Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/9/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Ganz besonders herzlich begrüße ich die Kollegin Ulla Jelpke, die heute ihren 60. Geburtstag feiert und der ich dazu im Namen des ganzen Hauses gratulieren möchte. ({0}) Ich möchte Ihnen mitteilen, dass der Kollege Winfried Hermann am 6. Juni 2011 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Für ihn ist der Kollege Till Seiler nachgerückt. Für die gestern ausgeschiedene Kollegin Ulrike Höfken hat der Kollege Tobias Lindner die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im Namen des Hauses begrüße ich die beiden neuen Kollegen herzlich. ({1}) Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit. Die Fraktion der FDP schlägt vor, den Kollegen Rainer Brüderle anstelle der Kollegin Birgit Homburger zum ordentlichen Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss und zum stellvertretenden Mitglied im Vermittlungsausschuss zu wählen. Die Kollegin Homburger soll wiederum den Kollegen Joachim Spatz als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss ablösen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt. Eine weitere Wahl betrifft den Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Beauftragte für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das vom Bundesministerium des Innern benannte stellvertretende Mitglied Stéphane Beemelmans ausgeschieden ist und Herr Dr. Jörg Bentmann als dessen Nachfolger vorgeschlagen wird. In § 19 des entsprechenden Gesetzes ist vorgesehen, dass auch die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglieder des Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestätigt werden. Ich möchte Sie deswegen fragen, ob Sie mit diesem Vorschlag einverstanden sind. - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist Herr Dr. Bentmann als stellvertretendes Mitglied in das Gremium gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Haftung der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Bundesrepublik Deutschland für Fehler beim Börsengang der Deutschen Telekom im Jahre 2000 ({2}) ({3}) ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien - Drucksache 17/6071 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/6072 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Innenausschuss Finanzausschuss Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze - Drucksache 17/6073 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden - Drucksache 17/6074 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ ({8}) - Drucksache 17/6075 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden - Drucksache 17/6076 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/6077 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Energiewende gelingt nur mit KWK - Drucksache 17/6084 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rückstellungen der Atomwirtschaft in Ökowandel-Fonds überführen - Sicherheit, Transparenz und ökologischen Nutzen schaffen, statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfallrisiko festzuhalten - Drucksache 17/6119 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Versorgungssicherheit transparent machen Keine Experimente mit atomarer „Kaltreserve“ - Drucksache 17/6109 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 12 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 34 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Graf ({16}), Kerstin Griese, Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern - Drucksache 17/6090 Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({17}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klare Regelungen für Intensivtierhaltung - Drucksache 17/6089 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver- zichten - Drucksache 17/6088 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen - Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern - Drucksache 17/6108 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen - Drucksache 17/6107 ZP 13 Weitere Abschließende Beratungen ohne Aussprache Ergänzung zu TOP 35 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group verhindern - Keine weitere Erosion des nuklearen Nichtverbreitungsregimes - Drucksachen 17/5374, 17/6139 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Dr. Bijan Djir-Sarai Kerstin Müller ({21}) ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die Bundesregierung ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unterstützung für Opfer der Heimerziehung Angemessene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen - Drucksache 17/6093 