinne
beseitigen und verhindern wir das negative Stimmgewicht ausnahmslos im Regelfall.
({4})
Nur bei nicht lebensnaher, unrealistischer Betrachtung
kann dieser Effekt eintreten.
({5})
Wir halten uns sehr eng an den Wortlaut des Bundesverfassungsgerichts. Mit diesem Ansatz wird das Problem
gelöst. Vor allem aber - und das ist viel wichtiger - werden damit keine neuen großen Probleme geschaffen, was
Folge der Oppositionsvorschläge wäre.
Wem unser Vorschlag nicht hundertprozentig zusagt,
wer das Haar in der Suppe sucht - das kann man immer
finden -, der müsste eigentlich spätestens dann überzeugt sein, wenn er sich einmal kurz die Vorlagen der
Opposition anschaut. Die Grünen, inzwischen auch die
Linken, fordern die Verrechnung der Überhangmandate
mit Listenmandaten auf anderen Landeslisten; das ist bekannt. Dann müssten die Überhangmandate, die zum
Beispiel in Baden-Württemberg und Sachsen entstehen
könnten, dadurch kompensiert werden, dass man bereits
gewonnene Listenmandate in Nordrhein-Westfalen,
Brandenburg oder anderswo abzieht. Das ist keine gerechte Lösung.
({6})
Das ist eine grob ungerechte Lösung, gerade für die Länder, die in der Regel keine Überhangmandate erhalten.
Ich komme aus einem solchen Bundesland. Das ist eine
föderalismusfeindliche Lösung. Die Länder werden doppelt bestraft: Sie erhalten keine Überhangmandate, und
beim Ausgleich müssen sie für die anderen auch noch
sozusagen die Kompensation leisten. Das ist föderalismusfeindlich.
({7})
Zugleich ist der Vorschlag bürgerfeindlich; denn er
führt auch zu einer schlechteren Repräsentanz der Einwohner dieser Länder. Einige ganz konkrete Beispiele:
Wäre bei der letzten Bundestagswahl Ihr Modell angewandt worden, hätte das dazu geführt, dass die CDU in
Brandenburg trotz 327 000 Wählern nur ein einziges
Bundestagsmandat erhalten hätte. In Brandenburg hatten
die Grünen 77 000 Wähler und hätten auch ein Bundestagsmandat bekommen.
({8})
In Bremen hatte die CDU 81 000 Wähler und hätte kein
einziges Bundestagsmandat bekommen. Ich kann durchaus verstehen, dass die Grünen diesen Vorschlag gut finden, wenn sie dadurch in Brandenburg mit 77 000 Stimmen genauso viele Mandate bekommen wie die CDU
mit 327 000 Stimmen. Aber dies ist nicht fair. Deswegen
können wir diesen Vorschlag nicht umsetzen.
({9})
Noch absurder ist natürlich, wenn man, wie auch vorgeschlagen, direkt gewählten Abgeordneten das Mandat
zur weiteren Kompensation von Überhangmandaten abnehmen will. Auch das ist Teil des grünen Vorschlags.
({10})
Das wäre wirklich Gift für die Akzeptanz des Wahlrechts in Deutschland. Wir haben oft über mögliche
Sargnägel für die Demokratie gesprochen. Das wäre ein
solcher Sargnagel. Das, was Grüne und Linke hier vorgeschlagen haben, erinnert - das müssen wir in aller
Sachlichkeit sagen - ein bisschen an den Arzt, der stolz
verkündet: Die Operation - nämlich die Beseitigung des
negativen Stimmgewichts - ist geglückt, nur leider ist
der Patient Demokratie dabei verstorben. - Das wollen
wir nicht.
({11})
Eine brauchbare Alternative stellt im Ergebnis auch
der Vorschlag der SPD nicht dar, einen Ausgleich von
Überhangmandaten vorzunehmen. Er löst das selbstgestellte Problem nicht. Was ist negatives Stimmgewicht?
Negatives Stimmgewicht heißt: Wenn x Stimmen für
eine Partei A weniger abgegeben werden, bekommt sie
dadurch einen Sitz mehr. Das ist zugegebenermaßen ein
widersinniges Ergebnis. Genau das Problem lösen Sie
nicht. Bei Ihrem Vorschlag besteht es weiter: Es werden
x Stimmen weniger abgegeben, und die Partei bekommt
trotzdem einen Sitz mehr. Genau dieses Phänomen gehen Sie nicht an.
({12})
Das Verfassungsgericht hat aber nicht gesagt, dass das
negative Stimmgewicht ausgeglichen werden soll, es hat
gesagt, dass es beseitigt werden soll.
({13})
Der zweite Nachteil dieser Lösung ist, dass sie zu einer drastischen Vergrößerung des Bundestages, durchaus
auch im dreistelligen Bereich, führen würde. Der Vorschlag, dafür die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren, ist
vielleicht gut gemeint, Herr Oppermann, wäre aber eine
Verschlimmbesserung. Denn die Direktwahlkreise in unserem Land sind ein ganz entscheidendes Bindeglied
zwischen Bürger und Bundestag. Die Direktwahlkreise
sind das Fundament für die Akzeptanz und Bürgernähe
unserer Politik. Eine Verringerung der Zahl der Direktwahlkreise würde zu weniger Bürgernähe führen.
({14})
Der Hauptunterschied zwischen den Vorschlägen der
Opposition und unserem Gesetzentwurf als Regierungskoalition ist: Wir wollen zentral das negative Stimmgewicht beseitigen.
({15})
Sie wollen die Überhangmandate beseitigen. Man kann
sich - das sage ich ganz ausdrücklich - darüber unterhalten, wie man mit Überhangmandaten umgeht, ob
man vielleicht einen Teilausgleich vornimmt. Das alles
sind Überlegungen, die man politisch anstellen kann.
Aber - das sage ich noch einmal - das reicht nicht aus,
um das Problem des negativen Stimmgewichts, so wie
das Bundesverfassungsgericht es versteht, zu lösen.
Eines ist nicht in Ordnung: hier so zu tun, als ob der
einzige Weg, das Problem des negativen Stimmgewichts
zu lösen, ein Angriff auf die Überhangmandate ist. Wir
sollten uns gemeinsam davor hüten, die Gerichtsentscheidung dafür zu missbrauchen, ein politisches Ziel,
über das man politisch streiten kann, mit verfassungsrechtlichen Weihen zu versehen. Das ist nicht fair und
angemessen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht,
das eine verfassungsrechtliche Entscheidung und keine
politische Grundentscheidung getroffen hat.
({16})
Im Deutschen Bundestag - das sage ich mit Blick auf
die Überhangmandate sehr deutlich - gibt es keine Abgeordneten erster und zweiter Klasse. Auch die Abgeordneten, die ihr Mandat einem Überhangmandat zu verdanken haben, sind vollwertige Mitglieder unseres
Hauses. Das wird durch die Vorschläge der Opposition
ein wenig infrage gestellt. Unser Wahlrecht basiert auf
Erst- und Zweitstimmen. Ein integraler Bestandteil dieses Systems sind die Überhangmandate.
Das hat auch einmal in weiten Teilen die Opposition
so gesehen, die SPD und auch die Grünen. Ich darf daran
erinnern, dass fast jahrzehntelang der Hauptprofiteur der
Überhangmandate die SPD war. Ich darf daran erinnern,
dass ein gewisser Gerhard Schröder als Bundeskanzler
2001 hier in diesem Hause nur deshalb die Vertrauensfrage gewonnen hat, weil er Überhangmandate hatte. Die
Mehrheit war so knapp, dass er ohne diese Überhangmandate nach den Wahlen 1998 und 2002 nicht Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewesen wäre.
({17})
Wir hätten das nicht bedauert; ich möchte das nur einmal
so feststellen.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Es gibt immer Alternativen in der Politik. Wir werden schauen, ob
es Brücken zwischen den Vorschlägen gibt. Dazu wird
es Gespräche und ein Anhörungsverfahren geben; das ist
selbstverständlich.
Ich möchte noch kurz ein gemeinsames Anliegen erwähnen, das wir in diese Gespräche einbringen wollen.
Wir wollen den subjektiven Rechtsschutz im Wahlverfahren einführen; diesen gibt es zurzeit in Deutschland
nicht. Das ist ein weißer Fleck auf der Rechtsschutzkarte
Deutschlands. Darüber sollten wir uns in allen Fraktionen einig sein. Wir hatten überlegt, das in diesen Gesetzentwurf aufzunehmen; das ist übrigens eine der Ursachen, warum wir diesen Vorschlag relativ spät vorlegen.
Uns ist dann klar geworden, dass dies zu komplex und
schwierig wäre; es erfordert vielleicht sogar eine Grundgesetzänderung.
Von daher freue ich mich auf die Gespräche zur Frage
eines negativen Stimmgewichts, aber auch zur Einführung eines Rechtsschutzes in Bezug auf Wahlsachen in
Deutschland.
Ganz herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat der Kollege Thomas Oppermann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist
der 30. Juni. Heute läuft die vom Bundesverfassungsgericht vor drei Jahren gesetzte Frist zur Reparatur des
Wahlrechts ergebnislos ab.
({0})
Das hat schwerwiegende Konsequenzen. Wir haben im
Augenblick in Deutschland kein Wahlrecht, das angewendet werden kann.
({1})
Auf der Basis dieses Wahlrechts kann keine Bundestagswahl mehr durchgeführt werden. Eine Wahl, die durchgeführt werden würde, wäre ungültig. Der Bundestag
müsste aufgelöst werden, und es gäbe dann nicht einmal
mehr ein Parlament, das ein verfassungsgemäßes Wahlrecht verabschieden könnte. In diese groteske Situation
haben Sie den deutschen Parlamentarismus gebracht.
({2})
Früher haben die Politiker von Union und FDP immer
die rechtsfreien Räume in der Gesellschaft kritisiert.
Wenn Hausbesetzer sich anmaßten, ein Haus zu besetzen, hat Herr Uhl gesagt: Das ist ein rechtsfreier Raum,
den dürfen wir nicht dulden.
({3})
Heute schaffen Sie - nicht in der Gesellschaft, aber
mitten im Staat, im Bereich des für die Demokratie konstitutiven Wahlrechts - einen rechtsfreien Raum in unserer Demokratie. Das ist ein unerträglicher Zustand, den
Sie da geschaffen haben.
({4})
Wer eine dreijährige Frist des Bundesverfassungsgerichts nicht respektiert, der missachtet unsere Demokratie und unsere Verfassung. Und er zeigt eine beispiellose
Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.
({5})
Ich komme nun zu dem Gesetzentwurf, den Sie eingebracht haben. Das ist kein Gesetzentwurf zur Reform unseres Wahlrechts, sondern ein Gesetzentwurf zur Absicherung eines machtpolitischen Sondervorteils in
Gestalt von Überhangmandaten. Das ist das einzige Ziel,
das Sie verfolgen.
({6})
Wir hatten bisher in Deutschland ein einheitliches
Wahlgebiet: Das deutsche Volk wählte den Deutschen
Bundestag. Sie spalten jetzt das einheitliche Wahlgebiet
in 16 verschiedene Wahlgebiete auf. Mal werden diese
Wahlgebiete getrennt, dann werden sie an anderer Stelle
bemerkenswerterweise wieder miteinander verbunden.
({7})
Das ist ein dürftiges Notkonstrukt, das den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in keiner Weise
Rechnung trägt.
({8})
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Sie erfinden jetzt sogar ein ganz neues negatives Stimmgewicht.
Bisher gab es das nur im Zusammenhang mit Überhangmandaten.
({9})
Jetzt aber beziehen Sie in die Verteilung der Mandate auf
die Länder - mit weitreichenden Folgen - auch die Stimmen ein, die nach dem geltenden Wahlrecht unter den
Tisch fallen würden, weil die entsprechenden Parteien
keine 5 Prozent erreicht haben.
Die 58 000 Wählerinnen und Wähler, die 2009 in
Berlin die Piratenpartei gewählt haben, wollten die Piratenpartei wählen. Jetzt würden diese Stimmen aber mitzählen - mit der Konsequenz, dass das Land Berlin ein
Mandat mehr als bei der letzten Wahl bekäme.
({10})
Innerhalb von Berlin entfiele dieses Mandat auf die Grünen. Ich unterschätze die Wähler der Piratenpartei nicht;
aber sie wollen ganz sicher eines nicht: Sie wollen nicht,
dass ihre Stimme dazu führt, dass die Grünen ein Mandat mehr bekommen.
({11})
Das ist die Konsequenz Ihres Wahlrechts bzw. des negativen Stimmgewichts, das Sie ganz neu in unser Wahlrecht einbringen wollen.
({12})
Damit werden Sie vor dem Bundesverfassungsgericht
keinen Erfolg haben.
Sie trennen die Wahlgebiete, um die Wanderung von
Mandaten zwischen Landeslisten zu unterbinden. Dann
aber müssen Sie die 16 Wahlgebiete wieder verbinden,
weil Sie eine bundeseinheitliche 5-Prozent-Klausel beibehalten wollen.
({13})
Sie müssen das auch verbinden, weil die FDP unbedingt
die Verwertung der Reststimmen haben möchte.
({14})
Die CDU trennt, damit sie die Überhangmandate behalten kann. Die FDP verbindet, damit die Reststimmen
verwertet werden können.
({15})
Jeder von Ihnen will bei der Gestaltung des Wahlrechts
auf seine Kosten kommen.
({16})
Ich sage Ihnen: Das Wahlrecht ist nicht dazu da, dass
die Parlamentsmehrheit auf ihre Kosten kommt, sondern
das Wahlrecht ist Ausdruck des großen Versprechens der
Demokratie. Das große Versprechen der Demokratie ist
die Gewährleistung des gleichen Wahlrechts für alle
Wahlbürgerinnen und Wahlbürger. Das bedeutet, ihre
Stimme muss das gleiche Gewicht haben.
({17})
Es darf kein doppeltes Stimmgewicht geben. Überhangmandate bedeuten aber im Ergebnis ein doppeltes
Stimmgewicht, nämlich für Wählerinnen und Wähler
von Abgeordneten, die ein Überhangmandat gewinnen.
Ich sage Ihnen: Wir wollen die Überhangmandate abschaffen und dieses Problem in der politischen Auseinandersetzung lösen.
({18})
Wenn Sie Überhangmandate im Wahlrecht verankern
und absichern wollen, wird der politischen Debatte eine
juristische Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht folgen.
({19})
Jetzt ist der Zeitpunkt, zu handeln. Am Ende könnte es
allerdings darauf hinauslaufen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten abschließend klären muss.
Ich sage Ihnen ganz kurz, warum wir Überhangmandate für verfassungswidrig halten. Das hat vier Gründe:
Der erste Grund ist das doppelte Stimmgewicht, das
ich schon erwähnt habe.
Zweitens führen Überhangmandate zu einer massiven
regionalen Umverteilung bzw. Ungleichverteilung der
Mandate. So hat Baden-Württemberg bei der letzten
Bundestagswahl zehn Überhangmandate erhalten, für
die man dort aber überhaupt keine Zweitstimmen bekommen hat.
Drittens beeinträchtigen Überhangmandate die Chancengleichheit der Parteien. Die SPD musste bei der letzten Bundestagswahl im Durchschnitt 68 500 Stimmen
erhalten, um ein Mandat zu gewinnen. Die Union bekam
ein Mandat schon bei 61 000 Stimmen. Das ist ein Sondervorteil, der nicht legitimiert ist.
({20})
Viertens können Überhangmandate schlimmstenfalls
sogar die Zweitstimmenmehrheit umdrehen. Das wäre in
der Tat eine Situation, in der die Menschen das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie
verlieren würden. Wir werden ein Wahlgesetz, das Überhangmandate weiter absichert, dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorlegen; das sage ich Ihnen schon jetzt.
({21})
Von Ihnen erwarten wir, dass Sie diesen Gesetzentwurf schnell mit Ihrer Mehrheit verabschieden, damit
wir genügend Zeit für die gerichtliche Überprüfung haben.
({22})
Das Wahlrecht muss klar, einfach und manipulationsfrei
ausgestaltet werden. Wenn die Koalition die Machtpolitik über das Verfassungsrecht stellt, dann werden wir die
Hilfe des Bundesverfassungsgerichts suchen und ein demokratisches, gleiches Wahlrecht für alle Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland erwirken.
Vielen Dank.
({23})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein relativ bekannter Verfassungsrechtler hat gesagt, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, die uns in die Lage versetzt, das
bestehende Wahlrecht abschaffen zu müssen. Damit
wollten wir uns nicht zufriedengeben. Wir waren der
Meinung, das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland hat sich bewährt. Es ist in seinen Grundzügen zu erhalten. Ich glaube, es ist lohnend, darüber nachzudenken, wie man es erhalten kann. Wir haben das
zugegebenermaßen lange getan.
({0})
Aber die Aufgabe war sehr kompliziert.
({1})
Wir haben inzwischen eine Lösung gefunden - das
muss man Herrn Oppermann entgegnen -, die vielerlei
Vorteile hat. Sie hat ein unitarisches Element, weil sie
die Fünfprozenthürde auf Bundesebene erhält. Sie hat
ein föderales Element, weil sie, das Prinzip des negativen Stimmgewichts beseitigend, 16 Wahlgebiete kennt.
Allerdings berücksichtigt sie - das ist der dritte Aspekt den gleichen Erfolgswert der Stimmen, weil sie in den
kleiner werdenden Wahlgebieten auch die unter den
Tisch fallenden Stimmen im Rahmen einer Reststimmenverwertung zu Mandaten werden lässt.
({2})
Es wäre ein echtes verfassungsrechtliches Problem,
wenn wir 16 Wahlgebiete und damit 16-mal Rundungsungenauigkeiten bei der Mandatsverteilung schaffen
würden, ohne die dann unter den Tisch fallenden Stimmen einer Reststimmenverwertung zuzuführen.
({3})
Insofern ist die bestehende Lösung mit einem unitarischen, einem föderalen Element und einem Element des
gleichen Erfolgswerts jeder Stimme eine sachgerechte
Lösung.
Ich höre, wir hätten eine Staatskrise oder kein verfassungsgemäßes Wahlrecht.
({4})
Ich will Sie jetzt nicht mit den Einzelheiten juristischer
Präzision behelligen. Aber erstens haben wir ein Wahlrecht,
({5})
zweitens sind wir zu diesem Zeitpunkt bei der ersten Lesung, und drittens haben wir die Möglichkeit, innerhalb
der Fristen der Auflösung für den Bundestag jederzeit
ein verfassungsgemäßes Wahlrecht abschließend herzustellen. Sie sollten das Wort „Staatskrise“ für wirklich
ernsthaftere Problemlagen verwenden, anstatt es so inflationär zu benutzen und somit zu entwerten.
({6})
Leider erliegen Sie dem politischen Reflex, die Wahlrechtsfrage nach der bestehenden politischen Wetterlage
und den politischen Umfragewerten anzugehen. Sie haben nicht das Selbstbewusstsein, zu glauben, dass Sie irgendwann einmal wieder erstarken.
({7})
Sie haben auch nicht das Selbstbewusstsein, zu sehen,
dass Sie in der Vergangenheit durchaus zahlreiche Überhangmandate gewonnen haben. In 60 Jahren haben Sie
sich nie über Überhangmandate beschwert. Sie haben
über 60 Jahre lang davon profitiert. In schweren Phasen
Ihrer Partei hat sich Rot-Grün auf diese Mandate verlassen; Herr Krings hat das schon gesagt. Herr Schröder ist
nur deswegen im Amt geblieben, weil Sie diese Mandate
hatten. Jetzt spielen Sie sich aufgrund der aktuellen Wetterlage plötzlich zum Bekämpfer dieser Mandate auf.
({8})
Man muss einmal sagen: Die SPD hat in drei Jahren
keine Lösung des Problems vorgelegt.
({9})
Sie haben vielmehr ihre gesamte Kraft darauf verwendet, zu behaupten, das Problem sei nicht das negative
Stimmgewicht, sondern das Problem seien die Überhangmandate. Sie versuchen der geneigten Öffentlichkeit vorzuführen, dass wir ein Problem A und ein Problem B haben.
({10})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns zwar die Lösung
des Problems A aufgegeben. Sie aber wollen sich lieber
dem Problem B - den Überhangmandaten - widmen.
({11})
Wenn wir die Wahl 2005, die Nachwahl in Dresden,
nicht unter dem damaligen Wahlrecht, sondern unter
dem Wahlrecht, das die SPD jetzt vorschlägt, durchgeführt hätten, dann hätte die Union trotz weniger Stimmen noch immer ein Mandat mehr bekommen.
({12})
Da muss man sich doch folgende Kontrollfrage stellen:
Entfällt dann nicht der Klagegrund für die Klage beim
Bundesverfassungsgericht?
({13})
Die Antwort ist Nein.
({14})
Wer auf eine solche Weise mit den uns gestellten Aufgaben umgeht, der ist, was diese Frage angeht, meiner
Meinung nach nicht in der Position, zu kritisieren.
({15})
Es fällt mir schwer, dies zu sagen: Den einzigen diskutablen Entwurf aus Oppositionskreisen hat die Linke
eingebracht.
({16})
Dass in Ihrem Entwurf direkt gewählte Mandate,
({17})
also Mandate mit einer sozusagen größtmöglichen Legitimation, schlicht entfallen - so haben es die Grünen
vorgeschlagen - und ganze Wahlkreise in Deutschland
überhaupt keinen Abgeordneten haben, zeigt, dass es
sich hierbei nicht um einen verfassungsrechtlich satisfaktionsfähigen Vorschlag handelt. Es erübrigt sich daher von selbst, darüber zu diskutieren. Die Linken lösen
das Problem, dass ein ganzer Wahlkreis kein Mandat hat,
indem sie sagen: Wir gleichen es aus. Dieses Vorgehen
- das ist es, was aus unserer Sicht dagegen spricht zieht aber einen enormen Hebel für die Vergrößerung
des Bundestages nach sich.
({18})
Sie würden einen enorm vergrößerten Bundestag schaffen. In gewissen Konstellationen wären es gegebenenfalls 100 bis 120 zusätzliche Mandate. Stellen Sie sich
vor, eine Partei erreicht beim ersten Mal 8 Prozent und
beim zweiten Mal 10 Prozent. Weil es aber keine Ausgleichsmandate mehr gibt, hat sie beim zweiten Mal
2 Prozent mehr und trotzdem weniger Mandate.
({19})
Das sind alles Ungenauigkeiten, die man Ihnen nicht
durchgehen lassen kann.
Am Ende bleibt zu sagen: Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland hat sich in allen Grundzügen bewährt. Anders, als Sie es glauben, sind Überhangmandate bis zu einer Größenordnung von 5 Prozent vom
Verfassungsgericht nicht beanstandet worden. In der aktuellen Entscheidung, die wir heute diskutieren, wurde
sogar gesagt, dass sie explizit zulässig sind.
Insofern ist mein Petitum: Lasst es uns um ein weiteres Element des subjektiven Wahlrechtsschutzes ergänzen. Wir haben in der Tat lange gebraucht. Aber dafür
hat die Koalition auch ein gutes Ergebnis erzielt, nicht
nur, was den Stil der Zusammenarbeit angeht. Wir haben
trotz zum Teil unterschiedlicher Interessenlage - das
liegt bei kleinen und großen Parteien in der Natur der
Sache - mit der CDU/CSU gut zusammengearbeitet. Wir
haben einen tollen Vorschlag, mit dem wir stolz in die
Öffentlichkeit treten können. Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland hat ein gutes Wahlrecht, wenn wir
diesen Gesetzentwurf beschließen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor wir in die Einzelheiten des Koalitionsentwurfs einsteigen, möchte ich noch einmal sehr deutlich
auf etwas hinweisen, was der Kollege Oppermann schon
gesagt hat: Wir haben mit dem Ablauf des heutigen Tages kein verfassungsgemäßes Wahlrecht mehr. Ich finde,
das ist für eine Demokratie, das ist für unser Land ein
Skandal. Es ist eine Missachtung des Verfassungsgerichts und des Parlaments. Da hilft es Ihnen auch nicht,
dass wir heute die erste Lesung haben;
({0})
denn erstens beschließen wir heute nichts, sondern wenn
wir etwas beschließen, dann tun wir das nach der Sommerpause.
Zweitens wirft der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf erhebliche Zweifel an der Verfassungsgemäßheit
auf. Sie selbst schreiben auf Seite 11 in der Begründung
zu Ihrem Gesetzentwurf, dass das negative Stimmgewicht nicht abgeschafft wird, sondern nur erheblich reduziert wird. Im Laufe der 35-seitigen Drucksache gibt es
noch verschiedene andere Formulierungen. Fakt bleibt
aber, das negative Stimmgewicht wird gerade nicht ausgeschlossen.
Drittens ist in Bezug auf Ihren Gesetzentwurf, zumindest was den berühmten § 6 Abs. 2 a - das ist die sogenannte Reststimmenverwertung - angeht, völlig unklar,
ob er dem Gebot der Normenklarheit genügt. Das wage
ich ernsthaft zu bezweifeln. Im Übrigen wird auch auf
der Seite wahlrecht.de heftig darüber gestritten. Das
könnte man hier einmal vorlesen. Ich glaube, dann hätten wir sehr viele Fragezeichen hier im Raum.
Fakt ist: Bei Ihrem Gesetzentwurf ist völlig unklar,
was der Wähler und die Wählerin mit seiner oder ihrer
Stimme erreicht. Richtig ist: Ihr Gesetzentwurf ist ein
Lösungsvorschlag. Dankenswerterweise haben Sie geschrieben, dass es einer von vielen möglichen Lösungsvorschlägen ist. Sie setzen darauf, dass wir - ich mache
es jetzt einmal sehr einfach - 16 getrennte Wahlgebiete
haben, die Landeslisten nicht als verbunden gelten. Entsprechend der Wählerbeteiligung werden die Sitze auf
die Länder umgelegt. Dann werden die Zweitstimmen,
die eine Partei erreicht hat, auf die Länder umgerechnet.
Dann erhält man eine bestimmte Zahl von Mandaten,
von der die Direktmandate abgezogen werden.
({1})
Dann gibt es noch den Reststimmenausgleich. Wenn ich
den jetzt erklären würde, wäre meine Redezeit zu Ende.
Der ist nämlich so kompliziert, dass ihn tatsächlich keiner wirklich versteht.
({2})
Ich will aber noch etwas zur Berliner Zweitstimme
sagen. Das Problem, das Sie lösen wollen, besteht darin,
dass Direktmandate errungen werden, die Partei, deren
Kandidaten diese Direktmandate gewinnen, danach aber
nicht ins Parlament kommt. Ich kann Ihnen versprechen:
Es handelt sich um einen einmaligen Vorfall aus dem
Jahre 2002, jedenfalls was unsere Partei angeht. Sie
könnten das Problem auch dadurch lösen, dass Sie die
Fünfprozenthürde abschaffen.
({3})
Generell kann ich Ihnen sagen: Ihr Gesetzentwurf
greift zu kurz. Sie haben dankenswerterweise angesprochen, dass in Ihrem Gesetzentwurf kein Wort zum
Rechtsschutz bei Nichtzulassung einer Partei auftaucht.
Das ist völlig inakzeptabel. Ich verweise darauf, dass
meine Fraktion die einzige Fraktion ist, die einen konkreten Vorschlag dazu unterbreitet hat, wie man Rechtsschutz suchen kann, wenn man nicht zur Wahl zugelassen wird.
({4})
Ich will an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich für
den Vorschlag der Linken werben. Ich bedanke mich
auch für das Lob der FDP und empfehle sowohl Union
als auch FDP, noch einmal genauer nachzulesen. Unsere
Ausgleichsmandatsregelung bezieht sich auf die Bundesebene. Wie Sie da auf 100 Mandate kommen, würde
ich gerne einmal wissen.
({5})
Wir fordern das aktive Wahlrecht ab 16. Wir fordern
das aktive Wahlrecht für Menschen, die seit fünf Jahren
hier legal in Deutschland leben.
({6})
Ferner fordern wir das Verbot von Wahlcomputern.
({7})
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich war heute Morgen gemeinsam mit dem Kollegen
Oppermann bei der Übergabe von 4 100 Unterschriften,
die Mehr Demokratie e. V. unter der Überschrift „Wählen ohne Überhang!“ gesammelt hat. Mein konkreter
Vorschlag an Sie von Union und FDP ist: Wenn Sie zu
Gesprächen über das Wahlrecht einladen, dann laden Sie
doch auch Mehr Demokratie ein, damit deren Vertreter
mit am Tisch sitzen. Da ich von Mehr Demokratie e. V.
Unterschriftenlisten bekommen habe und Sie heute Mor13494
gen nicht da waren, übergebe ich sie Ihnen jetzt und
sage: Machen Sie was draus!
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsredner versuchen hier, die aktuelle schwierige Situation wegzureden. Lesen Sie doch einmal die Worte
des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Papier, zur Situation nach, die wir ab null
Uhr morgen früh haben.
({0})
Die Bundesrepublik Deutschland steht dann ohne ein
Wahlrecht dar.
Herr Papier hat Ihnen die Konsequenzen ausgemalt.
Er hat gesagt: Wenn ein Bundestag nach diesem verfassungswidrigen Wahlrecht gewählt werden würde, könnte
die Wahl aufgrund einer Wahlprüfungsbeschwerde womöglich für ungültig erklärt werden.
({1})
Eine Heilung des verfassungswidrigen Wahlgesetzes
durch den Bundestag selbst wäre dann eben nicht mehr
möglich.
({2})
Das sind nicht meine Worte, sondern die des ehemaligen
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts.
Ab morgen früh um null Uhr droht eine Staatskrise,
wenn die Kanzlerin hier die Nerven verliert
({3})
- bei dieser Koalition könnte ich es total verstehen,
wenn ihr das passieren würde - und die Vertrauensfrage
stellt, die sie mit irgendeiner Vorlage verbindet - womöglich mit der Griechenlandhilfe - und dann verliert.
Was ist dann los?
({4})
Das kann in der nächsten Woche passieren, das kann
auch in der ersten Sitzungswoche im September passieren. Deshalb ist die jetzige Situation keine Kleinigkeit.
({5})
Dass Sie drei Jahre für diesen Gesetzentwurf gebraucht haben, erklärt sich mir allerdings nicht.
({6})
- Wir haben gar keinen? Unser Gesetzentwurf war der
erste, der vorlag.
({7})
Mit ihm würden das negative Stimmgewicht und die
Problematik der Überhangmandate eindeutig beseitigt.
Das Bundesverfassungsgericht hat unseren Vorschlag in
seinem Urteil zum negativen Stimmgewicht ausdrücklich als einen möglichen Lösungsweg erwähnt. Herr
Ruppert, plustern Sie sich hier also nicht auf, sondern lesen Sie das Urteil noch einmal nach.
({8})
Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest, wird einem
übel. Das geht schon beim Wortlaut los. Es wird davon
gesprochen, dass sich die Anzahl der Sitze, die sich den
einzelnen Ländern zuordnen lassen, in Zukunft nach der
Zahl der Wähler in jedem Land richtet. Was meinen Sie
denn jetzt? Meinen Sie die Wahlberechtigten in diesem
Land oder die Leute, die die Stimme abgegeben haben?
Wenn man schon drei Jahre lang über einen Gesetzentwurf brütet, wäre ein bisschen mehr Normenklarheit
schon angemessen.
({9})
Wenn Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
nachlesen, dann sehen Sie, dass es uns mit Blick darauf,
dass das Bundeswahlgesetz ziemlich unverständlich geschrieben ist und dass der Gesetzgeber die Aufgabe annehmen sollte, das klarer und verständlicher zu formulieren, mit drei Jahren eine relativ lange Frist gegeben
hat.
({10})
Ein Beispiel aus Ihrem Gesetzgebungslabor ist § 6
Abs. 2 a in Ihrem Gesetzentwurf. Der ist an Normenklarheit und Verständlichkeit wirklich nur schwer zu toppen.
Ich lese ihn deshalb auch vor
({11})
- Sie haben das ja nicht getan, deshalb bleibt das mir
überlassen -:
Ist der Quotient aus der Summe der positiven Abweichungen der auf die Landeslisten einer Partei
entfallenen Zweitstimmen von den nach Absatz 2
Satz 6 für die errungenen Sitze erforderlichen
Zweitstimmen geteilt durch die im Wahlgebiet für
einen der zu vergebenden Sitze erforderliche Stimmenzahl größer als 0,5, werden den Landeslisten
dieser Partei mit der höchsten positiven Abweichung weitere Sitze nach Maßgabe des Absatzes 2
Sätze 3 und 4 zweiter Halbsatz zugeteilt.
Volker Beck ({12})
({13})
In einem solchen Falle erhöht sich die Gesamtzahl
der Sitze ({14}) um die Unterschiedszahl.
({15})
Das ist eine super Regelung und total verständlich.
Mit dieser Regelung in Abs. 2 a lösen Sie ein Problem, das Sie durch die Aufteilung des Wahlgebietes in
16 Länder zum Wohle der FDP selbst erst geschaffen haben. Ich finde, wenn man einen solchen Vorschlag
macht, dann muss man auch für einen Ausgleich sorgen.
Ansonsten würde das in der Tat bedeuten, dass die FDP
7 oder 8 Prozent erreichen müsste, um überhaupt auf
5 Prozent der Sitze zu kommen. Das wäre Ihnen gegenüber nicht fair. Sie sollen gegebenenfalls nach fairen Regeln verlieren, nicht nach unfairen. Das konzediere ich.
Das ist das Demokratieprinzip.
Aber warum wir neben den Überhangmandaten jetzt
nach dieser Regelung noch Überlaufmandate schaffen
sollen, mit denen der Bundestag vergrößert wird, statt
uns an den Ausgleich der Überhangmandate zu machen
oder die Überhangmandate, wie wir das vorschlagen, zu
beseitigen, das verstehe wer will.
Das Entscheidende beim Wahlrecht ist doch, dass die
Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stimme entscheiden,
welche Parteien gemeinsam oder alleine im Deutschen
Bundestag über eine Mehrheit verfügen. Es darf nicht
sein, dass die Mehrheit der Bürger eine Partei gewählt
hat und nachher eine andere Partei die Mehrheit der
Sitze hat. Dann bewirken wir Demokratiemüdigkeit, und
die Menschen sagen: Meine Wahl bewirkt gar nichts.
({16})
Irgendein wundersames Instrument im Wahlrecht führt
zur Umkehrung der Ergebnisse. Das ist demokratiefeindlich und zerstört die Grundlagen der parlamentarischen
Demokratie.
({17})
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen doch zweimal gesagt, dass beim negativen Stimmgewicht die
Überhangmandate das Problem sind. Ich zitiere aus dem
Urteil selbst:
Der von den Beschwerdeführern angegriffene Effekt des negativen Stimmgewichts tritt im Zusammenhang mit Überhangmandaten bei der Verteilung
von Mandaten auf verschiedene verbundene Landeslisten auf und beruht auf einem Zusammenspiel
der Normen …
Es folgen verschiedene Paragrafen.
Herr Beck, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 25. Februar
2009 eine Wahlprüfungsbeschwerde zurückgewiesen,
die die Überhangmandate betraf.
Herr Beck, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Das ist der letzte Satz, den ich zitiere - das ist die Begründung -:
Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage
der Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten
wird sich nach einer Neuregelung der Problematik
des negativen Stimmgewichts nicht mehr in der
gleichen Weise stellen.
Bei Ihnen stellt es sich in der gleichen Weise. Es wird lediglich noch durch die Problematik der Überlaufmandate
getoppt. Deshalb ist Ihr Gesetzentwurf keine Lösung des
Problems. Er ist verfassungswidrig, und er ist schlecht
gemacht.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich erspare es mir, den Entwurf zu erklären,
den ich für die CSU genauso miterarbeitet habe wie der
Kollege Ruppert und der Kollege Krings, die diesen Gesetzentwurf auf hervorragende Weise erläutert haben.
Ich will mich ganz kurz mit einigen Themen befassen.
Erster Punkt. Wir bedauern, dass sich unser Gesetzentwurf aufgrund der Verweigerungshaltung der Grünen
und der SPD nicht auf eine breite Mehrheit stützen kann.
({0})
Wir wollten einen breit aufgestellten Gesetzentwurf haben, bei dem möglichst viele Fraktionen mitmachen.
Herr Kollege Krings hat erläutert, warum es nicht möglich war, sich mit Ihnen zu einigen. Herr Kollege
Oppermann, die SPD will nicht das negative Stimmgewicht, sondern die Überhangmandate abschaffen.
Ich komme damit zu meinem Hauptthema. Sie haben
hier in Ihrer Rede so getan, als sei das Überhangmandat
als solches Teufelszeug.
({1})
Ich rechne Ihnen jetzt vor, was die SPD in 60 Jahren an
Überhangmandaten bekommen hat. In dieser Zeit hat sie
34 Überhangmandate kassiert und vom Wähler dankend
entgegengenommen. Da waren die Überhangmandate
gut. Jetzt auf einmal sollen sie Teufelszeug sein.
({2})
Wir haben in dieser Zeit - das gebe ich zu - 38 Überhangmandate bekommen, also 4 mehr.
Wir erinnern uns alle an die Wahl im Jahre 2002. Bei
der Wahl 2002 hat die SPD ganze 6 027 Zweitstimmen
mehr als die Union gehabt. Wozu hat das bei den Mandaten geführt? Die 0,01 Prozent Vorsprung haben dank
der Überhangmandate zu drei Sitzen Vorsprung geführt,
die Sie dankend angenommen haben. Jetzt sollen genau
diese Überhangmandate Teufelszeug und verfassungswidrig sein und sofort abgeschafft werden müssen.
Ich komme zu dem zweiten Punkt, um den es mir
heute geht: Haben wir eine Staatskrise?
Herr Kollege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Oppermann?
Nein. Ich muss um 20 Uhr meine Frau abholen. Das
ist mir wichtiger, als Ihre Fragen zu beantworten.
({0})
Das ist jedenfalls eine gute Begründung.
Sie reden ja immer von Familienpolitik. Mir ist das
wichtiger, als Ihre Fragen zu beantworten.
Lassen Sie mich zum nächsten Punkt kommen. Haben
wir eine Staatskrise? Der Pensionär Jürgen Papier hat
sich in der Bild-Zeitung dazu verstiegen, diese Dinge auf
hysterische Weise zu dramatisieren.
({0})
Wir haben in der Tat ab heute Nacht kein Wahlrecht
mehr. Herr Beck spinnt das weiter und glaubt, es könnten jemandem die Nerven durchgehen, und wir würden
den Bundestag auflösen und die Wahl vorziehen.
({1})
Ich rate Ihnen, Herr Oppermann: Sparen Sie sich das
Fraktionsgeld und geben Sie kein Gutachten bei Herrn
Papier in Auftrag. Ich kann das gleich jetzt in meiner
Rede erledigen. In Art. 39 Abs. 1 Satz 4 des Grundgesetzes heißt es sinngemäß: Wenn der Bundestag aufgelöst
wird, hat man 60 Tage Zeit bis zur Neuwahl.
({2})
Sollten wir in der Sommerpause auf den abenteuerlichen Gedanken kommen, den Bundestag aufzulösen,
dann treffen wir uns am 5. September zur Anhörung
wieder. Heute ist die erste Beratung. Am 5. September
findet die Anhörung statt. Wenn wir tatsächlich an die
Auflösung des Bundestags denken sollten, könnten wir
dann im Laufe des Septembers oder Oktobers in aller
Ruhe zur Tat schreiten. Vorher führen wir die zweite und
dritte Beratung durch. Dann schreiten wir zur Wahl.
({3})
Ich sehe nirgends den Hauch einer Krise, die Sie
gerne hätten. Sie wollen nämlich dramatisieren.
({4})
Ich meine ganz ernsthaft, wir sollten das Wahlrecht,
das in der Tat kompliziert ist - nicht nur der Paragraf,
den Herr Beck vorgelesen hat, ist kompliziert; das gilt
auch für viele andere Paragrafen im geltenden Recht -,
beibehalten. Es verbindet Elemente des Verhältniswahlrechts mit dem Mehrheitswahlrecht. Das betrifft den direkt gewählten Abgeordneten. Wir Bayern sind stolz darauf, in Bayern alle Wahlkreise gewonnen zu haben. Von
den Grünen nickt mir nur einer zu, und zwar Herr
Ströbele. Auch ihm ist es gelungen, einen Wahlkreis direkt zu gewinnen. Wir wissen, was das heißt, und sind
stolz darauf. Das muss so bleiben.
Wir haben aber auch ein Verhältniswahlrecht.
({5})
Das Verhältniswahlrecht führt dazu, dass in allen Ländern nach dem Proporz ein Ausgleich zu den direkt gewählten Abgeordneten stattfindet. Das ist gut so. Wir
sollten dieses System beibehalten und nur minimalinvasiv das bizarre Ergebnis des negativen Stimmgewichts
beseitigen und ansonsten bei unserem bewährten Wahlrecht mit Überhangmandaten bleiben, Herr Oppermann.
({6})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Gabriele Fograscher
von der SPD-Fraktion, die auch schon am Rednerpult
steht.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Uhl muss Termine einhalten. Das ist auch gut
so. Es wäre aber auch gut gewesen, wenn diese Koalition
den Termin des Bundesverfassungsgerichts eingehalten
hätte.
({0})
Tatsache ist, dass wir uns ab morgen in einem rechtsfreien Raum befinden. Wir haben dann kein verfassungsmäßiges Wahlrecht mehr.
Wer geglaubt hat, dass Sie aufgrund der langen Zeit
für Beratungen einen besonders guten, die Probleme des
Wahlrechts lösenden und die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts erfüllenden Vorschlag vorgelegt haben,
({1})
der ist enttäuscht. Sie täuschen auch.
({2})
Der von Ihnen vorgelegte Vorschlag zielt nämlich
nicht darauf ab, das Wahlrecht transparenter und für die
Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbarer zu machen.
Ihr Vorschlag, liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU, dient der Absicherung Ihrer Überhangmandate und beinhaltet einen kleinen, aber merkwürdigen
Kompromiss zur Befriedung Ihres kleinen Koalitionspartners.
Jetzt, fast genau drei Jahre nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, erklärten Sie sich in der letzten
Ausschusssitzung bereit, unserem Antrag zu folgen und
eine Anhörung zum Wahlrecht im Innenausschuss
durchzuführen. Diese findet in der ersten Sitzungswoche
nach der Sommerpause statt. Das alles hätten wir schon
viel früher haben können bzw. viel früher haben müssen.
({3})
All Ihren verbalen Beteuerungen in der letzten Debatte
zum Trotz haben Sie keinen breiten Konsens im Hause
gesucht, obwohl dies beim Wahlrecht immer gute Tradition war. Sie haben keine Berichterstattergespräche unter
Hinzuziehung von Sachverständigen organisiert. Unsere
Gesprächsangebote haben Sie abgelehnt.
Was passiert jetzt? Sie wollen mit Ihrer Mehrheit eine
Wahlrechtsänderung zu Ihrem eigenen Vorteil durchsetzen. Dazu werfen Sie in Ihrem Vorschlag neue verfassungsrechtliche Fragen auf. Bei der Bundestagwahl
wählt das unitarische Bundesvolk. Dieses Prinzip brechen Sie auf, da Sie Länder zu getrennten Wahlgebieten
machen wollen. Die Verrechnung der Reststimmen erfolgt wiederum bundesweit über Zusatzmandate. Wir bestreiten, dass Ihr Vorschlag das negative Stimmgewicht
restlos beseitigt. Ihr Vorschlag fördert weiterhin das Entstehen von Überhangmandaten und das Stimmensplitting. Dies widerspricht der Gleichheit des Erfolgswerts
jeder Stimme.
In dieser Wahlperiode machen Ihre 24 Überhangmandate 4 Prozent der Mitglieder des Bundestages aus; das
ist fast Fraktionsstärke. Damit entspricht Ihr Anteil an
Zweitstimmen nicht Ihrem Anteil an Mandaten. Die
Mehrheitsverhältnisse werden verzerrt. Die Überhangmandate führen auch zu einer regionalen Ungleichverteilung der Mandate. Die CDU in Baden-Württemberg hat
zehn Überhangmandate und damit mehr Gewicht im
Bundestag, als ihr nach Zweitstimmen zusteht. Zudem
brauchte die CDU 6 500 Stimmen weniger als die SPD,
um ein Mandat bei der letzten Bundestagswahl zu erringen. Das widerspricht dem Prinzip der Gleichheit der
Stimme. Bei einem anzunehmenden Anwachsen der
Überhangmandate wird sich dieses Problem noch verschärfen.
Diese Fragen werden wir in der Sachverständigenanhörung erörtern müssen. Dann werden auch Sie feststellen, dass Ihr Gesetzentwurf nicht taugt, um den Auflagen
des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden und
den Geboten von Transparenz und Gleichheit der Stimme
nachzukommen. Die Anhörung wird zeigen, dass Ihr Vorschlag ein misslungener Versuch ist, die Probleme unseres Wahlrechts zu lösen. Ihr Vorschlag macht das Wahlrecht nicht transparenter und nicht nachvollziehbarer für
die Bürgerinnen und Bürger. Er verletzt den Grundsatz
der Gleichheit der Stimme. Er konterkariert das Prinzip
der unitarischen Bundestagswahl. Er schafft das Problem
des negativen Stimmgewichts nicht ab. Er löst nicht die
Frage der Überhangmandate.
({4})
Die Süddeutsche Zeitung vom 27. Juni nennt Ihren
Vorschlag „selbstsüchtige Wahlrechtsreform“. Ich fordere Sie auf: Geben Sie diesen Vorschlag auf, und bemühen Sie sich endlich ernsthaft um eine breite Akzeptanz
der Wahlrechtsreform.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/6290 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische
Mindestlöhne erleichtern
- Drucksache 17/4437 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Beate Müller-Gemmeke von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bundeskanzlerin Merkel hat kürzlich
bei der ILO-Konferenz in Genf die deutsche Sozialpartnerschaft gelobt, und auch Sie, die Regierungsfraktionen, verweisen bei vielen Debatten immer auf die Tarifautonomie.
Auch wir Grünen stehen zur Tarifautonomie, und gerade deswegen schauen wir genau hin: Realität ist, dass
die Tarifautonomie immer weniger funktioniert. Arbeitgeber wechseln in OT-Mitgliedschaften oder begehen
gleich ganz Tarifflucht. In der Folge nimmt die Tarifbindung kontinuierlich ab. Heute sind nur noch circa
62 Prozent der Beschäftigten durch tarifliche Vereinbarungen geschützt. Das schwächt die Tarifpartner und
auch die Tarifautonomie; das ist nicht akzeptabel.
({0})
Natürlich hat dies auch Auswirkungen auf die Lohnentwicklung. Der neue Global Wage Report der ILO
zeigt: Im weltweiten Vergleich von 26 entwickelten Ländern liegt Deutschland bei der Reallohnentwicklung in
den letzten zehn Jahren mit minus 4,5 Prozent an letzter
Stelle.
({1})
Die Löhne orientieren sich nicht mehr angemessen an der
Produktivitätsentwicklung. Der Trend hin zu den Niedriglöhnen ist ungebrochen. Durch die sinkende Tarifbindung fehlt zudem in manchen Branchen zuungunsten der
kleinen und mittleren tariftreuen Betriebe ein einheitlicher Wettbewerbsrahmen. Diese Entwicklung sehen wir
mit großer Sorge; wir meinen, dass sie endlich gestoppt
werden muss.
({2})
Andere europäische Länder stützen die Tarifautonomie politisch mit einem System aus Mindestlöhnen und
vor allem mit für allgemeinverbindlich erklärten Tariflöhnen. In Deutschland hingegen gibt es kaum Mindestlöhne, und vor allem sind gerade einmal 1,5 Prozent der
Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt.
({3})
Damit bewegt sich Deutschland auf Augenhöhe mit den
osteuropäischen Ländern,
({4})
und das kann ich nur als peinlich bezeichnen.
({5})
Beim DGB-Kongress im letzten Jahr hat Frau Merkel
die weißen Flächen bei der Tarifautonomie kritisiert,
aber seither ist wenig passiert. Wir wollen aber die Sozialpartner stärken. Im Tarifvertragsgesetz wollen wir
das Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung von
Tarifverträgen erleichtern und die zu hohen Hürden abbauen. Der Tarifausschuss soll beispielsweise temporär
um die Tarifparteien derjenigen Branchen erweitert werden,
({6})
in denen ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Einseitige Blockaden der Spitzenverbände sind damit nicht mehr möglich; die antragstellenden Tarifparteien hingegen werden gestärkt.
Die Tarifflucht der Arbeitgeber führt auch dazu, dass
immer weniger Branchen Anträge stellen können. Deshalb wollen wir auch die geforderte Tarifbindung von
50 auf 40 Prozent senken.
Schlussendlich bleiben wir bei unserer alten Forderung, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz für alle
Branchen geöffnet wird. Die Tarifpartner sollen ganz im
Sinne der Tarifautonomie selber entscheiden, ob in ihren
Branchen Mindestlöhne notwendig sind oder eben nicht.
({7})
Mittlerweile höre ich auch aus der Regierungskoalition eine gewisse Bereitschaft zum Umdenken. Arbeitsministerin von der Leyen oder auch Peter Weiß sprechen
sich für Branchenmindestlöhne aus. Selbst aus der FDP
waren Stimmen zu hören, die sich positiv zu Mindestlöhnen geäußert haben. Das freut mich natürlich.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen: Wenn es Ihnen mit der Tarifautonomie ernst ist, dann verfallen Sie bitte nicht in den üblichen
Reflex, unsere Forderungen kategorisch abzulehnen.
({8})
Führen Sie mit uns, Herr Lehrieder, konstruktive Diskussionen in den Gremien. Unser Ziel ist, dass die tariftreuen Arbeitgeber und die Gewerkschaften weiter die
Löhne und die Arbeitsbedingungen aushandeln.
Notwendig aber sind politische Rahmenbedingungen,
um die Tarifpartner zu stärken, damit die Tarifautonomie
wieder funktioniert und möglichst alle Beschäftigten davon profitieren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Kollegin Müller-Gemmeke,
heute debattieren wir über Ihren Antrag „Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und
branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern“. Wir haben zu diesem Thema - alle Arbeitsmarktpolitiker hier
wissen das - in der letzten Zeit bereits zahlreiche Diskussionen geführt; eigentlich ist dazu schon sehr viel gesagt worden.
Gleichwohl verdient es Ihr Antrag, dass man einmal
genauer hinschaut.
({0})
Sie haben gerade mit Krokodilstränen in den Augen ausgeführt, Frau Müller-Gemmeke, dass der Trend zu Niedriglöhnen nach Ihrer Ansicht ungebrochen sei. In Ihrem
Antrag schreiben Sie:
Deutschlandweit arbeiteten im Jahr 2008 bereits
21,5 Prozent … der Beschäftigten im Niedriglohnbereich …
Wenn man jetzt aber tatsächlich einmal die statistischen
Zahlen hinterfragt und schaut, woher die 21,5 Prozent
kommen, dann stellt man fest, dass dies keine drastische
Steigerung beispielsweise im Verhältnis zu 1999 ist. Im
Jahr 1999 waren 19,0 Prozent der Menschen im Geringverdienerbereich. Das heißt also, den freien Fall nach
unten in den Niedriglohnbereich hat es nicht gegeben.
Natürlich ist es richtig, dass in Branchen, in denen
eine bestimmte Tarifbindung vorhanden ist und in denen
Verwerfungen da sind,
({1})
branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt werden
können. Wenn Sie das Beispiel der letzten Wochen einfach sine ira et studio, also gelassen, auf sich wirken lassen,
({2})
dann werden Sie merken, dass wir es sogar geschafft haben, in der Zeitarbeit einen Mindestlohn einzuführen.
Das hätten uns vor wenigen Jahren die Grünen am allerwenigsten zugetraut. Das heißt, bei dieser christlich-liberalen Koalition sind die Sorgen der Arbeitnehmer um die
Tarifvertragsfreiheit besser als bei mancher anderen
Gruppierung in diesem Hause aufgehoben.
({3})
Sie haben des Weiteren ausgeführt, die Grünen stehen
zur Tarifautonomie. Richtig ist, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass die Festsetzung von Mindestlöhnen für
weitere Branchen auf Basis des Tarifvertragsgesetzes,
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes Sinn macht und die Tarifautonomie stärkt. Sie haben ja bereits selbst ausgeführt:
62 Prozent der Arbeitnehmer sind von Tarifverträgen
umfasst. Gleichzeitig führen Sie aus, dass wir im Vergleich mit allen EU-Staaten im Bereich des Tarifbindungsgrades lediglich im Mittelfeld und im Vergleich
mit den ursprünglichen EU-Staaten sogar ganz unten
sind. Als Beispiele für Länder, die noch schlechter als
wir sind, nennen Sie Großbritannien und Luxemburg.
Das sind genau die Länder, die einen relativ hohen gesetzlichen Mindestlohn bereits haben. Das heißt, ein Zusammenhang zwischen geringer Entlohnung und Mindestlöhnen, den Sie immer wieder herstellen wollen, ist
gerade durch Ihre eigene Argumentation nicht gegeben,
sondern längst widerlegt.
Meine Damen und Herren, was wollen Sie eigentlich?
({4})
Sie wollen die erforderliche Mindesttarifbindung auf unter 50 Prozent ansetzen. Da müssten doch eigentlich alle
Glocken läuten: Eine Minderheit bestimmt über eine
Mehrheit, wenn hier weniger als 50 Prozent mit Tarifbindung über die Vertragsbedingungen für die Mehrheit
der Arbeitnehmer entscheiden können. Das werden Sie
doch nicht ernsthaft mit dem Demokratieprinzip in Verbindung bringen wollen.
({5})
- Lassen Sie es; ich muss nachher meine Frau abholen.
Das passt mir gerade nicht.
({6})
Herr Kollege Lehrieder, Frau Müller-Gemmeke
würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich habe mir vorgenommen, keine Zwischenfragen
zuzulassen. Aber weil Frau Müller-Gemmeke so nett ist
und es vielleicht ihrer Wissensmehrung dienen könnte,
lasse ich die Frage natürlich zu.
Bitte.
Herr Kollege Lehrieder, vielen Dank, dass ich Sie etwas fragen darf. Sie haben gerade gesagt, dass es nicht
geht, dass eine Mehrheit von einer Minderheit bestimmt
wird usw. Demokratie hat ja auch etwas mit Fairness zu
tun. Von daher frage ich Sie, ob Sie finden, dass es fair
ist, dass die Arbeitgeber, die Tarifflucht begehen, im
Endeffekt dafür verantwortlich sind, dass es für diejenigen, die die Tarifautonomie hochhalten und Tariftreue
zeigen, keine allgemeinverbindlich erklärten Tariflöhne
mehr gibt. Halten Sie es für fair, dass gerade diejenigen,
die die Tarifautonomie unterlaufen, im Endeffekt dafür
sorgen, dass die Quote der Tarifbindung, die notwendig
ist, um den Antrag zu stellen, nicht mehr erreicht werden
kann?
Meine zweite Frage ist: Was wollen Sie dafür tun,
dass genau dies nicht mehr der Fall ist und dass die Verordnung, die möglich ist, wirklich angewandt werden
kann?
Schauen Sie, Frau Müller-Gemmeke, wir haben im
Grundgesetz einen Grundrechtekatalog. Da steht unter
anderem als ein hohes Gut die Vereinigungsfreiheit, also
die Freiheit, eine Vereinigung zu gründen, aber auch die
Freiheit, einer Vereinigung fernzubleiben.
({0})
Das gilt für Sie, das gilt für Parteien, das gilt für Vereine,
und das gilt genauso für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Das heißt, wir können niemanden zwingen, einer bestimmten Vereinigung beizutreten oder ihr nicht beizutreten. Mit dirigistischen Maßnahmen haben wir eigentlich wenig am Hut. Das ist nicht unser Stil.
({1})
- Ja, wir halten uns selbstverständlich ans Grundgesetz,
und wir halten eine entsprechende wirtschaftliche Entwicklung und eine Steigerung des Marktwertes der Arbeitnehmer für das probatere Mittel. Letztendlich müssen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände etc. bessere
und faire Konditionen für das Arbeitsverhältnis aushandeln. Das ist besser, als wenn wir es par ordre du mufti
über den Bundestag regeln.
({2})
Wir werden im Endeffekt niemanden zwingen. Wir
werden schauen, wo Verwerfungen sind. Ich verweise in
diesem Zusammenhang auf das, was wir vor wenigen
Wochen bei der Zeitarbeit gemacht haben; ich könnte
das entsprechende Beispiel erneut anführen. Da, wo wir
Handlungsbedarf sehen, werden wir handeln.
Sie selbst outen sich hier ein Stück weit, wenn Sie auf
Seite 2 Ihres Antrages ausführen; ich darf mit Erlaubnis
des Herrn Präsidenten zitieren. Frau Müller-Gemmeke,
bleiben Sie bitte stehen; ich bin noch bei der Antwort;
das verlängert meine Redezeit; Sie wollen doch wissen,
was wir machen.
({3})
- Doch, ich antworte noch. Ich schaue Sie doch an. Ich
habe nur einmal einen Blick auf meinen Zettel geworfen.
Herr Kollege Lehrieder, die Fragen und die Antworten sollen kurz und präzise sein.
({0})
Ja, aber es ist manchmal erforderlich, dass diese Antworten etwas länger dauern.
Frau Müller-Gemmeke, Sie führen in Ihrem Antrag
aus:
„Arbeit muss sich lohnen“ - dieser zentrale Leitsatz
der Bundesregierung bestimmte die Sozialstaatsdiskussion der vergangenen Monate. … Nicht durch
Steuersenkungen wird sich Arbeit wieder lohnen,
sondern durch verbindliche Lohnuntergrenzen. Neben der Stärkung des Tarifvertragssystems bleiben
ein gesetzlicher Mindestlohn und ebenso Mindestlöhne nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz
für Branchen ohne funktionierende Tarifautonomie
nach wie vor absolut notwendig.
Das heißt, Sie outen sich. Sie sagen: Wir wollen eigentlich nicht die Tarifautonomie stärken, wir wollen
den gesetzlichen Mindestlohn. Das ist eine Forderung,
die wir von Ihnen seit Jahr und Tag kennen. Sie ist also
nicht völlig neu.
Jetzt wird es lustig:
Das BMAS kann somit Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären, wenn 40 Prozent der Beschäftigten der Branche unter den Geltungsbereich des
für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrages fallen und eine Allgemeinverbindlichkeit
von öffentlichem Interesse ist.
Dann wird es noch lustiger:
Ein öffentliches Interesse liegt vor, wenn die Einführung gleichartiger, dauerhafter und angemessener sozialer Arbeitsbedingungen in einer Branche
als notwendig erachtet wird,
- wer erachtet es als notwendig: die Grünen, der Bundestag, die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften? unlauterer Wettbewerb verhindert werden muss
oder das Tarifgefüge einer Branche erheblich erschüttert ist, weil die Tarifbindung auf ein
- wieder ein unbestimmter Rechtsbegriff sozial unverträgliches Niveau abgesunken ist.
Bei den verschiedenen Komponenten ist es natürlich
schwierig, zu begreifen, was Sie wann wo wollen.
Wir halten unseren Weg für richtig. Wir passen auf,
dass es keine Verwerfungen gibt. Wir werden auf Antrag
von über 50 Prozent der Tarifvertragsparteien Mindestarbeitsbedingungen festlegen bzw. über die Aufnahme
ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz Mindestlöhne in den
einzelnen Branchen individuell festsetzen. Damit hatten
wir Erfolg. Denken Sie an die Pflegebranche, an das
Wachgewerbe oder an die Zeitarbeit. Wir werden in dieser Sache weiterhin die richtigen Anwälte der Arbeitnehmer in Deutschland sein. Arbeiten Sie daran mit! Wir
bleiben in einem konstruktiven Dialog, Frau MüllerGemmeke. Dieser Antrag ist natürlich ablehnungsreif.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ottmar Schreiner von
der SPD-Fraktion.
({0})
Was ist los? Er ruft schon dazwischen, bevor man hier
überhaupt begonnen hat.
({0})
- Sie bekommen das ganz bestimmt. Sie können eine
Verlängerung Ihrer Redezeit beantragen. Das würde sich
wahrscheinlich lohnen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
zunächst einmal an den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen anknüpfen, den wir ohne Einschränkung unterstützen.
({1})
Ich habe bisher kein einziges ernsthaftes Argument gehört - auch nicht vom Vorredner, von Herrn Kollegen
Lehrieder -, das wirklich gegen diesen Antrag spricht.
Frau Müller-Gemmeke hat zu Beginn aus dem jüngsten Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation zitiert. Vor wenigen Tagen war eine Delegation des Deutschen Bundestages in Genf. Übrigens war auch Frau
Merkel in Genf, wenn ich es richtig gelesen habe. Die
Internationale Arbeitsorganisation kritisiert in diesem
Bericht - er ist erst einige Tage alt; er ist noch druckfrisch - massiv die Arbeitsmarktsituation in Deutschland, mit dem Hinweis - die Zahlen sind genannt worden -, dass wir in den Jahren 2000 bis 2009 ein reales
Minus beim Durchschnittseinkommen aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 4,5 Prozent zu verzeichnen hatten. Kein anderes Land in der Europäischen
Union hat eine auch nur annähernd vergleichbare negative Entwicklung bezüglich der Arbeitnehmereinkommen.
({2})
Diese Situation ist schon deshalb nicht hinnehmbar,
weil sie dazu führt, dass die Politikverdrossenheit bei
vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steigt,
weil sie das Gefühl bekommen, sie nähmen am Zuwachs
des gesellschaftlichen Wohlstands nicht mehr teil.
({3})
Genau das geht nicht. Das ist der Kern der ganzen Auseinandersetzung.
Lesen Sie Ludwig Erhard, lesen Sie andere aus Ihren
Reihen - leider Gottes lesen Sie nur Personen aus Ihren
Reihen; das ist das Problem -: Man hat immer wieder
darauf hingewiesen, dass die Arbeitnehmereinkommen
entlang der steigenden Arbeitsproduktivität steigen sollen.
({4})
Wenn das so gewesen wäre, hätten wir in den letzten
zehn, zwölf Jahren einen erheblich größeren Zuwachs
der Arbeitnehmereinkommen haben müssen, als wir ihn
tatsächlich gehabt haben. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind systematisch von der Entwicklung des
gesellschaftlichen Wohlstands abgekoppelt worden.
Nochmals: Das ist der zentrale Punkt.
Das führt zu Lohnarmut. Das führt dazu, dass der
Staat und damit der Steuerzahler inzwischen jedes Jahr
10 Milliarden Euro bereitstellen muss, um die Einkommen auf Hartz-IV-Niveau aufzustocken, damit die Leute
überhaupt leben können. Wo lohnt sich Arbeit für diese
Menschen? Wenn Sie sagen: „Arbeit muss sich wieder
lohnen“, dann frage ich Sie: Wo lohnt sich die Arbeit für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, ihren Job ordentlich machen
({5})
und anschließend bei den Sozialämtern vorstellig werden müssen, damit ihnen noch etwas draufgepackt wird,
damit sie überhaupt über die Runden kommen? Deren
Arbeit lohnt sich nicht! Das ist das zentrale Problem.
Deshalb brauchen wir hierfür vernünftige Lösungen.
({6})
Im Übrigen: Diese Entwicklung ist natürlich die Vorstufe zur kommenden Altersarmut. Je weniger die Leute
an Einkommen mit nach Hause bringen, umso stärker
werden sie später von Altersarmut betroffen werden. Das
heißt, wenn Sie nichts tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dann werden Sie systematisch das
Auseinanderbrechen dieser Gesellschaft befördern. Das
ist der Kern des Vorhalts: Die Gesellschaft zerfällt immer weiter in diejenigen, die gar nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Wohlstand, und die wachsende Zahl derjenigen, die nicht mehr wissen, wie sie die Butter für das
Brot ihrer Kinder bezahlen sollen. Das ist eine nicht
mehr hinnehmbare Spaltung der Gesellschaft. Sie sollten
mit dazu beitragen, dass wir diese enorme Kluft wieder
kleiner machen, als sie gegenwärtig ist. Das ist eine ganz
zentrale Politikaufgabe.
({7})
Im Übrigen kritisiert die Internationale Arbeitsorganisation diese Situation in Deutschland ausdrücklich. Sie
sagt: Die Kehrseite der guten Beschäftigungsentwicklung ist genau diese wachsende Spaltung, was die Einkommenssituation im Lande anbelangt. Sie nennt auch
die Gründe. Zum einen ist das die Ausweitung des Niedriglohnsektors; ich zitiere die Internationale Arbeitsorganisation in Genf. Sie benennt als zweiten Grund die
wachsende Anzahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse, zeitlich befristeter Arbeit, von 400-Euro-Jobs. Es
gibt jede Menge Leute, die einen 400-Euro-Job haben
mit einem Stundenlohn von 2 Euro, 2,50 Euro, 3 Euro.
Das ist eine bodenlose Sauerei, die abgeschafft werden
muss. Das kann man nicht mehr weiter hinnehmen.
({8})
Die ILO weist ausdrücklich darauf hin, dass die prekär Beschäftigten in Deutschland im Durchschnitt mindestens ein Drittel weniger Einkommen erzielen als
sogenannte normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist ebenfalls eine Entwicklung, die nicht mehr
akzeptabel ist.
Ein dritter Grund für diese Entwicklung ist die sogenannte negative Lohndrift; so nennen das die Fachleute.
Das heißt nichts anderes, als dass die Bruttoverdienste
hinter den Tariflöhnen zurückbleiben. Wenn immer weniger Beschäftigte Tariflöhne erhalten, wird sich das natürlich in Form sinkender Durchschnittseinkommen auswirken, weil die Bruttolöhne derjenigen, die nicht in
tarifgebundener Beschäftigung sind, deutlich hinter den
Tariflöhnen hinterherhinken und den Gesamtdurchschnitt nach unten ziehen. Das wird wiederum Auswirkungen negativer Art auf die Situation der tariflich Beschäftigten haben.
({9})
Die Frau Kollegin Müller-Gemmeke hat auf die Zahlen hingewiesen, darauf, dass wir noch vor etlichen Jahren über 80 Prozent Tarifbindung hatten; heute sind es
gerade mal noch 60 Prozent. Die Tendenz geht weiter
nach unten.
Deshalb ist auch die Politik gefordert. Das ist nicht
nur eine Angelegenheit der Tarifparteien. Wir haben den
Rahmen dafür zu schaffen, dass die Tarifbindung wieder
stabilisiert wird und mehr Menschen in den Genuss tariflich abgesicherter geschützter Beschäftigung kommen.
({10})
Das ist eine Kernaufgabe der Politik. Die Instrumente dazu
sind von Frau Müller-Gemmeke benannt worden. Das sind
Instrumente, die wir auch in anderen Zusammenhängen im
Deutschen Bundestag mehrfach vorgetragen haben. Das
gilt für die Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen im Bereich des Tarifvertragsgesetzes. Wenn
die Zahlen richtig sind - es gibt keinen Zweifel, dass sie
richtig sind -, wonach gerade noch 1,5 Prozent der Tarifverträge - ich glaube, es gibt über 70 000 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, dann ist das ein
Hohn. Das hat nichts mehr mit einem verantwortungsbewussten Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu tun.
Sie wissen, dass im wachsenden Maße Arbeitgeber,
gerade auch die großen, ihre Organisationen verlassen
und dadurch mit die Ursache dafür liefern, dass die tarifgeschützte Beschäftigung insgesamt sinkt.
Die Instrumente liegen auf der Hand; sie sind vorgeschlagen worden. Deshalb glaube ich, dass Sie sich diesen Überlegungen anschließen sollten. - Herr Präsident,
da bemüht sich der Kollege Weiß verzweifelt, eine Zwischenfrage anzubringen.
Ich will Ihnen natürlich die Gelegenheit geben, Herr
Kollege Weiß. - Sie erlauben die Zwischenfrage? - Bitte
schön, Herr Kollege Weiß.
Herr Kollege Schreiner, nachdem Sie die Verantwortung der Politik - sprich: auch der Bundesregierung einklagen, möchte ich von Ihnen eine kurze Information
bekommen. Es hat ja nicht immer nur christdemokratische Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler gegeben,
({0})
sondern es hat sieben Jahre lang eine Bundesregierung
unter Führung des Sozialdemokraten Gerhard Schröder
gegeben. Könnten Sie mir sagen, wie viele Tarifverträge
während der Amtszeit von Bundeskanzler Gerhard
Schröder durch die Bundesregierung für allgemeinverbindlich nach dem Tarifvertragsgesetz erklärt worden
sind?
Nach meiner Kenntnis nicht allzu viele.
({0})
Die Zahl bewegt sich in äußerst bescheidenen Größenordnungen.
({1})
Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wir
können uns gelegentlich auch sehr kritisch zu dem äußern, was wir selbst gemacht haben. Da, wo wir etwas
falsch gemacht haben, sind wir gerne bereit, das zu korrigieren.
({2})
Das ist einer der wesentlichen Unterschiede zu Ihnen.
Herr Kollege Weiß, Sie sind doch ein aufrechter
Christdemokrat.
({3})
- Nein, ich bin jetzt noch nicht fertig. Wenn Sie schon
eine Frage stellen, sollen Sie auch eine Antwort bekommen. - Sie sind doch ein aufrechter Christdemokrat. Die
Betonung liegt auf „Christ“, sie liegt aber auch auf „Demokrat“. Sie kennen doch den berühmten Satz - jetzt
weiß ich die Fundstelle in der Bibel nicht -, dass derjenige, der zum wahren Bekenntnis findet, dem Herrn
wichtiger ist als 99 Gerechte. Die Formulierung lautet
etwas anders.
({4})
- Ich sehe, dass die FDP sogar die Fundstelle kennt. Das
ist der verlorene Sohn. - Insoweit ist es durchaus christlich, sich zu Fehlentwicklungen zu bekennen, sie zu korrigieren und für die Zukunft daraus zu lernen.
({5})
Das ist eine durchaus christliche Tugend; das sollten Sie
sich aneignen.
Zum Schluss will ich Ihnen sagen: Das Tarifsystem in
Deutschland hat sich über viele Jahre und Jahrzehnte bewährt. Es ist ein Instrument des fairen Interessenausgleichs zwischen den Interessen der Arbeitnehmerschaft
und denen der Arbeitgeberschaft. Dieses Instrument des
fairen Interessenausgleichs ist in etlichen Bereichen notleidend geworden. Deshalb müssen wir dazu beitragen
- das ist die originäre Aufgabe der Politik -, dass das Tarifsystem wieder zu einem echten Instrument des Interessenausgleichs wird, dass sich Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer auf der einen Seite und Arbeitgeber auf
der anderen Seite im Tarifsystem wieder auf Augenhöhe
begegnen und für ihre jeweiligen Interessen streiten können.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schreiner, meine Aufgabe ist es, Sie immer an Ihre
Vergangenheit zu erinnern. Wenn Sie sich mit der Lohnhöhe und der Lohnentwicklung in Deutschland beschäftigen, muss ich nochmals darauf hinweisen: Die Idee, in
Deutschland einen Niedriglohnsektor zu schaffen, kam
von der SPD im Zusammenhang mit der Agenda 2010.
Jetzt weiß ich, dass Sie damals zwar in der Regierung,
aber trotzdem in der Opposition waren, das heißt, dass
Sie Bundeskanzler Schröder bekämpft haben und nicht
alles richtig fanden, was er wollte. Aber dieser Sachverhalt bleibt mit der SPD verbunden.
Wenn Sie sich Statistiken anschauen, die Durchschnittswerte abbilden, dann sehen Sie: Die Schaffung
eines Niedriglohnsektors in Deutschland führt genau zu
diesem statistischen Phänomen, das ich Ihnen gerade
vorgehalten habe. - Natürlich dürfen Sie eine Zwischenfrage stellen.
Sie erlauben es. - Herr Schreiner, bitte schön. Die
Zwischenfrage ist erlaubt.
Herr Kollege Kolb, da Sie darauf hinweisen oder jedenfalls behaupten - sagen wir einmal so -, der Niedriglohnsektor sei eine Erfindung von Rot-Grün, würde ich
Sie darum bitten - die Frage kommt anschließend -, zur
Kenntnis zu nehmen, dass in dem von mir mehrfach zitierten Bericht der ILO darauf hingewiesen wird - ich
sage Ihnen jetzt die Zahlen -, dass der Bereich der prekär Beschäftigten in der Regel im Niedriglohnsektor angesiedelt ist; ganz gleich, ob es sich um Zeitbefristungen, 400-Euro-Jobs oder Leiharbeitnehmerinnen und
Leiharbeitnehmer handelt. Nach den Daten der ILO von
vor wenigen Wochen waren im Jahre 1998 5,2 Millionen
Beschäftigte in Deutschland in prekärer Beschäftigung,
und heute sind es 7,2 Millionen. Das heißt, wir haben einen Zuwachs von 2 Millionen; er ist konzediert. Übrigens waren zwischenzeitlich andere Regierungen am
Werk. Sie können nicht bestreiten, dass es schon vor
Rot-Grün einen enormen Block an prekärer Beschäftigung in Deutschland gab, nämlich - ich sage es noch
einmal - über 5 Millionen prekär Beschäftigte. Deshalb
macht es überhaupt keinen Sinn, was Sie schon seit Monaten systematisch betreiben: Sie führen eine nach hinten gerichtete Schuldzuweisungsdebatte, anstatt die Situation zu analysieren und zu sagen: Das läuft gut in
Deutschland, das weniger gut. - Sie sollten nicht ständig
nach hinten blicken, sondern Antworten auf die Frage
finden: Wie können wir etwas besser machen?
({0})
Herr Schreiner, ich will natürlich gern Ihre Frage beantworten; aber ich muss vorausschicken: Es wird mit
dem, was Sie jetzt gefragt haben, nicht besser für Sie.
({0})
Auch die von Ihnen genannten Voraussetzungen für prekäre Beschäftigung - Zeitarbeit, Teilzeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse - sind im Rahmen der Agenda 2010, mit den Gesetzen für moderne Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt, verändert worden.
({1})
Wenn Sie sich darüber beklagen, dass es bis heute - das
muss man sagen - einen deutlichen Zuwachs an Zeitarbeit gegeben hat, muss man entgegnen: Das ist der Effekt Ihrer Reformen in Ihrer Regierungszeit. Wir haben
den Bereich bisher überhaupt nicht angepackt. Sie be13504
schweren sich darüber, dass es mehr Teilzeit und Befristung gebe; aber Ihre Beschwerde berücksichtigt nicht,
dass die Änderungen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes von Ihnen stammen.
({2})
Da kommen Sie definitiv nicht raus.
({3})
Ich habe Ihnen deswegen am Mittwoch gesagt - ich
sage es Ihnen heute wieder -: Man muss immer wissen,
woher man kommt, damit man weiß, wohin man in Zukunft will; das vermisse ich bei Ihnen immer. Sie sind
seit 30 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages und
tun immer so, als hätten Sie mit all dem, was hier in den
letzten 30 Jahren passiert ist, überhaupt nichts zu tun,
insbesondere auch nicht mit dem, was in Zeiten der
SPD-Regierung passiert ist.
({4})
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Schreiner,
der zweite Punkt, auf den ich hinweisen will: Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, und zwar aus gutem Grund - er ist
hier schon genannt worden -: wegen der negativen Koalitionsfreiheit. Man hat das Recht, einem Tarifvertrag
nicht beizutreten. Ich muss sagen: Trotzdem ist mir nicht
bekannt, dass es zu massiven Problemen gekommen
wäre.
Frau Müller-Gemmeke, weil Sie den Antrag vorgelegt haben, sage ich an Ihre Adresse: Ich wüsste nicht,
dass in großer Zahl Anträge nach TVG gestellt worden
wären, die nicht zum Zuge gekommen sind.
({5})
Sie wollen hier ein Scheinproblem lösen, auch weil Sie
sich teilweise nicht richtig informiert haben. So heißt es
in Ihrem Antrag: Es soll künftig auf „die im Koalitionsvertrag … vereinbarte Zustimmung des Kabinetts“ zur
Allgemeinverbindlicherklärung nach Tarifvertragsgesetz
verzichtet werden. Eine solche Vereinbarung haben wir
nicht; da gibt es keine Absprache. Wir haben eine Absprache zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz, die aber den
kompletten Bereich des TVG nicht berührt und folglich
in dem Bereich nicht restriktiv wirken kann.
Ich bin strikt gegen Ihre Forderung, den Prozentsatz
der Beschäftigten, die in den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen müssen, damit die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach TVG erfolgen
kann - das ist eine Voraussetzung -, von 50 auf 40 Prozent zu reduzieren. Das ist undemokratisch. Ich glaube,
dass eine Mindestbindung gegeben sein muss. Ihre Logik ist: Je geringer die Tarifbindung, desto größer ist das
Interesse, eine AVE zu erhalten.
({6})
Wenn man sich das sozusagen in der Grenzbildung vor
Augen führt, erkennt man doch: Das ist absolut unsinnig.
Im Übrigen wird es auch nicht dazu führen, dass die
Tarifautonomie gestärkt wird. Stellen Sie sich das vor:
Wenn ich als Arbeitgeber das Ergebnis des Tarifvertrages durch die AVE sozusagen kostenlos bekommen
kann, warum soll ich dann überhaupt noch Mitglied eines Arbeitgeberverbandes werden?
({7})
- Nein, so ist die Logik doch. Im Ergebnis würde es jedenfalls auf der Arbeitgeberseite einen sinkenden Organisationsgrad geben. Deswegen geht das, was Sie hier
vorlegen, in die vollkommen falsche Richtung, sowohl
in Bezug auf den Regelungsbereich des Tarifvertragsgesetzes, TVG, als auch in Bezug auf den Regelungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes.
Herr Schreiner, weil es notwendig ist, kein Gesetz zu
machen, wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen
- das gilt analog für Anträge -, ist Ihr Antrag, Frau
Müller-Gemmeke, konsequenterweise abzulehnen. Genau das werden wir tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen
und Herren! „Tarifvertragssystem stärken - Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifische Mindestlöhne erleichtern“; wieso müssen wir eigentlich darüber reden?
({0})
Was für eine Situation haben wir mittlerweile in unserem
Land, dass ein solcher Antrag notwendig ist? Wir sind
als Beste aus der Krise herausgekommen.
({1})
- Frau Connemann, Sie können gleich reden.
({2})
Die Bundesregierung, mit Frau Merkel an der Spitze,
ist voller Lob für die Sozialpartnerschaft. Hand in Hand
mit den Gewerkschaften haben wir die Krise überwunden - das hat Frau Merkel zuletzt auf der Konferenz der
ILO in Genf gesagt; das ist schon erwähnt worden. Toll,
oder?
({3})
Vielleicht stimmt daran irgendetwas nicht. Meine Kollegen von CDU/CSU und FDP singen ständig LobeshymJutta Krellmann
nen auf die Tarifautonomie, aber wehren sich mit Händen und Füßen gegen Regeln für alle, die zu schaffen
wären. Jede Aufforderung, die Erosionsprozesse bei den
Entgelten zu stoppen, wird ignoriert. Deutschland ist
nicht nur Weltmeister im Export, Deutschland ist auch
Weltmeister bei Dumpinglöhnen in Europa geworden.
({4})
Ein paar Eckpunkte: Über 20 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnbereich. Sie verdienen weniger als 9,85 Euro pro Stunde. Tätigkeiten im Niedriglohnbereich werden überwiegend von weiblichen Beschäftigten ausgeübt. Die Tarifbindung in deutschen Unternehmen liegt im Westen bei 63 Prozent und - man
höre und staune - im Osten bei 50 Prozent, in beiden
Fällen mit sinkender Tendenz. Als Linke muss ich überhaupt nicht sagen, worauf ich das zurückführe. Im
Grunde genommen macht das immer Herr Kolb. Er ist
da eine Bank. Echt klasse!
({5})
Rot-Grün hat das eingeführt; aber Sie tun nichts, um das
zu ändern, obwohl Sie die Zahlen kennen.
({6})
Deutschland ist das einzige Land in ganz Europa, in
dem die Löhne real gesunken sind - auch das ist schon
mehrfach gesagt worden -, in den letzten zehn Jahren
um 4,5 Prozent. In der Industrie sind die Löhne durchschnittlich um 7,8 Prozent gestiegen, im Baubereich um
5,2 Prozent gesunken. Die größten Verluste entstanden
für Arbeitnehmer, für die keine Tarifverträge gelten, und
deswegen brauchen wir welche.
({7})
Das hat System. Die Tarifbindung wird nicht von Arbeitnehmern gekündigt, sondern von Arbeitgebern. Jeder
Arbeitgeberverband hat heute die Möglichkeit eröffnet,
dass Betriebe ohne Tarifbindung Mitglied werden können. Nicht die Beschäftigten betreiben Outsourcing, um
die Löhne zu drücken, sondern die Arbeitgeber.
({8})
Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat im Jahr 2000
die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ins Leben
gerufen. Die machen seit zehn Jahren nichts anderes, als
die Bürgerinnen und Bürger von der Notwendigkeit
marktwirtschaftlicher Reformen zu überzeugen und
marktliberale Gedanken in der Gesellschaft zu verankern. Gesamtmetall zahlt dafür 10 Millionen Euro pro
Jahr, und das schon seit zehn Jahren. Das ist Lobbyarbeit
im Arbeitgeberinteresse: 100 Millionen Euro gegen
Mindestlöhne und gegen verbindliche Regeln in Form
von Tarifverträgen und Gesetzen. Wer das weiß, kann
sich denken, wie schwer es für Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter ist, gegen diesen Lobbymainstream
anzukämpfen.
Der Antrag der Grünen ist gut und durchdacht. Die
Linke wird ihm zustimmen.
({9})
Als Linke sind wir dafür, den Abschluss allgemeinverbindlicher Tarifverträge zu erleichtern. Wir sind der
Meinung, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf
alle Branchen ausgeweitet wird, und wir wollen, dass die
Einführung von Mindestlöhnen in allen Branchen erleichtert wird.
An die Adresse der Regierungsfraktionen sage ich:
Denken Sie doch einmal darüber nach, und machen Sie
einfach einen Schritt nach vorn. Stimmen Sie dem Antrag zu, damit sich die Bedingungen für die Arbeitnehmer endlich verbessern.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer von
Ihnen erinnert sich eigentlich noch an seinen Politikoder Geschichtsunterricht? - Ein paar melden sich, wunderbar. - Art. 9 Grundgesetz: Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit. Von Ihnen hat sich niemand gemeldet. Das
ist auch sehr offensichtlich, meine Damen und Herren
von Bündnis 90/Die Grünen; denn die darin verankerte
Tarifautonomie wird bei Ihnen nur in Sonntagsreden und
-anträgen bemüht - mit dem vorliegenden Antrag einmal
mehr -, aber nur in den Überschriften. In der Überschrift
Ihres jetzt vorliegenden Antrages heißt es: „Tarifvertragssystem stärken“; aber Ihre Forderungen zielen im
Ergebnis auf das genaue Gegenteil, auf staatliche Lohnfestsetzung. Das eine hat mit dem anderen überhaupt
nichts zu tun. Tarifautonomie und staatliche Lohnfestsetzung stehen in einem absoluten Gegensatz zueinander.
Sie wollen diese staatliche Lohnfestsetzung von oben
herab, diese Tarifbindung, im Wege - das zitiere ich; ich
finde diese Formulierung bemerkenswert - „einer bewussten politischen Unterstützung“ erhöhen. Das ist eine
schöne Formulierung. Die Voraussetzungen dafür, dass
Tarifverträge auch auf Tarifungebundene erstreckt werden können, sollen erleichtert werden. Meine Damen und
Herren von den Grünen, damit zeigen Sie uns erstens,
dass Ihnen staatliches Diktat lieber ist als Tarifhoheit.
({0})
Übrigens verkennen Sie damit, dass gerade die Tarifautonomie entscheidend zum sozialen Frieden und zum
Wohlstand in diesem Land beigetragen hat, und zwar seit
seiner Gründung und insbesondere in Krisen wie der Finanz- und Wirtschaftskrise. Ohne diese Tarifautonomie
wären wir nicht in dieser Form aus der Krise gekommen;
({1})
denn die Tarifparteien haben die notwendige Sachkenntnis und Problemnähe, sie kennen die branchen- und unternehmensspezifischen Besonderheiten viel besser, als
die Politik es je könnte.
({2})
Zweitens betreiben Sie eine Politik, bei der Sie die
Daten und Fakten nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Fakt ist, liebe Frau Müller-Gemmeke und auch liebe
Frau Krellmann, dass - dies zeigen die aktuellen Zahlen
des IAB - 2010 insgesamt 60 Prozent aller Betriebe
- diese Zahl von Ihnen stimmt - mit 80 Prozent aller Beschäftigten direkt oder indirekt durch Tarifverträge erfasst wurden. Das ist die Wahrheit. Es ist sicherlich richtig, dass die Tarifbindung nach der Wiedervereinigung
abgenommen hat; aber seit 2006 hat sich das Niveau stabilisiert. Die Wirtschaftskrise hat übrigens nach Angaben des IAB nicht zu einer Welle des Austritts der Betriebe aus der Tarifbindung geführt. Also: Erosion? Weit
gefehlt.
({3})
Für die Austritte gilt eines: Die gesetzlichen Regelungen zur Nachwirkung von Tarifverträgen im Tarifvertragsgesetz und übrigens auch die Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts zum Beispiel zum Wechsel in
eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung stellen für eine
sogenannte Tarifflucht extrem hohe Hürden auf. Tarifgebundenen Unternehmen ist es regelmäßig eben nicht
möglich, sich mittelfristig von tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen zu verabschieden. Sie haben in Ihrer
Rede genau das Gegenteil behauptet. Sie haben sich wieder als unbefleckt von jeder Rechtskenntnis dargestellt;
das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich. Das zeigt
auch Ihr Antrag.
({4})
Ich muss sagen: Es ermüdet mich inzwischen, Ihre
Anträge zu lesen, in denen es von Behauptungen nur so
wimmelt, die aber nicht mit Rechtskenntnis unterlegt
sind. Ich will gar nicht mit dem Grundgesetz anfangen.
Kollege Lehrieder hat zutreffend darauf hingewiesen,
dass das Grundgesetz die negative Koalitionsfreiheit
schützt, dass also niemand Mitglied einer Gewerkschaft
oder eines Arbeitgeberverbandes sein muss und dass jeder, der austritt und damit die Freiheit von einer Tarifbindung wählt, grundgesetzlich geschützt wird. Allgemeinverbindliche Tarifverträge müssen schon aus
Achtung vor der Verfassung die Ausnahme bleiben - das
ist das Prinzip -; denn sie gelten gerade gegenüber denjenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - tarifungebunden sind. Deshalb hat der Gesetzgeber in den
letzten Jahrzehnten gut daran getan, zu sagen: Die Erstreckung eines Tarifvertrages auf sogenannte Außenseiter bedarf immer einer besonderen Rechtfertigung. Das
kann nur in engen Grenzen stattfinden, die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz und übrigens auch im Tarifvertragsgesetz formuliert werden. Diese wollen Sie jetzt
ausweiten.
Ein besonderer Dorn im Auge ist Ihnen der Tarifausschuss. Ich frage mich, weshalb. Mit zwei Ausnahmen
gab es dort bislang nur Zustimmung. Einmal lehnten die
Arbeitgebervertreter ab; das war im Fall der Weiterbildung. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifregelungen für das Wach- und Sicherheitsgewerbe scheiterte demgegenüber zunächst an den DGB-Gewerkschaften. Das Prinzip hat sich also absolut bewährt.
Dennoch wünschen Sie Änderungen. Sie fordern
- ich finde das hanebüchen -, dass der Tarifausschuss im
Einzelfall um Vertreter aus der jeweils antragstellenden
Branche ergänzt wird.
({5})
Damit würde die Beteiligung des Gremiums zur Farce.
Sie machen damit doch den Bock zum Gärtner.
({6})
Denn mit dem Antrag haben die Antragsteller bereits ihr
Votum für den Antrag abgegeben, nämlich Zustimmung.
Damit wäre die Zustimmung quasi immer sicher. Das hat
mit der Rolle eines Tarifausschusses tatsächlich nichts
mehr zu tun.
({7})
Sie fordern auch, das Einvernehmen im Tarifausschuss durch das Mehrheitsprinzip zu ersetzen. Liebe
Frau Müller-Gemmeke, wenn das Ihr Antrag ist: Informieren Sie sich einfach besser! Wie wäre es mit einem
Blick ins Gesetz oder in die Rechtsprechung gewesen?
Für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages nach § 5 Tarifvertragsgesetz genügt, um Einvernehmen zu erreichen, schon nach geltender Rechtslage die einfache Mehrheit im Tarifausschuss. Das
Mehrheitsprinzip gilt also bereits für Entscheidungen
des Tarifausschusses. Einfach mal wieder daneben!
({8})
Nach Ihrem Antrag, meine Damen und Herren vom
Bündnis 90/Die Grünen, soll das Mehrheitsprinzip, das
Sie gerade eingefordert haben, für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung aber nicht mehr gelten. Da wollen Sie das 50-Prozent-Quorum durch ein 40-ProzentQuorum ersetzen. Das finde ich wirklich kurios. Ich
finde es auch unverständlich; denn eine Allgemeinverbindlichkeit als starkes Schwert kann doch nur in Betracht kommen, wenn sich die Regelungen des Tarifvertrages in der jeweiligen Branche mehrheitlich durchgesetzt haben. Andernfalls könnte eine Minderheit die
Bedingungen für die Mehrheit diktieren. Das ist mit uns
sicherlich nicht zu machen.
({9})
Wenn Sie schon vom Mehrheitsprinzip abweichen wollen: Weshalb gerade 40 Prozent? Das bleibt Ihr Geheimnis.
Ihre letzte Forderung ermüdet mich einfach nur noch.
Sie sagen, dass die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
- liebe Frau Müller-Gemmeke, hören Sie doch bitte weGitta Connemann
nigstens zu, wenn Sie sich schon nicht mit der Rechtsprechung auseinandersetzen - in den Katalog der Arbeitsbedingungen einzubeziehen sei. Sie hätten sich
einfach besser informieren sollen. Hätten Sie dies getan,
würden Sie die Entscheidung des EFTA-Gerichtshofes,
die gerade zwei Tage alt ist - sie datiert vom 28. Juni
2011 -, kennen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass
eine im isländischen Recht enthaltene vergleichbare Regelung - danach wird die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in die nationale Entsendegesetzgebung einbezogen -, die Sie für uns einfordern, mit dem EWRAbkommen absolut unvereinbar ist. Das gilt dann auch
für uns.
Ich bitte Sie einfach: Ermüden Sie uns zukünftig
nicht. Bereiten Sie sich besser vor. Überprüfen Sie die
Rechtslage. Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Weniger
wäre da tatsächlich mehr.
Vielen Dank.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin schon froh, liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke,
dass in der diesmonatlichen Mindestlohndebatte ein Antrag die Diskussionsgrundlage ist, der sich zumindest
nicht mit dem Staatslohn, also dem gesetzlichen Mindestlohn, auseinandersetzt.
({0})
- Zumindest nicht im Kern. Als Erwähnung steht er natürlich schon drin.
Frau Müller-Gemmeke, ich glaube, die beeindruckende Rede der Kollegin Connemann - sie hat nicht nur
wegen ihres Schuhwerks beeindruckt - hat gezeigt, dass
wir sehr gerne machen, was Sie wollen. Wir setzen uns
nämlich konstruktiv mit Ihrem Antrag auseinander. Aber
da bleiben eben Fragen offen. Ich will nur einmal zwei
nennen. Natürlich bleibt die Frage offen, ob es vernünftig sein kann, dass die Minderheit der Mehrheit etwas
diktiert; denn die Tarifbindungsgrenze von 50 Prozent
ist nicht zufällig gesetzt worden. Man kann auch skeptisch sein, ob es eine gute Idee ist, den Tarifausschuss,
der in dem Verfahren gerade fürs große Ganze, für die
volkswirtschaftliche Gesamtsicht und nicht für die eigene Betroffenheit zuständig ist, mit Vertretern aus der
Branche zu besetzen, um die es konkret geht.
Ich glaube aber - das sage ich ernsthaft -, dass Sie
grundsätzlich einen Fehler machen. Der Kollege Kolb
hat eben darauf hingewiesen. Wenn Sie die Tarifbindung
wirklich erhöhen wollen - ich glaube, dieses Ziel teilen
wir alle -, dann ist es ein Fehler, die Anreize zu senken.
Das wird nicht funktionieren. Deshalb sollten Sie auf
diesem Weg nicht weitergehen.
({1})
Da wir gerade über eine konstruktive Auseinandersetzung reden, will ich einen weiteren Punkt ansprechen. Ich finde, zum Niveau einer konstruktiven Auseinandersetzung gehört, dass die Fakten stimmen. Mich
ärgert - das erleben wir nicht nur in Anträgen von Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sondern auch bei der SPD immer wieder -, wenn die Lage
auf dem deutschen Arbeitsmarkt falsch dargestellt wird.
Ich will jetzt gar nicht darauf eingehen, dass der Kollege
Schreiner eben wieder einmal alle atypischen Beschäftigungsverhältnisse mit prekären Beschäftigungsverhältnissen gleichgesetzt hat. Abgesehen davon, dass Sie von
der SPD diese Beschäftigungsverhältnisse erst geschaffen haben - Sie hatten auch einen Grund dafür -, ist
nicht jede flexible Beschäftigungsform prekär. Sonst wären die Mitarbeiter aller Abgeordneten des Deutschen
Bundestages prekär beschäftigt. Meine sind es nicht. Ich
hoffe, Ihre sind es auch nicht. Insofern: So einfach kann
man es sich nicht machen.
({2})
Was mich vor allem ärgert, sind Ihre Aussagen zur
Gruppe der Aufstocker. Sie, Frau Müller-Gemmeke,
schreiben in Ihrem Antrag wieder einmal, knapp
11 Milliarden Euro würden ausgegeben, um Billiglöhne
zu subventionieren. Sie wissen, dass das nicht stimmt.
Sie wissen das genau.
({3})
Es ärgert mich, dass Sie immer wieder den Eindruck erwecken, als sei es so, wie Sie schreiben. Sie kennen die
Zahlen so gut wie wir. Sie wissen, dass drei Viertel der
Aufstocker nur Teilzeit arbeiten und dass nicht die Lohnhöhe das Problem ist.
({4})
Sie wissen auch, dass es beim restlichen Viertel an der
Größe der Familie liegt,
({5})
dass ihnen die Solidargemeinschaft richtigerweise Geld
zukommen lässt,
({6})
und dass die Zahl derjenigen, die nur aufgrund der Höhe
ihres Lohnes aufstockt, gering ist; es sind einige Zehntausend und nicht mehr.
({7})
- Ich lasse die Zwischenfrage der Kollegin gerne zu.
Sie erlauben die Zwischenfrage?
Ja, fünf Sekunden vor Ende meiner Redezeit sehr
gern.
({0})
Herr Vogel, Sie haben in Ihrer Rede darauf hingewiesen, dass die Lohnhöhe nicht das Problem darstellt. Ist
Ihnen bekannt, dass in Deutschland fast 2 Millionen Beschäftigte für Löhne unter 5 Euro pro Stunde arbeiten
und dass es unter den Aufstockern eine besonders hohe
Zahl von Niedriglöhnern gibt?
({0})
Mir sind diese Zahlen sehr wohl bekannt. Ich habe Ihnen gerade die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vorgetragen. Man muss sich die Aufstockerstatistik genau
anschauen.
({0})
Ich meine, keine andere Statistik macht so sehr deutlich,
ob Menschen in Deutschland unterhalb des Existenzminimums leben müssen oder nicht; dafür gibt es Hartz IV,
dafür gibt es die Existenzsicherung, Frau Kollegin. An
der Aufstockerstatistik wird deutlich, dass nur einige
Zehntausend Menschen alleinstehende Vollzeitaufstocker sind, die wirklich wegen der Höhe ihres Lohnes
aufstocken und nicht, weil sie nur Teilzeit arbeiten oder
in einer großen Bedarfsgemeinschaft leben und deshalb
unterstützt werden.
({1})
Es stimmt einfach nicht, wenn Sie den Eindruck erwecken, Millionen Menschen in diesem Land würden Vollzeit arbeiten, könnten von ihrem Lohn aber nicht leben.
Es stimmt auch nicht, dass jedes Jahr 11 Milliarden Euro
für die Subventionierung von Billiglöhnen ausgegeben
werden.
Diese Aussagen stören mich, weil sie sich in eine Melodie einreihen, die Sie von der Opposition in den letzten
Monaten immer wieder spielen. Sie behaupten, dass das
deutsche Jobwunder nur auf Billiglöhnen basiert. Damit
machen Sie den Menschen in diesem Land die gute Lage
am deutschen Arbeitsmarkt, die sie sich hart erarbeitet
haben - wenngleich wir noch einiges verbessern müssen; da sind wir uns einig -, madig.
({2})
Sie machen auch politische Erfolge madig, sogar Ihre eigenen aus der vorvergangenen Legislaturperiode. Das
sollten Sie beenden.
({3})
Wenn Sie das tun, befinden wir uns auf einem Diskussionsniveau, auf dem wir dann über alle weiteren Details
konstruktiv streiten können.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4437 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 b auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur ({0}) auf Grundlage
der Resolution 1769 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007
und Folgeresolutionen
- Drucksache 17/6322 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Staatsministerin im Auswärtigen Amt,
Cornelia Pieper, das Wort.
({3})
Danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es, dass wir heute über die weitere
deutsche Beteiligung an einer der wohl wichtigsten, zahlenmäßig größten, aber manchmal auch vergessenen
Friedensmission der Vereinten Nationen in Afrika diskutieren: UNAMID in Darfur. Die Bilder und Nachrichten,
die wir seit Jahren aus Darfur erhalten, sind immer noch
erschreckend. Wir müssen unser Engagement für den
Schutz der Zivilisten, gerade auch der Frauen und Kinder, fortsetzen. Deshalb hat die Bundesregierung gestern
beschlossen, sich weiterhin an der von den Vereinten
Nationen und der Afrikanischen Union gemeinsam geführten Friedensmission in Darfur, UNAMID, zu beteiligen. Das gegenwärtige Bundestagsmandat für die militärische Beteiligung endet, wie Sie wissen, am 15. August
dieses Jahres. Es soll bis zum 15. November 2012 verlängert werden. Weiterhin soll die Obergrenze bei
50 Soldatinnen und Soldaten liegen. Durch die Fortführung der deutschen Beteiligung an UNAMID setzt
Deutschland ein klares Signal für den Einsatz für Menschenrechte, den Schutz von Zivilisten und die humanitäre Unterstützung der Zivilbevölkerung in Darfur.
({0})
Wir wissen, dass UNAMID vor großen und wichtigen Herausforderungen steht; Bundesaußenminister
Westerwelle hat sich auf seiner Reise in den Sudan letzte
Woche persönlich davon überzeugt. Leider ist in den
letzten Monaten die Lage in Darfur angespannt geblieben. Immer wieder aufflammende Kämpfe zwischen Regierungstruppen, Rebellen und Milizen sowie eine ständige Bedrohung durch bewaffnete Banditen belasten die
ohnehin prekäre humanitäre Lage der Zivilbevölkerung
in Darfur.
Eine dauerhafte politische Lösung des Darfur-Konflikts steht weiter aus. Die Friedensverhandlungen zu
Darfur in Doha haben mit der Versammlung der betroffenen Parteien und der Zivilgesellschaft vom 27. bis
31. Mai 2011 einen vorläufigen Abschluss gefunden. Es
wurde zwar kein Friedensvertrag unterzeichnet, da sich
die Rebellengruppen letztendlich verweigert haben. Verhandlungen unter Vermittlung der internationalen Gemeinschaft werden aber fortgesetzt. Katar, die Afrikanische Union, Mitvermittler Thabo Mbeki sowie der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben alle Konfliktparteien aufgerufen, sich ernsthaft und konstruktiv
an Friedensgesprächen zu beteiligen.
Die sudanesische Regierung hat gegenüber Bundesaußenminister Westerwelle bei seinem Besuch im Sudan
ihre Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen bekräftigt.
Bundesaußenminister Westerwelle hat auch die Verbesserung der Menschenrechtslage in Khartoum angemahnt zu Recht, wie ich meine. Die Bundesregierung hält es für
dringend notwendig, dass bei einem Friedensschluss in
Darfur der Ausnahmezustand aufgehoben wird, die Allmacht der sudanesischen Geheimpolizei beschnitten
wird und die Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere
die Presse- und Versammlungsfreiheit, in Darfur und im
ganzen Sudan hergestellt werden.
({1})
Wir werden uns weiter mit Nachdruck für eine friedliche und nachhaltige Lösung des Darfur-Konflikts und
für eine Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzen. UNAMID bleibt bis auf Weiteres als stabilisierendes Element zur Verbesserung der Sicherheitslage in
Darfur und zur Begleitung der politischen Bemühungen
um ein Ende der dortigen Krise unverzichtbar.
Gestern habe ich mich im Auswärtigen Amt noch einmal mit in Darfur und im Tschad tätigen Vertretern der
NGOs unterhalten. Auch sie bestätigen die Notwendigkeit von UNAMID für ihre Arbeit und die Stabilisierung
der Lage in Darfur. Die Vertreter der Organisationen berichteten mir aber auch über fortgesetzte Behinderungen
ihrer Arbeit durch Bürokratie, Zugangsverweigerung
und Schikanen. Die Unterstützung von UNAMID durch
die sudanesische Regierung sowie den freien Zugang für
die humanitären Helfer wird die Bundesregierung auch
deshalb weiter mit Nachdruck anmahnen.
Die deutsche Beteiligung an UNAMID ist ein wichtiges Zeichen, insbesondere an die Vereinten Nationen
und an die Afrikanische Union, dass Deutschland das internationale Engagement in Darfur unterstützt. Art und
Umfang des deutschen Engagements wurden dabei eng
mit unseren internationalen Partnern abgestimmt. Wir
sehen unser Bestreben in Darfur als Teil unseres Einsatzes für den gesamten Sudan.
({2})
Neben der Beteiligung mit sechs Offizieren verrichten auch deutsche Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte ihren Dienst bei der Mission. Derzeit sind es fünf.
Das Mandat für die Beteiligung mit Polizeibeamtinnen
und -beamten wurde gestern ebenfalls durch einen Kabinettsbeschluss unbefristet verlängert.
An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Soldaten sowie den Polizistinnen und Polizisten, die dort
unter extrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgaben
erfüllen - ich denke, auch in Ihrem Namen -, Dank und
Anerkennung aussprechen.
({3})
Ich will auch noch einmal erwähnen, dass die Hilfe
für die vom Darfur-Konflikt betroffene Bevölkerung
nicht nur in Darfur, sondern auch im benachbarten
Tschad zu den Schwerpunkten der humanitären Hilfe der
Bundesregierung zählt. Die Leistungen der Bundesregierung beliefen sich in ganz Sudan und im benachbarten
Tschad für die Zeit von 2009 bis 2011 auf rund
613 Millionen Euro. Ich glaube, dieser Beitrag kann sich
sehen lassen.
({4})
Wie Sie wissen, wird Deutschland im Juli 2011 die
Präsidentschaft des Sicherheitsrates übernehmen. Dort
haben wir zwei Schwerpunktthemen: Sudan und Kinder
in bewaffneten Konflikten.
Für den Sudan gilt es den Friedensprozess voranzutreiben und zu einem guten Ende zu bringen. So haben
die Konfliktparteien, die Regierung in Khartoum und die
südsudanesische Befreiungsbewegung, die die neue Regierung des Südsudan stellen wird, gerade Abkommen
über die Einstellung der Feindseligkeiten in Kordofan
und über gemeinsame Überwachungsmechanismen an
der Grenze zwischen Nord- und Südsudan getroffen. Die
Vereinten Nationen sollen diese durch Beobachter überwachen. Minister Westerwelle hat dies in Khartoum bei
seinem Besuch zu einem seiner zentralen Themen gemacht und Khartoum wieder davon überzeugt, VN-Präsenz zuzulassen.
Zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten
werden wir eine Resolution einbringen, die Angriffe auf
Schulen und Krankenhäuser zusätzlich ächtet und die
Demobilisierung von Kindersoldaten, wie es sie im Sudan immer noch gibt, vorantreiben soll.
({5})
Ich bitte Sie daher alle um Ihre Zustimmung zur weiteren deutschen militärischen Beteiligung an UNAMID
und damit einem wichtigen Teil unseres Engagements
für den Sudan sowie den Schutz von Flüchtlingen und
Zivilisten, Kindern und Frauen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Karin Evers-Meyer von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es wie ein Ritual erscheint, das man reflexartig ableistet, möchte auch ich im Namen meiner Fraktion den Soldatinnen und Soldaten, die bei UNAMID in
Darfur eingesetzt sind, für ihre Arbeit danken.
({0})
Ich finde, gerade bei einem Einsatz wie dem in Darfur,
der nicht das größte Interesse bei den Medien weckt, ist
es richtig, jede Gelegenheit zu nutzen, um daran zu erinnern, dass auch dort deutsche Soldaten im Einsatz sind
und ihren Dienst tun, in einem Land, in das wohl keiner
von uns derzeit gerne fahren möchte und das viele, die
dort leben, am liebsten verlassen würden. Die Mitglieder
des Deutschen Bundestages haben ihren Einsatz im
Blick. Wir stehen abseits der Schlagzeilen aus Afghanistan auch an ihrer Seite und an der Seite ihrer Familien.
In den vergangenen zwölf Jahren waren es in der
Spitze acht deutsche Soldatinnen und Soldaten, die ihren
Dienst in Darfur getan haben. Das ist angesichts einer
Zielgröße von insgesamt 26 000 Mann bei UNAMID ein
sehr kleiner Anteil an der immerhin größten Friedensmission der Vereinten Nationen überhaupt. Dieser geringe Umfang der deutschen Beteiligung wurde kritisiert. Kritisiert wurde insbesondere die noch einmal
verringerte Obergrenze von 50 Soldatinnen und Soldaten. Es hat sich aber in den letzten zwölf Monaten gezeigt, dass diese maximale Stärke von 50 Soldatinnen
und Soldaten wirklich ausreicht. Der Bundeswehr ist
nicht geholfen, wenn sie mit zu viel Personal für ihre
Einsätze planen muss. Gerade in den unsicheren Zeiten
der Bundeswehrreform ist eine realistische und vernünftige Einschätzung der Mandatsstärke wichtig - für die
Bundeswehr selbst und für den Erfolg der Missionen, die
sie unterstützen soll.
Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Forderung
nach größerer materieller Unterstützung, vor allem nach
dem Einsatz von Hubschraubern. Ich wünschte mir ja
auch, dass die Bundeswehr mehr davon hätte, aber die
Realität sieht leider anders aus,
({1})
und die Hubschrauber, die wir haben, benötigen wir für
andere Einsätze, allen voran für den Einsatz in Afghanistan, wo wir derzeit zu wenige eigene Hubschrauber haben und daher auf die Unterstützung unserer Bündnispartner angewiesen sind.
Ich kann hier deshalb nur davor warnen, den Eindruck
entstehen zu lassen, dass die Bundesregierung keine
Hubschrauber für UNAMID bereitstellen möchte. Die
Bundeswehr hat sie schlicht und ergreifend nicht. Das
kann man zwar zu Recht bedauern, aber man kann der
Regierung in diesem Fall zumindest keinen mangelnden
Willen vorwerfen. So ehrlich sollten wir bleiben.
({2})
In Darfur, wo während des Bürgerkriegs von 2003 bis
2006 furchtbare Verbrechen und Vertreibungen stattgefunden haben, ist UNAMID der wesentliche Anker für
Stabilität. Ohne das Engagement der internationalen Gemeinschaft wird es dort auf absehbare Zeit keinen stabilen Frieden geben, und ohne einen stabilen Frieden wird
es auch keine Chancen auf eine menschenwürdige Entwicklung geben.
Die Ausgangssituation in Darfur ist denkbar ungünstig. Der Krieg hat dort mindestens 300 000 Todesopfer
gefordert. Weit über 2 Millionen Menschen wurden dazu
noch vertrieben. Auch heute, vier Jahre nach dem Waffenstillstand, leben noch immer mehrere Hunderttausend
Menschen in Flüchtlingslagern. Diese Situation kann
uns nicht egal sein, und deswegen ist die Beteiligung
deutscher Soldatinnen und Soldaten richtig - übrigens
nicht zuletzt auch deshalb, um die Arbeit der humanitären Helfer vor Ort zu sichern; denn auch der Schutz der
humanitären Helfer ist eine der Kernaufgaben von
UNAMID.
Der Frieden in Darfur bleibt brüchig. Trotz vieler Anstrengungen in den vergangenen Monaten und trotz der
Verhandlungen in Doha zu Jahresanfang gibt es bis heute
kein Friedensabkommen, das von allen Parteien anerkannt wird. Deswegen bleibt das bei aller berechtigten
Kritik an den Vereinten Nationen in Darfur und der Kritik am UNAMID-Einsatz unser einziges richtiges Mittel
zur Lösung des Konfliktes, das wir in der Hand haben.
UNAMID bindet mit der Afrikanische Union endlich
auch die regionalen Akteure ein. Das ist wichtig. Nur mit
dieser gemeinsamen Anstrengung der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union gibt es in Darfur die
Chance auf einen stabilen Frieden und damit auch die
Chance auf eine solide politische und wirtschaftliche
Entwicklung, und das ist doch unser gemeinsames Ziel.
UNAMID ist auch noch aus einem anderen Grund
wichtig. Darfur ist nicht der einzige Krisenherd im Sudan. Anfang des Jahres hat der Süden für seine Unabhängigkeit gestimmt, und am 9. Juli 2011, also in einer
guten Woche, wird sich der Süden zum unabhängigen
Staat ausrufen.
Wir haben diese Entwicklung unterstützt, aber in den
vergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass mit der Unabhängigkeit des Südens erst einmal wohl keine Ruhe im
Sudan einkehren wird. Deswegen ist es auch richtig,
dass wir in der nächsten Woche über das zweite SudanMandat der Bundeswehr abstimmen. Es ist dringend nötig, dass wir jetzt ein eindeutiges Zeichen setzen und unsere Bereitschaft demonstrieren, dass wir auch im Süden
die Arbeit der Vereinten Nationen weiter unterstützen.
Gerade weil sich die Aufmerksamkeit in den kommenden Wochen auf den Süden richten wird, ist die Beteiligung an UNAMID so wichtig. Alles, was den
Nordsudan in den schwierigen Wochen und Monaten,
die vor uns liegen, in Unruhe bringen könnte, muss verhindert werden. Hier kommt UNAMID wieder ganz eindeutig ins Spiel.
Wir haben die beiden Sudan-Missionen der Bundeswehr hier immer gemeinsam betrachtet und auch gemeinsam darüber abgestimmt. Das hat seinen guten
Grund. In diesem Jahr ist das leider etwas anders. Über
UNMIS, die andere Mission, werden wir erst in der
kommenden Woche debattieren können. Das sollte uns
aber nicht daran hindern, auf den Zusammenhang der
beiden Missionen hinzuweisen. Es geht um die Stabilität
des ganzen Sudan, des Nordens und des Südens, und es
geht darum, den Regionen, die von langen Bürgerkriegen gezeichnet sind, eine friedliche Entwicklung zu ermöglichen.
Mit dieser Zustimmung verbinden wir aber auch eine
Aufforderung an die Bundesregierung. Afrika hat mehr
Engagement verdient. Mit dem neuen Afrika-Konzept
der Bundesregierung ist in Deutschland ein Zeichen gesetzt worden, und Schlagzeilen sind produziert worden.
Jetzt kommt es aber darauf an, dass Sie das, was Sie hier
ausgebreitet haben, vor Ort auch umsetzen. Einsätze wie
der von UNAMID müssen auch politisch flankiert werden, sonst sind sie auf Dauer sinnlos. Deswegen fordern
wir Sie auf: Tun Sie etwas! Meine Fraktion steht hinter
dem UNAMID-Einsatz der Bundeswehr. Sudan und insbesondere Darfur braucht weiterhin die Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft. Deutschland kann und
sollte sich daran beteiligen.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Philipp Mißfelder hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Am 25. März 2010 haben wir uns im
Rahmen eines interfraktionellen Antrags mit großer Geschlossenheit dem Gesamtkomplex Sudan gewidmet.
Die Regierungsfraktionen, CDU/CSU und FDP, sowie
die SPD und die Grünen waren sich einig: Wir wollen
den Menschen im Sudan helfen. Gleichzeitig haben wir
immer gefordert - das ist in der Debatte deutlich geworden -, die komplexe Situation insgesamt zu betrachten.
Im Sudan gibt es einerseits den Darfur-Konflikt. Es gibt
den Abyei-Konflikt. Am 27. Juni 2011 hat der Sicherheitsrat für sechs Monate einen Peacekeeping-Einsatz beschlossen, um die Situation insgesamt zu stabilisieren. Es
gibt den Südkordofan-Konflikt. Dort ist die Situation Anfang Juni eskaliert und zurzeit immer noch instabil. Das
zeigt uns allen, dass die Arbeit der Bundeswehr im Rahmen von UNAMID und auch bei UNMIS - die beiden
Mandate sind von Frau Evers-Meyer schon genannt worden - wichtig ist. Deshalb freue ich mich, dass so viele
Kolleginnen und Kollegen auch um diese Uhrzeit dieser
Debatte aufmerksam folgen.
Der Sudan ist mit einer der größten Herausforderungen
für den Frieden auf dem afrikanischen Kontinent. Leider
- das muss man sagen - hat er viel zu lange ohne internationale Beteiligung stattgefunden. Im Rückblick ist das,
was dort passiert ist, für die Weltgemeinschaft eher bestürzend, als dass man beruhigt von einem funktionierenden
Eingreifen sprechen könnte. Insofern ist es richtig, dass
wir heute unserer Verantwortung gerecht werden, weiterhin stabilisierend in der Region zu wirken.
Nach der Unabhängigkeitserklärung stellen sich drei
große Problemfelder: Erstens. Das Comprehensive
Peace Agreement ist noch nicht voll umgesetzt. Nordund Südsudan müssen sich über die Grenzziehung einigen. Sie müssen das Abyei-Problem friedlich lösen.
Kämpfer des SPLA, die noch im Nordsudan sind, müssen sich zurückziehen.
Zweitens. Wie gehen der Norden und der Süden mit
den Folgen der Unabhängigkeit selbst um? Es gibt viele
offene Fragen zu Rohstoffen und zum Grenzregime.
Hier darf sich kein neues Pulverfass auftun.
Drittens. Der Südsudan muss erst staatliche Strukturen schaffen. Es gibt überhaupt kein funktionierendes
Staatsgebilde. Offen ist, wie sich Bildung, Infrastruktur
und Sicherheit auf Dauer ohne internationale Maßnahmen garantieren lassen.
Das Gesamtbild im Sudan bleibt also eine große Herausforderung. Gott sei Dank - ich habe es gerade schon
angesprochen - ist nach Jahren der Ignoranz die Weltgemeinschaft aufmerksam geworden. So hat sich zum Beispiel Präsident Obama dieser Frage im Januar dieses
Jahres in einem bemerkenswerten Artikel im Tagesspiegel gewidmet. Ich bin froh, dass wir uns auch im Deutschen Bundestag ausführlich mit diesem Problem beschäftigen. Das ist auch dem persönlichen Engagement
einiger Abgeordneter zu verdanken. Ich möchte für
meine Fraktion Hartwig Fischer nennen, der bei uns
nicht müde wird, auf dieses Thema hinzuweisen.
({0})
Ich komme zum Mandat, um dessen Unterstützung
ich Sie bitte. Die Mission UNAMID soll sicherstellen,
dass die Gräueltaten und Vertreibungen in Darfur ein
Ende haben und die Menschen wieder sicher leben können. Diesen Auftrag hat der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen gegeben. Darüber sind wir uns in diesem
Hause einig.
Es gibt nur eine Fraktion, die zu diesem Einsatz Nein
sagt, die Linke. Ich möchte die Gelegenheit in dieser ersten Lesung nutzen, Sie zu bitten, Ihr Nein zu überdenken, und hier für einen wirklichen Friedenseinsatz zu
werben. Es ist tatsächlich so, dass man viele grundsätzliche Fragen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr stellen kann. Deshalb debattieren wir hier unter dem Parlamentsvorbehalt jeden Einsatz sehr gewissenhaft und mit
großer Akribie. Aber bei diesem Einsatz können Sie nun
wirklich nicht unterstellen, dass es sich nicht um einen
Friedenseinsatz handelt. Deshalb fordere ich Sie auf, Ihr
Nein zu überdenken.
Die Menschen in Darfur rufen uns zu: Helft uns! Die
Vereinten Nationen sagen: Bitte helft, ihr werdet gebraucht! - Wir geben die Antwort und machen verantwortungsbewusste Außenpolitik.
Die Linke sagt aus ideologischen Gründen Nein. Vor
dem Hintergrund sollte man, glaube ich, in dieser Debatte zwar die Einigkeit des Hauses betonen, aber nicht
vergessen, unter welcher Maßgabe sich eine Fraktion außerhalb unseres Konsenses stellt.
({1})
Die Herausforderungen für Afrika bleiben groß. Die
Reise unseres Bundesaußenministers begrüße ich ausdrücklich. Auch die anstehende Reise der Bundeskanzlerin nach Afrika halte ich für wichtig. Ich glaube, dass
insgesamt viele Kolleginnen und Kollegen ihren persönlichen Fokus viel stärker auf Afrika legen sollten. Wir
werden damit auch unserem Koalitionsvertrag gerecht,
in dem wir vereinbart haben:
Wir bekennen uns zur Unterstützung der afrikanischen Sicherheitsbemühungen und beteiligen uns …
Für eine dauerhafte Stabilisierung des Kontinents
setzen wir auf eine starke Afrikanische Union als
wichtiger Baustein afrikanischer Eigenverantwortung.
Das versuchen wir zu unterstützen. Darum sind die beiden Mandate, die wir in diesen beiden Sitzungswochen
beraten, wichtig.
Ich möchte zuletzt unseren Soldatinnen und Soldaten,
aber auch den Polizisten, die dort ihren Beitrag leisten,
herzlich danken, dass sie dort auch unter schwierigen
Bedingungen einen wichtigen Beitrag zum Ansehen unseres Landes leisten.
Herzlichen Dank.
({2})
Die Kollegin Buchholz hat für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Mißfelder, wenn Sie uns für ein Ja zu diesem Einsatz gewinnen wollen, dann hätten Sie zumindest ein Argument
nennen und sich auch mit den Problemen dieses Einsatzes auseinandersetzen müssen.
({0})
Es besteht bei uns allen in diesem Hause kein Zweifel
darüber, dass die Lage in Darfur katastrophal ist. Das
Mandat, das heute zur Debatte steht - es stehen schließlich nicht die Allgemeinplätze und das Afrika-Konzept
der Regierung zur Diskussion, sondern das UNAMIDMandat -, ist allerdings völlig ungeeignet, die Lage zu
verbessern.
({1})
UNAMID ist der größte und teuerste UN-Einsatz in
der Geschichte. Er kostet jährlich 1,8 Milliarden Dollar.
Mittlerweile sind 23 000 Polizisten und Soldaten in Darfur stationiert.
Bei meinem Besuch im Sudan im letzten November
hat mir der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation gesagt,
was er von der Darfur-Mission UNAMID hält. Ich zitiere: „UNAMID ist eine große Geldfressmaschine ohne
Auswirkung.“
({2})
Der Einsatz wird den Problemen in Darfur nicht gerecht. Das will ich begründen. Erstens. Dorthin, wo die
Gefährdung von Zivilisten stattfindet, kommt UNAMID
gar nicht: weder ins Grenzgebiet zum Tschad noch ins
Grenzgebiet zum Südsudan und nirgendwohin, wo Gefechte stattfinden. Von der Bevölkerung wird UNAMID
deswegen auch zunehmend als verlängerter Arm der
Zentralregierung wahrgenommen.
({3})
Zweitens. Weil UNAMID nicht als neutral angesehen
wird, empfinden viele Hilfsorganisationen die Präsenz
nicht als Schutz, sondern als Hindernis für ihre Arbeit.
({4})
Das sind Realitäten, die Sie zur Kenntnis nehmen müssen, wenn Sie mit den Menschen reden, die dort in den
Hilfsorganisationen arbeiten.
({5})
Ich habe das gemacht, Sie vielleicht nicht.
Neben der bitteren Armut ist der Klimawandel eine
der wesentlichen Ursachen der Probleme der Menschen
in Darfur. Die Ausbreitung der Wüste zerstört die Lebensbedingungen, schafft neue und verschärft alte Konflikte.
Letztes Jahr sind 40 Prozent der Ernte in Darfur wegen Dürre ausgefallen. Die 16 trockensten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen 1910 fielen in die letzten
30 Jahre. Wenn die Entwicklung so weitergeht, erwartet
die UNO bis 2050 Ernteausfälle von 70 Prozent.
({6})
Solange die Menschen dort keine wirtschaftliche und
soziale Perspektive haben, wird es keinen Frieden geben.
Dazu enthält Ihr Antrag gar nichts; Sie schreiben nur,
dass Sie mit dem Nordsudan keine Entwicklungszusammenarbeit machen wollen. Das ist angesichts der Probleme ein Armutszeugnis.
({7})
Ich hatte im November letzten Jahres die Gelegenheit,
in Darfur mit allen drei zu dem Zeitpunkt dort stationierten Bundeswehrsoldaten zu sprechen. Einer von ihnen
sagte: „Wenn wir unser Mandat, den Schutz der Zivilbevölkerung, nicht wahrnehmen können, sind wir hier
überflüssig.“ Recht hat er: Beenden Sie den Militär- und
Polizeieinsatz, der ohnehin ein symbolischer ist, und beginnen Sie endlich, sich ernsthaft über wirkliche Hilfe
für die Menschen in Darfur Gedanken zu machen!
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Nouripour das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätestens seit es einen Haftbefehl gegen al-Baschir, den Präsidenten des Sudan, gibt, verbindet man die Situation in
Darfur mit einem Namen. Die Tatsache, dass dieser Präsident dieser Tage mit einem roten Teppich in Peking
empfangen wurde, ist deshalb nicht nur eine moralische
Bankrotterklärung, sondern auch eine Niederlage für die
internationale Gerichtsbarkeit.
({0})
Ich möchte die Bundesregierung aufrichtig bitten
- sie übernimmt in knapp neun Stunden den Vorsitz im
UN-Sicherheitsrat -, auf unsere Partnerstaaten, gerade
auf die USA, einzuwirken, keine Double Standards und
Einfallstore mehr zuzulassen und dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs beizutreten. Das wäre ein richtiges Signal Richtung China und eine große Hilfe zur
Verbesserung der Situation im Sudan, speziell in Darfur.
({1})
Die Situation in Darfur ist gravierend. Präzise Zahlen
sind zwar nicht bekannt, aber Schätzungen gehen von
300 000 bis 400 000 Getöteten in den letzten acht Jahren
und von bis zu 3 Millionen Vertriebenen aus. Diese
Schätzungen sind nicht ganz präzise, weil wir kein genaues Bild haben. Aber selbst die vorsichtigsten Schätzungen zeichnen ein Bild des Grauens. Die aktuelle Lage
ist zwar besser als die in der Zeit vor dem Waffenstillstand. Aber es gibt weiterhin viele Gewaltausbrüche. Die
Friedensverhandlungen in Doha sind gescheitert. Es gibt
weiterhin Kämpfe zwischen dem Justice and Equality
Movement, Regierungstruppen und den Dschandschawid-Milizen. Sie verhindern, dass internationale Hilfslieferungen ankommen, behindern den Zugang zu Flüchtlingslagern und greifen UN-Personal an. Natürlich ist die
Zivilbevölkerung die erste Leidtragende. Wir erleben
dort eine fürchterliche humanitäre Katastrophe.
Die politische Situation ist verfahren. Die Doha-Friedensverhandlungen sind, wie gesagt, gescheitert. Die
politische Situation wird nicht unbedingt dadurch einfacher, dass Khartoum nun mit der Unabhängigkeit des Südens konfrontiert ist. Gerade in dieser Situation ist
UNAMID wichtig. Gerade in dieser Situation ist es wichtig, dass es eine UN-Mission gibt, die zumindest den Versuch unternimmt, das Land zu stabilisieren. Deshalb ist
die Fortsetzung des Mandates - auch unter Beteiligung
der Bundeswehr - aus meiner Sicht völlig richtig. Die
entscheidende Frage ist nur, welches Engagement dafür
gebraucht wird. In der letzten UNAMID-Debatte hat Herr
Außerminister Westerwelle den Satz gesagt: Der Sudan
braucht von der internationalen Gemeinschaft mehr Engagement und nicht weniger. - Zudem gab es damals einen von einer breiten Mehrheit getragenen interfraktionellen Antrag, in dem die Bundesregierung aufgefordert
wird, mehr Engagement im Sudan zu zeigen. Nun steht
aber im vorliegenden Mandatstext:
Der Einsatz wird im Übrigen fortgesetzt ohne inhaltliche Änderungen … .
Die Bundesregierung nimmt an dieser Stelle leider
noch nicht einmal die Forderungen der Koalitionsfraktionen für voll und erfüllt sie nicht. Das ist extrem wenig
und sehr bedauerlich.
Es fehlt an Ausrüstung. Es ist sicherlich richtig, dass
die Hubschrauberfrage gelöst werden muss. Aber das ist
bei weitem nicht das einzige ungelöste Problem. Das betrifft nicht nur UNAMID. Es wird auch nicht versucht,
den EU-Sonderbeauftragten für den Sudan zu stärken.
Die Liste der Mängel ist lang. Man muss feststellen: Die
Bundesregierung macht an dieser Stelle leider viel zu
wenig. Diese Passivität ist sehr bedauerlich.
({2})
Das heißt aber nicht, dass die Mission falsch ist. Ich plädiere dafür, der Fortsetzung des Mandats zuzustimmen.
Die Bevölkerung in Darfur braucht unsere Hilfe, insbesondere im zivilen Bereich. Wenn ich eine letzte Zahl
nennen darf: Es sind gerade einmal sechs Polizisten aus
Deutschland dort eingesetzt. Das entspricht 0,1 Prozent
der gesamten Polizeimission vor Ort. Die Polizistinnen
und Polizisten sowie die Soldatinnen und Soldaten, die
dorthin entsandt werden, leisten einen hervorragenden
und dankenswerten Einsatz unter schwierigsten Bedingungen. Aber sie brauchen mehr Unterstützung, Engagement und Rückendeckung seitens der Bundesregierung.
({3})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Götzer das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Noch immer ist die Lage in Darfur von Gewalt geprägt. Der Waffenstillstand von Doha zwischen der Regierung und den Rebellengruppen wird immer wieder
gebrochen. So haben erst kürzlich Soldaten der VN-Mission in Darfur über Bombardierungen durch Regierungstruppen sowie von der Geiselnahme mehrerer Angehöriger von Hilfsorganisationen berichtet. Auch die jüngsten
Darfur-Friedensgespräche in Doha sind am 31. Mai dieses Jahres ohne konkretes Ergebnis zu Ende gegangen.
Die Lage im Westen des Sudan bleibt somit angespannt,
und eine dauerhafte politische Lösung des Darfur-Konflikts steht nach wie vor aus. Dies zeigt die Notwendigkeit der Verlängerung des UNAMID-Mandats eindeutig
auf.
Die UNAMID-Mission der Vereinten Nationen, innerhalb derer unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten
unter schwierigsten Bedingungen einen wichtigen Beitrag leisten, dient der Verbesserung der Sicherheitslage in
Darfur und begleitet die politischen Bemühungen um ein
Ende der dortigen Krise. Auch ich möchte deshalb - dies
ist kein Ritual, sondern es kommt aus tiefstem Herzen unseren Soldatinnen und Soldaten im Sudan für die verschiedenen Einsätze, die sie dort leisten - wie gesagt, unter extremen Bedingungen -, unser aller Dank aussprechen.
({0})
Die Mission ist daher unbedingt unverändert zunächst
bis zum 15. November 2012 fortzusetzen. Darin ist sich
wohl die ganz große Mehrheit dieses Hauses einig.
Auch UNMIS ist als stabilisierendes Element zur
Wahrung der Sicherheit der Zivilbevölkerung im Sudan
unverzichtbar. Eine der Hauptaufgaben von UNMIS war
die Sicherung des Referendums über den Südsudan vom
9. bis 15. Januar dieses Jahres. Das Referendum war Teil
eines Friedensabkommens von 2005 und sollte den mehr
als 20 Jahre andauernden Bürgerkrieg im Sudan beenden. Die Tatsache, dass das Referendum, bei dem sich
eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dafür
ausgesprochen hat, einen unabhängigen Staat Südsudan
zu errichten, relativ friedlich und korrekt durchgeführt
wurde, ist auch ein Zeichen für den Erfolg der UNMISMission. Auf Grundlage dieses Referendums geht es nun
darum, eine dauerhaft stabile politische Lösung für die
Zukunft von Nord- und Südsudan zu finden.
Der Südsudan braucht jetzt zur Stabilisierung dringend stärkere, bessere staatliche Strukturen. Das ist entscheidend für die Stabilität der gesamten Region, wenn
man bedenkt, dass der Sudan das derzeit größte afrikanische Flächenland ist.
Darüber hinaus muss auch die Menschenrechtslage im
Südsudan langfristig verbessert werden. Hierbei werden
wir nur Fortschritte sehen, wenn sich insbesondere die Sicherheitskräfte an rechtsstaatlichen Kriterien orientieren.
Irreguläre Milizen müssen deshalb entwaffnet und wieder
in die Zivilgesellschaft eingegliedert werden, wo dies
möglich ist. Eine bessere Ausbildung und Unterstützung
im Rahmen dieser Demobilisierungsprogramme ist unverzichtbar. Daher muss sich an UNMIS eine Folgemission anschließen, die all dies leisten kann. Deutschland
will und wird dazu auch weiterhin seinen Beitrag erbringen.
Da mit der Unabhängigkeit des Südsudan in wenigen
Tagen, am 9. Juli dieses Jahres, allerdings das bestehende UNMIS-Mandat endet, ist ein neues Mandat und
damit eine erneute Befassung des Bundestages erforderlich. Mit der Erteilung eines neuen Mandats durch den
VN-Sicherheitsrat ist Ende nächster Woche zu rechnen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, am Tag der südsudanesischen Unabhängigkeitserklärung wird Deutschland bereits den Vorsitz im VN-Sicherheitsrat haben und
offiziell für die Begrüßung des neuen Staates in der Organisation zuständig sein. Wir sollten auch aus diesem
Grund dafür Sorge tragen, dass unsere Zustimmung zur
Beteiligung an dem Mandat bis zu diesem Tag erfolgt ist.
Deutschland hat bislang im Sudan einen außerordentlich guten Namen und wird als ehrlicher Mittler zwischen Nord und Süd betrachtet. Im Interesse der Menschen im Sudan, aber auch nicht zuletzt, um unseren
Soldatinnen und Soldaten für ihren schwierigen Einsatz
den Rücken zu stärken, bitte ich Sie um Unterstützung
dieser Mandate.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6322 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 17/254 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring,
Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Vizepräsidentin Petra Pau
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 17/472 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({2}), Jerzy Montag,
Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 17/88 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 17/4775 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Dr. Jan-Marco Luczak
Christine Lambrecht
Marco Buschmann
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Jan-Marco
Luczak und Norbert Geis für die Unionsfraktion, Sonja
Steffen für die SPD-Fraktion, Marco Buschmann für die
FDP, Dr. Barbara Höll für die Linken und Volker Beck
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion der SPD zur Änderung des
Grundgesetzes, Art. 3 Abs. 3 Satz 1. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4775, den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/254
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt laut unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der
Fraktion Die Linke zur Änderung des Grundgesetzes,
Art. 3 Abs. 3 Satz 1: Der Rechtsausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4775, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/472 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-
lehnt. Damit entfällt laut unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur
Änderung des Grundgesetzes, Art. 3 Abs. 3 Satz 1. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4775, den Ge-
1) Anlage 16
setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/88 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt laut unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Parteiengesetzes und eines
… Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 17/6291 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Herbert Behrens, Matthias
W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kommission zur Überprüfung des Abgeordnetenrechts - Mehr Transparenz und Verantwortung für das Gemeinwohl
- Drucksache 17/6305 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Beratung eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Altmaier für die Unionsfraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Eine funktionierende Demokratie braucht funktionsfähige politische Institutionen. Dies gilt für Parteien
und Parlamente gleichermaßen. Auch wenn wir die Debatten, die wir heute führen, oftmals vor dem Hintergrund öffentlicher Befindlichkeiten führen, selbst wenn
sie nicht immer frei von der einen oder anderen parteipolitischen Erwägung sind, glaube ich, dass es gut ist,
daran zu erinnern, dass ein kardinales Problem der Weimarer Republik in der enormen Schwäche der demokratischen Parteien bestand. Diese Schwäche geht darauf
zurück, dass die demokratischen Parteien von Weimar
weder eine ausreichende Mitgliederbasis noch eine ausreichende Finanzausstattung besaßen und deshalb von
Spenden, von Geldern, von privaten Interessen abhängig
wurden.
Infolgedessen ist im Grundgesetz ausdrücklich die
Rolle der Parteien verankert. Auf der Grundlage dieser
Vorschrift haben wir uns schon vor vielen Jahren für eine
staatliche Teilfinanzierung politischer Parteien entschieden. Nur wenn die Parteien tatsächlich zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben befähigt sind, können sie an der
Willensbildung verantwortlich mitwirken.
Die letzte Anpassung der staatlichen Parteienfinanzierung liegt neun Jahre zurück. Vor neun Jahren wurde
die absolute Obergrenze zum letzten Mal angepasst. Obwohl eine Anpassung an die Preisentwicklung von Anfang an intendiert war, ist sie in der Praxis zu keinem
Zeitpunkt erfolgt. Das bedeutet, dass sich die Rahmenbedingungen für die politische Arbeit von Parteien gemessen an der Situation vor rund zehn Jahren in der
Zwischenzeit erheblich verschlechtert haben. Dies müssen wir zur Kenntnis nehmen.
Wir haben uns nach langen Überlegungen dazu entschlossen, in zwei verantwortlichen, maßvollen Schritten
die staatliche Teilfinanzierung an die zwischenzeitlich
eingetretenen preislichen Veränderungen anzupassen,
wohlgemerkt nicht rückwirkend, sondern lediglich für die
Zukunft. Wir haben uns entschieden, eine automatische
Anpassung an die Preisentwicklung für die Zukunft vorzuschlagen, weil wir glauben, dass Verlässlichkeit und
Berechenbarkeit wichtig sind. Es geht um nicht mehr und
nicht weniger.
Ähnlich wichtig wie die Funktionsfähigkeit der politischen Parteien ist die Funktionsfähigkeit unserer demokratisch gewählten Parlamente. Es gab im Kaiserreich,
in der Bismarck-Zeit und vor dem Ersten Weltkrieg heftige Debatten darüber, ob es überhaupt angebracht ist,
Abgeordnete mit Entschädigungen auszustatten. Eine
solche Ausstattung ist von denjenigen abgelehnt worden,
die das Parlament schwächen wollten und die ein Interesse daran hatten, dass das Parlament als gleichberechtigter Gegenpart zu einer starken Exekutive seine Rolle
nicht spielen konnte. Auch das war der Grund, warum
sich die Gründungsväter der Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz dazu entschieden haben, die Arbeitsfähigkeit der Parlamente durch eine angemessene
Entschädigung der Abgeordneten sicherzustellen.
Wir haben in der Vergangenheit oftmals - häufig
durch eigene Fehler und durch eigene Ungeschicklichkeiten - Debatten geführt, die dem Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit nicht zuträglich waren. Wir
müssen zugeben, dass die Schuld daran nicht immer nur
andere trifft, sondern es lag oft auch an eigener Uneinigkeit und an der Unfähigkeit, uns auf angemessene und
nachvollziehbare Maßstäbe zu einigen.
Vor einigen Jahren haben wir entschieden, dass sich
die Entschädigung der Abgeordneten an den Einkünften
von Bürgermeistern kleinerer und mittlerer Städte und
von Richtern an obersten Bundesgerichten orientieren
soll. Dies ist eine Einordnung, die man in der politischen
Diskussion begründen und vertreten kann. Abgeordnete
vertreten Wahlkreise von bis zu 300 000 Einwohnern.
Sie haben eine Verantwortung für die Gesetzgebung des
Bundes, aber auch für die Akzeptanz parlamentarischer
Demokratie vor Ort in ihren Wahlkreisen. Deshalb ist es
eine Frage des Selbstverständnisses des Parlaments und
der parlamentarischen Demokratie, wie man mit den eigenen Repräsentanten umgeht.
Wir haben die Zielmarge, die wir selbst im Gesetz
verankert haben, in der Vergangenheit nie erreicht. Das
hatte viele Gründe. Ein Grund war auch die Wirtschaftskrise als Folge der internationalen Bankenkrise, die dazu
führte, dass für viele Bürgerinnen und Bürger nicht nur
keine Einkommenssteigerungen realisiert werden konnten, sondern dass durch Kurzarbeit und anderes Einbußen hingenommen werden mussten.
Es war für uns selbstverständlich - ich rede an dieser
Stelle im Namen aller Fraktionen in diesem Hause -,
dass wir im Jahre 2009 nach der Bundestagswahl und im
Jahre 2010, als die große Wirtschaftskrise gerade erst
hinter uns lag und in ihren Folgen noch nicht überwunden war, eine solche Anpassung der Diäten nicht vorgenommen haben. Aber wir haben auch eine Verantwortung, die Frage zu beantworten, wie die Entwicklung der
Diäten vor dem Hintergrund der Entwicklung der nächsten Jahre weitergehen soll.
Was wir vorgeschlagen haben, sind zwei Anpassungsschritte für das nächste und das übernächste Jahr in der
Größenordnung von 3,8 und 3,7 Prozent, was, wenn man
das auf die Wahlperiode insgesamt umrechnet, durchaus
mit der allgemeinen Lohn- und Einkommensentwicklung übereinstimmt. Wir machen damit einen Schritt, der
vertretbar ist, der nachvollziehbar ist und der dazu beiträgt, dass wir die gesetzlich angepeilte Größenordnung
wenn nicht erreichen, so ihr doch einen Schritt näher
kommen.
Wir haben uns aber auch entschieden, eine unabhängige Kommission einzuberufen, die sich mit der Frage
der Altersversorgung von Abgeordneten und mit der
Frage der künftigen Anpassung der Bezüge beschäftigen
soll. Wir werden diese Kommission so organisieren, dass
der Sachverstand, den es in unserer Gesellschaft gibt,
mit einbezogen wird. Wir werden am Ende der Wahlperiode darüber zu diskutieren haben, welche Veränderungen wir vor dem Hintergrund von Entwicklungen in der
Gesellschaft vornehmen müssen. Wir führen diese Diskussion offen. Wir führen diese Diskussion transparent.
Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen
im Deutschen Bundestag bedanken, die dazu beigetragen haben, dass wir gemeinsam einen vernünftigen und
vertretbaren Vorschlag vorgelegt haben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Oppermann für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
Art. 48 des Grundgesetzes haben die Abgeordneten Anspruch auf eine angemessene Entschädigung, die ihre
Unabhängigkeit sichert. Diese Vorschrift ist eine demokratische Errungenschaft; der Kollege Altmaier hat
schon darauf hingewiesen. Es ist sicher nicht richtig,
wenn jemand nur deshalb in die Politik geht, um dort
Geld zu verdienen; aber es kann auch nicht richtig sein,
wenn nur diejenigen in die Politik gehen, die es sich finanziell leisten können. Deshalb brauchen wir eine Abgeordnetenentschädigung, die es allen ermöglicht, im
Parlament Aufgaben zu übernehmen und den Beruf des
Abgeordneten auszufüllen.
Wir haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, dafür Maßstäbe zu finden, und sind im Jahr 1995
zu dem Ergebnis gekommen, dass sich eine angemessene Entschädigung in der Besoldungsgruppe R 6 oder
B 6 ausdrückt. Das ist die Besoldungsgruppe, die Bundesrichter und Bürgermeister in mittleren Städten erhalten.
Ich glaube, das ist ein angemessener Maßstab. Die
Abgeordneten haben schwierige Entscheidungen zu treffen. Sie tragen große Verantwortung. Sie müssen entscheiden über Bundeswehreinsätze im Ausland. Sie
müssen entscheiden, ob der Haushalt konsolidiert wird
oder ob Steuersenkungen gemacht werden sollen, wenn
Steuermehreinnahmen vorhanden sind. Sie müssen entscheiden, ob wir in Deutschland zukünftig eine Energieversorgung ohne Atomkraft und nur mit erneuerbaren
Energien haben wollen. Sie müssen entscheiden, ob wir
Griechenland unterstützen, damit der Euro stabilisiert
wird. Das sind schwierige Entscheidungen, komplexe
Entscheidungen; wir alle wissen, dass es keine einfachen
Entscheidungen sind. Die Arbeit, die hier gemacht wird,
ist anspruchsvoll, und sie bedeutet eine hohe Verantwortung. Also halte ich die Besoldungsgruppe R 6 für einen
vernünftigen Maßstab.
Die Abgeordneten müssen - so hat es das Bundesverfassungsgericht im Diätenurteil 1975 festgelegt - die
Entscheidung selber treffen; sie können sie nicht delegieren. Das muss ein offener, transparenter Prozess sein.
Das ist in Ordnung. Aber wir hatten nicht immer den
Mut und vielleicht auch nicht immer das Geschick, Diätenerhöhungen oder -anpassungen durchzusetzen. In den
letzten zehn Jahren hatten wir fünf Nullrunden. Am
Ende des Jahres werden wir schon rund 8 Prozent hinter
der Besoldungsgruppe R 6 liegen. Deshalb ist die jetzt
vorgesehene Anpassung notwendig. Sie bringt uns 2013
bei der Besoldungsgruppe R 6 auf den Stand von 2010.
Wir haben also keine vollständige Anpassung; wir haben
eine nachholende Anpassung. Die ist vernünftig. Das
Ganze hat Augenmaß.
Wenn ich sehe, wie unaufgeregt unsere Vorschläge
bisher kommentiert worden sind und dass es in ansonsten in dieser Frage außerordentlich kritischen Medien
sogar zustimmende Kommentare gab, dann zeigt das für
mich, dass dieser Vorschlag für die Anpassung akzeptiert wird. Wir sollten ihn ebenfalls akzeptieren und das
Ganze dann nächste Woche in der zweiten und dritten
Lesung beschließen.
Ich bin zuversichtlich, dass das gelingt und dass die
Abgeordnetenentschädigung das Vertrauen der Menschen in das Parlament nicht infrage stellt oder beeinträchtigt, den Abgeordneten aber eine vernünftige Arbeit
ermöglicht. Zum Bereich der Parteienfinanzierung wird
mein Kollege Wiefelspütz noch eine Anmerkung machen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege van Essen für die FDPFraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte meine Ausführungen mit einer Beobachtung beginnen. Als ich in meinem alten Beruf in der Justiz tätig war, wurde ich von meinen Studienkollegen ständig gefragt: Wie konntest du so unklug
sein - sie haben es etwas drastischer ausgedrückt -, in
die Justiz zu gehen? Mit deinem Examen hättest du doch
große Chancen, als Rechtsanwalt viel mehr Geld zu verdienen. - Das habe ich immer an mir abperlen lassen,
weil ich in meinem Beruf sehr viel Befriedigung gefunden habe, weil ich die Arbeit interessant fand und weil
ich gerne Angehöriger der Justiz war.
Dann wurde ich in den Bundestag gewählt und hatte
fast das gleiche Gehalt, aber mindestens die dreifache
Arbeitszeit. Früher, als ich noch Oberstaatsanwalt war,
hätte ich mich um diese Zeit auf das Anschauen des
heute journals vorbereitet. Jetzt stehe ich hier und arbeite noch.
({0})
Früher, als ich Oberstaatsanwalt war, hatte ich jedes Wochenende frei. Mein letztes freies Wochenende hatte ich
Anfang Februar. Von daher hat sich eine Menge getan
und verändert, insbesondere was die Betrachtung meines
Gehaltes anbelangt. Seitdem ich Abgeordneter bin, muss
ich mich wegen meines üppigen Gehalts verteidigen.
Vorher hat man sich über mein geringes Gehalt lustig gemacht; jetzt - mit dreifacher Arbeitszeit und viel größerer Verantwortung - muss ich mich, wie gesagt, wegen
meines Gehalts verteidigen. So unterschiedlich sind offensichtlich die Betrachtungsweisen.
Deshalb bin ich dankbar, dass die Kollegen, die bisher
geredet haben, darauf hingewiesen haben, dass wir keinerlei Grund haben, uns zu verstecken. Das gilt auch für
den Vorschlag, der jetzt zur Debatte steht.
Wenn Sie sich einmal vergegenwärtigen: Es gibt die
drei obersten Bundesorgane - den Bundestag, die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht. Alle
Organe sind gleichberechtigt. Dabei ist die Verantwortung sehr ähnlich gelagert, ebenso die Arbeitszeit. Das
Ministergehalt liegt jenseits der Besoldungsstufe B 11.
Das Gehalt der Verfassungsrichter liegt ebenfalls in dieser Größenordnung. Von daher bedeutet es überhaupt
keine Überschätzung der eigenen Position - sondern
ganz im Gegenteil ein Stück Bescheidenheit -, wenn wir
sagen: Wir wollen uns an B 6 orientieren.
In den letzten Jahren sind wir - weil wir zum Teil sogar
auf Anpassungen der Abgeordnetenentschädigung verzichtet haben - gegenüber B 6 ganz erheblich zurückgefallen. Wenn man sich einmal anschaut, wer in unserem
Umfeld - beispielsweise in der Bundestagsverwaltung oder wer von unseren Mitarbeitern in den Fraktionen in
der Gehaltsstufe B 6 und höher ist, dann wird man zu dem
Schluss kommen, dass es wahrscheinlich nur ganz wenige Institutionen gibt, wo diejenigen, die die eigentliche
Verantwortung tragen, weniger Geld verdienen als die
Mitarbeiter, die ihnen zuarbeiten. Auch das ist ein Grund,
warum wir uns mit unserem Vorschlag nicht verstecken
müssen.
Ich halte es daher für richtig, dass wir diese Anpassung vornehmen, und zwar in zwei Schritten. Der Kollege Oppermann hat schon darauf hingewiesen, dass wir
auch dann im Jahr 2013 die Besoldungsstufe B 6 nicht
erreichen, sondern dass wir nur auf den Stand des Jahres
2010 kommen. In der Zwischenzeit wird es sicherlich
noch Erhöhungen der Beamtenbesoldung geben, sodass
sich der Abstand im Jahre 2013 nochmals vergrößern
wird. Von daher denke ich, dass wir hier einen maßvollen Vorschlag vorlegen.
Ich möchte an etwas erinnern, das häufig untergeht.
Die meisten glauben, insbesondere die Altersversorgung
der Abgeordneten sei besonders üppig. Wer sich einmal
damit beschäftigt hat, weiß, dass es viele Witwen gibt,
die von einer sehr geringen Rente leben. Es ist auch kein
Geheimnis, dass der Bundestag da und dort helfen muss.
Auch wir mussten in bestimmten Fällen über eine Sozialkasse, die wir in der Fraktion haben, helfen, damit jemand überhaupt existieren konnte. Auch das gehört zur
Wirklichkeit; auch das muss bei einer so deutschen Debatte wie der heutigen angesprochen werden.
Wir von der FDP haben uns immer dagegen gewehrt,
dass wir mit Beamten verglichen werden. Wir haben das
Gefühl - daran hat sich nichts geändert -, dass wir eher
zu den freien Berufen gehören. Trotzdem kann und darf
die Beamtenbesoldung als Orientierungsmaßstab dienen.
Wir möchten aber, dass auch die Erfahrungen, die in der
letzten Zeit mit einigen neuen Modellen gemacht worden sind, in die Diskussionen einfließen. Der nordrheinwestfälische Landtag hat beispielsweise eine neue Form
der Altersversorgung eingeführt, übrigens mit Ergebnissen, die einen nicht zufriedenstellen können: Ein Kollege von mir, der nicht wieder in den Landtag gewählt
worden ist, ist im Augenblick ohne Gehalt, und zwar
schon seit etwa anderthalb Jahren. Das ist etwas, das
nicht eintreten darf. Wer für dieses Land gearbeitet hat,
kann, wenn er aus dem Parlament ausscheiden muss,
weil er nicht wiedergewählt worden ist, nicht plötzlich
auf der Straße stehen. Wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das nicht eintritt.
Ich freue mich deshalb sehr, dass wir zwischen den
Fraktionen insgesamt vereinbart haben, eine Kommission einzurichten, die sich genau das anschaut: das System, nach dem die Höhe der Abgeordnetenentschädigung bestimmt wird, und das System der
Altersversorgung. Sachsen hat beispielsweise ein interessantes Modell, bei dem mit Erfolgsfaktoren gearbeitet
wird, beispielsweise mit der Höhe des Bruttoinlandsprodukts; auch das sollte man sich anschauen.
Meine beiden Vorredner haben schon deutlich gemacht, dass die Parteienfinanzierung der allgemeinen
Entwicklung ganz erheblich hinterherhinkt. Auch da
wird angepasst, und zwar angemessen. Deswegen wird
meine Fraktion beides unterstützen: sowohl die Anpassung der Parteienfinanzierung als auch die Anpassung
der Abgeordnetenentschädigung.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Enkelmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jetzt ist es an mir, Wasser in den Wein zu kippen; ich vermute einmal, Sie haben mit nichts anderem
gerechnet. Herr van Essen, angesichts der Höhe der Diäten und der sonstigen Versorgung, die wir bekommen, ist
Mitleid nicht angebracht.
({0})
Seit Juni bekommen Rentnerinnen und Rentner in
diesem Land 0,99 Prozent mehr Rente;
({1})
das sind im Schnitt 10 Euro mehr. Das hat nun wahrlich
nicht zu La-Ola-Wellen der Seniorinnen und Senioren
geführt, zumal in Anbetracht einer Inflationsrate, die
über 2 Prozent liegt; die Rentenerhöhung hat also noch
nicht einmal die Inflation ausgeglichen.
({2})
Es wird ein Riesenbuhei um Steuerentlastungen gemacht, aber es kommt wohl nur ein Mäuschen heraus:
eine Entlastung um 20 Euro, kaum der Rede wert. In
diesem Haus und im Vermittlungsausschuss ist monatelang über 5 Euro mehr für Hartz-IV-Empfängerinnen
und -Empfänger diskutiert worden.
({3})
Das war eine unwürdige Debatte.
({4})
Jetzt feiern Sie sich schon dafür, dass Langzeitarbeitslose ab dem nächsten Jahr, ab 2012, möglicherweise
10 Euro mehr erhalten sollen.
Herr Altmaier, Herr van Essen, Herr Oppermann, machen wir es doch einmal konkret - warum haben Sie eigentlich die Zahlen nicht genannt? -: Ab 2012 soll jeder
Abgeordnete monatlich 292 Euro mehr erhalten, ab 2013
noch einmal 292 Euro mehr; das ist eine Steigerung um
fast 600 Euro innerhalb von zwei Jahren. Das ist unverschämt. Ich frage mich: Warum schämen Sie sich nicht
dafür?
({5})
Angesichts der mageren Zuwachsraten, die es bei Beschäftigten, Rentnerinnen und Rentnern und Langzeitarbeitslosen gibt, ist dieser Zuwachs bei Abgeordneten absolut unangemessen. Um die Erhöhung durchzusetzen,
reicht Ihnen nun eine Beratungszeit von gerade einmal
einer Woche;
({6})
innerhalb einer Woche wollen Sie das hier durchziehen.
Um uns das Ganze schmackhaft zu machen, haben Sie
nun angekündigt, eine Kommission zur Neuregelung der
Altersversorgung einzurichten. Eine solche Neuregelung
für den Bundestag ist längst überfällig, denn es ist nicht
hinnehmbar, dass Abgeordnete des Bundestages - im
Übrigen auch des Europaparlaments und eines Teils der
Landtage - nichts für ihre Altersversorgung einzahlen.
Die Linke legt Ihnen heute einen Antrag vor. Es geht
uns um die Neuregelung der Altersversorgung. Wir wollen, dass Abgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Das ist unser Vorschlag. Uns reicht das
aber nicht aus. Wir sagen: Wenn wir an das Abgeordnetengesetz herangehen, dann geht es um mehr Fragen.
Dann geht es auch um die Frage, ob die Kostenpauschale
auf den Prüfstand gehört und ob Abgeordnete in Sozialversicherungssysteme einzahlen sollen. Sie haben einen
Kollegen aus Ihrer Partei als Beispiel genannt.
({7})
Es gibt auch bei uns Kollegen, die zum Beispiel 2002
aus dem Bundestag ausgeschieden sind und die, weil wir
nicht in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, kein
Arbeitslosengeld bekommen und keinen Anspruch auf
Qualifizierung etc. haben. Insofern schlagen wir Ihnen
vor, dass auch Abgeordnete in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Warum nicht?
({8})
Wir wollen auch mehr Transparenz bei den Nebentätigkeiten und den Nebeneinkünften. Diesbezüglich führen wir zwar eine Diskussion in der Rechtsstellungskommission, aber wir kommen auch an dieser Stelle nicht
weiter. Sie beschränken sich auf einen kräftigen Schluck
aus der Diätenpulle und eine vage Ankündigung in Sachen Pension. Das ist der Linken zu wenig.
Danke.
({9})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
schon erstaunt, dass es nach den Vorstellungen der Linken mehr geben soll als die von uns vorgeschlagene Anpassung an R 6, also an das, was die obersten Bundesrichter bekommen.
({0})
Frau Kollegin Enkelmann, ich finde, Sie haben recht:
Wir brauchen kein Mitleid.
({1})
Das hat auch niemand in der Debatte für uns eingefordert. Ich glaube, wir haben ein sehr gutes Einkommen,
um das uns viele in der Bevölkerung beneiden, auch diejenigen, die schwer arbeiten müssen und teilweise erbärmliche Gehälter bekommen. Wir können im Rahmen
der Diskussion über die Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung nicht die Debatte über unsere Sozialversicherungssysteme, Mindestlöhne und alles mögliche andere führen. Diesbezüglich haben wir ganz
andere Auffassungen als die Damen und Herren von der
Koalition, und wir finden, auch da muss etwas geschehen. Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, zu
entscheiden, was die angemessene Entschädigung und
Versorgung von Abgeordneten ist.
({2})
Natürlich kann man die anderen beschimpfen. Sprüche wie „Ein gehöriger Schluck aus der Pulle!“ kommen
in bestimmten Medien immer gut an. Das wird von vielen Menschen falsch verstanden, auch deswegen, weil es
ihnen schlecht geht und sie unsere Situation aus einer anderen Perspektive betrachten. Das nehme ich ernst und
verstehe das.
Sie schreiben in Ihrem Antrag lapidar:
Der Orientierungsmaßstab der monatlichen Abgeordnetenentschädigung ist kritisch zu überprüfen.
Ihrem Antrag entnehme ich aber keine Kriterien für die
kritische Überprüfung. Ich finde, wer die anderen für einen konkreten Vorschlag kritisiert, der auf Heller und
Pfennig genau durchgerechnet ist, muss selber Flagge
zeigen und seinen Vorschlag konkretisieren.
({3})
Volker Beck ({4})
Unsere Partei hat früher einmal gesagt: Facharbeitergehalt. Das kann man vertreten. Was man vorschlagen
will, hängt von der politischen Kultur ab. Ich finde, man
sollte das aufschreiben und sich nicht um die entscheidende Frage, die in dieser Debatte beantwortet werden
soll, herumdrücken.
Das Bundesverfassungsgericht - das wird auch in der
Begründung des Gesetzentwurfs deutlich - hat die Bedeutung der angemessenen Entschädigung für die Unabhängigkeit des Mandats betont. Mir geht es weniger um
das Geld, um Heller und Pfennig, sondern um unsere
verfassungsrechtliche Position als Abgeordnete. Das Gericht hat gesagt, „die reguläre Entschädigung von Zeit zu
Zeit den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen“
sei notwendig, um das zu erreichen; „auch dadurch, dass
die Entschädigung im Gefolge der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die Grenze der Angemessenheit unterschreitet, wird die Freiheit des Mandats gefährdet.“
Das ist ein wichtiger Rechtsgrundsatz.
Dann ist die Frage: Was ist die angemessene Vergleichsgröße? Darüber kann man streiten, aber man
muss konkrete Vorschläge machen. Das Abgeordnetengesetz nennt eine konkrete Bemessungsgrenze. Es besagt, dass sich die Entschädigung von Bundestagsabgeordneten an den Bezügen oberster Bundesrichter oder
von Bürgermeistern mittlerer und kleinerer Gemeinden
orientiert. Daran orientiert sich der vorliegende Vorschlag. Ich finde das angemessen und vertretbar. Ich bin
aber gerne bereit, auch über andere Vorschläge zur Angemessenheit zu reden; sie müssen nur so konkret sein,
dass ich sie beurteilen kann. Das ist bei diesem Antrag
nicht der Fall.
Sie als Linke müssten ein Interesse an der historischen Entwicklung der Entschädigung der Abgeordneten
haben. Es war auch für die Arbeiterbewegung eine große
soziale Emanzipation, dass wir - anders als 1871 - nicht
mehr die Situation hatten, dass man für sein Mandat
nichts bekommt. Zuvor musste man sozusagen Geld mitbringen und hat sich dann durch die Art seiner politischen Tätigkeit wirtschaftliche Vorteile zulasten der Allgemeinheit organisiert, statt dafür bezahlt zu werden,
dass man für das Allgemeinwohl politisch tätig ist.
Max Weber hat es in seiner Schrift Politik als Beruf
sehr treffend - ich glaube, treffender kann man es nicht
beschreiben - zusammengefasst:
Die Leitung eines Staates oder einer Partei durch
Leute, welche ({5})
ausschließlich für die Politik und nicht von der
Politik leben, bedeutet notwendig eine „plutokratische“ Rekrutierung der politisch führenden Schichten. Damit ist freilich nicht auch das Umgekehrte
gesagt: dass eine solche plutokratische Leitung
auch zugleich bedeutete, dass die politisch herrschende Schicht nicht auch „von“ der Politik zu Leben trachtete, also ihre politische Herrschaft nicht
auch für ihre privaten ökonomischen Interessen
auszunutzen pflegte.
Diese Art von politischer Rekrutierung und politischer Führung wollen wir ausdrücklich nicht. Deshalb
haben wir gesagt, dass wir uns dem Gesetzentwurf der
anderen Fraktionen anschließen, der sich an einem Bemessungsrahmen orientiert, der nachvollziehbar ist. Dies
ist übrigens auch beim Parteiengesetz so, an dem Sie
seltsamerweise wenig Kritik üben, obwohl sie daraus die
Gehälter Ihrer Parteivorsitzenden, Herrn Ernst und Frau
Lötzsch, finanzieren.
Ich finde, in beiden Fällen ist es richtig, dass wir uns
an Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und an gesetzliche Vorgaben halten. Das ist vertretbar. Ich finde,
wir sollten - bei aller Zurückhaltung und bei allem Respekt gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, die wesentlich weniger haben als wir - den Mut haben, das
nach außen zu vertreten und zu erklären. Für mich als
Abgeordneter ist das auch ein Aufruf, mich im Bereich
der sozialen Sicherung und der Mindestlöhne für die
Menschen, die arm sind, die von Hartz IV leben müssen
oder einen geringen Lohn haben, zu engagieren.
({6})
Aber das bleibt anderen Debattenpunkten hier im Deutschen Bundestag vorbehalten.
({7})
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine starke Demokratie braucht aktive Parteien. Das haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes seinerzeit
zu Recht erkannt; sie haben ja auch die besondere Aufgabe der politischen Parteien im Grundgesetz festgeschrieben. Dem folgt auch die Tatsache, dass wir in
Deutschland eine staatliche Parteienfinanzierung haben,
dass wir uns als politische Parteien in Deutschland eben
nicht ausschließlich über Spenden finanzieren, wie es in
vielen anderen Ländern der Fall ist.
Es ist wichtig, festzuhalten, dass der Staat die Parteienfinanzierung nicht einfach nach Gutdünken organisiert, sondern dass die Parteienfinanzierung klaren Regeln folgt. Letztlich unterstützt der Staat die Parteien in
dem Maße, wie die Bürger sie wählen und unterstützen,
also nach Maßgabe von Stimmen bei Wahlen, von Spenden und von Mitgliedsbeiträgen, die politische Parteien
erhalten.
Das Parteiengesetz schreibt seit 2002 eine Obergrenze vor. Das Parteiengesetz sieht auch vor, dass diese
Obergrenze jährlich angepasst wird und sich an parteitypischen Ausgaben orientiert. Heute bleibt festzustellen
- das ist schon angedeutet worden -, dass diese Obergrenze seitdem zwar jährlich immer wieder neu ermittelt
Stefan Müller ({0})
worden ist, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen zu
keinem Zeitpunkt angepasst wurde. Deswegen haben
wir bei der Parteienfinanzierung heute einen erheblichen
Rückstand gegenüber dem, was der Gesetzgeber 2002
für angemessen gehalten hat. Daraus wollen wir die
Konsequenz ziehen. Die Obergrenze soll nun schrittweise erhöht werden, und in den Folgejahren sorgen wir
dann für eine regelmäßige Anpassung im Rahmen eines
geregelten Verfahrens.
Ich sage noch einmal: Eine starke Demokratie
braucht, um dem grundgesetzlichen Auftrag nachzukommen, aktive und starke Parteien. Deswegen brauchen Parteien auch eine angemessene Finanzierung.
Was die Entschädigung der Abgeordneten angeht, haben wir natürlich ein ähnliches Problem. Der Richtwert
für die Entschädigung ist zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt worden. Es ist immer eine subjektive
Entscheidung, wie dieser Richtwert aussieht. Das ist vor
allem deswegen so, weil man nun einmal die Tätigkeit
eines Abgeordneten nur wenig mit vielen anderen Tätigkeiten vergleichen kann. Man kann sie zugegebenermaßen nicht wirklich mit der Tätigkeit eines Kommunalbeamten vergleichen. Genauso wenig ist sie mit der
Tätigkeit eines Bundesrichters zu vergleichen - und erst
recht nicht mit der von freiberuflich Tätigen, Arbeitnehmern und vielen anderen. Deswegen ist die Entscheidung, die getroffen worden ist, eine subjektive und politische Entscheidung gewesen, indem man festgelegt hat:
Die Entschädigung der Bundestagsabgeordneten orientiert sich an der Vergütung von Bundesrichtern oder an
der von Oberbürgermeistern mittelgroßer Städte.
Das Grundgesetz hat uns ausdrücklich den Auftrag
mitgegeben, dafür zu sorgen, dass Abgeordnete eine angemessene Vergütung bekommen, die ihre Unabhängigkeit sichert. Das Bundesverfassungsgericht hat dies noch
einmal in dem Sinne konkretisiert, dass es gesagt hat:
Die Entschädigung bzw. die Vergütung der Abgeordneten muss der Bedeutung des Amtes im Verfassungsgefüge gerecht werden. Sie muss auch die Verantwortung
und die Belastung der Abgeordneten entsprechend und
ausreichend berücksichtigen.
({1})
- Vor allem soll es öffentlich diskutiert werden. Auch
dies hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit klargestellt. Ich gehe einmal davon aus, dass sich der Tatbestand einer öffentlichen Diskussion, Herr Ströbele, nicht
danach richtet, wie viele Zuhörerinnen und Zuhörer wir
haben. Es stellt vielmehr schon eine öffentliche Diskussion dar, wenn wir hier in einer öffentlichen Sitzung darüber diskutieren. Letztlich ist die Öffentlichkeit auch
schon dadurch hergestellt, dass selbstverständlich auch
die Medien, wie es in dieser Woche bereits geschehen
ist, Kenntnis davon erhalten und darüber berichten.
Schon 1990 hat ein Rat von unabhängigen Persönlichkeiten in einem Bericht an die damalige Präsidentin
des Deutschen Bundestages festgestellt - ich darf hier zitieren -:
Legt man diesen Maßstab zugrunde, so weist schon
die Tatsache, dass Abgeordnete als Vertreter des
ganzen Volkes das einzig unmittelbar demokratisch
legitimierte Verfassungsorgan darstellen, auf den
hohen Rang dieses Amtes und seine fundamentale
Bedeutung für die Demokratie hin. Nimmt man neben der gesteigerten „politischen“ Verantwortung
noch die starken Belastungen hinzu, denen Abgeordnete ausgesetzt sind, dann müssen alle Vergleiche mit ähnlichen Berufen in Staat und Wirtschaft
bei Spitzenpositionen ansetzen.
Ich glaube, in diesem Sinne sollten wir mit dem nötigen Selbstbewusstsein die Entscheidungen, die wir
selbst zu treffen haben, auch in der Öffentlichkeit vertreten. Deswegen bitte ich alle um eine entsprechend konstruktive Begleitung des weiteren Verfahrens.
({2})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die sozialdemokratische Fraktion unser Kollege Dr. Dieter
Wiefelspütz.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Paket aus Änderung des Abgeordnetengesetzes
und der Parteienfinanzierung ist von den Parlamentarischen Geschäftsführern Altmaier, Beck, Oppermann und
van Essen erarbeitet worden. Frau Enkelmann war,
denke ich, informiert, ist aber anderer Auffassung. Ich
denke, das Paket, das die Parlamentarischen Geschäftsführer erarbeitet haben, ist - auch in den Details - klug,
grundsolide und überzeugend.
({0})
Weil das so ist, ist die öffentliche Reaktion auch entsprechend.
Wir als Abgeordnete werden ordentlich bezahlt. Es
gibt überhaupt keinen Grund, uns zu beklagen. Wir werden in unserem Amt nicht reich - das muss auch nicht
sein -, aber wir haben ein ordentliches Gehalt, das sicherlich höher ist als das der weitaus meisten Menschen
in den Wahlkreisen, die uns wählen.
({1})
Die uns den Auftrag geben, Herr Ströbele, völlig richtig.
Ich denke, dass die gesetzliche Regelung, die jetzt
vorgeschlagen wird - pro Jahr in dieser Wahlperiode
knapp 2 Prozent Zuwachs beim Gehalt der Abgeordneten -, in Ordnung ist. Sie ist überzeugend und eignet sich
nicht ansatzweise für irgendeine Art von Skandalisierung. Deswegen sage ich: Das passt; das ist in Ordnung.
Dieses Konzept wird in der zweiten und dritten Lesung
eine breite Zustimmung bekommen. Auch Sie, Herr
Ströbele, werden dann zustimmen, weil Sie finden, dass
das in Ordnung ist.
Ich will noch zwei, drei Sätze zur Parteienfinanzierung sagen. Wir haben den Fehler gemacht, die Parteienfinanzierung, die eine große Errungenschaft des Verfassungsstaates Deutschland ist, neun Jahre lang zu deckeln
und nicht zu verändern. Die Kostensteigerungen, die vor
allen Dingen bei den Gehältern unserer Mitarbeiter zu
verzeichnen waren, nicht aufzufangen und einfach einen
Deckel darauf zu machen, ist nichts anderes als eine
- Herr Altmaier hat darauf hingewiesen - strukturelle
Verschlechterung der Arbeit der politischen Parteien. Es
ist richtig, dass wir die Kostensteigerungen, nachholend
in zwei Schritten, einbauen und das Ganze dann indexieren, damit solche Fehler nicht noch einmal gemacht werden.
Parteien sind in unserer Demokratie nicht alles, aber
sie sind doch ein wichtiger Teil einer parlamentarischen
Demokratie. In Deutschland gibt es keine totale Staatsfinanzierung, sondern nur eine auf das Notwendigste beschränkte Teilfinanzierung der politischen Parteien. Das
ist ein Vorzug unseres Landes, weil es die politischen
Parteien nicht abhängig macht, beispielsweise von der
großen Kapitalkraft privater Spender. Das ist ein sehr
ausgewogenes Konzept. Wir sollten jetzt damit Schluss
machen, einen Deckel darauf zu machen, was zu einer
strukturellen Verschlechterung der Arbeit der politischen
Parteien führt. Die Kostensteigerungen, die auch durch
die Inflationsrate und die Tarifsteigerungen begründet
sind, in einen Index einzubauen, ist klug. Das hätte uns
schon früher einfallen sollen.
({2})
Das wird jetzt gemacht. Dies verschafft uns eine kluge
und zukunftsweisende Regelung.
Ein letzter Wunsch. Es gibt den Satz: Wenn man nicht
mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis. Viele sagen, das würde nichts bringen. Ich habe einen
kleinen Hinweis zu geben: Die beste und klügste Diätenregelung, die es in Deutschland gibt, ist die des Landes
Bayern. Von Bayern kann man an der einen oder anderen
Stelle durchaus lernen.
({3})
In Bayern wird am Anfang einer jeden Wahlperiode ein
Index erstellt, Norbert Geis, in den die gesamte Bevölkerung einbezogen wird: Rentner, Landwirte, Freiberufler
und Arbeitnehmer. Dann rechnet das Landesamt für Statistik aus, wie hoch die Einkommenssteigerungen sind.
Daraufhin leitet es einen Vorschlag an den Landtag weiter, und der Landtag entscheidet. Das ist gerecht. Die
Abgeordneten haben dann an der allgemeinen Einkommensentwicklung teil. Wir wollen, was die Einkommensentwicklung angeht, schließlich nicht mehr als das Volk.
An die Adresse der Parlamentarischen Geschäftsführer
sage ich: Diese Regelung sollte man sich noch einmal
genauer anschauen. Sie ist zukunftsweisend.
({4})
Das Paket, das Sie erarbeitet haben, ist eine runde Sache. Das ist uns in der Vergangenheit nicht immer so gut
gelungen. Es verdient wirklich eine breite Zustimmung
dieses Parlaments.
Schönen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6291 und 17/6305 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 14 aufrufe, darf
ich Ihnen bekannt geben - ich glaube, das ist eines nationalen Parlamentes würdig -, dass unsere Frauenfußballnationalmannschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt 1 : 0
führt.
({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kirsten
Lühmann, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Barrierefreie Mobilität und barrierefreies
Wohnen - Voraussetzungen für Teilhabe und
Gleichberechtigung
- Drucksache 17/6295 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) -
Sie alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen uns vor, sodass ich sie nicht
einzeln verlesen muss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6295 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Somit ist diese Überweisung beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, dass wir jetzt zum
Zusatzpunkt 11 kommen. Dadurch gibt es zwei Änderun-
gen im Ablauf. Der Tagesordnungspunkt 11 wird nach
Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen, und der Tagesor-
dnungspunkt 15 wird nach Tagesordnungspunkt 18 auf-
gerufen. - Ich sehe, Sie sind mit dieser Vereinbarung ein-
verstanden. Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
1) Anlage 17
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe die Zusatzpunkte 11 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Neunundzwanzigsten Gesetzes
zur Änderung des Abgeordnetengesetzes Einführung eines Ordnungsgeldes
- Drucksache 17/5471 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
- Drucksache 17/6309 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({3})
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({4})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Geschäftsordnungsausschusses
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Einführung eines Ordnungsgeldes
({5})
- Drucksache 17/6309 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({6})
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({7})
Zum Gesetzentwurf und zur Beschlussempfehlung
liegen je zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es widerspricht niemand. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner dieser Debatte ist unser Kollege
Bernhard Kaster. Ich darf Ihnen das Wort geben. Bitte
schön, Kollege Bernhard Kaster.
({8})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die heutige Debatte hätten wir uns eigentlich gern erspart. Über Jahrzehnte ist dieses Haus
ohne ein Ordnungsgeld in der Geschäftsordnung vorzusehen ausgekommen. Noch in der letzten Legislaturperiode haben wir uns dagegen gesträubt, eine solche Regelung einzuführen, obwohl es auch da schon eine Reihe
von Vorkommnissen vonseiten einer einzigen Fraktion
gegeben hat. Aber die neuen Eskalationen in dieser Legislaturperiode haben auch bei uns zu dem Entschluss
geführt, einem Ordnungsgeld letztlich zuzustimmen.
Es bleibt inakzeptabel, dass eine einzige Fraktion,
und zwar die Nachfolgerpartei der kommunistischen
SED
({0})
- das stimmt doch; oder ist das nur die Sprachregelung
Ihrer Schatzmeister? -,
({1})
immer und immer wieder die Geschäftsordnung, das
heißt die Spielregeln der Demokratie, missachtet. Das ist
ein Beleg dafür, dass Sie in der Demokratie noch nicht
angekommen sind.
({2})
Der Deutsche Bundestag ist der Ort der parlamentarischen Auseinandersetzung. Er ist der Ort der Debatte,
auch der hitzigen und emotionalen Debatte. Er ist aber
kein Ort für Klamauk, Störung und Demonstrationen.
Spruchbänder oder Masken haben hier schlichtweg
nichts zu suchen.
({3})
Die Linksfraktion spricht dabei immer gern verharmlosend von „angeblichen Störaktionen“. Nein, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, das sind keine „angeblichen
Störaktionen“. Es sind schwerwiegende Verletzungen
der parlamentarischen Ordnung.
({4})
Es sind schwerwiegende Störungen, wie sie im Übrigen
in dieser und ähnlicher Form immer und immer wieder
von Extremisten jeglicher Couleur in demokratischen
Parlamenten praktiziert wurden und werden.
({5})
Da sogar die Führung der Fraktion Die Linke solche
Aktionen, wie Sie es nennen, öffentlich gutheißt, stimmen wir nun der zusätzlichen Einführung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 1 000 Euro, im Wiederholungsfalle von 2 000 Euro, zu. Das ist eine Regelung, die
ihren Niederschlag im Abgeordnetengesetz und in der
Geschäftsordnung finden muss.
Der Geschäftsordnungsausschuss hat sich ausgesprochen intensiv mit der Frage befasst, wie die neue Regelung im Einzelnen auszugestalten ist. Die aus Art. 40
Grundgesetz hervorgehende Parlamentsautonomie berechtigt zur Verhängung von Ordnungsmaßnahmen auf
der Grundlage der Geschäftsordnung; das war auch bisher der Fall. Mit der Einführung eines Ordnungsgeldes
werden aber auch Statusrechte berührt, sodass auch eine
Verankerung im Abgeordnetengesetz notwendig wird.
({6})
In den Beratungen haben wir eine sehr übersichtliche
und für die Handhabung klare Regelung getroffen. Im
Wortlaut und in der Systematik haben wir nun für Ordnungsmaßnahmen klare Eskalationsstufen definiert. In
den §§ 36 bis 38 der Geschäftsordnung finden wir nunmehr den Ruf zur Sache, den Ordnungsruf, die Wortentziehung und - jetzt neu - das Ordnungsgeld sowie den
schon immer geregelten Sitzungsausschluss. Diese klare
Gliederung mit den unterschiedlich definierten Störungen ist auch der Grund dafür, als Ordnungsgeld einen
Festbetrag vorzusehen. Das Ordnungsgeld muss im direkten Zusammenhang mit anderen Ordnungsmaßnahmen gesehen werden.
({7})
Was wir in keinem Falle wollen, ist, Unsinn, Klamauk
und Störungen auch noch zu katalogisieren. Das wollten
wir nicht.
Es ist bedauerlich, dass sich die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen von ihrer anfänglich signalisierten Zustimmung zur Einführung eines Ordnungsgeldes wieder verabschiedet hat. Bei allen Beratungen war förmlich spürbar, wie Sie fast krampfhaft versucht haben, ein Vehikel
zu finden, um beim Ordnungsgeld die Gemeinsamkeit
zu verlassen und damit letztlich - das ist der wahre
Grund - für einige wenige in Ihrer Fraktion noch ein
Hintertürchen für Klamauk im Plenum offenzuhalten.
({8})
- Ein Hintertürchen wollen Sie offenhalten. Sonst wären
Sie ja von dem Weg nicht abgegangen.
Dafür kommen Sie nun mit juristischen Spitzfindigkeiten und stoßen sich am Begriff der Würde des Deutschen Bundestages. Was Sie an diesem Begriff und vor
allem an der Einhaltung dieser Würde zu kritisieren haben, wird in Deutschland ein Normalbürger überhaupt
nicht nachvollziehen können. So wie wir auch in der Gerichtsverfassung den Begriff der Würde des Gerichtes
kennen, wird auch jeder amtierende Bundestagspräsident hiermit überhaupt keine Probleme haben. Im Gegenteil, gerade bei Ordnungsmaßnahmen wird das eine
zusätzliche Hilfe sein.
({9})
Im Übrigen hat sich das Landesverfassungsgericht in
Mecklenburg-Vorpommern sehr ausführlich mit diesem
Begriff auseinandergesetzt und noch einmal klargestellt,
dass ein Parlament selbstverständlich die Einhaltung der
Würde einfordern und dafür auch Sanktionen vorsehen
kann.
Mit den heutigen Änderungsanträgen gehen Sie aber
noch einen Schritt weiter. Sie wollen nunmehr, wie auch
die Fraktion Die Linke, den schon jahrzehntelang einvernehmlich bestehenden Sitzungsausschluss infrage
stellen. Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass wir bei
unseren Beratungen unterschiedlichste politische Konstellationen mit einbezogen haben, die wir bedauerlicherweise auch für die Bundesversammlung - hier gilt
ebenso die Geschäftsordnung - befürchten müssen oder
die wir in Landtagen schon haben. In den Landtagen gab
es da von Ihnen, von der Linksfraktion, keinen Widerspruch dazu.