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({22}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 16 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Belarus nach den Wahlen - Repressionen beenden - Drucksache 17/6174 ZP 17 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen Stabilität der Euro-Zone ZP 18 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung - Drucksache 17/6132 ZP 19 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kritik am Krisenmanagement des Bundesgesundheitsministers und der Bundesministerin für Verbraucherschutz beim Umgang mit dem Ehec-Erreger Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 16, 28, 34 o sowie 35 c und d werden abgesetzt. Darüber hinaus gibt es zwei Änderungen im Ablauf: Der Tagesordnungspunkt 23 wird bereits nach Tagesordnungspunkt 15 aufgerufen und der Tagesordnungspunkt 27 nach Tagesordnungspunkt 22. Schließlich mache ich noch auf eine Reihe von nachträglichen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Präsident Dr. Norbert Lammert Der am 16. Dezember 2010 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern - Drucksache 17/4030 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({24}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss ({25}) zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung reformieren - Drucksache 17/5056 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({26}) Sportausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss ({27}) zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kein Personalabbau bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an ökologischer Flusspolitik ausrichten - Drucksache 17/5548 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({28}) Sportausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offen- sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und b, Zu- satzpunkte 2 bis 8, Tagesordnungspunkte 3 c und d so- wie die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf: 3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin Der Weg zur Energie der Zukunft b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Drucksache 17/6070 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({29}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien - Drucksache 17/6071 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({30}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/6072 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({31}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze - Drucksache 17/6073 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({32}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden - Drucksache 17/6074 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({33}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ ({34}) - Drucksache 17/6075 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({35}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden - Drucksache 17/6076 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({36}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/6077 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({37}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss 3 c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes ({38}) - Drucksache 17/5931 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Atomausstieg bis 2014 - Für eine erneuerbare und demokratische Energieversorgung - Drucksache 17/6092 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({39}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({40}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Energiewende gelingt nur mit KWK - Drucksache 17/6084 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({41}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rückstellungen der Atomwirtschaft in Ökowandel-Fonds überführen - Sicherheit, Transparenz und ökologischen Nutzen schaffen, statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfallrisiko festzuhalten - Drucksache 17/6119 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({42}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Versorgungssicherheit transparent machen Keine Experimente mit atomarer „Kaltreserve“ - Drucksache 17/6109 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({43}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Präsident Dr. Norbert Lammert Frau Bundeskanzlerin, bevor ich Ihnen das Wort erteile, möchte ich Ihnen persönlich, aber auch im Namen des ganzen Hauses herzlich zur Verleihung der Freiheitsmedaille durch den amerikanischen Präsidenten gratulieren. ({44}) Wir freuen uns über die hohe Wertschätzung, die mit dieser Auszeichnung für die