Ich betone heute nochmals: Es geht ausschließlich um
die Neueinführung eines Ordnungsgeldes. Alle anderen
Ordnungsmaßnahmen bleiben bestehen, wie sie sind. Es
bleibt dabei: Beim Sitzungsausschluss sehen wir keinen
Änderungsbedarf. Im Übrigen beraten wir auch nicht auf
der Grundlage von Briefen, die uns noch nicht einmal
zugegangen sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die notwendige
Einführung eines Ordnungsgeldes ist wirklich kein Ruhmesblatt für unser Parlament. Wir hätten uns das gerne
erspart. Aber ich appelliere an Sie, vor allem an die
Linksfraktion: Ersparen Sie uns dann zumindest die Anwendung.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner in unserer Debatte ist der Kollege
Christian Lange für die Fraktion der Sozialdemokraten.
Bitte schön, lieber Kollege Lange.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, wir leben in einer Mediendemokratie, in
der Bilder häufig mehr zählen als Worte. Alles drängt ins
Fernsehen,
({0})
und das prägt die Art und Weise unseres Miteinanders.
Politik wird zu Unterhaltungszwecken gebraucht und
manchmal auch missbraucht. Inhalte bleiben dabei häufig auf der Strecke. Dabei haben sich unsere gesamte
Kultur und unsere politische Kommunikation verändert,
auch hier bei uns im Deutschen Bundestag, in diesem
Hohen Hause.
Wir haben auch schon einige Auswüchse davon erleiden dürfen, zum Beispiel die protestierenden Abgeordneten der Fraktion Die Linke mit Transparenten oder gar
mit Masken. Letztlich zerstören wir aber mit einer solchen Form der Auseinandersetzung die ernsthafte politische Auseinandersetzung, den ernsthaften politischen
Diskurs. Das dürfen wir nicht tolerieren. Wir müssen die
Würde des Hauses schützen.
Die Würde des Hauses zu schützen, das ist in der Tat
eine Aufgabe, die unsere Geschäftsordnung und am
Ende auch das Abgeordnetengesetz zu tragen haben. Der
Kollege Kaster hat bereits darauf hingewiesen: Das
Christian Lange ({1})
Urteil des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern hat dies entsprechend bestätigt. Deshalb
möchte ich es an dieser Stelle - mit Genehmigung des
Herrn Präsidenten - einmal zitieren.
({2})
Dort heißt es:
Der Begriff der parlamentarischen Ordnung kann
dabei nicht allein auf den äußeren Ablauf der Plenarsitzung und unmittelbare Störungen der Beratungen und der politischen Diskussion im Parlament begrenzt werden. Vielmehr sind weitergehend
auch die Werte und Verhaltensweisen zu berücksichtigen, die sich in der demokratischen und vom
Repräsentationsgedanken getragenen parlamentarischen Praxis entwickelt haben und die durch die
historische und politische Entwicklung geformt
worden sind. Das Parlament ist berechtigt, seine
Mitglieder durch Verhaltensregeln auch auf die
Wahrung der Würde des Landtages
- Mecklenburg-Vorpommern im Sinne eines von gegenseitigem Respekt getragenen Diskurses zu verpflichten.
({3})
Es darf deshalb Verstöße sanktionieren, wo es diese
Würde gefährdet oder verletzt sieht, etwa weil das
Verhalten eines Abgeordneten erkennen lässt, dass
er den für eine sachbezogene Arbeit notwendigen
Respekt gegenüber den übrigen Parlamentariern
oder der Sitzungsleitung vermissen lässt und damit
zwangsläufig auch das Ansehen des Hauses nach
außen beschädigt.
Ich meine, es ist in einer wunderbaren Form dargestellt,
({4})
warum die Würde des Hauses schützenswert ist. Der
Deutsche Bundestag sollte deshalb nicht davor zurückschrecken.
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt deshalb auch die
Änderungsanträge der Grünen ab, die den Begriff
„Würde des Bundestages“ gestrichen haben wollen. Obwohl Bündnis 90/Die Grünen zu Beginn der Beratungen
für die Einführung eines Ordnungsgeldes war, versuchen
Sie nun leider, über die Kritik an diesem Begriff Sand
ins Getriebe zu streuen.
({5})
Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen und hier
im Plenum des Deutschen Bundestages eine neue Ernsthaftigkeit praktizieren und dürfen nicht versuchen, den
Talkshows Konkurrenz zu machen.
({6})
Wir wollen hier Argumente austauschen und nicht nur
politische Debatten simulieren. So ein Verhalten lehne
ich ab, weil dadurch letztlich die Glaubwürdigkeit von
uns allen untergraben wird.
({7})
Ich bin überzeugt davon, dass es in der Bevölkerung eine
tiefe Sehnsucht nach Ernsthaftigkeit gibt, und von den
Volksvertretern darf dies zu Recht auch erwartet werden.
Deshalb brauchen wir diese Änderungen.
Wir haben die Einführung eines Ordnungsgeldes
schon lange verlangt. Leider konnten wir uns damit in
der Großen Koalition noch nicht durchsetzen, heute ist
es aber in der Tat so weit. Wer in Zukunft anstatt mit
ernsthaft geführten Debatten durch despektierliches Auftreten und Verhalten in Erscheinung tritt, muss mit einer
Ordnungsstrafe in Höhe von 1 000 Euro und im Wiederholungsfall von 2 000 Euro rechnen. Damit sorgen wir
übrigens auch dafür, dass sogenannte Wiederholungstäter angemessen und unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit mit einer Ordnungsstrafe belegt werden
können.
({8})
Mit diesem Sanktionsinstrument schaffen wir ein Mittel, durch das die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird,
wenn es darum geht, ungebührliches und unwürdiges
Verhalten im Parlament zu ahnden. Die bisherigen Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, waren entweder zu lax eine Rüge wurde häufig nicht einmal zur Kenntnis genommen,
({9})
andere haben sie auch gerne gesammelt -, oder der Ausschluss von Mitgliedern des Bundestages von Beratungen durch den Bundestagspräsidenten war ein zu schweres Geschütz. Durch die Einführung eines Ordnungsgeldes für ungebührliches und ein der Würde des Hauses
unangemessenes Verhalten wollen wir sicherstellen, dass
es hier im Bundestag ausschließlich zum sachlichen
Austausch von Argumenten kommen kann.
Wir dulden also keinen Krawall um des Krawalls willen und keine Provokation um der Provokation willen.
Hochgehaltene Transparente entsprechen nicht dem Diskussionsstil eines Parlamentes. Dies wollen wir auch in
Zukunft so halten.
({10})
Die Möglichkeit des Sitzungsausschlusses wird hier
zwar zum ersten Mal gesetzlich geregelt, ist aber in der
Tat nicht neu, sondern war zuvor nur in der Geschäftsordnung geregelt. Sie bestand seit Konstituierung des
Deutschen Bundestages. Wir haben keinen Anlass, daran
etwas zu ändern - im Gegenteil. Durch das Ordnungsgeld wird für eine bessere und verhältnismäßigere Hand13526
Christian Lange ({11})
habung der Ordnungsmaßnahmen gesorgt; denn zwischen Rüge und Sitzungsausschluss wird es in Zukunft
ein milderes Mittel, das Ordnungsgeld, geben.
An die Grünen gerichtet:
({12})
Vergessen Sie bitte nicht: Manche von Ihnen haben ihre
politische Karriere erst mit einem Sitzungsausschluss
begonnen.
({13})
Meine Damen und Herren, der Bundestag ist der Ort
des Argumentes, nicht der Ort der Aktion. So soll es
auch bleiben. Deshalb bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächster Redner in unserer Debatte ist unser Kollege
Jörg van Essen für die Fraktion der FDP.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich staune schon sehr: Ich höre von den
Grünen, „Würde“ sei ein unbestimmter Rechtsbegriff
und deshalb nicht tauglich, in die Bestimmung aufgenommen zu werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt Art. 1 des Grundgesetzes. Auch hier haben wir einen unbestimmten Rechtsbegriff. Ich kenne
aber niemanden, der eine entsprechende Änderung des
Art. 1 des Grundgesetzes verlangen würde. Schon daran
zeigt sich, wie schwach die Argumente der Grünen sind.
({0})
Wie wichtig es ist, dass wir uns mit dem Thema
Würde befassen - auch mit der Würde des Parlaments -,
hat sich, glaube ich, in der ersten deutschen Demokratie
gezeigt. In der Weimarer Republik wurde von Extremisten von links und rechts ständig versucht, genau diese
Würde des Parlaments, der parlamentarischen Vertretung, mit Füßen zu treten. Daran ist dann auch die Demokratie gescheitert.
({1})
Deshalb haben wir eine ganz besondere Verantwortung
dafür, dass so etwas in unserem Land nicht wieder geschieht.
Dass Anlass zur Sorge besteht, sehen wir in den
Landtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Der Kollege Lange hat ein entsprechendes Urteil des
Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern
gerade zitiert. Auch das, was wir hier im Deutschen
Bundestag von der Linksfraktion erlebt haben,
({2})
ist nicht erträglich.
({3})
Jeder Abgeordnete hat jedes Recht der Welt, sich zu jedem Thema zu Wort zu melden. Deshalb bedarf es all
dieser Aktionen natürlich nicht. Das Parlament ist ein
Ort des Wortes und kein Ort für Kasperleaktionen, die
dann natürlich den Weg ins Fernsehen finden und unter
anderem deshalb veranstaltet werden.
Ich weiß nicht, wie es den Kollegen gegangen ist, die
zum Teil an den Entscheidungen über Ordnungsmaßnahmen beteiligt waren. Ich hatte immer ein schlechtes Gefühl, wenn ein Sitzungsausschluss entschieden wurde.
Aber dies war notwendig, weil das Instrumentarium
nicht breit genug war. Zu einem Rechtsstaat - die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat - gehört immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Ich bin dem Kollegen Lange, der gerade vor mir geredet hat, ganz außerordentlich - das will ich hier ausdrücklich sagen - dankbar. Er war es nämlich, der die
Initiative ergriffen hat. Am Anfang hat er Widerspruch
bekommen. Ich habe ihn unterstützt, weil mir das von
Anfang an ein richtiger Weg zu sein schien. Er hat sich
nicht beirren lassen und weiter für seine Idee geworben.
Ich bin ihm dafür ganz außerordentlich dankbar, weil ich
denke, dass wir hier einen richtigen Schritt machen. Der
amtierende Präsident hat nun die Möglichkeit, angemessen zu reagieren.
Das Ordnungsgeld, das wir vorsehen, ist wie alle anderen Ordnungsgelder, die es in anderen Bestimmungen
gibt, auf einen bestimmten Betrag festgesetzt. So wie
man weiß, dass dann, wenn man im Auto 20 Stundenkilometer schneller als erlaubt gefahren ist, eine bestimmte
Geldbuße, die im Bußgeldkatalog festgelegt ist, zu zahlen ist, so gibt es das jetzt auch bei entsprechenden Verstößen. Auch bei der Wiederholung ist klar, welches
Bußgeld jeweils fällig wird. Auch da haben wir uns an
die allgemeinen Regeln gehalten. Es war gut und richtig,
das so zu tun.
Ich verstehe die Bedenken, die jetzt plötzlich von den
Grünen hinsichtlich des Ausschlusses vorgetragen werden, nicht.
({4})
Der Ausschluss als Disziplinarmaßnahme, die dem Präsidenten zur Verfügung steht, hat eine unglaublich lange
Tradition in allen deutschen Parlamenten. Das haben wir
nicht jetzt erfunden, sondern diese Möglichkeit hat es
schon immer gegeben, nicht nur im Bundestag, sondern
auch in allen Landtagen. Ich sehe deshalb überhaupt keinen Anlass, davon abzusehen. Aber ich bin sehr froh,
dass jetzt deutlich wird, dass das in Zukunft nur bei ganz
schweren Verstößen ein Mittel der Wahl ist, weil ein anderes, weniger schwer eingreifendes Mittel, nämlich das
Ordnungsgeld, zur Verfügung steht.
Ich will nicht verschweigen, dass ich das Gefühl
habe, dass dann, wenn jemand „blechen“ muss, vielleicht die Entscheidung, ob man zu all den Mitteln greift,
zu denen hier insbesondere die Linksfraktion gegriffen
hat, ein Stück schwerer wird. Wenn es ans Portemonnaie
geht, dann überlegt man noch ein zweites oder drittes
Mal, ob man das dann tatsächlich tut.
({5})
Das Ganze kommt dann der Würde dieses Parlaments
zugute. Dieses Ergebnis wünsche ich mir.
Am meisten wünsche ich mir - das haben auch schon
die Vorredner gesagt -, dass diese neue Bestimmung nie
zur Anwendung kommt. Diese Verantwortung haben wir
alle. Jeder hat dazu beizutragen. Ich hoffe, dass diejenigen, die in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern unangenehm auffallen, was immer wieder zu Reaktionen
führt, hier bei uns gar nicht auftauchen. Ich hoffe, dass
sich die Fraktion, die in der Vergangenheit zu solchen
Mitteln gegriffen hat, in Zukunft darauf beschränkt, ihre
Argumente vorzutragen. Je besser sie sind, desto mehr
hören zu.
({6})
Das ist der Weg, den wir alle gehen sollten. Unsere Fraktion unterstützt jedenfalls den Vorschlag. Nochmals
herzlichen Dank an den Kollegen Lange für seine Initiative.
({7})
Nächste Rednerin in unserer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich stelle fest: Eine Mehrheit des Hauses sieht
die Würde des Bundestages bedroht. Nun stellt sich die
Frage, wodurch Sie sich bedroht fühlen. Sie fühlen sich
zum Beispiel durch Abgeordnete bedroht, die sich mit
einem T-Shirt zum Protest gegen Stuttgart 21 bekennen.
Es war von schwerwiegender Störung und Eskalation die
Rede.
({0})
Herr Kaster, machen Sie sich nicht lächerlich.
({1})
Eine Mehrheit fühlt sich auch dadurch bedroht, dass
Abgeordnete der Linksfraktion im Plenum Bilder von
Kunduz-Opfern gezeigt haben und Sie alle an die deutsche Verantwortung erinnert haben, und zwar nachdem
ein Gedenken an die Opfer von Kunduz im Bundestag
von den anderen Fraktionen abgelehnt worden ist. Das
war unsere Form des Gedenkens an diese Opfer.
({2})
Ist das eine Verletzung der Ordnung und Würde des
Bundestages? Ich kann das nicht erkennen, und ich verteidige das ausdrücklich, Herr Kollege van Essen.
({3})
Wissen Sie, wodurch ich die Würde des Bundestages
verletzt sehe? Ich sehe sie verletzt, wenn in diesem Haus
politische Entscheidungen getroffen werden, die auch etwas mit Art. 1 Grundgesetz zu tun haben, nämlich mit
der Würde des Menschen. Das ist zum Beispiel dann der
Fall, wenn Menschen in ihrer Würde verletzt werden, die
arbeitslos sind. Die ganze Hartz-IV-Gesetzgebung in
diesem Hause war ein würdeloses Verfahren.
({4})
Regelungen, die Flüchtlinge betreffen, oder wenn die
Lebensleistung von Menschen im Osten ignoriert wird all das ist würdelos in diesem Parlament.
({5})
Wie oft haben wir hier Debatten erlebt, die mit der
Würde des Bundestages herzlich wenig zu tun hatten.
Werfen Sie einen Blick in die Protokolle und lesen Sie
die Zwischenrufe: Das hat mit der Würde des Hauses
überhaupt nichts zu tun.
Nein, Sie wollen die Linke disziplinieren. Das haben
wir schon gemerkt. Dass Sie dabei verfassungsrechtlich
höchst bedenkliche Wege gehen, beeindruckt Sie wenig.
Sie wollen jetzt unter anderem den Sitzungsausschluss
bis zu 30 Tagen gesetzlich regeln.
({6})
Das beschränkt das Rede- und Stimmrecht frei gewählter
Abgeordneter. Das heißt, das Rede- und Stimmrecht von
Abgeordneten wird sozusagen zur Verfügungsmasse einer Mehrheit in diesem Haus. Das ist wahrlich eine verfassungsrechtlich genehme Regelung.
Es ist ein Verstoß gegen das im Grundgesetz ausdrücklich verankerte freie Mandat der Abgeordneten.
Das trifft auch auf das Ordnungsgeld zu. Unter welchen
Voraussetzungen, aus welchen Gründen und in welcher
Höhe Ordnungsgeld verhängt wird, bleibt offen, und es
ist damit ein willkürliches Instrument.
Es besteht kein angemessener Rechtsschutz. Sie
schließen zum Beispiel die Möglichkeit der Anhörung
des Betroffenen aus. Sie findet in keiner Weise statt.
({7})
In einem Rechtsstaat ist ein solches Verfahren eigentlich
undenkbar. Im Bundestag ist es möglich.
Der Berichterstatter des Verfassungsgerichts, Herr
Professor Broß, teilt unsere rechtlichen Bedenken an
dieser Stelle. Aber einer Klärung im Ausschuss, wie von
uns vorgeschlagen, zum Beispiel mit einer Anhörung, an
der auch Professor Broß teilnehmen würde, haben Sie
sich verweigert. Wer nicht hören will, muss fühlen:
Dann klären wir das eben vor dem Verfassungsgericht.
Danke.
({8})
Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck.
Bitte schön, Kollege Volker Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Ich fand es richtig, dass wir nach den Aktionen
die Diskussion über das Ordnungsgeld begonnen haben;
denn ich finde, wir brauchen ein milderes Mittel als den
Sitzungsausschluss, um auf grobe Störungen der Ordnung des Hauses zu reagieren, die ein Verhandeln im
Sinne eines Parlamentes - parlare bedeutet sprechen; es
heißt nicht: Aktionen machen - unmöglich machen.
Wenn andere Kolleginnen und Kollegen einen diskursiven Austausch der Argumente verhindern, indem sie mit
Aktionen den Ablauf stören, dann muss das nicht hingenommen werden. Da bin ich ganz bei der Koalition und
der SPD gewesen. Deshalb haben wir uns am Anfang an
den Beratungen beteiligt.
Ich finde aber, dass man auf die Verletzung der Ordnung und nicht auf die Verletzung der Würde des Hauses
abheben sollte. Auf die Verletzung der Würde des Hauses wurde in dieser Wahlperiode in unserem Parlament
schon bei allen möglichen Angelegenheiten verwiesen.
({0})
Wir haben verordnet, dass die Schriftführer und der Präsident Krawatten tragen müssen, soweit sie Männer sind.
Ansonsten würde dies die Würde des Hauses verletzten.
({1})
So kann man es im Protokoll des Ältestenrates nachlesen. Kollegen, die nicht bereit waren, eine Krawatte zu
tragen, wurden vom Sitzungsdienst ausgeschlossen. Das
ist eine Albernheit und zeigt, auf welches Glatteis Sie
sich unnötigerweise mit dieser Formulierung begeben.
Der Hitler-Gruß eines NPD-Mitglieds der Bundesversammlung - dieses von Ihnen im Ausschuss genannte
Beispiel ist durchaus ernst zu nehmen - ist eine Straftat.
Jede Straftat stellt selbstverständlich eine Verletzung der
Ordnung des Hauses dar und kann deshalb zu Recht geahndet werden,
({2})
ohne dass man auf die Würde des Hauses abheben muss.
Wir sind dafür, die Verletzung der Würde des Hauses als
Tatbestand zu streichen.
Ein anderer Punkt, der uns zu denken gibt, ist etwas,
das schon länger in der Geschäftsordnung steht - darüber hatte ich zuvor noch nie nachgedacht -, nämlich
der pönalisierende Sitzungsausschluss von bis zu 30 Tagen. Dieser kann nicht gerechtfertigt werden wie der einmalige Ausschluss in einer laufenden Sitzung, in der
sich der Präsident nicht anders zu helfen weiß, als die
Betreffenden hinauszuwerfen, um den parlamentarischen Ablauf zu sichern. Der pönalisierende Sitzungsausschluss von bis zu 30 Tagen ist nicht als Sicherung
des parlamentarischen Ablaufs zu rechtfertigen.
({3})
Er stellt vielmehr eine reine Strafe dar. Als solche wird
er vom Bundesverfassungsgericht kritisch gesehen. Ich
hätte gerne mit Verfassungsrechtlern erörtert, ob diese
Art des Sitzungsausschlusses gar nicht möglich ist oder
ob ein anderes Verfahren notwendig ist.
({4})
Aber so wie dieser Tatbestand in der Geschäftsordnung
formuliert ist und so wie wir ihn vorbehaltlos im Abgeordnetengesetz verankern, geht es nicht.
({5})
Der Berichterstatter Broß, der den Fall der Stuttgart-21Aktionisten von der Linksfraktion, gegen die ein pönalisierender Sitzungsausschluss verhängt wurde, zu beurteilen hatte, hat den Verfahrensbevollmächtigten beider Seiten geschrieben - Sie können gerne beim
Präsidium nachfragen und sich den Schriftsatz genauso
besorgen wie ich -: Im Extremfall könnte der Ausschluss von Abgeordneten erheblichen Einfluss auf die
Willensbildung im Parlament entfalten, und Stimmverhältnisse wären durch Fehlgebrauch des Instruments Sitzungsausschluss gar gezielt manipulierbar. - Weiter
heißt es in dem Schreiben des Bundesverfassungsgerichts: Der bisherige Verlauf dieses Verfahrens seit dem
Sitzungsausschluss erscheint mir vor dem Hintergrund
des § 38 Abs. 1 und Abs. 2 der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestages einer eingehenden verfassungsrechtlichen Klärung bedürftig - das haben wir im Ausschuss verlangt -, weil ein Ausschluss auch die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag in
rechtserheblicher Weise beeinflussen kann. Im Hinblick
darauf rege ich an, dass der Antragsgegner noch einmal
seine jetzt bestehende Auffassung zur Verfahrenslage
überdenkt und auch die hier umstrittene Handhabung der
Geschäftsordnung in Bezug auf effektive Rechtsschutzmöglichkeiten überprüft. Allerdings könnte sich bei näherer Betrachtung auch ergeben, dass der Ausschluss
Volker Beck ({6})
von Abgeordneten des Deutschen Bundestages von zukünftigen Sitzungstagen - also pönalisierend -, sich unter dem Gesichtspunkt der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Sachgerechtheit nicht von vornherein
erschließt.
Es ist doch das Mindeste, dass wir uns, wenn wir
einen solchen Hinweis bekommen und uns mit der gleichen Rechtsmaterie hier im Haus befassen, im Ausschuss damit seriös befassen und eine Auseinandersetzung mit Verfassungsrechtlern führen, bevor wir das
Präsidium, den Präsidenten und die Vizepräsidenten, in
die Lage bringen, von einer Sanktion Gebrauch zu machen, über die das Bundesverfassungsgericht zuvor gesagt hat, dass sie nicht verfassungskonform ist. Wir geben dem Präsidium nicht die Möglichkeit, auf einer
verfassungsrechtlich unbedenklichen Grundlage zu handeln. Ich finde es eine Zumutung, was wir mit dem Präsidium des Deutschen Bundestages machen. Deshalb
beantrage ich am Ende dieser Debatte die Rücküberweisung der Vorlagen zu diesem Tagesordnungspunkt an
den Geschäftsordnungsausschuss mit dem Auftrag, eine
Anhörung mit Verfassungsrechtlern zu dieser entscheidenden Frage durchzuführen.
({7})
Meines Erachtens können wir uns eine Blamage vor dem
Bundesverfassungsgericht ersparen. Ich empfinde es als
komisch, wie wir hier in der Diskussion mit diesem Tatbestand umgehen; denn wir haben so deutliche Hinweise
und kümmern uns nicht um Karlsruhe. Aber das haben
wir beim Wahlrecht auch schon nicht getan. Insofern ist
das Handeln dieser Koalition konsequent.
({8})
Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Thomas Strobl.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD haben sich
in breiter Einmütigkeit auf dieses Ordnungsgeld geeinigt, weil es einerseits eine spürbare Sanktion darstellt,
andererseits aber in parlamentarische Rechte von Abgeordneten nicht eingreift und öffentlichkeitswirksame
Konfrontationen, wie zum Beispiel bei einer zwangsweisen Entfernung aus dem Plenarsaal, vermeiden kann.
({0})
Im Übrigen muss ich darauf hinweisen, dass wir das
bestehende und bewährte Instrumentarium der Ordnungsmittel und damit übrigens auch den verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Sitzungsausschluss
unverändert gelassen haben. Der Sitzungsausschluss war
nicht Thema der Beratungen gewesen, wir haben daran
nichts geändert. Herr Kollege Beck, es gibt ihn seit über
60 Jahren.
({1})
Es ist schon mit Interesse zu beobachten, dass Sie diese
Verfassungswidrigkeit von der einen Sekunde auf die andere entdeckt haben.
({2})
Leider hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die
bei der Frage der grundsätzlichen Notwendigkeit einer
Verschärfung der Ordnungsmittel durchaus unserer Mei-
nung ist, die Neuregelung nicht mitgetragen. Die Frak-
tion Die Linke wird im Übrigen wissen, warum sie Ord-
nungsstörungen im Hause nicht ahnden will.
Neu ist weiter die Einbeziehung der Würde des Bun-
destages in den Kreis der geschützten Rechtsgüter. Dies
lag uns bei der Neuregelung besonders am Herzen. Es ist
mir völlig unverständlich, warum es im Hause Kollegin-
nen und Kollegen gibt, die diesen Schutz nicht wollen.
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Weil es 60 Jahre ohne ging!)
Herr Kollege Beck, in § 7 der Geschäftsordnung heißt
es in Abs. 1:
Der Präsident vertritt den Bundestag und regelt
seine Geschäfte. Er wahrt die Würde und die
Rechte des Bundestages, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlungen …
„Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundestages …“. Wenn das ein unbestimmter Rechtsbegriff ist,
mit dem man nichts anfangen kann, dürfte das so nicht
darin stehen. Wenn aber die Geschäftsordnung von dem
Präsidenten verlangt, dass er die Würde des Hauses
wahrt und die Aufrechterhaltung der Würde des Hauses
sicherstellt, dann ist es doch nur logisch, dass wir das
auch bei den Sanktionsmitteln sozusagen spiegelbildlich
einbeziehen.
({3})
Kollege Thomas Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage unseres Kollegen Volker Beck?
Sehr gerne, selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege, würden Sie konzedieren, dass es in dieser Bestimmung, in der in der Tat der Begriff der Würde
Volker Beck ({0})
vorkommt, im Wesentlichen darum geht, dass der Präsident des Deutschen Bundestages sich vor den Bundestag
und seine Abgeordneten stellt und ihre Rechte verteidigt,
und zwar gegen Angriffe von außen und nicht gegen die
Mitglieder des Bundestages selbst?
Das ist die bisherige Auslegung der Norm. Wenn Sie
sich die Kommentierung der Geschäftsordnung zu diesem Punkt anschauen - das habe ich zur Vorbereitung
bereits unserer Diskussion im Ausschuss gemacht und es
Ihnen auch vorgetragen -, dann stellen Sie eindeutig
fest, dass es bei dieser Bestimmung um einen Schutz der
Bundestagsabgeordneten vor unberechtigtem Angriff
von außen geht, egal ob er sich auf ein Mitglied bezieht
oder auf die Gesamtheit der Mitglieder des Hauses, nicht
aber darum, dass der Bundestag vor seinen Abgeordneten selbst geschützt werden soll.
({1})
Herr Kollege Beck, mit Verlaub, Sie liegen falsch.
({0})
Sie liegen falsch.
({1})
Ich lese die Vorschrift gerne komplett vor. § 7 Abs. 1
Satz 2 lautet:
Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundestages, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ordnung im Hause.
({2})
Die Worte „… leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ordnung im Hause.“ beziehen
sich in diesem Zusammenhang genau auf den Ablauf der
Bundestagssitzungen. Deswegen liegen Sie mit Ihrer Interpretation falsch. Wenn wir dem Präsidenten einen solchen Auftrag geben, dann ist es auch nur richtig, das
spiegelbildlich mit einer entsprechenden Sanktion zu
versehen.
Ich weise noch einmal darauf hin - auch das lässt Ihre
Argumentation wirklich zusammenbrechen -, dass erst
im Januar dieses Jahres ein Landesverfassungsgericht
ausdrücklich bestätigt hat, dass es eine schützenswerte
Würde des Parlamentes gibt. Mit Erlaubnis des Herrn
Präsidenten zitiere ich dies nochmals:
Das Parlament ist berechtigt, seine Mitglieder
durch Verhaltensregeln auch auf die Wahrung der
Würde des Landtages im Sinne eines von gegenseitigem Respekt getragenen Diskurses zu verpflichten. Es darf deshalb Verstöße sanktionieren, wo es
diese Würde gefährdet oder verletzt sieht, etwa weil
das Verhalten eines Abgeordneten erkennen lässt,
dass er den für eine sachbezogene Arbeit notwendigen Respekt gegenüber den übrigen Parlamentariern oder der Sitzungsleitung vermissen lässt und
damit zwangsläufig auch das Ansehen des Hauses
nach außen beschädigt …
Die genannte Gerichtsentscheidung basiert auf der
Sanktionierung einer Würdeverletzung durch einen
NPD-Abgeordneten im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern.
Was die Linksfraktion jedenfalls angeht, bin ich mir
sicher, dass sie am lautesten nach Ordnungsmaßnahmen
schreien würde, wenn sich die NPD einmal, was Gott
verhüten möge, in das Hohe Haus verirren sollte.
({3})
Aber auch die Bedenken der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen kann ich nicht nachvollziehen. Wir haben etwa,
Herr Kollege Beck, mehrfach ausdrücklich - das ist in
den Beratungsprotokollen auch vermerkt - klargemacht,
dass bloße Fragen einer Kleiderordnung nicht als Verletzung der Würde des Hauses angesehen werden können.
Ich habe eine lange Zeit eine gewisse Zurückhaltung
gegenüber den Ordnungsmaßnahmen geübt, weil es mir
innerlich widerstrebt, dass Abgeordnete über Abgeordnete ein Ordnungsgeld verhängen.
({4})
Es war in der Tat einer gewissen Hartnäckigkeit des Kollegen Lange, wie Kollege van Essen ausgeführt hat, zu
verdanken, dass wir an diesem Thema immer wieder
drangeblieben sind und es jedenfalls mit großer Gründlichkeit beraten haben. Ich bin nach wie vor der Ansicht,
dass es unter Demokraten eigentlich möglich sein sollte,
die Argumente der politisch Andersdenkenden zu ertragen, ohne zu Mitteln der Störung und des Klamauks zu
greifen und damit nicht nur die Arbeit der anderen Abgeordneten zu stören, sondern auch das Ansehen des Bundestages in den Augen der Öffentlichkeit zu schädigen.
Bei manchen aus dem links- und rechtsextremistischen
Bereich habe ich indessen den Eindruck, dass es genau
darum geht: um die Verächtlichmachung des Parlaments.
({5})
Hier müssen wir deutlich machen, dass unsere Demokratie eine wehrhafte Demokratie darstellt, und das Ordnungsgeld soll ein Beitrag dazu sein, dass diese Demokratie nicht verächtlich gemacht werden kann, sondern
sich im Zweifel auch wehrt.
Besten Dank fürs Zuhören.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Vizepräsident Eduard Oswald
Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt eine persönliche
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung unseres Kol-
legen Wolfgang Nešković vor.1)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
den Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordnetenge-
setzes sowie die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundes-
tages zur weiteren Beratung an den Ausschuss zurückzu-
überweisen. Es ist vereinbart, über diesen Antrag jetzt
abzustimmen. Wer stimmt für den Antrag auf Rücküber-
weisung? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-
zialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Somit ist der
Antrag abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung - Zusatzpunkt 11 a -
über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und
FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Abgeordnetengesetzes - Einführung eines Ord-
nungsgeldes. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immuni-
tät und Geschäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6309,
den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD
und FDP auf Drucksache 17/5471 anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim-
men.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
17/6352? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen und die Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der So-
zialdemokraten. Stimmenhaltungen? - Keine. Der Ände-
rungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 17/6353? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die sozialdemokrati-
sche Fraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Änderungs-
antrag ist abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Links-
fraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemo-
kraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen
und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetz-
entwurf ist somit angenommen.
Zusatzpunkt 11 b. Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
1) Anlage 14
nung zur Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages, hier: Einführung eines Ordnungsgeldes,
§§ 36 bis 39 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, auf Drucksache 17/6309. Unter Buchstabe b
empfiehlt der Ausschuss die Änderung der §§ 36 bis 39
der Geschäftsordnung. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die
wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/6354? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten.
Enthaltungen? - Keine. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/6355? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 16 sowie den
Zusatzpunkt 10 aufrufe, darf ich bekannt geben, dass die
Frauenfußballnationalmannschaft ihr Spiel gegen Nigeria 1 : 0 gewonnen hat.
({0})
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 16 sowie den
Zusatzpunkt 10 auf:
16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Sabine Leidig, Dr. Barbara Höll, wei-
tere Abgeordnete und der Fraktion DIE LINKE
Keine zusätzlichen finanziellen Mittel des
Bundes oder der Bahn AG für Stuttgart 21
- Drucksache 17/6129 -
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, Stephan
Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stuttgart 21 - Kein Weiterbau ohne Nachweis
der Leistungsfähigkeit und ohne Klärung der
Kosten und Risiken
- Drucksache 17/6320 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich muss dennoch darauf hinweisen, dass der einzige
bei mir gemeldete Redner der Kollege Michael Schlecht
von der Fraktion Die Linke ist, da alle anderen Kollegin-
nen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll geben.2)
2) Anlage 19
Vizepräsident Eduard Oswald
Somit rufe ich jetzt den Kollegen Michael Schlecht
von der Fraktion Die Linke ans Rednerpult. Bitte schön,
Herr Kollege Michael Schlecht.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im
Zusammenhang mit Stuttgart 21 steht eine große Zahl
im Raum: 4,5 Milliarden Euro. Das soll die Obergrenze
für dieses Bahnprojekt sein. Wir halten diesen Betrag für
viel zu hoch, zumal alternativ der Kopfbahnhof eine sehr
gute und ausbaufähige Leistungsfähigkeit hat. Die Abfertigung von mehr als 50, ja zum Teil 60 Zügen in der
Stunde ist dort möglich. Entscheidend ist unserer Auffassung nach vor allen Dingen, dass mit dem Kopfbahnhof ein moderner Taktverkehr problemlos realisierbar
ist. Bei S 21 mit nur acht Gleisen ist das alles - das wird
am Ende auch noch der Stresstest ergeben - nicht gesichert.
Unter dem Strich ist für uns vor diesem Hintergrund
vollkommen klar: Der Kopfbahnhof ist das zukunftsfähigere Modell. Das gilt auch, wenn man berücksichtigt,
dass man in dieses Projekt natürlich Modernisierungsmittel hineinstecken müsste.
({0})
- Wenn Sie mir einen Vogel zeigen, dann finde ich das
nicht der Würde des Hauses entsprechend, Herr Kollege;
aber das nur nebenbei.
Die Kosten bei diesem ganzen Projekt sind schon sehr
wichtig. Man hat manchmal das Gefühl, dass diejenigen,
die sonst immer für große Sparsamkeit sind, bei
Stuttgart 21, wenn es ums Geld geht, ziemlich in die Vollen gehen. Die Kosten sind deshalb wichtig, weil es auch
in einer Stadt wie Stuttgart natürlich viele soziale Mängel gibt und all das Geld, das für dieses Projekt ausgegeben werden soll, für andere Dinge viel dringender gebraucht würde: Beseitigung von Kinderarmut, Kitaplätze
usw.
Es besteht zudem die Gefahr, dass das Projekt S 21
viel teurer wird, dass es nicht bei der Summe von
4,5 Milliarden Euro bleibt, die immer im Raum steht. Es
gibt Schätzungen, dass sich die Kosten des ganzen Projekts zwischen 5 und 6 Milliarden Euro bewegen dürften, ganz unabhängig davon, dass bei solchen Projekten
natürlich immer noch Preissteigerungen, Kostensteigerungen zu erwarten sind.
Vor dem Hintergrund ist es aus unserer Sicht ein eindeutiger Fortschritt, dass in der Koalitionsvereinbarung
der neuen baden-württembergischen Koalition zumindest festgelegt ist, dass die neue Landesregierung keine
weiteren Landesmittel in dieses Projekt stecken wird,
wenn die Grenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten
werden sollte, was eine reale Gefahr ist.
Die spannende Frage ist nur, ob dann, wenn diese
Grenze von 4,5 Milliarden Euro überschritten wird - das
ist durchaus möglich -, nicht die Gefahr besteht, dass andere, zum Beispiel Bund und/oder Bahn, auf Teufel
komm raus Mehrkosten übernehmen, weil sie aus ganz
bestimmten Gründen an diesem Projekt festhalten. Aus
meiner Sicht wäre es vollkommener Wahnsinn, wenn
man dies machen würde.
Das Misstrauen, nämlich dass dort etwas Derartiges im
Busch sein könnte, dass noch durch andere Stellen, durch
Bund oder Bahn, eine zusätzliche Finanzierung erfolgen
könnte, ist gewachsen, als ich erfahren habe, dass im Rahmen der Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg
die Grünen ursprünglich durchsetzen wollten, dass bei Kosten von über 4,5 Milliarden Euro das Projekt beerdigt wird.
Diese Regelung ist in den Koalitionsverhandlungen von der
SPD abgelehnt worden. Die SPD hat gesagt: Da machen
wir nicht mit. - Also ist der jetzt mehrfach benannte Kompromiss dabei herausgekommen.
Was uns umtreibt, ist, jetzt abzusichern oder zumindest abzuklären, ob mein Misstrauen berechtigt oder unberechtigt ist. Mit dem Antrag, den wir eingebracht haben, wäre das möglich. Mit diesem Antrag wäre
möglich, klarzustellen, dass weder Bund noch Bahn bei
entsprechender Kostenüberschreitung für dieses Projekt
zusätzliche Mittel geben. Deswegen dieser Antrag!
Wenn Sie meinem Misstrauen entgegentreten wollen,
müsste das gesamte Hohe Haus, müssten alle Fraktionen
diesem Antrag problemlos zustimmen können. Ich freue
mich schon darauf.
Guten Abend!
({1})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle
anderen gemeldeten Rednerinnen und Redner haben ihre
Rede zu Protokoll gegeben.
({0})
Somit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6129 mit dem Titel „Keine zusätzlichen finanziellen Mittel des Bundes
oder der Deutschen Bahn AG für Stuttgart 21“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktion Die
Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? Keine. Der Antrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkt 10. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6320
mit dem Titel „Stuttgart 21 - Kein Weiterbau ohne
Nachweis der Leistungsfähigkeit und ohne Klärung der
Kosten und Risiken“. Wer stimmt für diesen Antrag? Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abgelehnt.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Übertragung ehebezogener Regelungen im
öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften
- Drucksache 17/3972 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Dr. Konstantin von
Notz, Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Ehe im Bundesbeamtengesetz
und in weiteren Gesetzen
- Drucksache 17/906 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 17/6359 Berichterstattung:
Abgeordnte Armin Schuster ({3})
Michael Hartmann ({4})
Frank Tempel
Dr. Konstantin von Notz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) -
Sie sind alle damit einverstanden. Ich brauche auch die
Namen der Kolleginnen und Kollegen nicht zu verlesen.
Sie liegen bei uns vor.
Somit kommen wir gleich zur Abstimmung. Der In-
nenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6359, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3972
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten.
Stimmenthaltungen? - Linksfraktion. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf bei gleichem Stimmverhalten entspre-
chend angenommen worden.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6359, den
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/906 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen,
Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Wer stimmt da-
gegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltun-
1) Anlage 15
gen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moratorium jetzt - Dringliche Klärung von
Fragen zu Mehrkosten des ITER-Projekts
- Drucksache 17/6321 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie
sind sicher alle damit einverstanden.2) - Die Namen der
Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6321 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Effektive Regulierung der Finanzmärkte nach
der Finanzkrise
Drucksache 17/6313 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). Ich sehe, Sie sind auch damit einverstanden. Die Namen
der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6313 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind alle damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zusatzpunkt 12 auf:
19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({7}), Christoph Poland, Dorothee
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner
2) Anlage 20
3) Anlage 18
Vizepräsident Eduard Oswald
Deutschmann, Patrick Kurth ({8}), Sebastian
Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ratifizierung der UNESCO-Konvention zum
immateriellen Kulturerbe vorantreiben
- Drucksache 17/6314 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Schmidt ({10}), Siegmund Ehrmann, Martin
Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Claudia Roth ({11}), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens
zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes
vorbereiten und unverzüglich umsetzen
- Drucksache 17/6301 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Tourismus
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der
Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Insofern sind
alle damit einverstanden, dass wir so verfahren.
Deutschland kann seit wenigen Tagen auf die Anerkennung von insgesamt 35 Weltkulturerbestätten verweisen. Der deutsche Buchenwald und das Fagus-Werk sowie das Hamburger Wattenmeer wurden in dieser Woche
von der UNESCO auch zum Weltkulturerbe erklärt. Damit stellt die Bundesrepublik die fünftmeisten Welterbestätten weltweit. Das ist gut für das Kulturland Deutschland und für den Kulturtourismus.
Gut 70 Millionen Menschen besuchen jährlich diese
Kulturdenkmäler. Der Status dieser materiellen Kulturstätten ist ein großer Erfolg für die Kultur wie für den
Tourismus in unserem Land und als solcher auch anerkannt.
Über das immaterielle Kulturerbe hingegen gibt es
bisher nur eine Expertendiskussion, obwohl bereits
134 der UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe beigetreten sind.
Die immateriellen Kulturgüter sind nicht in Stein gemeißelte Bauten wie Paläste oder Kathedralen, sondern
Praktiken, Bräuche und Handwerkstechniken. Auch die
damit verbundenen Instrumente, Objekte und Artefakte
gehören dazu.
Ziel des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung
des immateriellen Kulturerbes ist es, diese Kulturformen
zu erhalten und zu bewahren. Denn sie sind zunehmend
durch Vergessen bedroht.
Ein wichtiger Anlass für die Entstehung dieser Konvention ist, dass die materiellen Welterbestätten zu einer
geografischen Dominanz von Europa geführt haben.
Hier gibt es aus historischen Gründen zahlreiche bedeutende Bauten wie Kirchen und Museen. Afrikanische und
asiatische Länder hingegen können, was diese materiellen Kulturstätten betrifft, nicht im gleichen Maße mithalten. Es ist also eine Gerechtigkeitsfrage gegenüber
außereuropäischen Ländern, dass auch immaterielle
Kulturgüter zum Weltkulturerbe werden können. Das immaterielle Kulturerbe ist somit die logische Ergänzung
zu den Welterbestätten. Beide sind auf Augenhöhe miteinander.
Zur „Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ gehören unter anderem die
ugandische Rindentuchherstellung, die chinesische Akupunktur, die französische Kochkunst oder der argentinische Tango. Voraussetzung dafür, dass auch deutsche
Kulturgüter zum UNESCO-Kulturerbe werden, ist, dass
die Bundesrepublik das UNESCO-Übereinkommen zum
Schutz des immateriellen Kulturerbes ratifiziert.
Warum ist ein Beitritt Deutschlands zu dieser Konvention nach Auffassung der Union, die diese Initiative
auf den Weg gebracht hat, angemessen und sinnvoll?
Wir sollten ein fundamentales Interesse daran haben,
dass unsere über Generationen überlieferten Kenntnisse, unsere kulturellen Besonderheiten, unsere Ausdrucksweisen, Bräuche und Praktiken bewahrt und
weiterentwickelt werden, weil auch sie ein Teil unserer
kulturellen Identität ausmachen.
Gerade „körperlose“ Kulturgüter bedürfen eines besonderen Schutzes, da sie vergänglicher sind als stoffliche Monumente. Es steht zu befürchten, dass traditionelle Fertigkeiten, Bräuche und Riten aussterben, wenn
sie nicht ausreichend geschützt werden. Ein Beispiel dafür bietet der „Sprachentod“. Pro Woche sterben auf der
Erde zwei Sprachen, gehen unwiederbringlich verloren.
In zwei bis drei Jahrzehnten wird es nicht mehr circa
7 000 Sprachen in der Welt geben, sondern nur noch
3 000, befürchten die Experten der UNESCO. Bereits
jetzt stehen die niederdeutsche Sprache, Friesisch und
Sorbisch auf der „roten Liste“.
Durch einen Beitritt Deutschlands zu diesem internationalen Übereinkommen können wir helfen, das immaterielle Kulturerbe zu bewahren und das Bewusstsein für
die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes zu fördern.
Zahlreiche große Verbände und gesellschaftliche
Gruppen wie der Bund Heimat und Umwelt, BHU, der
Zentralverband des Deutschen Handwerks, der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks und der Deutsche Schaustellerbund, um nur einige zu nennen, haben
sich für eine Ratifizierung der UNESCO-Konvention
ausgesprochen. Auch die Enquete-Kommission „Kultur
Wolfgang Börnsen ({0})
in Deutschland“ hatte empfohlen, dem Abkommen beizutreten.
Ironie und Spott, wie sie einige gegenüber diesen Institutionen äußern, sind völlig fehl am Platze.
Da die Zahl der Interessierten groß ist, schlagen wir
die Prüfung einer öffentlichen Anhörung zum Thema
„UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes“ vor. Die Verbände und gesellschaftlichen Gruppen sollten an der Umsetzung der Konvention
beteiligt werden.
Zur Diskussion in unserem Land:
Zunächst wollten die Bundesregierung und besonders
die für die Kultur zuständigen Länder verständlicherweise erst eine genaue juristische Prüfung vornehmen,
bevor die Konvention ratifiziert werden sollte. Man hat
zuerst abgewartet, wie sich das Instrument in der Praxis
bewährt. Erst einmal musste klar werden, nach welchen
Kriterien immaterielle Kulturgüter ausgewählt werden
sollten. Auch über mögliche zusätzliche Kosten musste
Einverständnis mit den Ländern hergestellt werden. In
Deutschland leistet man bereits so viel wie kaum in einem anderen Land für den Schutz seines kulturellen Erbes. Deshalb war es vertretbar, mit der Ratifizierung der
Konvention erst einmal zu warten.
Inzwischen sind die juristische Prüfung und die Diskussion mit den Ländern vorangeschritten. Auch haben
unsere europäischen Nachbarstaaten wie Österreich
und die Schweiz praktikable Wege zur nationalen Umsetzung der Konvention aufgezeigt, an denen man sich
orientieren kann.
Die 16 Länder haben eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die praktikable Vorschläge für die institutionelle Ausgestaltung und administrative Umsetzung
der Vorgaben der Konvention gemacht hat.
Aufgezeigt wird darin auch, wie die finanziellen und
bürokratischen Kosten für Bund und Länder gering gehalten werden können: Bei der Umsetzung kann auf
bestehende Institutionen der UNESCO-Kommission in
Deutschland zurückgegriffen werden, die auch für die
materiellen Welterbestätten verantwortlich sind.
Es ist daher begrüßenswert, dass die Bundesregierung nun Gespräche mit den Ländern aufgenommen hat,
um den Ratifizierungsprozess einzuleiten.
Diese Bereitschaft der Bundesregierung sowie der
Länder wollen wir mit unserem Antrag unterstützen und
damit das Signal senden, dass für uns die Bewahrung
kultureller Traditionen wie zum Beispiel deutscher
Märchen, Trachten oder Volkslieder oder auch der Vorschläge aus den Reihen der Verbände als „Rohstoffe“
unserer kulturellen Identität unverzichtbar ist.
Wir haben ein fundamentales Interesse daran, dass
unser über die Generationen überliefertes Wissen, unsere Sprache einschließlich der Regionalsprachen oder
die Vielfalt traditioneller Kunstformen gesichert werden.
Die Konvention sollte deshalb zügig umgesetzt werden. Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, wenn Bund und
Länder die Einrichtung einer nationalen Datenbank zur
Inventarisierung des immateriellen Kulturerbes prüfen
sowie interessierte und betroffene Verbände wie Organisationen zügig zu einem Forum „Immaterielles Kulturerbe“ gemeinsam mit den Ländern einladen. Vor allem
der Bund Heimat und Umwelt, der Zentralverband des
Deutschen Bäckerhandwerks, der Zentralverband des
Deutschen Handwerks, das Deutsche Institut für Reines
Bier und der Deutsche Schaustellerbund sollten dabei
berücksichtigt werden.
Unser Land ist eine Kulturnation. Eine aktive Beteiligung Deutschlands an der europäischen und internationalen Zusammenarbeit zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes sollte das Gebot der Stunde sein; das
heißt für die UNESCO-Konvention, noch in diesem Jahr
die Ampel auf Grün zu stellen.
Nunmehr 134 Länder - beinahe alle Nachbarn in Europa - haben das Übereinkommen zur Bewahrung des
immateriellen Kulturerbes der UNESCO ratifiziert. Sie
schützen damit nicht nur die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen wie Sprachen, Bräuche, Feste und Handwerkstechniken in besonderem Maße, sondern rücken
damit über Jahrhunderte überlieferte Traditionen in den
weltweiten Blickpunkt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beitritt zu
dem Abkommen bisher verweigert, und zwar zum einen
wegen grundsätzlicher Bedenken aufgrund der Möglichkeit extremistischen Missbrauchs, zum anderen wegen
konkreter juristischer Bedenken. Ich bin froh, dass diese
nun aus dem Weg geräumt werden konnten und eine erneute Initiative zur Ratifizierung ergriffen wird. Zudem
hoffe ich und bin mir sicher, dass nun auch die Bundesländer diese Initiative konstruktiv unterstützen werden.
Weit über 200 kulturelle Ausdrucksformen aus allen
Weltregionen wurden inzwischen in die „Repräsentative
Liste des immateriellen Kulturerbes“ der UNESCO aufgenommen. Dies ist ein beindruckendes Zeichen weltweiter kultureller Vielfalt, dem sich Deutschland bisher
entzieht.
Mir persönlich ist es ein Anliegen, für ein besonderes,
weltweit einmaliges Kulturgut zu werben: das Reinheitsgebot für deutsches Bier. Auch wenn die Aufnahme in die
UNESCO-Liste in den Händen einer zwischenstaatlichen
Kommission liegt - und nicht einfach von diesem Hohen
Haus beschlossen werden kann -, steht das deutsche
Reinheitsgebot beispielhaft für eine über Jahrhunderte
überlieferte Handwerkstradition und eben noch für viel
mehr: Das deutsche Reinheitsgebot ist als direkte Nachfolgeregelung des Bayerischen Reinheitsgebotes von
1516 die älteste noch geltende landesweite lebensmittelrechtliche Vorschrift der Welt und garantiert seit Jahrhunderten die hohe Qualität des deutschen Bieres. Bier
ist in Deutschland ein anerkanntes Kulturgut, dessen internationaler Stellenwert sich im hohen Ansehen des
deutschen Reinheitsgebotes weltweit manifestiert.
An diesem Beispiel wird ganz deutlich: Die Bewahrung immaterieller Kulturgüter ist viel mehr, als etwas
Zu Protokoll gegebene Reden
Altes oder Vergangenes museal zu konservieren. Es zeigt
vielmehr, dass Altes, Überliefertes nach wie vor einen
lebendigen Bezug zum Hier und Jetzt haben kann. Eben
gelebte Tradition!
Wie auch schon die Kollegen aus der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ im Jahre 2007 spreche
ich mich nachdrücklich dafür aus, dass Deutschland
möglichst zügig das Abkommen zur UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe ratifiziert.
Warum ist es wichtig und wirklich an der Zeit, dass
Deutschland das UNESCO-Übereinkommen zum immateriellen Kulturerbe ratifiziert? Was bedeutet das Übereinkommen für Deutschland? Was bedeutet es international?
In den Debatten der letzten Legislaturperiode gab es
Stimmen, dass das Übereinkommen zum immateriellen
Kulturerbe zu konservativ ausgerichtet sei oder dass die
Erstellung einer Liste einen bürokratischen Akt darstelle. Dies ist gerade nicht so. Dies ist ein Missverständnis.
Es geht beim Übereinkommen zum immateriellen
Kulturerbe darum, lebendige Alltagskultur in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht um Anerkennung und Förderung aktiver kultureller Betätigung wie in der Laienkultur, um regionale und überregionale Identitäten, um die
nationale Identität und den Austausch darüber und um
die Vielfalt der gelebten Kulturen in den Ländern, in
Deutschland und international. Sie sollen nicht eingefroren, sondern erhalten bleiben. Wir wissen mittlerweile aus den Erfahrungen zum Beispiel in Österreich,
dass die Auseinandersetzung mit gelebter Alltagskultur
dazu führen kann, aktuellen Themen neue Facetten zu
geben, wenn zum Beispiel lokales Erfahrungswissen
aufgewertet wird.
Dem Übereinkommen zum immateriellen Kulturerbe
liegt ein weiter Kulturbegriff zugrunde: mündliche Traditionen wie Sprache, darstellende Künste, Bräuche, Rituale und Feste, aber auch Wissen um traditionelle
Handwerkstechniken oder Wissen im Umgang mit Natur
und Universum gehören dazu. Ich finde, dieser weite Begriff eignet sich gut, sich der komplexen Alltagskultur
anzunähern und auch Kulturgüter zu entdecken, die vielleicht lokal verborgen oder allgemein nicht so bekannt
sind. Ich denke da an Heilpraktiken, die man ergänzend
zur Schulmedizin anwenden kann. Eine bekannte Variante davon sind die deutschen Kneippkuren. Oder: Die
gute mediterrane Küche steht auf der Liste des
UNESCO-Erbes, warum nicht auch gute regionale deutsche Kochkunst?
Die Aufnahme des Kulturerbes in die UNESCO-Liste
ist kein bürokratischer Akt, sondern vielmehr eine Bestandsaufnahme im Sinne von Wissensorganisation. Wir
wollen uns selbst vergewissern, welche immateriellen
Schätze unser Land oder auch andere Länder zu bieten
haben.
Die Ratifizierung des Übereinkommens zum immateriellen Kulturerbe hat auch eine internationale, eine außenpolitische Bedeutung, wiederum im Sinne nationaler
Identitäten und des Kulturaustausches, aber auch als
Unterstützung für Länder mit einem reichen immateriellen Kulturerbe, das zum Beispiel durch die UNESCOWelterbekonvention keine Berücksichtigung findet.
136 Staaten haben das Übereinkommen mittlerweile
ratifiziert, darunter mehrere unserer Nachbarländer. Ich
sehe nicht, warum Deutschland länger warten sollte.
Ich begrüße den Antrag der Union und der FDP. Aber
er muss schon konkreter werden. Der Antrag der SPD
und der Grünen weist im Gegensatz dazu konkrete
Schritte und einen Zeitrahmen auf, um eine möglichst
schnelle Ratifikation des Übereinkommens voranzutreiben und unverzüglich umzusetzen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, so rasch wie
möglich die notwendige Abstimmung gemeinsam mit
Ländern und Kommunen durchzuführen, bis Ende 2011
einen Bericht vorzulegen und das Übereinkommen zum
immateriellen Kulturerbe bis Ende 2012 zu ratifizieren.
Wir brauchen dazu eine qualitätssichernde Methodik zur
Erstellung von Bestandsaufnahmen, die Einrichtung eines gemeinsamen Forums mit fachlicher Legitimität, ein
bundesweit einheitliches Verfahren und klare Kriterien
für eine nationale Liste und ein Konzept für einen angemessenen Schutz der ausgewählten immateriellen Kulturgüter. Wir fordern die Bundesregierung auf, zivilgesellschaftliche Akteure in den Abstimmungsprozess
einzubeziehen, die notwendigen jährlichen Kosten für
die Ratifizierung und die Umsetzung des Übereinkommens zu ermitteln und zu überprüfen, ob ein Vertragsgesetz und ein Umsetzungsgesetz erforderlich sind. Dies
alles sind ganz konkrete und sinnvolle Forderungen,
wenn man wirklich vorankommen möchte.
Ich meine, wir sind uns einig, dass das UNESCOÜbereinkommen für das immaterielle Kulturerbe für
Deutschland und auch international einen hohen Wert
hat. Ich bitte Sie, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass
das Übereinkommen zum immateriellen Kulturerbe ratifiziert wird.
Mit dem heute von Union und FDP vorgelegten Antrag betritt Deutschland Neuland im Bereich des Schutzes und der Förderung von Kunst und Kultur. Mit der
Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes, das 2003 beschlossen wurde und 2006 in Kraft trat, wird eine Lücke
im Schutzgeflecht der UNESCO-Konventionen geschlossen. Dem UNESCO-Welterbe-Übereinkommen
von 1972, das Kultur- und Naturstätten von außergewöhnlicher Bedeutung für die Weltgemeinschaft schützt,
wird der „vergeistigte“ Bruder zur Seite gestellt.
Damit trägt die Regierungskoalition dem Faktum
Rechnung, dass es mehr gibt als die verstofflichte Kultur
in Form von Bauwerken, Gebäudeensembles oder Naturräumen. Kultur findet sich auch in Tänzen, darstellender Kunst, mündlichen Überlieferungen und Traditionen. Sie ist Bestandteil unseres gesellschaftlichen
Lebens. Darum ist es nur folgerichtig, auch besondere
Zu Protokoll gegebene Reden
„Leuchttürme“ des immateriellen Kulturgutes im Rahmen eines UNESCO-Übereinkommens einem besonderen Schutz zuzuführen.
Für Deutschland bedeutet dies, dass fortan die Wertschätzung für nationales immaterielles Kulturerbe eine
neue Qualität erhalten kann. Dem im Alltag oft verkannten identitätsstiftenden Wert von Traditionen und Überlieferungen werden so eine besondere Aufmerksamkeit
und damit auch die Verpflichtung zu einem besonderen
Schutz dieser Kulturleistungen zuteil. Um es mit anderen
Worten zu sagen: Deutschland ist mehr als die Summe
seiner Schlösser, Burgen und Parkanlagen. Mit dem Eintrag in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes schützen wir diese Kulturleistung nicht nur, sondern wecken auch die Neugier der anderen Länder, sich
mit unseren Kulturleistungen auseinanderzusetzen bzw.
diese selbst zu erleben und zu genießen.
Was die Wirkung dieses Übereinkommens angeht, ist
es wichtig, auch über den nationalen Tellerrand bzw.
den der industrialisierten Welt hinwegzusehen. Das
UNESCO-Übereinkommen bietet gerade denjenigen
Ländern, die nicht über eine Vielzahl von herausragenden Kulturstätten und gestalteten Naturräumen verfügen, die Möglichkeit, ihrerseits einen Teil der identitätsstiftenden Kulturtraditionen zu schützen. In vielen
Ländern wird die nationale Kultur oder die einer Volksgruppe gerade durch die Überlieferung von Gebräuchen, Handwerkstechniken und Wissensüberlieferungen
gesichert. Diese gilt es ebenso zu schützen wie eine Kathedrale oder ein Gebäudeensemble. Schließlich muss
es unser Ziel sein, in einer gemeinsamen Welt eine Vielzahl von Kulturen vorfinden und erleben zu können. „In
Vielfalt geeint“, dieses Motto der Europäischen Union
sollte auch für die UNESCO-Mitgliedstaaten Anwendung finden dürfen. Das UNESCO-Übereinkommen zum
Schutz des immateriellen Kulturerbes ist ein notwendiger und richtiger Schritt zum Erreichen dieses Ziels.
Deutschland hat sich zunächst etwas schwer getan
mit dem UNESCO-Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturguts. Es wurde nach den Konsequenzen einer Ratifizierung gefragt. Finanzielle Auswirkungen wurden als unkalkulierbare Risiken beschrieben. Da
wenig bis gar keine Erfahrungen mit solchen Welterbelisten und dem in der Konsequenz zuzubilligenden
Schutz für diese kulturellen Errungenschaften bekannt
waren, mussten zunächst unterschiedlichste Bedenken
ausgeräumt werden. Diese Befürchtungen konnten aber
durch die positiven Erfahrungen, die unsere Nachbarländer Österreich und Schweiz mit dem Schutz des immateriellen Kulturgutes machen konnten, ausgeräumt
werden. Unsere Nachbarn haben ein kluges und würdiges Verfahren gefunden, die herausragenden Leuchttürme kultureller Überlieferungen oder Tradition im
Antragsverfahren herauszufiltern, um diese nach Aufnahme in eine nationale Liste später auch der UNESCO
vorschlagen zu können. Folgt Deutschland dem positiven Beispiel der beiden Alpenländer, dann sehe ich keine
Schwierigkeiten, warum der Schutz immateriellen Kulturgutes nicht auch in Deutschland gelingen sollte. Eine
wichtige Voraussetzung dafür ist das gute Zusammenwirken mit den Bundesländern in dieser Frage.
Wenn ich den Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis90/Die Grünen betrachte, stelle ich fest, dass
wir in der grundsätzlichen Entscheidung, die Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens weiter voranzutreiben, einig sind. Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages ist daher genau das
richtige Gremium, um mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen zu beraten, wie wir die Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz
des immateriellen Kulturerbes am besten begleiten können. Ich freue mich auf die konstruktiven Gespräche der
nächsten Wochen.
Was ist eigentlich Kultur? Was sind schützenswerte
Kulturgüter? Sind es nur materielle Güter, sind es
Schlösser, historische Stadtensembles, Gärten, Landschaften? Oder sollten wir auch die immaterielle Kultur,
überkommene Bräuche und lebendige Ausdrucksformen
in der Lebensweise verschiedener Gruppen und Gemeinschaften dazuzählen und als bewahrenswert begreifen?
Die UNESCO hat in den letzten Jahrzehnten viel dazu
beigetragen, unser Verständnis von Kultur zu erweitern
und für die dynamischen Kulturprozesse der Gegenwart
zu öffnen. Erinnert sei nur an die UNESCO-Kulturkonferenz von Mexiko 1982, seit der international eine an
anthropologischen und ethnologischen Begrifflichkeiten
angelehnte Definition von Kultur benutzt wird, in der die
Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen,
materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen wird, die eine Gesellschaft oder eine
soziale Gruppe kennzeichnen, und die über Kunst und
Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst.
Dieser weite Ansatz wurde 2005 in der Definition des
Begriffs der kulturellen Vielfalt im „Übereinkommen
über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ bekräftigt. Im Sinne dieses Kulturverständnisses war es nur konsequent, dass die
UNESCO über das Natur- und Kulturerbe hinaus - siehe
Welterbekonvention von 1972 - mit ihrem Übereinkommen von 2003 auch das immaterielle Kulturerbe unter
Schutz gestellt sehen wollte und damit das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument zur Bewahrung des
immateriellen Kulturerbes schuf.
Wir als Linke teilen dieses Kulturverständnis und sehen die Notwendigkeit, überlieferte Traditionen und
Ausdrucksformen, so auch die Sprachen, die verschiedenen Formen der Künste, gesellschaftliche Praktiken, Rituale und Feste, Wissen und Praktiken im Umgang mit
der Natur oder auch traditionelle Handwerkstechniken,
zu schützen. Viele dieser Kulturformen gehen weltweit
durch die Globalisierung verloren, und zwar in einer unheilvollen Geschwindigkeit.
Insofern halten wir es für notwendig, dass Deutschland das UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des
immateriellen Kulturerbes baldmöglichst ratifiziert. Die
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat sich
Zu Protokoll gegebene Reden
2007 mit einer Handlungsempfehlung dafür ausgesprochen. Seitdem hat sich nicht viel getan. Daher ist es zu
begrüßen, wenn jetzt hier im Bundestag zwei Anträge zu
diesem Thema vorliegen. Allerdings sind diese unterschiedlich weitgehend und konkret.
Der Antrag der Koalition verbleibt, was den zeitlichen Horizont, die konkrete Zielstellung und die inhaltlichen Punkte der Gespräche und notwendigen Vereinbarungen mit den Ländern betrifft, im Unverbindlichen.
Anders der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen. Ziel ist, das Übereinkommen bis Ende 2012 zu
ratifizieren, sich mit den Ländern über eine qualitätssichernde Methode zur Erstellung von Bestandsaufnahmen und über die Einrichtung eines gemeinsamen Forums mit fachlicher Legitimität - ähnlich wie in der
Schweiz bzw. Österreich - zu verständigen und ein bundesweit einheitliches Verfahren und klare Entscheidungskriterien für eine Anmeldung und Auswahl für eine
nationale Inventarliste zu erreichen. Das ist weitaus
konkreter und zielführender. Diese wie auch die folgenden Punkte des Antrags von SPD und Grünen sollten in
einen überarbeiteten Antrag eingehen, der nach unserer
Vorstellung ein gemeinsamer Antrag aller Parteien sein
sollte. Wir als Linke stehen jedenfalls für eine Zusammenarbeit bereit. Das Anliegen ist es wert, dem Bundestag einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Die Empfehlung der Enquete-Kommission war eine aller Parteien,
auch mit unseren Stimmen. Es gibt keinen überzeugenden Grund, warum eine parteiübergreifende Zusammenarbeit in dieser Angelegenheit nicht auch jetzt möglich
sein sollte.
Die Bundesregierung hat als Grund für ihre bisher
abwartende Haltung vor allem die Unklarheit darüber
angeführt, nach welchen Kriterien immaterielle Kulturgüter ausgewählt werden sollten. Zudem sei durch Experten auf die Gefahr hingewiesen worden, dass es aufgrund der fehlenden Kriterien zu Missbrauch für
ökonomische oder ideologische Interessen kommen
könne. Nun wird aber im Koalitionsantrag selbst festgestellt, dass diese Bedenken durch die Umsetzungspraxis
anderer Länder, zum Beispiel Österreichs und der
Schweiz, ausgeräumt werden konnten.
Das internationale Fachgespräch zur Umsetzung des
UNESCO-Übereinkommens am 25. März 2009 im Kulturausschuss kam zu dem gleichen Ergebnis und bestärkte auch uns, dieses Thema nachdrücklich weiterzuverfolgen. Allerdings ist zwingend, die Kriterien zur
Auswahl klar zu definieren und dazu ein gemeinsames
Forum mit fachlicher Kompetenz einzurichten, um den
Prozess der Ratifizierung vorzubereiten und die Umsetzungspraxis zu begleiten. In diesen Abstimmungsprozess
sollten zivilgesellschaftliche Akteure einbezogen werden.
Das Wichtigste ist, im Prozess der Vorbereitung und
Umsetzung der Konvention eine breite innergesellschaftliche Debatte darüber zu führen, was auf Basis der
schon im Übereinkommen formulierten Begriffsbestimmungen zum immateriellen Kulturerbe zu zählen ist und
was wir von deutscher Seite für die Aufnahme in die
Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit vorschlagen. Da Deutschland bisher nicht ratifiziert hat,
sind ja noch keine deutschen Titel in die Liste aufgenommen worden. Diese grundsätzliche Debatte steht uns
noch bevor.
So wird auch in Deutschland über die kulinarische
Kultur diskutiert. Diese Diskussion über eine regional
geprägte Küche mit ihren typischen Gerichten und ihrer
Praxis entwickelt sich derzeit zu einer Art Gegenbewegung und Gegenkultur zum globalisierten Fastfood. So
gibt es in Thüringen eine Initiative zur Rettung der Thüringer Klöße. „Der Kloß soll für Deutschland stehen,
die UNESCO soll ihn als immaterielles Kulturerbe absegnen“ - so die Vorstellung von Sylk Schneider, Chef
des Thüringer Kloßmusems in Heichelheim bei Weimar,
der sich seit 2007 dafür einsetzt, die Thüringer Leibspeise zu bewahren. Über diese Idee wurde viel gelacht,
aber eine Unterschriftenliste von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern aus Politik und Gesellschaft, auch aus
den Reihen des Bundestages, zeigt, wie viel Unterstützung es für diese Idee gibt. Nun möchte ich nicht, dass
der Bundestag darüber abstimmt, dass Thüringer Klöße
zum Welterbe erklärt werden. Aber ich möchte schon,
dass wir dieses Ansinnen nicht als lächerlich abtun, sondern uns auch hier im Hause ernsthaft damit beschäftigen, was denn die Kriterien für immaterielles Weltkulturerbe sein könnten. Wir sollten die Ratifizierung des
Abkommens zügig auf den Weg bringen.
Im Jahr 2003 hat die UNESCO das Übereinkommen
zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes verabschiedet. In Kombination mit der UNESCO-Konvention
zu Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen sowie zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt ist das Übereinkommen zur Bewahrung
des immateriellen Kulturerbes die logische Ergänzung.
Seit 2006 haben weltweit 134 Staaten das Übereinkommen ratifiziert. Die Aktivitäten zur Umsetzung sind in
vollem Gange. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung dem Vorbild Asiens und zahlreicher europäischer
Länder folgt und nun endlich den Ratifizierungsprozess
in Deutschland in Gang bringen möchte.
Die Nominierung immaterieller Kulturgüter ist weitaus komplizierter als jene substanzieller Güter wie beispielsweise von Gebäuden, der Artenvielfalt oder einzigartigen Naturlandschaften.
Denn immaterielle Kulturgüter sind nicht nur haptisch, sondern insbesondere auch definitorisch schwer
greifbar. Stetige Veränderung und kulturelle Interaktion
gehören ebenso zu ihren Merkmalen wie die Verwurzelung ihrer Tradition unter gesellschaftlichen Gruppen
oder in der gesamten Gesellschaft. Immaterielle Kulturgüter wie Märchen, alte deutsche Volkslieder oder Traditionsfeste - um einige exemplarische Beispiele zu nennen - sind untrennbar mit unserer Identität verknüpft.
Als Fundament unserer kulturellen Vielfalt benötigen
immaterielle Kulturgüter Wertschätzung und Schutz
durch Anerkennung im Rahmen des UNESCO-Übereinkommens.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschtümelei und Ausgrenzungstendenzen bei der
Suche nach schützenswerten immateriellen Kulturgütern
in Deutschland sind unbedingt zu vermeiden: Es entspricht dem Wesen von Kunst und Kultur, von unterschiedlichsten Einflüssen geprägt zu sein und sich unablässig weiterzuentwickeln. Immaterielle Kulturgüter
symbolisieren die Transformationsprozesse unserer Kultur und Gesellschaft.
Bei der Auswahl schützenswerter immaterieller Kulturgüter muss einem ökonomischen, ideologischen und
politischer Missbrauch vorgebeugt werden. Dies betont
auch die Koalition im Feststellungsteil Ihres Antrags,
entwickelt jedoch aus dieser Erkenntnis keine entsprechenden Schlussfolgerungen, wozu auch die Erstellung
eines nationalen Kriterienkatalogs gehört. Wir fordern
in unserem gemeinsamen Antrag mit der SPD ein bundesweit einheitliches Verfahren und klare Entscheidungskriterien, auf deren Grundlage die Anmeldung und
Auswahl für die nationale Inventarliste erfolgen sollte.
Kontraproduktiv wäre es, immaterielle Kulturgüter
unter dem Schutz des UNESCO-Übereinkommens zu
kommerzialisieren. Vielmehr sollte es darum gehen,
diese Kulturgüter und Traditionen qualitativ zu erhalten,
weiterzuentwickeln und die Zugangsmöglichkeiten zu
verbessern. Angesichts der Komplexität des Themas ist
es notwendig, konkrete politische Rahmenbedingungen
festzulegen, sowohl für die Methodik der Nominierung
als auch für den weiteren Umgang zur Bewahrung der
ausgewählten immateriellen Kulturgüter. Wie kann beispielsweise der theoretische Schutz alter Volkslieder im
Rahmen des UNESCO-Übereinkommens gewährleistet
werden, wenn an vielen Schulen musische Fächer gekürzt und somit auch das Singen immer weniger gefördert wird zugunsten der sogenannten MINT-Fächer?
In unserem Antrag mit der SPD fordern wir ein Konzept zur Methodik der Nominierung und zum Schutz der
ausgewählten immateriellen Kulturgüter. Diese Aspekte
bleiben im vorliegenden Antrag der Koalition völlig unberücksichtigt.
Als Vorbild kann uns das Auswahlverfahren der
Schweiz dienen. Dort wurde ein allen Bürgerinnen und
Bürgern offenstehendes Forum für das immaterielle
Kulturerbe eingerichtet, um den Prozess der Ratifikation
und die Umsetzungspraxis der Konvention zu begleiten.
Wir brauchen in Deutschland ein adäquat basisdemokratisches Auswahlverfahren, um die Sichtweisen und
Interessen unterschiedlicher kultureller und gesellschaftlicher Gruppen umfassend zu berücksichtigen.
Das gesamte Spektrum unseres Reichtums an immateriellen Kulturgütern muss zur Disposition stehen: Die
deutsche Theater- und Operntraditionen und das Puppenspiel ebenso wie jüngere Kunstformen, beispielsweise die Phänomene der Jugendkultur - Rap, Hip-Hop
oder Poetry-Slam. Die Techniken der Pigmentmischungen in der Malerei ebenso wie das Kunsthandwerk mit
unterschiedlichen Materialien der Bildhauerei, der Töpferei oder des Holzschnitts. Qualitative Unterteilungen
in „Hoch“- und „Subkultur“ dürfen genauso wenig eine
Rolle spielen wie Präferenzen einzelner Kunst- und Kultursparten. Im Bereich des Brauchtums sollten nicht nur
Trachtenfeste zur Auswahl stehen, sondern beispielsweise auch der Christopher-Street-Day, welcher mittlerweile in Deutschland zur Tradition geworden ist. Das
traditionsreiche Kulturgut der deutschen Minderheiten
- zum Beispiel der Sorben oder der deutschen Sinti und
Roma - muss gleichermaßen in die Überlegungen zur
Schutzbedürftigkeit miteinfließen wie die kulturelle Dimension des Internets.
Die Palette immaterieller Kulturgüter in Deutschland
ist facettenreich und bunt. Wenn Bürgerinnen und Bürger die Chance erhalten, mitzubestimmen, welche immateriellen Kulturgüter ihnen am Herzen liegen, kann dadurch auch das Bewusstsein für den Wert unserer
kulturellen immateriellen Güter gestärkt werden. Diese
neue Wertschätzung wäre eine Bereicherung für unsere
Gesellschaft. Deshalb müssen wir Konzepte finden,
möglichst viele Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und Interessenverbände bei der Erstellung von
Inventarlisten zur Unterschutzstellung durch das
UNESCO-Übereinkommen zu beteiligen. Nicht die Politik, sondern Bürgerinnen und Bürger müssen darüber
entscheiden, welche immateriellen Kulturgüter Deutschland für das UNESCO-Übereinkommen nominieren
wird.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6314 und 17/6301 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
alle damit einverstanden? - Das ist der Fall. Somit ist die
Überweisung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatzpunkt 13 auf:
21 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gunkel, Heinz-Joachim Barchmann, Gabriele
Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Übermittlung von Fluggastdaten nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4
EUZBBG zum Richtlinienvorschlag
KOM({0}) 32 endg.
- Drucksache 17/6293 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,
Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gutachten über die geplanten EU-Fluggastdatenabkommen mit den USA und Australien
Vizepräsident Eduard Oswald
beim Gerichtshof der Europäischen Union einholen
- Drucksache 17/6331 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Es sind alle Kolleginnen und Kollegen damit einverstanden. Die Namen liegen uns hier vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 17/6293 und 17/6331 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle
sind damit einverstanden. Somit ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Neuordnung des Geräte- und Produktsicherungsrechts
- Drucksache 17/6276 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor. Sie sind einverstanden, dass wir so verfahren.
Dass die Frage nach der Sicherheit von technischen
Geräten in einem europäischen Kontext beantwortet
wird, war in den letzten Dekaden mitnichten eine tra-
dierte Selbstverständlichkeit. Sie stellte sich erst mit
dem freien Warenverkehr in der Europäischen Gemein-
schaft. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde sie - wenn über-
haupt - nationalstaatlich beantwortet. Dies führte in der
Tendenz eher dazu, dass aufgrund unterschiedlicher
technischer Anforderungen an die Produktsicherheit
Handelshemmnisse aufgebaut wurden, anstatt sie abzu-
bauen. Das ist alles nicht neu. Mein geschätzter Kollege
Mierscheid als eine der großen Koryphäen auf dem Ge-
biet der Produktsicherheit hat darauf hingewiesen. Ich
erinnere nur daran, dass er sich erst kürzlich mit den Ei-
genschaften des Ruder-Achters befasst hat, auch und ge-
rade unter dem Gesichtspunkt der Produkt- und Geräte-
sicherheit.
Gerätesicherheit wird mittlerweile nicht mehr isoliert
nationalstaatlich definiert, sondern innerhalb der Euro-
päischen Union miteinander abgestimmt. Mit dem Ge-
räte- und Produktsicherheitsgesetz wurde ab 1. Mai
1) Anlage 21
2004 die europäische Richtlinie über die allgemeine
Produktsicherheit in Deutschland in nationales Recht
umgesetzt. Es regelt unter anderem das Inverkehrbringen von technischen Arbeitsmitteln, aber auch von komplexen Anlagen und stellt somit auch eine Grundlage für
einen funktionierenden Arbeitsschutz dar. Kurzum bietet
es eine Rechtsgrundlage, um unsichere Produkte vom
Warenverkehr auszuschließen. Es trägt damit zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen bei, weshalb
ihm eine umfassende wirtschafts- und damit auch arbeitsmarktpolitische Bedeutung zukommt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts wird
unter anderem die Geräte- und Produktsicherheit europarechtlich harmonisiert. Diese Harmonisierung erleichtert den Warenaustausch auf dem europäischen
Markt, soll aber in erster Linie den Verbraucher- und
Arbeitsschutz EU-weit auf hohem Niveau sichern. Mit
dem Produktsicherheitsgesetz wird auch die Zusammenarbeit von Marktüberwachung und Zoll gestärkt werden,
um die „Einreise“ unsicherer Produkte möglichst frühzeitig erkennen und verhindern zu können. Mit dem Gesetzentwurf verweisen wir ausdrücklich auf die Pflicht
zur Zusammenarbeit zwischen Zoll- und Marktüberwachungsbehörden. Dabei sollen die Zollbehörden insbesondere berechtigt und verpflichtet werden, alle für weitere Maßnahmen erforderlichen Informationen an die
zuständige Marktüberwachungsbehörde weiterzugeben.
Hierzu zählen zum Beispiel Informationen wie Name
und Anschrift des Empfängers und des Absenders, Versendungsland, Ursprungsland etc. Dies ermöglicht ein
Eingreifen der Marktüberwachungsbehörden zu einem
möglichst frühen Zeitpunkt, aber auch die Informationsgewinnung über Produkte aus Drittländern, die sich bereits auf dem Gemeinschaftsmarkt befinden. Dadurch
wird eine Erhöhung der Effektivität der Marktüberwachungsbehörden erreicht.
Ebenso wollen wir das GS-Zeichen für „geprüfte Sicherheit“ nachhaltig stärken, um Missbrauch zu erschweren; denn mit einem gefälschtem GS-Zeichen wird
nicht nur der betroffenen GS-Stelle ein wirtschaftlicher
Schaden zugefügt, sondern die Zuverlässigkeit der mit
dem GS-Zeichen verbundenen Aussage insgesamt in
Zweifel gezogen. Daher werden die GS-Stellen künftig
verpflichtet, gegen Hersteller, die ihr GS-Zeichen unerlaubterweise verwenden, vorzugehen. Die GS-Stelle
wird geeignete Maßnahmen zu treffen haben, wie zum
Beispiel die Abmahnung eines widerrechtlichen Verwenders, die Aufforderung zur Abgabe von Unterlassungserklärungen, das Einschalten der Wettbewerbszentrale
oder die Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen
im Klagewege vor den örtlichen Gerichten. Die anderen
GS-Stellen sind in diesen Fällen zu unterrichten, da
nicht auszuschließen ist, dass auch andere GS-Zeichen
von diesem Hersteller unerlaubterweise verwendet werden. Die Hersteller werden verpflichtet, Informationen
zu Fälschungen ihres GS-Zeichens zu veröffentlichen.
Damit wird die Grundlage für eine „Liste schwarzer
Schafe“ gelegt, die letztlich potenzielle Fälscher abschrecken soll.
All das klingt sehr technisch. In der Quintessenz aber
geht es darum, den Konsumenten- und Arbeitsschutz
über die Geräte- und Produktsicherheit auf einem hohen
Niveau sicherzustellen und einen fairen Wettbewerb um
qualitativ hochwertige Produkte zu wahren.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts,
über den wir heute in erster Lesung beraten, stellt eine
Anpassung an die seit dem 1. Januar 2010 geltende EGVerordnung zur Akkreditierung und Marktüberwachung
im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten
dar.
Insgesamt sieht der Gesetzentwurf umfangreiche
sprachliche und systematische Verbesserungen vor. Darüber hinaus berücksichtigt der Entwurf Vorschläge des
Bundesrates sowie der Ad-hoc-Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Verbesserung und Stärkung der Marktüberwachung und setzt weitere EG-Richtlinien um.
Gerade im Hinblick auf die enorme wirtschaftliche
Bedeutung des Exports für Deutschland ist es wichtig,
einheitliche europäische Rahmenbedingungen zu schaffen. Erst einheitliche Standards sorgen für einen fairen
Wettbewerb und stärken weiterhin das Vertrauen in unsere Produkte.
Das Produktsicherheitsgesetz gilt gemäß § 1 dann,
wenn im Rahmen einer Geschäftstätigkeit Produkte auf
dem Markt bereitgestellt, ausgestellt oder erstmals verwendet werden und darüber hinaus für die Errichtung
und den Betrieb überwachungsbedürftiger Anlagen, die
gewerblichen oder wirtschaftlichen Zwecken dienen
oder durch die Beschäftigte gefährdet werden können.
Aus diesem breiten Anwendungsspektrum geht hervor, dass der Gesetzentwurf umfangreiche Änderungen
in verschiedensten Gesetzen, wie beispielsweise dem
Produktsicherheitsgesetz, der Betriebssicherheitsverordnung, dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, dem Medizinproduktegesetz, dem Atomgesetz und der Fahrzeugverordnung vorsieht.
Hervorzuheben ist hier die besondere Bedeutung der
im Gesetzentwurf vorgenommenen Verbesserungen für
die Maschinenrichtlinie und die Niederspannungsrichtlinie. Da diese insbesondere unsere wichtigen Branchen
Maschinenbau und Elektrotechnik betreffen, sind sie für
den Wirtschaftsstandort Deutschland von herausragender Bedeutung.
Ziel des Gesetzes ist es, zu gewährleisten, dass alle
auf dem Markt angebotenen Produkte nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie so beschaffen sind, dass
bei bestimmungsgemäßer Verwendung oder vorhersehbarer Fehlanwendung Sicherheit und Gesundheit von
Verwendern oder Dritten nicht gefährdet werden.
Rückrufaktionen sind heute nicht selten geworden.
Da viele Produktmängel häufig erst nach der Auslieferung zutage treten, ist es wichtig, wirkungsvolle Regelungen zur frühzeitigen Identifizierung von Mängeln
aufzustellen.
Gerade in der heutigen Zeit, in der technisch hochentwickelte Produkte auf dem Markt sind, deren Funktionsweise der Konsument nicht ohne Weiteres nachvollziehen kann, ist es wichtig, auf einen wirkungsvollen
Marktregulierungsmechanismus vertrauen zu können.
Dies unterstreicht auch eine aktuelle Statistik des
Kraftfahrt-Bundesamtes. Daraus geht hervor, dass sich
beispielsweise die Anzahl der Rückrufaktionen aus der
Automobilbranche in Deutschland von 2009 auf 2010
von 140 auf 185 erhöhte. Das Gesetz sorgt nun für besseren Schutz der Verbraucher und für klare Regeln für
Rückrufaktionen.
Ferner schreibt das Gesetz umfassende Informationsund Identifikationspflichten für Hersteller und Händler
vor. So muss eine eindeutige Zuordnung aller Produkte
zu ihrem Hersteller möglich sein. Der Verbraucher muss
über alle möglichen Gefahren aus dem Gebrauch eines
Produkts oder auch über vorhersehbare Fehlanwendungen hinreichend aufgeklärt werden. Gefährdet ein Produkt Sicherheit und Gesundheit der Konsument, müssen
Hersteller, Bevollmächtigte und auch Importeure unverzüglich die zuständigen Behörden unterrichten und mit
ihnen kooperieren.
Sollte die Sicherheit eines Produkts nicht gewährleistet sein und Mängel festgestellt werden, so müssen Produkte vom Markt genommen werden. Hierzu ist es
notwendig, dass Unternehmen Rückruf-Managementsysteme installieren. Zudem sind im Gesetz Sanktionen
verankert, die die Einhaltung der Regelungen gewährleisten sollen. Diese liegen je nach Einstufung der Vorhersehbarkeit des Mangels durch den Hersteller bei bis
zu 10 000 Euro oder in gravierenden Fällen auch bei einem Bußgeld von maximal 50 000 Euro.
Der Gesetzentwurf sieht folgende weitere konkrete
Anpassungen vor: So soll die Marktüberwachung durch
eine bessere Zusammenarbeit mit dem Zoll verbessert
werden. Dadurch sollen möglichst frühzeitig gefährliche
Produkte identifiziert und vom Markt genommen werden
können.
Nach Abschluss der Beratungen im Ausschuss für Arbeit und Soziales ist vorgesehen, über den Gesetzentwurf
im September dieses Jahres abzustimmen. Hier hoffe ich
auf die Unterstützung der Fraktionen, um durch den vorliegenden Gesetzentwurf eine wichtige Verbesserung der
Marktüberwachung und der Produktsicherheit erreichen
zu können.
Arbeits- und Gesundheitsschutz ist ein Thema, das
viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Dabei müssen wir
uns alle fragen: Wie gestalten wir unsere Arbeitswelt so,
dass wir nicht durch unsere Arbeit krank werden? Lebensbedrohliche Unfälle an Arbeitsplätzen werden zum
Glück immer weniger. Dafür gibt es neue Berufskrankheiten. Vor allem psychische Erkrankungen und MuskelSkelett-Erkrankungen, insbesondere im Rückenbereich,
nehmen stetig zu.
Den psychischen Belastungen am Arbeitsplatz müssen wir uns politisch und gesellschaftlich deutlich stärZu Protokoll gegebene Reden
ker widmen. Von vielen Arbeitnehmern werden psychische Erkrankungen noch als persönliche Schwäche
wahrgenommen. Hier müssen wir handeln; denn die Zunahme von psychischen Erkrankungen ist meistens den
veränderten Arbeitsbedingungen geschuldet. Ich kenne
dies aus der Arbeitswelt am Fließband, wo ein knallharter Wettbewerb besteht und die Arbeitnehmer zu dauernder Leistungsoptimierung verpflichtet sind. Wir können
noch gar nicht vorhersehen, wie sich die psychischen
Erkrankungen in Zukunft entwickeln werden; denn unsere Arbeitswelt wird sich immer mehr beschleunigen.
Daher müssen wir heute handeln, um für die Zukunft Lösungen zu haben. Wir brauchen betriebliche Maßnahmen zur Vermeidung von psychischen Belastungen wie
eine Verringerung der Arbeitsintensität, mehr Pausen
und eine abwechslungsreiche Arbeitsplatzgestaltung.
Hier müssen wir die Gewerkschaften vor Ort unterstützen.
Eine zweite große Aufgabe des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sind die Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmer. Wenn wir hier im Bundestag über die Erhöhung des Renteneintrittsalters debattieren, spielt der
Arbeits- und Gesundheitsschutz dabei eine zu geringe
Rolle. Dabei ist dies so entscheidend dafür, dass die
Menschen eine Chance bekommen, erstens tatsächlich
bis 67 arbeiten zu können und zweitens gesund in Rente
gehen zu können, damit sie diese dann auch genießen
können. Dazu müssen in den Betrieben angemessene Arbeitsplätze eingerichtet werden, um die sinkende Körperkraft auszugleichen und die steigende Sozialkompetenz und Erfahrung älterer Arbeitnehmer zu nutzen.
Dazu brauchen wir eine verstärkte Prävention, Schonarbeitsplätze, einen Belastungsmix, ergonomische Lösungen und flexible Arbeits- und Pausenzeiten. In Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen finden
altersgerechte Arbeitsbedingungen bisher noch zu wenig Widerhall - auch hier müssen wir mit Gewerkschaften und Betrieben vor Ort zusammenarbeiten und sie
politisch unterstützen. Deshalb müssen wir hier über
Förder- und Zuschussregelungen für betriebliches Gesundheitsmanagement diskutieren. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie und ob wir altersgerechte Arbeitsplätze fördern können, in Form eines Bonus für die
Unternehmen oder in Form von Lohnzuschüssen.
Ein wichtiger Punkt, der mich auch zum Gesetzentwurf bringt, den wir heute diskutieren, ist die Kontrollmöglichkeit der staatlichen Gewerbeaufsicht und der
Betriebsräte. In den allermeisten Ländern wurden die
Gewerbeaufsicht und andere Aufsichtsämter jedoch in
den letzten Jahren deutlich personell ausgedünnt. Vielfach ist vor Ort keine ausreichende Kontrolle mehr möglich. Auch die Überprüfung der neuen Aufgaben aus der
Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie kann
derzeit kaum geleistet werden. Wir alle wissen aber:
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Gerade in einem
sensiblen und hoch spezialisierten und technisierten Bereich wie der Geräte- und Produktsicherheit ist eine solide Kontrolle notwendig. Arbeitsmittel und Anlagen
müssen auch weiterhin geprüft werden. Daher appelliere ich, dass wir im Bereich der Gewerbeaufsicht ausreichend Personal für die gewachsenen Aufgaben zur
Verfügung stellen.
Eine weitere Frage, die sich mir bei der Anpassung
unserer Gesetzeslage an die Verordnung sowie bei der
Umsetzung der zahlreichen Richtlinien stellt, ist die
Höhe der Sanktionen. Wir haben diese Frage bereits bei
der Umsetzung der Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten diskutiert. Bei den Europäischen Betriebsräten hatte die EU-Richtlinie wirksame, angemessene und
abschreckende Sanktionen für Verstöße gefordert. Die
Höhe der Verstöße muss national festgelegt werden. Das
Gesetz zu den Euro-Betriebsräten sieht dafür 15 000
Euro vor - und nicht nur ich, sondern auch viele betriebliche und gesellschaftliche Akteure haben gesagt, dass
davon kein Unternehmen abgeschreckt wird. Wenn ein
Unternehmen am Europäischen Betriebsrat vorbei agieren will, zahlt es diese 15 000 Euro zur Not aus der Portokasse. Die gleiche Diskussion können wir nun hier bei
der Geräte- und Produktsicherheit führen. Art. 41 der
Verordnung ({0}) 765/2008 fordert Sanktionen, die
„spürbar, verhältnismäßig und abschreckend“ sind.
Auch hier halte ich 50 000 Euro, wie von der Regierung
vorgeschlagen, nicht für ausreichend. Ich unterstütze
daher ausdrücklich die Empfehlungen der Bundesratsausschüsse, die die Sanktionen in einem Änderungsantrag deutlich erhöhen wollen. Meine Damen und Herren
von der Bundesregierung, ich fordere Sie dazu auf, diese
Vorschläge der Bundesländer in Ihren Gesetzentwurf
aufzunehmen.
Auch die anderen Änderungsvorschläge der Bundesländer müssen wohlwollend geprüft werden. Darunter
ist auch der Hinweis, dass die im Gesetz angesprochene
„Fehlanwendung“ in der EU-Rechtsetzung nicht bekannt sei. Hier ist - wenn das Gesetz schon rechtssystematisch geordnet wird - eine Klarstellung wichtig. Auch
halte ich eine Klarstellung der Kompetenzen im Bereich
des Zolls für notwendig.
Zudem halte ich es beim Arbeits- und Gesundheitsschutz für wichtig, dass drittschützende Regelungen im
Bereich des Arbeitsschutzes und damit in der Zuständigkeit des BMAS verbleiben. Lassen Sie mich dazu ein einfaches Beispiel anführen: Der Schutz für den Monteur,
der eine Rolltreppe wartet, liegt in der Zuständigkeit des
BMAS. Sollte der Drittschutz ausgegliedert werden, wären Frau und Kind, die diese Rolltreppe nutzen, in der
Zuständigkeit eines anderen Ministeriums. Das wäre absurd. Der Drittschutz muss daher im Arbeitsschutzrecht
verbleiben.
Ich freue mich auf die weitere Beratung des Gesetzentwurfs. Wir müssen hierbei bei jedem Schritt überdenken: Was bringen die Umsetzung der Richtlinien und die
Anpassung des Gesetzes an die angesprochene Verordnung für die Arbeitnehmer? Wie können wir dafür sorgen, dass der Arbeitsschutz auch auf der technischen
Ebene, über die wir heute sprechen, verbessert wird?
Und die weiteren Aufgaben im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz, die ich angesprochen habe, dürfen wir
dabei nicht aus den Augen verlieren: Wir müssen unsere
Arbeitswelt so gestalten, dass berufsbedingte, insbesondere psychische Erkrankungen nicht immer weiter zuZu Protokoll gegebene Reden
nehmen und dass die Menschen eine realistische Chance
darauf haben, länger zu arbeiten und dann gesund in
Rente zu gehen.
Kernelement des Entwurfs ist die Anpassung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts an die seit 1. Januar
2010 geltende Verordnung ({0}) Nr. 765/2008 zur Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang
mit der Vermarktung von Produkten. Außerdem greift
der Entwurf Vorschläge des Bundesrates zur Verbesserung der Marktüberwachung sowie der Ad-hoc-BundLänder-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Marktüberwachung auf. Zudem setzt das Gesetz die Richtlinie über
Maschinen zur Ausbringung von Pestiziden sowie Teile
der Richtlinie über die Sicherung von Spielzeug um.
Das vorliegende Gesetz wird zukünftig die zentrale
Rechtsvorschrift für die Vermarktung von Produkten in
Deutschland sein. Aufgrund des erheblichen Änderungsumfangs wurde das Gesetz komplett neu gefasst, wodurch auch an einigen Stellen überfällige Rechtsklarheit
geschaffen wurde. Durch die Zusammenfassung sind
keine umständlichen neuen Gesetzesnormen geschaffen
worden, vielmehr wurden die bestehenden Regelungen
erheblich verschlankt.
Gerade in der Marktüberwachung haben wir den zuständigen Behörden den Handlungsspielraum gegeben,
der notwendig ist, ein hohes Sicherheitsniveau zu gewährleisten und einen fairen Wettbewerb zwischen den
einzelnen Unternehmen zu sichern. Dies wird unter anderem durch die intensivierte Zusammenarbeit zwischen
Marktüberwachung und Zoll erreicht. Dadurch können
gefährliche Produkte möglichst frühzeitig aufgespürt
und aus dem Verkehr gezogen werden. Durch die Erstreckung der Marktüberwachungsbestimmungen auf alle
dem Gesetz unterfallenden Produkte wird die bestehende Einheitlichkeit der Marktüberwachung gewahrt.
Gerade für Liberale ist der beste Weg im Verbraucherschutz, Transparenz zu schaffen und somit den Verbraucher durch Informationen in seiner freien Konsumentscheidung unterstützen. Dies schafft ein Zeichen in
Deutschland besser als alles andere: Das GS-Zeichen,
„geprüfte Sicherheit“, steht für Sicherheit und Verlässlichkeit bei Produkten und Geräten. Es ist neben dem
CE-Zeichen das einzige gesetzlich geregelte Prüfzeichen
für Produktsicherheit in Europa. Verbraucher erhalten
über das GS-Zeichen die Information, dass ein Produkt,
das sie erworben haben, sicher ist. Und durch neue,
noch strengere Regelungen wird das Vertrauen der Verbraucher in das GS-Zeichen bestätigt und vertieft. So
kann noch besser als bisher Missbrauch bekämpft werden. Durch die Zusammenführung der Bestimmungen
zum GS-Zeichen wird auch dem Verbraucher der Überblick über die entsprechenden Regelungen erleichtert.
Dieser vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer
Schritt, um die Europäische Union sicherer und für den
Verbraucher transparenter zu machen. Daher würde ich
mich freuen, wenn auch in diesem Hohen Hause über die
Parteigrenzen hinweg diese Regelungen Zustimmung
finden würden.
Das Gesetz ist überwiegend eine Umsetzung von EUVerordnungen in deutsches Recht. Deshalb sind die
Spielräume, gestalterisch tätig zu werden, durchaus begrenzt. Aber: Besser geht immer!
Wichtig ist das Gesetz, da wir in weiten Teilen unseres
Privat- und Arbeitslebens mit Geräten und Produkten zu
tun haben. Wer will nicht, dass diese sicher sind! Viel zu
oft sind schädliche Produkte und veraltete Maschinen in
Umlauf und Gebrauch. Hier muss konsequent zum
Schutze der Menschen gehandelt werden.
Mit dem vorliegenden Gesetz lässt die Bundesregierung ohne Not große Lücken im Arbeits- und Verbraucherschutz. Die Linke sieht deutlichen Verbesserungsbedarf:
Erstens wurde im Gesetzentwurf beim Verbraucherschutz geschludert. Mehr als 2 200 gefährliche Produkte
sind im vergangenen Jahr dem Schnellwarnsystem der
EU, RAPEX, gemeldet worden; das ist eine Steigerung
um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr 2009. Nach Kleidung belegte Kinderspielzeug den zweiten Platz der am
meisten gefährlichen Produktgruppen. 25 Prozent der
Warnungen betreffen Kinderspielzeug. Stiftung Warentest deckte in ihren letzten Berichten auf, dass die meisten Produkte für Kinder, zum Beispiel Fahrradanhänger
oder Kinderspielzeug, extrem schadstoffbelastet sind;
das betrifft auch teure deutsche Markenprodukte.
Am Schlimmsten ist deshalb: Der Gesetzentwurf enthält keine Aussage zu den Grenzwerten bei sogenannten
PAK-Stoffen und sonstigen krebserzeugenden Stoffen in
Kinderspielzeug.
Die Linke kritisiert des Weiteren: Die CE-Kennzeichnung bleibt weiterhin eine große Verbrauchertäuschung: Sie wird von den Herstellern der Produkte vergeben, als Nachweis dafür, dass die gesetzlichen
Bestimmungen bei diesem Produkt eingehalten wurden.
Sie erfolgt ohne Prüfung durch eine unabhängige Einrichtung wie zum Beispiel den TÜV. Eine Prüfung
erfolgt nur per Stichprobe und größtenteils durch die
unterbesetzten Marktüberwachungsbehörden oder wenn
bereits etwas passiert ist.
Die Linke fordert:
Verbraucher brauchen eine zentrale Anlaufstelle, bei
der sie gefährliche Produkte melden können. Je nach
Herstellungsort und Produktgruppe sind unterschiedliche Behörden zuständig. Das ist nicht hinnehmbar!
Kinderspielzeug darf nicht ungeprüft auf den Markt
kommen.
Die Schadstoffgrenzwerte für Kinderspielzeug und
sonstige kindernahe Produkte müssen nach dem Prinzip
„so gering wie möglich“ festgelegt werden.
Zweitens droht im Arbeitsschutz sogar eine Verschlechterung. Im neuen Gesetz entfällt für ein Unternehmen die Prüfung, ob ein gebraucht gekauftes technisches
Gerät bereits einmal im europäischen Wirtschaftsraum in
Verkehr gebracht wurde. Es müssen stattdessen nur noch
Zu Protokoll gegebene Reden
allgemeine Anforderungen erfüllt sein; die Betriebssicherheitsverordnung ist nun allein entscheidend.
Die Betriebssicherheitsverordnung, die die Bedingungen der Betriebssicherheit von Geräten letztlich festschreibt, ist aber ebenfalls in der Überarbeitung. Es ist
ein Skandal, dass hier ein Gesetz zur Diskussion steht,
dessen letztendliche Haltelinie für den Arbeitsschutz in
einer Verordnung liegt, die noch überarbeitet wird.
Dass veraltete Geräte nicht durch Geräte mit einem
höheren Standard ersetzt werden müssen, wenn diese auf
den Markt kommen, wird im Gesetz ausdrücklich nicht
als Gefährdung der Sicherheit bezeichnet. Hier muss
nachgebessert werden!
Die Linke fordert: Bei jedem alten Gerät muss gekennzeichnet sein, wo und in welchem Maße sie nicht
mehr den neuesten Standards entspricht. Nur so kann sichergestellt sein, dass Achtsamkeit und Gefahrenbewusstsein zumindest geschärft werden. Des Weiteren
fordern wir, dass festgestellte Mängel an Geräten und
Produkten konsequent öffentlich gemacht werden. Es
kann nicht sein, dass der Schutz des Unternehmens vor
negativer Presse wichtiger sein soll als der Arbeits- und
Verbraucherschutz. Ein Gesetz, das die Einwilligung des
betroffenen Unternehmens vorsieht, ist ein zahnloser Tiger.
Drittens ist die Frage der Kontrolle ungeklärt: Die
Bundesregierung erlässt ein Gesetz, welches die Länder
in ihren Kontrollbehörden umsetzen müssen. Diese sind
finanziell und personell schlecht ausgestattet, und ihnen
werden hier keine zusätzlichen Mittel in Aussicht gestellt. Nach dem Willen der Bundesregierung werden die
Prüfungen also weiterhin von unterbesetzten Marktüberwachungsbehörden und nur per Stichprobe erfolgen. Das ist zu wenig!
Die Linke fordert:
Die CE-Kennzeichnung muss Vertrauen geben, deshalb darf sie nur mit Prüfung vergeben werden. Die verpflichtende Kontrolle bedarf der Kostenübernahme
durch die Unternehmen.
Auch hier steht die Linke konsequent für den Grundsatz: Menschen vor Profite! Dieses Gesetz entspricht
diesem strengen Kriterium jedenfalls nur in Ansätzen.
Wir begrüßen, dass das Geräte- und Produktsicherheitsgesetz ({0}) klarer strukturiert sowie verständlicher gefasst und die Marktüberwachung im europäischen Verbund besser abgestimmt wird. Durch die
Anpassung deutscher Gesetze an europäische Richtlinien wird auch ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Beschäftigten und der Verbraucher geleistet. Der Sachverhalt, der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geregelt
werden soll, betrifft dabei in besonderem Maße den Arbeitsschutz. Bei den Produkten im Sinne des bisherigen
GPSG handelt es sich neben Verbraucherprodukten um
technische Arbeitsmittel. Es liegt im Interesse der Arbeitnehmenden wie auch der Betriebe, dass eine Gefährdung von Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten
durch Arbeitsmittel verhindert wird. Dazu bedarf es geeigneter Prüf- und Kontrollmethoden.
Die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen
Marktüberwachung und Zoll, damit gefährliche Produkte früher aufgespürt werden können, ist ein Schritt in
die richtige Richtung. Dadurch könnte ein höheres
Sicherheitsniveau der Produkte erreicht und zu einem
faireren Wettbewerb zwischen den Herstellern beigetragen werden.
Bessere gesetzliche Bestimmungen sind allerdings
nur dann wirksam, wenn sie mit Nachdruck durchgesetzt
und Verstöße angemessen und zeitnah sanktioniert werden. Deswegen muss sich erst noch zeigen, ob die jetzige
Gesetzesnovelle zu besseren und sichereren Produkten
führt. Letztlich wird sich dies in den Bundesländern entscheiden, die für die Marktaufsichtsbehörden und deren
Mittelausstattung zuständig sind. Genau hier liegt das
Problem, da die zuständigen Behörden in den meisten
Bundesländern schon heute über zu wenig Mittel verfügen. Sie sind in der Regel weder personell noch
materiell in der Lage, die zunehmenden Aufgaben zu
bewältigen. Zersplitterung und Unterdeckung der
Marktaufsicht wirken auch beim zeitnahen Entfernen
unsicherer Produkte aus den Verkaufsregalen oder bei
Warnhinweisen in der Information der Öffentlichkeit
hemmend.
Für neue Aufgaben, wie die Ermittlung von Mängelschwerpunkten oder von Warenströmen, wäre zusätzliches Personal erforderlich. Es bleibt zu hoffen, dass die
Länder dem von der Bundesregierung erkannten „erhöhten Vollzugsaufwand“ für die Marktüberwachung
Taten folgen lassen und zudem die Bereitschaft zum weiteren Ausbau zeigen. Sie müssen regelmäßig die Funktionsweise ihrer Überwachungstätigkeiten überprüfen,
bewerten und Mängel beseitigen. Wir hätten uns zudem
auch gewünscht, dass die Evaluation nicht nur intern im
Arbeitsausschuss Marktüberwachung, AAMÜ, erfolgt,
sondern auch der Ausschuss für technische Arbeitsmittel
und Verbraucherprodukte, ATAV, also der neue Ausschuss für Produktsicherheit, beteiligt wird.
Für die Transparenz ist positiv, dass der Öffentlichkeit Informationen über die von Produkten ausgehenden
Risiken für Sicherheit und Gesundheit der Verwender
zur Verfügung gestellt werden sollen. Für diese Rechtsgrundlage haben wir Grüne schon im Jahr 2004 gesorgt.
Das ist positiv für die Beschäftigten und für die Verbraucher. Problematisch sind allerdings die im Gesetz in § 31
stehenden Ausnahmen. So dürfen Informationen nicht
zugänglich gemacht werden, wenn der Schutz des geistigen Eigentums dem Informationsanspruch entgegensteht oder die Informationen als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis gekennzeichnet sind. Dies könnte dazu
führen, dass der Informationsanspruch der Öffentlichkeit ausgehöhlt oder zumindest deutlich erschwert wird.
Aus Verbrauchersicht wäre zudem ein verlässliches
Siegel sinnvoll, das eine unabhängige Drittprüfung vorschreibt. Für die Produktsicherheit wäre zudem eine Zuständigkeit aus einer Hand von Vorteil. Die Aufteilung
auf drei Bundesministerien ist weder angemessen noch
Zu Protokoll gegebene Reden
effizient. Das sollte in der parlamentarischen Beratung
überprüft werden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/6276 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle
sind damit einverstanden. Somit ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Besonderheiten der nationalen Finanzmärkte
bei Umsetzung von Basel III berücksichtigen
- Drucksache 17/6294 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Alle sind damit einverstanden. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier im Präsidium vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6294 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch erhebt
sich nicht. Somit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010 im Hinblick auf die Errichtung
des Europäischen Finanzaufsichtssystems
- Drucksache 17/6255 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor.
Mit der heutigen Lesung des Gesetzes zur Umsetzung
der EU-Richtlinie 2010/78/EU vom 24. November 2010
im Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Fi-
nanzaufsichtssystems, der sogenannten Omnibus-I-
Richtlinie, setzen wir weitere Eckpunkte für bessere und
sicherere Finanzmärkte. Nach Umsetzung dieser Richt-
linie wird die Finanzaufsicht auf nationaler und euro-
päischer Ebene wesentlich enger miteinander verzahnt
sein. Wir sind davon überzeugt, dass wir damit eine si-
gnifikante Verbesserung der Qualität der Aufsicht errei-
chen werden.
1) Anlage 22
Im Zuge der Finanzkrise ist deutlich geworden, dass
auch die Aufsicht über die Finanzinstitute, insbesondere
die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Koordination zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden und
mit den europäischen Instanzen, erhebliches Verbesserungspotenzial hat. Als Folge dessen wurde das europäische Finanzaufsichtssystem grundlegend reformiert. Es
wurden drei europäische Aufsichtsbehörden - die Europäische Bankaufsichtsbehörde, EBA, die Europäische
Wertpapieraufsichtsbehörde, ESMA, und die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und
die betriebliche Altersversorgung, EIOPA, - sowie der
Europäische Ausschuss für Systemrisiken und der behördenübergreifende Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden mittels fünf EU-Verordnungen zu Beginn
dieses Jahres gegründet. Insgesamt bilden diese neu gegründeten Behörden und Ausschüsse das reformierte
europäische Finanzaufsichtssystem.
Mit der Omnibus-I-Richtlinie wurden die EU-Finanzrichtlinien an dieses neue Aufsichtssystem angepasst.
Der vorliegende Gesetzentwurf setzt diese Anpassungen
nunmehr in nationales Recht um.
Was bedeutet das? Zum einen bedeutet es, dass unsere nationale Aufsichtsbehörde, die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, kurz: BaFin, stärker in
das europäische Aufsichtssystem eingebunden wird. Das
heißt, dass die BaFin mit den europäischen Instanzen intensiver und verpflichtender zusammenarbeiten wird. Es
wird die Grundlage dafür geschaffen, dass die BaFin
alle Informationen zur Verfügung stellen wird, die die jeweilige europäische Behörde zur Ausübung ihrer Tätigkeit benötigt. Aus diesem Grund bestehen für die BaFin
zukünftig verschiedene Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten gegenüber den europäischen Aufsichtsinstanzen, die es einzuhalten gilt. Dazu zählt zum Beispiel
die Information der jeweiligen zuständigen europäischen Finanzaufsichtsbehörde, welchem Unternehmen
die Betriebserlaubnis erteilt oder entzogen wurde.
Darüber hinaus ist es in einem europäischen System
natürlich nicht auszuschließen, dass es Meinungsverschiedenheiten zwischen den nationalen Aufsichtsbehörden gibt - insbesondere in den Fällen, in denen Finanzinstitute europaweit arbeiten und verschiedenen
nationalen Aufsichten unterliegen. Für diese Fälle wurden Verfahren zur Einbeziehung der europäischen Finanzaufsichtsbehörden definiert - Verfahren, in denen
die europäischen Behörden, soweit sich die nationalen
Aufseher nicht einigen können, streitschlichtend eigene
Entscheidungen treffen und die nationale Aufsicht überstimmen können. Diese Schlichtungsbefugnis können die
europäischen Aufsichtsbehörden allerdings nur in Bereichen wahrnehmen, die in den Finanzsektorrichtlinien im
Einzelnen definiert sind, im Bankenbereich zum Beispiel
die Risikobewertung auf Gruppenebene.
Nun könnte man - nicht ganz zu unrecht - meinen:
Das vorliegende Gesetz ist lediglich ein europäisches
Umsetzungsgesetz ohne großen Spielraum für die nationalen Parlamente. Ich möchte Ihnen dieses Gesetz aber
trotzdem ans Herz legen:
Es ist unbestritten, dass es mehr als notwendig war,
neue europäische Finanzaufsichtsstrukturen zu schaffen.
Dagegen kann man angesichts der immer weiter fortschreitenden Internationalisierung der Finanzmarktaktivitäten keine ernsthaften Gegenargumente vorbringen.
Wir wissen mittlerweile sehr gut, dass viele Finanzinstitute einen unglaublichen Vernetztheitsgrad aufweisen.
Wir wissen, dass sie verstärkt länderübergreifend tätig
sind und im Ausland mit Niederlassungen, Tochterbanken und Zweckgesellschaften zum Teil sehr komplexe
Rechtsstrukturen aufgebaut haben. Das erhöht die Vielschichtigkeit der Anforderungen an die Aufsicht ungemein. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen.
Gerade aus diesem Grund ist es enorm wichtig, dass die
Kommunikation und der Austausch zwischen den Aufsichtsinstanzen gestärkt werden. Daher sind Bestrebungen, die einen schnelleren und effizienteren Informationsaustausch ermöglichen, Kompetenzen klarer regeln
und bestehende Lücken schließen, schon lange überfällig.
Nun mag der eine oder andere möglicherweise Kritik
an der damit einhergehenden fortschreitenden Europäisierung üben und zu bedenken geben, dass unsere nationalen Behörden durch die neuen europäischen Aufsichtsinstanzen vielleicht zu viel Verantwortung abgeben dass wir insgesamt wieder einmal einen Teil unserer nationalen Souveränität an Europa abgeben. Ja, das ist
richtig - und aus den oben genannten Gründen auch
notwendig. Es geht aber eben nicht darum, die nationalen Aufsichten komplett zu ersetzen oder zu schwächen.
Das ist nicht gewollt, und darüber sprechen wir hier
auch nicht. Die nationalen Aufsichtsbehörden bleiben
zentral, und keine europäische Instanz kann und soll die
Arbeit der BaFin und der Bundesbank ersetzen. Aber es
ist unerlässlich, dass die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Finanzinstituten, die zunehmend an Komplexität gewinnen, von europäischen Aufsichtsinstanzen koordiniert und der Informationsaustausch zwischen den
nationalen Behörden verbessert werden.
Darüber hinaus ist es natürlich wichtig, die nationalen Aufsichtsbehörden weiter zu stärken und zu verbessern. Die Bundesregierung ist auf dem Weg, das Eckpunktepapier zur Reform der nationalen Aufsicht,
welches von uns, den Koalitionsfraktionen, verabschiedet wurde, umzusetzen. Wir werden damit die Qualität
der nationalen Aufsichtsstrukturen signifikant erhöhen.
Ich würde mir allerdings wünschen, dass Aufsicht
- auch europäische Aufsicht - grundsätzlich mehr unterscheidet. Damit meine ich, dass sie mehr differenziert
zwischen mittelständischen regionalen Banken und den
großen grenzüberschreitend tätigen Banken. Ich beobachte mit großer Sorge, wie kleine und mittelgroße
Privatbanken, wie Sparkassen und Volksbanken mit der
Regulierungsdichte insgesamt und mit der Art und
Weise, mit der diese Regulierung überwacht wird, zu
kämpfen haben. Wir sollten daher dringend hinterfragen, inwieweit speziell bei kleineren Instituten Regulierung und Aufsicht vor dem Hintergrund des jeweiligen
Risikoprofils angemessen sind.
Dies ist die erste Lesung zu dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Wir werden nun in den Fachausschüssen unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Verbände und Experten am Gesetzentwurf arbeiten. Wir
freuen uns auf die fachliche Diskussion und den konstruktiven Austausch mit den Ministerien und den Oppositionsfraktionen und werden das Gesetz dann im vierten
Quartal zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.
Das Bundesfinanzministerium hat das Gesetz zur
Umsetzung der Richtlinie vom 24. November 2010 im
Hinblick auf die Errichtung des Europäischen Finanzaufsichtssystems vorgelegt.
Damit sollen die nationalen Finanzaufsichtsgesetze
an die neue europäische Finanzaufsichtsstruktur angepasst werden, wie sie seit Januar dieses Jahres besteht.
Das Gesetz ermöglicht und konkretisiert dabei insbesondere die Zusammenarbeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, mit dem neugestalteten
europäischen Aufsichtssystem.
Dies ist notwendig, und so werden eine Reihe von nationalen Gesetzen zum Banken- und Finanzaufsichtsrecht geändert, so unter anderem das Kreditwesengesetz, KWG, das Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG, das
Wertpapierhandelsgesetz, WpHG, das Wertpapierprospektgesetz, WpPG, und die Gewerbeordnung, GewO.
Die Änderungen dieser Gesetze resultieren letztlich aus
der Umsetzung der entsprechenden Omnibusrichtlinie.
Im Hinblick auf die EU-Verordnungen zur Errichtung
der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde, der
European Securities and Markets Authority, ESMA, sollen
in den deutschen Aufsichtsgesetzen Änderungen vorgenommen werden, die der Klarstellung dienen oder deren
Regelungen den EU-Verordnungen bisher entgegenstehen.
Dazu wird in den deutschen Aufsichtsgesetzen Folgendes neu geregelt: die Einbindung der BaFin in das
Europäische Finanzaufsichtssystem, die Mitteilungsund Unterrichtungspflichten der BaFin gegenüber den
europäischen Finanzaufsichtsbehörden, Anpassungen
der Verschwiegenheitspflichten der Beschäftigten der
BaFin und vergleichbaren Personengruppen sowie die
Einbeziehung der europäischen Finanzaufsichtsbehörden bei Meinungsverschiedenheiten oder mangelnder
Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden.
Die Finanzkrise, die bis heute nachwirkt, hat erhebliche Schwachstellen bei der Aufsicht auf Makroebene offengelegt. Im Rahmen des neuen Aufsichtssystems müssen wir die Risiken für die Systemstabilität besser
ermitteln und mit einem effizienten Warnsystem verhindern, dass eine vergleichbare Krise sich wiederholt. Die
bestehende Aufsicht auf Makroebene war und ist zu
stark fragmentiert und muss daher dringend reformiert
werden.
Die Omnibusrichtlinie I hilft mit, die Aufsichtsstruktur europaweit zu verbessern. Die nationalen Aufsichtsbehörden werden mit den europäischen Finanzaufsichtsbehörden besser zusammenarbeiten und diesen nach
Zu Protokoll gegebene Reden
Maßgabe der EU-Verordnungen zur Errichtung der
Europäischen Finanzaufsichtsbehörden alle für die Ausführung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen
zur Verfügung stellen müssen.
Hierzu werden die genannten nationalen Gesetze geändert, damit die Verpflichtung der BaFin zur Zusammenarbeit mit den europäischen Finanzaufsichtsbehörden und zur Weitergabe von Informationen gesetzlich
festgelegt ist.
Die Konkretisierung der Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten der nationalen Aufsichtsbehörden gegenüber den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ist eines der Kernelemente der Umsetzung zur Verbesserung
einer Finanzaufsichtsstruktur in Europa. Mitteilungsund Unterrichtungspflichten, die bisher gegenüber der
Europäischen Kommission bestanden, werden nunmehr
auf die europäischen Finanzaufsichtsbehörden ausgeweitet bzw. werden durch Mitteilungspflichten gegenüber den europäischen Finanzaufsichtsbehörden ersetzt.
Beispielsweise muss die BaFin melden, wenn einem Institut oder Unternehmen die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb erteilt wurde oder diese aufgehoben wurde.
Korrespondierend zu diesen Verpflichtungen der nationalen Aufsichtsbehörden wurden in Art. 35 der EUVerordnungen zur Errichtung der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden und in Art. 15 der EU-Verordnung zur
Errichtung des ESRB den europäischen Finanzaufsichtsbehörden und dem ESRB Informationsansprüche
auch gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden eingeräumt.
Damit die BaFin diese Informationsansprüche nach
Maßgabe der EU-Verordnungen erfüllen kann, müssen
ihre Beschäftigten und vergleichbare Personengruppen
in den deutschen Aufsichtsgesetzen von ihrer Verschwiegenheitspflicht befreit werden.
Aus diesem Grund sollen der ESRB und die europäischen Finanzaufsichtsbehörden in den deutschen Aufsichtsgesetzen in den Katalog der Stellen aufgenommen
werden, an die auch geheimhaltungsbedürftige Informationen weitergegeben werden dürfen, soweit diese Informationen zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt werden.
Daran knüpft auch die Kritik des Bundesrates im Beschluss vom 17. Juni 2011 an. Der Bundesrat bittet, im
weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, inwieweit
in § 11 a Abs. 7 Satz 2 GewO-E klargestellt werden
kann, welche Aufgaben der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche
Altersversorgung die Übermittlung von Informationen,
vor allem von personenbezogenen Daten, durch die nationalen Behörden bedingen.
§ 11 a Abs. 7 GewO regelt in seiner bisherigen Fassung, dass bestimmte zuständige, nationale Behörden
einander Informationen einschließlich personenbezogener Daten übermitteln dürfen, soweit dies zur Erfüllung
ihrer jeweiligen Aufgaben bezogen auf Versicherungsvermittler und Versicherungsberater erforderlich ist. Im
neuen Satz 2 des Abs. 11 a wird nun eine Pflicht zur Informationsübermittlung auf Verlangen an eine europäische Stelle festgeschrieben.
Nicht alle diese Aufgaben erfordern jedoch eine Abfrage zum Beispiel personenbezogener Daten bei nationalen Stellen. Daher erscheint es dem Bundesrat sinnvoll, zur Erleichterung der Rechtsanwendung und des
zügigen Vollzugs durch die betroffenen Stellen, direkt in
§ 11 a GewO konkrete Aufgaben, etwa durch eine nicht
abschließende „Insbesondere“-Aufzählung, zu benennen. Dieser Vorschlag erscheint durchaus sinnvoll und
sollte im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens geprüft
werden.
Die Zusammenarbeit von nationalen und europäischen Aufsichtsbehörden muss reibungslos funktionieren. Wir begrüßen deshalb, dass zur Gewährleistung
einer effizienten und wirksamen Aufsicht und einer ausgewogenen Berücksichtigung der Positionen der nationalen Aufsichtsbehörden die europäischen Finanzaufsichtsbehörden Differenzen zwischen den nationalen
Aufsichtsbehörden, auch in den Aufsichtskollegien, verbindlich - in definierten Bereichen - schlichten können,
wenn die nationalen Aufseher keine Einigung finden.
Der europäische Gesetzgeber hat dabei Bereiche im
Blick, in denen die Richtlinien Kooperation, Koordination oder gemeinsame Entscheidungen der nationalen
Aufsichtsbehörden vorsehen. Eine erste Festlegung der
Bereiche ist in der Omnibusrichtlinie I erfolgt. Danach
sind Maßnahmen, die Gegenstand von Entscheidungen
zur Streitbeilegung sein können, im Bankenbereich zum
Beispiel die Einstufung von Zweigniederlassungen, die
Anerkennung interner Modelle und die Risikobewertung
auf Gruppenebene.
Des Weiteren würden die in der Omnibusrichtlinie I
vorgeschriebenen Verfahren in die deutschen Aufsichtsgesetze umgesetzt, nach denen die BaFin handeln muss,
wenn sie als konsolidierende Aufsichtsbehörde an einem
solchen Streit beteiligt ist.
Im Übrigen werden eine Reihe redaktioneller Anpassungen in den deutschen Aufsichtsgesetzen vorgenommen.
Die Finanzkrise vom Oktober 2008 hat eine Reihe
von Schwachstellen bei der Einzel- und Systemaufsicht
offengelegt. Diese wurde insbesondere mithilfe des
Larosière-Berichts analysiert, und Handlungsoptionen
und Verbesserungen wurden empfohlen. Insgesamt wird
die Aufsicht auf europäischer Ebene gestärkt. Wir sind
damit auf einem guten Weg, die notwendigen aufsichtsrechtlichen Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise zu
ziehen.
Seit dem Ausbruch der Finanzkrise wurde viel für die
Regulierung der Finanzbranche auf europäischer Ebene
getan. Zahlreiche neue Institutionen wurden ins Leben
gerufen, um die Aufsicht besser zu verzahnen und effektiver zu gestalten. Es wurden klare Konsequenzen aus
der Krise gezogen. Nun gilt es, dass wir diese Fortschritte auch auf nationaler Ebene im Gesetz verankern.
Bereits zum 1. Januar 2011 wurde das Europäische
Finanzaufsichtssystem ESFS, European System of Financial Supervision, etabliert. Dieses sorgt mit den drei
Zu Protokoll gegebene Reden
zuständigen Aufsichtsbehörden im Banken-, Versicherungs- und Wertpapiersektor in Form von EBA, European Banking Authority, EIOPA, European Insurance
and Occupational Pensions Authority, und ESMA, European Securities and Markets Authority, gemeinsam mit
dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken ESRB,
European Systematic Risk Board, sowie einem behördenübergreifenden Gemeinsamen Ausschuss der Europäischen Aufsichtsbehörden, Joint Committee, für eine
flächendeckende Aufsicht mit Kooperationen und Kommunikation über nationale Grenzen hinweg. Es reicht
aber nicht, nur neue Zuständigkeiten und Institutionen
zu schaffen. Viel wichtiger ist, dass sich nun auch die nationalen Aufsichtsbehörden unter klaren Regeln untereinander austauschen und so flächendeckende oder aus
einem Land ausgelagerte Probleme schon früher und
zielgenauer identifizieren können. Eine gute und koordinierte Zusammenarbeit bietet zudem die Chance, mehrfach ausgeführte Vorgänge zu eliminieren und so effizienter zu arbeiten.
Der Datenschutz darf bei diesem Austausch allerdings keinesfalls vernachlässigt werden. Ich halte es für
immens wichtig, dass wir und unsere Kollegen in den
Parlamenten der EU ein stetes Auge auf das Hantieren
mit diesen Daten haben und in den entsprechenden Behörden strikte Regeln für einen verantwortungsvollen
Umgang damit durchgesetzt werden. Das Zusammenführen und Koordinieren so vieler verschiedener Institutionen und Datensätze birgt immer das Risiko eines
Missbrauchs, der erheblichen Schaden anrichten und zu
großen Vertrauensverlusten führen kann. Gerade deshalb müssen hohe datenschutzrechtliche Standards und
eine ständige Überprüfung von deren Einhaltung etabliert werden.
Ich begrüße es auch sehr, dass in der Haushaltspolitik
die nationale Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten ausdrücklich unangetastet bleibt. Für ein respektvolles Miteinander in einer so eng verknüpften Gemeinschaft wie der Europäischen Union sind klare
Zuständigkeitsschranken ein hohes Gut, welches gewahrt werden muss. Alles andere käme einer Bevormundung von Mitgliedstaaten gleich, und eine Union wie die
EU kann nur auf Augenhöhe funktionieren, wie sie dies
in ihrer Geschichte schon oft erfolgreich gezeigt hat.
Die EU hat hier ein eng strukturiertes Regelwerk vorgelegt. Ich wünsche mir nun, dass sich unsere deutsche
Bundesregierung dafür einsetzt, dass die Vorschriften
nicht in solcher Form überhandnehmen, dass sie Bestandteil der sprichwörtlichen EU-Bürokratie werden.
Das Sprichwort soll hier Sprichwort bleiben und nicht
Realität werden. Das würde Europa lähmen.
Zuletzt erwarte ich, dass grundlegende Entscheidungen auch weiter in den von der Bevölkerung gewählten
Parlamenten gefällt werden und die Aufsichts- und Verwaltungsorgane sich primär auf die technischen Vorgänge konzentrieren, wofür sie schließlich geschaffen
wurden.
Da es sich bei diesem Gesetzentwurf nur um die Umsetzung einer Verordnung handelt, die politische Verantwortung somit in Brüssel liegt, nehme ich direkt zur
europäischen Finanzaufsicht Stellung. In Deutschland
soll die Finanzaufsicht zwischen BaFin und Bundesbank
ohnehin neu geregelt werden. Vor diesem Hintergrund
wird die europäische Ebene mitzudenken sein.
Die Finanzaufsicht hat vor und während der Finanzkrise an entscheidenden Stellen versagt. Die nationalen
Finanzaufsichtsbehörden waren vollkommen überfordert, da die Finanzinstitute in vollem Umfang die Freiheiten des europäischen Binnenmarkts ausnutzten - und zusätzlich in Schattenfinanzplätzen agierten. Entsprechend
ist die Einrichtung dreier europäischer Aufsichtsbehörden für Banken, Wertpapierhandel und Versicherungen
und des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken,
ESRB, zu begrüßen. Bereits jetzt zeichnen sich dabei
aber große Probleme ab:
Zunächst sind die Kompetenzen nach wie vor zwischen den Aufsichtsbehörden in Europa unzureichend
geregelt. Dadurch drohen zum einen Friktionen, welche
die Effizienz der Behörden beschneiden. Zum anderen
fehlen den europäischen Aufsichtsbehörden aber auch
schlicht die Durchgriffsrechte, um im Problemfall
schnell und entschieden einschreiten zu können. Die
Kompetenzen hierfür sind viel zu restriktiv angelegt.
In der Praxis werden die neuen europäischen Behörden den nationalen Behörden erst Vorschriften machen
können, wenn der Notfall unmittelbar bevorsteht oder
schon eingetreten ist. Die Vorschriften können selbst
dann wieder durch die nationalen Parlamente gekippt
werden, sollten sie eine unerwünschte Bürde für die nationalen Haushalte darstellen. Die innereuropäische
Regulierungsarbitrage, von der etwa Irland lange profitierte, lässt sich auf diese Weise jedenfalls nicht unterbinden.
Was auch fehlt, sind zusätzliche Fachabteilungen
oder Einrichtungen für bestimmte Spezialbereiche. Ich
denke dabei etwa an eine eigene Aufsicht für Warentermingeschäfte, die mit eigenen Instrumenten ausgestattet
gegen Preiskapriolen und -blasen an den Rohstoffmärkten vorgehen kann.
Ähnliche Kompetenzprobleme wie bei den drei Aufsichtsbehörden gelten für das ESRB: Das Gremium will
im Problemfall warnen, wird aber nicht in der Lage sein,
zu handeln - etwa wenn sich spekulative Blasen bilden.
Im nationalen Hickhack droht somit ein Eingreifen verzögert oder komplett verschlafen zu werden. Von den
Zentralbanken ist wenig Hilfestellung zu erwarten, solange sich diese allein dem Dogma der Preisstabilität
verpflichtet und bei Spekulationsorgien nicht zuständig
fühlen. Umso mehr besteht ein erkennbares Defizit bei
der Überwachung der Stabilität des Finanzsystems. Hier
fehlt nach wie vor eine verantwortliche europäische
staatliche Institution.
Weiterhin ist zu bezweifeln, dass die Aufsichtsbehörden personell und materiell mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet sind, um im Zweifelsfall kompetent
Zu Protokoll gegebene Reden
und selbstbewusst gegenüber der schlagkräftigen
Finanzlobby und auch gegenüber den nationalen Aufsehern und Regierungen auftreten zu können.
Vier zahnlose Tiger sind vielleicht besser als gar kein
Tiger. Doch niemand sollte sich von den neuen Institutionen vor einer neuen Finanzkrise geschützt wähnen.
Das neue Europäische Finanzaufsichtssystem ist ein
erster wichtiger Schritt hin zu einer echten europäischen
Finanzaufsicht, die angesichts eines bereits sehr hohen
Maßes an integrierten - also europaweit agierenden Finanzmärkten und -instituten auch dringend erforderlich ist.
Insbesondere das Mandat der neuen Bankenaufsichtsbehörde EBA, für eine einheitliche Entwicklung
und Anwendung des EU-Aufsichtsrechts zu sorgen und
dies auch durchzusetzen, wird hoffentlich dazu beitragen, dass künftig kurzsichtige „Race-to-the-Bottom“Strategien in der Finanzmarktregulierung nicht mehr
möglich sind: In Irland haben wir gesehen, wie unglaublich teuer und riskant solche Strategien letztlich sind, um
den eigenen Finanzplatz zu fördern - und zwar teuer
und riskant nicht nur für die Iren, sondern für die Gesamtheit der europäischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Dass die EBA diese neuen Kompetenzen überhaupt hat, sich im Zweifel also auch gegen nationale
Aufsichten durchsetzen und Regulierungsarbitrage
künftig verhindern kann, ist unseren Kolleginnen und
Kollegen im Europaparlament zu verdanken. Die EUParlamentarier haben sich hier in zähen Verhandlungen
auch gegen die lange und hartnäckige Blockade der
schwarz-gelben Bundesregierung durchgesetzt, die
echte Durchgriffsrechte der neuen EU-Aufsichtsbehörden aller Lehren aus der Krise zum Trotz lange verhindern wollte.
Auch, dass die neue Wertpapieraufsichtsbehörde
ESMA weitreichende Befugnisse hat, um den Handel mit
gefährlichen Finanzprodukten auszusetzen, etwa bei ungedeckten Leerverkäufen, ist eine gute Nachricht und
ein echter Fortschritt. Allerdings weist die neue europäische Finanzaufsichtsarchitektur auch viele Schwächen
auf, die es gilt, in nächster Zeit zu beheben. Dazu gehört:
Erstens. Im Fall von ernsten Bankenschieflagen ist
die EBA nicht wirklich handlungsfähig. Zwar darf sie im
Krisenfall - den jedoch nicht sie selbst, sondern der Rat
feststellt - nationale Aufsichten und Institute zu bestimmten Krisenmaßnahmen verpflichten und das Krisenmanagement koordinieren - allerdings nur, wenn
hierbei nicht in die haushaltspolitische Kompetenz der
Mitgliedstaaten eingegriffen wird. Im Zweifel wird damit also doch alles beim Alten bleiben: Statt einer kostenminimierenden Koordination des Krisenmanagements über Ländergrenzen hinweg, wird es im Ernstfall
weiter wie bisher - wie zum Beispiel im Fall Fortis zu
beobachten war - ein unkoordiniertes, an nationalen
Grenzen aufgehängtes und so potenziell krisenverschärfendes und damit teurer als nötiges Eingreifen geben.
Was wir hier dringend brauchen, ist eine europäische
Bankenabgabe und ein europäischer Bankenrettungsfonds, um die EBA zu einem echten und schlagkräftigen
Krisenmanager weiterentwickeln zu können. Das EUVorhaben zur Entwicklung eines Bankenabwicklungsregimes bietet hier Gelegenheit zur institutionellen und
rechtlichen Fortentwicklung. Diese Gelegenheit müssen
wir nutzen.
Zweitens. Die Krise hat gezeigt, dass der Analyse und
Beobachtung sogenannter makroprudentieller Risiken
bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die
Gründung des European Systemic Risk Boards, ESRB,
das solche Risiken künftig im Auge behalten soll, ist vor
diesem Hintergrund eine richtige Entscheidung und
wichtige aufsichtliche Ergänzung. Allerdings wirft Fragen auf, dass sich Europa derzeit in einer sehr ernsten,
ja existenziellen Staatsschuldenkrise befindet, das ESRB
allerdings noch kein einziges Mal zu diesem Systemrisiko erheblicher Relevanz vernehmbar Stellung bezogen
hat. Das zeigt: Ein wesentlicher Teil des neuen Europäischen Aufsichtssystems ist ein halbes Jahr nach dem
Startschuss entweder noch nicht arbeitsfähig, oder die
Governance-Strukturen dieses Gremiums verhindern
eine klare Positionierung in dieser Frage. Beides wäre
äußerst bedenklich und gibt Anlass zur Sorge.
Drittens. Die ressourcenmäßige Ausstattung der
neuen EU-Aufsichtsbehörden ist ausbaufähig, um es
sehr freundlich auszudrücken. Wie soll es der ESMA mit
einem Personalkörper von gerade einmal 60 Personen
schaffen können, all ihren Aufgaben gerecht zu werden?
Allein für eine echte Aufsicht über die Ratingagenturen
- und das ist nur eine kleine Teilaufgabe der ESMA wäre nahezu der gesamte Personalbestand nötig. Die
EBA soll sogar mit nur 45 Mitarbeitern auskommen bei einem Aufgabenkatalog, der nicht kleiner als jener
der ESMA ist. Hinsichtlich der Personalausstattungen
muss also noch deutlich nachgelegt werden, wenn die
neuen Behörden nicht schnell den zweifelhaften Ruf eines zahnlosen Tigers erhalten sollen und die nächste
Krise verhindert werden soll.
Viertens. Die Zersplitterung der drei neuen Aufsichtsbehörden ESMA, EBA und EIOPA über die drei Standorte Paris, London und Frankfurt am Main ist unlogisch, kurzsichtig und nationalen Eitelkeiten geschuldet.
Effizienz- und Reibungsverluste sind hier bereits vorprogrammiert. Mittelfristig wird es darum gehen müssen,
die drei Institutionen an einem Standort zusammenzuführen, um eine optimale Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Insgesamt muss es nach meiner Überzeugung in der
mittleren Perspektive bei dem EU-Aufsichtssystem darum gehen, die komplette laufende Bankenaufsicht über
grenzüberschreitend aktive Institute auf EU-Ebene zu
verlagern. Dafür sollten die nationalen Aufsichtsbehörden für national und regional agierende Banken zuständig sein. Denn es gibt ja zu Recht Klagen, dass die EBA
sich wenig um die Besonderheiten regionaler Institute in
Deutschland kümmert. Lassen Sie uns gemeinsam in diesem Sinne das europäische Aufsichtssystem weiterentwickeln.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/6255 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle
sind mit dieser Form einverstanden. Somit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine gerechte und entwicklungsförderliche
internationale Rohstoffpolitik
- Drucksache 17/6153 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag bereits im Titel eine gerechte und entwicklungsförderliche
Rohstoffpolitik. Schaut man sich diesen Antrag jedoch
näher an, liest er sich vor allem als ein Manifest gegen
die Rohstoffstrategie der Bundesregierung und den vermeintlichen Einfluss der Industrie auf diese Strategie. So
fordert die Linke zum Beispiel, die Bundesregierung
solle die Rohstoffstrategie zurückziehen und sich gegen
die Einflussnahme von Lobbyverbänden der Industrie
auf die europäische Handels- und Rohstoffpolitik verwahren.
Diese Beispiele mögen genügen, die eigentliche Intention des Antrags zu zeigen: Es geht nicht um Gerechtigkeit für die Entwicklungsländer, es geht darum, die
bösen Konzerne und die noch böseren Lobbyisten anzuprangern, die vermeintlich die gesamte Politik Deutschlands und der EU nach Gutdünken diktieren. Insofern
passt dieser Antrag hervorragend in das politische Gesamtportfolio der Linken, das von der Zerschlagung von
Großkonzernen bis zur Reichensteuer und zum Aufblasen der sozialen Wohltaten reicht.
Die deutsche Industrie hat ein berechtigtes Interesse
an der sicheren und kostengünstigen Versorgung mit
Rohstoffen. Es ist legitim, wenn der BDI diese Interessen
nachdrücklich vertritt. Es ist auch legitim, wenn die
Bundesregierung einen Teil dieser Interessen für ihre
Rohstoffstrategie aufgreift: Wir beziehen schließlich einen Großteil unseres Wohlstandes aus unserer wettbewerbsfähigen Industrie und können deshalb nicht wollen, wenn durch Marktregulierungen oder politisch
motivierte Maßnahmen Deutschland als rohstoffarmes
Land Wettbewerbsnachteile erleidet. Rohstoffpolitik
heißt eben auf nationaler Ebene vor allem Sicherung der
Rohstoffbelieferung unserer heimischen Wirtschaft. Das
ist auch Ausgangspunkt der Rohstoffstrategie der Bundesregierung, und das sollte es auch sein. Vor diesem
Hintergrund ist es absurd, wenn Sie eine andere Rohstoffstrategie fordern, die - ich zitiere - „nicht den Zugriff der deutschen und europäischen Industrie auf noch
mehr Rohstoffe … zum Ziel hat.“
Ich würde mich freuen, zu erfahren, wie Sie diesen
Gutmenschenansatz den Arbeitern in der Metall-, Chemie- oder Elektroindustrie erklären wollen. Denn Sie
gefährden mit Ihren Ideen die Grundlagen unserer Industrieproduktion und damit Arbeitsplätze. Das ist unverantwortlich.
Ich halte die Versorgungssicherheit unseres Landes
mit Rohstoffen für durchaus vereinbar mit unseren entwicklungspolitischen Zielen. Rohstoffsicherheit und Entwicklungspolitik gehen Hand in Hand. Es geht uns eben
nicht um die Ausbeutung von Entwicklungsländern, sondern darum, den Reichtum dieser Länder auch für diese
Länder zu nutzen. Der Rohstoffreichtum von Entwicklungsländern kann - richtig genutzt - zum Aufbau eigener Wertschöpfungsketten und zu wachsendem Wohlstand in der Bevölkerung führen. Leider passiert das bei
weitem nicht überall.
Über 50 Prozent der wichtigen Rohstoffvorkommen
liegen in Ländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von
unter 10 US-Dollar pro Tag. Dieses zunächst erstaunliche Paradoxon der Armut trotz reicher Rohstoffvorkommen lässt sich durch makroökonomische und politisch-institutionelle Defizite erklären. Im politischen
Sektor ist das Stichwort „Bad Governance“, das Versagen der politischen Institutionen, Fehlen von sozialen
und ökologischen Mindeststandards, kennzeichnend.
Ökonomisch beschreibt der Begriff „Dutch Disease“,
warum es für eine Wirtschaft mit hohen Handelsbilanzüberschüssen aus Rohstoffexporten schwierig ist, andere Wirtschaftszweige zu entwickeln.
Ein weiteres Problem besteht in der Unsicherheit dieser Länder. Mehr als die Hälfte der weltweiten Rohstoffproduktion erfolgt in Ländern, die nach Auffassung der
Weltbank politisch instabil oder sehr instabil sind. Im
Antrag der Linken wird ja auch auf die sozialen Verwerfungen und Konflikte in rohstoffreichen Staaten hingewiesen. Auf die wesentlichen Ursachen dafür, wie zum
Beispiel schlechte Regierungsführung, Korruption, unzureichende staatliche Strukturen, geht der Antrag jedoch nicht weiter ein.
Diese Ausführungen zeigen deutlich, dass man eine
gerechte und entwicklungsfördernde Rohstoffpolitik, wie
es in Ihrem Antrag heißt, nicht dadurch erreicht, dass
man Interessen der Rohstoffversorgung zurückstellt, den
Einfluss der Wirtschaft ausbremst und auf Manipulationen der Rohstoffmärkte durch die Förderländer setzt.
Der Ansatz muss zuerst entwicklungspolitisch sein
und sich vor allem in der Unterstützung der Förderländer zeigen. Es geht darum, Good Governance zu stärken, Korruption zu bekämpfen, illegalen Abbau von
Rohstoffen zu verhindern. Das kann durch internationale Initiativen wie die Extractive Industries TransJürgen Klimke
parency Initiative, EITI, durch konkrete Entwicklungsprojekte vor Ort aber selbstverständlich auch durch
Initiativen der Unternehmen geschehen.
Lassen Sie mich zunächst auf den ersten Aspekt eingehen. EITI ist eine beispielhafte Transparenzinitiative,
die Zahlungsströme von rohstofffördernden Unternehmen als Abgaben an den Staat sowie deren Verwendung
transparent macht und veröffentlicht. Das wirkt Korruption entgegen und stärkt Good Governance. Bei aller
Kritik, dass dieses Instrument bei weitem nicht ausreicht, ist EITI doch ein richtiger und vielversprechender Ansatz, ähnlich wie der sogenannte mineralische
Fingerabdruck dem illegalen Abbau Vorschub leisten
kann. An diese internationalen Ansätze gilt es anzuknüpfen.
Da die akuten Probleme aber gerade in den Förderländern und auch in deren Verantwortung liegen, setzen
wir auch hier ganz konkret mit unserer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit an. Unser Ziel ist es, soweit
als möglich einen stabilen und leistungsfähigen Rohstoffsektor aufzubauen, der nachhaltige lokale Wertschöpfung ermöglicht. Das ist leider bisher häufig noch
nicht gelungen. Dieser Punkt sollte daher im Fokus unserer zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit stehen.
Gleichwohl gibt es bereits hervorragende Projekte.
Zu erwähnen sind besonders die Beiträge gegen illegale
Ressourcenausbeutung in der Region Große Seen in
Afrika. Hier sind wir unter anderem im Bereich der Zertifizierung von Handelsketten mineralischer Rohstoffe in
Ruanda sowie bei der Entwicklung und Anwendung eines staatlichen Finanzierungssystems für mineralische
Rohstoffe in der Demokratischen Republik Kongo aktiv.
In Kongo unterstützen wir zudem die transparente, effiziente und entwicklungsorientierte Verwendung von
Rohstoffeinnahmen. Gerade diese beiden Projekte sind
vorbildlich, weil sie an mehreren neuralgischen Punkten
ansetzen und insbesondere den Aspekt der Good Governance einbeziehen.
Grundsätzlich ist natürlich im Bereich der Nutzung
von Rohstoffen für die eigene Bevölkerung ganz besonders Bildung wichtig, gerade auch über die Grundbildung hinaus. Sie ist Voraussetzung und Basis für den
Aufbau von lokalen Wertschöpfungsketten sowohl im
Dienstleistungsbereich um den Bergbau als auch bei der
Weiterverarbeitung von Rohstoffen. Hier kann und wird
Deutschland gute Beiträge leisten, zum Beispiel auch
durch das duale System der Berufsausbildung, das ein
Alleinstellungsmerkmal deutscher Bildungspolitik darstellt.
In diesem Zusammenhang begrüße ich die Ankündigung des BMZ, die Investitionen im Bildungsbereich gerade in Afrika, wo es sowohl viele rohstoffreiche als
auch unzureichend entwickelte Staaten gibt, von
68,5 Millionen Euro im Jahr 2009 bis 2013 auf 137 Millionen Euro zu verdoppeln.
Sie sehen also, dass wir durchaus im Rohstoffbereich
entwicklungspolitisch aktiv sind; nur besteht unsere
Strategie zuallererst darin, Verbesserungen in den Abbauländern herbeizuführen. Das zeigen auch die von Ihnen kritisierten Rohstoffpartnerschaften, die sowohl die
Entwicklung des Landes durch die Modernisierung des
Rohstoffsektors als auch mehr Transparenz bei den Handelsketten und Finanzströmen zum Ziel haben. Zudem
beinhalten sie die Unterstützung von Umwelt- und Sozialstandards. Insofern wäre ein Fallenlassen des Konzepts der Rohstoffpartnerschaften, wie die Linke es fordert, ein klarer Rückschritt.
Wenn wir unsere Rohstoffpolitik in ihrer Gesamtheit
bewerten, dann sollten wir auch den Vergleich mit China
in unsere Aktivitäten einbeziehen: China investiert unendlich viel Geld in die Umsetzung seiner strategischen
Ziele und die Sicherung seiner Rohstoffversorgung. Bei
Chinas Erschließungs- und Infrastrukturprojekten vor
Ort bleibt dann jedoch jeder Nachhaltigkeitsgedanke
außen vor: Es wird weder auf die Bedürfnisse und Sensibilitäten in den Förderländern Rücksicht genommen,
noch wird dort Wertschöpfung oder gar eine Entwicklung des Landes angestrebt. Im Gegenteil: Die Chinesen rücken sogar mit eigenen Arbeitern an, die auch von
A bis Z aus China versorgt werden. Eine solche Politik
hat die Interessen der rohstoffreichen Länder, ganz zu
schweigen von den rohstoffarmen Länder, überhaupt
nicht im Blick.
Natürlich darf man in einem ganzheitlichen Ansatz
der Entwicklungszusammenarbeit auch die Förderunternehmen sowie die verarbeitenden Unternehmen nicht
außen vor lassen. Hier haben wir ja neben den bereits
erwähnten Transparenzinitiativen durchaus auch Erfolge auf internationaler Ebene vorzuweisen. Ich möchte
hier nur an die Leitlinien der Vereinten Nationen für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches
Handeln sowie an die ebenfalls jüngst überarbeiteten
OECD-Leitlinien erinnern.
Es ist aber keineswegs so, dass die Unternehmen kein
Interesse an sozial und ökologisch nachhaltigem Rohstoffabbau haben, wie es die Linke offenbar immer noch
glaubt.
Je wichtiger den Konsumenten nachhaltig erzeugte
Produkte sind, je langfristiger Unternehmen auch mit
ihren Niederlassungen in Entwicklungsländern planen,
desto stärker wird verantwortliches Handeln Teil der
Firmenphilosophie.
Das zeigt sich zum Beispiel in der Stärkung der Corporate Social Responsibility, CSR, vieler Unternehmen.
Handelte es sich früher häufig nur um ein Feigenblatt,
so sind inzwischen viele Unternehmen ernsthaft darum
bemüht, bei ihrer Produktion, aber auch bei Zulieferern
ökologische und soziale Nachhaltigkeit sicherzustellen.
Lassen Sie mich ein positives Beispiel hervorheben,
weil es ganz aktuell ist. Ich habe es dem vergangene
Woche erschienenen Corporate-Responsibility-Bericht
2010 der Evonik Industries AG entnommen. Hier hat
Evonik unter der Überschrift „Verantwortung in der
Lieferkette“ Umwelt- und Sozialstandards in seine konzernweite Beschaffungsrichtlinie aufgenommen und in
den Allgemeinen Einkaufsbedingungen verbindlich festgeschrieben. Evonik legt fest, dass Lieferanten die
Grundsätze des UN Global Compact und die Standards
Zu Protokoll gegebene Reden
der ILO zu achten haben. In einem weiteren Feld verankert Evonik Corporate Responsibility bereits in der Ausbildung - das nenne ich wahrhaft nachhaltig.
Dieses wahllos herausgegriffene positive Beispiel
zeigt, dass auch im Bereich der Unternehmensverantwortung marktwirtschaftliche Mechanismen wirksam
sein können, auch wenn dies die Politik nicht von ihrer
Aufgabe entbindet, internationale Normen für Unternehmen zu erreichen und deren Durchsetzung zu überwachen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf ein anderes
Thema kommen: auf das Verständnis, das die Linkspartei Marktabschottungen und Exportzöllen der Exporteure auf dem Rohstoffsektor entgegenbringt.
Bei allem Verständnis für den Finanzierungsbedarf
der Entwicklungsländer - unser Ideal darf keine Welt
mit Handelshemmnissen sein, wir sehen einen umgekehrten Weg hin zu mehr Freihandel und natürlich auch
zur Öffnung der Europäischen Union für die Produkte
der Entwicklungsländer. Davon würden wir alle ungleich mehr profitieren. Deshalb sehen wir Handelsbeschränkungen und dauerhafte Exportzölle als problematisch an. Es muss vielmehr um die Integration der
Entwicklungsländer in die soziale Marktwirtschaft gehen.
Weiterhin besteht aus meiner Sicht das vorrangige
Problem nicht in einer Unterbezahlung der Rohstoffexporte, es besteht vielmehr in Schwierigkeiten, aus dem
Rohstoffreichtum höheren gesamtgesellschaftlichen
Nutzen zu erzielen und den Aufbau einer Industrieproduktion sowie eines Dienstleistungssektors zu befördern.
Hier benötigen die Staaten unsere Unterstützung, und
hier leistet die deutsche Entwicklungszusammenarbeit
einen wichtigen Beitrag.
Extraktive Rohstoffe sind ein knappes und endliches
Gut. Sind Staaten wie die Bundesrepublik, die wenig bis
gar keine extraktiven Rohstoffvorkommen aufweisen,
auf die externe Versorgung mit solchen Gütern angewiesen, dienen ausgewogene Rohstoffabkommen für die
notwendige und kontinuierliche Lieferung der angeforderten Rohstoffe, um die heimische Industrie am Laufen
zu halten. Das ist für den Standort Deutschland gut. Was
aber nicht gut ist, ist die Art und Weise, wie die Bundesregierung und die Europäischen Union ihre Rohstoffpolitik verstehen. Hier sollen deutsche Rohstoffinteressen
auch zulasten der ärmsten Menschen durchgeboxt werden - selbst von militärischer Absicherung der Rohstoffversorgung war die Rede. Für mich ein unglaublicher
und inakzeptabler Vorgang.
Rohstoffpolitik ist ein sensibles Feld. Die Verfügbarkeit über knappe Ressourcen birgt starke Interessenskonflikte und weckt Begehrlichkeiten auf vielen Stationen einer langen Rohstofflieferkette. Ob Kupfer aus
Chile, Zink aus Peru oder Kobalt aus der Demokratischen Republik Kongo. Bis der Rohstoff von der Gewinnung aus Minen zur endgültigen Veredelung seinen Platz
in einem deutschen Volkswagen oder Opel findet, wandert er entlang einer teils intransparenten Interessenkette, bei der viele Beteiligte auch ein großes Stück vom
Rohstoffkuchen naschen wollen. Doch wer zu viel
nascht, der bekommt nicht nur einen unübersehbaren
Wohlstandsbauch, sondern der futtert anderen das eigentlich zugesprochene Stück Kuchen auch noch weg.
Das Ergebnis ist frappierend. Für die meisten Menschen in den Entwicklungsländern bereitet der eigentlich vorhandene Rohstoffreichtum den Weg in die nicht
enden wollende Armutsspirale. Denn anstatt von dem
kostbaren Gut, das in der Erde schlummert, zu profitieren, sind die vorhandenen Rohstoffe für viele dieser Länder eher Fluch als Segen. Das ist so paradox wie es
traurige Gewissheit ist.
Zwangsvertreibungen und unzureichende Entschädigungen ignorieren beispielsweise bestehende Landrechte indigener Völker und treten das Recht auf Nahrung mit Füßen. Skrupellose international agierende
Unternehmen, Korruption, Vetternwirtschaft und ungenügende Rechtsgrundlagen im Bereich von Menschrechten und Umwelt- und Sozialstandards sind dafür verantwortlich, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffhandel
oftmals auf undurchsichtigen Wegen versickern, die Arbeiter in den Rohstoffminen keine fairen Löhne erhalten,
zu menschenverachtenden Konditionen ihre Arbeit leisten, die Umwelt bei der Förderung bestimmter Rohstoffe
extremen Schaden nimmt und nicht selten schlimme Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen vor Ort haben.
Natürlich werden viele sagen, dann müssen die jeweiligen Staaten eigenständig dafür sorgen, dass Steuereinnahmen generiert werden, die Gelder in den öffentlichen
Haushalt fließen und wichtige Umwelt- und Sozialstandards rechtlich verankert werden. Diese Einschätzung
teile ich nur eingeschränkt. Sicherlich müssen die jeweiligen Regierungen in den Entwicklungsländern dafür
Sorge tragen, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffreichtum ihres Landes auch gerecht verteilt bzw. zum
Wohl der Gesellschaft verwendet werden. In diesen
Staaten Good Governance zu fördern ist daher richtig aber nicht ausreichend. Es ist auch unsere Aufgabe als
Industrienation dafür zu sorgen, dass der Rohstoffhandel zu transparenten und fairen Bedingungen abläuft.
Sowohl die am Handel beteiligten Unternehmen als
auch die Regierungen der importorientierten Länder
müssen hier ihrer Verantwortung gerecht werden. Dabei
darf die Rohstoffsicherung nicht auf Kosten von Armutsbekämpfung durchgesetzt werden. Beides gilt es miteinander in Einklang zu bringen. Notfalls auch um den
Verzicht auf Rohstoffe aus fragilen Ländern.
Es kann jedenfalls nicht sein, dass einerseits der
Mangel an vorhandenen Schutzregelungen für Mensch
und Umwelt und transparenten und fairen Steuerregelungen moniert wird, aber gleichzeitig nicht davor zurückschreckt wird, diesen Mangel zum eignen Vorteil zu
nutzen, indem in der Förderregion ansässige Bergbaugesellschaften - die meist Tochterunternehmen westlicher Unternehmen sind - viel zu niedrige oder teils gar
keine Steuern zahlen. Daher lautet mein Appell an die
deutsche Wirtschaft hier mit unternehmerischer VerantZu Protokoll gegebene Reden
wortung vorbildhaft voranzugehen und selbst einen fairen Rohstoffhandel einzufordern.
Fairer Handel bedeutet für die SPD-Bundestagsfraktion, dass alle an der Handelskette Partizipierenden
auch vom Handel profitieren. Das setzt die Einhaltung
sozialer, wie beispielswiese den ILO-Kernarbeitsnormen, und ökologischer Mindeststandards sowie der
Menschenrechte voraus. Eine durch Transparenz und
klare Regelungen geschaffene Kontrollmöglichkeit ist
unabdingbar. Im Gegensatz zur Bundesregierung sind
wir der Meinung, dass der Rohstoffhandel nicht alleine
der Privatwirtschaft überlassen werden kann. Darum
brauchen wir zukunftsorientierte Strategien, die allen
Beteiligten gerecht werden und international verankert
werden. Ziel ist ein weltweites Rohstoffregime mit transparenten Regeln und fairen Bedingungen für Anbieter
und Abnehmer. Das haben wir in unserem Antrag „Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit Seltenen Erden
offen halten“ ({0}) eindringlich gefordert.
Uns ist dabei besonders wichtig, dass Rohstoffpartnerschaftsabkommen mit Entwicklungsländern der Entwicklung des Landes und der dort lebenden Bevölkerung
dienen. Bei der Förderung von Rohstoffen in Entwicklungsländern muss deshalb darauf geachtet werden,
dass die lokal betroffene Bevölkerung frühzeitig in den
Prozess eines solchen Abkommens eingebunden wird
und Transparenz bei der Verteilung der Gewinne im
Sinne der Extractive Industries Transparency Initiative,
EITI, aus der Rohstoffpartnerschaft hergestellt wird.
Über Transparenz hinaus muss eine gerechte Verteilung
der Gewinne durchgesetzt werden. Eine Zertifizierung
der Handelsketten flankiert diese Forderung. Dabei
muss klar sein, dass Rohstoffpartnerschaftsabkommen
keinen Einfluss auf die Auswahl unserer Länder haben,
mit denen wir Entwicklungszusammenarbeit betreiben.
Wir werden der Bundesregerung bei der zukünftigen
Auswahl der Partnerländer ganz genau auf die Finger
schauen.
Beim Thema fairen Rohstoffhandel, sind uns die Amerikaner einen Schritt voraus. Dort trat im Sommer 2010
die Cardin-Lugar Novelle als Teil der Dodd-Frank Wall
Street Reform in Kraft. Die Novelle verlangt von allen
Rohstoffunternehmen, die an der US-Börse Rohstoffe
handeln wollen, sämtliche Zahlungen an die U.S. und
andere Regierungen in Verbindung mit der Extraktion
von Öl, Gas und Mineralien offenzulegen. Alle bei der
Wertpapieraufsichtsbehörde SEC, U.S. Securities & Exchange Commission, geführten Unternehmen sind von
dem Gesetz betroffen, egal in welchem Land sie ihren
Sitz haben. Die Zahlungsströme müssen im jährlichen
Bericht an die SEC offengelegt werden und zur Information online zur Verfügung gestellt werden. Sukzessive
werden jetzt 16 Hauptartikel und mehr als 500 Einzelartikel umgesetzt.
Mit diesem Gesetz wird mehr Transparenz hergestellt
und Korruption verringert. Nichtregierungsorganisationen wie ONE sehen dieses Gesetz und die damit verbundenen Entwicklungen sehr positiv. Wir unterstützen das
und werden diesen Prozess aktiv begleiten. Die Bundesregierung muss sich auf europäischer Ebene für die Einführung eines solchen adäquaten Gesetzes einsetzen.
In der Rohstoffstrategie der Bundesregierung heißt
es: „Rohstoffsicherung kann keine Einbahnstraße sein.
Es geht darum, die Interessen sowohl der rohstofffördernden als auch der rohstoffimportierenden Länder wie
Deutschland zu berücksichtigen, sinnvoll in Ausgleich
zu bringen und im Sinne gemeinsamer Vorteile fortzuentwickeln.“
Wenn man die Anträge der Linken liest, und ganz besonders auch den uns jetzt vorliegenden, könnte man
meinen, es wäre regelrecht unanständig, wenn Deutschland eigene Interessen hat und diese auch nach außen
vertritt. Dabei ist das völlig legitim und genau das, was
der Wähler vom Abgeordneten erwarten kann und muss.
Er will, dass seine Steuergelder gut angelegt werden.
Für die Entwicklungshilfe bedeutet das: in sinnvollen,
nachhaltigen Projekten, die dem betroffenen Land helfen und gleichzeitig Deutschland nutzen. Es ist dem
Steuerzahler weder zu vermitteln noch zuzumuten, dass
Deutschland Milliarden für Entwicklungshilfe ausgibt,
ohne davon in irgendeiner Weise auch zu profitieren.
Zu den Besonderheiten von Rohstoffen gehört, dass Interessen der Entwicklungsländer und der Industrieländer
zusammenkommen. Der Rohstoffsektor ist mit den wesentlichen entwicklungspolitisch relevanten Themen wie
Armutsbekämpfung, Förderung von guter Regierungsführung, Umwelt- und Ressourcenschutz, Krisenprävention,
ländliche Entwicklung und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung unmittelbar verknüpft. Er kann finanzielle Stütze
der in diesem Bereich formulierten Ziele der Entwicklungsländer sein. Dabei sind Industrie- wie Entwicklungsländer auf die sichere und auf die auf den Grundsätzen des freien und fairen Marktes basierende Lieferung
von Rohstoffen angewiesen.
Das deutsche Entwicklungszusammenarbeit-Engagement im Rohstoffsektor verfolgt in den Partnerländern
ein ganzheitliches Konzept, das im „Entwicklungspolitischen Strategiepapier Extraktive Rohstoffe“ niedergelegt ist. Die wichtigsten Ziele sind, den Rohstoffsektor
für Aufbau und Stärkung der Wirtschaft in den Partnerländern zu nutzen, leistungsfähige Strukturen im Rohstoffsektor aufzubauen, Transparenz zu verwirklichen,
ökologische und soziale Mindeststandards zu verwirklichen, Rohstoffkonflikte einzudämmen und Ressourcennutzung zu verbessern.
Rohstoffeinnahmen bieten rohstoffreichen Ländern
ein erhebliches Potenzial für deren nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Diese Einnahmen müssen in Steuern, in ein eigenes Finanzsystem der Entwicklungsländer
fließen und dürfen nicht außer Landes geschafft werden.
Hierfür ist eine gute Regierungsführung unerlässlich.
Transparenz bei Waren- und Zahlungsströmen ist eine
Voraussetzung, um Korruption und einer ungerechten
Einnahmenverteilung entgegenzuwirken. Die deutsche
Entwicklungspolitik unterstützt dies unter anderem über
die Extractive Industries Transparency Initiative, EITI.
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Hinsichtlich der sich verändernden Situation auf den
Rohstoffmärkten beabsichtigt die Bundesregierung,
auch Maßnahmen der Wirtschaft zur Diversifizierung
von Rohstoffbezugsquellen durch Rohstoffpartnerschaften zu unterstützen. Darin soll auch die Entwicklungszusammenarbeit zum Tragen kommen. In ausgewählten
rohstoffreichen Entwicklungs- und Schwellenländern
sollen Außenpolitik, Entwicklungszusammenarbeit und
die Außenwirtschaftsinstrumente des BMWi die Bemühungen der Wirtschaft zur Rohstoffsicherung flankieren.
Dabei bleibt die EZ der Bundesregierung dem Ziel einer
Welt ohne Armut, gewaltsame Konflikte und ökologische
Zerstörung verpflichtet.
Auch bei den Rohstoffpartnerschaften liegt der Akzent auf der Gegenseitigkeit. Es geht nicht einseitig darum, sich Bezugsquellen zu sichern, sondern es werden
auf der anderen Seite zum Beispiel durch die verarbeitende Industrie Arbeitsplätze geschaffen und damit die
Armut bekämpft. Armut schafft man nicht durch reine
Transferleistungen aus der Welt! Das hat die rote Entwicklungspolitik vergangener Jahrzehnte deutlich gezeigt.
Und vor allem die Linken meinen, sich auch in der
Entwicklungshilfepolitik als Gutmenschen profilieren zu
müssen. Schade nur, dass sie sich überall da, wo sie
selbst in der Regierungsverantwortung stehen, als das
glatte Gegenteil davon erweisen. Ob im kommunistischen China, in Nordkorea oder in Kuba, von der Wahrung der Menschenrechte, die in dem Antrag angemahnt
wird, keine Spur! Vielleicht sollten die Linken erst mal
bei ihren Gesinnungsgenossen dafür sorgen, dass Menschenrechtsstandards eingehalten werden, bevor sie anfangen, der Bundesregierung in dieser Frage wegweisende Hinweise zu geben. Die FDP-Bundestagsfraktion
lehnt diesen Antrag ab.
In der Rohstoffanhörung des Entwicklungsausschusses vor vier Wochen haben wir gehört, wie in den Ländern des Südens die europäischen Rohstoffinteressen gegen die Lebensinteressen der lokalen Bevölkerung
durchgesetzt werden. Der Sachverständige Nouhoum
Keita hat uns eindrucksvoll vom Kampf der Bewohnerinnen und Bewohner von Falea in Mali gegen europäische Rohstoffunternehmen berichtet, die ihre Gemeinde
umpflügen wollen, um Uran zu fördern. Die Arbeitsbedingungen in den Uranminen sind für viele Tausend
Menschen tödlich durch das Einatmen hochgiftigen
Uranstaubs. Solche Beispiele gibt es überall auf der
Welt. Und auch das wurde in der Anhörung deutlich:
Diese Beispiele werden nicht seltener werden. Die Europäische Union und die Bundesregierung haben zur globalen Jagd nach Rohstoffen geblasen, überwiegend
nach solchen, die in Entwicklungs- und Schwellenländern lagern. Sie folgen damit den „Empfehlungen“ der
Großindustrie. Zwischen der Veröffentlichung der Rohstoffstrategie des BDI und der der Bundesregierung lagen gerade einmal vier Monate. Die Bundesregierung
folgt den BDI-Vorgaben fast aufs Wort. Auch bei der
Entwicklung der EU-Rohstoffinitiative nahmen die
Lobbyverbände erheblichen Einfluss. Entsprechend sind
die Strategien ausgerichtet, nämlich auf den uneingeschränkten Zugriff auf die Rohstoffe in Drittländern.
Investitionsbeschränkungen in den Rohstoffländern
sollen beseitigt werden. Exportzölle bei der Ausfuhr von
Rohstoffen sollen fallen, Quoten sollen verboten werden.
Dabei legt die Bundesregierung eine erstaunliche Kaltschnäuzigkeit an den Tag. In Brüssel setzt sie sich bei
der Reform der EU-Handelspräferenzen dafür ein, dass
nur noch solche Entwicklungsländer in das Präferenzsystem aufgenommen werden, die bereit sind, den Rohstoffhandel zu liberalisieren. Das Schlimme ist: Im Moment sieht es so aus, als ob sich die Bundesregierung mit
diesem Standpunkt durchsetzt. Der Vorschlag der Kommission zur Reform geht leider in diese Richtung. Wir
werden uns damit nicht abfinden und viele Regierungen,
Aktivistinnen und Aktivisten im Süden auch nicht.
Sie werden sich zunehmend Gehör verschaffen: weil
sich Bürgerinnen und Bürger betroffener Regionen wehren, wie in Falea, und weil Regierungen, die mit der EU
über Handels- und Investitionsschutzabkommen verhandeln, zunehmend selbstbewusster werden. Genau das
will die Bundesregierung trotz anderslautender Aussagen verhindern; deshalb versucht sie es nun mit Erpressung über ihre Handelspolitik.
Wenn nötig, wird der Zugriff auf Ressourcen mit
Krieg erzwungen. Wir erleben das gerade in Libyen. Die
NATO will dort kriegerisch einen Regime-Change herbeiführen. Wir haben die Bundesregierung dabei unterstützt, dass sie sich bisher nicht am Krieg beteiligt hat.
Noch besser wäre, sich aktiv für ein Ende der Bombardierungen einzusetzen, anstatt nun doch Bombenteile für
den Krieg zu liefern. Doch auch wenn die Bundesregierung in diesem Fall nicht direkt Krieg führt, der Bundesverteidigungsminister hat es im Mai mit der Präsentation der Verteidigungspolitischen Richtlinien ganz
deutlich gemacht: Die Sicherung des Zugriffs, des Handels und Transports von Rohstoffen soll künftig ganz
selbstverständlich zu den Aufgaben der Bundeswehr gehören.
Der Rohstoffansatz der Bundesregierung ist in imperialer Manier eine einzige Drohung an die Länder des
Südens: Gebt eure Rohstoffe freiwillig her oder wir drücken euch wirtschaftlich die Luft ab. Oder: Es gibt
Krieg. - Wir müssen uns aber an den Gedanken gewöhnen: Es sind nicht „unsere“ Rohstoffe, die einfach in den
falschen Ländern lagern. Wir brauchen deshalb einen
ganz anderen Ansatz: Rohstoffhandel nur zu gerechten
Preisen und sozialökologischen Bedingungen, die nicht
zulasten der Bevölkerung gehen. Zuallererst sind aber
die westlichen Industriestaaten aufgefordert, insgesamt
eine Verringerung des Rohstoffumsatzes zu erzielen, anstatt den Zugriff auf immer mehr Rohstoffe militärisch
abzusichern.
Es ist doch paradox: Gegenwärtig leben drei Viertel
der armen Bevölkerung in rohstoffreichen Entwicklungsländern. Dabei verfügen diese Länder mit ihren
Rohstoffvorkommen eigentlich über viel Entwicklungspotenzial.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Frage, die uns umtreibt, ist: Warum gelingt es so
selten, dieses Potenzial auch zu nutzen und den Rohstoffreichtum in politische und sozioökonomische Entwicklungsprozesse für alle zu überführen?
Um dieses Parodox zu überwinden, muss sehr viel
mehr geschehen. Vor allem aber wird eine gerechte und
entwicklungsförderliche internationale Rohstoffpolitik
gebraucht. Ziel: Rohstoffreiche Länder müssen ihr
Potenzial nutzen. Und sie müssen es auch nutzen können.
Wir stellen fest, dass die aktuelle Rohstoffpolitik der
Bundesregierung den Handlungs- und Gestaltungsspielraum der Förderländer einschränkt. Im Vordergrund
stehen Forderungen nach dem Abbau von Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen. Doch wir
wissen aus der Erfahrung, dass eine solche Liberalisierung Entwicklungsländer auch der Möglichkeit beraubt,
Rohstoffexporte und Investitionen im Rohstoffsektor im
Sinne der Entwicklung ihres Landes zu steuern. Dieses
fundamentale Problem wird auch durch die begleitenden
entwicklungspolitischen Maßnahmen, welche in der
Rohstoffstrategie ja ebenfalls genannt werden, nicht abgemildert. Schwarz-Gelb setzt in der Rohstoffpolitik einseitig auf Rohstoffsicherung, Wirtschaftsinteressen werden gegen nachhaltige Entwicklung ausgespielt.
Damit steht der Ansatz der Bundesregierung in fundamentalem Widerspruch zu den Leitlinien unserer Rohstoffpolitik: Wir setzen auf Gerechtigkeit und Entwicklungschancen für die Förderländer. Das heißt für uns
einerseits: Wir müssen unseren Rohstoffverbrauch drastisch reduzieren und auf eine nachhaltige, effiziente und
innovative Grundlage stellen. Andererseits zielt unser
Ansatz auf eine nachhaltige Rohstoffgovernance. Wir
wollen Länder dabei unterstützen, ihr Potenzial zu nutzen. Der Aufbau von Kapazitäten ist hierfür entscheidend: Rohstoffreiche Länder müssen in die Lage versetzt
werden, transparente Verträge im Interesse des Landes
auszuhandeln. Verbindliche und substanzielle Standards
für Abbau, Weiterverarbeitung und Export müssen implementiert und ihre Einhaltung überwacht werden. Der
Aufbau von Wertschöpfungsketten birgt außerdem die
Chance, dass zunehmend Wertschöpfung in den Abbauländern stattfindet.
Zum Antrag der Linken: Viele dieser Punkte finden
sich auch in Ihrem Antrag wieder. So zeigen Sie die
hochproblematischen Auswirkungen des aktuellen Ansatzes von Schwarz-Gelb und der EU auf rohstoffreiche
Entwicklungsländer auf. Hier teilen wir Ihre Analyse in
weiten Teilen. Denn im Hinblick auf die berechtigten Interessen der Entwicklungsländer gilt sowohl für die
Strategie der Bundesregierung als auch der EU: Fehlanzeige! Die Perspektive der Menschen vor Ort bleibt
außen vor.
Auch wir setzen auf die Unabhängigkeit von fossilen
Energieträgern und auf eine dezentrale und verbrauchernahe Gewinnung regenerativer Energien. Auch wir
setzen in der Rohstoffpolitik auf einen inklusiven Prozess, auf die Einbeziehung der Partnerinnen und Partner in den Entwicklungsländern sowie der Zivilgesellschaft vor Ort und hier bei uns in Deutschland. Das
steht außer Frage.
Nach konkreten Lösungsvorschlägen oder Alternativen sucht man in Ihrem Antrag allerdings vergebens. So
plädieren Sie dafür, das Konzept der Rohstoffpartnerschaften fallen zu lassen und die Rohstoffstrategie zurückzuziehen. Da machen Sie es sich aber zu einfach.
Solche Forderungen lassen sich leicht aufstellen, aber
ohne ein Alternativkonzept ist das nicht hilfreich. Denn
richtig gehandhabt, also als gleichberechtigte Partnerschaft auf Augenhöhe, ließen sich Rohstoffpartnerschaften beispielsweise zur Unterstützung für den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens, einer nachhaltigen
Infrastruktur und eines guten Sozial- und Bildungssystems nutzen.
Außerdem ignorieren Sie den aktuellen Stand der
Rohstoffdebatte: Weder der Dodd-Frank-Act aus den
USA für mehr Transparenz und Kontrolle noch Forderungen nach Vertragstransparenz finden sich in Ihrem
Antrag wieder. Auch auf die wichtige Rolle der Rohstoffunternehmen und deren Verantwortung gehen Sie mit
keinem Wort ein.
Weit auseinander liegen wir im Hinblick auf Ihre
Analyse zu den Kriegen im Irak, in Afghanistan und in
Libyen. Diese als reine Rohstoffkriege zu deklarieren, ist
zu kurz gedacht und schlichtweg falsch.
Aus all diesen Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Wir wollen eine substanzielle Diskussion, und wir wollen machbare Ansätze diskutieren. Leider greifen ihre
Vorschläge hier zu kurz.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6153 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit
einverstanden; Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften ({0})
- Drucksache 17/6263 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier bei uns vor. Damit ist es
so vereinbart.
Wir beraten heute in erster Lesung das Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll zuallererst die EU-Richtlinie über die
Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug
auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen in unser nationales Recht transformiert werden.
Die Neuerungen durch die Beitreibungsrichtlinie hebt
die bisherigen Begrenzungen im Anwendungsbereich
der Amtshilfeersuchen auf und erweitert diese.
Um das System der Amtshilfe effektiver zu gestalten,
wird der Geltungsbereich der Amtshilfe erweitert. Neben einer Verbesserung des Informationsaustauschs
wird das Zustellungsverfahren vereinfacht und ein wirksameres Beitreibungs- und Sicherungsverfahrens geschaffen. Neben der europarechtlich vorgeschriebenen
Umsetzungspflicht der Beitreibungsrichtlinie soll mit
dem vorliegenden Gesetz gleichzeitig auch notwendiger
und unaufschiebbarer steuerlicher Änderungsbedarf in
einigen Bereichen des Steuerrechts umgesetzt werden.
Die steuerrechtlich notwendigen Änderungsmaßnahmen betreffen neben der bedeutsamen Ablösung der einführenden Vorschriften zur Bildung und Anwendung der
elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM,
eine Vielzahl von steuerlichen Regelungsbereichen, sodass man bereits von einem abgespeckten Jahressteuergesetz sprechen kann. Bedeutsam ist, dass wir mit dem
vorliegenden Gesetz eine Steuerfreiheit für Sozialversicherungsrenten für Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einführen wollen. Mit dieser
Regelung schaffen wir eine Kompensation für entstandene Nachteile für die Verfolgten in der Alterssicherung.
Auch bei der Riester-Förderung gibt es Nachbesserungsbedarf. Wir wollen künftig ungewollte Rückerstattungsfälle - wie in der jüngsten Vergangenheit aufgrund
eines Wechsels des Zulagestatus geschehen - vermeiden.
Um zukünftig wenigstens mittelbar zulagenberechtigt zu
sein, muss der mittelbar Zulagenberechtigte einen eigenen jährlichen Mindestbeitrags von 60 Euro zahlen.
Besonders hervorzuheben ist ebenfalls, dass wir ein
automatisiertes Verfahren für den Kirchensteuerabzug
bei abgeltend besteuerten Kapitalerträgen einführen
wollen. Bisher gab es ein Wahlrecht, ob die Kirchensteuerbeträge durch die Kreditinstitute einbehalten oder im
Veranlagungsverfahren festgesetzt werden. Nunmehr
sollen die Kreditinstitute den Kirchensteuereinbehalt
stets selbst vornehmen und somit die Kirchensteuer zeitnah erfassen und sichern. Anschließend werden diese direkt monatlich an das zuständige Finanzamt abgeführt,
welches die Kirchensteuer an die betreffende Religionsgemeinschaften zuweist.
Ein wesentliches Element des vorliegenden Gesetzes
ist die ab dem Jahr 2012 flächendeckende Anwendung
der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale. Wir
stellen damit endgültig die Weichen für eine umfassende
Modernisierung des Lohsteuerabzugsverfahrens. Jeder
Bürger hat es Anfang 2011 gemerkt: Seit diesem Jahr
stellen die Gemeinden keine Lohnsteuerkarten mehr
aus. Die Einführung der elektronischen Lohnsteuermerkmale und der damit verbundene Wegfall von circa
40 Millionen Papierlohnsteuerkarten führt nicht nur zu
einer bürokratischen Entlastung beim Bürger, sondern
auch in der Finanzverwaltung.
Ab diesem Jahr ist alleine die Finanzverwaltung mit
der Bildung der Lohnsteuerabzugsmerkmale und die Bereitstellung für den Abruf durch den Arbeitgeber zuständig. Zukünftig können entweder der Arbeitnehmer oder
im Regelfall der Arbeitgeber die erstmalige Bildung der
Lohnsteuerabzugsmerkmale durch Anfrage beim Finanzamt veranlassen. Dem Arbeitgeber steht dabei ein
elektronisches Verfahren zur Verfügung. Die Neufassung
der Regelungen zu den elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmalen vermeidet unnötige Schnittstellen und
somit Fehlerquellen zwischen den Übertragungsmedien
und trägt bedeutend zur Entbürokratisierung bei.
Während die längst bei Arbeitgebern und Finanzämtern elektronisch gespeicherten lohnsteuerlichen Daten
auf die Papierlohnsteuerkarte eingetragen werden
mussten, können diese nunmehr maschinell verwertbar
zum Lohnsteuerabzug zur Verfügung gestellt werden. Allerdings wurden hinsichtlich der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale bereits bei den Beratungen zum
Jahressteuergesetz 2008 vielfach datenschutzrechtliche
Bedenken geäußert. Wir sollten daher das Authentifizierungsverfahren der Arbeitgeber bei den zukünftigen Beratungen nochmals einer Prüfung unterziehen. Die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass ihre Daten nur
berechtigten Personen zur Verfügung gestellt werden.
Dies werden wir sicherstellen.
Ich freue mich auf gute Beratungen.
Da es in diesem Jahr kein Jahressteuergesetz geben
wird, nutzen wir das Umsetzungsgesetz zur Beitreibungsrichtlinie, um notwendig gewordene Änderungen
des Steuerrechts vorzunehmen und an der einen oder anderen Stelle neu zu justieren.