Person, für Ihr Amt, aber sicher auch für unser Land zum Ausdruck kommt. Sie haben das Wort. Bitte schön. ({45})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 90 Tagen wurde der Nordosten Japans vom schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes heimgesucht. Anschließend traf eine bis zu 10 Meter hohe Flutwelle seine Ostküste. Danach fiel in einem Reaktor des Kernkraftwerkes Fukushima I die Kühlung aus. Die japanische Regierung rief den atomaren Notstand aus. Heute, 90 Tage nach jenem furchtbaren 11. März, wissen wir: In drei Reaktorblöcken des Kernkraftwerkes sind die Kerne geschmolzen. Noch immer steigt radioaktiver Dampf in die Atmosphäre. Die weiträumige Evakuierungszone wird noch lange bestehen bleiben, und an ein Ende der Schreckensmeldungen ist noch nicht zu denken. Erst letzte Woche herrschte in Block 1 die bisher höchste Strahlenbelastung. Die Internationale Atomenergie-Organisation bewertet die Situation in Fukushima als weiterhin sehr ernst. Meine Damen und Herren, wir werden heute weitreichende Vorhaben für eine neue Architektur der Energieversorgung in Deutschland beraten. Aber bevor wir das tun, wünsche ich mir, dass wir zuerst an die Menschen in Japan denken. Wir trauern um die Opfer, wir fühlen mit denen, die ihre Lieben, ihr Hab und Gut, ihr Zuhause unwiederbringlich verloren haben. Ich habe beim G-8-Gipfel vor wenigen Tagen in Deauville meinem japanischen Amtskollegen gesagt: Deutschland steht weiter an der Seite Japans. ({0}) Ohne Zweifel, die dramatischen Ereignisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt. Sie waren ein Einschnitt auch für mich ganz persönlich. Wer auch nur einmal die Schilderungen an sich heran lässt, wie in Fukushima verzweifelt versucht wurde, mit Meerwasser die Reaktoren zu kühlen, um inmitten des Schreckens noch Schrecklicheres zu verhindern, der erkennt: In Fukushima haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können. Wer das erkennt, muss die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wer das erkennt, muss eine neue Bewertung vornehmen. Deshalb sage ich für mich: Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen; denn das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen. Das Restrisiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert, weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Jetzt ist es eingetreten. Genau darum geht es also - nicht darum, ob es in Deutschland jemals ein genauso verheerendes Erdbeben, einen solch katastrophalen Tsunami wie in Japan geben wird. Jeder weiß, dass das genau so nicht passieren wird. Nein, nach Fukushima geht es um etwas anderes. Es geht um die Verlässlichkeit von Risikoannahmen und um die Verlässlichkeit von Wahrscheinlichkeitsanalysen. ({1}) Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also sichere Energieversorgung in Deutschland. Deshalb füge ich heute ausdrücklich hinzu: Sosehr ich mich im Herbst letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die Reaktor-Sicherheitskommission beauftragt, in den vergangenen drei Monaten alle deutschen Kernkraftwerke einer umfassenden Sicherheitsprüfung zu unterziehen. Darüber hinaus hat die Bundesregierung eine EthikKommission zur sicheren Energieversorgung ins Leben gerufen. Beide Kommissionen haben inzwischen die Ergebnisse ihrer Arbeit vorgelegt, und beiden Kommissionen gilt für ihre Arbeit mein ausdrücklicher Dank. ({2}) Auf der Grundlage dieser Arbeiten hat die Bundesregierung am Montag acht Gesetzentwürfe und Verordnungen beschlossen. Sie hat damit die notwendigen Entscheidungen für den Betrieb der Kernkraftwerke in Deutschland und die zukünftige Architektur unserer Energieversorgung auf den Weg gebracht. Erstens. Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in Deutschland beendet. ({3}) Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschalteten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden nicht wieder ans Netz gehen. ({4}) Für die Stilllegung der weiteren Kernkraftwerke haben wir einen Stufenplan beschlossen. Danach wird 2015, 2017 und 2019 jeweils ein Kraftwerk vom Netz gehen. Dann folgen bis 2021 drei weitere Kraftwerke. Die drei neuesten Anlagen können noch ein Jahr länger laufen: bis Ende 2022. Reststrommengen bleiben innerhalb der festgelegten Zeiträume auf andere Kernkraftwerke übertragbar. Dies gilt auch für die Strommengen von Krümmel, MülheimKärlich und die der sieben ältesten Kernkraftwerke. Zweitens. Bis Ende dieses Jahres werden wir einen gesetzlichen Vorschlag für die Regelung der Endlagerung vorlegen. Das schließt die ergebnisoffene Weitererkundung Gorlebens ebenso ein wie ein Verfahren