Erstes Beispiel: ELStAM. Das Steuervereinfachungsgesetz wurde in der vergangenen Sitzungswoche beschlossen. Wir hatten angekündigt, mit der Steuervereinfachung
nahtlos weiterzumachen. Mit dem Umsetzungsgesetz zur
Beitreibungsrichtlinie folgt nun der zweite Schritt.
Ein Beispiel ist das Verfahren der elektronischen
Lohnsteuerabzugsmerkmale, ELStAM. Die letzten Lohnsteuerkarten aus Pappe tragen das Jahr 2010.
Bereits mit dem Jahressteuergesetz 2008 wurde
beschlossen, die elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale einzuführen und damit die Erhebung der
Lohnsteuer künftig nur noch im Rahmen eines automationsgestützten Steuerabzugsverfahrens durchzuführen.
Damit haben wir einen nicht unerheblichen Umstellungsprozess in Gang gesetzt. Seit diesem Jahr beispielsweise sind nicht mehr die Kommunen, sondern die
Wohnsitzfinanzämter der Arbeitnehmer für die lohnsteuerlichen Abzugsmerkmale zuständig.
Wir gehen damit einen entscheidenden Schritt weiter
auf dem Pfad des Bürokratieabbaus. Mit dem heutigen
Gesetzgebungsverfahren wird das Lohnsteuerabzugsverfahren künftig bedeutend einfacher sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite und für die
Finanzverwaltung. Medienbrüche bei der Übertragung
elektronisch gespeicherter Daten auf die LohnsteuerZu Protokoll gegebene Reden
karte wird es nicht mehr geben, Lohnsteuerabzugsmerkmale und deren Änderungen wird die Verwaltung Arbeitgebern elektronisch übermitteln. Für den Arbeitnehmer
wird es einfacher, weil in steuerlichen Fragen künftig
ausschließlich das zuständige Finanzamt sein Ansprechpartner sein wird.
Zu einer Steuervereinfachung gehört für uns aber
auch, dass der Steuerberater oder Lohnsteuerhilfeverein
auf die in der ELStAM-Datenbank gespeicherten Daten
seines Mandanten zugreifen kann. Es geht darum, den
Beratern, die den Arbeitnehmer in vielen Fällen ganzjährig nicht nur bei der Einkommensteuererklärung begleiten, den gleichen Zugang zu den Arbeitnehmerdaten
zu gewähren wie dem Arbeitgeber. Zu einer qualifizierten Beratung in Steuerfragen gehört auch die Kontrolle
der für die Beratung erheblichen Daten des Steuerpflichtigen. Dies sollte dann aber nicht an der technischen Umsetzbarkeit scheitern. Wie hier noch Verbesserungen möglich sind, werden wir in der kommenden
Anhörung beraten.
Zweites Beispiel: Kirchensteuerabzug. Wir vereinfachen das Verfahren des Kirchensteuerabzugs bei Kapitalerträgen. Hierdurch verbessert sich für die Kirchen
die Situation enorm. Das Kreditinstitut fragt künftig
beim Bundeszentralamt für Steuern den Kirchensteuersatz des Steuerpflichtigen ab und führt die Kirchensteuer
zusammen mit der Abgeltungsteuer an das Finanzamt
ab. Das Steueraufkommen der Kirchen wird durch dieses automatische Verfahren zeitnah erfasst und gesichert. Je nach Bundesland zahlen die Kirchen für die zügige Bearbeitung und Weitergabe der Kirchensteuer und
die damit genutzte staatliche Infrastruktur seit jeher Gebühren in Höhe von 2 bis 4 Prozent ihres Steueraufkommens an den Fiskus.
Für den Steuerbürger hat das Verfahren den Vorteil,
dass das Kreditinstitut zur Abführung der Kirchensteuer
die Religionszugehörigkeit nicht mehr abfragen muss.
Dadurch entfällt in vielen Fällen der Ärger, mangels Angabe der Religionszugehörigkeit oder wegen nicht
rechtzeitiger Angabe vor Beginn des Veranlagungszeitraums abgeltend besteuerte Kapitaleinkünfte später unter erheblichem Zeitaufwand doch in der Steuererklärung angeben zu müssen. Darüber hinaus besteht auch
keine Veranlassung für das Kreditinstitut, die konkrete
Religionszugehörigkeit des Steuerpflichtigen zu erfahren.
Drittes Beispiel: Kindergeld beim Bundesfreiwilligendienst. Im Rahmen von Kinderfreibeträgen und Kindergeld wird im Gesetzentwurf der Katalog der Freiwilligendienste um den in diesem Jahr gestarteten
Internationalen Freiwilligendienst erweitert. Rückwirkend ab Januar können Teilnehmer an diesen Freiwilligendiensten bei Vorliegen der übrigen gesetzlichen Voraussetzungen wie während des Freiwilligen Sozialen
oder Ökologischen Jahres Kindergeld erhalten. Eine
entsprechende Regelung für Teilnehmer des neuen, ab
morgen geltenden Bundesfreiwilligendienstes ist im Regierungsentwurf bislang noch nicht vorgesehen, von den
Koalitionsfraktionen aber gewünscht. Deshalb werden
wir einen Änderungsantrag einbringen, der die Zahlung
von Kindergeld ab Juli ermöglichen wird. Die Finanzverwaltung hat bereits klargestellt, dass Teilnehmern
des Bundesfreiwilligendienstes unter 25 Jahren bis zur
Schaffung einer endgültigen rechtlichen Grundlage auf
unbürokratischem Weg vorläufig Kindergeld ausgezahlt
wird.
Viertes Beispiel: Verlängerung der Ist-Besteuerung.
Am 31. Dezember dieses Jahres droht eine Erleichterung auszulaufen, die als Folge der weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise mittelständischen Unternehmen
bundesweit gewährt worden ist und einen signifikanten
Beitrag zur Liquiditätssicherung leistet: Die Möglichkeit der Ist-Besteuerung würde ab 2012 vielen mittelständischen Unternehmen nicht mehr zur Verfügung stehen. Mit der Ist-Besteuerung haben Unternehmen die
Möglichkeit, die Umsatzsteuer erst nach Begleichung
der Rechnung durch den Leistungsempfänger ans Finanzamt abzuführen. Liefe die jetzige Regelung aus,
würde die Grenze bundesweit von 500 000 Euro auf
250 000 Euro zurückfallen. Bei der dann geltenden SollBesteuerung erhält das Finanzamt die Steuer bereits bei
Leistungserbringung. Der Unternehmer muss also in
Vorleistung treten und riskiert dabei seine gerade bei
kleinen Unternehmen oft lebenswichtige Liquidität.
Es ist sehr erfreulich, dass sich die Bundesregierung
entsprechend dem Hinweis des Bundesrats positioniert
hat und die dauerhafte Verlängerung der geltenden Umsatzgrenze über das Jahr 2011 hinaus befürwortet. Andernfalls wäre die 2007 erfolgte Anhebung der Grenze
der Buchführungspflicht auf einen Umsatz von mehr als
500 000 Euro Makulatur. Die dadurch erreichten Einsparungen an Bürokratiekosten in den Unternehmen
würden in ihr Gegenteil verkehrt, wenn die Unternehmen wegen einer Absenkung der Ist-Besteuerungsgrenze
bei der Umsatzsteuer doch gezwungen wären, eine
Buchführung zu installieren.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird in ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpause einen entsprechenden Vorstoß erarbeiten, sodass sichergestellt ist, dass
das Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig vor Ende 2011
abgeschlossen sein wird.
Fünftes Beispiel: Insolvenzordnung/Aufrechnung. Zu
begrüßen ist die Stellungnahme des Bundesrats zum Insolvenzrecht, mit der eine Klarstellung im Gesetz angeregt wird. Bislang war eine Aufrechnung zwischen Vorsteuerforderungen und Umsatzsteuerzahllasten eines
insolventen Unternehmens möglich. Durch eine aktuelle
Rechtsprechungsänderung wird dies nun infrage gestellt. Das hätte zum Ergebnis, dass ein Insolvenzverwalter mit dem Vorteil, Vorsteuer geltend machen zu
können, Umsatzsteuer aber nicht abführen zu müssen,
Waren und Dienstleistungen 19 Prozent billiger als ein
gesundes Konkurrenzunternehmen anbieten könnte.
Eine Gesundung auf dem Rücken von Wettbewerbern
kann aber nicht gewollt sein und würde schlimmstenfalls
zu einer wirtschaftlichen Bedrängnis des gesunden Unternehmens führen. Auch die Sanierung von Unternehmen muss unter fairen Wettbewerbsbedingungen geschehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Neben diesen näher beschriebenen Veränderungen
wird es auch beim Bewertungsverfahren, bei der Arbeitnehmersparzulage und bei der steuerlich geförderten
Altersvorsorge Diskussionen geben. Die noch zu beschließende Anhörung wird sicherlich noch zu Veränderungen des jetzigen Gesetzentwurfs führen.
Wir beraten heute in erster Lesung einen Entwurf der
Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie und zur Änderung steuerlicher Vorschriften. Der Titel des Regierungsentwurfs verschleiert,
dass wir genau genommen eigentlich zwei Gesetze debattieren, die inhaltlich auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben - auf den zweiten übrigens auch
nicht.
Das Umsetzungsgesetz zur Anpassung der bestehenden Regelungen zur Amtshilfe zwischen Finanzverwaltungsbehörden innerhalb der EU bei Fragen der Beitreibung von Steuern und Abgaben umfasst Art. 1 des
Gesetzentwurfs; der Rest von Art. 2 bis Art. 22 ist quasi
ein Jahressteuergesetz 2011 in Verkleidung, das zahlreiche Änderungen in unterschiedlichen Bereichen des
Steuerrechts zusammenfasst und dabei auf europarechtliche und innerstaatliche Entwicklungen, Entscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit oder Anregungen aus der
Finanzverwaltung eingeht und Anpassungen an sich ändernde Rechtslagen vornimmt.
Angesichts des frühen Stadiums unserer Auseinandersetzung mit der Vielzahl der steuerrechtlichen und
verwaltungsbezogenen Änderungen weise ich zunächst
auf einige Sachverhalte und Fragen hin, die wir im Zusammenwirken mit Sachverständigen und den Fachbeamten aus den Bundes- und Landesministerien genau
prüfen werden.
Art. 1 des vorliegenden Gesetzes setzt die Richtlinie
über Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in
Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige
Maßnahmen, RL 2010/24/EU, in nationales Recht um.
Die Richtlinie schafft auf mitgliedstaatlicher Ebene die
Rechtsgrundlage für „alle für die Geltendmachung und
Eintreibung einer Forderung notwendigen Maßnahmen,
insbesondere die Auskunftserteilung durch die ersuchte
Behörde, die Zustellung aller relevanten Dokumente an
den Forderungsschuldner, die Beitreibung der Forderung und das Ergreifen von Sicherungsmaßnahmen.“
Die neuen gesetzlichen Vorschriften sollen sicherstellen, dass Amtshilfeverfahren zwischen Steuerverwaltungen aus unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten nicht an
mangelnder Koordinierung zwischen Behörden und unterschiedlichen Beitreibungsverfahren scheitern. Damit
soll es einfacher und schneller gehen, ausstehende
Schulden aus Steuern und Abgaben von Steuerpflichtigen einzutreiben, die im Ausland wohnen. Oder anders
ausgedrückt: Die Frage, wo jemand in der Europäischen Union wohnt bzw. wo sein Einkommen entsteht,
darf nicht darüber entscheiden, ob er seine Steuerschuld
in Deutschland pünktlich und vollständig begleicht. Lücken im Steuervollzug, von denen einige profitieren, gehen zulasten aller anderen Steuerzahler - ein wichtiger
Bewertungsmaßstab, wenn es um die Gerechtigkeit und
Akzeptanz unseres Steuersystems geht.
Die Regelungen gehen dabei über die bisherige
Rechtslage des EG-Beitreibungsgesetzes hinaus und sollen den Informationsaustausch zwischen den beteiligten
Behörden verbessern, das Zustellungsverfahren vereinfachen und ein wirksameres Beitreibungs- und Sicherungsverfahren einrichten.
Der bislang eingeschränkte Anwendungsbereich der
Amtshilfe wird erweitert. Künftig soll bei allen Steuern
und Abgaben sowie bei Nebenforderungen, das heißt
Zinsforderungen, Gebühren, Geldbußen und Kosten, die
damit verbunden sind, Amtshilfe geleistet werden.
Ebenso werden alle juristischen und natürlichen Personen erfasst. Ausgenommen bleiben lediglich Sozialversicherungsbeiträge und vertragliche Gebühren.
Das Umsetzungsgesetz schafft die Rechtsgrundlage
für den Auskunftsaustausch zu Steuererstattungen ohne
Ersuchen; wir denken an dieser Stelle an die Weiterentwicklung der europäischen Zinsbesteuerungsrichtlinie,
die Erweiterung des sachlichen und personenbezogenen
Anwendungsbereichs und insbesondere an den Übergang zum automatischen Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden - wichtige Forderungen, die dabei helfen, die Besteuerungsgrundlagen zu sichern und
weitere Steuerschlupflöcher in grenzüberschreitenden
Zusammenhängen zu schließen, und die ohne die Arbeiten der ehemaligen Finanzminister Steinbrück und
Eichel nicht denkbar wären.
In diese Richtung wirken auch weitere Regelungen
des neuen Umsetzungsgesetzes, etwa die Möglichkeit
zur Teilnahme ausländischer Finanzverwaltungen an
behördlichen Ermittlungen und die Verpflichtung zur
Erteilung von Auskünften, die für die Beitreibung voraussichtlich erforderlich sind. Mit der Umsetzung der
entsprechenden Regelung des Art. 26 des OECD-Musterabkommens zum Informationsaustausch in Besteuerungsverfahren wird es für unsere Finanzverwaltung
wesentlich einfacher, ihre Auskunftsersuchen gegenüber
anderen Behörden im Ausland zu begründen und rechtssicher auszugestalten. Ein Amtshilfeersuchen darf künftig schon dann gestellt werden, wenn das inländische
Beitreibungsverfahren noch nicht ausgeschöpft ist, das
heißt nicht erst als Ultima Ratio am Ende einer zeitaufwendigen Kette von Beitreibungsversuchen.
Die technische und administrative Ausgestaltung der
zwischenstaatlichen Amtshilfe wirft einige Fragen auf.
Dazu gehört etwa die Übertragung der zentralen Zuständigkeit für die Verteilung auswärtiger Amtshilfeersuchen auf die jeweiligen Länderfinanzverwaltungen,
auf das Bundesfinanzministerium ebenso wie für Auskunftsersuchen inländischer Behörden gegenüber anderen Mitgliedstaaten. Dazu gehören die Einrichtung und
Einhaltung europaweit einheitlicher Rechtsschutzregelungen für die betroffenen Steuerpflichtigen. Außerdem
gehören dazu die Praktikabilität der angestrebten Vereinfachung der Datenkommunikation zwischen den Behörden durch die elektronische Übermittlung von standardisierten Formblättern und die Einführung eines
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
einheitlichen Vollstreckungstitels im Zusammenhang mit
offenen Forderungen.
Der zweite, umfangreichere Teil des Gesetzes enthält
steuerrechtliche Regelungen aus unterschiedlichen Bereichen. Ich will mich in meinen Betrachtungen auf drei
Aspekte konzentrieren.
Die Regelungen des elektronischen Lohnsteuerabzugsverfahrens werden überarbeitet; an die Stelle der
einführenden Vorschriften zur Bildung und Anwendung
der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale treten
die Regelungen für das dauerhafte Verfahren. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen haben wir hoffentlich die Gelegenheit, datenschutzrechtliche Aspekte
des Aufbaus und der Nutzung der Datenbank, der Ausgestaltung des Verfahrens beim Datenabruf und Arbeitsplatzwechsel sowie Fragen nach den Auswirkungen des
Übergangs der Zuständigkeit von der Wohnortgemeinde
auf das Finanzamt zu erörtern. Insbesondere der letztgenannte Aspekt bereitet vielen Steuerberatern und Lohnsteuerhelfern Kopfzerbrechen, da die Einsichtnahme in
persönliche Daten künftig nur noch dem Steuerpflichtigen selbst auf elektronischem Weg möglich sein soll,
nicht allerdings den steuerberatenden Berufen - eine
Regelung, die ihnen die Arbeit erschwert und sich für
den Steuerpflichtigen als Nachteil herausstellen kann.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht im Bereich der staatlichen geförderten privaten Altersvorsorge vor, dass bisher mittelbar zulageberechtigte
Personen, die etwa wegen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten unmittelbar zulageberechtigt werden, künftig für jedes Beitragsjahr den Mindestbeitrag
leisten, der für den Erhalt der ungekürzten Zulage erforderlich ist. Diese Regelung soll ab dem Beitragsjahr
2012 gelten. Damit soll sichergestellt werden, dass künftig Rückforderungen zu Unrecht erhaltener Altersvorsorgezulagen, die aufgrund eines Wechsel des Zulagenstatus ausbezahlt worden waren und im Zuge einer
Überprüfung der Erfüllung der Fördervoraussetzungen
aufgedeckt werden, vermieden werden können. Die Regierung greift dabei Fälle auf, in denen Personen, die
während Kindererziehungszeiten der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht unterliegen, in den ersten drei
Lebensjahren des Kindes unmittelbar zulageberechtigt
wurden und aus Unkenntnis über die Auswirkungen in
ihrem Zulagenstatus keine eigenen Beiträge entrichtet
haben.
Wir werden in den Ausschussberatungen im Finanzausschuss die Konstruktion der einzurichtenden vorübergehenden, auf zwei Jahre begrenzten, Nachentrichtungsmöglichkeit genauer prüfen; insbesondere, ob
durch die rückwirkende Leistung von Altersvorsorgebeiträgen zur Sicherung bereits erhaltener Zulagen starke
finanzielle Belastungen des Anlegers induziert werden,
die aus der Kumulation von Nachentrichtungsbeiträgen
für mehrere Jahre entstehen können.
Schließlich führt der Gesetzentwurf der Bundesregierung - in Reaktion auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs - im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht ein Antragsrecht für Personen ein, die im
Ausland leben und daher nur der beschränkten Steuerpflicht unterliegen. Wenn sie eine Erbschaft oder Schenkung in Deutschland erhalten, etwa ein Grundstück oder
Anteile an einem Unternehmen, können sie den Antrag
stellen, dass der Vermögensanfall nach den Regeln der
unbeschränkten Steuerpflicht erfasst wird. Ihr Vorteil:
Der Freibetrag auf die Steuerbemessungsgrundlage erhöht sich deutlich von 2 000 Euro - für beschränkt Steuerpflichtige - auf zwischen 20 000 Euro - Steuerklasse II
und III - und 500 000 Euro - Ehegatten und Lebenspartner -, und zwar in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad zwischen Erblasser und Erbe bzw. Schenker und
Beschenktem.
Um steuergestalterische „Rosinenpickerei“ zu unterbinden, gilt das Antragsrecht nicht allein für den Freibetrag. Vielmehr unterliegt dann der gesamte in- und
ausländische Erwerb nach dem Welteinkommensprinzip
der unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland, und
nicht nur der begrenzte Teil mit qualifiziertem Inlandsbezug - das übertragene Grundstück, das vererbte Betriebsvermögen, die Anteile an Kapitalgesellschaften -,
wie es das Erbschaftsteuerrecht eigentlich für beschränkt Steuerpflichtige vorsieht. Künftig gehen dann
beispielsweise auch Bankguthaben, Wertgegenstände
oder nicht grundpfandrechtlich besicherte Forderungen
in die Bemessungsgrundlage ein.
Die Gewährung höherer Freibeträge soll also durch
eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage und des
Anwendungsbereichs kompensiert werden, um eine
Schlechterstellung unbeschränkt Steuerpflichtiger gegenüber beschränkt Steuerpflichtigen zu verhindern.
Ohne diese Regelung käme es in den meisten Fällen beschränkter Steuerpflicht dazu, dass der erheblich höhere
Freibetrag angesichts des deutlich geringeren Vermögensumfangs den gesamten Erwerb steuerfrei stellen
würde. Zur Vermeidung von Gestaltungen - Stückelung
der Schenkung - soll eine Zusammenrechnung von Erwerben innerhalb von zehn Jahren vor und nach dem
Vermögensanfall erfolgen.
Angesichts des nachlässigen Umgangs der Bundesregierung mit Problemen im Bereich der Steuergestaltungen, etwa der Abgrenzung von Betriebs- und Verwaltungsvermögen, und angesichts der Tatsache, dass die
Bundesländer zur Haushaltskonsolidierung eigentlich
auf die Einnahmen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer dringend angewiesen sind, können die Ausschussberatungen hoffentlich Aufschluss über die Zahl der zu
erwartenden Fälle, die fiskalischen Auswirkungen und
insbesondere die Angemessenheit der Schutzvorkehrungen gegen missbräuchliche Gestaltungsmöglichkeiten
geben.
Wir vertrauen auf die Expertise von Sachverständigen und Ministerialbürokratie und die Kooperationsbereitschaft der Koalitionsfraktionen, um zu guten steuerrechtlichen Regelungen zu kommen.
Das Bundesfinanzministerium hat den Entwurf eines
Gesetzes zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie vorgelegt. Dabei handelt es sich um ein Artikelgesetz, das
im Wesentlichen drei Regelungsbereiche umfasst.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum einen wird die europäische Richtlinie 2010/24/
EU über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern und Abgaben
durch ein nationales Gesetz umgesetzt. Die Richtlinie ist
gemäß Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie vor dem 31. Dezember 2011 umzusetzen. Sie verbessert die Möglichkeiten
der Mitgliedstaaten, Amtshilfe bei der Beitreibung von
Forderungen in Bezug auf Steuern und Abgaben zu erlangen. Zum anderen will das Finanzministerium ein
„völlig unbürokratisches“ Verfahren schaffen, mit dem
Riester-Anlegern geholfen wird, die ohne böse Absicht
staatliche Zulagen erhalten haben, ohne die Anspruchsvoraussetzungen zu erfüllen. Schließlich wird das Lohnsteuerabzugsverfahren neu geregelt, um den Anforderungen an die Erhebung der Lohnsteuer mithilfe der
elektronischen Lohnsteuerkarte nachzukommen.
Schon aus Gründen der Entlastung der Bürger von
unnötiger Bürokratie ist die Einführung der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale zu begrüßen. Unnötige Fehlerquellen zwischen den Übertragungsmedien
werden so vermieden. Nachzubessern ist jedoch beim
Datenschutz. Die vorangegangene Einführung der Steueridentifikationsnummer ermöglicht einen automatischen Datenaustausch zwischen den Arbeitgebern und
dem Bundeszentralamt für Steuern. Der Steuerzahler erhält weder Informationen darüber, wer welche Daten
über ihn abruft oder übermittelt, noch ist bisher konkret
geregelt, wie sichergestellt werden soll, dass keine Unbefugten die Daten erhalten. Eine Überarbeitung des
Authentifizierungsverfahrens der Arbeitgeber zum Abruf
der elektronischen Lohnsteuermerkmale hält der Bund
der Steuerzahler für unvermeidlich. Ebenso wie der Finanzausschuss des Bundesrates in seiner Stellungnahme
zum Jahressteuergesetz 2008 erachtet der Bund der
Steuerzahler die Wirtschaftsidentifikationsnummer des
Arbeitgebers und die Steueridentifikationsnummer sowie das Geburtsdatum des Arbeitnehmers zur Authentifizierung des Datentransfers für unzureichend.
Nachzubessern ist auch beim Entwurf des § 39 c
Abs. 1 EStG. Solange keine elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale vorliegen, soll längstens für die Zeit
von drei Monaten trotzdem eine Besteuerung nach den
voraussichtlichen Lohnsteuerabzugsmerkmalen und
nicht pauschal nach der Lohnsteuerklasse VI erfolgen.
Sollte es Probleme bei der Einführung geben, so träfe
dies die Arbeitnehmer, die wegen einer falschen Steuerklasse zu viel Steuern bezahlen müssten. Das würde korrigiert werden müssen, sobald die richtige Einstufung
vorliegt. Die kurze Frist produziert nur übermäßige Bürokratie. Eine Verlängerung der Frist würde diese beseitigen und nicht einmal zu Steuerausfällen führen.
Richtig ist der Wunsch des Bundesfinanzministeriums, bei der Problematik von ungerechtfertigt ausgezahlten Zulagen zur Riester-Rente eine unbürokratische
Lösung zu suchen. Das Ministerium erklärt, betroffene
Riester-Sparer müssten lediglich die für die Vergangenheit fälligen Beiträge nachzahlen und ihrem Anbieter
Bescheid geben, für welche Jahre diese Zahlungen bestimmt seien. Um alles andere kümmere sich der Anbieter und die Zulagenstelle. Die Zulagenstelle werde dann
automatisch eine zwischenzeitlich zurückgeforderte Zulage auf den Riester-Vertrag des Betroffenen zurückzahlen.
Der Wunsch des Ministeriums nach einer unbürokratischen Lösung ist richtig. Der Koalitionsvertrag sieht
nichts anderes vor. Die Koalition hat dort vereinbart, die
steuerliche Förderung der Altersvorsorge zu entbürokratisieren und zu flexibilisieren. Alles andere als eine
unbürokratische Lösung widerspräche dem. Für die betroffenen Riester-Sparer wird dieses Ziel einer unbürokratischen Lösung auch wunderbar erreicht. Jedoch
muss noch einmal geprüft werden, ob das auch auf der
Anbieterseite der Fall ist. Auf den ersten Blick erscheint
es fraglich, ob die Versicherungsbranche tatsächlich dafür ausgestattet ist, für mehrere Jahre rückwirkende
Nachzahlungen von Altersvorsorgebeiträgen zu erheben. Die Anbieter müssten geänderte Meldungen an die
Zulagenstelle schicken. Erforderlich wäre wohl zudem
eine Änderung der Datenverarbeitungssoftware. Die
Problematik verschärft sich, da es bislang nur um fehlende Eigenbeiträge in den Jahren von 2005 bis 2007
geht. Wie sich das Problem in Bezug auf die Jahre 2008
bis 2010 darstellt, ist noch offen.
Die jetzige Ausgestaltung bringt zwar eine unbürokratische Lösung aufseiten der Riester-Sparer, doch verschiebt sie die Bürokratielasten auf die Anbieterseite.
Der bürokratische Aufwand ist kostenträchtig. Es ist sicher möglich, einen Weg für eine nicht nur einseitig,
sondern insgesamt unbürokratische Lösung zu finden.
Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel einer Flexibilisierung und Entbürokratisierung der Riester-Rente
sollten wir im Hinblick auf das hier angegangene spezifische Problem nicht aus den Augen verlieren. Es gilt,
den anspruchsberechtigten Personenkreis und die förderbare Produktpalette zu erweitern. Deswegen ist es
weiterhin unser Ziel, die Riester-Rente für Selbstständige zu öffnen. Auf Produktseite sollten Berufsunfähigkeitsversicherungen zulagefähig werden. Die Zulage
sollte auch fürs Bildungssparen eingesetzt werden dürfen. Wir können nicht wissen, welche Absicherungswünsche in den jeweiligen Haushalten im Vordergrund stehen. Wir wissen aber, dass niemand besser darüber
entscheiden kann als die Betroffenen. Diese sollten eigenverantwortlich tätig werden und das jeweils optimale Produkt auswählen dürfen. Das müssen wir ermöglichen.
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung soll die EU-Richtlinie 2010/24/EU
vom 16. März 2010 bis spätestens Ende 2012 in nationales Recht umgesetzt werden und das EGBeitreibungsgesetz vom 13. Dezember 2007 ablösen.
Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche Änderungen in vielen Bereichen wie dem Einkommensteuergesetz, dem
Körperschaftsteuergesetz, dem Bewertungsgesetz und
auch im Erbschaftsteuer- und Schenkungsgesetz vor,
jedoch hat eine Vielzahl der Regelungen mit der
Beitreibung nichts zu tun.
Ein Ziel ist die gegenseitige Eintreibung von Steuern
zwischen den EU-Mitgliedstaaten. In dem GesetzentZu Protokoll gegebene Reden
wurf sind auch einige interessante Passagen eingearbeitet worden, beispielsweise die der Aufhebung der Sanierungsklausel.
Der Bundesrat hat sich ebenfalls umfassend zu
diesem Gesetzentwurf geäußert und etlichen Korrekturbedarf angemeldet. Im Rahmen der laufenden Beratungen, abschließende Beratung ist am 30. September 2011,
werden wir uns noch auf zahlreiche Änderungen einstellen müssen. Nun komme ich kurz zu einigen Punkten des
Gesetzentwurfes:
Ein erster Punkt, die Abschaffung der
Sanierungsklausel. Diese wurde im Rahmen des
Bürgerentlastungsgesetzes eingeführt und im Rahmen
des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes entfristet. Sie
führte dazu, dass der Mantelkauf - Unternehmen kaufen
andere Unternehmen auf, um mit deren Verlust sofort die
eigene Steuerlast für künftige Jahre zu reduzieren wieder genutzt wurde. Die Kriterien zum Mantelkauf
hielten wir aber schon damals nicht für streng genug,
denn viele der aufgekauften Unternehmen wurden nicht
weitergeführt. Obendrein, und das kritisierte
letztendlich die EU-Kommission, wurde die Regelung
entfristet. Sie leitete daraufhin ein Verfahren gegen
Deutschland ein, mit der Konsequenz, das die
Sanierungsklausel ab Mai 2010 nicht mehr angewendet
wurde. Im Januar 2011 entschied die EU-Kommission,
dass die Sanierungsklausel nicht im Einklang mit den
Regeln für staatliche Beihilfen stehe.
Nun soll sie im Rahmen dieses Gesetzes wieder
abgeschafft werden. Allerdings plant die Bundesregierung parallel eine Nichtigkeitsklage gegen den
Beschluss der EU-Kommission zu erheben. Im Falle
eines Stattgebens der Klage würde das bedeuten, das
die Sanierungsklausel für die Veranlagungszeiträume
2008 bis 2010 wieder Anwendung finden würde, eine
Steuervereinfachungsmaßnahme wäre das übrigens
nicht. Des Weiteren forderte die EU-Kommission von
der Bundesregierung eine Liste der Begünstigten, die sie
über den Gesamtbetrag an zurückfordernder Beihilfe informiert. Nachdem uns die Bundesregierung sehr
zögerlich Informationen gab, ist es mehr als fraglich, ob
die Sanierungsklausel ihr eigentliches Ziel erfüllt, denn
sie wurde kaum genutzt.
Ein zweiter Punkt, die Riester-Rente. Sie wollen mit
der Regelung in Art. 2 Nr. 3 des Gesetzentwurfes
verhindern, dass, wenn etwaige Statusveränderungen
auftreten, die Zulageberechtigung für die Riester-Rente
nicht wegfällt, indem Sie in § 10 a Abs. 3 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes einen Mindestbetrag von 60 Euro
einfügen wollen. Praxisprobleme bestehen aber weiterhin bei Sparern, die nicht rechtzeitig ihre Beitragsleistung anpassen können. Der Bundesrat weist darauf in
seiner Stellungnahme hin und schlägt eine konkrete Änderung vor. Hier müssen Sie noch korrigieren.
Ein dritter Punkt, das in Art. 11 des Gesetzentwurfes
vorgesehene Wahlrecht bei der Erbschaftsteuer.
Demnach will die Bundesregierung ein Antragsrecht
einführen, wodurch beschränkt steuerpflichtige
Erwerber, also diejenigen, die weder ihren Wohnsitz
noch gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben,
aber dennoch Einkünfte aus dem Katalog der inländischen Einkünfte vorweisen können, sich durch Antrag
wie ein unbeschränkt Steuerpflichtiger behandeln lassen
können. Dadurch wären dann auch die deutlich höheren
Freibeträge anwendbar, was bei einem Erbe oder einer
Schenkung zu geringeren Steuern führen würde.
Diesen Vorschlag lehnen wir ab, denn er birgt
Ungerechtigkeiten in sich. Dadurch wird die
Möglichkeit eröffnet, dass sich die Erben die für sie
günstigste Variante zurecht rechnen können, bei der sie
am wenigsten Steuern zahlen. Auch zeigt dieser Vorschlag wieder einmal, dass die Bundesregierung, wie
der EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit überbetonen, welche als Begründung vorgeschoben wird.
Neben diesen Punkten ließen sich weitere aufzählen.
Im laufenden Beratungsverfahren wird sich noch einiges
an Änderungen geben.
Meine Damen und Herren, viele Regelungen hätten
Sie auch in das Jahressteuergesetz packen können, aber
dies, so scheint mir, wollen Sie durch künftige Steuervereinfachungsgesetze ersetzen. Dieses Gesetz ist ein
Riesen-Omnibusgesetz, viele Regelungen haben mit dem
Thema Beitreibung rein gar nichts zu tun. Sie nutzen das
Gesetz einfach, um Ihre Dinge unterzubringen, die
eigentlich in ein Jahressteuergesetz gehören. Und das
kann wohl kaum Sinn und Zweck sein.
Wir Grüne begrüßen vom Grundsatz her die Umset-
zung der Beitreibungsrichtlinie. Die Erweiterung der
Amtshilfe innerhalb der EU auf alle Steuern und Abga-
ben ist sinnvoll und notwendig. Auch die Verbesserung
des Informationsaustausches zwischen den Steuerbe-
diensteten in den einzelnen Mitgliedstaaten, die Vereinfa-
chung des Zustellungsverfahrens und die Schaffung eines
wirksameren Beitreibungs- und Sicherungsverfahrens ist
für die Sicherung der Steuereinnahmen in Deutschland
wie auch bei den europäischen Partnern wichtig.
Wir sehen jedoch Verbesserungsbedarf in der prakti-
schen Umsetzung in der Bundesrepublik im Bereich der
Zusammenarbeit europäischer Steuerbehörden. So
wurde 2010 ein Drittel aller Amtshilfeersuchen im Be-
reich der Umsatzsteuer von den deutschen Behörden au-
ßerhalb der vorgegebenen Dreimonatsfrist beantwortet.
Die Bundesregierung ist also aufgefordert, auch ohne
Anstoß der EU für weitere Verbesserungen im Bereich
der gemeinschaftlichen Steuerbeitreibung zu sorgen und
mit gutem Beispiel voranzugehen.
Das Gesetz enthält neben der Umsetzung der Beitrei-
bungsrichtlinie eine Reihe weiterer steuerlicher Ände-
rungen:
So nimmt die Bundesregierung die sogenannte Sanie-
rungsklausel mit diesem Gesetz zurück. Anfang des Jah-
res hatte die EU-Kommission die Sanierungsklausel für
unvereinbar mit den EU-Beihilferegeln erklärt. Die Sa-
nierungsklausel besagt, dass eine Körperschaft trotz Be-
teiligungserwerb zum Verlustvortrag berechtigt sein
kann, wenn sie zum Zweck einer Sanierung erfolgt. Mit
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz Ende 2009 hatte
die schwarz-gelbe Bundesregierung diese für die Krise
konzipierte Maßnahme entfristet und die Kommissions-
entscheidung provoziert.
Wir Grüne hatten schon bei der Einführung der Sa-
nierungsklausel im Juli 2009 kritisiert, dass die Beibe-
haltung von Arbeitsplätzen nicht als zwingende Voraus-
setzung für die Inanspruchnahme der Klausel enthalten
ist. Dies muss jedoch ein wichtiges Motiv sein, um in Sa-
nierungsfällen eine staatliche Unterstützung zu geben.
Denn wenn im Wettbewerb Unternehmen scheitern,
kann und darf der Staat im Prinzip nicht eingreifen.
Deutschland hat im Übrigen hervorragende Instru-
mente, vor allem die Regelungen zur Kurzarbeit, die es
Unternehmen erlauben, Schwächephasen zu überstehen.
Laut Angaben der Bundesregierung wurde die Sanie-
rungsklausel bisher auch eher in geringem Maße in An-
spruch genommen: Für den Geltungszeitraum 2007 bis
2009 gab es 40 Begünstigte mit einem Gesamtvolumen
von 1,78 Millionen Euro, heißt es in einer Antwort auf
eine Kleine Anfrage der Linken. Das spricht für eine
eher begrenzte Wirkung der Sanierungsklausel. Gleich-
zeitig verspricht sich die Bundesregierung durch die Ab-
schaffung der Sanierungsklausel steuerliche Mehrein-
nahmen von 445 Millionen Euro pro Jahr. Bei dieser
Diskrepanz der Zahlen muss das Bundesfinanzministe-
rium dringend Aufklärungsarbeit leisten.
Es ist richtig, dass die Sanierungsklausel aus dem
Unternehmensteuerrecht gestrichen wird. Wir Grünen
teilen die Bedenken der EU-Kommission, dass diese Re-
gelung eine ungerechtfertigte Subvention ist. Die
schwarz-gelbe Bundesregierung trägt die Verantwor-
tung dafür, dass die betroffenen Unternehmen jetzt kurz-
fristig Steuern zurückzahlen müssen.
Lassen Sie mich aber einen bedeutenden Gesichtspunkt
hinzufügen: Wichtig für die Zukunft bei der Frage des Ver-
lustübertrages im Sanierungsfall ist es - auch im Hinblick
auf die Regelungen zum Mantelkauf -, eine angemessene
Regelung für die Übernahme von Technologie-
unternehmen zu finden. Typischerweise haben technolo-
gieorientierte Unternehmen eine lange Entwicklungszeit,
in der erhebliche Verluste kumuliert werden. Dies führt
dann häufig zu einem Wechsel der Eigentümer, die mit fri-
schem Geld und neuen Unternehmenskonzepten einer Ge-
schäftsidee zum Durchbruch verhelfen. In diesen Fällen
muss ein Untergehen der in der Entwicklungsphase aufge-
laufenen Verluste vermieden werden. Ich denke, dass wir
uns mit diesem Thema noch einmal intensiver befassen
müssen.
Die Bundesregierung könnte jedoch bereits in diesem
Gesetz aktiv etwas für die kleinen und mittleren Unter-
nehmen tun. Es wäre eine gute Gelegenheit, um endlich
die Grenze der Ist-Besteuerung bei der Umsatzsteuer
von 500 000 Euro zu entfristen. Nach geltender Geset-
zeslage würde die Grenze ab nächstem Jahr auf
250 000 Euro sinken. Auch der Bundesrat hat sich be-
reits für eine Verlängerung im Rahmen dieses Gesetzes
ausgesprochen. Diese Maßnahme wäre aus drei Grün-
den eine erhebliche Entlastung für die mittelständische
Wirtschaft:
Erstens werden dadurch gerade kleine Unternehmen
vor Liquiditätsengpässen bewahrt. Sie sind so weniger
durch eine schlechte Zahlungsmoral ihrer Kunden be-
einträchtigt. Bei der Soll-Besteuerung müssen Unter-
nehmen bei Zahlungsverzug durch den Kunden neben
dem finanziellen Nachteil durch die verzögerte Zahlung
auch die nicht durch eine Kundenzahlung gedeckte Um-
satzsteuer an den Fiskus vorschießen.
Zweitens könnten der Bürokratieabbau und die Har-
monisierung gefördert werden. Nach dem Bilanzrechts-
modernisierungsgesetz besteht für Unternehmen mit ei-
nem Umsatz bis zu 500 000 Euro keine zwingende
Buchführungspflicht. So wäre die Beibehaltung der be-
fristeten Grenze im Umsatzsteuergesetz für die Harmo-
nisierung von Vorschriften sinnvoll. Außerdem müssten
betroffene Unternehmen und Finanzämter ihre derzei-
tige Praxis nicht wieder verändern.
Drittens würde die Betrugsbekämpfung verbessert.
Mit einer Kopplung des Zeitpunktes der Möglichkeit
zum Vorsteuerabzug an die Zahlung der Rechnung
könnte auch der Umsatzsteuerbetrug eingeschränkt
werden.
Es ist wichtig, dass für die Unternehmen und die Ver-
waltung zeitnah Planungssicherheit geschaffen wird.
Wir Grünen haben die Beibehaltung der 500 000-Euro-
Grenze schon im Steuervereinfachungsgesetz im Früh-
ling dieses Jahres gefordert. Dies hat Schwarz-Gelb da-
mals leider abgelehnt. Nun wird es allerhöchste Zeit,
diese sinnvolle steuerliche Maßnahme auch für die Zu-
kunft zu bewahren.
Zu guter Letzt führt diese steuerliche Maßnahme
auch nicht zu dauerhaften Steuerausfällen, da sich nur
der Zeitpunkt der Umsatzsteuerzahlung verschiebt. Das
zeigt: Die Bundesregierung könnte durchaus mit intelli-
genten Maßnahmen die Rahmenbedingungen für die
kleinen und mittleren Unternehmen verbessern, ohne
den Haushalt zu belasten. Da braucht es keine riesen
Steuergeschenke auf Pump à la FDP.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/6263 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind ein-
verstanden. Somit ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Transparenz und Kontrolle bei der Förderung
von unkonventionellem Erdgas in Deutschland
- Drucksache 17/5573 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johanna
Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
Vizepräsident Eduard Oswald
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trinkwassers - Fracking bei der Erdgasförderung
verbieten
- Drucksache 17/6097 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier im Präsidium vor.
Die Förderung von sogenanntem nichtkonventionellem Erdgas kann auch für die deutsche Energieversorgung eine Chance sein, von Importen unabhängiger zu
werden. Die Diversifizierung unserer Erdgasquellen
könnte einen großen Beitrag zur Versorgungssicherheit
leisten, gerade in einer Zeit, in der der Ausbau von Gaskraftwerken in Deutschland forciert werden soll. Allerdings bestehen auch Risiken, die wir berücksichtigen
müssen.
Zu den nichtkonventionellen Erdgasvorkommen zählen solche Vorkommen, bei denen das Gas einer Förderbohrung nicht ohne weitere technische Maßnahmen in
ausreichender Menge dem Bohrloch zuströmt, weil es
entweder nicht in freier Gasphase im Gestein vorkommt
oder das Speichergestein nicht ausreichend durchlässig
ist. Neben Schiefergas ({0})
zählen Kohleflözgas ({1}) und Erdgas aus dichtem Sand- oder Kalkstein, Tight Gas, zum
unkonventionellen Erdgas.
Die Förderung von nichtkonventionellem Erdgas ist
immer mit umfangreichen technischen Maßnahmen verbunden. Bei Erdgas in dichten Gesteinen ({2}) ist die Durchlässigkeit der Speichergesteine
sehr gering. Daher müssen für die Gewinnung zusätzlich
bessere Wegsamkeiten für den Austritt des Gases geschaffen werden. Dazu wird das Gestein über zunächst
vertikale und dann in der Tiefe horizontale Bohrungen
mit hohem hydraulischem Druck aufgebrochen ({3}). Das gezielte Aufbrechen des Gesteins durch
hohen Druck wird bereits seit den 1950er-Jahren angewendet.
Beim Fracking wird eine Flüssigkeit ({4}) unter hohem Druck ({5}) in das Gestein gepresst. Dieses besteht aus einem Gemisch aus
Wasser, Quarzsand und chemischen Additiven. In der
Folge des hohen hydraulischen Drucks werden Klüfte im
Gestein aufgebrochen und die gewünschten Wegsamkeiten für einen besseren Gasfluss geschaffen. Nach dem
Fracking wird das eingepresste Frack-Fluid fast vollständig zurückgepumpt, wobei ein großer Teil des
Quarzsandes in den Rissen verbleibt, um diese offenzuhalten. Danach strömt das in der Lagerstätte vorhandene Gas dem Bohrloch zu und kann - oft über Jahrzehnte - gefördert werden.
In Deutschland ist das gasführende Schiefergestein
meist in einem Tiefenbereich von 1 000 Metern und tiefer zu finden. Seit 1977 werden in Niedersachsen solche
Bohrungen durchgeführt. Insgesamt wurden über
160 Frack-Behandlungen durchgeführt. In NordrheinWestfalen hat die zuständige Bergbehörde 19 Erlaubnisse zu gewerblichen Zwecken erteilt, die auf die Aufsuchung - das heißt Erkundung, jedoch noch nicht Gewinnung - von Erdgas in unkonventionellen Lagerstätten
gerichtet sind.
Bereits nach geltendem Recht muss bei allen Erdgaserkundungen zu jeder Zeit gewährleistet sein, dass bei
den technischen Prozessen keine Substanzen oder Verfahren zum Einsatz kommen, die negative Auswirkungen
auf die Grundwasserbeschaffenheit befürchten lassen
oder die die Trinkwassergewinnung beeinträchtigen
können. Deutschland hat durch die verschiedenen Genehmigungsverfahren auf Bundes- und auf Länderebene
ein hohes Schutzniveau sowohl für das Grundwasser als
auch für den Boden. Dies muss auch in Zukunft uneingeschränkt so erhalten bleiben.
Für die Aufsuchung der unkonventionellen Erdgasreserven, das heißt für Maßnahmen zur Erkundung und
zur Feststellung der Ausdehnung der vermuteten Lagerstätte, bedarf es nach dem Bundesberggesetz einer Erlaubnis und für die Gewinnung einer Bewilligung oder
des Bergwerkseigentums. Zuständig sind die Bergbehörden der Länder. Soweit es sich um ein Vorhaben in der
Explorationsphase oder um Erdgasförderungen von
weniger als 500 000 Kubikmetern täglich handelt, ist
eine Umweltverträglichkeitsprüfungs-Verordnung Bergbau nicht zwingend.
Trotzdem wird immer auch geprüft, ob das Vorhaben
dem Grundwasser schaden könnte. Bei jeder Bohrung
prüfen die zuständigen Ländergenehmigungsbehörden,
ob eine Benutzung des Grundwassers im Sinne von § 9
Wasserhaushaltsgesetz, WHG, vorliegt. Wird diese
Frage bejaht, so schließt sich ein wasserrechtliches Genehmigungsverfahren für die Erteilung einer wasserrechtlichen Erlaubnis an. Das Wasserhaushaltsgesetz
verlangt mit § 48, dass eine Erlaubnis für eine Grundwasserbenutzung nur dann erteilt werden darf, wenn
keine nachteilige Veränderung der Grundwasserbeschaffenheit zu besorgen ist. Diese wasserrechtlichen
und bergrechtlichen Prüfungen werden von den Ländern
eigenverantwortlich vollzogen, weil auch nur die Behörden vor Ort über die notwendigen Detailkenntnisse verfügen und eine ausreichende Sachverhaltsermittlung
und fundierte Bewertung durchführen können.
Auch der Schutz der Schichten, die die Barrieren über
und unter den grundwasserführenden Schichten bilden,
sind bei der „Hydraulic Fracturing“-Technologie zu beachten. Weiterhin sind das bei der Bohrung an die Tagesoberfläche gespülte Bohrgut und die dabei eingesetzten
Zusatzstoffe im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen
zum Schutz von Boden und Gewässer zu beseitigen bzw.
zu lagern. Auch hierfür bietet das geltende Wasserhaushaltsgesetz in § 48 die entsprechenden Rechtsgrundlagen.
Beim Fracking wird das Gestein der Lagerstätte aufgebrochen. Das ist erwünscht. Nicht auszuschließen ist
jedoch die Erzeugung weiterführender Klüfte über die
Zielformation hinaus sowie die Verbindung mit natürlichen Kluft- und Risssystemen. Hierdurch können unkontrollierte Wege für Gase und eingepresste Flüssigkeiten
in die darüberliegenden Grundwasserschichten entstehen. Folgen treten meist erst mit erheblichen zeitlichen
Verzögerungen und teilweise mit räumlichen Verschiebungen auf. Wenn erst Schadstoffeinträge im Grundwasser festgestellt werden, besteht kaum noch die Möglichkeit, eine Reinigung herbeizuführen. Es ist deshalb zu
jedem Zeitpunkt sicherzustellen, dass im Bereich der
Trinkwassergewinnung und insbesondere in Wasserschutzgebieten keine bergrechtlichen Erkundungs- und
Gewinnungsmaßnahmen erfolgen, die das Grundwasser
gefährden könnten. Auch sollte die Fracking-Technik
nur dort zugelassen werden, wo nachweislich geologische Schutzbarrieren vorhanden sind.
Die Einführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung
für alle Erdgaserkundungs- und -fördervorhaben, die
sich des Fracking-Verfahrens bedienen, halte ich für
richtig. Zurzeit ist eine UVP nur bei Erdgasfördervorhaben mit einem Volumen von über 500 000 Kubikmetern
täglich vorgeschrieben. Bei einer vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung wird die Öffentlichkeit umfassend beteiligt, und auch die betroffenen Gemeinden
und Kommunen werden zu jedem Zeitpunkt des Bewilligungsverfahrens über auf ihrem Gebiet stattfindende
Fracking-Bohrungen Bescheid wissen. Dies wäre für die
Transparenz der vor Ort durchgeführten Maßnahmen
und somit auch für die Akzeptanz in der Bevölkerung
hilfreich.
Abschließend möchte ich noch einmal zusammenfassen: Eine Erschließung der unkonventionellen Erdgasquellen in Deutschland darf aus energiewirtschaftlicher
Sicht nicht verhindert werden. Entscheidend ist, dass sowohl die Erkundung als auch die spätere Förderung
umweltfreundlich und nachhaltig erfolgen und dass insbesondere die Langzeitwirkungen geklärt sind. Die Information der Öffentlichkeit und der örtlichen Kommunen über die vor Ort geplanten Fracking-Bohrungen ist
notwendig, um Transparenz zu schaffen, Sorgen zu nehmen und offene Fragen mit der Bevölkerung zu klären.
Nur so kann Akzeptanz erreicht werden.
Die aktuell vorliegenden Gesetzentwürfe von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken greifen eine Problematik auf, die in den letzten Monaten speziell in meinem
Bundesland Nordrhein-Westfalen thematisiert wurde.
Hintergrund ist, dass das höchst umstrittene Verfahren
des sogenannten Frackings bereits eingesetzt wird, ohne
dass Behörden und Bevölkerung hinreichend über die
Risiken und Probleme informiert werden, geschweige
denn ein Mitspracherecht eingeräumt bekommen hätten.
Beim Fracking handelt es sich um eine Methode zur
Förderung von unkonventionellem Erdgas. Das ist Erdgas, das nicht mit herkömmlichen Methoden aus normalen Gasfeldern gefördert werden kann. Hierbei handelt
es sich um Erdgas, das in den unterschiedlichsten
Schichten dieser Erde eingelagert ist und erst durch Aufsprengen dieser Bodenstrukturen zu Tage gebracht werden kann. Hierfür wird ein bis dato undefiniertes Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien in den Boden
verpresst, um durch Druck Risse im Untergrund herbeizuführen und die Risse auch vor baldigem Verschluss
wieder zu schützen. Was das für Chemikalien sind, welche Risiken genau sie bergen und ob sie gar wassergefährdend sind, wissen wir nicht.
Womit wir bereits beim ersten und meines Erachtens
nach größten Problem des Frackings wären: der potenziellen Gefährdung von Grund- und Trinkwasser. Aktuell
wird für Genehmigungen ausschließlich das schwächere
Bergrecht, nicht aber das wesentlich schärfere Wasserrecht angewendet. Da mit den Erkundungs- und gegebenenfalls auch Fördermethoden eine Gewässerbenutzung
verbunden ist, bedarf es aber zusätzlich einer entsprechenden Prüfung und wasserrechtlichen Erlaubnis
durch die Landeswasserbehörden. Selbst dem Bundesumweltministerium ist bisher nicht bekannt, welche
Chemikalien in den Boden gelangen. Mit dieser Unwissenheit wäre es aber endgültig vorbei, würde das Wasserrecht angewandt. Bis in den Promillebereich müssten
die bohrenden Firmen alles offenlegen. Das Einbringen
wassergefährdender Flüssigkeiten wäre somit unmöglich. Die Tatsache, dass - wie die Erfahrungen aus dem
Ausland zeigen - Stoffe mit toxischer, karzinogener und
mutagener Wirkung eingesetzt werden könnten, ist ziemlich beruhigend, wie ich finde.
Weil bisher ausschließlich das besagte Bergrecht
greift und niemand so recht zu wissen scheint, was wirklich in den Boden gepumpt wird, hat NRW ein Moratorium erlassen, das so lange gilt, bis eine wissenschaftliche Studie die Risiken der Fracking-Technologie
erforscht hat. Erst wenn diese Studie zu dem Ergebnis
der Gewässerunbedenklichkeit und noch einigen anderen positiven Ergebnissen kommt, können wieder Genehmigungen erteilt werden. Das macht NRW so, das fordern die lieben Kollegen von den Grünen, und das
fordern wir als SPD.
Eine ähnliche Problematik liegt bei der Abwasserentsorgung vor, denn der Wasserverbrauch pro Bohrung ist
unglaublich hoch. Firmen würden das Wasser gerne in
den Bohrungen verpressen, aber wir fordern eine ordnungsgemäße Entsorgung. Traurig, dass das keine
Selbstverständlichkeit zu sein scheint.
Ein anderer Aspekt, der mir in der Debatte deutlich
zu kurz zu kommen scheint, ist die Frage, ob wir unkonventionelles Erdgas wirklich fördern müssen, um unseren Energiehunger zu befriedigen. Aktuell ist dem sicherlich nicht so, die Gasversorgung ist gesichert. Und
selbst, wenn sich eines fernen Tages eine Schere zwischen Bedarf und Vorräten abzeichnet, ist es nicht zu
spät, mit der Förderung unkonventionellen Erdgases zu
beginnen. Von daher besteht nicht der geringste Anlass,
Dinge zu überstürzen und das Land in Claims zu unterteilen.
Ich gehe davon aus, dass wir die Energiewende vollzogen haben werden, bevor der Bedarf nach unkonvenZu Protokoll gegebene Reden
tionellem Erdgas kommt. Dennoch wollen wir die Suche
und mögliche Förderung nicht vollständig unterbinden.
Aber, wie gesagt, wir haben Zeit: Zeit für gründliche,
wissenschaftliche Untersuchungen. Außer den Erdgasfirmen drängt ohnehin keiner, und denen sollten wir
nicht so einfach nachgeben.
Wenn denn aber diese Studie eine vollkommene Unbedenklichkeit bescheinigt, dann ist es an der Zeit, einen
geeigneten Rechtsrahmen für die Erkundung und Förderung unkonventionellen Erdgases zu schaffen. Dieser
sollte unter anderem die Haftungsfrage so regeln, dass
das Risiko von Schäden, die entgegen aller wissenschaftlichen Gutachten vielleicht doch auftreten, zu
100 Prozent durch die Firmen getragen wird, die auch
im Erfolgsfall die Gewinne einfahren. Die üblichen Forderungen, Gewinne bleiben bei den Firmen, Verluste
und andere Risiken werden sozialisiert, sind mit uns
nicht zu machen. Denkbar ist hier zum Beispiel die Bildung von Rücklagen. Das müsste zu gegebener Zeit diskutiert werden.
Um nicht dieselben Fehler zu wiederholen, die Öffentlichkeit angemessen zu beteiligen und Transparenz zu gewährleisten, bedarf es einer Reform des Bundesbergrechts und der Umweltverträglichkeitsprüfung. Schon
bei der Antragstellung auf die Vergabe von Aufsuchungslizenzen sind die Öffentlichkeit, Wasserbehörden, Städte
und Kommunen umfassend zu informieren.
Die Anträge der Linken und der Grünen wollen die
Förderung der heimischen Energiereserve Schiefergas
in Deutschland verbieten. Für mich ist das keine wirkliche Überraschung. Aber erst heute Vormittag hat die
breite Mehrheit dieses Hohen Hauses über einen schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie abgestimmt.
Gleichzeitig sind wir aber so rational, dass wir wissen, dass wir nicht aussteigen können, ohne in etwas anderes einzusteigen. Wer A sagt, muss auch B sagen. Erneuerbare Energien sollen perspektivisch diese Lücke
schließen. Aber sie können es derzeit noch nicht alleine
schaffen. Wir brauchen Leistung, die flexibel auf die
Einspeisung von Wind und Sonne reagieren kann. Dafür
kommen nur hocheffiziente Kohle- und Gaskraftwerke
nach dem neusten Stand der Technik infrage. Und da gerade die antragstellenden Parteien den Neubau von
Kohlekraftwerken nach Kräften behindern und verhindern, ist das wieder einmal die bekannte rot-grüne Doppelzüngigkeit.
Bleiben uns also noch die Gaskraftwerke. 10 Gigawatt, hocheffizient und flexibel, benötigen wir bis 2013.
Wie diese finanziert werden sollen und wer diese bauen
wird, steht auf einem anderen Blatt; es ist jedenfalls derzeit noch nicht geklärt.
Der Bedarf an Stabilisierung unserer Stromversorgung durch fossile Kapazitäten steigt, solange wir keine
effizienten Speicher zur Marktreife bringen. Wenn es
nach Ihnen geht, soll das Gas für die Gaskraftwerke
über Jahrzehnte zementiert aus russischen Quellen und
russischen Handelshäusern kommen. Im Jahr 2010 waren es schon 32 Prozent, und es sollen noch mehr werden. Dafür ist der erste Strang von Nord Stream fertig
zusammengeschweißt.
Für uns wichtige und verlässliche Lieferanten sind
und bleiben Norwegen und die Niederlande.
Das Anlanden von Flüssiggas ist in Deutschland leider großtechnisch noch nicht möglich. Aber wir hegen
weiterhin die Hoffnung, dass im Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven ein vollwertiges LNG-Terminal entstehen
wird. Damit könnten wir unsere Gasbezugsquellen diversifizieren, beispielsweise aus Katar, und damit die
Versorgungslage unabhängiger als bisher sichern.
Als eine realistische Alternative sehen wir insbesondere den Ausbau der heimischen Förderung von Gas.
Diese trägt derzeit circa 15 Prozent zur heimischen Gasversorgung bei. Durch die Exploration von Schiefergas
könnte dieser Anteil unter Bedingungen ausgebaut werden. Dass die von Ihnen angeklagte Technologie zur
Förderung des Shale- oder Schiefergases möglich ist,
beweist die Industrie weltweit schon seit 60 Jahren. Fracking oder Hydraulic Fracturing ist die angewandte
Technologie, und das ist keine Zauberei. Es ist Ingenieurskunst, die unsere Anerkennung verdient. Mehr als
1 Million Mal sind damit schon Explorationen stimuliert
worden.
Ich selbst bin bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe gewesen. Vor Ort in Hannover
habe ich mich von dieser nun wirklich unbefangenen Behörde von der Verlässlichkeit und den Voraussetzungen
für den Einsatz dieser Technologie auch in Deutschland
überzeugen können. Die trinkwasserführenden Schichten, deren Gefährdung in den Anträgen immer angesprochen wird, werden sehr wohl vor der Frack-Flüssigkeit
geschützt. Spezielle Bohrungen, das heißt ein einzementiertes Verbundsystem aus Stahlrohren, verhindern Leckagen. Außerdem verhindert ein Deckgebirge aus Tonoder Salzschichten, die mehrere Hundert Meter mächtig
sind, dass aus den gasführenden Schichten Gas oder toxische Flüssigkeiten in Wasserreservoire eindringen
können. Dass eine solche geologische Barriere eine abdichtende Wirkung gewährleistet, wurde schon über
geologische Zeiträume unter Beweis gestellt.
Im Übrigen hat auch unsere Fraktion einen Antrag zu
diesem Thema in Vorbereitung. Diesen werden wir nach
der Sommerpause mit Ihnen diskutieren.
Grüne und Linke wollen mit ihren Anträgen die Förderung von Schiefergas unmöglich machen bzw. verbieten. Beide Anträge vermitteln dabei den Eindruck, eine
andere Entscheidung wäre unter dem Gesichtspunkt des
Umweltschutzes nicht vertretbar.
Einige Bedenken, die in dem Antrag der Grünen artikuliert werden, teile ich. Fracking ist eine Fördertechnologie, bei der unter Einpressen eines Wasser-SandChemikalien-Gemisches unter hohem Druck Risse im
Gestein erzeugt werden. Dies erfolgt zwar regelmäßig in
Tiefen, in denen sich kein für die Trinkwassergewinnung
benötigtes Grundwasser befindet, aber dennoch: Durch
Zu Protokoll gegebene Reden
die Festschreibung einer geologischen Barriere wollen
wir hier die bereits bestehende Sicherheit für die Umwelt und das Grundwasser noch einmal deutlich erhöhen. Wir sehen hier durchaus Verbesserungspotenzial.
Die Grünen unterstellen in ihrem Antrag der Bundesregierung, sich dieses Themas zu verweigern. Dies ist
schlichtweg falsch. In den letzten Monaten haben sich
sowohl die Fraktionen intern als auch zusammen mit
den Ministerien beraten und das weitere Vorgehen abgesprochen.
Nach Einschätzung der Situation ist vonseiten des
Bundes allerdings keine Hektik erforderlich, sondern in
allererster Linie ein sauberer und solider Rechtsrahmen, der auch aufgrund der Versäumnisse in der Vergangenheit so nicht besteht. Man sollte an dieser Stelle
nicht vergessen, dass die Förderung von unkonventionellem Erdgas auch in Deutschland auf eine jahrzehntelange Historie zurückblickt, insbesondere bei sogenannten Tight-Gas-Lagerstätten.
Überdies - und das sollte man nicht vergessen - gibt
die Bundespolitik zwar einen rechtlichen Rahmen vor.
Allerdings haben die Länder und deren Behörden bereits
jetzt eine Vielzahl an Instrumenten, um Genehmigungen
vor Ort durch strenge Auflagen an tatsächliche Gefahren anzupassen oder auch im Einzelfall zu versagen.
Es ist mir zu einfach, hier eine Totalablehnung der
Gasförderung bei unkonventionellem Erdgas zu fordern,
und auf nichts anderes zielen hier die beiden vorliegenden Anträge. Die Importabhängigkeit von russischem
Erdgas ist offenkundig. Wir haben mit der jetzt beschlossenen Energiewende einen hohen Bedarf an Ersatzkapazitäten, der kurzfristig zu decken ist, und gleichzeitig
Klimaschutzziele, die erreicht werden sollen. Die Grünen haben ambitionierte Ziele, aber bei jeder Einzelfrage klingt uns aus ihren Reihen ein dumpfes Nein entgegen.
Die Grünen wollen Fracking nicht zulassen, solange
keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über
Risiken und Folgen in den USA vorliegen und jede sonstige Gefahr sicher ausgeschlossen werden kann.
Die Schiefergasförderung in den USA ist mit der Förderung in Deutschland nicht zu vergleichen. In den USA
befinden sich gigantische Förderfelder, die mit den Vorhaben hierzulande weder hinsichtlich der angewandten
Techniken noch hinsichtlich der Menge an verwendeten
Chemikalien noch hinsichtlich der Größe und Folgewirkungen etwas gemein haben. Sie stellen doch auch nicht
die Anforderung, dass die Umweltfolgen in Russland
oder Aserbaidschan erst zu evaluieren sind, bevor in
Deutschland Fördermaßnahmen gestattet werden sollen. Es geht einzig und allein darum, in Deutschland zu
gewährleisten, dass keine Gefahren bestehen. Über die
bestehenden niedrigeren Umweltstandards in anderen
Ländern holen Sie sich die Rechtfertigung hier, einen
Ausschluss herbeizuführen. Haben die amerikanischen
Behörden und Gesetze versagt, dürfen wir auch hierzulande nicht fördern. Das ist keine sachgerechte Argumentation, sondern Polemik.
Auch die Forderungen zum Bergrecht und zur Umweltverträglichkeitsprüfung sind zu weitgehend. Nach
ihren Änderungswünschen müsste zukünftig jede einfache Erkundungsbohrung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen. Bei einer Erkundungsbohrung
kommen regelmäßig aber überhaupt keine Chemikalien
zum Einsatz. Hier werden Proben genommen, nicht
mehr und nicht weniger. Das Kernproblem ist Fracking
und der Einsatz von potenziell wassergefährdenden
Chemikalien. Sie holen mit Ihrer Keule zu weit aus und
gefährden dadurch energie- und umweltpolitisch sinnvolle Vorhaben.
Wir streben sachgerechte und zielführende Lösungen
an: einen höheren Umweltstandard beim Fracking und
der Schiefergasförderung. In Wasserschutzgebieten ist
Fracking generell auszuschließen. Über eine geologische Barriere ist sicherzustellen, dass Chemikalien nicht
in das Grundwasser gelangen können. Die Transparenz
vor Ort ist herzustellen. All dies sind Maßnahmen, die
wir aufgreifen werden.
Wir wollen die Schiefergasförderung verantwortlich
ermöglichen. Sie wollen die Schiefergasförderung verhindern. Das ist unverantwortlich!
Wir können unter strengsten ökologischen Bedingungen Energie in Deutschland erzeugen. Gerade jetzt ist es
wichtig, wirklich alle Potenziale auszuschöpfen. Wir
wissen um mögliche Engpässe in den kommenden Monaten und Jahren.
Ich appelliere an die Vernunft, neue Technologien zu
unterstützen. Wir setzen massiv auf neue Speichertechnologien. Wir setzen auf Netzausbau. Wir setzen auf
CCS. Wir setzen auf Schiefergas. Wir setzen auch auf
strengste Umweltmaßstäbe.
Wenn Sie ein anderes Konzept haben, nennen Sie es.
Belassen Sie es nicht bei bloßer Verhinderungspolitik.
Seien sie kritisch, aber positiv. Ich habe derartiges von
Ihnen bisher nicht gehört. Sie machen sich einen schlanken Fuß, wenn Sie sich um jedes Problem drücken.
CDU/CSU und die FDP brauchten die Katastrophe
von Fukushima, um zu verstehen, dass ihre Atompolitik
und ihr Gerede von der „Brückentechnologie“ falsch
war. Jetzt gibt es - scheinbar - eine neue „Brückentechnologie“: Erdgas. Besondere Hoffnung liegt auf der
Förderung von heimischem unkonventionellen Erdgas.
Hier spielen die großen Energiekonzerne schon wieder
mit dem Feuer und werden dabei von der Regierung unterstützt. Brauchen wir erst wieder einen Unfall, um
auch hier zur Einsicht zu kommen? Die Förderung von
Erdgas mithilfe von Fracking ist keine Brückentechnologie, sondern eine Hochrisikotechnologie.
Wir reden über die Förderung von unkonventionellem
Erdgas mit der Methode des Hydraulic Fracturing,
kurz: Fracking. Mit dieser - zumindest in der derzeitigen Form - noch recht jungen Fördermethode sollen
künftig auch in Deutschland neue Erdgasquellen erschlossen werden. Uns wird versprochen, dass wir durch
die Förderung von einheimischem Erdgas unabhängiger
Zu Protokoll gegebene Reden
von Gasimporten werden. Aber die Sache hat einen Haken - und zwar einen gewaltigen.
Fracking ist mit hohen Risiken für die Bevölkerung
und die Umwelt verbunden. Vor allem das Trinkwasser
ist gefährdet. Beim Fracking werden mit hohem Druck
riesige Mengen Flüssigkeit in den Boden gepresst. Die
Frac-Flüssigkeit ist mit hochgiftigen Chemikalien versetzt. Die Gaskonzerne sagen, dass das Verfahren sicher ist und dass kein Frac-Wasser austreten kann.
Die Bundesregierung verlässt sich in ihrer Bewertung
auf die Werbebroschüren der Gaslobby und kommt damit - welch Überraschung! - auch zum Ergebnis, dass
Fracking sicher ist.
Aber woher wissen die das so genau? Die Bundesregierung musste im April im Umweltausschuss einräumen, dass es noch keine wissenschaftlichen Studien zu
den Umweltauswirkungen von Fracking in Deutschland
gibt. Das Umweltministerium hat - mit Berufung auf das
Umweltbundesamt - erst vor kurzem einen Bericht auf
seine Webseite gestellt. Dort ist nachzulesen, was beim
Fracking alles passieren kann: Nicht nur die Bohrungen
durch die trinkwasserführenden Schichten sind gefährlich. Auch durch die unterirdischen Sprengungen können Risse entstehen, durch die das Giftgemisch austreten
kann. Und auch die Lagerung der zurückgewonnenen
Flüssigkeit aus der Erdgasbohrung ist hoch gefährlich.
Denn im Untergrund hat sich die giftige Flüssigkeit häufig auch noch mit radioaktiven Substanzen vermischt.
Das klingt nach einem Horrorszenario - aber genau so
steht es auf der Webseite vom Umweltministerium. Was
brauchen wir noch? Wir können doch nicht warten, bis
unser Trinkwasser großflächig vergiftet und radioaktiv
verseucht ist, um die Gefahren von Fracking anzuerkennen!
Schließlich belegen die vielen Vorfälle in den USA,
dass Fracking gefährlich ist. In den USA wird Fracking
schon jetzt großflächig eingesetzt. Dort gab es schon etlicheTrinkwasservergiftungen, Explosionen und Erdbeben. Der letzte Unfall ist noch nicht lange her: Im Bundesstaat Pennsylvania flossen am 20. April nach einem
Fracking-Unfall tausende Liter giftige Flüssigkeit in einen nahegelegenen Fluss. Es dauerte mehrere Tage, bis
das Austreten des Giftgemischs gestoppt werden konnte.
Die Anwohner befürchten nun eine unumkehrbare Vergiftung des Wassers. Auch in Deutschland gab es schon
Unfälle bei der Erdgasförderung. Wenn Fracking nun
auch hier vermehrt eingesetzt werden soll, steigen die
Gefahren. Das dürfen wir nicht zulassen!
Nun heißt es immer, dass Erdgas ja umweltfreundlich
ist. Aber: Erdgas ist ein fossiler Energieträger, bei dessen Verbrennung das klimaschädliche CO2 entsteht.
Zwar weniger als bei Kohle, aber doch genug, um den
Klimawandel zu beschleunigen. Auch Erdgas ist also ein
Klimakiller. Und ganz besonders das unkonventionelle
Erdgas, das nur mit einem riesigen energetischen Aufwand überhaupt erschlossen werden kann. Eine Energiepolitik, die den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien ebnet, erfordert deswegen zu allererst drastische Einsparungen im Verbrauch von Erdgas! Erdgas
muss so schnell wie möglich durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Jetzt auf den massiven Ausbau der
Erdgasförderung zu setzen, ist damit schlicht der falsche
Weg!
Nehmen wir die Sorgen der betroffenen Menschen
ernst: Dort, wo jetzt die ersten Probebohrungen beantragt sind, gibt es große Proteste. Die Menschen wollen
kein Fracking, weil sie Angst um ihr Trinkwasser haben.
Auch in anderen Ländern gibt es Proteste. In den USA
und in Kanada wurden daraufhin Moratorien beschlossen, um die Umweltauswirkungen genauer zu untersuchen. In Frankreich ist die Regierung noch weiter gegangen. Sie hat am 9. Juni diesen Jahres ein Verbot von
Fracking beschlossen. Das sollte auch hier möglich
sein.
Was brauchen wir noch, damit auch die Regierungsparteien einsehen, dass Fracking eine gefährliche Risikotechnologie ist? Reichen hier die vielen Unfälle in den
USA nicht schon aus? Trinkwasserverschmutzungen für
Generationen sind dort schon Realität. Nehmen wir uns
Frankreich zum Vorbild und verbieten wir auch in
Deutschland die hochriskanten neuen Fracking-Methoden in der Erdgasförderung!
Weltweit befinden sich Energieunternehmen auf der
Suche nach sogenanntem unkonventionelle Erdgas.
„Hydraulic Frackturing“ oder „Fracking“ wird die
Methode genannt, mit welcher durch Horizontalbohrungen und dem Einsatz diverser Chemikalien die Erdgasvorkommen erschlossen werden. Auch in Deutschland,
hier vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, sowie in unseren Nachbarländern Frankreich und
Polen wird inzwischen nach unkonventionellem Erdgas
gesucht. Vor allem shalegas, das ist Erdgas aus Schiefergestein, steht im Fokus der Unternehmen.
Da wir in Deutschland auf Erdgas in den kommenden
Jahrzehnten als Energieträger nicht verzichten können,
klingt die Aussicht auf die Erschließung neuer heimischer Erdgasvorkommen nicht zuletzt unter dem Aspekt
der Versorgungssicherheit erst einmal verlockend. Betrachtet man jedoch die Situation in den USA, wo die
Förderung von unkonventionellem Erdgas mittlerweile
über die Hälfte der Gesamtproduktion ausmacht, wird
schnell deutlich, dass es sich hier jedoch um einen Goldrausch mit massiven Nebenwirkungen handelt: Trinkwasser wird durch Chemikalien und unkontrolliert entweichendes Methan vergiftet. Hinzu kommt ein enormer
Flächenverbrauch sowie riesige Mengen an Wasser und
Chemikalien, die angeliefert werden müssen. Je nach
Tiefe der niedergebrachten Bohrung sind das bis zu
500 Lkw-Ladungen und mehr, was zu einer erheblichen
Lärmbelästigung von Anwohnern führt, die Anfahrtsstraßen ruiniert und die CO2-Bilanz von unkonventionellem Erdgas deutlich verschlechtert. Auch die Entsorgung der in großen Mengen anfallenden Abwässer, die
häufig durch Schwermetalle wie Quecksilber und auch
radioaktive Stoffe belastet sind, stellt ein bisher auch in
den USA ungelöstes Problem dar. In Deutschland werden Abwässer häufig einfach in sogenannten Disposalbohrungen versenkt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir müssen diese Risiken und Probleme ernst nehmen, und die zuständigen Behörden sowie unabhängige
Wissenschaftler müssen sie untersuchen. Wir fordern die
Bundesregierung daher auf, unter Einbeziehung der
Fachbehörden, wie zum Beispiel das Umweltbundesamt
und die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Studien in Auftrag zu geben, mit dem Ziel, ein Monitoring für die Umweltauswirkungen zu installieren, um
eine Bewertung vornehmen zu können. Dabei sollten
zum Beispiel auch die Bohrstellen in Deutschland untersucht werden, an denen das Fracking-Verfahren in der
Vergangenheit bereits angewendet wurde. Dazu gehört
auch die Erstellung einer nachvollziehbaren Klimabilanz von unkonventionellem Erdgas, denn diese fällt aufgrund des hohen Energieaufwandes sicherlich schlechter aus als bei konventionell gefördertem Gas.
Das Vorgehen der Energieunternehmen hat auch mal
wieder gezeigt, wie intransparent das deutsche Bergrecht ist. Unbemerkt von Politik und Öffentlichkeit wurden schon vor längerer Zeit von den Bergbehörden der
Länder großflächige Claims zur Exploration der vermuteten großen Gasvorkommen an die Unternehmen verteilt. Dies kam erst durch ein gezieltes Nachfragen der
grünen Landtagsfraktion in NRW ans Licht. Es ist doch
kein Wunder, dass sich angesichts einer solchen Praxis
die Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel im Münsterland nicht mitgenommen fühlen. Wer befürwortet schon
die Anwendung einer Technologie vor seiner Haustür,
wenn das gesamte Internet voller Horrormeldungen darüber ist? Es gehört zu den dringenden Aufgaben staatlicher Behörden, die Interessen der Bürgerinnen und
Bürger zu schützen. Eine Informationspolitik an den
Bürgerinnen und Bürgern vorbei zugunsten von Energiekonzernen ist falsch und nicht mehr zeitgemäß. Wir
fordern daher die Bundesregierung weiter auf, eine
grundlegende Reform des antiquierten deutschen Bergrechts einzuleiten, in deren Rahmen auch Elemente von
Transparenz und Öffentlichkeitsbeteiligung im Bergrecht verankert werden. Weiter brauchen wir einen
Raumordnungsplan, der die unterschiedlichen Interessen an dem Untergrund berücksichtigt, um Interessenskollisionen zu vermeiden.
Abschließend noch eine Bemerkungen zum Verhalten
der Bundesregierung in den vergangenen Monaten: Seit
einem Jahr stellen wir Anfrage um Anfrage zum Thema
unkonventionelles Erdgas und erhalten regelmäßig von
der Bundesregierung die gleichen nichtssagenden Antworten: Die Förderung von unkonventionellem Erdgas
sei harmlos, und es sei keine Gefährdung des Trinkwassers zu erwarten. Im Übrigen liege die Zuständigkeit bei
den Bundesländern. - Noch im Februar bekamen wir die
gleichen Antworten von der Bundesregierung in einem
schriftlichen Bericht an den Umweltausschuss präsentiert, inklusive einem Verweis auf eindeutig interessengeleitetes Informationsmaterial der Erdgasindustrie.
Ein solches Vorgehen ist für einen Bericht einer Bundesregierung an das Parlament schlicht unwürdig und
Zeugnis der beim Minister zu der Zeit offensichtlich
herrschenden Ahnungslosigkeit. Die Bezirksregierung
Arnsberg hat den gleichen Newsletter an die Kommunen
in NRW versandt und ist dafür aufs Schärfste von der
NRW-CDU in einem Antrag gescholten worden. Das waren Herrn Röttgens Parteifreunde! Und nur ein paar
Wochen später macht er hier in Berlin genau dasselbe,
und versucht uns Parlamentarier mit derselben hübschen Werbebroschüren für dumm zu verkaufen. Das ist
nicht nur peinlich, das ist geradezu dreist. Doch inzwischen scheinen Herrn Röttgens Parteifreunde aus Nordrhein-Westfalen, die übrigens ein flächendeckendes
Verbot für Fracking in NRW fordern, ihren Landesvorsitzenden darüber informiert zu haben, was in seinem
Bundesland eigentlich los ist. Anders kann man sich die
Äußerungen in einer Pressemitteilung aus dem BMU im
Mai nicht erklären, denn auf einmal ist dort von potenziellen Gefahren für das Grund- und Oberflächenwasser
durch Chemikalien die Rede. Das ist immerhin ein kleiner Lichtblick. Es bleibt aber die Frage offen, welche
Konsequenzen Herr Röttgen aus diesem Wissen denn
nun ziehen wird, denn wieder ist darin von der Zuständigkeit der Bundesländer die Rede.
Ich fordere Sie hiermit auf, endlich Ihrer Pflicht
nachzukommen und gemeinsam mit den Bundesländern
klare Regeln für die Förderung von unkonventionellem
Erdgas zu entwickeln! Hören Sie endlich auf, sich so aus
der Verantwortung zu ziehen! Eine windige Pressemitteilung alleine reicht nicht aus, es bedarf konkreter
Maßnahmen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5573 und 17/6097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
20 Jahre Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - Ein gelungenes Beispiel und internationales Modell für den Austausch von Wissenschaft
und Politik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Technikfolgenabschätzung im Bundestag und
in der Gesellschaft stärken
- Drucksachen 17/3414, 17/3063, 17/6287 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Feist
Dr. Martin Neumann ({1})
Vizepräsident Eduard Oswald
Hans-Josef Fell
Die Reden werden, wie vereinbart und in der Tagesordnung ausgewiesen, zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind bei uns bekannt.
Sie sind damit einverstanden.
Auch wenn wir uns in diesem Hause bereits im letzten
Jahr mit der wissenschaftlichen Politikberatung „Technikfolgenabschätzung“ beschäftigt haben, soll es noch
Menschen in unserem Land geben, die mit dem Büro für
Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag,
TAB, nichts anfangen können. Daher möchte ich die Gelegenheit nutzen, kurz das TAB vorzustellen, bevor ich
Ihnen näher darlege, warum die hier zur Beratung vorliegenden Anträge der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
aus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion abzulehnen sind.
Im November 1989 traf der Bundestag die Entscheidung, die Technikfolgenabschätzung im Parlamentsbetrieb zu institutionalisieren. Dazu wurde im Jahre 1990
mit dem heutigen Karlsruher Institut für Technologie,
KIT, die Einrichtung eines Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags vertraglich vereinbart. Damit wurde das TAB ganz bewusst nicht in die
Verwaltung des Deutschen Bundestages integriert, sondern es wird von einer externen Forschungseinrichtung
eingerichtet und betrieben. Hierzu schließt der Deutsche
Bundestag einen - bislang jeweils auf fünf Jahre befristeten - Vertrag mit dem Betreiber. Der Betreiber ist seit
1991 das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, ITAS, im Karlsruher Institut für Technologie, KIT, seit 2003 in Kooperation mit dem Fraunhofer,
Institut für System- und Innovationsforschung ISI. Der
aktuelle, auf fünf Jahre befristete Vertrag, endet 2013.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ist das politische Steuerungsgremium für Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a
GOBT. Er hat vor allem die Aufgabe, Anfragen zur
Durchführung von „Technikfolgenanalysen“ aus den
Fraktionen und Ausschüssen zu sichten, zu prüfen sowie
zu entscheiden, welche der gewünschten Analysen durch
das TAB durchgeführt werden sollen. Die Themenfestlegung erfolgt für einen längeren Zeitraum im überfraktionellen Konsens.
Im letzten Jahr haben wir im Deutschen Bundestag
anlässlich des 20. Geburtstages über das TAB debattiert
und Bilanz gezogen. Ich möchte drei Punkte aus meiner
damaligen Rede wiederholen, weil sie immer noch Gültigkeit haben:
Zum Ersten möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei den Mitarbeitern des TAB für ihre geleistete Arbeit bedanken.
Zum Zweiten möchte ich betonen, dass Technikfolgenabschätzung eben nicht nur das Erkennen von Gefahren bestimmter Technologien bedeutet, sondern auch
die Chancen und Möglichkeiten, unsere neuen Technologien zu erkennen und deutlich zu machen.
Drittens: Die Förderung des kontinuierlichen Dialogs zwischen Politik und Wissenschaft ist der Mehrwert
der Institutionalisierung wissenschaftlicher Politikberatung. Das Büro ist unabhängig. Dennoch ist es trotzdem
bemüht, alle Interessen auszugleichen. Dieser Dialog
verläuft nicht immer reibungslos, aber - ich denke, so
kann ich für uns alle sprechen - immer erkenntnisfördernd für beide Seiten.
Erkenntnisfördernd waren die beiden hier vorliegenden Anträge allerdings nicht. Lediglich dem Lob für das
TAB kann ich mich anschließen.
Ganz deutlich widersprechen muss ich dem Vorwurf
im Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen,
dass das TAB vorwiegend kostengünstig zugängliche,
wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Mainstream referiere. Dies stimmt nicht mit der fraktionsübergreifenden Auffassung überein, dass die wissenschaftliche Qualität der TAB-Berichte über diesen Zweifel erhaben ist.
Die interne Evaluation des TAB ({0})
kommt zu dem Schluss, dass mit den vorhandenen Strukturen und Mitteln eine qualitativ gute Arbeit geleistet
werden kann. Der Antrag der Grünen widerspricht sich
geradezu, wenn zu Beginn das TAB gelobt und ihm eine
gute Qualität bescheinigt wird und eine Seite weiter
doch die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit angezweifelt wird. Dem ist ausdrücklich zu widersprechen,
die Bilanz bescheinigt das Gegenteil.
Die in den Anträgen gestellte Forderung nach einer
kontinuierlich festgeschriebenen Mittelerhöhung und
eine damit verbundende Steigerung von Berichten
könnte das TAB vor Probleme stellen; eine Überfrachtung des Parlaments und der Abgeordneten ist dabei
nicht auszuschließen. Die interne Evaluation hat es bereits festgehalten: Das Berichterstatterprinzip läuft Gefahr, an seine Grenzen zu stoßen, wenn der Arbeitsaufwand der Berichterstatter zu groß wird. Zusätzlich
besteht die Gefahr, dass es zu Überschneidungen mit
dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages oder externen Politikberatungseinrichtungen
kommt.
Die Erfahrung zeigt, dass ein Teil der Anträge durch
das TAB aufgrund der unklaren Zielsetzungen der Antragsteller grundsätzlich schwer zu bearbeiten ist. Hier
bietet sich die themengeleitete Zusammenführung von
Untersuchungswünschen an, um Ziele systemisch und
damit auch im Sinne der Nachhaltigkeit besser zu beschreiben. Dafür spricht auch, dass das Herausarbeiten
von thematischen Gemeinsamkeiten verschiedener Anträge und das Überführen in zielorientierte fraktionsübergreifende Untersuchungsaufträge ein Kernmerkmal
der parlamentarischen Technikfolgenabschätzung, TA,
ist. Eine rein quantitative Erhöhung von Untersuchungsaufträgen steht dem entgegen. Allein bei der letzten Entscheidungsrunde wurde zum Teil aus Untersuchungswünschen mehrerer Fraktionen ein gemeinsamer und
bearbeitbarer Antrag formuliert. Das Wissen über begrenzte finanzielle Ressourcen fördert sinnvolle thematische Antragstellung zusätzlich.
Vor diesem Hintergrund ist die geforderte Mittelerhöhung mit einer Festlegung der Struktur des TAB über die
Vertragslaufzeit 2013 hinaus nicht zu akzeptieren. Damit
würde die Flexibilität des TAB wegfallen. Wenn wir uns
überfraktionell über den Stellenwert wissenschaftlicher
Politikberatung einig sind, werden wir in besonderen
Fällen auch flexible Lösungen zur Unterstützung dieser
Arbeit finden. Wir werden uns also immer wieder die
Frage stellen müssen, welche Veränderungen nötig sind,
um sich aktuellen Gegebenheiten anzupassen.
Darüber hinaus darf auch nicht vergessen werden,
dass die Mittel des TAB im laufenden Haushalt maßvoll
erhöht worden sind, um sicherzustellen, dass das TAB
seine Aufgaben bis 2013 verlässlich erfüllen kann. Das
ist in Zeiten knapper Haushaltskassen ein wichtiges Signal.
Bezüglich der Forderungen der Anträge, mehr Anstrengungen zu unternehmen, um das TAB öffentlich
noch sichtbarer zu machen, möchte ich aus der Bilanz
des TAB folgendes zitieren:
Die Rezeption der Ergebnisse parlamentarischer
TA geht also weit über den Bundestag hinaus: Verbände, Nichtregierungsorganisationen, wissenschaftliche und Bildungseinrichtungen, die Ministerien des Bundes und der Länder, Schüler sowie
Studenten verfolgen interessiert die Arbeit des TAB
und fragen deren Ergebnisse nach. Insgesamt ist
das Interesse an den TAB-Aktivitäten in zahlreichen
Fachöffentlichkeiten, aber auch in der breiteren
Öffentlichkeit, über die Jahre auf hohem Niveau
stabil geblieben. Obwohl das TAB keine intensive
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit betreibt, ist auch
die Medien- und Presseresonanz erfreulich, und die
Mitarbeiter des TAB werden häufig um Interviews
oder Stellungnahmen gebeten. Ein Indiz für die öffentliche Aufmerksamkeit, die TA beim Deutschen
Bundestag genießt, sind nicht zuletzt auch die regelmäßigen Anfragen von wissenschaftlichen, politischen und Bildungseinrichtungen an das TAB,
über Ergebnisse aus den TAB-Projekten auf Tagungen und Kongressen zu berichten. Erhebliches Interesse gilt auch der Organisation und der Rolle von
Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag generell. Dies zeigen an das TAB gerichtete
Anfragen, über Arbeitsweise und Erfahrungen mit
TA beim Deutschen Bundestag zu berichten. Auch
als Adresse für interessierte Besucher erfährt das
TAB Wertschätzung im In- und Ausland, wie zahlreiche Besucher aus Politik und Wissenschaft, aber
auch Studenten- und Schülergruppen belegen.
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Gerade
auch die Beispiele der letzen Zeit, etwa die Vorstellung
des Berichtes „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner
Gesellschaften - am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung“, haben das große Interesse
an Berichten des TAB gezeigt. Ich finde, wir können damit sehr zufrieden sein. Man wird mit wissenschaftlichen
Themen selbstverständlich nie die Leserzahl einer Boulevardzeitung erreichen; man darf aber auch nicht vergessen, dass es sich bei den TAB-Berichten um hochkomplexe und umfangreiche Dokumente handelt, die
nicht beliebig komprimiert und damit medientauglich
gemacht werden können.
Schlussendlich: Der Antrag der Grünen stellt aus
meiner Sicht eher eine generelle Abrechnung mit der Regierungspolitik dar, als das er sich auf das TAB bezieht.
Die Äußerungen, dass Technikfolgenabschätzung Kernkraftwerke verhindert hätte, und die Kritik an der Erforschung der Kernfusion sind so nicht mitzutragen. Es ist
sicherlich das gute Recht der Opposition, die Koalition
zu kritisieren. Der wissenschaftlichen Arbeit des TAB ist
dies allerdings nicht angemessen.
Das TAB haben wir vor über 20 Jahren gegründet.
Ziel war es, eine Institution zu schaffen, die uns in den
weitreichenden Themenstellungen unserer Zeit mit wissenschaftlichem Sachverstand zur Seite steht.
Dieser Thinktank des Parlaments hat sich in den letzten 20 Jahren national wie international einen guten Ruf
erarbeitet. Mit der Arbeit des TAB haben wir als Parlamentarier einen sehr aktiven und kreativen Partner, der
uns bei unserer Mitverantwortung für den gesellschaftlichen Wandel unterstützt.
Im Zeitalter digitaler Medien und Kommunikation erleben wir die Potenzierung von Informationsfluten. Daher werden insbesondere auch von uns Politikern
schnelle, kompetente und lösungsorientierte Entscheidungen erwartet. Genau deshalb müssen wir uns auch
immer wieder kritisch fragen, inwieweit das TAB seinen
Aufgaben noch gerecht wird.
Das TAB beschäftigt derzeit acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen.
Im Haushaltsplan ist dafür ein Etat von bislang jährlich
2 Millionen Euro enthalten. Für die institutionelle Förderung stehen derzeit 1,4 Millionen Euro und für die Vergabe von Gutachten an externe Experten 613 000 Euro
zur Verfügung. Das ist, wie ich finde, eine ordentliche
Summe, mit der bisher gute Ergebnisse erzielt werden
konnten.
Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Erhöhung der
Gelder für das TAB. Bereits im laufenden Haushalt 2011
hat es jedoch eine solche Erhöhung gegeben. Daher
stellt sich die Frage, ob die derzeit zur Verfügung stehenden Gelder für das Büro für Technikfolgenabschätzung nicht doch ausreichend sind. Eine solide Haushaltskonsolidierung darf bei der derzeitigen Lage nicht
aus den Augen gelassen werden. Aus meiner Sicht ist es
daher ratsam, mithilfe einer externen Evaluierung genauestens zu untersuchen, ob an dieser oder jener Stelle
Justierungsbedarf oder Nachsteuerungsbedarf bei der
Arbeit des TAB notwendig geworden ist.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, fordern in Ihrem Antrag unter anderem mehr Gelder für die
Öffentlichkeitsarbeit des TAB. Aber brauchen wir das?
Ich meine, wir brauchen das nicht. Das TAB erfüllt keinen öffentlichen Auftrag und ist eigens zur Unterstützung unserer Parlamentsarbeit geschaffen worden. Es
ist weder eine Art nationale Akademie noch ein Ethikrat.
Es ersetzt auch nicht die zahlreichen ExpertenanhörunZu Protokoll gegebene Reden
gen, die in den letzten Jahren die Arbeit der Parlamentarier bei Gesetzgebungsverfahren unterstützten. Das
TAB betreibt auch keine sozialethische Begleitforschung, keine explizite Risikoforschung und ist ebenso
nicht Teil eines Forschungsprogramms. Dafür greifen
wir auf andere Instrumente zurück.
Daher ist es eine berechtigte Frage, wie oft wir Parlamentarier oder auch die Bundesregierung die Dienste
des TAB tatsächlich in Anspruch nehmen und wie es um
die Zufriedenheit und Umsetzung bei den Auftraggebern
hinsichtlich der einzelnen Berichte steht.
Zusätzlich gilt es zu untersuchen, ob das TAB den bevorstehenden großen Zukunftsthemen in ausreichendem
Maße gewachsen ist. Nehmen wir beispielsweise die
derzeitige Energiewende und den Atomausstieg - ein
Thema, das unser Land und die Gesellschaft in den letzten Wochen maßgeblich geprägt und auch verändert hat.
Hier sind wir mit zahlreichen Fragestellungen technischer, gesellschaftlicher oder auch ethischer Natur konfrontiert. Wir als Politiker müssen diese jederzeit zufriedenstellend und vor allem schnell beantworten können.
Daher muss auch das TAB in Bezug auf seinen In- und
Output evaluiert und kritisch betrachtet werden.
Wie Sie sich sicherlich erinnern können, gaben hin
und wieder TAB-Berichte auch unserer Seite Anlass zu
Kritik. Es kam vor, dass Vertreter einzelner Fraktionen
die methodischen Grundlagen, die empirische Basis
oder bestimmte Schlussfolgerungen, die im Bericht gezogen wurden, bemängelten. Zudem wird immer wieder
kritisiert, dass die Berichte zu lange auf sich warten lassen. Hier gilt es aus meiner Sicht, wie bei jeder Institution, die schon so lange etabliert ist, die Frage zu stellen, ob die nötigen ursprünglichen Anforderungsprofile
noch erfüllt werden oder ob nicht doch bestimmte Nachjustierungen notwendig sind. Wir werden Ihrem Antrag
daher nicht zustimmen.
Anfang der Woche publizierte die „Süddeutsche Zeitung“ einen Aufsatz des Mediziners Dietrich Grönemeyer.
Er schreibt darin über den menschlichen Forschungsdrang und den Begeisterungswillen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihr Fach, der viele Ergebnisse, Technologien und Produkte erst ermöglich
hat. Gleichzeitig weist Professor Grönemeyer aber darauf hin, dass sich diese Wissenschaftler zu selten mit
den möglichen negativen Auswirken dieser neuen Technologien auseinandersetzen. „Die nötigen Sicherheitskonzepte werden immer erst in der Not, kaum aber vorausschauend entwickelt“, so schreibt Grönemeyer.
Leider hat Professor Grönemeyer mit dieser Aussage
Recht. Die schlimmen Vorfälle in Fukushima haben uns
dies leider wieder schmerzlich vor Augen geführt. Vor
einer realistischen Abschätzung der möglichen Folgen
der Atomkrafttechnik wurden dort, wie leider auch hier
in Deutschland, viel zu lange die Augen verschlossen.
Das war und ist verantwortungslos.
Aber zum Glück gibt es viele Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, die sich über die möglichen negativen wie positiven Auswirkungen von Technologie Gedanken machen. Diesen eigenen Wissenschaftszweig
nennt man Technikfolgenabschätzung. Ich bin sehr stolz
darauf, dass das deutsche Parlament vor über 20 Jahren
ein eigenes Büro zu diesem Thema eingerichtet hat, das
sogenannte TAB. Dort werden genau diese wichtigen
Fragen behandelt. Es freut mich auch sehr, dass die Notwendigkeit dieses Büros mittlerweile fraktionsübergreifend bestätigt wird. Ich weiß, dass einige Abgeordnete
dafür in ihrer Fraktionen ziemlich viel Überzeugungsarbeit verrichten mussten. Aber spätestens seit Fukushima
wächst auch in den konservativen Reihen die umfassende Erkenntnis, dass durch eine ernsthafte und frühzeitige Beschäftigung mit Chancen und eben auch den
Risiken allen Beteiligten viel Leid und Ausgaben erspart
werden kann. Denn nur wer die Risiken realistisch einschätzen kann, kann sich gegen diese wappnen und damit die Chancen der Technologie adäquat nutzen.
Stark beeindruckt hat mich zum Beispiel einer der
letzten TAB-Berichte mit dem Thema „Auswirkungen eines großflächigen Stromausfalls“. Hierbei untersuchen
die Verfasser im Auftrag des Bundestages, wie gut bzw.
schlecht Bereiche des täglichen Lebens wie zum Beispiel
die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung auf einen
Stromausfall vorbereitet sind. Und das Ergebnis ist niederschmetternd. So schreiben die Autoren:
Die Folgeanalysen haben […] gezeigt, dass bereits
nach wenigen Tagen im betroffenen Gebiet die flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung der
Bevölkerung mit ({0})notwendigen Gütern und
Dienstleistungen nicht mehr sicherzustellen ist.
Hier zeigt sich, wie verletzlich und abhängig wir in
unser heutigen modernen Welt doch sind. Die vielen
Teilnehmer bei der öffentlichen Vorstellung des Berichts
Mitte Mai zeigen uns, wie groß das Interesse dafür ist.
Die Erkenntnisse des Berichts stellen nicht nur Informationen für Politik und Gesellschaft zur Verfügung, sondern können sich auch zu einem Auftrag an die Politik
entwickeln: zum Beispiel dafür Sorge zu tragen und die
Voraussetzungen zu schaffen, dass beschriebene Szenarien möglichst nicht oder wenigstens abgemildert eintreten. Übersetzt für diesen Bereich wären das zum Beispiel
politische Initiativen zur Umgestaltung der Energieversorgung hin zu mehr Autarkie und Dezentralität.
TAB-Berichte nehmen oft gesellschaftliche Diskussionen vorweg. Dies haben wir bei den Berichten zur Nanotechnologie, der Fusionsforschung oder dem CERN gesehen. Das Parlament beschäftigt sich vorab also
durchaus mit möglichen Risiken von Technologien. Am
Ende liegt es aber natürlich an uns Abgeordneten, wie
wir mit den Informationen umgehen. Im Fall des Berichts Stromausfall, den ich Ihnen wirklich allen zur
Lektüre empfehlen kann, hoffe ich, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in den entsprechenden Ausschüssen
daraus die nötigen Konsequenzen ziehen.
Technikfolgenabschätzung ist ein wichtiger Bestandteil der Wissenschaft. Wir im Deutschen Bundestag sind
dabei bereits gut aufgestellt. Deshalb sollte es uns eigentlich leichtfallen, unsere europäischen Partner davon zu überzeugen, zum Beispiel für das europäische
Zu Protokoll gegebene Reden
8. Forschungsrahmenprogramm mehr Geld für den Bereich der Technikfolgenabschätzung zur Verfügung zu
stellen. Hier ist jetzt besonders die Bundesregierung gefragt auf europäischer Ebene tätig zu werden.
In unserem Antrag fordern wir unter anderem mehr
Geld für das TAB. Denn die Anzahl der vom Parlament
eingeforderten Berichte steigt ständig. In den nächsten
Monaten erwarten wir zum Beispiel Berichte zu so spannenden Themen wie Elektromobilität, Synthetische Biologie, Geoengineering oder ökologischem Landbau. Um
diese so unterschiedlichen Themen in der nötigen Tiefe
und Breite bearbeiten, braucht es aber auch die entsprechende Anzahl an Mitarbeitern. Insofern ist es nur konsequent, dass nach langen Jahren der Stagnation auch
die Mittel für das TAB steigen. Die diesjährige Erhöhung war ein erster Anfang. Es müssen aber, abhängig
vom Arbeitspensum, weitere folgen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird an diesem Thema dranbleiben.
Vor jetzt mehr als 20 Jahren wurde das Büro für Technikfolgenabschätzung ({0}) beim Deutschen Bundestag
gegründet und leistet seitdem einen hervorragenden
Beitrag für die Arbeit des Parlaments. Besonders anzuerkennen sind aus meiner Sicht die Qualität und die
hohe Zahl der bearbeiteten TA-Untersuchungen. Dass in
2010 ein neuer Höchststand von Projektvorschlägen erreicht wurde, zeigt die Bedeutung des Beratungsbedarfs.
Die Arbeit des TAB fördert sowohl das Verständnis für
potenzielle Auswirkungen und Folgen als auch die Entwicklungsmöglichkeiten von Technik und Wissenschaft.
Über die Jahre hinweg haben die Berichte des TAB die
Abgeordneten des Deutschen Bundestags insbesondere
dabei unterstützt, wichtige Entscheidungen auf aktueller
wissenschaftlicher Erkenntnis zu treffen. Darüber hinaus fanden die Berichte auch außerhalb der Politik im
öffentlichen Raum einen bemerkenswerten Anklang und
Nutzen, welcher an dieser Stelle in seiner Tragweite nur
schwer abzuschätzen ist.
Insofern ist es bedauerlich, dass der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen nur in Teilen die Qualität der
Arbeit des TAB würdigt. Die Beurteilung der Grünen,
dass der TAB vorwiegend den kostengünstigen zugänglichen wissenschaftlichen Mainstream wiedergebe, ist
aus meiner Sicht ebenso nicht nachvollziehbar, genausowenig wie die Kritik, dass überwiegend Hauptforschungsrichtungen in die Arbeit einbezogen werden.
Ebenso zu kritisieren ist am Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen die Forderung nach einem automatischen Aufwuchs der finanziellen Ausstattung nach Umfang der
Anforderungen. Dies führt nach meiner Auffassung
zwangsläufig zu einer Untersuchungsflut und damit zu
einem deutlichen Schwund der Qualität. Vielmehr müssen die Haushaltsmittel die Begrenzung beibehalten, um
das sehr wirkungsvolle Instrument der Politikberatung
vor Beliebigkeit und temporären Interessen zu schützen.
Aus diesem Grund ist auch der von der SPD geforderte
Aufwuchs der zu bearbeitenden TA-Untersuchungen abzulehnen. Die FDP legt einen höheren Wert auf Qualität
als auf Quantität und lehnt eine reine Erhöhung der Zahl
der TA-Untersuchungen ab. Inhaltliche Prioritäten sind
nach meiner Auffassung entscheidend. Der in den Anträgen von SPD und Grünen geforderten Aufstockung der
Haushaltsmittel für das TA-Büro wurde nun, nach Jahren der Stagnation, für das Haushaltsjahr 2011 entsprochen.
Mit Blick auf die Forderung von Grünen und SPD,
die Bundesregierung möge sich für die Sichtbarkeit des
TA auf internationaler Ebene einsetzen, weise ich darauf
hin, dass das TAB nicht nur ein aktives Mitglied des
„European Parliamentary Technology Assessment“Netzwerks ist, sondern auf der letzten EPTA-Konferenz
in Kopenhagen die deutsche Präsenz und Rolle überaus
positiv wahrgenommen wurde. Da beide Anträge weder
dem aktuellen Stand noch unserer grundlegenden Haltung entsprechen, stimmen wir den Anträgen nicht zu.
Der Radiologe Dietrich Grönemeyer hat jüngst in der
„Süddeutschen Zeitung“ zum notwendigen Umdenken in
der Wissenschaft nach Fukushima gesagt, dass es dabei
nicht um neue Bescheidenheit im Sinne der Begrenzung
wissenschaftlicher Neugier gehen könne. Der Forschung Maulkörbe aufzuerlegen, sei nicht wirksam und
gehe vor allem am Kern des Problems vorbei.
Was also ist das Problem, auf das uns menschliche
und ökologische Tragödien wie in Fukushima oder auf
der Tiefseebohrinsel „Deepwater Horizon“ stoßen? Das
Problem ist die einseitige Beantwortung von gesellschaftlichen Herausforderungen durch technologische
Großprojekte. Deren Lösungskompetenz wird alleine an
der Ingenieursleistung gemessen. Zudem ist damit aus
meiner Sicht oft ein anderes Problem eng verwoben: das
häufig durchschaubare, aber nicht sichtbar gemachte
ökonomische Interesse einflussreicher Lobbygruppen.
Technikbegeisterung und ökonomische Profite für partikulare Gruppen sind seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters mächtige Verbündete gewesen. Den Nimbus der
Aufklärung haben sie aber längst verloren und werden
nicht erst seit heute mit Forderungen nach ökologischer
Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit konfrontiert.
Trotzdem fördert diese Bundesregierung Projekte wie
aus einer anderen Zeit.
Sie unterschlägt dabei gefährlich oft, dass Großprojekte ja große Probleme lösen wollen, weshalb eine technische Lösungsmatrix nicht ohne ein entsprechendes
Gegenüber in der sozialen und politischen Wirklichkeit
auskommt. Aus diesem Grunde hat die Linke immer das
totale Schadensrisiko und die ungelöste Endlagerfrage
der Kernkraft kritisiert, das Milliarden-Euro-Grab ITER
abgelehnt und ausreichende öffentliche Erforschung der
Risiken der Nanotechnologien eingefordert. Aktuelle beunruhigende Ergebnisse zur Umweltgiftigkeit von Nanosilber zeigen beispielsweise, dass auch hier eine Zeitbombe tickt.
Was also leider zu häufig in der Politik fehlt, ist eine
umfassende Technikfolgenabschätzung des Einsatzes
von unbekannten oder mit einem bekannten gewissen Risiko ausgestatteten Materialien, Technologien oder Instrumenten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ehrgeizige Projekte wie Kernkraftwerke am Meeresufer in Fukushima, die alles an Hochtechnologie und
Hightechmaterial aufbietenden Tiefseebohrinseln, aber
auch die finanzmathematisch komplexen und sich auf
die Wirtschaft ganzer Staaten katastrophal auswirkenden Finanzderivate, sie alle lehren uns, dass hier wenig
über soziale und ökologische Folgeprobleme oder Krisenvorsorge nachgedacht worden ist.
Sie lehren uns schließlich auch, dass Technologieförderung von Glaubenssätzen getragen wird und nicht primär vom wissenschaftlichen Fortschritt. Wenn die Technologien zu Störfällen werden, dann im Kern häufig
nicht aufgrund von Technikversagen, sondern da sie
ohne ausreichende Vorsorge angelegt und überhaupt
nur eingesetzt werden, weil die politisch Verantwortlichen die Welt einseitig betrachten und sich der rationalen Begutachtung von sozioökologischen Risiken verweigern.
Nun ist wissenschaftliche Politikberatung in letzter
Zeit begehrt wie nie, wie die von der Regierung eingesetzte Ethik-Kommission zur Zukunft der Energie in
Deutschland zeigt. Sie wird zugleich heftig angegangen.
An der Stellungnahme der Akademie der Naturforscher
Leopoldina zum zukunftsfähigen Energiemix in Deutschland und den Empfehlungen des Ethikrats für eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik entzündete sich eine öffentliche Debatte, ob Wissenschaft
überhaupt Politik beraten sollte. Von Entmachtung der
Politik durch ihre Verwissenschaftlichung war die Rede.
Umgekehrt beklagten Forscherinnen und Forscher, die
andere Auffassungen als die aufgezeigten Studien vertreten, eine Politisierung des Wissenschaftsbetriebs.
Was beide Seiten übersehen ist, dass die genannten Tendenzen zwar etwas über die - ja gerade gewollte - Bedeutung des einen Bereichs für den jeweils anderen sagen, deswegen aber noch lange nichts über dessen
Arbeitsweise. Wissenschaft soll unterschiedliche Blickwinkel, Deutungsmöglichkeiten jenseits von tradierten
Pfaden und Verantwortung für Folgekosten aufzeigen,
die alle die Meinungsbildung von Politikerinnen und
Politikern unterstützen. Sie soll aber natürlich nicht
politische Entscheidungen ersetzen: Politisch kann man
entscheiden, ein Risiko einzugehen, wenn die Gefahren
beherrschbar und die erwarteten gesellschaftlichen Gewinne groß erscheinen. Nur soll kein Abgeordneter und
keine Abgeordnete sagen können, er oder sie hätte es
nicht anders gewusst.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung, das im Mittelpunkt der heute debattierten Anträge steht, kann einer
Diskussion um wissenschaftliche Unabhängigkeit hervorragend standhalten. Das liegt an seiner besonderen
Anlage. Denn es wird von einem außeruniversitären
Forschungsinstitut betrieben, das alleine über Personalfragen entscheidet. Weder Regierung noch Bundestag können sich da einmischen. Den Ruf der Unabhängigkeit hat sich das TAB in den letzten 20 Jahren
erarbeiten und halten können. Entsprechend sind viele
seiner Stellungnahmen in die parlamentarische Bearbeitung geflossen und auch für die Fachöffentlichkeit eine
begehrte Referenz. Es hatte sichtbare Anstöße gegeben
dafür, Energiespeichermedien als Vorbedingung für erneuerbare Energien zusätzlich zu fördern, das Potenzial
transgener Pflanzen nicht zu überschätzen und Risikoforschung zu Nanotechnologien ernsthaft anzugehen.
Zudem macht das große Interesse an öffentlichen Fachgesprächen wie zuletzt zu Perspektiven eines großflächigen Stromausfalls den Bundestag verstärkt zum Ort für
vorausschauende gesellschaftliche Debatten.
Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständlich, weshalb sich die Christdemokraten seit Jahren weigern, das Budget des TAB aufzustocken. Es erhält seit
seiner Gründung erstmals eine kleine Erhöhung. Dennoch wird sich nicht grundsätzlich an der Tatsache etwas ändern, dass zwei Drittel der von Ausschüssen und
Fraktionen eingereichten Anträge vom TAB nicht bearbeitet werden können. Gerade in Zeiten multipler Krisen
müsste es über alle Fraktionsgrenzen hinweg einen Konsens darüber geben, dass Technikfolgenabschätzung unsere Zukunft sichert! Wenn Politik, gerade christlichkonservative Politik, seriös sein will, sollte sie beiden
Anträgen zustimmen.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung existiert
nunmehr seit über 20 Jahren. Nach langer Debatte, die
schon in den 1970er-Jahren begann, konnte das TAB
1990 endlich seine Arbeit aufnehmen. Seitdem bietet es
meist qualitativ hochstehende und insbesondere interessensunabhängige Beratungsgrundlagen für dieses
Haus. Damit erhalten wir oft eine wertvolle Unterstützung für unseren Meinungsbildungsprozess, gerade auf
Gebieten, die sehr komplex sind und vor allem neuartige
technologische und sozioökonomische Sachverhalte betreffen.
Zu den zentralen Aufgaben des TAB gehört es, die Potenziale neuer Technologien zu skizzieren und gleichzeitig deren gesellschaftliche und ökologische Auswirkungen abzuschätzen. In dieser Aufgabe hat das TAB in den
letzen Jahren viele Entscheidungsfindungen maßgeblich
beeinflusst. Als Beispiele möchte ich hier die Fälle des
Raumgleiters Sänger II und die Bioethik nennen. Das
Sänger-II-Projekt illustriert sehr gut, wie die Untersuchungen des TAB dazu beitragen können, unsinnige Entwicklungen zu verhindern. Erst durch den TAB-Bericht
wurden grundlegende Fragen nach der Wirtschaftlichkeit der Entwicklung eines neuen Raumgleiters aufgeworfen. So konnten unnötige öffentliche Forschungsausgaben vermieden werden. Bei der Debatte um die
Bioethik haben die Berichte des TAB wichtige Hilfestellungen für eine differenzierte Meinungsbildung gegeben.
Die Arbeit des Parlaments deckt eine immer größere
Bandbreite an Themenfeldern ab. Gleichzeitig wird aus
fast allen Gebieten der Fachpolitik ein erhöhter Bedarf
an umfangreicher Technikfolgenabschätzung angemeldet. Leider bekommt das TAB seit nunmehr 15 Jahren einen unveränderten Finanzrahmen. Das Budget lag jahrelang bei 2,045 Millionen Euro jährlich. Real sorgte
die Inflation sogar für eine sinkende finanzielle Ausstattung. Deshalb musste das TAB aus Kapazitätsmangel allein in dieser Legislaturperiode zwei Drittel der AnfraZu Protokoll gegebene Reden
gen abweisen. Immerhin gab es im Haushalt 2011 einen
Inflationsausgleich.
Die mangelnde finanzielle Ausstattung führt dazu,
dass das TAB vorwiegend auf den wissenschaftlichen
Mainstream zurückgreifen kann. Wozu dies führt, konnten wir 2006 bei der Einschätzung des TABs zur Elektromobilität erleben. Der wissenschaftliche Mainstream tat
die Chancen der Elektromobilität mit Batterien als bedeutungslose Nischenanwendung ab. Das TAB kam zur
gleichen Auffassung, da ihm die Mittel für alternative
Untersuchungen fehlten. Kaum sechs Monate später
wurde die Elektromobilität zum politischen Mainstreamthema. Hätte das TAB damals die Kapazitäten gehabt,
auch alternative Quellen zu sichten und zu bewerten,
wäre womöglich eine andere Sichtweise herausgekommen.
Wer nun moniert, dass der Bundestag gerne die Gelder für eigene Institutionen aufbläht, dem sei vor Augen
geführt, dass das TAB eine erfolgreiche und wichtige Institution zur Vermeidung von Mittelverschwendung ist.
Das von mir bereits angesprochene Sänger-II-Projekt
hätte den Steuerzahler Milliarden gekostet. Wären die
Einwände des TAB zum ITER-Projekt gehört worden,
dann hätten wir auch dort Milliarden einsparen können
für eine Technik, die uns auf absehbare Zeit keinen energiepolitischen Nutzen bringen wird. Wenn es das TAB
schon in den 1950er-Jahren gegeben hätte, wäre vielleicht auch die Atomkraft nie zu diesem Milliardenprojekt geworden, von deren finanzieller Belastung noch
Generationen betroffen sein werden und von dem wir
uns erst heute, viele Jahrzehnte später, gemeinsam verabschieden.
Konkret wollen wir eine kontinuierliche Erhöhung
der finanziellen Ausstattung des TAB, um den steigenden
Anforderungen an eine erkenntnisgestützte Entscheidungsfindung gerecht zu werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die unabhängige Begleitforschung als festen Bestandteil in die Forschungsprogramme aufzunehmen und in besonders kritischen Bereichen sowie in der Projekt- und Ressortforschung grundsätzlich fünf Prozent der Mittel für die
Technikfolgenabschätzung zu reservieren. Die Abschätzung von Technikfolgen kann damit zum selbstverständlichen Bestandteil der Forschung werden.
Auf der internationalen Ebene soll sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die Technikfolgenabschätzung institutionalisiert wird, besonders auf der Ebene
der Europäischen Union, der OECD und der Vereinten
Nationen.
Das TAB bietet eine Fülle wertvoller Politikberatungen. Wir sollten in allen Fraktionen mehr noch als bisher die Empfehlungen des TAB in den politischen Entscheidungen berücksichtigen und dem TAB die nötige
finanzielle Ausstattung geben, uns kompetent und umfassend beraten zu können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6287, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/3414 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind
die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/3063. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Polarregionen schützen - Polarforschung stärken
- Drucksache 17/5228 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor. Sie sind auch
damit einverstanden.
Die Erforschung der Polarregionen übt seit über
200 Jahren eine ungebrochene Faszination auf die
Menschheit aus. Bereits Mitte des 18. Jahrhundert zog
es Forscher in die Arktis und Antarktis. Damals waren
die Motive für die waghalsigen Expeditionen im Norden
die Entdeckung neuer Landgebiete oder Wasserwege,
im Süden die Erforschung des neu entdeckten Kontinents Antarktika. Später kamen die Bezwingung der
geografischen Pole sowie neue Erkenntnisse für Geophysik, Ozeanografie, Glaziologie, Biologie und weitere
Wissenschaften hinzu.
Inzwischen ist die Bedeutung der Polarforschung
eine Umfassendere und für die gesamte Weltgemeinschaft Bedeutendere. Heute wissen wir, dass den Polarregionen eine maßgebliche Bedeutung in der Entwicklung des Weltklimas zukommt.
Für das europäische Klima spielt die Arktis eine entscheidende Rolle. Der Klimawandel ist eine der größten
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die Temperaturen steigen weiterhin an. Welche Folgen beispielsweise ein Auftauen des Permafrosts und die voraussichtlich damit einhergehende Freisetzung großer CO2Mengen haben wird, muss erst noch erforscht werden.
Auch die schonende und nachhaltige Nutzung der arktischen Ressourcen muss Gegenstand künftiger Forschung sein.
Untersuchungen betreibt die deutsche Polarforschung sowohl in der Arktis als auch in der Antarktis.
Seit 1980 wird sie mit großem Erfolg durch das AlfredWegener-Institut für Polar- und Meeresforschung koordiniert. Als zentrales Institut für die Polarforschung
leistet es heute in der Helmholtz-Gemeinschaft im Rahmen der programmorientierten Forschung interdisziplinäre Arbeiten von hohem internationalen Stellenwert in
den Polarregionen.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Polarforschung
hat sich seit ihrem Bestehen um dieses bedeutende Forschungsfeld - insbesondere im Hinblick auf die Nachwuchsförderung - verdient gemacht. In ihr finden sich
aktive Forscher aller Disziplinen vereinigt. Damit ist sie
ein wichtiges Instrument interdisziplinärer Koordination
und Zusammenarbeit. Kapazität und Expertise deutscher Polarforschung finden heute internationale Anerkennung.
Im heute zur Debatte stehenden Antrag fordert die
SPD die Bundesregierung auf, sowohl in der Bundesrepublik als auch im Rahmen des 8. Forschungsrahmenprogramms der EU ein eigenes Polarforschungsprogramm aufzunehmen.
Die Bundesregierung trägt der herausragenden Bedeutung der Polarforschung bereits heute mit einer Vielzahl von Projekten und Programmen und Initiativen
Rechnung. Das Bundesministerium für Bildung und
Forschung fördert die Polarforschung durch das Rahmenprogramm „Forschung für nachhaltige Entwicklung“ mit circa 10 Millionen Euro je Projektförderung
an außeruniversitären Institutionen und Universitäten.
Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung wird durch das Ministerium im Jahr 2011 mit
rund 94 Millionen Euro gefördert. Dazu gehört unter
anderem der Betrieb der Neumayer-Station III in der
Antarktis und des Forschungsschiffes Polarstern. Außerdem fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft
die Polarforschung zusätzlich mit einem eigenen
Schwerpunktprogramm „Antaktisforschung mit vergleichenden Untersuchungen in arktischen Eisgebieten“.
Insgesamt ist seit der vergangenen Legislaturperiode
die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
durch Maßnahmen erheblich ausgebaut worden: Mit
dem Pakt für Forschung und Innovation steigen die Zuschüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern geförderten Forschungseinrichtungen ({0}) sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft in den Jahren 2011 bis
2015 jährlich um 5 Prozent - hiervon profitieren indirekt
auch die DFG-Programme zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Vergangenes Jahr ging die Exzellenzinitiative in die
dritte Runde. Das Fördervolumen wurde um 30 Prozent
auf rund 2,7 Milliarden Euro mit einer Laufzeit bis 2017
gesteigert. Die Bundesregierung will mit der Fortsetzung der Exzellenzinitiative den Wissenschaftsort
Deutschland nachhaltig stärken, seine internationale
Wettbewerbsfähigkeit verbessern und Spitzenforschung
an deutschen Hochschulen sichtbar machen.
Die Promotionsstipendien der zwölf durch das Ministerium für Bildung und Forschung unterstützten Begabtenförderungswerke wurden qualitativ wie quantitativ
ausgebaut. Die Bedingungen für den wissenschaftlichen
Nachwuchs insgesamt sind in Deutschland daher so gut
wie nie. Davon profitiert auch die Polarforschung.
Eine weitergehende Verlagerung von Kapazitäten
und Mitteln zugunsten der Polarforschung könnte nur
zulasten anderer wichtiger Forschungsbereiche vollzogen werden. Dies erscheint uns in Anbetracht der Vielzahl bereits bestehender sowie in Planung befindlicher
Programme nicht angemessen.
Auch das Bundeswirtschaftsministerium fördert im
Bereich des Referates „Maritime Wirtschaft“ Verbundvorhaben zur Entwicklung von Verfahren für eine wirtschaftliche Nutzung des nördlichen Seeweges. Grundlage hierfür bildet eine verlässliche Eisvorhersage
sowie die Modellierung der meteorologischen und ozeanografischen Daten. Die Daten sollen anhand eines Datenassimilationssystems ausgewertet und für die Schiffroutenoptimierung zugänglich gemacht werden. Für
dieses Verbundprojekt, an welchem neben Unternehmen
auch das Alfred-Wegener-Institut sowie die Universitäten Bremen und Hamburg beteiligt sind, stellt das Ministerium 2,3 Millionen Euro zur Verfügung.
Innerhalb der Europäischen Union ist Deutschland
Mitglied des European Polar Board. Im Rahmen des
ERA-NET EUROPOLAR werden zahlreiche Projekte finanziell unterstützt. Viele von ihnen finden unter deutscher Beteiligung statt.
Im Zuge der Entwicklung der EU-Meerespolitik hat
die Europäische Kommission 2008 einen Aktionsplan für
die Arktis vorgelegt, der Vorschläge für detaillierte Entwicklungen in der arktischen Forschung enthält. Diese
Entwicklung soll in eine EU-Arktispolitik münden.
Auch der Ausbau der Infrastruktur für die Polarforschung wurde in den zurückliegenden Jahren durch das
Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell unterstützt. Dazu gehören die Anschaffung polartauglicher Flugzeuge und die Ausstattung der Neumayer-Station III für den Pilotbetrieb. Das durch das
Ministerium geförderte modulare multidisziplinare Meeresboden-Observatorium ({1}) zur Erfassung physikalischer und biogeochemischer Prozesse im Bereich des
Meeresbodens und der bodennahen Wasserschicht an
Kontinentalrändern schließt eine entscheidende Lücke
zwischen den geplanten, räumlich gebundenen verkabelten regionalen Observatoren und schiffsgestützten Momentaufnahmen. Das System ist in allen Meeresgebieten
einsetzbar.
Mit Blick auf die Forschungsschiffe hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung zugesagt, dem
Deutschen Bundestag eine Gesamtschiffstrategie vorzulegen. Ich bin davon überzeugt, dass die Erkenntnisse
des von der Bundesregierung selbst beim WissenschaftsZu Protokoll gegebene Reden
rat in Auftrag gegebenen Gutachtens „Empfehlungen
zur zukünftigen Entwicklung der deutschen marinen
Forschungsflotte“ hier nach Möglichkeit Eingang finden werden.
Wir debattieren heute einen Antrag der SPD-Fraktion
unter dem Titel „Polarregionen schützen - Polarforschung stärken“. Primär fordert die SPD darin ein fokussierendes Programm für Polarforschung - sowohl in
Deutschland als auch auf der Ebene der Europäischen
Union im 8. Forschungsrahmenprogramm.
Die Erforschung der Polargebiete steht heute noch am
Anfang, die zentrale Arktis gehört zu den am wenigsten
erforschten Regionen der Welt. Wissenschaft, Politik und
Wirtschaft sind sich aber der Bedeutung der Gebiete für
die Erforschung der Ursachen des Klimawandels und
anderer geopolitischer Entwicklungen durchaus bewusst. Die Forderung der SPD, die Polarforschung zu
stärken, ist daher grundlegend zu begrüßen. Jedoch teile
ich nicht die Meinung der SPD-Fraktion, dass wir hierfür neue Strukturen benötigen.
Deutschland ist im internationalen Vergleich eines
der Länder, das der Polarforschung die stärkste Aufmerksamkeit zukommen lässt und aufgrund der äußerst
erfolgreichen Forschung in diesem Bereich einen international führenden Ruf genießt. Auch in dem Antrag der
SPD wird dies festgestellt. Der Erfolg der deutschen Polarforschung ist nach der Analyse des Alfred-WegenerInstituts für Polar- und Meeresforschung ({0}) zum einen auf die langjährigen Forschungserfahrungen, zum
anderen aber auch auf die gute Ausstattung mit wissenschaftlichen Infrastrukturen und Großgeräten - beispielsweise der Forschungseisbrecher Polarstern, die
Neumeyer Station III oder das Polarflugzeug 5 - zurückzuführen. Noch 2011 soll das Polarflugzeug Polar 6 in
Betrieb gehen, über einen Nachfolger für den Forschungseisbrecher Polarstern wird momentan intensiv
diskutiert.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
fördert das Alfred-Wegener-Institut 2011 mit rund
94 Millionen Euro. Darüber hinaus unterstützt das
Ministerium im Jahr 2011 die nationale Polarforschung
an außeruniversitären Institutionen und Universitäten
mit circa 10 Millionen Euro aus dem Rahmenprogramm
„Forschung für nachhaltige Entwicklung“ ({1}).
Im Zuge der Verhandlungen zum 8. Forschungsrahmenprogramm hat die Bundesregierung das Ziel
verfolgt, die bisher erfolgreiche Förderung der Polarforschung im Umweltteil des Rahmenprogramms fortzusetzen. Des Weiteren werden auch in Zukunft diverse europäische Förderinstrumente und Verfahren genutzt
werden, um die deutsche mit der europäischen Polarforschung zu koordinieren. Eine enge Vernetzung der nationalen Forschung mit den Bemühungen der internationalen Partner ist eine Voraussetzung für deren Erfolg.
Im Moment werden durch die deutsche Polarforschung Untersuchungen sowohl in der Arktis als auch in
der Antarktis durchgeführt. Ein Schwerpunkt liegt derzeit aber auf der Arktisforschung, da dort jetzt und auch
in Zukunft die größten Veränderungen zu erwarten sind.
Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Meinung
von Frau Professor Karin Lochte, Direktorin des AWI,
die diese Schwerpunktsetzung als durchaus gerechtfertigt ansieht. Das Bundesministerium für Bildung und
Forschung wird nun diesen Entwicklungen und Prognosen Rechnung tragen und veröffentlicht voraussichtlich
noch in diesem Jahr eine Programmschrift „Arktisforschung“. Aber auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt der
Fokus auf der Arktis liegt, wird die Antarktisforschung
nicht in Vergessenheit geraten.
Im Rahmen der Arktisforschung soll insbesondere
zwei zentralen Fragen nachgegangen werden. Für die
Entwicklung des globalen Klimas sind zum einen die Ursachen und Folgen der Erwärmung der Arktis und der
Rückgang des Land- und Meereises von großer Bedeutung. Zum anderen trägt die Forschung über die Chancen und Risiken der Nutzung der in der Arktis vorhandenen unerschlossenen natürlichen Ressourcen zur
nachhaltigen Entwicklung bei.
Neben dem Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert auch das Bundeswirtschaftsministerium
die deutsche Polarforschung. Das Auswärtige Amt hat
im März dieses Jahres eine Konferenz unter dem Titel
„Klimawandel, Völkerrecht und Arktisforschung Rechtliche Aspekte der Meeresforschung im Arktischen
Ozean“ veranstaltet. Im Zuge der Konferenz wurde gemeinsam mit den Partnernationen erörtert, unter welchen Bedingungen die Arktisforschung heute und in Zukunft betrieben werden kann.
Die Bemühungen der Bundesressorts zeigen, welche
Bedeutung der Polarforschung bereits heute beigemessen wird. Dieses Niveau gilt es zu halten bzw. soweit es
möglich ist, zu erhöhen. Meines Erachtens benötigt die
deutsche Polarforschung hierfür aber keine neuen
Strukturen.
Am 15. Juni ist das deutsche Forschungsschiff, „Polarstern“ in Richtung arktischer Ozean in See gestochen. Während der fast viermonatigen Reise werden
über 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus
sechs Ländern an drei Fahrtabschnitten teilnehmen. Dabei untersuchen sie zum Beispiel wie sich über die Jahre
die Meeresströmungen und die Tier- und Pflanzenwelt
zwischen Spitzbergen und Grönland verändern. Hierbei
sollen zum Beispiel Rückschlüsse auf den Einfluss der
polaren Meere auf den globalen Ozean gezogen werden.
In einem zweiten Fahrtabschnitt soll untersucht werden,
wie Organismengemeinschaften auf die fortschreitende
Ozeanerwärmung reagieren. Im letzten Fahrtabschnitt
wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
physikalische, biologische und chemische Untersuchungen zur abnehmenden Meereisbedeckung unternehmen.
All diese Experimente fallen unter die Polarforschung.
Wie man an diesen Beispielen exemplarisch sehr gut
sieht, ist dieser Forschungszweig sehr vielfältig. Er ist
grundsätzlich multidisziplinär und international aufgestellt. An ihm beteiligt sind unter anderem WissenschaftZu Protokoll gegebene Reden
lerinnen und Wissenschaftler der Geografie, Kartografie,
Geologie, Mineralogie, Geophysik, Geodäsie, Ozeanografie, Meteorologie, Biologie, Geoökologie, Anthropologie, Ethnologie, Medizin, Physik und zahlreicher Technikwissenschaften.
Deutschland ist seit langem ein wichtiger Akteur im
Bereich der Polarforschung. Die erste deutsche Nordpolarexpedition fand bereits 1868 statt. Viele Expeditionen scheiterten damals an der ungeeigneten Ausrüstung.
So fehlten insbesondere polartaugliche Schiffe. Für die
erste deutsche Südpolarexpedition von 1901 bis 1903
wurde extra ein für die polaren und eisbedeckten Meeresgebiete spezialisiertes Forschungsschiff gebaut. Es
war damals eines der modernsten Forschungsschiffe der
Welt.
Bei den ersten Polarreisen war der Drang zur Entdeckung bis dahin unbekannter Regionen der Hauptbeweggrund. Das änderte sich mit der Zeit. Mehr und
mehr wurde den Beteiligten klar, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse bezüglich der Polarregionen wichtige
Rückschlüsse auch für den Rest der Erde zulasen konnten. So hatte zum Beispiel die letzte Expedition des deutschen Polarforschers Alfred Wegener Anfang des
20. Jahrhunderts das Ziel, aus Messungen des grönländischen Inlandeises Rückschlüsse auf das Klima in Mitteleuropa zu ziehen.
Die Polargebiete spielen bei der Klimasteuerung der
Erde eine wichtige Rolle. Schon deshalb ist es richtig,
dass Deutschland die Polarforschung substanziell unterstützt. Zur Koordinierung und Bereitstellung eines
großen Teils der benötigten Infrastruktur ist in Deutschland das Alfred-Wegener-Institut ({0}) in Bremerhaven
zuständig. Es unterhält zum Beispiel Polarforschungsstationen, Polarforschungsflugzeuge und die bereits genannte „Polarstern“. Darüber hinaus arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am IFM Geomar in
Kiel sowie an Max-Planck-Instituten bzw. Universitäten
an diesem so wichtigen Forschungsthema. Im Ganzen ist
Deutschland in diesem Bereich sehr gut aufgestellt.
Dennoch braucht dieser Forschungszweig weiterhin
eine kontinuierliche finanzielle Unterstützung. Insbesondere die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses erscheint mir hierbei ausbaufähig.
Um in den Polargebieten zu forschen, wird besondere
Infrastruktur benötigt. Die Schiffe, Flugzeuge, Unterwassergeräte und Bodenstationen müssen extremen
Temperaturen trotzen und gleichzeitig höchste Ansprüche des wissenschaftlichen Arbeitens ermöglichen.
Keine einfache Aufgabe. Aber das deutsche Know-how
und die über hundertjährigen Erfahrungen zahlen sich
hierbei aus. So ist zum Beispiel die „Polarstern“, trotz
dieses 30-jährigen Einsatzes immer noch der einzige
Forschungseisbrecher weltweit, der beide Pole befährt
und ganzjährig einsetzbar ist. Für dieses „wissenschaftliche Arbeitstier“ muss nun bald Ersatz gefunden werden.
Anfang des Jahres konnte man in „Nature“ lesen, dass
das „Polar Research Board“ der amerikanischen „National Academy of Science“ in ihrem neuen Bericht dazu
auffordert, die Forschung an den beiden Polen stärker zu
verzahnen. Durch mehr „bipolare“ Forschung erhoffen
sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
schnellere Ergebnisse über die Auswirkungen des Klimawandels. Auch der deutsche Wissenschaftsrat hat in seiner aktuellen Stellungnahme zu den deutschen Forschungsschiffen darauf hingewiesen, dass wir zeitweise
zwei eisbrechende Forschungsschiffe brauchen, um beide
Polegebiete ganzjährig zu beforschen.
Meine Damen und Herren, sie sehen, unsere Forderung im hier vorliegenden Antrag nach mehr bipolar
einsetzbarer Forschungsinfrastruktur kommt direkt aus
der Wissenschaft. In Zeiten, in denen wir uns sowieso
über einen Neubau Gedanken machen müssen, sollten
wir uns diesen Überlegungen deshalb nicht verschließen. Insofern hat es mich gefreut, dass Bundesministerin
Schavan für die nächsten Jahre 650 Millionen Euro für
die Erneuerung der Forschungsflotte angekündigt hat.
Leider stammt dieser Satz aus dem Jahre 2008. Deshalb
die konkrete Frage, Frau Schavan: Wann genau gibt es
denn nun einen Nachfolger für die „Polarstern“?
Logisch ist, dass Deutschland die Polarforschung
nicht alleine stemmen kann. Hier ist ein Mehr an europäischer Förderung notwendig. Leider zeigt das scheinbare Scheitern des europäischen Forschungseisbrechers
„Aurora Borealis“, dass auf diesem Gebiet noch einiger
Verbesserungsbedarf besteht. Immerhin hat die Bundesrepublik bereits über 5 Millionen Euro in eine Machbarkeitsstudie zur „Aurora Borealis“ gesteckt. Die Bundesregierung muss deshalb auf europäischer Ebene dafür
sorgen, dass es in Zukunft verlässliche Zusagen von unseren europäischen Partnern in diesem Bereich gibt.
Und noch eine dringende Aufgabe habe ich für die
Bundesregierung. Sie muss sich verstärkt dafür einsetzen, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
in der Arktis Bewegungs- und Arbeitsfreiheiten behalten. Denn es besteht die ernsthafte Befürchtung, dass
durch die Erderwärmung bei den Anrainerstaaten wirtschaftliche Interessen in den bisher eisbedeckten Gebieten geweckt werden, die wir sehr kritisch sehen. Als
Konsequenz erleben bereits heute Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, dass ihnen der Zugang zu Teilen
der Polargebiete verwehrt wird. Hier muss unbedingt
eine internationale Lösung gefunden werden.
Die Polarforschung ist nicht nur ein sehr spannendes
Thema, sondern berührt elementare Fragen unseres
Wissens über das Klima. Eine breite Unterstützung für
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von uns,
den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, wäre deshalb sehr wünschenswert. Ich bitte Sie deshalb, unserem
Antrag zuzustimmen.
Deutschland nimmt in der Polarforschung einen führenden Platz ein, für dessen Erhalt die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den unterschiedlichsten
Einrichtungen exzellente Forschung leisten. Neben dem
Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meereswissenschaften, AWI, dem Leibniz-Institut für Meeresforschung an der Universität Kiel, IFM-GEOMAR, der
Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe,
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
BGR, basiert die deutsche Polarforschung auf den zahlreichen Universitätsinstituten und den Kooperationen
untereinander. Die deutsche Polarforschung konnte dabei stets auf eine gute Infrastrukturausstattung zurückgreifen und sowohl in der Arktis als auch der Antarktis
umfassende Untersuchungen betreiben. In Ergänzung zu
den eigenen Forschungsstationen und For-schungsschiffen stützt sich die deutsche Polarforschung auf Kooperationen und die Koordination mit internationalen
Partnern. Für eine stetige Verbesserung der Polarforschung hatte die FDP bereits vor vier Jahren, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zum Internationalen Polarjahr 2007/2008, einen Antrag
eingereicht. Wir forderten damals als zentrale Anliegen
die Gewinnung und Förderung von wissenschaftlichem
Nachwuchs, ein Forschungsprogramm sowie eine Verstärkung der europäischen und internationalen Koordination. Unseren Antrag haben Sie damals abgelehnt.
Ein Teil unserer Forderungen hat sich dennoch in den
letzten vier Jahren durchgesetzt.
Mit Ihrem Antrag wagen Sie nun eine eigene Schwerpunktsetzung. Grundsätzlich kann ich der Zielsetzung
Ihres Antrags nur zustimmen. Denn auch für die FDP
bleibt es nach den erreichten Verbesserungen ein Anliegen, die Polarforschung auf hohem Niveau zu halten
und weiter zu stärken. Jedoch verirrt sich, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihr Antrag bereits mit der ersten Forderung in das 8. Forschungsrahmenprogramm der EU, wo sie meines Erachtens keinen
Platz finden darf. An dieser Stelle bewirkt die Etablierung eines eigenständigen Polarforschungsprogramms
eine Auflösung des europäischen Rahmenprogramms.
Dabei ist die Förderung der Polarforschung auch innerhalb dieses europäischen Förderinstruments möglich.
So werden europäische Projekte im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU bereits innerhalb des Schwerpunktes Umwelt nach ihrem Nutzen und der Qualität gefördert. An anderer Stelle fordern Sie dann, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die Bundesregierung dazu auf, sich für internationale Vereinbarungen einzusetzen, die die Freiheit der Forschung verbriefen. Dabei scheint Ihnen entgangen zu sein, dass die
Bundesregierung in der Internationalen Arktiskonferenz
von 2011 den ersten Schritt in diese Richtung bereits
längst getan hat.
Auch in der von Ihnen geforderten internationalen
Vernetzung, insbesondere auf europäischer Ebene, sind
wir bereits sehr gut aufgestellt. Die Kooperation und
Koordination funktionieren. Grundlegend aber möchte
ich einen für mich zentralen Punkt anfügen, der in Ihren
Forderungen nur eine beiläufige Erwähnung findet.
Denn der Herausforderung der Nachwuchsgewinnung
und der Nachwuchsförderung kann nicht mit einem Polarforschungspreis für junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, wie Sie ihn fordern, begegnet werden.
Dieses Thema verdient mehr Aufmerksamkeit, denn
ohne die große Anzahl an Forschenden ist die Unterhaltung zweier Forschungsschiffe ebenso wie die Stärkung
der deutschen Polarforschung nicht möglich. In Ihrem
Antrag sind einige richtige Ansätze zu finden, die mir
zeigen, dass wir zu Fragen der Polarforschung dicht
beieinanderliegen. Dennoch bleiben Ihre Forderungen
aus meiner Sicht hinter dem aktuellen Stand zurück.
Vom Namensgeber des großen deutschen Polarforschungsinstitut stammt das Zitat: „Wie gleichgültig geht
die Natur über unsere Leistungen hinweg.“ Schaut man
sich die Veränderungen in den Polarregionen an, dann
kann man das Zitat getrost umdrehen: „Gleichgültig gehen wir mit unseren Leistungen über die Natur hinweg.“
Das ewige Eis ist nicht mehr ewig. Der Mensch, und
das ist unzweifelhaft, hat das sensible Gleichgewicht des
polaren Klimas beeinflusst. Die Polarforschung erkundet die Auswirkungen dieser klimatischen Veränderungen auf die Polarregionen und kann dadurch Rückschlüsse auf das Verhalten der übrigen Teile der Erde
ziehen. Die lange Tradition der deutschen Polarforschung begründete sich zu Alfred Wegeners Zeiten auch
mit der Lust, an Orte zu gelangen, die kein Mensch vorher betreten hatte, und die dortigen Umweltbedingungen
zu erforschen. Heute fahren jedoch selbst Kreuzfahrtschiffe in die arktischen Regionen, und Touristengruppen besichtigen jahrzehntealte Forschungsstationen.
Die heutige Polarforschung ist weniger von Entdeckerdrang getrieben als vielmehr von der Notwendigkeit,
über die Abläufe des menschengemachten Klimawandels und deren Folgen möglichst genau Bescheid zu wissen.
Diese Forschungsziele sind im Antrag der Kolleginnen und Kollegen gut beschrieben. Ebenso wird ausführlich dargestellt, welche Forschungsausstattung die
hiesigen Institute zur Verfügung haben und dass diese
durchaus globales Spitzenniveau beanspruchen kann.
Wir erinnern uns nicht nur an die Begleitung einer Forschungsreise mit der „Polarstern“ durch Mitglieder des
Forschungsausschusses, sondern auch an die hitzigen
Debatten um das Lohafex-Experiment mit Eisendüngung im Südatlantik. Wir unterstützen die Forderung des
Wissenschaftsrates und der SPD-Kolleginnen und -kollegen, diese herausragenden Infrastrukturen zu erhalten
und mit einer abgespeckten Variante eines Forschungseisbrechers ein zweites Polarforschungsschiff im europäischen Rahmen zu bauen und zu betreiben.
Uns erstaunt jedoch, dass der Antrag die großen Probleme, die etwa die Präsidentin des AWI, Frau Professor
Lochte, immer wieder anspricht, vollkommen außen vor
lässt: Mit dem zunehmenden Wegschmelzen der Eisdecken wird insbesondere die Arktis immer attraktiver für
die wirtschaftliche Erschließung. Hier wird mehr als ein
Fünftel der unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen
vermutet. Und auch die Wege über die Nordost- und die
Nordwestpassage werden mit der Eisfreiheit seit 2007
für Handelsschiffe attraktiv. Dies ist der Grund, warum
die Anrainerstaaten der Arktis ihre Claims abstecken,
warum sie eine restriktive Genehmigungspraxis für Forschungsanliegen aus Drittstaaten pflegen. Dies ist auch
der Grund, warum die Europäische Union bisher keine
gemeinsame Linie, geschweige denn eine gemeinsame
Forschungsstrategie für die Arktis gefunden hat. Ähnlich wie für die Antarktis sollten der Forschung Vorrang
Zu Protokoll gegebene Reden
eingeräumt und die wirtschaftliche Nutzung beschränkt
werden. Hier ist jedoch der blinde Fleck der Debatte:
Einerseits strebt Deutschland explizit aus wirtschaftlichen Gründen nach mehr Einfluss in der Region. Es
reicht ein Blick in die einschlägigen Formulierungen des
Auswärtigen Amts bzw. des Verteidigungsministeriums.
Man sei auf Rohstoffe aus der Region dringend angewiesen. Andererseits sei die Bundesregierung, wie Außenminister Westerwelle auf der letzten Arktiskonferenz
seines Hauses darstellte, an nichts außer Forschungsfreiheit und dem Schutz der polaren Umwelt interessiert.
Diese Positionen passen nicht zusammen und widersprechen sich sogar. Sie passen noch weniger, wenn man
bedenkt, dass es um die Ausbeutung von fossilen Brennstoffreserven geht, deren Nutzung den von Forschern
festgestellten und beklagten Klimawandel weiter beschleunigen würde.
Die Bundesregierung sollte zu einer nationalen und
europäischen Strategie zur Erforschung und zum Schutz
der kostbaren Umwelt der Polarregionen beitragen.
Wenn sie in dieser Hinsicht Zielkonflikte zwischen Forschung, Umweltschutz und Rohstoffhunger abgewogen
hat, dann lassen sich auch Investitionsentscheidungen
wie die für ein neues europäisches Forschungsschiff auf
einer besseren Grundlage treffen. Bisher fehlt eine solche Strategie nicht nur der Bundesregierung, sondern
auch der SPD-Fraktion. Ihr Antrag ist überschrieben:
„Polarregionen schützen - Polarforschung stärken“. Im
Antrag ist von Schutz leider keine Rede. Die Bemühungen um die Forschung können wir unterstützen.
Wir begrüßen die Initiative der SPD-Kolleginnen und
-Kollegen, die Polarforschung auf die Tagesordnung des
Bundestages zu setzen. Arktis und Antarktis sind für die
Forschung faszinierend und von großer Bedeutung;
gleichzeitig sind diese Regionen hochsensibel und gefährdet. Angesichts der globalen Ressourcenverknappung wächst das wirtschaftliche Interesse an den Polarregionen, insbesondere an der Arktis. Mit steigenden
Rohstoffpreisen und durch das dramatische Abschmelzen der Eisdecke erscheint die Exploration schwer zugänglicher Reserven an Öl, Gas, Gold, Zink oder seltenen Erden zunehmend rentabel. Der Wettlauf der
Anrainerstaaten, ihre Ansprüche geltend zu machen, hat
längst begonnen. Für diese sensible Region müssen
Schutzmechanismen gegen eine zerstörerische Ressourcenausbeutung etabliert werden, am besten durch einen
Arktis-Vertrag in Anlehnung an den Antarktis-Vertrag
aus dem Jahre 1959. Meine Fraktion, Bündnis 90/Die
Grünen, wird in Kürze dazu einen entsprechenden Antrag einbringen.
Die Möglichkeiten, Grundlagenforschung in der Arktis zu betreiben, müssen uneingeschränkt erhalten bleiben; denn den Polarregionen kommt für die Klima- und
Erdsystemforschung eine Schlüsselrolle zu. Von allen
Regionen der Erde reagieren die Polargebiete am
schnellsten auf die globalen Veränderungen. Arktis und
Antarktis sind die empfindlichsten Seismografen des
Klimawandels, und nach Ansicht der Wissenschaft werden die Entwicklungen der kommenden fünf bis zehn
Jahre besonders relevant werden. Die interdisziplinäre
Erforschung der Polargebiete, der Polarmeere, der
Landmassen und der Atmosphäre, ihr heutiger Zustand
und ihre Geschichte liefern entscheidende Daten und Informationen, um zuverlässige Klimamodelle zu erarbeiten und in der Biodiversitätsforschung voranzukommen.
Deutschland ist mit dem Engagement des AlfredWegener-Instituts in Bremerhaven, des IfM-GEOMAR in
Kiel und etlichen weiteren außeruniversitären und universitären Forschungsinstituten in der Polarforschung
bislang hervorragend positioniert und hat dadurch ein
beachtliches internationales Renommee. Aufgrund der
Globalität der Herausforderung Klimawandel, der gemeinsamen Verantwortung für die Polarregionen, aber
auch wegen der hohen Kosten ist die internationale Kooperation in der Polarforschung besonders wichtig und
richtig. Auch hier kann konstatiert werden, dass die
deutsche Polarforschung gut in internationale Kooperationen eingebunden ist. Neben den internationalen Forschungsteams auf der „Polarstern“ möchte ich hier beispielsweise die Koldewey-Station in Ny-Ålesund auf
Spitzbergen erwähnen, die Bestandteil der deutsch-französischen Forschungsbasis ist, oder die deutsch-russische Zusammenarbeit in der Laptewsee, aus dem das
deutsch-russische Otto-Schmidt-Labor für Polar- und
Meeresforschung und ein gemeinsamer deutsch-russischer Masterstudiengang „Angewandte Polar- und
Meereswissenschaften“ entstanden ist. Diese internationalen Kooperationen sollten gestärkt und systematisch
weiterentwickelt werden.
Wer will, dass Deutschland bei der Erforschung des
Klimawandels eine Vorreiterrolle übernimmt, muss dafür heute die richtigen forschungspolitischen Weichen
stellen. Das betrifft in erster Linie die Forschungsinfrastruktur. Denn um Polarforschung auf hohem Niveau zu
betreiben, ist eine leistungsstarke Infrastruktur unabdingbar. Dazu gehören Forschungsstationen, Beobachtungssysteme, vor allem aber eisgängige Forschungsschiffe, ohne die weder die Forschungsstationen
versorgt noch die automatischen Beobachtungssysteme
eingerichtet und gewartet werden können. Aufgrund der
kritischen Masse an Infrastrukturen, die für hervorragende Forschung notwendig sind, sollten wo immer
möglich internationale Kooperationen angestrebt werden.
Mit dem Forschungseisbrecher „Polarstern“ verfügt
die deutsche Polarforschung über eines der leistungsfähigsten Polarforschungsschiffe der Welt. Die „Polarstern“ wird für die gesamte Bandbreite der Meeresforschung in der Arktis und Antarktis eingesetzt und dient
für die vor zwei Jahren eingeweihte Antarktisstation
Neumayer III und die Koldewey-Station auf Spitzbergen
als Versorgungsschiff. Die „Polarstern“ ist bereits seit
1982 in Betrieb und nähert sich allmählich der Grenze
für ihre schiffbaulich und wirtschaftlich sinnvolle Nutzung. Obwohl die „Polarstern“ nach der Generalüberholung 1998 bis 2002 gut in Schuss ist, steigen die Reparaturanfälligkeit und die Betriebskosten mit jedem
Betriebsjahr.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist dringend notwendig, den Neubau einer zeitgemäßen Variante der „Polarstern“ auf den Weg zu bringen. Forschungsschiffe kann man nicht aus dem Hut
zaubern; das hat lange Vorlaufzeiten. Auch die Finanzierung ist langfristig sicherzustellen. Damit gilt es auch
sich von der Illusion zu verabschieden, die „Aurora Borealis“ könne die „Polarstern“ ersetzen. Die „Aurora
Borealis“ als gemeinsames europäisches Großprojekt
wird kurz- und mittelfristig nicht zu verwirklichen sein.
Ihre Realisierung steht mehr denn je in den Sternen,
nachdem die Kostenschätzungen explodiert sind und
entscheidende mögliche Partner wie zum Beispiel Norwegen sich nicht beteiligen wollen.
Wenn bis 2016 das Nachfolgeschiff für die „Polarstern“ fertiggestellt wäre und die Betriebszeit der „Polarstern“ für drei bis fünf Jahre verlängert würde, könnten für eine begrenzte Zeit zwei eisbrechende
Forschungsschiffe parallel zur Verfügung stehen und
zeitraubende und kostenintensive Transferfahrten vermieden werden. So könnte an beiden Polen gleichzeitig
geforscht werden. Die Möglichkeit ganzjähriger Forschung stellt eine einmalige Chance für die Polarforschung dar, gerade in den Jahren, die in den Polarregionen für die Erforschung des Klimawandels von
entscheidender Bedeutung sind. Diese Chance sollten
wir im Interesse der Polarforschung und aus Verantwortung für die globale Herausforderung Klimawandel ergreifen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5228 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge
Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz vor militärischem Fluglärm
- Drucksachen 17/5206, 17/5918 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({1})
Joachim Spatz
Inge Höger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor. Sie sind folglich
damit einverstanden.
In Ihrem Antrag zur Verbesserung des Schutzes vor
militärischem Fluglärm verweist die Linke auf das im
Koalitionsvertrag von Union und FDP vereinbarte
gleichlautende Ziel. Dort haben wir auf Seite 32 festgelegt:
Das Fluglärmgesetz werden wir so ändern, dass
Anwohner von Militärflughäfen bei den gleichen
Grenzwerten Anspruch auf Erstattung von Lärmschutzkosten haben wie an Verkehrsflughäfen.
Dieses Ziel verfolgen wir weiter, und wir werden es
auch umsetzen. Die Vorbereitungen für die Gesetzesänderung laufen. Da die Lärmschutzbereiche um Flughäfen nach der letzten Novelle von 2007 nicht mehr durch
den Bund, sondern durch die Länder festgesetzt werden,
ist dafür aber einiges an Abstimmung erforderlich.
Wann dies im Parlament behandelt wird, ist daher noch
nicht absehbar.
Da ich selber aus der Westpfalz komme, die im Antrag
als eine der besonders lärmbelasteten Regionen genannt
wird, habe ich noch einige weitere Anmerkungen.
Zunächst: Ja, die Belastung durch militärischen
Fluglärm ist ein Problem, mit dem auch ich mich ständig
befassen muss. Denn in meinem Wahlkreis liegen
Ramstein mit der dortigen NATO-Airbase und Landstuhl
mit dem US-Militärkrankenhaus und der dazugehörigen
Hubschrauberbasis. Ich finde es aber bemerkenswert,
dass sich die Antragsteller ausschließlich auf amerikanische Militärstützpunkte beziehen. Natürlich sind die
US-Streitkräfte aber nicht die einzigen Verursacher von
Fluglärm in Deutschland. Der scheint hier also nur Mittel zum Zweck zu sein, antiamerikanische Stimmungen
zu bedienen und die Bündnispolitik anzugreifen, die seit
Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein Grundstein ihrer Sicherheit gewesen ist. Es ist zwar richtig,
dass etwa die Airbase Ramstein in den vergangenen
Jahren ausgebaut worden ist - übrigens nach gerichtlicher Prüfung von Klagen durch Anwohner und Nachbargemeinden bis hinauf zum Oberverwaltungsgericht
Koblenz. Insofern besteht hier kein Rechtsdefizit, wie
es der Antrag suggeriert. Zudem entsprechen die
Lärmschutzvorgaben für den erweiterten Stützpunkt
bereits denen für zivile Flughäfen nach dem 2007 novellierten Fluglärmgesetz.
Als Beispiel für eine Ungleichbehandlung eignet
sich Ramstein also schon einmal überhaupt nicht, zumal auch bei den hauptsächlich dort eingesetzten
Flugzeugen vom Typ C-5 und C-130 zunehmend neuere
Varianten mit leiseren Triebwerken zum Einsatz kommen. Erst vor wenigen Wochen ist bei einer Expertenanhörung im Kreistag Kaiserslautern noch einmal festgestellt worden, dass die Messwerte in den umliegenden
Gemeinden unterhalb der Lärmprognose liegen, die
Grundlage für die Genehmigung des Ausbaus war. Die
Zahl der Nachtflüge liegt ungefähr bei einem Zwanzigstel dessen, was beispielsweise die Anwohner des zivilen
Flughafens Köln-Bonn aushalten müssen. Demnächst
wird auch der Bodenlärm in unmittelbarer Nähe des
Stützpunktes gemessen werden, der bei Testläufen von
Triebwerken entsteht. Abhängig vom Ergebnis wird vielleicht noch einmal mit dem Kommando der Airbase über
weitere Lärmschutzmaßnahmen zu reden sein - in gutnachbarschaftlicher Atmosphäre, wie dies seit Jahrzehnten der Fall ist.
Anita Schäfer ({0})
Gerade die Amerikaner haben sich immer sehr um
das gegenseitige Verhältnis bemüht. Sie sind gern gesehene Gäste in der Westpfalz, zumal sie einen erheblichen
Beitrag zur regionalen Wirtschaft in dieser strukturschwachen Region leisten. Dem Ausbau einiger Stützpunkte steht zudem eine Reduzierung der US-Streitkräfte
in Deutschland insgesamt gegenüber. Allein in meinem
Wahlkreis sind seit dem Kalten Krieg die Flugplätze
Sembach und Zweibrücken geschlossen bzw. in zivile
Nutzung überführt worden, und während weiter nördlich
Spangdahlem erweitert wurde, wurde Bitburg aufgegeben.
Auch der Übungsbetrieb im Luftraum TRA Lauter
- nicht nur durch die Amerikaner, sondern auch die
deutsche Luftwaffe und andere NATO-Partner - nimmt
ab. Insgesamt hat sich die Zahl der in Deutschland stationierten Kampfflugzeuge allein in den letzten beiden
Jahren um 15 Prozent reduziert, und diese Entwicklung
ist noch nicht abgeschlossen. Im gleichen Maße hat
auch die Zahl der Beschwerden über militärischen Fluglärm abgenommen. Allerdings beschweren sich diejenigen, die es noch tun, mittlerweile häufiger. In einigen
Regionen sind einzelne Bürgerinnen und Bürger für bis
zu 70 Prozent des Aufkommens verantwortlich. Denn
selbst wenn eine Flugroute aus Lärmschutzgründen von
einer Ortschaft wegverlegt wird, gibt es meist anderswo
Menschen, die stärker belastet werden als vorher. Auch
deswegen halten wir an unserer Absicht fest, das Fluglärmgesetz nochmals anzupassen, damit mehr Anwohner Anspruch auf Lärmschutzmaßnahmen haben.
Eine zunehmende Verschlechterung der Situation, wie
sie der Antrag behauptet, gibt es aber einfach nicht. Er
berücksichtigt zudem in keiner Weise, dass Übungsflüge
notwendig sind, um die Flugzeugbesatzungen umfassend
auf die Erfüllung ihres Auftrags vorzubereiten, eines
Auftrags, der unser aller Sicherheit dient. Das gilt nicht
nur für die im Antrag herausgepickten amerikanischen
Streitkräfte, sondern auch für die deutschen und die aller anderen bei uns stationierten Bündnispartner.
Aber wenn man schon unbedingt über die Amerikaner
reden will: Dieselben US-Hubschrauberpiloten, die bei
uns üben, haben in Afghanistan mehrfach das Leben
deutscher Soldaten durch riskante Flüge gerettet - was
ohne intensives Training nicht möglich gewesen wäre.
Das zeigt einmal einen sehr direkten Zusammenhang
zwischen Übung und Einsatz.
Es bleibt dabei: Die Koalition wird den Schutz vor
militärischem Fluglärm den zivilen Vorgaben angleichen, so rasch dies möglich ist. Für einseitige Attacken
auf unsere Bündnispartner, um aus Stimmungen politisches Kapital zu schlagen, stehen wir aber nicht zur Verfügung. Wir lehnen diesen Antrag daher ab.
Selbstverständlich nehmen wir die Sorgen von Bürgern, die sich durch Fluglärm gestört fühlen, sehr ernst.
Aus diesem Grund haben wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart, das Fluglärmgesetz zu überarbeiten.
Wir wollen das Gesetz dahin gehend ändern, dass Anwohner von Militärflughäfen bei den gleichen Grenzwerten Anspruch auf Erstattung von Lärmschutzkosten
haben wie Anwohner von zivilen Verkehrsflughäfen.
Gerade wird geprüft, wie wir das konkret umsetzen
können. Selbstverständlich versuchen wir dies so schnell
wie möglich zum Abschluss zu bringen, doch dieser Prozess gestaltet sich mit Hinblick auf die Zuständigkeiten
der Länder momentan sehr komplex.
Wer allerdings den Antrag der Linksfraktion liest,
muss nicht lange suchen, um zu erkennen, worauf er eigentlich abzielt. In diesem Antrag wird ausschließlich
auf den Fluglärm durch US-Streitkräfte Bezug genommen. Andere Bündnispartner oder die Bundeswehr werden überhaupt nicht erwähnt. Das Nachtflugverbot, das
Sie fordern, soll ausschließlich für US-Militärflugplätze
gelten.
Den Kollegen von der Linkspartei scheint es offenbar
nicht um Fluglärm zu gehen, sondern um eine ideologisch begründete Ablehnung der Militärpräsenz der Vereinigten Staaten in der Bundesrepublik. Das ist doch der
wahre Hintergrund Ihres Antrags.
Indessen scheint den Linken dann auch entgangen zu
sein, dass sowohl die Zahl der in Deutschland stationierten Truppen als auch die Zahl der Übungsflüge in
den vergangenen Jahren signifikant zurückgegangen ist.
Die Anzahl der hier stationierten strahlgetriebenen
Kampfflugzeuge hat sich allein in den vergangenen zwei
Jahren um rund 15 Prozent reduziert.
Diese Fakten ignorierend, sprechen Sie in Ihrem Antrag von einer „unzumutbaren Zunahme von Fluglärm“.
Diese behauptete Zunahme lässt sich jedoch sachlich in
keinster Weise nachvollziehen. Ganz im Gegenteil:
Durch die anstehende Bundeswehrreform ist mit einem
weiteren Rückgang der Belastung durch Fluglärm zu
rechnen.
Man kann nicht ernsthaft in eine Debatte um militärischen Fluglärm einsteigen und dabei konsequent außenund sicherheitspolitische Aspekte ausblenden. Doch genau das tun Sie hier.
Die Bundesrepublik hat im Rahmen der NATO wechselseitige Verpflichtungen für die Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten mit ihren Bündnispartnern vereinbart. Die
gegenseitige Bereitstellung von Ausbildungskapazitäten
für unsere Partnerstaaten ist ein wichtiger Bestandteil unseres Engagements in internationalen Verteidigungsbündnissen. Diese Einsicht sucht man in Ihrem Antrag vergeblich.
Es ist unser erklärtes Ziel, unseren Soldaten die bestmögliche Vorbereitung auf ihren Dienst am Vaterland zu
garantieren. Militärische Übungen und Manöver sind
im Sinne nationaler Sicherheit und internationaler
Bündnisse zwingend notwendig. Es ist unsere Pflicht,
Piloten, die in Auslandseinsätzen ihr Leben riskieren, so
gut wie möglich auf ihre Aufgaben vorzubereiten. An einem Flugsimulator lässt sich dieser Anspruch nun einmal nicht verwirklichen. Das wissen Sie genauso gut wie
wir.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bei allen negativen Auswirkungen, die Fluglärm
zweifelsfrei mit sich bringt, dürfen wir eines nicht vergessen: Wir haben eine gesamtstaatliche Verantwortung
gegenüber unseren Bündnispartnern, gegenüber unseren Soldaten und gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis
der Bürger.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass diese nationalen
Interessen zum Teil in einem starken Spannungsfeld zu
dem berechtigten Interesse von Teilen der Bevölkerung
nach Reduzierung der Lärmbelastung stehen. Hier muss
ein Konsens gefunden werden. Diesem Konsens muss
aber die sachliche Abwägung von Argumenten und darf
kein ideologischer Antiamerikanismus zugrunde liegen.
Die freiwillige Selbstverpflichtung der Militärflugplätze,
die sich in der Vergangenheit bewährt hat, halten wir für
ausreichend und angemessen.
Der einseitige und engstirnige Antrag der Linken
stürzt sich in seinem Abschluss noch in wilde Spekulationen um angeblich unter der Hand vereinbarte Absprachen zwischen Kommandanten der Flugplätze und
den kommunalen Verwaltungen. Einen Beleg dafür
bleibt der Antrag jedoch schuldig. Das ist in höchstem
Maße unseriös.
Meine Fraktion kann und wird diesem Antrag daher
unter keinen Umständen zustimmen.
Durch das Militär hervorgerufener Fluglärm ist Teil
der sicherheitspolitischen Realität. Wir setzen auf eine
gut ausgebildete Truppe, wir wollen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten gut ausgerüstet und bestens vorbereitet in den Einsatz gehen. Dies gilt auch für unsere
Partner, mit welchen wir in viele Einsätze gemeinsam
gehen. Die USA ist einer unserer wichtigsten sicherheitspolitischen Partner. Zu der militärischen Ausbildung gehört auch eine extensive Flugausbildung der
Piloten. Sie ist für die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte notwendig und unerlässlich. Eine unzureichende
Ausbildung und Weiterbildung hätte Folgen für jeden
Soldaten und viele Familien. Nicht nur die Bundeswehr
muss die Möglichkeit haben, militärische Übungsflüge
durchzuführen, sondern ebenso unsere Partner.
Jedoch muss die Politik dafür Sorge tragen, dass es
beim Thema „Fluglärm“ einen möglichst großen Konsens zwischen Gesellschaft und Militär gibt. Die Anzahl
der Beschwerden zeigt, dass die Problematik Bürgerinnen und Bürger deutschlandweit betrifft. Die Bundesregierung muss sich daher regelmäßig die Frage stellen,
was sie den Betroffenen zumuten kann und wie hoch die
Belastung tatsächlich sein muss. Folgeschäden für die
Betroffenen müssen unter allen Umständen verhindert
werden. Es ist wichtig, dass nach Möglichkeit das gesellschaftlich Zumutbare mit dem militärisch Notwendigen übereinstimmt.
Die Zusammenarbeit mit dem US-Militär ist historisch gewachsen. Die USA ist nicht nur unser Partner in
der NATO, sondern die USA hat sich auch um unser
Land verdient gemacht. Dies bedeutet nicht, dass USamerikanisches Handeln in Deutschland nicht hinterfragt und kritisiert werden darf. Aber wenn wir uns Gedanken machen zur Problematik des durch das Militär
hervorgrufenen Fluglärms, dann müssen wir dies generell tun und nicht, wie im Antrag der Linken, einseitig
auf unsere amerikanischen Partner abzielen.
Aus diesen Gründen können wir dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Er ist nicht durchdacht, er ist einseitig und nicht hilfreich.
Auch wenn wir diesem Antrag nicht zustimmen können, sehen wir als SPD jedoch dringenden Handlungsbedarf bei der Bundesregierung. Wenn sich Bürger mit
Petitionen und Beschwerden an das Parlament wenden,
darf das hier nicht ignoriert werden. Die Bundesregierung macht es sich zu einfach, wenn sie im Verteidigungsausschuss mitteilt, dass die Zahl der Bürgerinnen
und Bürger, die sich mit einer Beschwerde über militärischen Flugbetrieb an das Luftwaffenamt gewandt haben, generell zurückgegangen ist, und den regionalen
Anstieg mit diesem Hinweis auf „ein paar Engagierte“
wegwischt. Gerade wenn sich Bürgerinnen und Bürger
immer wieder, immer lauter und immer intensiver melden, muss die Bundesregierung doch handeln!
Es ist die Aufgabe des Verteidigungsministeriums,
über die Begrenzungen beim durch das Militär hervorgerufenen Fluglärm zu entscheiden. Ich erwarte daher,
dass sich der Minister den erhöhten regionalen Protesten annimmt, diese genauestens analysiert und vor Ort
tätig wird. Das Bundesverteidigungsministerium muss
die Rolle des Vermittlers annehmen und auf beide Parteien zu gehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass mit
einer vermittelnden Position vor Ort eine Lösung gefunden werden kann.
Um es vorweg zu sagen: Wir sind uns der im Zusammenhang mit militärischen Flugbewegungen entstehenden Lärmbelastung bei den betroffenen Bürgerinnen und
Bürgern sehr bewusst. Daher haben wir als FDP uns gemeinsam mit der CDU/CSU in der Koalitionsvereinbarung darauf verständigt, das Fluglärmgesetz dahin gehend zu ändern, dass die Erstattungsfähigkeit von
Lärmschutzkosten an Militärflughäfen bei den gleichen
Lärmgrenzwerten einsetzt wie bei zivilen Verkehrsflughäfen. Zu diesem Zweck soll das Fluglärmgesetz von
2007 novelliert werden. Derzeit läuft eine intensive Prüfung, wie das von uns formulierte Ziel erreicht werden
kann. Wir werden uns dafür einsetzen, den im Koalitionsvertrag formulierten Anspruch zeitnah umzusetzen.
Grundsätzlich obliegt dem Bundesministerium der
Verteidigung die Überwachung des Luftraums über
Deutschland als Maßnahme zur Erhaltung der äußeren
Sicherheit. Dies umfasst auch die Flugverkehrskontrolle
militärischer Flüge. Das Recht zum militärischen Flugbetrieb alliierter Streitkräfte im Luftraum über Deutschland basiert auf völkerrechtlichen Vereinbarungen wie
zum Beispiel dem NATO-Truppenstatut und den hierzu
ergangenen Ausführungsgesetzen. Diese völkerrechtlichen Verträge und gesetzlichen Vorgaben bilden die
rechtlichen Rahmenbedingungen für den militärischen
Zu Protokoll gegebene Reden
Flugbetrieb in Deutschland für alle militärischen Nutzer.
Ungeachtet der berechtigten Anliegen von Anwohnern an Militärflughäfen muss an dieser Stelle schon darauf hingewiesen werden, dass die Antragsteller an keiner Stelle ihres Antrags auf die Notwendigkeit von
Übungsflügen zur Erfüllung des Auftrags der Piloten
verweisen, egal ob als Angehörige der Bundeswehr oder
der Streitkräfte einer alliierten Partnernation. Diese
Übungsflüge sind allerdings zwingend erforderlich und
gehören genauso zur Wahrheit wie das Verständnis für
die Betroffenheit von Anwohnern in der Nähe von militärischen Flugplätzen. Nun wissen wir ja alle, dass die
Linke sowohl die Einsätze der Bundeswehr sowie der
NATO grundsätzlich ablehnt und sich damit schon von
vornherein einer ernsthaften Diskussion über verantwortliche Sicherheitspolitik verweigert. Sie sind einfach
nicht dazu bereit, legitime Interessen anzuerkennen, die
letztlich dem Schutz unser aller Freiheit und Sicherheit
dienen.
Wer allerdings im Gegensatz dazu verantwortliche Sicherheitspolitik betreiben will, ist darauf angewiesen,
sich an gegebenen Realitäten und Bedrohungsszenarien
zu orientieren. Wer sich dieser schwierigen Herausforderung stellt, der wird schnell zu dem Ergebnis kommen,
dass der Einsatz von Soldatinnen und Soldaten - so
schwer es uns als mandatserteilendem Verfassungsorgan
auch fallen mag - in gewissen Situationen unumgänglich und zwingend notwendig ist.
Vor dem Hintergrund dieser gesamtstaatlichen Verantwortung darf die Diskussion um militärischen Fluglärm in meinen Augen nicht alleine auf Anflugrouten,
Landeverfahren und Flughöhen reduziert werden. Der
Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten ist oftmals mit
einer hohen Gefahr für Leib und Leben verbunden und
bedarf deshalb ohne Wenn und Aber einer optimalen
Vorbereitung. Dafür sind unter Umständen und im Einzelfall auch taktische Flugmanöver in der Nähe inländischer Stützpunkte notwendig. Sowohl die Bundeswehr
als auch unsere alliierten Partner sind auf diese
Übungsmöglichkeiten dringend angewiesen. Würden
wir sie ihnen und uns verweigern, würden wir nicht nur
den Erhalt unserer äußeren Sicherheit aufs Spiel setzen,
sondern letztlich auch auf Kosten der Gesundheit und
der Sicherheit der Pilotinnen und Piloten handeln.
In Ihrem Antrag fordern Sie, anstatt auf die freiwillige Selbstbeschränkung für die allgemeine Nutzung der
Übungslufträume im Saarland, in Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern zu vertrauen, konkrete Lärmschutzregelungen und Grenzwerte festzulegen. Bereits heute erfolgt für jede Flugübung, die über
die freiwillige Selbstbeschränkung hinausgeht, eine umfangreiche Einzelfallprüfung. Diese Übungen werden
letztlich nur in dem unbedingt notwendigen Umfang genehmigt, wenn dies zum Erhalt der Einsatzbereitschaft
der Luftwaffe unbedingt erforderlich ist. Im Übrigen ist
das Aufkommen militärischer Luftraumbewegungen im
Bereich der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr
2003 insgesamt rückläufig. Deshalb ist es auch nicht zutreffend, dass es keinerlei Selbstbeschränkung gebe oder
dass diese keine Wirkung entfalten würde. Insofern halten wir eine über die Selbstbeschränkung hinausgehende Regelung für unverhältnismäßig.
Zuletzt sollte nicht unerwähnt bleiben, dass verschiedene Maßnahmen der Bundesregierung, wie die Flexibilisierung der Luftraumnutzung oder die stetige Optimierung von An- und Abflugverfahren, in den vergangenen
anderthalb Jahren bereits signifikant zur Verbesserung
des Schutzes vor militärischem Fluglärm beigetragen
haben. Dennoch sind wir uns auch weiterhin der Belastungen bewusst und bestrebt, weitere Verbesserungen zu
erzielen - ohne dabei die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr oder unserer Partner zu gefährden.
„Power Run“ in der Nacht - das ist kein nächtlicher
Orientierungslauf, das ist ein Probelauf nach einer
Triebwerkswartung am Flugzeug. Anwohner an Militärflughäfen wissen das. Und sie hören das, genauso wie
das Dröhnen der Hubschrauber am Tage und in der
Nacht, alltags und sonntags, zum Beispiel in AnsbachKatterbach, wo jeder fünfte Übungsflug über Wohngebieten in der Nacht stattfindet. 1 345 Menschen haben
sich im Jahr 2008 darüber beschwert, und man hat sie
alleingelassen.
Bewohner in der Westpfalz und im Saarland erhielten
einen Anspruch auf Schallschutzmaßnahmen erst dann,
als der Dauerschallpegel 60 Dezibel überstieg. Wir
müssen wissen: Laut Studie des Umweltbundesamtes
aus dem Jahr 2007 leiden Menschen, die einen Dauerschallpegel von mehr als 39 Dezibel ertragen müssen, eher an Herz- und Kreislauferkrankungen als andere. Herz-Kreislauf-Erkrankungen zählen mit mehr als
17 Prozent zu den häufigsten Todesursachen.
Das Problem militärischen Fluglärms nimmt zu. Neben Afghanistan und dem Irak befinden sich in der Bundesrepublik Deutschland die meisten US-Militärstützpunkte. Die globalen Kriegseinsätze ziehen den Ausbau
der Militärbasen nach sich. Das ist in Kaiserslautern so,
das ist bei den Luftstützpunkten Ramstein und Spangdahlem so, und das gibt es auch in bayrischen Standorten. Die Anwohner stehen ohnmächtig vor der Zunahme
von Fluglärm und anderen Belastungen an Militärstandorten. Jetzt erwarten sie von ihren Parlamentariern, dass sie sich der Sache annehmen.
Mit großem Verständnis hatten sich die Koalitionsparteien zu Beginn der Wahlperiode den Klagen der Anwohner von Militärbasen zugewendet. Sie sollten den
Anwohnern an Zivilflughäfen gleichgestellt werden; militärische Übungsflüge sollten unter luftrechtliche Bestimmungen fallen. Was ist passiert? Nichts. Viel Lärm
und nichts passiert.
Das wollen die Betroffenen nicht mehr ertragen. Auf
kommunaler Ebene engagieren sie sich in Bürgerinitiativen. In Ansbach fordert der Stadtrat einstimmig, dass
der militärische Hubschrauberbetrieb endlich geregelt
wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir müssen auf der Bundesebene endlich Nägel mit
Köpfen machen. Wir haben die gesetzlichen Instrumente
in der Hand, wir müssen sie nur anwenden.
Die Linke fordert einen effektiven Lärmschutz und
Grenzwerte für Übungslufträume. Die Selbstbeschränkungen der US-Streitkräfte für das Saarland, RheinlandPfalz, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern taugen
nicht. Taktische Übungsflüge über Wohngebieten unterhalb von 3 000 Metern müssen verboten werden. Anwohner von Militärflughäfen müssen einen rechtlichen Anspruch auf aktiven und passiven Lärmschutz haben. Die
Unterscheidung zwischen militärischem und zivilem
Fluglärm bei der Erfassung des Lärms muss beendet
werden.
Die von uns ins Parlament getragenen Forderungen
der Betroffenen lehnen die Parteien der Regierungskoalition ab. Auch die SPD will die Forderungen zum
Schutz der Anwohner an Militärbasen nicht mittragen;
Bündnis 90/Die Grünen haben sich im Ausschuss enthalten.
Hier im Parlament ist unsere Fraktion offenbar die
einzige, die nicht nur Militäreinsätze ablehnt, sondern
auch das Üben für Militäreinsätze begrenzen will. Da
überrascht es nicht, dass sich die Anwohner von Militärbasen an uns wenden.
Aber: Hier geht es nicht um uns. Hier geht es um die
Gesundheit und um vernünftige Lebensbedingungen von
Menschen, die an Militärflughäfen leben müssen, weil
sie keine Chance haben, einfach die Zelte abzubrechen,
um woanders zu leben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich erinnere Sie noch einmal daran: Sie haben
vor knapp zwei Jahren im Koalitionsvertrag zugesagt,
das Problem zu lösen. Wenn wir jetzt hören, die Koordination zwischen den einzelnen Ländern sei kompliziert,
der Lärm habe angeblich eher abgenommen, und man
könne nur konstatieren, dass die Empfindlichkeit der Bewohner zugenommen haben müsse, dann klingt das alles
nicht nach dem Willen zur Lösung des Problems. In den
Ohren der Betroffenen dagegen klingt es wie Hohn.
Erinnern Sie sich an Ihre Zusagen an die Betroffenen,
nehmen Sie unseren Antrag zum Schutz vor militärischen Fluglärm auf - handeln Sie!
Flugzeuge verursachen erheblichen Lärm, und das
gilt insbesondere für die leistungsstärkeren Maschinen
von militärischen Flugzeugen. Für die Menschen, die in
der Nähe von Flughäfen oder Flugplätzen wohnen, bedeutet dieser Lärm oft eine große Belastung. Das gilt
wiederum für die Anwohnerinnen und Anwohner militärischer Flugplätze in besonderem Maße. Die Folgen einer derartigen Lärmbelastung sind alles andere als unerheblich.
Maßnahmen zum Schallschutz mindern zwar den
Lärm in den Wohnhäusern, doch auf Null reduzieren
können sie ihn nicht. Auch ist es den Betroffenen nicht
möglich, sich in der warmen Jahreszeit bei geöffnetem
Fenster in ihrer Wohnung oder im Garten aufzuhalten,
ohne sich dem ungehemmten Lärm auszusetzen. Die
Möglichkeiten zur Erholung in den eigenen vier Wänden
und im eigenen Garten sind grundlegend eingeschränkt.
Wer dauerhaft derartigem Lärm ausgesetzt ist, kann daher krank werden - psychisch und physisch.
Für die Menschen, die in der Nähe eines Militärflugplatzes leben, bedeutet der Lärm eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität. Es besteht daher dringender Handlungsbedarf, um den Schutz der Menschen
vor Fluglärm zu verbessern. Wenn die Betroffenen zudem noch Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer sind,
verliert auch ihr Grund und Boden massiv an Wert.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung handelt in diesem Punkt aber alles andere als entschlossen. Seit bald
zwei Jahren steht im Koalitionsvertrag die Ankündigung, das Fluglärmgesetz zu verbessern. Anwohnerinnen und Anwohner militärischer Flugplätze sollen bei
den gleichen Grenzwerten Anspruch auf Erstattung von
Lärmschutzkosten erhalten wie Anwohnerinnen und Anwohner ziviler Flugplätze. Bis heute liegen aber keine
konkreten Vorschläge vor, sondern nur diese wolkigen
Ankündigungen.
Unbefriedigend für die Betroffenen ist im Übrigen,
dass die Bundesregierung sich von vornherein auf den
sogenannten passiven Schallschutz beschränkt hat.
Nach Lösungen zur Verbesserung beim aktiven Schallschutz, insbesondere hinsichtlich der Nachtruhe, will
Schwarz-Gelb gar nicht erst suchen. Das ist definitiv zu
wenig.
Aber wie soll die Bundesregierung auch sinnvolle
Maßnahmen vorschlagen, wenn sie nicht einmal ausreichend Kenntnisse über die Auswirkungen einer derartigen Lärmbelastung besitzt? Über das Ausmaß der
Lärmbelastung weiß die Bundesregierung wenig. Die
Höhe der durch den Lärm verursachten volkswirtschaftlichen und individuellen Schäden ist ihr unbekannt. Das
macht die Bundesregierung unter der Drucksachennummer 17/3933 mit ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage
der grünen Bundestagsfraktion zum militärischen Fluglärm in Teilen des Saarlandes und Rheinland-Pfalz deutlich. Das bedeutet, von der Situation der Anwohnerinnen und Anwohner von militärischen Flugplätzen haben
Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
nur eine vage Vorstellung. Trotzdem lehnen Sie Maßnahmen zum Schutz als unnötig ab. Ein solches Handeln aus
Unkenntnis hat aber absolut nichts mit gutem Regierungshandeln zu tun. Wir fordern die Bundesregierung
eindringlich auf, sich endlich ehrlich, empirisch und
wissenschaftlich mit den Auswirkungen einer derartigen
Lärmbelastung auseinanderzusetzen.
In der Ausschussdebatte über diesen Antrag haben
wir von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, zu hören bekommen, man müsse bei der Thematik berücksichtigen, dass Piloten nur dann zur Sicherheit
beitragen können, wenn sie auch Übungsflüge durchführen. Das ist ja grundsätzlich richtig, aber Sie rechtfertigen damit Ihre Politik der Unkenntnis und der leeren
Versprechungen. Darum ist diese Argumentation unsägZu Protokoll gegebene Reden
lich, und es bleibt dabei: In puncto Schutz vor Fluglärm
tut die Regierung zu wenig und sie tut es zu langsam.
Der hier vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke
zeigt unseres Erachtens allerdings auch nicht den richtigen Lösungsweg auf. Insbesondere fällt auf, dass dieser
Antrag einen grundlegenden logischen Fehler aufweist.
Auf der einen Seite plädiert er für eine Gleichbehandlung von militärischem und zivilem Fluglärm. Dann
aber fordert der Antrag ein Verbot von Nachtflügen und
Flügen an Wochenenden und Feiertagen ausschließlich
für US-Militärflugplätze. Das ist keine Gleichbehandlung. Auch die meisten anderen Forderungen beziehen
sich lediglich auf Flugplätze, die vom US-amerikanischen Militär genutzt werden. Diese Einschränkung erschließt sich mir einfach nicht. Dem Antrag können wir
daher nicht zustimmen, obwohl wir das Ansinnen, die
Rechte der Betroffenen zu verbessern, ausdrücklich begrüßen. Darum werden wir uns enthalten.
Seit Jahren setzt sich die grüne Bundestagsfraktion
intensiv mit der Problematik von Fluglärm auseinander,
und zwar sowohl von militärischem als auch von zivilem
Fluglärm. Noch zu rot-grünen Zeiten haben wir mit der
SPD über eine Überarbeitung des Fluglärmgesetzes gestritten. In den vergangenen Jahren haben wir mit aller
Deutlichkeit die 2007 unter Schwarz-Rot in Kraft getretene Novelle des Fluglärmgesetzes und ihre ausgesprochen langsame Umsetzung kritisiert.
Bisher hat auch die schwarz-gelbe Bundesregierung
in Sachen Schutz vor Fluglärm keine bessere Figur abgegeben. Daher wiederhole ich noch einmal: Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie endlich beginnt,
an diesem Problem zu arbeiten, und zwar hinausgehend
über das, was in den Koalitionsvereinbarungen steht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5918, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5206 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Das ist die Fraktion der Linken. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Viola von
Cramon-Taubadel, Claudia Roth ({1}),
Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen- und Mädchenfußball stärken - Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitisch nutzen
- Drucksachen 17/5907, 17/6281 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Martin Gerster
Dr. Lutz Knopek
Katrin Kunert
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, die reden wollten, sind bei uns angekommen.
Am letzten Sonntag wurde die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011 im ausverkauften Berliner
Olympiastadion feierlich eröffnet. Das Eröffnungsspiel
haben über 73 000 Zuschauer unter Hochspannung live
verfolgt und die wirklich tolle Atmosphäre genießen
können. Zudem werden die Spiele auf allen fünf Kontinenten in etwa 60 Ländern übertragen, und dies in neuer
medialer Dimension und auf dem Stand der Technik.
Nicht nur die spielerische und sportliche Leistung unserer Nationalmannschaft, die mediale Berichterstattung
und die Begeisterung der Zuschauer für das Großsportereignis zeigen, dass der Frauenfußball in Deutschland
angekommen ist und ihm im internationalen Vergleich
eine herausragende Bedeutung zukommt.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
der CDU/CSU und der FDP werden auch weiterhin den
Frauenfußball kraftvoll unterstützen und fördern! Wir
beschränken uns allerdings nicht nur auf den Frauenund Mädchenfußball, sondern begreifen die Förderung
in einem übergeordneten Sinne - sportartübergreifend bezogen auf den Frauen- und Mädchensport im Allgemeinen.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
„Frauen- und Mädchenfußball stärken - Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitisch
nutzen“ ist zwar anlassbezogen aktuell, verkennt aber
die bereits bestehenden Förderungsstrukturen des Mädchen- und Frauenfußballs. Leider scheinen die Anträge
der Opposition sich vom Zeitpunkt her immer wieder
nur an Großsportereignissen zu orientieren. Anstatt auf
eine kontinuierliche Arbeit zu setzen, versucht man im
Zuge eines Großsportereignisses, Forderungen in einem
Antrag unterzubringen, die zum Teil nur im entferntesten
Sinne etwas mit der Realität und den eigentlichen Herausforderungen der Zeit zu tun haben.
Bei allem Verständnis für die Verbindung zwischen
Sport und gesellschaftspolitischen Zielen und Interessenslagen sollte eine Instrumentalisierung des Sports tunlichst vermieden werden. Der fraktions- bzw. parteienübergreifende Besuch von ranghohen Politikern von
einem Großsportereignis, wie zur Eröffnung der FußballWeltmeisterschaft der Frauen 2011, unterstreicht die
Wertschätzung und gesellschaftspolitische Bedeutung
dieses Events für unser Land. Ein Großsportereignis, begleitet von mehreren Clips, Trailern und Originaltönen mit parteipolitischen Statements im Stadion, gleicht dann
aber wiederum stärker der Werbung in eigener Sache und
der Instrumentalisierung des Sports. Die Grenzen des
Vertretbaren sind bisweilen fließend. Ob eine solche Symbiose zwischen Politik und Sport angemessen und wünschenswert ist, sollte kritisch hinterfragt werden. Im
parlamentarischen Diskurs sollte auf solchen Opportunismus und - in diesem Fall - auf entsprechende „Scheinanträge“ verzichtet werden.
Auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips fördern
die Bundesregierung und der Deutsche Fußball-Bund
({0}) seit langem den Frauen- und Mädchenfußball, im
Breiten- wie im Spitzensport. Im 12. Sportbericht der
Bundesregierung sind die über den Fußball weit hinausgehenden Maßnahmen und Programme in diesem Bereich umfassend geschildert. Die Aufwendungen des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend im Bereich „Frauen und Mädchen im Sport“ betrugen im Berichtszeitraum insgesamt 290 000 Euro.
Dabei folgen die Maßnahmen des Ministeriums dem
Ziel, den Anteil der Frauen und Mädchen im Sport in allen Bereichen dem Anteil von Männern anzugleichen und dies auch unabhängig von verschiedenen Altersgruppen. Die Mitgliederentwicklung von Frauen und
Mädchen in Sportvereinen ist in den letzten Jahren mehr
als erfreulich. So lässt sich konstatieren, dass den größten Zuwachs mit über 160 000 weiblichen Mitgliedern
der Deutsche Fußball Bund verzeichnen konnte, aber
auch die Deutsche Reiterliche Vereinigung, der Deutsche Leichtathletik-Verband und der Deutsche Schützenbund sind hier besonders positiv hervorgetreten. Die
meisten weiblichen Mitglieder - mit circa 3,5 Millionen
Mädchen und Frauen - sind jedoch weiterhin unter dem
Dach des Deutschen Turnerbundes organisiert. Der
Frauenanteil bei den Mitgliedschaften in Sportvereinen
in Deutschland liegt derzeit bei etwa 40 Prozent.
Unabhängig von sportspezifischen Unterschieden
reicht die Förderung der Bundesregierung im Bereich
„Frauen und Mädchen im Sport“ über die im Antrag der
Grünen genannten Forderungspunkte weit hinaus. Beispielhaft seien an dieser Stelle nur folgende Ziele genannt: den Anteil von Frauen in Gremien des Sports zu
erhöhen - zum Beispiel durch Verbandswettbewerbe
„Frauen an die Spitze“, Trainerinnen im Sport zu unterstützen und zu qualifizieren - zum Beispiel Führungstalente-Camp des DOSB, bundesweite Frauenaktionstage
mit Bezug zum Sport zu fördern oder das Programm
„Migrantinnen in den Sport“ weiter zu unterstützen.
Der Grünen-Antrag missachtet nicht nur die bereits
bestehenden Maßnahmen der Bundesregierung zur Förderung des Sports von Mädchen und Frauen. Er weist
zudem zahlreiche formale Mängel auf, missachtet konsequent die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie zuwendungsrechtliche Bestimmungen. Dies
zeigt sich am deutlichsten bezüglich der Forderungen
zur Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen oder bezüglich des Schulsports.
Aber auch aufgrund inhaltlicher Mängel werden wir
diesem Antrag nicht zustimmen: Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements im Sport, beispielsweise
durch den neuen Bundesfreiwilligendienst, wurde offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Unverständlich
bleibt auch, wie konkret die „Integration von Migranten
durch die Sportpolitik“ einen höheren Stellenwert erfahren soll. Das vom Bundesministerium des Innern ({1})
geförderte Programm „Integration durch Sport“ kommt
dieser Forderung seit langem mit großem Erfolg nach
und wird auf unterschiedlichen Ebenen entsprechend
evaluiert. Mit Blick auf den Spitzensport und die Talentförderung zeigt sich gerade, dass im Sport Menschen mit
Migrationshintergrund sehr erfolgreich sind. Die Fußballnationalmannschaft der Männer und Frauen ist mit
einer „gelebten Vielfalt“ auch hier ein besonders positives Beispiel. Der Aspekt des „Klima- und Umweltschutzes im und durch den Sport“ wurde im Antrag der Koalitionsfraktionen in wesentlich weitreichender und
detaillierter Form erst kürzlich ausgeführt. Das Umweltkonzept „Green Goal“ der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011 geht über die Forderungen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits weit hinaus.
Auch vor dem Hintergrund der Ablehnung der Bewerbung „München 2018“ durch die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen ist dieser Forderungspunkt nur schwer
nachzuvollziehen - zumal das Umweltkonzept der Bewerbung anfänglich sogar von den Grünen begleitet
wurde. Am Beispiel der sportpolitischen Kontakte zu
Nordkorea - wie auch zu vielen anderen Ländern - im
Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft der
Frauen 2011 zeigt sich nicht zuletzt, wie der Forderung
nach dem Ausbau internationaler Beziehungen bereits
mehr als beispielhaft nachgekommen wird.
Die CDU/CSU-Fraktion wird den Frauenfußball, wie
auch den Sport von Frauen und Mädchen insgesamt,
weiter kontinuierlich und kraftvoll unterstützen - und
dies nicht nur zu dem Großsportereignis der FußballWeltmeisterschaft der Frauen 2011. Dabei ist es wichtig,
auf die Ziele, Perspektiven und Erwartungen zu hören,
die vonseiten der Frauen und Mädchen im Sport selbst
aufgestellt werden. Eine politische Instrumentalisierung
wie auch eine gesellschaftspolitisch-moralische Überfrachtung lehnen wir ab, da dies die aus sich selbst heraus kommende Entwicklung hemmt. Wie stark das Interesse, die Ausstrahlungskraft, die Aufmerksamkeit und
die Faszination für den Sport von Frauen und Mädchen
bereits jetzt schon sind, zeigt sich mehr als positiv am
Beispiel der FußbaIl-Weltmeisterschaft der Frauen
2011. Der Sport von Frauen und Mädchen in Deutschland kann auch künftig auf die Unterstützung der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP bauen! Hierbei
stehen für uns die Beachtung der Autonomie des Sports
und vor allem der Interessenslagen der Sportlerinnen
weiterhin im Vordergrund!
Wenn ich über Frauenfußball spreche, denke ich natürlich zuerst an die gerade in Deutschland stattfindende FIFA-Fußballweltmeisterschaft der Frauen, deren Euphorie wir nutzen sollten.
Aber ich denke auch an die Torfrau Desirée Schumann aus meinem Wahlkreis Reinickendorf. Die ersten
neun Jahre ihrer jungen Fußballerkarriere spielte sie in
Berlin in meinem Heimatbezirk beim VfB Hermsdorf.
Heute spielt sie beim 1. FFC Turbine Potsdam und ist
eine der hoffnungsreichsten deutschen Nachwuchsfußballerinnen der U-20-Nationalmannschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mein Kollege Klaus Riegert ist bereits intensiv auf
den Antrag der Grünen eingegangen, weshalb ich als
Berliner Bundestagsabgeordneter mich gern näher auf
die Situation in der Hauptstadt beziehen werde.
Nur 10 Prozent, also 11 599, aller Fußballspieler in
Berliner Vereinen sind Frauen. Das ist ausbaufähig,
denn auch wir wollen den Anteil fußballspielender
Frauen erhöhen. Doch die Lösung dafür kann nicht ein
20 Punkte umfassender Antrag sein, der sich leider nur
sehr entfernt mit der wirklichen Problematik beschäftigt. Lösungen können auch nicht von oben diktiert oder
übergestülpt werden. Wenn man mehr Mädchen und
Frauen in die Fußballvereine holen will, dann muss das
von unten direkt im Verein wachsen. Alles, was wir tun
können, ist, möglichst optimale Rahmenbedingungen zu
schaffen.
In vielen Bereichen ist das bereits gelungen. Zum Beispiel über Vereinskooperationen, wie es der Deutsche
Fußball-Bund beim 1. FC Lübars und bei Hertha BSC
initiiert hat. Auch gibt es auf Initiative des Landessportbund Berlins zunehmend Partnerschaften zwischen
Schulen und Sportvereinen. Sportbegeisterte Kinder
können unkompliziert auf Sportangebote in ihrer Nähe
aufmerksam gemacht werden. Mit Erfolg: Fast die
Hälfte der weiblichen Fußballer in Berlin ist inzwischen
unter 18 Jahre alt.
Der steigende Mädchenanteil im Fußball hat auch
damit zu tun, dass mehr und mehr auf Migrantinnen zugegangen wird. In Berlin werden sie gezielt geworben,
und es wurden Bedingungen geschaffen, die auch ihren
speziellen Bedürfnissen entsprechen. Hier ist noch ein
großes Potenzial zur Gewinnung fußballbegeisterter
Mädchen und Frauen. Denn die gemischten Mannschaften waren für viele eine Barriere zum Vereinsfußball. Inzwischen gibt es zahlreiche reine Mädchen- und Frauenmannschaften. Auch Turniere und Meisterschaften
werden verstärkt mit nur weiblichen Teilnehmern angeboten. Das senkt vorhandene Berührungsängste enorm.
Die Mitgliederzahlen in den Frauenfußballmannschaften steigen. Die Begeisterung und der Besucherrekord
beim WM-Eröffnungsspiel im Berliner Olympiastadion
am vergangenen Sonntag zeigten uns, welche Potenziale
es hier gibt.
Das größte Problem ist momentan also nicht die Begeisterung der Mädchen und Frauen für Fußball.
Begeisterung ist vorhanden und dürfte auch nach der
Fußballweltmeisterschaft der Frauen anhalten. Die Herausforderungen liegen woanders.
In vier Punkten sehe ich noch Verbesserungsmöglichkeiten für die Stärkung des Frauenfußballs:
Erstens: der Mangel an Trainerinnen. Mädchen- und
Frauenfußballmannschaften müssen verstärkt von
Frauen trainiert werden. Weibliche Trainerinnen gibt es
zu wenig. Wir brauchen mehr Fußballtrainerinnen. Fußballbegeisterten Frauen müssen wir die Möglichkeit geben, sich in diesem Bereich ehrenamtlich zu engagieren.
Vielleicht brauchen wir dafür noch besondere Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder? Auch setzt sich beispielsweise der Landessportbund Berlin verstärkt dafür
ein, bei Frauen mit Migrationshintergrund dafür zu werben, dass sie Trainerin werden.
Zweitens: fehlende Trainingsplätze. Nahezu jeder
Berliner Fußballverein hat volle Mannschaften, aber
überfüllte Trainingsplätze und zu wenig Hallenzeiten im
Winter. Es gibt viele Vereine, die aktuell auf der Suche
nach neuen Trainingsmöglichkeiten sind. In den meisten
Großstädten sind die Kapazitäten nahezu ausgeschöpft.
Aber zumindest in der deutschen Hauptstadt gäbe es
zwei große Freiflächen, die dafür wie gemacht zu sein
scheinen. Seit drei Jahren liegt das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof brach. Doch alle Bestrebungen, diesen Platz sinnvoll zu nutzen und zumindest
teilweise in Sportanlagen umzuwandeln, wurden vom
Berliner Senat abgelehnt. Nicht zuletzt die Grünen
sperrten sich gegen die Einrichtung von dringend benötigten Sportanlagen auf dieser Fläche.
Ab Mitte nächsten Jahres wird es auf dem Flughafen
Tegel eine weitere freie Fläche geben. Als Präsident des
Breitensportvereins Reinickendorfer Füchse unterstütze
ich die Bestrebungen vieler Vereine, hier Sportanlagen
einzurichten. Leider gibt es auch hier keine Anzeichen,
dass der rot-rote Senat den Vereinen entgegenkommen
möchte.
Drittens. Auch wenn in diesem Bereich schon viel
passiert ist, möchte ich alle Sportvereine ermuntern,
sich weiter - insbesondere für Mädchen und Frauen - zu
öffnen. Es ist in der Gesellschaft angekommen, dass
Frauenfußball nicht mehr länger nur eine vorurteilsbeladene, belächelte Randsportart ist. Lasst uns das nutzen, indem wir neue Mädchen- und Frauenmannschaften gründen und den Fußballspielerinnen ein sportliches
Zuhause in den etablierten Vereinen bieten!
Viertens. Etliche Werbekampagnen zeigen den Fußball in diesen Wochen als Frauensportart. Viele Frauen
reagieren und melden sich in Vereinen an, um nicht nur
zuzusehen, sondern selbst zu spielen. Das muss mit der
Frauenfußballweltmeisterschaft nicht vorbei sein. Vorbilder wie die WM-Organisatorin Steffi Jones, unsere
hervorragende Bundestrainerin Silvia Neid oder der
Shooting-Star der WM Celia Okoyino da Mbabi müssen
auch nach der WM weiter präsent bleiben und Frauen
motivieren, Fußball zu spielen. Die Euphorie der WM
müssen wir unbedingt nutzen.
Bei den Reinickendorfer Füchsen, deren Präsident
ich bin, kommt die Euphoriewelle bereits an. Bis vor drei
Jahren hatten wir keine Mädchenfußballmannschaft.
Um dem Ansturm gerecht zu werden, haben wir jüngst
schon die zweite Mannschaft gegründet.
Das Vorurteil, Fußball sei ein Männersport, ist auch
in der breiten Wahrnehmung überholt. Die Begeisterung
für Frauenfußball steigt gerade jetzt, da die FußballWM der Frauen in Deutschland stattfindet. Die Vereine
erwarten im Nachgang der Weltmeisterschaft einen Ansturm von Frauen und Mädchen auf die Fußballvereine.
Wir müssen die Vereine ermutigen, diese einmalige
Chance zu nutzen. Lassen Sie uns das Ehrenamt stärken
und verfügbare freie Flächen den Sportvereinen zur Verfügung stellen. Lassen Sie uns die Euphorie nutzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Oder, um mit dem offiziellen Fußball-WM-Lied „Happiness“ zu sprechen: I gotta be out of my mind not to try
this!
Am Sonntag wurde die FIFA-Frauen-Weltmeisterschaft in Berlin eröffnet - eine weitere Sportgroßveranstaltung, die wir in Deutschland nach den großartigen
Ereignissen der letzten Jahre ausrichten. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an die Fußball-WM der Männer
2006, die Handball-WM der Männer 2007, die Basketball-EM der Gehörlosen 2008 und die LeichtathletikWM 2009, um nur einige Beispiele zu nennen. Drei Wochen steht der Frauenfußball im Fokus der Öffentlichkeit; er wird medial und in den Stadien so präsent sein
wie nie in unserem Land zuvor. Bereits im Vorfeld der
WM kann der Deutsche Fußball-Bund Rekordzahlen
verbuchen: Mit einem Zuwachs von 10 000 Frauen und
Mädchen ist die Marke von 1 Million Vereinsspielerinnen deutlich übertroffen worden. Damit ist klar: Die Zukunft des Verbandes liegt auch in der Hand der Frauen.
Wer hätte das vor 35 Jahren gedacht? „Die Anatomie
der Frauen ist für Trikotwerbung nicht geeignet. Die Reklame verzerrt.“ So lautete damals eine Mitteilung aus
dem Hause DFB. Ich denke, diese Sorge sind die Herren
mittlerweile los; andere noch nicht. Trotz des großen Engagements von Präsident Dr. Zwanziger macht sich die
Entwicklung des Frauenfußballs noch nicht in den Verbandsstrukturen bemerkbar. 47 Mitglieder bilden das
Präsidium und den Vorstand des Deutschen FußballBundes; darunter befindet sich gerade einmal eine einzige Frau. Damit steht auch der DFB in der unrühmlichen Tradition der meisten deutschen Sportverbände, in
denen nach wie vor fast nur Männer das Sagen haben.
Es gibt nicht nur diesen, sondern auch noch andere
gute Gründe, auch diese Weltmeisterschaft zum Anlass
zu nehmen, sport- und gesellschaftspolitische Forderungen zu diskutieren. Daher vorab ein Dank an die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen für die
Einbringung des Antrags. Im vergangenen Jahr hatte
dies meine Fraktion anlässlich der FIFA-WM in Südafrika übernommen.
Sport mit all seinen unterschiedlichen Facetten ist ein
unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft geworden und sollte für möglichst viele Bürgerinnen und
Bürger selbstverständlicher Teil der aktiven Lebensführung sein. Denn: Sport ist Gesundheitsförderung und
körperliche Rehabilitation, ist Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe und Integration, Sport ist Teil des Bildungssystems, Sport baut Brücken zwischen Menschen
unterschiedlicher sozialer Herkunft und Religion, zwischen Menschen mit Behinderung und ohne, über Landesgrenzen hinweg. Der Sport stellt sich den sozialen
und kulturellen Herausforderungen einer sich ständig
wandelnden Gesellschaft. All dies sollte die Politik im
Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen.
Mit dem vorliegenden Antrag fordern die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, die derzeitige öffentliche Aufmerksamkeit für den Frauenfußball zu nutzen, um gesellschaftspolitische Impulse zu
setzen. Dieses Grundanliegen unterstützen wir ausdrücklich. Jedoch weist dieser Antrag eine Reihe von
Defiziten auf, die uns eine Zustimmung nicht ermöglicht.
Insbesondere der Forderungskatalog liest sich wie ein
eher schlecht sortierter Wunschzettel; er listet einfach
nur alles auf, was in den letzten Jahren sportpolitisch zu
den unterschiedlichsten Anlässen diskutiert wurde.
Nicht nur das; es finden sich geradezu skurrile Forderungen. Sind Sie ernsthaft der Auffassung, dass es, wie
unter Punkt 5 gefordert, tatsächlich Aufgabe der Bundesregierung ist, den Zugang zu Spiel- und Trainingsmöglichkeiten auch für Mädchen und Frauen zu gewährleisten? Da ist der Griff in die Wünsch-dir-wasSchublade doch wohl ziemlich danebengegangen. Auch
wenn wir uns in der sportpolitischen Diskussion durchaus mit Themen auseinandersetzen, die nicht originäre
Bundesaufgabe sind, wirkt es verfehlt, konkrete Forderungen an die Bundesregierung in Bezug auf Aufgaben
zu richten, die explizit Aufgabe von Ländern und Kommunen sind. Und wenn weiter gefordert wird, eine stärkere Präsenz von Frauenfußball im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk zu unterstützen, ist das deutlich zu kurz gesprungen. Schließlich werden Erhebungen zufolge nicht
nur Fußballerinnen, sondern Sportlerinnen insgesamt in
der Berichterstattung benachteiligt. Eine ausgewogene
Berichterstattung über möglichst viele Sportarten, und
dabei natürlich gleichermaßen über Sportlerinnen und
Sportler, muss also das Ziel sein, zumal der Antragstitel
ausdrücklich die gesellschaftspolitische Komponente erwähnt. Aus den genannten Gründen ist der Antrag für
meine Fraktion nicht zustimmungsfähig; wir werden uns
bei der Abstimmung daher enthalten.
Der vorliegende Antrag gibt uns aber durchaus die
Möglichkeit, weitere grundsätzliche Anmerkungen zu
machen. Der Deutsche Fußball-Bund ist der mitgliederstärkste Verband innerhalb der FIFA, die nicht erst in
den letzten Wochen für mehr als unrühmliche Schlagzeilen gesorgt hat. Auch wenn in den kommenden Wochen
die sportlichen Ergebnisse im Vordergrund stehen werden, sind die Vorkommnisse und ungeklärten Bestechungsvorwürfe in der FIFA nach wie vor im Raum.
Auch der europäische Fußballverband UEFA mahnt
nicht grundlos konkrete Maßnahmen zur Aufklärung an.
Die Integrität des Sports ist ein hohes Gut, aber auf vielen Ebenen offenkundig dem Verfall preisgegeben. Das
allerdings zerstört die Werte des Sports und in der Konsequenz zwangsläufig seine gesellschaftliche Akzeptanz.
Aus unserer Sicht bietet sich für den Deutschen FußballBund und seinen Präsidenten als Mitglied des FIFAExekutivkomitees die Chance und Herausforderung zugleich, sich in der FIFA an die Spitze einer Bewegung zu
setzen, die für Transparenz und echte demokratische
Strukturen eintritt.
Frauenfußball wird mittlerweile in vielen Ländern
der Welt gespielt - aber längst nicht überall mit derselben Selbstverständlichkeit wie bei uns. Die FIFA hat
eine eigene Beauftragte für Frauenfußball, die erst kürzlich in einem Interview die Hürden und Barrieren geschildert hat, die Frauen in vielen Ländern überwinden
müssen, wenn sie einfach nur Fußball spielen wollen.
Hier kann Unterstützung von unserer Seite kommen: Im
Zu Protokoll gegebene Reden
Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik finanziert Deutschland Sportprojekte, die vor Ort große
Erfolge aufweisen. Leider werden diese bislang viel zu
wenig beachtet. Ich kann die Kolleginnen und Kollegen
nur ermuntern, sich bei Auslandsreisen auch über diese
Projekte zu informieren. Gleichzeitig fordere ich die
schwarz-gelbe Koalition in diesem Zusammenhang auf,
die Haushaltsmittel für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wieder auf den Stand zu bringen, den es zu
Zeiten der Großen Koalition gab.
Die Frauen-Weltmeisterschaft läuft, und eine Frau
hat allen Grund, mit Zufriedenheit auf das bisher Geleistete zurückzublicken: ich denke an Steffi Jones, die
mit der ihr eigenen Bescheidenheit vieles nicht für sich
reklamieren wird, was sie aber nachweislich maßgeblich
vorangetrieben hat. Ein perfekt organisiertes Turnier
hat natürlich Signalwirkung auch gegenüber den Ländern, in denen der Frauenfußball noch am Anfang seiner Entwicklung steht.
Daher geht ein ausdrücklicher Dank an Steffi Jones
und natürlich auch an ihr Team; gemeinsam haben sie
viel dazu beigetragen, dass diese Weltmeisterschaft bislang unter einem guten Stern steht. Persönlich freue ich
mich, dass sie dem Fußball in anderer Funktion nach
der WM erhalten bleiben wird - es gibt schließlich noch
viel zu tun!
Effiziente Ressourcennutzung sieht anders aus. Der
hier vorliegende Antrag zeigt die Grünen, wie sie sind:
mit wenig Sachkenntnis, viel heißer Luft und dem wahnhaften Zwang, alles anzugleichen. Um uns das zu vermitteln, hätten Sie keine fünf Seiten schreiben müssen.
Sie versuchen hier, alle Ihre Themen unterzubringen,
und das wohlgemerkt wenig sachbezogen und nicht immer widerspruchsfrei.
Ich will trotzdem versuchen, zu diesem nichtssagenden Antrag ein paar inhaltliche Anmerkungen zu machen.
Ich will es gleich vorwegschicken: Die Fußball-WM
der Frauen 2011 im eigenen Land ist eine tolle Sache.
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein großer Fußballfan
bin. Deswegen werde ich mir auch keines der Spiele der
Damen entgehen lassen.
Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass die Bedeutung
des Frauenfußballs noch weit hinter der des Männerfußballs zurückliegt. Das mag sein, allerdings ist das weniger gravierend, als Sie es darstellen, und auch nicht in
Stein gemeißelt.
Sie führen diese ungleich verteilte Bedeutung auf die
mangelnde mediale Präsenz von Frauenfußball zurück.
Nun muss ich Ihnen da widersprechen: Wir erleben gerade eine professionelle Medienoffensive, bei der zahlreiche TV-Sendungen, Anzeigen- und Werbekampagnen sowie Zeitungsartikel das Sommermärchen von 2011
pushen. Unsere WM-Spielerinnen werden für die verschiedensten Produkte als Werbeträger eingesetzt.
Männliche Nationalspieler wie Lukas Podolski und
Thomas Müller outen sich in TV-Spots für eine Supermarktkette als begeisterte Frauenfußball-WM-Fans. Es
gibt sogar erstmals ein Panini-Album zur Frauen-WM.
Und da das alles noch nicht reicht, rühren im gebührenfinanzierten Tatort auch noch Steffi Jones, Theo Zwanziger,
Jogi Löw, Oliver Bierhoff, Nationaltrainerin Silvia Neid
und andere Fußballprominenz die Werbetrommel. Ja,
was wollen Sie denn noch? Dass wir ein Gesetz erlassen,
das jeden Bürger zwingt, sich die Spiele anzusehen?
Vonseiten des DFB, der Öffentlichkeit und auch der
Bundesregierung wurde alles getan, damit unseren Damen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zukommt.
Außerdem sollte eines nicht unerwähnt bleiben: Das
WM-Halbfinale 1995, in dem die deutschen Damen leider China unterlagen, sahen in Deutschland 5 Millionen
Zuschauer. Beim WM-Sieg 2007 gegen Brasilien sahen
sich fast 12 Millionen Zuschauer die Partie an. Vergangenen Sonntag schalteten 15,37 Millionen Zuschauer
den Fernseher ein, um die erste WM-Begegnung unserer
Damen vor ausverkauftem Stadion zu sehen; das entspricht einem Marktanteil von 60 Prozent. Die Frauen
haben sich diese Anerkennung und dieses Plus an Aufmerksamkeit durch ihre eigene Leistung selbst erspielt und das ist auch gut so.
Ihrer Meinung nach wird der Frauen- und Mädchenfußball noch viel zu wenig gefördert. Doch in dem gleichen Antrag stellen Sie die Erfolge der deutschen Fußballdamen selbst heraus: sieben Europa- und zwei
Weltmeistertitel. Ich frage mich, wie solche sportlichen
Erfolge bei den Ihrer Meinung nach steinzeitlichen Förderbedingungen möglich sein konnten. Ich will es Ihnen
sagen: Sie haben unrecht. In Ihrem Antrag verkennen, ja
negieren Sie völlig die vorbildlichen Anstrengungen und
massiven Förderungen des DFB in Sachen Frauenfußball. Auch seitens der Bundesregierung wird mit dem
Programm „Jugend im Sport“ den Entwicklungen im
Frauen- und Mädchenfußball Rechnung getragen.
Natürlich sind es nach wie vor mehr Jungen als Mädchen, die diesen Sport betreiben, aber wir befinden uns
in einer Entwicklung, die auf noch mehr Mädchen in unseren Fußballvereinen hinsteuert. Das geht nicht von
heute auf morgen. Und schließlich ist es auch ganz natürlich, dass nicht immer genauso viele Jungen wie
Mädchen eine bestimmte Sportart betreiben. Ich sehe
darin allerdings keinen Nachteil.
In Ihrem Antrag bemühen Sie auch einmal mehr das
schöne Schlagwort „Integration“ und verpassen natürlich nicht die Gelegenheit, der Bundesregierung und der
Welt diesbezügliche Versäumnisse vorzuwerfen. Dazu
habe ich dann doch einmal eine Frage: Waren Sie schon
einmal auf einem Fußballplatz? Bei einem Verein? Ich
vermute nicht, und ich erkläre Ihnen auch gern, warum:
Sie können hier in Berlin an einem beliebigen Abend mit
ein paar Freunden oder allein auf einen Fußballplatz
gehen. Dort werden Sie dann noch andere Spielwillige
treffen, die allein vermutlich auch keine ganze Mannschaft zusammenbekommen. Und wissen Sie, was erstaunlich ist? Keiner wird Sie fragen, woher Sie kommen
oder welcher Nationalität Ihre Eltern angehören. Viel
wichtiger sind Fragen wie: „Außen oder innen?“ oder
„Mittelfeld oder Stürmer?“
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Sport ist Integration, Fußball ist Integration! Dabei
geht es nicht um Herkunft, sondern nur um Leistung. Vor
diesem Hintergrund finde ich es sehr befremdlich, dass
Sie eine zusätzliche Förderung von Mädchen und
Frauen mit Migrationshintergrund fordern. Das widerspricht in elementarer Weise den Grundsätzen des
Sports. Darüber hinaus sind gerade im Sport Menschen
mit Migrationshintergrund überproportional vertreten,
was Ihre Forderung sogar gegenstandslos macht.
Unter anderem fordern Sie weiter eine verstärkte
Förderung des Fußballs auch als Schulsport für Mädchen. Liebe Kollegen bei den Grünen, ein kleiner Kurs
in Staatskunde: Das ist Ländersache! Wenn Ihnen das so
wichtig ist, dann wenden Sie sich doch vertrauensvoll an
Ihre Länderkollegen in Regierungsverantwortung.
Außerdem habe ich mich einmal umgehört und erfahren: Mädchen haben in unseren Schulen bei Sportkursen
Wahlmöglichkeiten. So bleibt es ihnen überlassen, ob sie
Turnen, Leichtathletik, Gymnastik oder Ballsportarten
wählen. Sollten unsere Töchter sich also nicht für Fußball entscheiden, so haben auch Sie das zu akzeptieren.
Aus all den hier genannten Gründen ist der Antrag
aus unserer Sicht abzulehnen.
Zusammenfassend möchte ich noch sagen, dass die
Fußball-WM der Frauen 2011 natürlich Chancen bietet.
Ich persönlich freue mich auf die Begegnungen und
auch darauf, dass sich danach noch mehr Mädchen in
den Vereinen anmelden werden.
Frauenfußball ist längst kein Nischensport mehr, und
wenn wir unseren Weg fortsetzen, werden wir von der
Dynamik, mit der sich die Entwicklung in dieser Sportart vollzieht, überrascht sein. Frauen und Mädchen sind
auch hier auf Augenhöhe mit Männern und Jungen.
Meine Fraktion bedauert es sehr, dass ein an sich
sinnvoller Antrag der Bündnisgrünen zum Frauenfußball nicht öffentlich debattiert und nur zu Protokoll gegeben werden soll. Das ist besonders unverständlich,
weil derzeit die Frauenfußball-WM in Deutschland
stattfindet. Ein öffentliches Plenum wie der Bundestag
wäre ein angemessenes Forum gewesen, die Fortschritte
und Defizite im Frauen- und Mädchenfußball zu debattieren. Die antragstellende Fraktion gibt sich leider mit
einer Protokolldebatte zufrieden. Gerade weil die grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung parallel zur WM die
Veranstaltungsreihe „Gender Kicks 2011“ organisiert,
wäre eine öffentliche Debatte sehr hilfreich. So gibt sich
die Fraktion mit dem Effekt eines Schaufensterantrages
zufrieden. Das ist wirklich bedauerlich.
Trotz dieses Mangels lohnt es sich, diesen Antrag zu
diskutieren. Er hat im Sportausschuss unsere Zustimmung erhalten: Der Antrag geht auf eine ganze Reihe
von aktuellen Problemen ein und signalisiert unstreitig
Handlungsbedarf, auch wenn die Probleme an der einen
oder anderen Stelle sicherlich noch zu konkretisieren
sind. Zudem lässt der Antrag hier und da auch mögliche
Lösungswege vermissen.
Die derzeitige Frauenfußballeuphorie ist mit Sicherheit gesellschaftspolitisch nützlich. Es wäre fahrlässig,
die WM im eigenen Lande nicht als Basis für eine stetige
Entwicklung zu betrachten und die vorhandenen Potenziale nicht besser auszuschöpfen.
Vor acht Jahren, als die deutschen Frauen zum ersten
Mal den WM-Titel holten, wurde ihr Spiel weder besonders ernst noch besonders wahrgenommen. Hier hat
sich einiges verändert, wobei die Potenziale längst nicht
ausgeschöpft sind.
Frauen- und Mädchenfußball ist in den Sportsendungen der öffentlich-rechtlichen Medien, von der aktuellen
WM abgesehen, nicht mehr als eine Randnotiz. Es besteht allerdings Hoffnung, dass sich die hohen Zuschauerzahlen der ersten WM-Spiele in den Köpfen der Programmdirektoren bei ARD und ZDF festsetzen und die
Herren - meistens sind es Männer - ihre Lernfähigkeit
unter Beweis stellen.
Dennoch gibt es eine plausible Begründung für die
Ungleichbehandlung: Die Frauen-Bundesliga ist derzeit
nicht sonderlich attraktiv, weil es noch zu wenige gleichwertige Mannschaften gibt. Denn der Frauenfußball hat
längst nicht die sportliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung wie der Männersport. Fußballerinnen erhalten nur einen Bruchteil des Gehalts ihrer
männlichen Kollegen. Ähnliches gilt für die Prämien der
Nationalmannschaften. Es ist für junge Frauen derzeit
unmöglich, den Berufswunsch „Fußballerin“ als Ganztagsjob zu verfolgen, zumal die „duale Karriere“ im
Frauenfußball praktisch keine Bedeutung hat. Nur wenige Fußballerinnen können von ihrem Sport leben.
Beim Frauen- und Mädchenfußball geht es schließlich besonders um die Förderung des Breitensports.
Hier zieht sich der Bund weiterhin so weit wie möglich
aus der Verantwortung und überlässt die Finanzierung
des Sports den chronisch klammen Ländern und Kommunen. Auch deshalb fordert die Linke im Bundestag
seit langem ein Sportfördergesetz des Bundes, das sich
des Breiten- und Freizeitsports genauso annimmt wie
des Schulsports. Gerade im Schulsport müssen in allen
Bundesländern die gleichen Mindeststandards gelten.
Von Verantwortlichen im Bund wird gerne darauf verwiesen, dass diese Frage in den Kompetenzbereich der
Länder fällt. Damit sich die Bunderegierung nicht weiter aus der Verantwortung herausreden kann, fordert die
Linke, Sport als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.
Solche konkreten politischen Forderungen fehlen leider
im Antrag der Grünen.
Dabei ließen sich viele der 20 im Antrag aufgestellten
Einzelforderungen auf einer solchen Grundlage schneller und effizienter umsetzen. Es steht außer Frage, dass
Sport einen wichtigen Beitrag zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund leisten kann. Es steht
auch außer Frage, dass derzeit nur wenige Frauen und
Mädchen mit Migrationshintergrund zum Fußball finden. Das Programm des Bundesinnenministeriums „Integration durch Sport“ böte eine gute Ausgangsposition,
Mädchen mit Migrationshintergrund neue Freiräume
auch im Fußball zu eröffnen und die kulturelle Integration voranzubringen. Es besteht aber leider ständig die
Zu Protokoll gegebene Reden
Gefahr, dass die finanzielle Ausstattung eines solchen
Programms gekürzt oder ganz gestrichen wird. Stünde
der Sport als Staatsziel im Grundgesetz, ließen sich solche Einschnitte viel schwerer durchsetzen.
Dann wäre es übrigens für den Haushaltsausschuss
auch nicht so leicht gewesen, den Goldenen Plan zur
Sportstättensanierung still und heimlich zu beerdigen.
Was erst einmal aus den Haushaltsaufstellungen der
Bundesregierung verschwunden ist, wird so schnell
nicht wieder auftauchen. Dabei gibt es großen Sanierungsbedarf. Diesen Aspekt spricht der vorliegende Antrag nicht an, obwohl er ein Kernproblem aufgreift: Für
die Stärkung des Frauen- und Mädchensports, nicht nur
des Fußballs, ist es unbedingt erforderlich, auch die
Sportanlagen baulich entsprechend anzupassen. Es geht
dabei um mehr als die energetische Sanierung, die der
Antrag als Beitrag zum Klimaschutz zu Recht einfordert.
Wenn Mädchen und Frauen Sport treiben wollen, müssen ihnen auch Umkleideräume und Duschen zur Verfügung stehen. Aufgrund der oft veralteten Sportanlagen
in Deutschland gibt es da große Defizite. Um einen solchen Umbau realisieren zu können, muss ein bundesweites Sportstättensanierungsprogramm neu aufgelegt werden, denn die kaputtgesparten Kommunen können dies
in aller Regel nicht leisten.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports reicht in
viele Bereiche hinein und über die deutschen Grenzen
hinaus. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Antrag
nicht auf den Fußball beschränkt. Sport ist eben auch
Bestandteil der Umwelt-, der Entwicklungs- und der
Kulturpolitik. Wenn die Frauenfußball-WM als Türöffner für eine größere Akzeptanz und für stärkeren Einfluss des Mädchen- und Frauensports in Deutschland
wirken soll, müssen die sich daraus ergebenden Chancen unmittelbar aufgegriffen werden. Bloße Sonntagsreden und Absichtserklärungen reichen hier nicht aus.
Begeisterung für Fußball ist an sich nicht Neues aber Begeisterung für Frauenfußball ist nach wie vor
noch nicht überall verbreitet.
Derzeit kann man die Spuren dieser Begeisterung an
vielen Plätzen in Deutschland erleben. Dafür, wie sich
diese Begeisterung auch nachhaltig auf den Sport und
die Gesellschaft übertragen lässt, machen wir mit diesem Antrag für den Frauenfußball Vorschläge.
Der von unserer Fraktion vorgelegte Antrag zeigt wesentliche Chancen für eine bessere Politik auf, die durch
den Sport generiert werden: für eine Integrationspolitik
ohne erhobenen Zeigefinger, für eine Stärkung der
Frauen im Sport, für den Mut zu einer Einführung verbindlicher ökologischer Standards in der Durchführung
von Sportgroßveranstaltungen.
Die gesellschafts- und integrationspolitische Bedeutung des Sports wird vor allem dort deutlich, wo es jungen Migrantinnen ermöglicht wird, in der Freizeit oder
im Verein Sport zu treiben. Dafür sind die Kapazitäten,
die momentan von der Bundesregierung zur Verfügung
gestellt werden, schlicht nicht ausreichend. Das betrifft
nicht nur die Sportstätten, bei denen der Innenminister
jährlich drei Millionen Euro einsparen möchte. Das betrifft vor allem die Unterstützung durch die Politik, wenn
es um die personelle Infrastruktur des Sports geht.
Zwar ist durch das bereits seit 1989 laufende Programm „Integration durch Sport“ ein Pool geschaffen
worden, in dem der Förderung von Migrantinnen im
Sport eine wichtige Rolle zukommt. Aber es bedarf bei
solch einer Vielzahl von einzelnen Initiativen einer ständigen programmbegleitenden Evaluierung. Um Menschen mit Migrationshintergrund an den Sport heranzuführen, ist es daher nötig, die Entwicklungen auch auf
Verbandsebene in Deutschland aktiv zu begleiten.
Doch was heißt eigentlich Integration im Sport? Die
Bundesregierung hat bisher jedenfalls noch keine ausreichende Antwort gegeben - die Vorstellung des Innenministers im Sportausschuss ließ an dieser Stelle doch
Einiges vermissen. Unser Antrag macht deswegen deutlich, wo integrative Maßnahmen im Sport zu verstärken
sind. Gerade durch das bürgerschaftliche Engagement,
bei dem überhaupt erst gewährleistet wird, dass organisierter Sport stattfinden kann, ist ein ungeheures gesellschaftspolitisches Potenzial vorhanden. Doch es fehlt
den Vereinen an interkulturell sensibilisierten Übungsleiterinnen und Übungsleitern, an qualifiziertem Personal auch auf der Ebene der Entscheidungsträger, die viel
zu selten weiblich sind. Migrantinnen sind dort so gut
wie gar nicht vertreten.
Zudem muss es mehr Multiplikatorinnen geben, die
eine Brücke zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen herstellen und die Idee des Sports zu den Menschen
bringen.
Denn wir Grüne begreifen Integration nicht als Einbahnstraße. Die Teilhabe von Migrantinnen und
Migranten an gesellschaftlichen Prozessen kann nur
dann gewährleistet werden, wenn die strukturellen Rahmenbedingungen dafür gegeben sind. Die demografische Entwicklung in Deutschland läuft neben der Erhöhung des Durchschnittsalters auch auf eine zunehmende
kulturelle Vielfalt hinaus: schon jetzt findet etwa die
Hälfte der Menschen, die nach Deutschland kommt,
langfristig ihr Zuhause in Deutschland. Der Sport bietet
ein hervorragendes Feld dafür, um auch frühzeitig Menschen mit Migrationshintergrund einzubeziehen. Die
stärkere Vernetzung von Sportinitiativen und Schulen ist
daher eine der zentralen Forderungen unseres Antrags.
Der Sport ist gesellschaftspolitisch nicht nur Sinnbild
für Interaktion, sondern eine gesellschaftliche Stütze,
die aufrechterhalten werden muss.
Bei aller Euphorie im Rahmen der diesjährigen Fußball-WM dürfen wir die noch immer vorhandenen Probleme des professionellen Frauenfußballs nicht vergessen: Frauenfußball findet im Ligaalltag fast nicht statt.
Die Übertragung aller WM-Spiele im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist eine absolute Ausnahme, wenn es um
die Sportberichterstattung beim Frauenfußball geht. In
kaum einer Sportsendung taucht bisher ein Bundesligaspiel der Frauen auf, höchstens die entscheidenden
Finale finden die Beachtung der Medien. So bleibt der
Zu Protokoll gegebene Reden
Frauenfußball medial in den Kinderschuhen. Zu einer
Etablierung und einer weiteren Verbesserung dieses
Sports - der im Übrigen derselbe ist wie der Fußball der
Männer, meine Herren - ist die Präsenz im öffentlichrechtlichen Rundfunk unerlässlich.
Ein Wort auch zu den jüngsten Entwicklungen bei der
FIFA: Wir dürfen nicht zulassen, dass die skandalösen
Ereignisse der letzten Zeit und die peinliche Außendarstellung des Weltverbandes in eine Sackgasse führen.
Die FIFA muss sich - zugunsten der beliebtesten Sportart weltweit - ab sofort von Grund auf erneuern. Finanzielle Transparenz und demokratische Legitimität müssen dort endlich Einzug halten. Die Chancen, welche
durch den Fußball noch immer eröffnet werden, dürfen
aber nicht von Meldungen über korrupte Verbände überschattet werden. Der Fußball schafft die ersten Kontakte
auch zu Ländern, mit denen die diplomatischen Beziehungen sich als schwierig erweisen.
Die Fußball-WM der Frauen ist ein klimaneutrales
Sportgroßereignis. Das insgesamt zum dritten Mal nach
2006 und 2010 implementierte Nachhaltigkeitskonzept
„Green Goal“ darf aber keine Ausnahme bleiben. Nachhaltigkeitskriterien, wie sie auch für diese WM wieder
nur freiwillig zustande gekommen sind, müssen für alle
Großereignisse in Deutschland verbindlich gemacht
werden. Es ist darüber hinaus zu überlegen, ob ähnliche
Konzepte nicht auch dauerhaft im Ligabetrieb etabliert
werden sollen.
Vielleicht verändert die Regierung ja auch hier ihre
Einschätzungen und steht endlich für eine kohärente Klimapolitik ein. Lassen Sie uns diese Chance nutzen, mit
dem Sport etwas zu bewegen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Sportausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5907 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken.
Enthaltungen? - Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programme „Schulverweigerung - Die
2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ erhalten
- Drucksache 17/6103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind bei uns bekannt.
Mit der Initiative „JUGEND STÄRKEN“ hat das
Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
seine bereits bestehenden Programme für benachteiligte
junge Menschen und Jugendliche mit Migrationshintergrund erheblich gebündelt und geschärft. Gleichzeitig
ist es gelungen, die bestehenden Programme besser aufeinander abzustimmen und sie zum Teil erheblich auszubauen. Die Initiative „JUGEND STÄRKEN“ bündelt
dabei die Programme „Schulverweigerung - Die 2.
Chance“, die „Kompetenzagenturen“, das Programm
„STÄRKEN vor Ort“ sowie die Jugendmigrationsdienste.
Bundesweit bilden mehr als 1 000 Standorte der Initiative ein flächendeckendes Netzwerk an Angeboten
und Strukturen. Mit den Programmen ist die Bundesregierung neue Wege gegangen. Benachteiligte junge
Menschen, die bei ihrer Lebensplanung zu scheitern
drohen, erhalten mithilfe der Programme kompetent und
einfühlsam die Hilfe, die sie brauchen, um in ihrem Alltag künftig besser zu bestehen. Einer der Schwerpunkte
liegt dabei unter anderem auf den Jugendmigrationsdiensten. Wir wollen damit junge Migrantinnen und Migranten begleiten und sie bei der Integration in die Gesellschaft unterstützen. Es hat sich dabei ein
beachtliches Netzwerk gebildet, das jungen Migranten
wirksam und unbürokratisch weiterhilft. Dies ist ein voller Erfolg.
Mit den Programmen werden junge Menschen dort
abgeholt, wo sie sind. Gerade die unbürokratische und
behutsame Herangehensweise stellt sicher, dass junge
Menschen die Angebote als ehrlich und auf Augenhöhe
empfinden. Dies ist der Schlüssel zur Akzeptanz bei den
Betroffenen und damit auch zum konkreten Erfolg der
Programme.
Einer der Schwerpunkte der Initiative ist dabei die
Aktivierung der Stärken junger Menschen. Nicht selten
geht es darum, bestehende Stärken zu wecken, sie förmlich „wiederzubeleben“ und den Jugendlichen den
Glauben an sich selbst zurückzugeben. Dies gelingt
nicht selten in beachtlicher Art und Weise.
Gleichzeitig wird das Umfeld der Betroffenen angeregt und unterstützt, sich für die Perspektiven junger
Menschen aktiv einzusetzen. Und erfreulicherweise bedarf es dazu oft keiner großen Überredungskunst. Der
Punkt ist viel häufiger, dass es einfach jemanden geben
muss, der sein Umfeld mitzieht und neue Impulse gibt.
Besonders erfreulich ist die geschickte Abstimmung
der Programme auf die tatsächlichen Bedürfnisse benachteiligter Jugendlicher. Das Programm „Aktiv in der
Region“ zielt auf ein möglichst lückenloses Fördersystem, um den Übergang von der Schule in das Berufsleben, wo es leider häufiger Probleme gibt, zu vereinfachen und gleichzeitig wichtige Starthilfe zu geben. Dies
geschieht auch in wohlverstandenem Interesse des SteuDr. Peter Tauber
erzahlers. Denn ein geglückter Einstieg in das Berufsleben kann helfen, hohe Kosten für den Sozialstaat zu sparen.
Das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“
soll erreichen, dass junge Menschen, die den Besuch der
Schule verweigern, eine neue Perspektive erhalten, mit
dem Ziel, sie wieder in die Schulen eingliedern zu können, damit sie einen Abschluss machen können und ihre
Chance auf ein beruflich erfolgreiches Leben nicht frühzeitig aufgeben. Dies passiert nicht im luftleeren Raum,
sondern in enger Abstimmung mit Eltern und Lehrkräften. Damit wird erreicht, dass die Fördermaßnahmen
auch tatsächlich auf den Bedarf jedes einzelnen abgestimmt sind.
Die Kompetenzagenturen hingegen unterstützen besonders benachteiligte Jugendliche. Hierbei geht es
häufiger über die Frage hinaus, einen Beruf zu finden.
Häufig geht es darum, den Jugendlichen dabei zu helfen,
einen Weg in die Gesellschaft zurück zu finden. Gerade
diejenigen, die vom bestehenden System der Hilfeangebote für den Übergang von der Schule in den Beruf nicht
mehr erreicht werden, erhalten hier engagierte und persönliche Hilfe. Für den Einsatz möchte ich mich im Namen meiner Fraktion bei Ministerin Schröder herzlich
bedanken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren bei der SPD,
mit Ihrem Antrag malen sie - wie in letzter Zeit leider zu
häufig - in fatalistischer Weise den Teufel an die Wand.
Es lohnt sich daher, einmal genau auf die Faktenlage zu
schauen:
Im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens der Programme „Kompetenzagenturen“ und „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ hat das Familienministerium
Ende Mai entschieden, die bisher zur Verfügung stehenden ESF-Mittel von 50 auf 80 Millionen Euro für den
Förderzeitraum September 2011 bis Ende 2013 zu erhöhen und sämtliche 409 förderfähigen Träger, die sich am
Interessenbekundungsverfahren beteiligt haben, zur Antragstellung zuzulassen. Damit erhalten von insgesamt
430 Antragstellern nur 21 aus fachlichen, nicht aus finanziellen Gründen eine Absage.
Die Antragsaufforderung erfolgte am 31. Mai 2011
durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Bis 1. Juli haben die Träger noch Zeit, ihren Antrag einzureichen. Danach erfolgt das Bewilligungsverfahren, sodass ab September mit einer
nahtlosen Weiterförderung zu rechnen ist. Niemand wird
dabei im Regen stehen gelassen.
Die zur Verfügung stehenden ESF-Mittel von 80 Millionen werden in einem gerechten Verfahren auf Grundlage der ESF-Anforderungen auf die Länder verteilt. Da
die zur Verfügung stehenden Fördermittel nicht ausreichen, um die 409 förderfähigen Träger mit der im Interessenbekundungsverfahren angegebenen Fördersumme
zu fördern - durch die Träger wurden Mittel von mehr
als 100 Millionen Euro beantragt -, mussten die beantragten Mittel teilweise gedeckelt werden, sofern die
Mittel für das Zielgebiet und das entsprechende Bundesland erschöpft waren. Dies ist nichts Unübliches - im
Gegenteil, es ist Bestandteil eines üblichen Antragsverfahrens.
Sämtliche Interessenbekundungen für die ESF-Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ wurden nach einem einheitlichen Bewertungsverfahren geprüft. Die fachlich-inhaltliche Bewertung erfolgte durch ein objektives Bewertungsraster und wurde unabhängig von zwei Prüfern
durchgeführt. Die beiden Einzelbewertungen waren
Grundlage für die Gesamtbewertung. Die Deckelung
einzelner Träger ist nach der im Bewertungsverfahren
erreichten Punktzahl und somit nach der Qualität der
Interessenbekundungen erfolgt.
Voraussetzung für eine Förderung und somit Aufforderung zur Antragstellung war das Erreichen einer Mindestpunktzahl. Förderwürdig waren insofern nur Interessenbekundungen, die mindestens 50 Prozent der
möglichen Punkte erreicht haben. Da es sich dabei um
Fördersummen im sechsstelligen Bereich handelt, ist es
ein Gebot der Verantwortung gegenüber den Steuerzahlern, eine maßvolle Vergabe von Steuermitteln zu praktizieren, die sich auf Qualitätsstandards gründet und nicht
einfach wahllos Gelder mit der Gießkanne verteilt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren bei der SPD,
das von Ihnen gemachte Rechenspiel greift eindeutig zu
kurz. Es bildet nicht den tatsächlichen Bedarf ab, sondern rechnet nur eine bis August 2011 bestehende Förderung hoch. Sie verkennen, dass es nicht um eine Einszu-eins-Weiterförderung bestehender Standorte geht,
sondern die Programme mit neuer Akzentsetzung ausgeschrieben wurden und eine Bewerbung der Träger erforderlich ist, die bestimmten Qualitätskriterien unterliegt.
Wie gesagt: Erst wenn die Qualität stimmt, wird ein Bescheid erteilt.
Auch Ihre pauschale Forderung nach Erhalt aller
Standorte der Kompetenzagenturen und des Programms
„2. Chance“ geht an der Sachlage vorbei. Noch einmal
zur Klarstellung: Aktuell werden die Programme
„Schulverweigerung - Die 2. Chance“ an 192 Standorten durch 173 Träger und das Programm „Kompetenzagenturen“ an 204 Standorten durch 200 Träger ({0}) umgesetzt. Im Rahmen
der neuen Ausschreibung wurden alle 409 förderfähigen
Träger zur Antragstellung aufgefordert, die insgesamt
408 Standorte, also 208 „Kompetenzagenturen“ und
200 Koordinierungsstellen der „2. Chance“ bedienen.
Damit werden ab September 2011 sowohl auf Trägerebene als auch nach Standorten mehr Aktivitäten als in
der aktuellen Förderphase gefördert. Die Differenz von
Träger und Standorten kommt dadurch zustande, dass es
Träger gibt, die sich zu einem Trägerverbund zusammengeschlossen haben, aber aus finanztechnischer Sicht
jeweils getrennte Anträge stellen müssen.
Auch Ihre Forderung, eine Kofinanzierung aus dem
SGB II/III über den 1. Januar 2012 hinaus zu ermöglichen, liegt neben der tatsächlichen Situation. Die Kofinanzierung des Programms „Kompetenzagenturen“
aus SGB-II/III-Mitteln ist ab dem 1. Januar 2012 nicht
mehr möglich. Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII
obliegt - wie Sie wissen - den Kommunen, die für die
Zu Protokoll gegebene Reden
Umsetzung des SGB VIII zuständig sind. Im Hinblick auf
die gewünschte Verstetigung des Angebots und zur Stärkung der kommunalen Verantwortung sollen daher die
erforderlichen Kofinanzierungen in erster Linie aus
kommunalen Mitteln erbracht werden. Die nach einer
Übergangszeit bis Ende 2011 auslaufende Möglichkeit
der 20-prozentigen Kofinanzierung aus Mitteln des
Zweiten und Dritten Buches Sozialgesetzbuch trägt diesem Anliegen Rechnung.
Zudem kann künftig ergänzend auch eine Kofinanzierung aus dem Bundesprogramm der Jugendmigrationsdienste erbracht werden. Jugendmigrationsdienste und
Kompetenzagenturen weisen sowohl hinsichtlich der
Zielgruppe als auch bei den angewendeten Instrumenten
und Arbeitsmethoden eine große Schnittmenge auf. Daher ist beabsichtigt, mit beiden Einrichtungen näher zusammenzurücken. Ein erster Schritt zur Synergie ist die
mit der neuen Ausschreibung zugelassene Möglichkeit
der nationalen Kofinanzierung aus der Bundeszuwendung der Jugendmigrationsdienste, mit der die Zusammenarbeit vor Ort positiv befördert werden soll.
Wichtig für die Arbeit vor Ort ist daher in meinen Augen ganz besonders die Botschaft, dass beide Programme, also sowohl das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ als auch das Programm
„Kompetenzagenturen“ in Zukunft weitergeführt werden. Dies ist nicht zuletzt dem Erfolg und der Qualität
der Programme geschuldet, wofür der Bundesregierung
noch einmal ein herzlicher Dank gebührt.
Ein wichtiges Signal ist zudem, dass alle förderfähigen Antragsteller bereits ihre Anträge erhalten haben.
Ich bin sicher, dass es gelingen wird, das flächendeckend aufgebaute Hilfesystem der Initiative „JUGEND
STÄRKEN“ zu erhalten - und dies auf hohem Niveau.
Diese Bundesregierung hat sich die Förderung benachteiligter Kinder in enger Partnerschaft mit den Kommunen zum Ziel gemacht und wird diesen Weg konsequent
weiter beschreiten. Ihr Antrag hingegen läuft den Entwicklungen hinterher, ihre spekulativen Forderungen
sind für die Antragstellung zudem irrelevant und keinerlei Hilfe für die Arbeit vor Ort. Ihren Antrag werden wir
daher auch ablehnen. Die christlich-liberale Regierung
kümmert sich stattdessen mit Hochdruck darum, dass
alle Förderbescheide in den kommenden Wochen erteilt
werden, damit die Arbeit im September nahtlos fortgeführt werden kann.
Insgesamt fünf Modellprogramme sind unter dem
Dach der Initiative „Jugend stärken“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
BMFSFJ, zusammengefasst. Ende 2010 gab das
BMFSFJ das Aus für das Programm „Stärken vor Ort“
bekannt. Für zwei weitere Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ verkündete es, dass diese im Jahr 2011 neu ausgeschrieben
werden sollen, obwohl die Förderphase ursprünglich bis
ins Jahr 2013 geplant war.
Im Februar 2011 rückte das BMFSFJ dann mit der
ganzen Wahrheit raus: Im Zuge der Neuausschreibung
sollten die Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds,
ESF, für die Programme „Schulverweigerung - Die 2.
Chance“ und „Kompetenzagenturen“ um die Hälfte gekürzt werden. Zusätzlich soll für das Programm „Kompetenzagenturen“ die bis zu 20-prozentige Kofinanzierung über den SGB-II- und SGB-III-Bereich ab Januar
2012 entfallen.
In der letzten Maiwoche setzte die zuständige Ministerin Schröder die ESF-Mittel nach vehementen Protesten der Trägerorganisationen kurzerhand für die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ von 50 Millionen auf 80 Millionen Euro hoch. Die SPD-Bundestagsfraktion hat das
aus einer Pressemitteilung des Ministeriums erfahren.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich das
Heraufsetzen der Fördersumme. Dennoch liegt der jahresdurchschnittliche Fördermittelbetrag in der neuen
Programmphase ({0}) nur noch bei 34,29 Millionen Euro. Das ist eine Kürzung der Förderung um
über 13 Millionen Euro pro Jahr bzw. um 28 Prozent.
Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass die Fördersumme auf die bisherige Höhe von 112 Millionen Euro
aufgestockt wird. Für uns ist nicht nachvollziehbar, warum das BMFSFJ an dieser Stelle die ESF-Mittel um fast
ein Drittel kürzt.
Aktuell werden rund 40 000 junge Menschen bundesweit in 192 Anlauf- und Beratungsstellen für das Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ sowie
204 Kompetenzagenturen unterstützt. Es zeichnet sich
ab, dass Länder und Kommunen alleine die drohende
Finanzierungslücke nicht auffangen können. In der Konsequenz bedeutet dies, dass durch die Kürzung der Mittel entweder die Anzahl der Standorte oder die Qualität
der Arbeit vor Ort gefährdet ist.
Logisch zu begründen ist die Kürzung nicht. Beide
Programme werden vom BMFSFJ hoch gelobt und haben eine außergewöhnlich hohe Erfolgsquote, weil es
sich um Programme der aufsuchenden Sozialarbeit handelt. 60 Prozent der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher erreichen mit dem Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ einen Schulabschluss. Die
„Kompetenzagenturen“ bringen rund 70 Prozent der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Job oder Ausbildung. Auch eine Änderung der Förderschwerpunkte in
der Europäischen Union betrifft diese Programme nicht.
Den Trägerorganisationen ist ganz besonders die
SGB-II- und SGB-III-Kofinanzierung ein wichtiges Anliegen, die die Bundesregierung per 1. Januar 2012 bei
dem Programm „Kompetenzagenturen“ abschaffen will.
Auch hier wäre es durchaus logischer, die Kofinanzierung durch das SGB II oder SGB III zuzulassen. Die jungen Menschen sind oft seit langem arbeitslos, sodass sie
ohnehin Leistungen aus dem SGB II oder SGB III beziehen. Die Zuständigkeit auf längere Sicht nun alleine auf
die Kommunen und die Länder zu verlagern, ist der falsche Weg. Hier wird wieder einmal der Verschiebebahnhof hin zu den Kommunen eröffnet.
Auffällig ist, dass die Bundesregierung nach den Kürzungen im Programm „Soziale Stadt“ nun weitere ProZu Protokoll gegebene Reden
gramme kürzt, die ebenfalls in sozialen Brennpunkten
wirken. Im Blick haben muss man dabei auch die Kürzungen, die mit dem „Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“ drohen.
Mit diesem Gesetz will die Bundesregierung eine Arbeitsmarktpolitik nach Kassenlage einführen. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Einstiegsqualifizierung als ein
erfolgreiches Instrument des Übergangssystems künftig
nur noch bis 2014 laufen zu lassen. Ein unbürokratischer Zugang zu den Leistungen zur Vorbereitung auf einen Hauptschulabschluss ist mit diesem Gesetzentwurf
weiterhin nicht gewährleistet. In diesen Bereichen zu
kürzen bedeutet echten Brennstoff für die Kommunen. Es
bedeutet im Klartext, dass die Bundesregierung bereit
ist, Menschen zurückzulassen, ohne Schulabschluss,
ohne Arbeit.
Das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
Wir lassen keinen Menschen zurück, sondern wir fordern neben dem Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses das Recht auf einen Ausbildungsplatz.
In Zeiten eines drohenden Fachkräftemangels müssen
die Programme, die jungen Menschen einen Schulabschluss oder einen Ausbildungsplatz ermöglichen, ausgebaut werden. Denn jetzt bekommen wir die Menschen
raus aus der Arbeitslosigkeit und raus aus der Perspektivlosigkeit.
Die Bundesregierung redet ständig vom drohenden
Fachkräftemangel und sucht nach einfachen und schnellen Lösungen. Die insgesamt 1,5 Millionen Menschen
im Alter von 20 bis 29 Jahren ohne Berufsabschluss
kommen dabei in den Planungen der Bundesregierung
schlichtweg nicht vor. 17 Prozent der jungen Menschen
im Alter von 20 bis 29 Jahren blendet die Bundesregierung einfach aus. Ja, sie geht noch weiter und kürzt bewusst in diesem Segment.
Das bedeutet, 1,5 Millionen junge Menschen haben
weiterhin sehr schlechte Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Sie leben in der ständigen Gefahr, das eigene Leben nicht selbst bestreiten zu können und damit immer
wieder auf staatliche Leistungen angewiesen zu sei.
Und das, obwohl wir das Potenzial aller Jugendlichen angesichts des drohenden Fachkräftemangels dringend benötigen.
Ohne einen sicheren und fair bezahlten Arbeitsplatz
zögern viele, eine Familie zu gründen und sich eine eigene Existenz aufzubauen. Unser Ziel muss es sein, wieder mehr jungen Menschen den Weg in ein Normalerwerbsverhältnis zu ebnen. Die Regulierung der Leiharbeit, die Abschaffung sachgrundloser Befristungen
und ein gesetzlicher Mindestlohn sind dabei wichtige
Schritte.
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die Kürzung für
die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“
und „Kompetenzagenturen“ ab. Sie fordert, ESF-Mittel
in Höhe von mindestens 112 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Außerdem fordert die SPD-Bundestagsfraktion, die 20-prozentige Kofinanzierung beim Programm „Kompetenzagenturen“ auch über den 1. Januar
2012 hinaus zu ermöglichen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat für ihren Antrag die
volle Rückendeckung der Länder. Die entsprechende
Landesministerkonferenz hat einen einstimmigen Beschluss gefasst. Sie wollen die Forderungen der SPDBundestagsfraktion mit einem eigenen Antrag im Deutschen Bundesrat unterstützen. Dieser wird insbesondere
die Weiterführung der Kofinanzierung im SGB II nach
dem 1. Januar 2012 fordern.
Daher mein dringender Apell an das BMFSFJ: Setzen Sie die Mittel für diese wichtigen Programme herauf! Daher mein dringender Apell an das Ministerium
für Arbeit und Soziales: Ermöglichen Sie die Kofinanzierung im SGB II und SGB III für diese wichtigen Programme und unterzeichnen Sie die entsprechende Verwaltungsvereinbarung.
Im Rahmen der Initiative „JUGEND STÄRKEN“
bündelt das Bundesjugendministerium seit 2009 Programme, die gezielt die Förderung von benachteiligten
junge Menschen und Jugendlichen in Angriff nehmen,
die von regulären Hilfsangeboten nur unzureichend erreicht werden. Zu den mittlerweile fünf Programmen der
Initiative zählen auch die Programme „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“, auf
die sich der vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion kapriziert. Die beiden angesprochenen Programme richten
sich zum einen an Schulverweigerer und setzen zum anderen an der Hürde an, an der immer noch zu viele junge
Menschen nach einem Schulabschluss Probleme bekommen: der ersten Schwelle, dem Übergang von der Schule
in die Berufsausbildung.
Diesen Programmen wurde zuletzt große Aufmerksamkeit zu teil. Ich wünschte, ich könnte heute sagen,
dass diese Aufmerksamkeit sich auf den außerordentlichen Erfolg der Projekte gründete. Denn erfolgreich
waren und sind sie beide. Das war anfangs aber nicht
der Fall. Größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren
die Programme erst, als sie planmäßig auslaufen sollten.
Und das muss, zu meiner großen Verwunderung, einige Vertreter der Opposition völlig unerwartet getroffen haben, wie ein kalter Waschlappen morgens um fünf
im Bett. Zumindest vermittelten Sie in Ihren Pressemitteilung genau diesen Eindruck. Von Kürzungen war die
Rede. Ich frage Sie: Wie kann das sein?
Ich möchte Ihrer Erinnerung gerne auf die Sprünge
helfen: Die ESF-geförderten Programme sollten von Anfang an zum Sommer 2011 auslaufen. Das war allen Beteiligten, auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, die diese Programme zu Ihrer eigenen Regierungszeit teilweise noch aufgelegt haben,
lange bekannt. Sie hatten das selbst so beschlossen. Es
hat keine Mittelkürzungen im Bereich der Programme
der Initiative, JUGEND STÄRKEN, gegeben, zu keinem
Zeitpunkt. Entsprechende Behauptungen wurden wider
besseres Wissen in Umlauf gebracht. Meine Damen und
Herren, das zeugt nicht nur von schlechtem Stil, das war
scheinheilig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Während die Opposition noch fleißig mit dem Schreiben von Pressemitteilungen beschäftigt war, hat sich
meine Fraktion hingegen von Anfang für eine Anschlussfinanzierung, für die Weiterführung der genannten Programme eingesetzt. Entsprechende Gespräche
zwischen den Koalitionsfraktionen und den beteiligten
Ministerien fanden über Wochen hinweg statt. Das mögen jetzt einige kaum glauben, weil darüber nicht in der
Presse berichtet wurde. Aber auch das sollten Sie sich
eine Lehre sein lassen: Nicht alles wird an die große
Glocke gehängt.
Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, kommt ihr Antrag etwas spät, eigentlich
zu spät. Es verfestigt sich der Eindruck, dass es Ihnen
weniger um die Programme und eher um Effekthascherei geht; vor allem, weil Sie fordern, dass für die Fortführung der Programme mindestens 112 Millionen Euro
aus ESF-Mitteln bereitgestellt werden sollen.
Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass die ESF-Fördersummen für mehrere Jahre fest vereinbart worden sind.
Damit ist auch klar, dass es kein zusätzliches Geld gibt.
Der Topf ist leer. Die beiden Programme können mit
80 Millionen Euro fortgeführt werden, weil ursprünglich nicht vorgesehene Rückflüsse von ESF-Mitteln hierfür aufgewendet werden.
Ihr Vorschlag, den Mittelansatz für die Programme
auf 112 Millionen Euro zu erhöhen, hätte zur Folge, dass
die von Ihnen geforderten Mittel in einem anderen Haushaltstitel gekürzt und umgeschichtet werden müssten.
Da es aber, Ihrem Antrag folgend, Ihr Wunsch und
Wille ist, zusätzliche Mittel aus dem Haushalt des Bundesfamilienministeriums zugunsten der beiden Programme umzuschichten, hoffe ich, dass Sie sich im Rahmen der Ausschussberatung die Zeit nehmen werden,
Ihre Kürzungsvorschläge zur Gegenfinanzierung Ihrer
Forderungen ausführlich zu präsentieren. Bisher hat
sich Ihre Fraktion mit Sparvorschlägen vornehm zurückgehalten. Allein deshalb sehe ich der Ausschussberatung mit Spannung entgegen.
Gleich zu Anfang möchte ich vorwegschicken, von
welcher Wichtigkeit unsere heutige Debatte ist. Wir
diskutieren an dieser Stelle die Initiative „JUGEND
STÄRKEN“. Mit ihr fördert das Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend Unterstützungsangebote der Jugendhilfe zur sozialen, schulischen und
beruflichen Integration benachteiligter Jugendlicher. Es
ist ein unglaublich wertvolles Programm, das den jungen Betroffenen zielgenaue Unterstützung zukommen
lässt. Die Ergebnisse fasste der Kooperationsverbund
Jugendsozialarbeit wie folgt zusammen: Derzeit werden
allein durch die Teilprogramme „Schulverweigerung Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ der Initiative 40 000 junge Menschen an etwa 200 Standorten auf
ihrem Weg zu ihrem Schulabschluss und bei ihrem Übergang in den Beruf unterstützt. Mittels Fördermittel des
Bundes und der EU, im Rahmen des Europäischen Sozialfonds, sollte bis 2013 ein Netzwerk aus insgesamt
1 000 Standorten entstehen. Programmevaluationen haben die grundsätzliche Qualität der Initiative unterstrichen. Allein „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ bewirkte über eine gezielte und intensive individuelle
Förderung junger Menschen, dass 60 Prozent von ihnen
wieder in die Schule reintegriert werden konnten. Die
„Kompetenzagenturen“ haben nachweislich vielen benachteiligten jungen Menschen das Erreichen einer
Ausbildung ermöglicht und/oder sie bei ihrem Eintritt
ins Arbeitsleben unterstützt. An dieser Stelle sei von
ganzem Herzen all denen gedankt, die zum Erfolg dieses
Programms auf vielen verschiedenen Wegen beigetragen haben.
Geplant war nun ab September diesen Jahres seitens
der EU und des Bundes, nur noch einen Teil der bisherigen Fördergelder bereitzustellen. Dagegen haben sich
unzählige Sozialverbände, Teile der Opposition und natürlich auch meine Fraktion energisch zur Wehr gesetzt.
Mit Erfolg! Die Initiative „JUGEND STÄRKEN“ bleibt
zum großen Teil bis 2013 bestehen, so zumindest im
Falle der beiden wichtigen Teilbereiche „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“.
Dies kann man der aktuellen Erklärung des BMFSFJ
entnehmen. Es ist ein erfreulicher Schritt, dass die Bundesregierung sich nun der Wichtigkeit ihres eigenen
Programmes bewusst wird. An dieser Stelle darf man die
Regierung auch einmal loben. Jedoch gibt es trotz allem
einige Wehrmutstropfen: Das Teilprogramm „STÄRKEN
vor Ort“, das mit Mikroprojekten vor Ort den Jugendlichen zur Seite steht, soll in diesem Jahr komplett gestrichen werden. Die Linke aber sagt: Hände weg von der
Initiative „JUGEND STÄRKEN“ - und zwar ohne Wenn
und Aber! Jede Kürzung stellt eine massive Gefährdung
einer sehr erfolgreichen Initiative dar, die als Gesamtpaket dringend weitergeführt und verstetigt werden
muss.
Wir als Linke fordern vier Punkte und gehen damit
über den - durchaus korrekten - Antrag der SPD mit einigen Forderungen hinaus. Diese Forderungen werden
auch in einem eigenen Antrag meiner Fraktion in Kürze
im Bundestag zur Abstimmung stehen. Ich denke, unsere
Fraktionen werden sich im Ausschuss dazu einigen können. Uns geht es also um Folgendes:
Erstens. Die Finanzierung der Initiative „JUGEND
STÄRKEN“ und insbesondere ihrer Teilprogramme
„Schulverweigerung - Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ und „STÄRKEN vor Ort“ muss sichergestellt werden. Und zwar in gleichbleibender Höhe wie
in der letzten Förderperiode. Leider vergisst die SPD an
dieser Stelle das zuletzt genannte Teilprogramm. Gerade
im Saarland wurde mir sehr leidenschaftlich die enorme
Notwendigkeit auch dieses Aspektes geschildert.
Zweitens. Die Förderleitlinien „Weiterentwicklung
der Initiative ‚JUGEND STÄRKEN‘ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend müssen
auf der Grundlage der Umsetzungsergebnisse aus den
Programmen „Schulverweigerung - Die 2. Chance“,
„Kompetenzagenturen“ und „Jugendmigrationsdienste“ vom 11. März 2011 so gestaltet werden, dass
eine Kofinanzierung durch Jobcenter und Agenturen für
Zu Protokoll gegebene Reden
Arbeit für den Förderzeitraum bis 31. Dezember 2013
weiterhin möglich ist.
Und damit bin ich bei zwei Punkten, die weit über die
Forderungen des SPD-Antrages hinausgehen:
Drittens. Perspektivisch muss die Finanzierung der
Programme verstetigt werden. Das ist über einen entsprechenden Titel im Etat des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, insbesondere im
Kinder- und Jugendplan des Bundes, möglich. Durch
das Ministerium ist ein entsprechender Gesetzentwurf
vorzulegen. Nur auf diesem Weg kann es gelingen, solch
verheerende Kürzungsversuche nachhaltig zu verhindern. Die Möglichkeit der Kofinanzierung durch Jobcenter und Agenturen für Arbeit ist auf Dauer anzulegen. Die benötigte personelle Ausstattung ist
sicherzustellen.
Viertens. Die Programme der Initiative „JUGEND
STÄRKEN“ sind künftig so zu gestalten, dass für die
kleinen Träger der Initiative und für die breite Öffentlichkeit eine Transparenz bezüglich der Mittelherkunft,
der Mittelhöhe, der Vergabekriterien und der Mittelverwendung der Initiative entsteht. Eine allgemeine Transparenz ist insbesondere auch für die Betroffenen herzustellen, sodass diese ohne größeren Aufwand einen
Überblick über mögliche Unterstützungsangebote erhalten können.
Wir erleben gegenwärtig eine Situation grassierender
Jugendarmut, von Bildungsarmut, Jugendarbeitslosigkeit und massiver ungleicher Teilhabemöglichkeiten junger Menschen. Jugendliche drohen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und sogar exkludiert zu werden. Ich
will nur eine Zahl nennen: In Deutschland ist jeder
fünfte Jugendliche von Armut bedroht. Und Armut trifft
die jungen Menschen in einer höchst sensiblen Phase ihres Lebens, in einer Phase, in der sie eigentlich Selbstvertrauen, Optimismus und Resilienz erlernen sollten, in
der sie ihre eigene Identität entwickeln und ihren Standpunkt innerhalb der Gesellschaft suchen. Dass es dabei
zu Brüchen im Lebenslauf kommt, zu Verunsicherung,
Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst, das kann niemand wollen. Wenn aber die Finanzierung von Initiativen wie „JUGEND STÄRKEN“ gefährdet wird, wird die
sozialpolitisch zentrale Idee preisgegeben, die Chancen
benachteiligter junger Menschen planvoll zu verbessern. Das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend hat selbst die Relevanz einer eigenständigen Jugendpolitik betont - nicht zuletzt im Koalitionsvertrag.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dieses Ziel wird schon im Ansatz konterkariert,
wenn das Ende eines derart notwendigen Unterstützungsangebots für junge Menschen eingeleitet wird. Es
muss auch Ihnen als Bundesregierung ein massives Anliegen sein, auch und insbesondere benachteiligten jungen Menschen soziale und berufliche Integration zu ermöglichen und sie nicht aufzugeben. Deutschland darf
Jugendliche nicht nur mit halber Kraft stärken wollen!
Wir, die Linke, stellen uns ausdrücklich gegen jede Form
der Jugendverdrossenheit sämtlicher neoliberaler Parteien im Deutschen Bundestag.
Die von der Bundesregierung geplanten Kürzun-
gen bei den Programmen „Schulverweigerung - Die
2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ sind verant-
wortungslos und absolut kontraproduktiv.
Bewährte Projekte für benachteiligte Jugendliche
werden gefährdet, und die chaotischen Umstrukturie-
rungen sorgen für Verunsicherung bei allen Beteiligten.
Dies ist gerade für die betroffenen jungen Menschen
absolut unzumutbar. Die Jugendlichen, die in den Kom-
petenz- und Koordinierungszentren um Hilfe nachfra-
gen, brauchen stabile Beziehungen und verlässliche
Unterstützungsprozesse. Die nun bestehenden Verun-
sicherungen sind Gift für die Nachhaltigkeit der vor Ort
so wichtigen Jugendsozialarbeit.
Soll so die von Ihnen angekündigte „Eigenständige
Jugendpolitik“ aussehen?
Die Regierung muss sich an ihren Aussagen im Koali-
tionsvertrag messen lassen, wonach vor Ort Bildungs-
bündnisse aller relevanten Akteure gefördert werden
sollen. Die Koalitionspartner hatten weiter erklärt, sie
stünden für eine starke Jugendhilfe und eine starke Ju-
gendarbeit, die junge Menschen teilhaben lässt und ihre
Potenziale fördert und ausbaut. Auch im zentralen Be-
reich der Jugendarbeit scheint das Gegenteil der Fall zu
sein!
Wir teilen die wesentlichen Feststellungen des vorlie-
genden Antrags der SPD und werden ihm deswegen zu-
stimmen.
Auch halten wir es für richtig, verstärkt und präventiv
in die frühe Bildung und den Elementarbereich zu inves-
tieren. Dies darf jedoch nicht zulasten der aktuell unter-
stützungsbedürftigen Jugendlichen sowie deren Zu-
kunftschancen geschehen.
Ziel muss es sein, jeden Jugendlichen dabei zu unter-
stützen, einen Schulabschluss zu erreichen und eine Aus-
bildungsstätte zu finden. Dass in Deutschland allein im
Jahr 2009 knapp 60 000 Jugendliche die Schule ohne
Abschluss verlassen haben, ist ein großer gesellschafts-
und bildungspolitischer Skandal und ist in Zeiten stei-
genden Fachkräftemangels erst recht unverantwortlich.
Deshalb ist eines der wichtigsten Ziele der „Nationalen
Qualifizierungsinitiative“ die Verringerung der Zahl der
Schulabgänger ohne Schulabschluss von 8 auf 4 Pro-
zent. Davon sind wir mit rund 7 Prozent nach wie vor
meilenweit entfernt. Dies ist ein eklatanter Gerechtig-
keitsverstoß, der soziale Teilhabe blockiert. Das Pro-
gramm, das Sie jetzt kürzen wollen, setzt genau hier er-
folgreich an und begleitet die Reintegration in das
Schulsystem.
Die Informationspolitik der Bundesregierung über
die Zukunft der Programme war und ist desaströs. Wir
haben Sie mehrfach um Aufklärung über die Zukunft der
Initiative „JUGEND STÄRKEN“ gebeten, zu denen die
beiden Programme gegen Schulverweigerung und für
benachteiligte Jugendliche gehören. Zunächst hatte die
Regierung mitgeteilt, sie plane keine Reduzierung, son-
dern setze die Programme mit neuen Akzenten bis Ende
Zu Protokoll gegebene Reden
2013 fort. Angeblich sollten auch alle rund 400 Stand-
orte erhalten bleiben. Nun kürzen Sie jedoch die Mittel
für die Programme um mehr als ein Viertel. Viele Träger
sprechen von der „Zerschlagung bewährter Systeme
sozialer Hilfe“ und „völlig kontraproduktiven Entwick-
lungen“. Die ohnehin komplizierte Kofinanzierung der
Maßnahmen wird weiter erschwert.
Wie sich die Kürzungen auf das Leistungsspektrum
der Programme und damit auf die Schicksale vieler jun-
ger Menschen auswirken, bleibt weiterhin nebulös. Ei-
gentlich gibt es dafür nur zwei mögliche Erklärungen:
Entweder handelt die Regierung völlig planlos, oder sie
versucht, durch eine Salamitaktik größere Widerstände
zu vermeiden.
So kann man mit den Zukunftschancen Jugendlicher
nicht umgehen! Wir fordern die Regierung auf, bewährte
Strukturen zu erhalten und die Programme zu stärken,
anstatt bei benachteiligten Jugendlichen zu kürzen!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6103 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind alle damit ein-
verstanden? - Somit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und b sowie
den Zusatzpunkt 14 auf:
32 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes als
gesamtstaatliche Aufgabe umsetzen
- Drucksache 17/6096 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ansgar
Heveling, Wolfgang Börnsen ({1}), Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Reiner
Deutschmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Jimmy
Schulz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles
Erbe beginnen
- Drucksache 17/6315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Siegmund
Ehrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
„Kulturelles Erbe 2.0“ - Digitalisierung von
Kulturgütern beschleunigen
- Drucksache 17/6296 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen sind bei uns bekannt.
Wir befinden uns derzeit in einem medialen Umbruch,
dessen Ausmaß noch kaum zu erfassen ist. Das Internet
ist im Begriff, unsere wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereiche immer mehr zu durchdringen. Die Omnipräsenz des World Wide Web ermöglicht es uns, Informationen, Bilder oder Videos jederzeit und überall
online abzurufen. Eine immer und überall verfügbare
Webseite ist zugänglicher als eine Bibliothek mit eingeschränkten Öffnungszeiten und einem begrenzten
Bücherbestand.
Die Digitalisierung von Büchern, Kunstwerken und
weiteren Exponaten ermöglicht die Verbreitung kultureller und wissenschaftlicher Inhalte über das Internet und
stellt gleichzeitig sicher, dass unser kulturelles Erbe
auch für nachfolgende Generationen bewahrt wird. Und
das ist wichtiger denn je: Uns allen in Erinnerung geblieben sind der schreckliche Einsturz des Kölner Stadtarchivs oder der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek und
der damit verbundene unwiederbringliche Verlust der
hochwertigen Exponate und bibliophilen Kostbarkeiten.
Unsere Bibliotheken, Archive und Museen sind das Gedächtnis unserer Kultur; sie sind die Hüter einzigartiger
und unwiederbringlicher Originale. Die christlichdemokratische Union hat sich zum Ziel gesetzt, eine
Digitalisierungsoffensive für unser kulturelles Erbe anzustoßen. Wir sehen die Digitalisierung von Kulturgütern als eine der Kernaufgaben unserer Kulturpolitik.
Die Deutsche Digitale Bibliothek ({0}), die sich seit
2009 im Aufbau befindet, ist mit der Digitalisierung von
Büchern, Kunstwerken, Archivalien, Filmen und anderen Exponaten betraut. Die Aufgabe des Kompetenzzentrums DDB wird es sein, in den nächsten Jahren rund
30 000 Digitalisate verschiedener Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen aus ganz Deutschland der Öffentlichkeit sukzessive und vor allen Dingen - auch das ist
uns wichtig - unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.
Durch die Überführung der digitalen Wissensplattform
DDB in die Europäische Digitale Bibliothek „Europeana“ wird es uns gelingen, künftig mehr Menschen für
Kunst und Kultur zu begeistern - vielleicht auch diejenigen, die noch nie ein Museum besucht haben, sich nun
aber per Mausklick schnell und unkompliziert in virtuelle Kunsträume begeben können.
Im europäischen Rahmen stellt Deutschland schon
heute nach Frankreich den zweitgrößten Anteil der in
der „Europeana“ enthaltenen Digitalisate, und zwar
17,9 Prozent. Der deutsche Anteil in der „Europeana“
wird sich mit Inbetriebnahme der DDB weiter ausbauen.
Das Digitalisierungsprojekt DDB ist ein Erfolgsprojekt, das rasch weiter ausgebaut und vorangetrieben
werden muss. In diesem Punkt sind wir uns alle einig,
denke ich.
Eine Finanzierungsgrundlage schaffen vor allem
Fördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft
({1}). Doch um das groß angelegte Projekt der Digitalisierungsoffensive weiter auszubauen, sind wir auf zusätzliche Finanzierungsquellen angewiesen. Allein die
öffentliche Hand ist nicht in der Lage, dieses Projekt zu
stemmen. Wir begrüßen daher eine Kooperation mit privaten Unternehmen, um die Entwicklung der DDB zu
beschleunigen.
Ihnen, Kolleginnen und Kollegen der Linken, geht
das alles wieder nicht schnell genug. Lassen Sie mich in
diesem Zusammenhang auf ein essenzielles Problem
hinweisen, das mit der Digitalisierung einhergeht, das
Ihnen auch bekannt ist: Bei einem Großteil des zu digitalisierenden Kulturerbes sind Rechteinhaber zuweilen
nicht mehr auffindbar, oder die Werke sind vergriffen.
Wir brauchen daher vernünftige Regelungen zum Umgang mit diesen Werken. Die Regelungen dazu sollen im
sogenannten dritten Korb, der anstehenden Reform des
Urheberrechts, gefunden werden. Wie wichtig diese
Rechtsgrundlage ist, zeigt uns der Fall Google, auf den
Sie in Ihrem Antrag hinweisen. Selbstverständlich ist
das groß angelegte Digitalisierungsprojekt des Unternehmens begrüßenswert. Allerdings weist der Gesetzgeber im Falle der vergriffenen und verwaisten Werke zu
Recht auf Schranken und Grenzen hin. Gleichzeitig gilt
es zu bedenken, dass Google nicht völlig ohne kommerzielle Interessen handeln kann. Umso wichtiger ist es,
ausgewogene und wohlbedachte Vereinbarungen zu treffen, um die Produzentenseite und auch die Nutzer bei einer uneingeschränkten Bereitstellung kulturellen Erbes
in digitaler Form zu berücksichtigen.
Unser durch die DDB geplantes Digitalisierungskonzept wird allen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu
Kulturgütern und wissenschaftlichen Informationen erleichtern, was eine Demokratisierung von Kulturwissen
zur Folge haben wird. Dafür stehen wir mit unserer Kulturpolitik.
Das Zeitalter der Digitalisierung hat die Vermittlung
von Kultur und Wissen stark verändert. Die Chancen der
Digitalisierung für die Bewahrung und Vermittlung unseres kulturellen Erbes sind enorm. Bislang nur schwer
zugängliche Quellen werden durch ihre Digitalisierung
nicht nur gesichert, sondern für jedermann erschlossen
und erheblich leichter zugänglich. Auch können über
den multimedialen Zugang neue Zielgruppen für Kultur
und wissenschaftliche Informationen gewonnen werden.
Mit dem Beschluss der Bundesregierung im Dezember 2009, die Deutsche Digitale Bibliothek aufzubauen,
ist ein wichtiger Schritt zur Bewahrung und Vermittlung
unseres nationalen Kulturgutes getan worden. Ziel der
Bibliothek ist, über ein zentrales nationales Portal allen
Bürgern dauerhaft und frei von kommerziellen Zwängen
den Zugang zu dem seit Jahrhunderten öffentlich gesammelten und bewahrten Kulturgut zu ermöglichen.
Bislang wurden bereits von vielen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen Digitalisierungen in erheblichem Umfang vorgenommen. Jedoch sind die digitalisierten Bücher, Archivalien, Kunstwerke, Fotos, Filme
etc. auf eine Vielzahl von Portalen und Webseiten verteilt, was die Benutzbarkeit stark einschränkt. Mit dem
Aufbau der Deutschen Digitalen Bibliothek werden auch
diese Wissens- und Kulturportale über ein zentrales
Portal vernetzt und durch eine moderne Such- und Präsentationstechnik zugänglich gemacht. Ein Quantensprung! Geplant ist ein erster Pilotbetrieb bereits ab Dezember 2011.
Der Aufbau der Bibliothek wird allein vom Bund finanziert. Hierfür stehen im Haushalt des Kulturstaatsministers, dem dies ein besonderes Anliegen ist,
8 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm II zur
Verfügung. Den Betrieb der Bibliothek finanzieren Bund
und Länder dann je zur Hälfte gemeinsam. Die Verwaltung des jährlichen Budgets in Höhe von 2,6 Millionen
Euro erfolgt durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz
im Auftrag des Kompetenznetzwerks Deutsche Digitale
Bibliothek.
Das Vorhaben Deutsche Digitale Bibliothek ist eine
gewaltige Herausforderung. Rund 30 000 deutsche Wissenschafts- und Kultureinrichtungen werden künftig in
der Deutschen Digitalen Bibliothek zu finden sein. Bis
2016 sollen darüber hinaus die Bestände der Bibliothek
auch an die Europäische Digitale Bibliothek „Europeana“ eingegliedert werden. Während die Deutsche
Digitale Bibliothek den zentralen nationalen Zugangspunkt zu unserem Kulturgut in digitaler Form bildet,
bündelt die „Europeana“ die nationalen Portale der
EU-Staaten. Deutschland ist dabei gemeinsam mit
Frankreich Vorreiter. Beide Länder stellen derzeit rund
17 Prozent der Digitalisate in der „Europeana“.
Die Digitalisierung von Kulturgut und wissenschaftlichen Informationen bleibt jedoch Aufgabe der jeweiligen Kultur- und Wissenschaftseinrichtung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellt dafür Fördermittel
bereit; diese allein reichen jedoch für die großangelegte
Digitalisierungsoffensive nicht aus. Der Finanzbedarf
für die Digitalisierung von Kulturgut in den nächsten
Jahren ist enorm. Bund, Länder und Kommunen können
das nicht leisten. Hier sind Kooperationen mit privaten
Unternehmen angeboten und gefragt - mit Augenmaß
bei den Bedingungen.
Von zentraler Bedeutung ist für mich auch hier der
Schutz der Urheber. Wollen wir den Wert der geistigen
Werte erhalten und insbesondere weiterhin neue schaffen, müssen wir die Urheberrechte konsequent schützen.
Im Hinblick auf die sogenannten verwaisten Werke, bei
denen der Urheber nicht mehr zu ermitteln ist, muss eine
gesetzliche Regelung gefunden werden. Diese Regelung
soll im Rahmen des dritten Korbes der Urheberrechtsreform erfolgen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Möglicherweise verwundert es Sie, aber ich freue
mich über diese Debatte zu diesem Thema, auch wenn
die Reden nur zu Protokoll gegeben werden. Ich betone
das deshalb so ausdrücklich, weil deutlich wird, dass inzwischen auch die Regierungskoalition verstanden hat,
welche Bedeutung die Digitalisierung hat. Auch wenn
sich die Anträge und die darin dargestellten Forderungen unterscheiden - darauf komme ich im Folgenden zu
sprechen -, so zeigt doch die Tatsache, dass immerhin
vier Fraktionen - die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hat bisher keinen Antrag vorgelegt - Positionen zu diesem Thema in den Deutschen Bundestag einbringen und
dass sich in Bezug auf die Frage, welche Verantwortung
dem Bund bei der Digitalisierung zugeschrieben wird,
einiges bewegt.
Das freut mich auch deshalb, weil die Antworten der
Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage - siehe
Bundestagsdrucksache 17/5880 - nicht überzeugt haben. Mittlerweile scheint es zumindest bei den Regierungsfraktionen ein Umdenken zu geben, und es böte
sich an, im Verlauf der parlamentarischen Beratungen
eine gemeinsame, fraktionsübergreifende Position zu
diesem Thema zu entwickeln. Denn in der Sache - da bin
ich mir sicher - sind wir uns weitgehend einig: Die Digitalisierung verändert den Umgang mit Kulturgütern
von Grund auf. Das bedeutet, dass sich nicht nur bei
Fragen des Erhalts, der Archivierung, des Zugangs und
der Nutzung von Kulturgütern in der digitalen Welt neue
Herausforderungen und Fragen stellen, sondern auch
im Hinblick darauf, welche Verantwortung der Bund im
Rahmen seiner Zuständigkeit auf einem Gebiet wahrnimmt.
Die vorliegenden Anträge versuchen auf folgende
Entwicklungen unterschiedliche kulturpolitische Antworten zu finden: Die Digitalisierung ermöglicht es, das
in Kultur- und Wissenseinrichtungen wie Bibliotheken,
Archiven, Museen und anderen vorhandene Wissen und
kulturelle Erbe zu sichern und auf neue Weise zugänglich und verfügbar zu machen. Völlig neue Möglichkeiten tun sich auf, wie Kulturgüter genutzt, von jedem Einzelnen auf seine individuelle Weise erkundet und
entdeckt, wie der Zugang zu ihnen entwickelt und wie sie
zu Bildungs-, Informations- und vielen anderen Zwecken
genutzt werden können. Das alles passiert nicht von allein. In Deutschland besteht im Kulturbereich glücklicherweise eine überwiegend öffentliche Verantwortung.
Ich sage „glücklicherweise“, weil die Bestrebungen von
vielen kommerziellen, marktmächtigen Anbietern wie
Google von ihrem grundsätzlichen Ansatz her sicherlich
nicht darauf aus sind, aus völlig selbstlosen Zwecken heraus die Digitalisierung von Kulturgütern zu befördern,
ohne einen Gewinn dabei erzielen zu wollen. Diese Motive sind legitim, nachvollziehbar und in gewisser Weise
auch hilfreich, wenn es darum geht, neue Technologien
schnell und effizient zu nutzen. Doch muss es dabei Regeln geben, die eine Zusammenarbeit zwischen solchen
kommerziellen Anbietern und der staatlichen Seite so
ausgestalten, dass die Kulturgüter im Besitz der Allgemeinheit bleiben. Sie müssen auch in Zukunft jedermann
und kostenfrei zugänglich sein. Auf diese Notwendigkeit
verweist unser Antrag im Unterschied zu den beiden anderen vorliegenden Anträgen sehr deutlich.
Sehr unterschiedlich bewerten die vorliegenden Anträge zudem, was bisher in Deutschland bei der Digitalisierung von Kulturgütern erreicht wurde. Die Deutsche
Digitale Bibliothek, DDB, hat als nationales Pendant
zur Europäischen Digitalen Bibliothek „Europeana“
erst nach dem Beschluss über gemeinsame Eckpunkte
von Bund, Ländern und Kommunen im Jahr 2009 ihre
Arbeit richtig aufnehmen können. Sicherlich gab es eine
Reihe wichtiger Vorarbeiten, insbesondere durch die
Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG; doch erst mit
der DDB ist es möglich, einen umfassenden Ansatz zur
Digitalisierung von Kulturgütern in Deutschland zu entwickeln. Die von uns geforderte nationale Digitalisierungsstrategie muss im Grunde drei wesentliche Erwartungen erfüllen:
Erstens. Sie muss Strukturen, Prioritäten und Standards für die Digitalisierung entwickeln. Das heißt, der
Bund ist gemeinsam mit den Ländern aufgerufen, ein
Konzept zu entwickeln, in welcher Reihenfolge und auf
der Grundlage welcher einheitlichen Standards die Digitalisierung der Kulturgüter erfolgen soll. Dieses umfassende Konzept halten wir für notwendig, weil - und
das begrüßen wir als SPD ausdrücklich - bereits eine
ganze Reihe von Initiativen stattfinden. Die großen Bibliotheken in Deutschland sind sehr engagiert. Unter
dem Dach des Deutschen Bibliotheksverbandes gibt es
Aktivitäten auch vieler kleiner Bibliotheken. Auch bei
den Museen und den Archiven ist die Tatsache, dass
durch das Zuverfügungstellen der Digitalisate einem
viel größeren Kreis an Nutzern und Interessierten in
neuen Formen Wissen und Bildung zugänglich gemacht
werden kann, längst angekommen. Umso wichtiger ist es
deshalb, die knappen finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hand gezielt, konzentriert und vor allem nicht
mehrfach einzusetzen.
Zweitens. Das bringt mich zu einem zweiten Bestandteil der von der SPD geforderten nationalen Digitalisierungsstrategie. In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, eine Übersicht über den Stand der
Digitalisierung in Deutschland in Abstimmung mit den
Ländern vorzulegen. Zudem soll die Bundesregierung
die bisher insbesondere vom aus Bundesmitteln mitfinanzierten „Kompetenznetzwerk DDB“ erbrachten Koordinierungsleistungen darstellen. Diese Übersicht halten wir für erforderlich, um darauf aufbauend die
zukünftige Rolle und Funktion des Bundes im Geflecht
der bereits engagierten Akteure zu klären. Dazu gehört
auch, die bereits vorhandenen Ressourcen für die Digitalisierungsarbeit darzustellen und aufzuzeigen, welche
Ressourcen darüber hinaus benötigt werden.
Drittens. Das bringt mich zum dritten Punkt der nationalen Digitalisierungsstrategie: Eine solche umfassende Anstrengung zum dauerhaften Erhalt und dem
Zurverfügungstellen von Kulturgütern wird eine Menge
Geld kosten. Der Antrag der Fraktion Die Linke hat fast
allein die Kosten für diese Herausforderung zum Inhalt,
die, wie ich glaube, im Moment noch niemand realistisch abschätzen kann. Uns ist es deshalb nicht nur
Zu Protokoll gegebene Reden
wichtig, den Finanzbedarf darzustellen und die Mittel
bereitzustellen, sondern auch, nach alternativen Finanzierungsstrategien zu suchen. Deshalb fordern wir, dass
die staatlichen Akteure, wenn sie, wie die Bayerische
Staatsbibliothek mit Google, eine öffentlich-private
Partnerschaft zum beiderseitigen Nutzen eingehen,
klare Regeln für diese Kooperation formulieren, die sicherstellen, dass die digitalisierten Kulturgüter der Allgemeinheit dauerhaft und kostenfrei zur Verfügung stehen.
Neben einer solchen nationalen Digitalisierungsstrategie bedarf es der Anpassung einiger Rahmenbedingungen. Dazu gehört ganz zwingend eine urheberrechtliche Lösung für die sogenannten verwaisten und
vergriffenen Werke. Die SPD hat dazu bereits einen entsprechenden gesetzlichen Vorschlag für dieses dringend
zu lösende Problem vorgelegt. Umso mehr erstaunt es,
dass die Regierungskoalitionen in ihrem Antrag völlig
treffend wiedergeben, dass Handlungsbedarf besteht, es
bislang allerdings nicht vermocht haben, ihre eigene
Bundesregierung zu überzeugen, einen entsprechenden
gesetzlichen Vorschlag zu unterbreiten. Hier offenbart
sich eine deutliche Lücke zwischen Willensbekundungen
und dem tatsächlichen Handeln.
Zu den Rahmenbedingungen zählen wir als SPD in
unserem Antrag im Unterschied zu den Anträgen der anderen Fraktionen auch die Befähigung der Kultur- und
Wissenseinrichtungen, den vor allem technologisch determinierten Umgang mit den digitalisierten Kulturgütern zu gestalten. Nicht nur, dass die Einrichtungen über
die technischen Fähigkeiten verfügen müssen, ihre digitalisierten Bestände und Angebote entsprechend verfügbar zu machen; es bedarf auch eines ausreichenden
Know-hows bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
die vielen Möglichkeiten der digitalen Welt zielgerichtet,
das heißt an den Bedürfnissen der Nutzer orientiert,
anzuwenden. Wir fordern daher entsprechende Weiterbildungen für Mitarbeiter von Kultur- und Wissenseinrichtungen, aber auch einen kostenlosen BreitbandInternetzugang über WLAN in allen Kultur- und Wissenseinrichtungen des Bundes.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Bundestag mit unterschiedlichen Anträgen ein Thema aufgreift,
bei dem es zwingenden Handlungsbedarf auf nationaler
Ebene gibt. Wie dieser genau auszugestalten ist, darüber
werden wir in den nun anstehenden Ausschussberatungen diskutieren. Ich würde mich sehr freuen - und damit
komme ich zum Ausgangspunkt meiner Rede -, wenn
eine gemeinsame Position entwickelt werden könnte, die
das Thema Digitalisierung von Kulturgütern in der Sache entscheidend voranbringt.
„Wissen ist Macht“, dieses, auf den englischen Philosophen Francis Bacon zurückgehende, geflügelte Wort
trifft den Nagel auf den Kopf.
In einer modernen Gesellschaft ist der Zugang zu
Wissen unerlässlich. Für eine Wissensgesellschaft wie
die unsere, ist Wissen nicht nur Macht. Es ist die Basis
unserer Kulturnation, der Standortvorteil in Form von
gut ausgebildeten Menschen oder der Dreh- und Angelpunkt von Wissenschaft und Forschung. Wissen ist
schlichtweg der Rohstoff und die Basis des Wohlstandes
in Deutschland und darüber hinaus in Europa.
Nun prognostizieren Experten, dass innerhalb nur einer Generation nur noch das Wissen von einem Großteil
der Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen werden
wird, das im Internet auffindbar ist.
Der Aufbau der Deutsche Digitalen Bibliothek, DDB,
ist ein wichtiger Baustein zur Bewältigung der Aufgabe,
Wissen und Kultur in so verschiedener Formen wie
Schriftstücken, Werken der bildenden Kunst oder Filmen
für zukünftige Generationen zu erhalten und allen Menschen zugänglich zu machen.
Deshalb ist es von enormer Bedeutung, dass wir uns,
zusammen mit unseren Kultur- und Wissenseinrichtungen, dieser Herausforderung stellen.
30 000 deutsche Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen stellen über die DDB-Digitalisate ihrer Bestände
zur Verfügung. Damit entsteht eine Plattform, die die angeschlossenen Institutionen auf bisher nie gekannte
Weise vernetzt und zugleich das in den Einrichtungen
verfügbare Kultur- und Wissensgut einer umfassenden
Öffentlichkeit zugänglich machen soll.
Damit trägt die DDB nicht nur dem Zeitgeist der modernen Wissensgesellschaft Rechnung. Sie sichert darüber hinaus das kulturelle und wissenschaftliche Werk
unserer Nation vor Katastrophen, so wie wir sie mit dem
Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar
und dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs erlebt haben.
Natürlich ersetzt die Digitalisierung nicht die pflegliche
Bewahrung unserer Schätze in den Museen, Bibliotheken und Archiven. Aber für den Fall, dass die Katastrophe tatsächlich eintritt, gibt es wenigstens noch einen
digitalen Nachweis des Werkes, der unter anderem auch
zur Rekonstruktion des Kulturgutes herangezogen werden kann, so wie es schon bei der Rekonstruktion des
Bernsteinzimmers aufgrundlage von schwarz-weiß Fotos gelungen ist.
Natürlich können Bund, Länder und Gemeinden diese
Mammut-Aufgabe nicht alleine stemmen. Deswegen begrüßen wir jede bestehende Möglichkeit, zum Beispiel in
Form einer Öffentlich-Privaten-Zusammenarbeit, die zu
einer signifikanten Steigerung der Digitalisierungsrate
der für die DDB vorgesehenen Werke führt. Allerdings
sollte die Öffentlich-Private-Partnerschaft nur dort eingesetzt werden, wo, so unser Antrag, ausgewogene Vereinbarungen das Interesse der Allgemeinheit an einer
uneingeschränkten Bereitstellung und Nutzung des kulturellen Erbes und der wissenschaftlichen Inhalte in digitaler Form berücksichtigen. Dies ist der Bayerischen
Staatsbibliothek gelungen. Durch eine solche Partnerschaft hat sie ihre Digitalisierungsrate bedeutend erhöht, so dass der allergrößte Teil der in der DDB derzeit
zugänglichen digitalisierten Werke aus dieser Bibliothek
stammen.
Unser Ziel ist es, die DDB zu einer Erfolgsgeschichte
zu machen. Davon profitieren nicht nur die Menschen in
Deutschland. Auch der Aufbau der europäischen digitaZu Protokoll gegebene Reden
len Bibliothek EuroOPEANA wird durch die DDB gespeist. Derzeit stammen 17 Prozent der Digitalisate der
EuroOPEANA aus Deutschland. Damit führen wir zusammen mit Frankreich die Liste der erfolgreichsten
Länder an. Darauf kann man sich nicht ausruhen, aber
es zeigt, dass wir auch auf europäischer Ebene ganz
Vorne dabei sind. Um diesen Stand zu halten, beziehungsweise auszubauen, werden gerade die bereits genannten Öffentlich-Privaten-Partnerschaften immer bedeutsamer.
Wichtige urheberrechtliche Fragen sind noch zu klären. Dem Umgang mit verwaisten Werken wird sich die
Bundesregierung im Rahmen des Dritten Korbs zur Reform des Urheberrechts annehmen.
Mit der Opposition sind wir uns, so glaube ich, in
dem Ziel einig, dass es keine Alternative zum Aufbau von
DDB und EuroOPEANA gibt. Während sich der Koalitions-Antrag aber auf das Machbare konzentriert und
auch die Kultur- und Wissensinstitutionen sowie den
Privaten Sektor mit in die Pflicht nimmt, gleicht der SPD
Antrag einer „Wünsch-Dir-Was-Liste“, die in ihrer
Konsequenz weder die Haushaltsplanung des Bundes im
Besonderen, noch die derzeitige angespannte Finanzlage dieses Landes im Allgemeinen beachtet. Dies ist in
meinen Augen nicht angebracht, erweckt der SPD-Antrag doch den Anschein, der Bund könne alles richten.
Damit werden gerade auch vielen Einrichtungen Hoffnungen gemacht, die der Bund so nicht erfüllen kann.
Bestimmte Prozesse und Entscheidungen kann der Bund
den Kultur- und Wissensinstitutionen nicht abnehmen.
Über WLan und Internetangebote in den Kultur- und
Wissenseinrichtungen des Bundes entscheiden eben die
genannten Institutionen selber im Rahmen ihrer Haushaltsmittel. Desgleichen gilt für Weiterbildungsmaßnahmen von Mitarbeitern in den genannten Einrichtungen.
Auch ein jährlicher schriftlicher Sachstandsbericht
zum Stand der Digitalisierung und zum Stand der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie bindet Kräfte, die
anderswo dringender gebraucht werden. Hier sollte
man den Einrichtungen auch einfach mal vertrauen,
dass sie den Ernst und die Wichtigkeit der Aufgabe der
Digitalisierung erkannt haben. Das Thesenpapier des
Deutschen Bibliothekenverbandes und die Erklärungen
der Verantwortlichen des „Kompetenznetzwerks DDB“
zeigen, dass es wohl einer staatlichen Begleitung bedarf,
nicht aber einer jährlichen staatlichen Kontrolle.
Der Vorschlag der Fraktion Die Linke nach einem
Gesetzentwurf zur Förderung der DDB ist ebenso abzulehnen. Durch das oft starre Korsett eines Gesetzes engen wir die Digitalisierungsbemühungen wichtiger Kultur- und Wissenseinrichtungen ein und verhindern so
den wichtigen Spielraum, den Bibliotheken und andere
Einrichtungen benötigen, um erfolgreich digitalisieren
zu können. Auch können wir, gerade mit Blick auf zukünftige Öffentlich-Private-Partnerschaften, nicht ausschließen, dass eine neue kreative Idee der Zusammenarbeit, so wie sie die Bayerische Staatsbibliothek
beschritten hat, durch ein Gesetz verhindert werden
könnte. Dies passt auch nicht zum erklärten Ziel der Koalitionsfraktionen, die Digitalisierung gemeinsam mit
anderen Partnern zu bewältigen. Der Staat allein wird
eine solche Aufgabe wie die Digitalisierung des kulturellen und wissenschaftlichen Erbes Deutschlands nicht
stemmen können.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss für
Kultur und Medien.
„Man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen
Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet.“ Mit diesem spannungsreichen Satz beschrieb
Goethe im Jahre 1801 seine Empfindungen beim Besuch
der Göttinger Bibliothek. Etwa 100 000 Bände umfasste
die für damalige Verhältnisse große Sammlung, die gar
eine Kirchenetage mit in Beschlag nahm. Goethe wusste,
welches gesellschaftliche Potenzial, welchen Schatz, der
unablässig gesellschaftlichen Nutzen produziert, das gesammelte Wissen der Zeit darstellte. Er ahnte jedoch
noch nichts von den Milliarden Druckwerken, geschweige denn Filmen, Tondokumenten, Fotos und
Kunstwerken, die heute auf Besucherinnen und Besuchern von Bibliotheken, Museen und Archiven warten.
Die Moderne mit ihrer explodierenden Produktion von
Wissen und Kulturgütern begann gerade, der industrielle Buchdruck hatte auch die Kommunikationsströme
der damaligen Gesellschaft revolutioniert. Die von
Goethe bestaunte Göttinger Bibliothek hält heute, 210
Jahre nach seinem Besuch, den 40-fachen Bestand, etwa
4 Millionen Bücher vor; dazu kommen Zeitschriften,
Nachlässe, Archive und Mikrofilme.
Ein Blick auf die Internetseite dieser Bibliothek zeigt:
Wir befinden uns mitten in der nächsten technische Revolution der Wissens- und Kulturgesellschaften. Die Digitale Bibliothek kann man dort anklicken und einige Bücher, aber vor allem Dissertationen und weitere Onlinepublikationen von zu Hause ansehen, kostenlos und äußerst benutzerfreundlich. Man kann sie Freunden weiterempfehlen, durchsuchen, verknüpfen und ja - auch
ausdrucken. Jeder kommt an dieses Wissen heran, es
kostet nichts und das Prädikat „leider ausgeliehen“ entfällt.
Bibliotheken sind keine Dinosaurier des letzten Jahrtausends, sondern der Vorreiter einer neuen Allmendekultur. „Die Demokratisierung des Wissens“ nennt der
Vorsitzende der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Professor Hermann Parzinger, den Digitalisierungsprozess.
Er kann Schranken abbauen - soziale, geografische und
kulturelle.
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes hat begonnen und vor allem durch die Initiative des Konzerns
Google einen riesigen Schub erfahren. 15 Millionen
Bände hat Google gescannt, unter anderem in Kooperation mit der Münchner Staatsbibliothek und ganz aktuell
der British Library. Doch dieser kapitalstarke Vorstoß
brachte auch Probleme mit sich: Das Urheberrecht ist
bisher nicht auf die Massendigitalisierung eingestellt.
Ebenso bleibt unklar, welche Konsequenzen die Verfügung eines einzigen Konzerns über die Bestände unserer
Wissens- und Kultureinrichtungen hat. Die Frage ist
etwa, was im Falle einer Aufgabe des Projektes durch
Zu Protokoll gegebene Reden
Google mit den Datenbeständen geschieht oder welche
Partner die Rohdaten nach welcher Frist unter welchen
Bedingungen selbst benutzen dürfen.
Trotz bisher guter Erfahrungen etwa der Münchner
Staatsbibliothek mit Google als Kooperationspartner
finden wir es daher sinnvoll, dass das öffentliche Bibliothekswesen in Europa eine gemeinnützige Alternative
anstrebt, die unter dem Namen „Europeana“ die diversen Bestände bündeln soll. Der deutsche Ableger, die
Deutsche Digitale Bibliothek, DDB, wurde 2008 ins Leben gerufen und soll noch in diesem Jahr online gehen.
Doch auch die DDB wird nur das Dach sein, während
das Gebäude darunter bisher bruchstückhaft bleibt. Die
Bundesregierung hat 8 Millionen Euro für den Aufbau
der zentralen Infrastruktur bereitgestellt, das eigentliche Problem, nämlich den teuren Prozess des Scannens
und Aufbereitens, aber weitgehend den Bibliotheken und
Archiven bzw. deren Trägern überlassen. Jeder in diesem Lande weiß jedoch, wie es um die finanzielle Situation der Länder und Kommunen bestellt ist - nicht zuletzt wegen der Steuerpolitik der vergangenen Jahre. Sie
werden die Herkulesaufgabe nicht stemmen können. Im
Gegenteil: Die knappen Mittel zwingen Kommunen immer noch zu Bibliotheksschließungen; selbst neuerbaute
Unibibliotheken haben oft keine Mittel für die notwendigen Ankäufe.
Angesichts der nationalen und globalen Bedeutung,
die die Digitalisierung für Bildung und Wissenschaft
hat, muss der Bund hier handeln. Die Bibliothekenverbände haben auf dem Bibliothekarstag vor zwei Wochen
eine solche konzertierte Initiative des Bundes gefordert.
Bisher fördert der Bund lediglich über die DFG und
auch nur im Bereich besonders alter Bestände zu Forschungszwecken. In Frankreich wurden hingegen
750 Millionen Euro für die Digitalisierung in Aussicht
gestellt, Teile davon werden bereits ausgezahlt - hieran
sollten wir uns orientieren! Der Bund muss, so fordert es
unser Antrag, konkrete Summen in Aussicht stellen, damit wir bei der „Europeana“ und der DDB endlich
sichtbare Fortschritte machen. 30 Millionen Euro jährlich haben wir immer gefordert; damit könnte der Bund
jährlich etwa 500 000 Werke scannen und die entsprechenden Serverkapazitäten vor Ort aufbauen und pflegen.
Gehandelt werden muss auch im Bereich des Urheberrechtes: Um die Digitale Bibliothek umsetzen zu können, brauchen wir eine Veränderung des Urheberrechts,
das die Bibliotheken von den Problemen der Haftung befreit. Dafür haben wir in einem Gesetzentwurf einen
Vorschlag für eine Schrankenregelung gemacht, die
kürzlich von der Europäischen Kommission in einem
Richtlinienvorschlag im Grundsatz bestätigt wurde. Bibliotheken müssen verwaiste und vergriffene Werke online stellen dürfen, ohne eine detektivische und damit
aufwendige Suche nach möglichen Rechteinhabern vornehmen zu müssen und ohne die Gefahr komplexer
Schadensersatzklagen zu befürchten. Nach der Zugänglichmachung auftauchende Urheber sollen, wenn sie
ihre berechtigten Ansprüche angemeldet und nachgewiesen haben, unbürokratisch und angemessen entschädigt werden. Eine präventive Zahlung fiktiv festgelegter
Entschädigungsbeträge von bis zu 8 Euro pro Buch an
die Verwertungsgesellschaften, wie sie von den Verbänden vorgeschlagen und von der SPD im Bundestag beantragt wurde, halten wir jedoch für nicht zielführend.
Und nicht zuletzt: Die Digitalisierungsoffensive sollte
auf der Grundlage eines präzisen und für die Beteiligten
verbindlichen Handlungsplanes umgesetzt werden. Es
geht um Meilensteine, um Prioritäten, um die Formate
für die Metadaten und um die Nutzung von Synergien.
Aus den Bibliotheken wird immer wieder Kritik an den
lähmenden Prozessen in der Kultusministerkonferenz
laut. Hier sollten sich alle Beteiligten auf Einladung des
Bundes an einen Tisch setzen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Ihr Antrag ist eine schöne Beschreibung dessen,
was ohnehin geschieht. Eine politische Willensbekundung fehlt. Daher werden wir ihn ablehnen. Mit vielen
Forderungen der SPD-Fraktion gehen wir konform; allerdings sollte auch hier vieles geprüft und erst einmal
beraten werden, etwa die Finanzen. Wir finden: Es kann
jetzt losgehen.
Die Informationsgesellschaft findet zunehmend in der
digitalen Welt statt. Wenn diese Welt nicht geschichtsvergessen sein soll, müssen wir der jungen Generation
das Wissen und die Kultur eröffnen, die unsere Gesellschaft bis vor kurzem ausschließlich auf Papier und Zelluloid festgehalten hat. Der Bundestag und diese Regierung können und müssen ihren Teil dazu beitragen.
Daher bitte ich um Zustimmung für unseren Antrag.
Ende 2011 soll die Deutsche Digitale Bibliothek,
DDB, in Betrieb gehen und an die Europäische Digitale
Bibliothek „Europeana“ angegliedert werden. Die Er-
stellung der DDB ist von einschneidender Bedeutung für
unsere Kultur- und Wissenschaftsnation. Unser kulturel-
les Erbe, wissenschaftliche ebenso wie literarische
Werke sollen über das Internet für jeden in Deutschland
erreichbar sein. Die DDB wird den wissenschaftlichen
und kulturellen Austausch entscheidend fördern und er-
leichtern.
Aufgrund der gesamtstaatlichen Bedeutung der DDB
ist es Aufgabe der Bundesregierung, eine Digitalisie-
rungsstrategie zu entwickeln, mit gesetzlichen Regelun-
gen zu flankieren und dafür die notwendigen Mittel zur
Verfügung zu stellen. Diese zentrale Forderung in den
Anträgen der Linken und der SPD zur Digitalisierung
des kulturellen Erbes unterstützen wir. Die Koalition hat
es bisher nicht geschafft, sich klar für eine Digitalisie-
rungsstrategie mit Finanzierungsmodell von Bundes-
seite zu bekennen. In der Frage der Finanzierung ver-
weist die Koalition lediglich auf die mögliche Betei-
ligung privater Dritter - ohne dafür Kriterien zu definie-
ren.
Eine entscheidende Frage im Zuge der Erstellung der
DDB wird in allen drei vorliegenden Anträgen gar nicht
oder nur am Rande behandelt, weit entfernt von kon-
struktiven Lösungsansätzen: Ohne gesicherte Rechts-
verhältnisse beim Umgang mit vergriffenen Werken und
Zu Protokoll gegebene Reden
sogenannten „verwaisten Werken“ steht der Start der
DDB auf wackligen Beinen. Dies ist auch als Aufruf an
die Bundesregierung zu verstehen, endlich einen Ent-
wurf für den Dritten Korb zum Urheberrecht vorzulegen.
Dieser Entwurf ist schon seit Monaten überfällig.
Wie also kann der Umgang mit „verwaisten Werken“
geregelt werden? Wie müssen Kriterien einer sorgfälti-
gen Suche nach den Rechteinhaberinnen und Rechte-
inhabern ausgestaltet sein, und wer definiert diese Kri-
terien? Wie kann sichergestellt werden, dass Werke nicht
vorschnell zu „verwaisten Werken“ erklärt werden?
Erst vor kurzem, am 22. März 2011, ist Google mit sei-
ner Entscheidung, anhand des erweiterten Google Book
Settlements die ungenehmigte Digitalisierung ganzer
Werke durchzuführen, vor dem District Court of New
York gescheitert. Dieses Gerichtsverfahren wird welt-
weit als Signal zur Stärkung der Urheberinnen und Ur-
heber gewertet.
Es ist dringend notwendig, sich auf klare Kriterien
für den Nachweis der sorgfältigen Suche nach den
Rechteinhaberinnen und Rechteinhabern zu einigen.
Auch bei der Frage der Vergütung von Urheberinnen
und Urhebern der in der DDB zu digitalisierenden
Werke bleiben die vorliegenden Anträge zu unkonkret.
Wer soll die Mittelvergabe steuern, wo und wie können
die Gelder zurückgelegt werden, solange sich der Rechte-
inhaber oder die Rechteinhaberin nicht meldet?
Mit all diesen offenen Fragen haben wir uns in unse-
rem Antrag „Zugang zu verwaisten Werken erleichtern“
mit der Drucksachennummer 17/4695 beschäftigt. Denn
nur mit einer zeitnahen Klärung der unsicheren Rechts-
verhältnisse beim Umgang mit „verwaisten Werken“
kann die DDB planmäßig starten. Erst dann kann die
Öffentlichkeit von der DDB profitieren.
Unser Antrag sieht vor, dass zunächst durch ein
Fachgremium ein Kriterienkatalog zur sorgfältigen Su-
che nach den Rechteinhaberinnen und Rechteinhabern
entworfen werden muss, bevor die öffentliche Zugäng-
lichmachung „verwaister Werke“ erfolgen kann. Zur
Verwaltung und Ausschüttung einer angemessenen Ver-
gütung sollte der Gesetzgeber auf das etablierte System
der kollektiven Rechtewahrnehmung zurückgreifen. Da-
für wäre nach unserer Vorstellung die Neugründung ei-
ner von den Verwertungsgesellschaften gemeinsam ver-
walteten Zentralstelle für die öffentliche Zugänglich-
machung „verwaister Werke“ - ähnlich der Zentral-
stelle Bibliothekstantieme - sinnvoll, welche die Verwal-
tung der nicht vermittelbaren Vergütung für die „ver-
waisten Werke“ übernimmt.
Außerdem enthält unser Antrag die Forderung nach
einer Neuregelung im Abschnitt zu den Schranken des
Urheberrechts im Urheberrechtsgesetz, welche Werk-
nutzerinnen und -nutzer im nichtkommerziellen Bereich
von der Strafbarkeit und von Vergütungsansprüchen der
Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber freispricht. Eine
Vergütung der Urheberinnen und Urheber soll aus-
schließlich durch die Verwertungsgesellschaften geltend
gemacht werden. Auch für die Grundlage der Rechtssi-
cherheit bei der Digitalisierung von Werken, deren
Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber nicht auffindbar
sind, haben wir einen Lösungsvorschlag entwickelt:
Diese öffentlichen Mittel dürfen nicht ohne Zeitlimit und
späteren Verwendungszweck für die Betroffenen - Urhe-
berinnen und Urheber ebenso wie Bibliotheken - bei den
Verwertungsgesellschaften gesammelt werden. Aus un-
serer Sicht sollten die Einnahmen aus der öffentlichen
Zugänglichmachung in der neu zu gründenden Zentral-
stelle zurückgestellt werden. Dafür muss die Zentral-
stelle ein kostenloses und öffentlich einsehbares Regis-
ter führen. Sollte sich der Urheber innerhalb dieser
Fünfjahresfrist melden, schüttet die Zentralstelle der
Verwertungsgesellschaften die zurückgestellte Vergü-
tung an den Urheber aus. Meldet sich innerhalb dieser
fünf Jahre kein Urheber, schüttet die Verwertungsgesell-
schaft die Einnahmen für dessen Werk an die Sozial-
werke der Verwertungsgesellschaften aus. Dieses von
uns vorgeschlagene Verfahren könnte zur Stärkung der
Sozialwerke beitragen, wovon wiederum die Urheberin-
nen und Urheber als Mitglieder der Verwertungsgesell-
schaften direkt profitieren würden.
Die genannten Forderungen unseres Antrags sind
notwendige Voraussetzungen, um die Erstellung der
DDB erfolgreich zu realisieren. Eine Mittelaufstockung
durch den Bund zur Digitalisierung muss mit der Schaf-
fung von Rechtssicherheit zum Umgang mit „verwaisten
Werken“ und mit Konzepten zur Vergütung der Urhebe-
rinnen und Urheber Hand in Hand gehen. Wir begreifen
deshalb die Forderungen unseres Antrags zu den „ver-
waisten Werken“ als obligatorische inhaltliche Ergän-
zungen zu den heute auf der Tagesordnung stehenden
Anträgen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6096, 17/6315 und 17/6296 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sie sind alle damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Somit ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a, 33 b und Zu-
satzpunkt 15 auf:
33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Dr. Dietmar Bartsch, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
NS-Vergangenheit in Bundesministerien aufklären
- Drucksache 17/3748 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann,
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Vizepräsident Eduard Oswald
Personelle und institutionelle Kontinuitäten
und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich
NS-Vorgängerinstitutionen untersuchen
- Drucksache 17/6297 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Personelle und institutionelle Kontinuitäten
und Brüche in deutschen Ministerien und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich
NS-Vorgängerinstitutionen systematisch untersuchen
- Drucksache 17/6318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor.
Brauchen wir wirklich staatliche Auftragsarbeiten,
um die Geschichte der Bundesministerien in der Zeit des
Nationalsozialismus wissenschaftlich kritisch aufarbeiten zu lassen, so wie es die Fraktionen der Linken und
der Grünen in ihren Anträgen fordern? Diese Frage
wurde bereits in der Debatte um die Studie „Das Amt
und die Vergangenheit“ von Historikern in den Zeitungsfeuilletons ausführlich geführt.
Wenn wir auf die Stimmen aus der Wissenschaft hören, die sich im Laufe der Debatte geäußert haben, so
stellen wir fest: Dort sind die Befürchtungen groß, dass
bei solchen Auftragsarbeiten das für eine seriöse wissenschaftliche Untersuchung erforderliche Mindestmaß
an Unabhängigkeit nicht garantiert werden kann. Befürchtet wird ganz grundsätzlich und wohl auch zu
Recht, dass bei Auftragsarbeiten der Auftraggeber dem
Wissenschaftler misstraut und seine Arbeit zu kontrollieren oder gar seine Arbeitshypothesen zu beeinflussen
versucht. Dies ist bei staatlichen Auftragsarbeiten schon
bedingt durch ein grundlegendes Problem: Die durch
Art. 5 Grundgesetz geschützte Freiheit der Wissenschaft
trifft auf das Verfassungs- und Staatsschutzinteresse und
muss dahinter zurückstehen. Die Befürchtungen aus der
Wissenschaft lassen sich auch dann nicht zerstreuen,
wenn die Wissenschaftler als „unabhängige Historikerkommission“ fungieren und ihnen garantiert wird, dass
sie ergebnisoffen arbeiten kann und keinerlei inhaltlichen oder politischen Restriktionen unterliegt. Ich teile
die kritische Haltung des großen Historikers Hans
Mommsen, der zu bedenken gab, dass eine eingesetzte
Kommission „nicht per Definition unabhängig“ sein
kann. Trotz dieser Debatte innerhalb der Geschichtswissenschaft haben, neben dem Auswärtigen Amt, auch das
Bundesfinanzministerium, das Bundeskriminalamt und
der Bundesnachrichtendienst die Erforschung der personellen Kontinuitäten nach 1945 in Auftrag gegeben.
Dieser Umgang mit der eigenen Geschichte ist natürlich
zu begrüßen.
Wir sollten die in der Tat wichtige Aufgabe der Geschichtsaufarbeitung also der Geschichtswissenschaft
überlassen, die in freigegebenen Archivdokumenten und
mit Quellen arbeitet. Dies geschieht auch ohne staatliche Auftragsarbeiten. Wir brauchen die Anträge der
Fraktion Linke und Bündnis90/Grüne nicht als Impulsgeber für eine kritische Geschichtsaufarbeitung.
Natürlich schwingt in dem Antrag zur Aufarbeitung
der personellen Kontinuitäten und der Denktraditionen
der Bundesministerien in den Gründerjahren der Bundesrepublik immer noch die Behauptung mit, die NSVergangenheit wurde und werde in Deutschland verdrängt. Diese Mythen der Linksfraktion sind Relikte aus
DDR-Zeiten.
Die politische Führung der DDR hat ihren Staat als
antifaschistischen Staat und damit als ideologischen Gegenentwurf zur Bundesrepublik Deutschland konzipiert.
Sie berief sich in ihren Gründungserzählungen immer
auf den Widerstand kommunistischer Gruppen gegen
den Nationalsozialismus und übertrug diesen Widerstand auf das Verhältnis zur Bundesrepublik. Dieser antifaschistische Gründungsmythos, der nur von einer
kleinen Gruppe innerhalb der politischen Führung der
DDR tatsächlich erlebt wurde, wurde auf die gesamte
DDR-Gesellschaft projiziert. Die DDR-Führung nutzte
diese „antifaschistische Gründungserzählung“ auch immer, um Akzeptanzdefizite zu kompensieren und für die
Abwehr von kritischen Potenzialen. So galt die Bundesrepublik in den staatlich gelenkten Medien der DDR als
bloße Fortsetzung des nationalsozialistischen Regimes.
Bekannt ist, wie die DDR-Führung Kenntnisse über Personen, die Mitglied der NSDAP waren und auch im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik tätig wurden, für
Propagandazwecke instrumentalisierte. Die Parallelen
im Denken der DDR-Führung und dem der heutigen
Linkspartei sind faszinierend. Auch heute werden die
eigenen Defizite in der innerparteilichen Auseinandersetzung um antizionistisches Denken und personelle
Kontinuitäten über die antifaschistische Tradition kompensiert.
Das Geschichtsbewusstsein und die Geschichtsaufarbeitung der Bundesministerien ist nicht zu unterschätzen. Vieles, was im aufgerufenen Antrag und auch in der
großen Anfrage zum „Umgang mit der NS-Vergangenheit“ gefordert wird, ist längst öffentlich bekannt und
wissenschaftlich bearbeitet worden. Die Studie „Das
Amt und die Vergangenheit“ hat kaum Überraschendes
hervorgebracht. Historiker hatten dies bereits vor der
Berufung der Unabhängigen Historikerkommission des
Auswärtigen Amtes erwartet. Im Nachgang wurde auch
deutlich, dass der sensationelle Beweis, dass im AA
Mord zum Dienstgeschäft gehörte, gar keine Sensation
war. Die Reisekostenabrechnung, in der ein Mitarbeiter
als Reisegrund angab „Liquidation von Juden in Belgrad“ und die für die neueste Studie die Begründung für
eine Neuinterpretation der Geschichte des Auswärtigen
Amtes im Nationalsozialismus liefern sollte, ist seit 1952
bekannt. Und so geht es weiter. Am Ende steht das Fazit,
dass der immer wieder geäußerte Vorwurf, das Auswärtige Amt würde die Erforschung der eigenen Geschichte
blockieren, völlig unbegründet ist. Schon während der
Nürnberger Prozesse hat es eine kritische Auseinandersetzung mit dem Amt gegeben. Im „Biografischen Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945“
kann man herausfinden, welcher Diplomat Mitglied in
einer nationalsozialistischen Organisation war. Neben
der Edition der „Akten zur deutschen Auswärtigen Politik“ gibt es zahlreiche Untersuchungen, die sich mit der
Rolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich auseinandersetzen.
Ich möchte die Linksfraktion aber noch ermutigen,
den eingeforderten kritischen Blick auf die Geschichte
der Bundesministerien auf die eigene Geschichte zu lenken. Ich meine nicht die personellen Kontinuitäten ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit in der heutigen
Linkspartei. Eine kurze Recherche bringt hervor, dass
mindestens 26 hochrangige Mitglieder der SED, darunter auch Minister, Mitglied der NSDAP oder anderer nationalsozialistischer Organisationen waren. Die Frage
aber, „erst braun, dann rot“, wird innerhalb der SEDFortsetzungspartei ein Reizthema sein und bleiben.
Während ihrer gesamten Existenz legitimierte sich
die ehemalige DDR stets als antifaschistischer Staat,
das war sozusagen ihr Gründungsmythos. Die Lebenswirklichkeit der offiziell entnazifizierten Gesellschaft
sah jedoch grundlegend anders aus. Bereits beim Aufbau des sozialistischen Einheitsstaates griff die SED auf
Angehörige von früheren NS-Organisationen zurück,
und das nicht zu knapp. Soweit sie nicht schwerster Verbrechen beschuldigt wurden, erhielten frühere NSDAPMitglieder zeitnah die Chance, beim Aufbau der angestrebten sozialistischen Gesellschaft mitzutun - zum großen Entsetzen der Opfer des Naziregimes in den eigenen
Reihen.
In der SED fanden viele der ehemaligen Nationalsozialisten eine neue politische Heimat mit Aufstiegsperspektive. Voraussetzung dafür war das Verschweigen der
eigenen braunen Vergangenheit. Gefragt wurde auch
kaum. Dass dies bei vielen der ehemaligen NSDAP-Mitglieder gängige Methode war, belegt eine Studie von
Wissenschaftlern der Friedrich-Schiller-Universität
Jena aus dem Jahr 2009. Sie fanden heraus, „dass das
Verschweigen der NSDAP-Mitgliedschaft - mit oder
ohne offizielles Einverständnis höherer politischer Instanzen - eine Parteikarriere überhaupt erst ermöglichte“. Ferner konnten die Wissenschaftler bei ihrer
Untersuchung der Ersten und Zweiten Kreis- und Bezirkssekretäre der SED in den ehemaligen Bezirken
Gera, Erfurt und Suhl eine mit 14 Prozent sehr hohe
Quote von örtlichen SED-Spitzenfunktionären mit Nazivergangenheit feststellen.
Etliche Alt-Nazis in der SED schafften es aber auch
nach ganz oben; das belegen die Forschungsergebnisse
des Historikers Olaf Kappelt. In seinem „Braunbuch
DDR“ hat er Hunderte solcher Karrieren nachgewiesen: Beispielsweise gab es viele NS-belastete Diplomaten und DDR-Außenpolitiker, wie den ehemaligen stellvertretenden DDR-Außenminister Kurt Nier, zuständig
für die Beziehungen zu Westeuropa, Kanada, den USA,
Australien und Japan, er trat am 20. April 1944 in die
NSDAP ein. Friedel Trappen, zeitweise DDR-Botschafter in Chile und stellvertretender Leiter der Abteilung
Internationale Verbindungen im SED-Zentralkomitee,
war seit 1942 Mitglied der NSDAP. Hans Jürgen Weitz,
langjähriger DDR-Botschafter im Irak, Kuweit und
Ägypten, war seit 1942 NSDAP-Mitglied und darüber
hinaus in der SS.
Siegfried Bock, DDR-Botschafter in Rumänien, war
ebenso ehemaliges NSDAP-Mitglied wie seine Diplomaten-Kollegen Norbert Jaeschke, DDR-Botschafter in der
Türkei und Dänemark, und Walter Ißleib, DDR-Botschafter in der Jemenitischen Arabischen Republik. Allesamt hatten trotz ihrer NS-Vergangenheit leitende Posten im DDR-Außenministerium inne.
Auch zu den Vereinten Nationen nach Genf wurde ein
ehemaliger Nationalsozialist entsannt, der DDR-Botschafter Gerhard Kegel, bereits früh, 1934, in die
NSDAP eingetreten und 1941 durch Hitler zum Legationssekretär im Auswärtigen Amt befördert.
Neben den Diplomaten- und außenpolitischen Posten
fanden die ehemaligen Nationalsozialisten auch an den
Universitäten der DDR als Dekane, in den Chefredaktionen der SED-gleichgeschalteten DDR-Medien, in der
DDR-Armee, im DDR-Ministerrat, der DDR-Volkskammer und im Zentralkomitee der SED ihre Wirkungsstätten. Im letzten SED-Zentralkomitee unter Erich
Honecker waren mehr frühere NSDAP-Angehörige zu
finden als ehemalige Mitglieder der SPD! Darunter der
SED-Kaderchef Fritz Müller, zuständig für die gesamte
Personalpolitik der DDR-Staatspartei, NSDAP-Mitglied
seit 1938.
Die Staatsdoktrin Antifaschismus der ehemaligen
DDR war also nur ein großes Mythos. Die Fassade des
antifaschistischen Staates konnte nur durch einvernehmliche Verschwiegenheit und Manipulation in den Biografien der SED-Führungskräfte aufrechterhalten werden.
Die Nachfolgepartei der SED sollte also nicht an vorderster Front Themen der alten Bundesrepublik geißeln,
stattdessen aktuell beispielsweise bei der Novelle des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes, an der deutlich besser gelungenen Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur
des 20. Jahrhunderts mitwirken, statt diese zu skandalisieren oder zu diskreditieren.
Was geschah mit den nationalsozialistischen Reichsministerien und deren Mitarbeitern nach 1945? In welcher Weise erfolgte der Transformationsprozess hin zu
demokratischen Strukturen in der Bundesrepublik und
den spezifischen Strukturen der DDR? Welche Kontinuitäten und Brüche sind in Ministerien und Behörden feststellbar - hinsichtlich des Personals sowie der Traditionen von Denken und Handeln?
Dies sind sperrige Fragen. Sie sind jedoch noch immer nicht systematisch und in der nötigen Breite bearbeitet worden. Sie zu beantworten, ist gleichwohl wichtig: Weil wir uns als Gemeinwesen verstehen, das aus
der Vergangenheit gelernt hat, und weil wir verpflichtet
sind, das Vertrauen in staatliche Institutionen zu stärken. Deshalb müssen wir wissen, wie das nationalsozialistische Regime nach seinem Ende weiter - und damit
auch auf uns heute - gewirkt hat.
Warum erst jetzt? Je differenzierter unsere Kenntnisse über die Zeit des Nationalsozialismus werden,
desto deutlicher zeigt sich der Anteil, den Beamte und
Ministeriumsmitarbeiter aus der „zweiten Reihe“ an der
Planung, Organisation und Umsetzung der nationalsozialistischen Politik hatten. Mitarbeiter der Reichsministerien fanden in Ministerien und Behörden der jungen
Bundesrepublik und auch in Einrichtungen der DDR erneut Anstellung. Mit der Übernahme belasteter und an
Verbrechen beteiligter Personen überdauerte nationalsozialistisches Gedankengut in Ministerien. Manches
Handeln in der Nachkriegszeit war davon geprägt.
Es reicht also nicht aus, sich allein mit der Zeit des
Nationalsozialismus zu beschäftigen. Es bedarf des genaueren Wissens über personelle Kontinuitäten und fortgeführte Traditionen in der Nachkriegszeit, um die Entstehung und Entwicklung unseres gegenwärtigen Gemeinwesens zu verstehen. Erst auf dieser Grundlage
wird eine verlässliche gesellschaftliche, juristische und
politische Bewertung unserer gegenwärtigen demokratischen Praxis vorzunehmen sein. Dies schließt auch die
kritische Betrachtung von Versäumnissen und Blockaden bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Tätern in der Bundesrepublik und der DDR ein.
Nicht zuletzt die Debatte um die Praxis der Nachrufe
für Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und das große
öffentliche Interesse an der Studie über das Auswärtige
Amt in der frühen Nachkriegszeit haben dies deutlich
gemacht. Dem Beispiel des Auswärtigen Amtes müssen
weitere Ministerien folgen. Gute Ansätze und auch Teilergebnisse gibt es bereits. Zu nennen sind eine Untersuchung über das Bundeskriminalamt und die kürzlich in
Auftrag gegebene Studie über die Frühzeit des Bundesnachrichtendienstes. In der Zeit sozialdemokratischer
Regierungsverantwortung wurde mit der Beauftragung
solcher Forschungen begonnen.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, sich der Frage nach personellen und institutionellen Kontinuitäten und Brüchen in aller Offenheit zu stellen. Neben der Geschichte der nationalsozialistischen
Reichsministerien gilt es, in gleicher Gewichtung die
Frühgeschichte zumindest jener Ministerien untersuchen zu lassen, die staatliche Kernaufgaben ausführen.
Dies zu fordern ist notwendig, denn die Bereitschaft,
sich der Geschichte der eigenen Institution zu stellen,
scheint nicht in jedem Ministerium gleichermaßen entwickelt zu sein. So bleibt es nach wie vor unverständlich,
weshalb das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz einen eigens angefertigten Bericht unter Verschluss hält.
Die Geheimhaltung von Ministerial- und Behördenakten der frühen Nachkriegszeit ist heute durch nichts
mehr zu rechtfertigen. Ausdrücklich fordern wir daher,
Historikern ungehinderten Zugang zu Archiven, Quellenmaterial und allen verfügbaren Informationen zu gewähren, die sie für eine sorgfältige Aufarbeitung benötigen. Die zu beauftragenden Wissenschaftler müssen in
jeder Hinsicht unabhängig arbeiten können. Darüber
hinaus müssen sie nach klaren und transparenten Kriterien ausgewählt werden. Ihre Forschungsergebnisse
sind der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die beiden Anträge, die neben unserem zum Thema
vorliegen, zeigen, dass wir mit unserer Einschätzung
nicht allein stehen. Ganz besonders freue ich mich, dass
Bündnis 90/Die Grünen unseren Antrag annähernd
wortgleich übernommen haben. Dies stimmt mich zuversichtlich, dass sich mit unseren guten Gründen auch die
Regierungsfraktionen von der Notwendigkeit überzeugen lassen, eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der institutionellen und personellen Kontinuitäten in Ministerien und Behörden der Nachkriegszeit in
Auftrag zu geben.
Dieser umfassende Forschungsauftrag ist Kern und
Ziel unseres Antrages, doch ist er kein Selbstzweck. Als
Deutscher Bundestag haben wir die Aufgabe, das Regierungshandeln zu kontrollieren. Damit stehen wir in der
Pflicht, Transparenz, Offenheit und Informationen über
die Exekutive einzufordern. Dies müssen wir auch hinsichtlich personeller und institutioneller Kontinuitäten
und Brüche in Bezug auf nationalsozialistische Vorgängerinstitutionen sicherstellen.
Ich lade alle Fraktionen ein, unseren Antrag zu unterstützen!
Die deutsche Vergangenheitspolitik, um einen Begriff
des Historikers Norbert Frei zu gebrauchen, hat nichts
von ihrer Aktualität und Brisanz verloren. Die historische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und die Vergangenheitsbewältigung in der
frühen Bundesrepublik werfen keineswegs nur rein akademische Fragen auf. Auch mehr als 65 Jahre nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges hat der Umgang mit dem
dunklen Kapitel der deutschen Geschichte nach wie vor
eine hohe politische Bedeutung. Deshalb bedauere ich
es ein wenig, dass wir die heutige Debatte nicht an prominenterer Stelle führen.
Als Rechtshistoriker am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, der sich selbst lange mit
dem Themenbereich der Vergangenheitspolitik beschäftigt hat, und als Vertreter einer jüngeren Generation ist
mir eines wichtig zu sagen: Die kritische Aufarbeitung,
Historisierung und umfassende Bewertung der NS-Vergangenheit sowie der inhaltlichen und personellen
Kontinuitäten in der Bundesrepublik ist für mich und
meine Partei oberstes Gebot. Die Arbeit von Historikern
darf nicht erschwert werden. Und man darf sich auch einem kritischen Blick auf die eigene Vergangenheit nicht
entziehen.
Uns liegen zwei Anträge von den Fraktionen Die
Linke und der SPD vor, die sich dem Problem der personellen und inhaltlichen Kontinuitäten zwischen dem NSRegime und der Bundesrepublik widmen. Das grundsätzliche Anliegen der beiden Anträge - eine Aufklärung
und umfassende Aufarbeitung der Geschichte der Bundesministerien - können mit Sicherheit alle demokratischen Parteien in diesem Hause unterstützten. Es ist
auch allen Beteiligten klar, dass mutige Historiker, Journalisten und Bürger den Prozess der historischen Aufarbeitung teils sehr mühsam gegen interne Widerstände in
den betroffenen Institutionen erkämpfen mussten. Aber
ich habe durchaus Zweifel, ob die in den Anträgen vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich notwendig sind
oder nicht über das Ziel hinausschießen.
In den vergangenen Jahren haben wir wichtige
Schritte in der Aufarbeitung der Geschichte einiger
Bundesministerien gesehen. Zu nennen ist hier zum einen die interessante und sehr kontrovers diskutierte Studie zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. Diese
brachte Verstrickungen und aktive Beteiligungen von
deutschen Diplomaten an der Deportation der europäischen Juden zwischen 1933 und 1945 ans Licht und
brach dadurch mit dem Bild des Auswärtigen Amtes als
Hort des Widerstandes. Daneben machte die dortige
Historikerkommission auch auf personelle Kontinuitäten aufmerksam: So erklärte der Leiter der Kommission,
Eckart Conze, in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass in den Jahren 1950/51 noch
rund 42 Prozent der Angehörigen des höheren Dienstes
vor 1945 in der NSDAP gewesen seien.
Aber auch in anderen Ministerien und Behörden sind
wichtige Aufarbeitungsprozesse angestoßen bzw. abgeschlossen worden. Im Bundesfinanzministerium ist vor
kurzem ein erster Bericht der Historikerkommission
vorgestellt worden. Im Ministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie im Verkehrsministerium wurden entsprechende Studien abgeschlossen. Und auch im Bundesministerium der Verteidigung wird schon sehr lange an der historischen
Aufarbeitung geforscht. Erfreulicherweise hat sich dieser Prozess auch auf die Sicherheitsbehörden des Bundes ausgeweitet. Im April 2011 wurden die teils sehr
erschütternden Ergebnisse der Erforschung der Geschichte des Bundeskriminalamtes der Öffentlichkeit
vorgestellt. Beim Bundesnachrichtendienst und dem
Bundesamt für Verfassungsschutz steht der Historisierungsprozess aber noch am Anfang.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass sich der Prozess
der historischen Aufarbeitung und kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bisher auch
ohne gesetzgeberischen Zwang positiv entwickelt hat
und auch weiter fortsetzen wird. Dafür spricht das große
Interesse der Medien und Öffentlichkeit an den Ergebnissen dieser Studien. Ich will mich jedoch dem Gedanken nicht verschließen, dass - sollten sich in der weiteren Entwicklung strukturelle Hindernisse diesen
Aufarbeitungsprozessen entgegenstellen - man durchaus über zusätzliche gesetzgeberische Anreize in Einzelfällen diskutieren kann. In der derzeitigen Situation
halte ich diese aber nicht für notwendig.
Ich will noch ein paar Worte zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke sagen. In Punkt 5 wird gefordert, dass den Historikerkommissionen die Aktenbestände uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollen.
Dieser Punkt, der sich auch im Antrag der SPD wiederfindet, ist problematisch. Sosehr wir auch alle für Offenheit und Transparenz sind, so haben doch Sicherheitsbehörden wie der Bundesnachrichtendienst und das
Bundesamt für Verfassungsschutz ein legitimes Geheimhaltungsinteresse, wenn es um die innere und äußere Sicherheit sowie das Bild Deutschlands im Ausland geht.
Deshalb kann ein pauschaler, uneingeschränkter Zugang zu allen Aktenbeständen nicht gewährt werden. In
Einzelfällen muss die Behörde das Recht haben, zwischen historischem Aufklärungsinteresse und legitimem
Geheimhaltungsinteresse abwägen zu können. Sollte
sich allerdings zukünftig herausstellen, dass sich das
Pendel zwischen beiden Polen strukturell nur in die
Richtung des letzteren Wertes bewegt, verschließen wir
uns in Einzelfällen nicht gesetzgeberischen Anreizen.
Ein weiterer Punkt im Antrag der Linken ist problematisch: Es findet sich nicht ein einziges Wort zur notwendigen Aufarbeitung der Geschichte der Ministerien
und Behörden in der ehemaligen DDR. Auch diese müssen in den weiteren Historisierungsprozessen stärker
einbezogen werden. Diese Erkenntnis scheint der Fraktion Die Linke wieder einmal fern. Wie so oft kann man
ihnen ein glaubwürdiges Aufklärungsinteresse nicht abkaufen, weil Sie sich nicht kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen wollen. Ihr Antrag ist als
ein politischer Entlastungsangriff zu verstehen, den wir
hier im Parlament schon so häufig gesehen haben.
Im Antrag der SPD finden sich viele Formulierungen,
die wohl alle Parlamentarier unterschreiben können. Im
Gegensatz zum Antrag der Linken wird hier auch die
bisher noch unvollständige Aufarbeitung der Geschichte
der Institutionen in der ehemaligen DDR thematisiert.
Allerdings hat neben dem bereits geschilderten Problem
der uneingeschränkten Akteneinsicht eine weitere Formulierung im SPD-Antrag einen etwas faden Beigeschmack. So wird die Leistung der Behörden und Ministerien zur Aufarbeitung ihrer Geschichte „insbesondere
unter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung“
hervorgehoben. Es ist richtig, dass der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück vor zwei Jahren eine
hochrangige Historikerkommission in seinem Hause
eingesetzt hat. Es ist ebenso richtig, dass die sozialdemokratischen Präsidenten Ernst Uhrlau, Heinz Fromm
und Jörg Ziercke die historische Aufarbeitung in ihren
Behörden vorangetrieben haben. Aber zum vollen Bild
gehört auch der ehemalige SPD-Innenminister Otto
Schily, der sich der Historisierung in Regierungsverantwortung mit aller Kraft widersetzte. Er tat dies nicht nur
für sein eigenes Amt, sondern streute seine Ansichten in
der gesamten Bundesregierung. Wenn Sie jetzt einen
vermeintlich mangelnden Aufklärungswillen der Bundesregierung beklagen, sollten Sie sich auch die Frage
stellen, ob Sie nicht vor ein paar Jahren in Regierungsverantwortung noch mehr hätten tun können.
Trotz der offensichtlichen Mängel in beiden Anträgen
freue ich mich auf die weiteren Diskussionen im Innenausschuss und in der sich dann hoffentlich an prominenterer Stelle anschließenden Schlussdebatte im Plenum.
Denn an historischer Aufarbeitung und kritischer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit sollten
wir Parlamentarier ein besonderes Interesse haben.
Die vorgelegten Anträge und die jüngsten parlamentarischen Vorgänge zeigen: Die Opposition misst bei der
Aufarbeitung der deutschen Diktaturen mit zweierlei
Maß. Ich bin erstaunt, wie widersprüchlich und inkonsistent vor allem die SPD und die Grünen beim Thema
Aufarbeitung von staatlichem Unrecht agieren. Weniger
erstaunlich ist, dass die Linke die Schlussstrichpolitik
der 50er-Jahre kritisiert und gerade dies heute mit Blick
auf das SED-Unrecht fordert.
In den Anträgen der SPD und der Grünen heißt es auf
Seite 3:
Auch um das Vertrauen der Bürger in ihre Staatsorgane willen sieht sich der Deutsche Bundestag in
der Pflicht, Transparenz, Offenheit und Information
über alle Bereiche der Exekutive … einzufordern.
Wie recht Sie haben! Mir scheint es aber, diese Pflicht
vergessen Sie, wenn es um die andere Diktatur geht, die
es in Deutschland im 20. Jahrhundert gegeben hat.
Diesbezüglich haben Sie in einer in dieser Woche durchgeführten öffentlichen Anhörung zum Stasi-UnterlagenGesetz gezeigt, wie nahe Sie an einem Schlussstrich
sind, der auch das Vergessen befördert. Die von SPD,
Grünen und Linken benannten Experten haben sich, zum
Teil unter deren Zustimmung, dafür eingesetzt, die Überprüfung im öffentlichen Dienst ganz einzustellen, und
teilweise die Notwendigkeit der anhaltenden Aufarbeitung geleugnet. Es wurde gesagt, dass die Opfer sich
nach so vielen Jahren damit abfinden müssten, dass es
auch eine Vergangenheit gebe. Der gesellschaftliche Bedarf nach Klarheit und Aufarbeitung bestünde 21 Jahre
nach der Wende nicht mehr. Es sei unverhältnismäßig,
wenn man die Verstrickungen von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes heute aufdecken möchte. Diese Argumente gleichen den Debatten der 50er- und 60erJahre, in denen von vielen ein Schlussstrich unter die
Naziverbrechen gefordert wurde. Und eben 21 Jahre
nach Kriegsende, also 1966, setzte die tatsächliche gesellschaftliche Aufarbeitung des Unrechts ein.
Offensichtlicher kann der Widerspruch, auch durch
die zeitliche Nähe, nicht sein: Am Montag redet die
Linke dem Ende der Stasiaufarbeitung das Wort, und die
Sachverständigen von SPD und Grünen sprechen von
der Notwendigkeit des Vergessens. Am Donnerstag
prangern sie genau das im Zusammenhang mit der NSAufarbeitung an. Merkwürdigeres gibt es nicht.
Die Opposition misst hier also mit zweierlei Maß. Sie
mahnt richtigerweise an, dass Fehler bei der NS-Aufarbeitung nicht ausreichend beleuchtet seien, und spielt
sich als das gute Gewissen auf. Auf der anderen Seite ist
sie fälschlicherweise gerade dabei, genau den gleichen
Fehler bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts noch
einmal zu machen. Warum verweigern Sie sich bei der
Frage, inwieweit alte Stasikader noch in der öffentlichen
Verwaltung tätig sind, genau dem, was Sie bei der NSAufarbeitung mit Nachdruck fordern? Diese Politik ist
inkonsequent und unglaubwürdig. Wir wissen alle um
die Fehler in den 50ern und haben daraus gelernt. Sie
sind dabei, einer gesellschaftlichen Haltung Raum zu
geben, die diese Fehler wiederholen will. Ich bin gespannt, wie Sie dies rechtfertigen. Denn erschwerend
kommt hinzu, dass Opfer und Täter der DDR noch gegenwärtig sind. Das bedeutet, dass politisches Handeln
aktiv Auswirkungen für oder gegen die Gerechtigkeit
hat. Bei NS-Tätern ist dies nicht mehr der Fall.
Eine gewisse Ungeheuerlichkeit gibt es noch in einem
zweiten Aspekt: Die vorgelegten Anträge erwecken den
Eindruck, als ob eine Kontinuität bei den Bundesministerien im Vergleich zu den Ministerien aus der NS-Zeit
geherrscht hätte. Es wäre der nationalsozialistische
Geist noch weit verbreitet gewesen, wird dort konstatiert. Sie können doch nicht allen Ernstes unterstellen,
dass die Bundesrepublik und ihre Institutionen in den
ersten Jahren die Ziele des Dritten Reiches und die Ideologie der Nationalsozialisten fortgesetzt hätten! Diese
Diffamierung geht zu weit. Nicht ausgeführt wird, dass,
trotz aller unbestrittenen Versäumnisse, die Bundesrepublik einen beachtlichen Neuanfang nach dem Krieg geleistet hat. Getragen wurde dieser von Persönlichkeiten
wie Kurt Schumacher, dem Liberalen Theodor Heuss,
Konrad Adenauer und vielen anderen, die glühende
Gegner des NS-Regimes waren. Dies bleibt in den Anträgen allerdings völlig unerwähnt.
Schließlich verstehe ich nicht, warum gerade jetzt
diese Anträge gestellt werden. Erst im Dezember vergangen Jahres hat die Linke eine umfangreiche Große
Anfrage zu dem Thema gestellt. Das BMI ist gerade damit beschäftigt, die darin enthaltenen 64 Fragen zu bearbeiten. Die Antwort auf diese Anfrage wird sehr ausführlich darlegen, inwieweit die Bundesregierung an der
Aufarbeitung der Geschichte in ihren Ministerien in der
Nachkriegszeit arbeitet und diese vorantreibt. Vieles aus
Ihrem Antrag wird sich spätestens dann als hinfällig erweisen. Darüber hinaus nehmen zahlreiche Institutionen
eine eigene Aufarbeitung vor. Öffentlichkeitswirksam
wurde etwa das Auswärtige Amt aktiv.
Die FDP unterstützt mit Nachdruck die nachhaltige
Aufarbeitung jeglichen staatlichen Unrechts, das in diesem Lande passiert ist. Dies betrifft die NS-Zeit genauso
wie die DDR-Diktatur. Ich lade Sie ein, die wirksame
Aufarbeitung des SED-Unrechts und die Erfolgsgeschichte des Stasi-Unterlagen-Gesetzes gemeinsam mit
uns fortzusetzen.
Die vorgelegten Anträge enthalten viel Richtiges und
noch mehr Selbstverständliches. Es ist grundsätzlich
Staatsräson, dass wir die Nazidiktatur in Deutschland
Patrick Kurth ({0})
weiterhin mit allem Nachdruck und Engagement aufarbeiten und umfassend historisch erschließen. Das betrifft alle öffentlichen Institutionen, insbesondere die
obersten Behörden, deren rechtliche Vorgängerorganisationen es schon vor Gründung der Bundesrepublik
gab.
Grundsatz ist und bleibt: eine saubere Aufklärung,
eine Aufarbeitung des Unrechts, kein Schlussstrich und
keine Ignoranz bei der Bewertung der Geschehnisse,
aber auch Augenmaß und Sachlichkeit. Dafür steht die
Koalition.
Die Linksfraktion stellt heute den Antrag, die NS-Vergangenheit aller infrage kommenden Bundesministerien
aufzuarbeiten. Bis heute steht eine kritische Bilanz der
personellen und inhaltlichen Kontinuitäten zwischen
dem NS-Regime und der Bundesrepublik Deutschland in
den meisten Fällen aus. Und dies, obwohl die kritische
Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu den
zentralen Lehren aus der deutschen Geschichte im
20. Jahrhundert gehört und der Deutsche Bundestag
und sämtliche Bundesregierungen seit 1949 zumindest
verbal immer wieder die enorme Bedeutung eines kritischen Blicks auf die eigene Geschichte betont haben.
Diese Sicht musste immer wieder erkämpft und durchgesetzt werden.
Mit der Vorstellung der Studie „Das Amt“ wurde im
letzten Jahr von offizieller Seite eine weitere Etappe in
der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit begonnen. Die Aussage von Eckart Conze, einem der Autoren der Studie, das Auswärtige Amt wäre eine „verbrecherische Organisation“ gewesen, war für viele in ihrer
Deutlichkeit überraschend, gleichwohl aber ein Meilenstein in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung.
Nicht dass die Erkenntnis neu gewesen wäre: Schon die
Historiker Browning, Döscher und Frei haben teils vor
Jahrzehnten den verbrecherischen Charakter der „feinen Herren“ des AA untersucht und veröffentlicht. Die
Abwehr dieser Erkenntnis und der Unwille, die Verstrickung der damaligen Funktionseliten in den Nationalsozialismus und ihre Wiederkehr in die bundesdeutschen
Entscheidungsebenen aufzuarbeiten, haben ihre Wurzeln in den fünfziger Jahren und dauern in Teilen bis
heute an. Die Studie zur Nazi-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes sorgte allerdings auch deshalb für Aufregung, weil sie belegte, wie führende NS-Eliten nach
dem Krieg weiterbeschäftigt wurden. Und dies massenhaft. So waren 1950/51 rund 42 Prozent der Angehörigen des höheren Dienstes ehemalige NSDAP-Mitglieder. Diese Zahl ist umso bemerkenswerter, weil damit
nur kurz nach 1945 im Amt mehr NSDAP-Mitglieder
beschäftigt waren, als beispielsweise in den Jahren
1938/39. Und sie erregte Aufsehen, weil klar wurde,
dass andere Bundesministerien sich immer noch einer
umfassenden Aufarbeitung entziehen. Nur auf einen
wichtigen Punkt hätte in der Studie ausführlicher eingegangen werden können, nämlich den Fragen nach inhaltlichen Kontinuitäten: Welchen Einfluss auf die Politik der frühen Bundesrepublik hatte die Anwesenheit so
vieler ehemaliger NSDAP-Mitglieder und alter Nazis?
Welche ideologischen Kontinuitäten konnten sich schleichend fortsetzen, wo gab es klare Brüche? Und inwieweit wurde dadurch der demokratischen Entwicklung
der BRD geschadet? Für die Frühgeschichte der Bundesrepublik wäre es wichtig gewesen, genau solchen
Fragen heute nachzugehen.
Die Bundesregierung hat heute keine plausiblen Argumente, analog zur Außenamtsstudie nicht endlich
auch die anderen infrage kommenden Ministerien und
Behörden untersuchen zu lassen, wie es die Linke im
Bundestag im vorliegenden Antrag fordert. Und erfreulicherweise liegen ja heute auch noch zwei weitere nahezu identische neue Anträge der SPD und der Grünen
vor, die das gleiche Ziel verfolgen. Dies ist umso erfreulicher, weil es ja gerade bei der SPD in dieser Frage bis
vor gar nicht so langer Zeit auch noch ganz andere Positionen gab.
Nun werden sicherlich wieder einige von der Koalition einwenden, dass doch bereits Etliches auf den Weg
gebracht und im Grunde unser Antrag längst überholt
und unnötig sei. Ja, richtig, bei einigen Ministerien und
Behörden tut sich seit 2005 tatsächlich etwas. Wenn man
sich aber genauer anguckt, was bisher in Sachen Aufarbeitung der personellen und institutionellen Kontinuitäten passiert ist oder passiert, dann sieht das Ganze
schon anders aus. Denn zum Teil steht zwar die Erforschung der Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus auf der Agenda, wie beispielsweise beim Bundesfinanzministerium, wo unter der Leitung von Ulrich
Herbert seit dem Sommer 2009 eine hochrangige siebenköpfige Historikerkommission untersucht, welchen
Beitrag das Reichsfinanzministerium etwa bei der Ausplünderung der Juden sowie der Finanzierung der Rüstung und des Krieges leistete, welche Handlungsspielräume es dabei gab und wie diese genutzt wurden, aber
die Zeit nach 1945 ist bislang nicht Forschungsgegenstand. Und dies nicht, weil die Historiker dies nicht
wollten, im Gegenteil.
Oder nehmen sie das Bau- und Verkehrsministerium.
Dort ließ zwar der damalige SPD-Minister Wolfgang
Tiefensee vor einigen Jahren von zwei Historikern die
„antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeriums
zwischen 1933 und 1945“ untersuchen, wer von den
Verantwortlichen aber später auch im Bundesverkehrsministerium Politik machen konnte, wurde sicherheitshalber nicht untersucht. Hier besteht dringender Nachholbedarf, und ich bin gespannt, inwieweit Minister
Ramsauer dem nachkommen wird.
Oder nehmen sie das Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Dort wurde die
ebenfalls 2005 in Auftrag gegebene Studie, die vor allem
das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft behandelt, dem in der nationalsozialistischen
Blut-und-Boden-Ideologie eine zentrale Rolle zukam,
lange unter Verschluss gehalten. Und dies, obwohl die
Studie gar nicht untersuchte, wie viele Nazis nach dem
Krieg im neuen Bundesministerium weiterarbeiteten.
Jetzt ist seit einigen Wochen zwar die Studie öffentlich,
aber die Liste jener 62 Mitarbeiter mit möglicher Nazivergangenheit, von denen im Ministerium fünf wegen ihJan Korte
rer Vergangenheit als „nicht ehrwürdig“ eingestuft wurden, fehlt weiterhin. Das sich hier Ministerin Aigner
hinter Datenschutzgründen versteckt, ist mehr als peinlich.
Auch das Innenministerium hat bis heute unter keiner
Bundesregierung den Versuch unternommen, die eigene
Geschichte kritisch aufzuarbeiten. Während zwar das
BKA eine Historikerkommission beauftragt hat seine
braunen Wurzeln zu untersuchen und neuerdings ja erfreulicherweise endlich auch der BND und der Verfassungsschutz Anstalten machen Ähnliches auf den Weg zu
bringen, wird beim Nachfolger des Reichsinnenministeriums weiter gemauert.
Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fällt übrigens nicht nur der konservativen Seite dieses Hauses
schwer. Es hat zum Beispiel eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis auch die SPD-Fraktion sich in der letzten Legislaturperiode dazu durchgerungen hat, die Rehabilitierung der sogenannten Kriegsverräter mitzutragen.
Umso schöner, dass die SPD sich heute mit einem eigenen Antrag für die Aufarbeitung der personellen und institutionellen Kontinuitäten und Brüche in Ministerien
und Behörden der frühen Nachkriegszeit hinsichtlich ihrer NS-Vorgängerinstitutionen einsetzt.
Um eine neue Debatte um die Vergangenheitspolitik
anzustoßen hat meine Fraktion in dieser Legislaturperiode bereits eine ganze Reihe weiterer Anträge und Anfragen in das Parlament eingebracht. So haben wir beispielsweise gefordert, endlich den Widerstand und die
unzähligen Opfer des kommunistischen Widerstandes
anzuerkennen und den Ausschluss von Kommunistinnen
und Kommunisten von den Entschädigungsleistungen
für ihre erlittenen Qualen in den Konzentrationslagern
in den fünfziger Jahren als Unrecht anzuerkennen. Ein
anderer Antrag, dem sich dann inhaltlich auch die Grünen mit ihrem Antrag „Verantwortlichkeit der Bundesregierung für den Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann“
anschlossen, fordert die Aufarbeitung der Geschichte
des BND und die Offenlegung der Akten zum Fall
Eichmann. In einer großen Anfrage, für deren Beantwortung sich die Bundesregierung nun insgesamt fast
11 Monate Zeit nehmen möchte, wird insgesamt die
Frage des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der
Bundesrepublik gestellt. Was wir aber insgesamt brauchen, ist eine viel systematischere Beschäftigung mit
dem Thema. Nötig ist endlich ein Gesamtkonzept zur
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Bundesministerien und -behörden - mit nachvollziehbaren Kriterien,
klaren Aufträgen zum weiteren Umgang mit dem Thema,
einem uneingeschränkten Zugang zu den Akten und Dokumenten und einer ausreichenden finanziellen Ausstattung. Die Bundesregierung und der für Erinnerungskultur zuständige Kulturstaatsminister Neumann sind hier
eigentlich schon lange in der Pflicht, ein solches Konzept vorzulegen. Aber da sie es ja alleine offensichtlich
nicht hinbekommen, soll ihnen unser Antrag nun dabei
helfen.
Die aktuelle Debatte zeigt, dass Geschichte nach wie
vor ein umkämpftes Feld ist. Trotz vieler Rückschritte
und Niederlagen müssen dabei aber nicht zwangsläufig
die Apologeten und Geschichtsrelativierer die Oberhand
gewinnen. Es gab immer wieder Durchbrüche für eine
kritische Geschichtsauffassung. Und obwohl natürlich
die alten Eliten das politische Klima der Bundesrepublik
bis in die achtziger Jahre maßgeblich geprägt haben, so
taten dies eben aber auch linke Wissenschaftler, Initiativen, Gewerkschaften und in einem nicht zu vernachlässigenden Teil ein geschichtsbewusstes Bürgertum sowie
kritische Medien.
Ich bin mir sicher, dass wir heute andere Zeiten und
auch andere gesellschaftliche Mehrheiten haben als
noch in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Klar ist aber auch eines: Geschichtspolitischen
Fortschritt gibt es immer nur durch breiten gesellschaftlichen Druck.
Die von Bundesaußenminister Joschka Fischer 2005
in Auftrag gegebene Studie, die im letzten Jahr unter
dem Titel „Das Amt und die Vergangenheit“ veröffentlicht wurde, hat ein über viele Jahre verbreitetes Geschichtsbild als Legende erwiesen. Das Auswärtige Amt
war in der NS-Zeit kein „Hort des Widerstands“, sondern tief verstrickt in die Verbrechen der Nationalsozialisten. Es hat die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ und Verbrechen an anderen Opfergruppen nicht
nur nach außen hin gedeckt, sondern sich auch aktiv an
ihnen beteiligt. Zudem gehört zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte der Bundesrepublik, dass viele
der Diplomaten und Mitarbeiter, die sich hier schuldig
machten, nach dem Krieg ihre Karriere im Auswärtigen
Amt fortsetzen konnten. Nur wenige wurden zur Rechenschaft gezogen.
Mit der Veröffentlichung der Studie fiel ein Schlaglicht auch auf andere Bundesministerien und Behörden.
Auch hier gab es tiefgehende Verstrickungen von Vorgängerinstitutionen in die Verbrechen des Dritten Reiches und ebenso problematische personelle und institutionelle Kontinuitäten nach dem Krieg, ein
weitverbreitetes Schweigen über die Vorgeschichte und
auch fahrlässiges Nichtstun und mutwilliges Vertuschen
und Verdrängen.
Nach dem Erscheinen der Studie zum Auswärtigen
Amt haben wir als Grüne-Fraktion zusätzliche Initiativen gestartet, um eine offene und verantwortliche Aufarbeitung der Geschichte der Bundesministerien und -behörden zu befördern. Im November 2010 brachten wir
eine Kleine Anfrage - Bundestagsdrucksache 17/3929,
Antwort auf Drucksache 17/4344 - zur Vorgeschichte
von Bundesministerien, Botschaften und obersten Bundesbehörden in der NS-Zeit auf den Weg. In den Antworten führt die Bundesregierung Einzelforschungen und
-maßnahmen an, was hilfreich ist, um einen Überblick
über den gegenwärtigen Stand zu gewinnen. Hierfür bedanken wir uns ausdrücklich.
An vielen Stellen sind die Antworten jedoch sehr ausweichend. Was wir besonders problematisch finden, ist,
dass die Bundesregierung es ausdrücklich ablehnt, ein
Claudia Roth ({0})
Gesamtkonzept zur Aufarbeitung der Vorgeschichte der
Bundesministerien und Behörden in der NS-Zeit und zu
den problematischen personellen und institutionellen
Kontinuitäten vorzulegen. Damit will sie es bei einem
ziemlichen Flickenteppich in der Aufarbeitung belassen,
mit dem wir es im Augenblick zu tun haben, bei Einzelaktivitäten, die abhängig sind von Initiativen der jeweiligen Amtsführungen oder besonderen Forschungsintentionen.
Ebenfalls aus dem November 2010 stammt eine
Kleine Anfrage unserer Fraktion zur „Erleichterung des
Forschungszugangs zu Archiven des Auswärtigen Amts
und anderer Bundesministerien“; Drucksache 17/3804,
Antwort auf Drucksache 17/4339. Hier ist offensichtlich
einiges zu verbessern. Auch die Historikerkommission
des Auswärtigen Amtes hatte ja kritisiert, dass sie viele
Materialien erst sehr spät - wenn überhaupt - bekommen hat.
Im Februar 2011 folgte unser Antrag „Berichte zur
NS-Vergangenheit des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz veröffentlichen“; Drucksache 17/4696. In diesem Antrag geht es
um Berichte, die noch in der Amtszeit von Renate Künast
als Verbraucherschutzministerin in Auftrag gegeben,
nach ihrer Fertigstellung von den Amtsnachfolgern aber
nicht veröffentlicht worden sind. Es ist doch wirklich ein
Unding, wenn solche wichtigen Forschungen unter Verschluss bleiben. Hier ist der Eindruck entstanden, dass
es mit der Politik der Vertuschung und Verdrängung immer noch kein Ende haben soll.
Ein grüner Antrag aus dem Januar 2011 mit dem Titel „Verantwortlichkeit der Bundesregierung für den
Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann“ - Drucksache
17/4586 - ist am heutigen Tag an anderer Stelle auf der
Tagesordnung, leider nicht zusammen mit den Anträgen,
die wir hier diskutieren, weil die SPD und die Regierungskoalition der Meinung waren, dass der Antrag zu
Eichmann und Barbie aus „inhaltlichen Gründen“ nicht
zum Thema „Personelle und institutionelle Kontinuitäten zur NS-Zeit“ passe, das wir an dieser Stelle diskutieren. Das verwundert mich doch sehr.
Der grüne Antrag beschäftigt sich mit wirklich unglaublichen Vorgängen, nämlich damit, dass der „Organisation Gehlen“ bzw. ihrem Nachfolger, dem BND, bereits seit 1952 bekannt war, wo sich der Holocaustorganisator Adolf Eichmann versteckte. Dieses Wissen
wurde jedoch geheim gehalten, sogar über den Zeitpunkt von Eichmanns Ergreifung 1960 hinaus. Ebenso
unfassbar ist es, dass der BND den sogenannten
Schlächter von Lyon, Klaus Barbie, 1966 als Agenten
anwarb, in Kenntnis von dessen Vergangenheit - ein
Vorgang, den der „Spiegel“ am 17. Januar 2011 öffentlich machte, angeblich auf der Grundlage von BND-Akten im Bundesarchiv. Das Parlament und die Öffentlichkeit haben einen Anspruch darauf, über alle Aspekte
dieser Vorgänge und die Verantwortlichkeiten unterrichtet zu werden. Genau das fordern wir von der Bundesregierung - und das hätten wir gerne auch an dieser Stelle
diskutiert.
Wir freuen uns, dass aus anderen Fraktionen ebenfalls Aktivitäten zur Aufarbeitung des Themas der NSVorgängerinstitutionen der Bundesministerien und -behörden kommen. Was den SPD-Antrag auf Drucksache
17/6297 vom 28. Juni 2011 angeht, so wäre es besser gewesen, wenn es als deutliches Signal hier eine gemeinsame Einbringung mit uns Grünen gegeben hätte. Eine
solche gemeinsame Aktivität hatten wir schon vor einiger Zeit angeregt. Und sie war ja eigentlich schon auf
dem Weg. Am Dienstag kam dann in letzter Minute die
Botschaft, dass die SPD doch alleine einen Antrag einbringen will. Das bedauern wir und halten es auch politisch für nicht sinnvoll. Da der SPD-Antrag jedoch viele
grüne Forderungen aus den letzten Monaten und Jahren
sehr gut widerspiegelt, unterstützen wir ihn und bringen
- mit einer wichtigen Konkretisierung und Weiterentwicklung - gerne auch eigenständig einen Antrag ein;
Drucksache 17/6318.
Was jetzt nottut, ist eine systematische Aufarbeitung
des Themas. Diesen Gedanken heben wir besonders hervor. Damit so etwas in Gang kommt, benötigen wir ein
Konzept und ein koordiniertes Vorgehen. Wir fordern die
Bundesregierung auf, ein schlüssiges Gesamtkonzept
zur Aufarbeitung der personellen und institutionellen
Kontinuitäten und Brüche in den Bundesministerien und
-behörden hinsichtlich der NS-Vorgängerinstitutionen
vorzulegen. Die weitere Koordination des Vorgehens
sollte beim Beauftragten für Kultur und Medien liegen,
in dessen Aufgabenbereich ja auch das Thema Erinnerungskultur fällt.
Ein solches Konzept muss aufzeigen, wo noch besondere Wissenslücken bestehen und zu schließen sind. Es
muss klare Kriterien geben, wie mit Forschungsergebnissen im Weiteren umzugehen ist. Natürlich müssen die
Forschungen veröffentlicht werden. Geheimhaltungspolitik in dieser Frage hinterlässt den denkbar übelsten
Geschmack. Wir brauchen auch Kriterien dafür, wie die
entsprechenden Ergebnisse in die konkrete Arbeit der
Ministerien und Behörden einfließen sollen, zum Beispiel in der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir brauchen auch Klarheit mit
Blick auf die Nachrufpraxis der Ministerien und Behörden bei Mitarbeitern mit NS-Belastung. Die Aufweichung der Nachrufregelung, die Joschka Fischer im Außenministerium eingeführt hatte, durch Guido
Westerwelle ist kontraproduktiv und weist in die falsche
Richtung.
Sie sehen also: Es gibt viel zu tun. Ich werbe dafür,
dass alle Fraktionen gemeinsam aktiv werden, um der
Gesamtverantwortung in der Sache gerecht zu werden.
Und natürlich lade ich auch die SPD ein, die ja auch aus
der Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, an dem sie besonderen Anteil hatte, die Bedeutung des Themas sehr gut kennt. Es wäre schön,
wenn es sich bei dem SPD-Antrag von heute nicht nur
um eine Pflichtübung handelte, um das Thema dann damit abzuhaken. Mit Blick auf Herrn Thierse sage ich,
dass ich es sehr gut verstehe, wenn das Thema Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vielen Sozialdemokraten
deutlich wichtiger ist als Debatten um den WiederaufClaudia Roth ({1})
bau des Hohenzollernschlosses, als Streitereien um Einheitsdenkmäler, deren Bedeutung in der Öffentlichkeit
schlecht vermittelt wurde, oder als die Arbeit oder
Nichtarbeit einer Vertriebenenstiftung mit dubiosen Stiftungsratsmitgliedern.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/3748, 17/6297 und 17/6318 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die Tagesordnung ist erschöpft, sondern auch wir.
({0})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Juli 2011, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich bedanke mich bei allen, die noch ausgehalten haben. Vielen herzlichen Dank.