zur Ermittlung allgemeiner geologischer Eignungskriterien und möglicher alternativer Entsorgungsoptionen. Drittens. Damit die Versorgungssicherheit, insbesondere die Stabilität der Stromnetze, in der jetzt anstehenden Zeit unmittelbar nach der Stilllegung von acht Kernkraftwerken zu jeder Minute und zu jeder Sekunde gewährleistet ist, müssen wir ausreichend fossile Reservekapazitäten unseres Kraftwerkparks vorhalten. Zusätzlich schaffen wir die Möglichkeit, dass die Bundesnetzagentur, falls sie es für notwendig erachtet, eines der stillgelegten Kernkraftwerke in den beiden Winterhalbjahren bis zum Frühjahr 2013 als Reserve bestimmen kann. Auch hier, meine Damen und Herren, ziehen wir eine Lehre aus Wahrscheinlichkeitsanalysen nach Fukushima, und zwar ein für alle Mal. Wir werden uns - und ich auch ganz persönlich - nicht dafür hergeben, dass wir uns auf etwas stützen, das das Restrisiko beinhaltet, dass es einen sogenannten Blackout in Deutschland geben kann. ({5}) Auch wenn das nach menschlichem Ermessen äußerst unwahrscheinlich ist, dürfen wir dies nicht zulassen, weil wir gerade im Zusammenhang mit Fukushima erlebt haben, dass auch äußerst unwahrscheinliche Ereignisse eintreten können. Deshalb müssen wir hier Vorsorge treffen, wenn die Bundesnetzagentur das für geboten hält. Es ist nach derzeitiger Einschätzung der Bundesnetzagentur notwendig, eine Reserve bis zum Frühjahr 2013 vorzuhalten. Viertens. Zentrale Säule der zukünftigen Energieversorgung sollen die erneuerbaren Energien werden. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Mit dem Energiekonzept vom Herbst 2010 hat die Bundesregierung dazu die Richtung festgelegt ({6}) und ehrgeizige Ziele formuliert. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch soll bis 2050 auf 60 Prozent, ihr Anteil am Stromverbrauch auf 80 Prozent anwachsen. 2020 sollen mindestens 35 Prozent unseres Stroms aus Wind, Sonne, Wasser und anderen regenerativen Energiequellen erzeugt werden. Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent und bis 2050 um mindestens 80 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden. Bis 2050 soll unser Primärenergieverbrauch um 50 Prozent gegenüber 2008 sinken. Das heißt, wir müssen ihn halbieren. Die energetische Gebäudesanierung soll im Vergleich zur bisherigen Rate verdoppelt, der Stromverbrauch bis 2020 um 10 Prozent gesenkt werden. Das sind genau die Ziele unseres Energiekonzepts, das wir im Herbst 2010 beschlossen haben. Dieses Konzept bleibt gültig, genauso wie die Umsetzung dieses Konzepts. Aber erreichen können wir diese Ziele nur durch einen tiefgreifenden Umbau unserer Energieversorgung, durch neue Strukturen und den Einsatz modernster Technologie; denn die Leistungsfähigkeit unserer Industrie in Deutschland ist ein hohes Gut. Sie muss bewahrt, sie muss ausgebaut werden; denn ihr verdanken wir unseren Wohlstand. ({7}) Deshalb steigen wir nicht einfach aus der Kernkraft aus, sondern wir schaffen die Voraussetzungen für die Energieversorgung von morgen. Genau das hat es bislang so in Deutschland nicht gegeben. ({8}) Weil wir wissen: „Wer A sagt, muss auch B sagen“, wissen wir auch, dass das eine, nämlich der Ausstieg, ohne das andere, nämlich den Umstieg, nicht zu haben ist. Das ist es, worum es geht. ({9}) Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Stromnetze in ganz Deutschland zu modernisieren und auszubauen. ({10}) Der erforderliche Leitungsausbau bei den Stromübertragungsnetzen in Deutschland liegt bei weit mehr als 800 Kilometern. Fertiggestellt sind bislang aber nur weniger als 100 Kilometer, weil geplante Stromleitungen noch immer auf Widerstände vor Ort stoßen. Planungsverfahren dauern - das ist eigentlich die Regel - häufig länger als zehn Jahre. Das ist nicht akzeptabel. ({11}) Hier müssen wir eine erhebliche Beschleunigung und gleichzeitig mehr Akzeptanz erreichen. Es kann nicht angehen, auf der einen Seite den Ausstieg aus der Kernenergie gar nicht schnell genug bekommen zu wollen, auf der anderen Seite aber eine Protestaktion nach der anderen gegen den Netzausbau zu starten, ({12}) ohne den der Umstieg in die erneuerbaren Energien aber schlichtweg nicht funktionieren wird. ({13}) Genau dieser Kreislauf - hier dagegen und dort dagegen muss durchbrochen werden. ({14}) Dazu hat die Bundesregierung den Entwurf eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes beschlossen, das unter anderem eine bundeseinheitliche Planung für Höchstspannungsleitungen von überregionaler und europäischer Bedeutung vorsieht. Darüber hinaus enthält das NABEG auch Regelungen zur Sammelanbindung von Offshorewindparks sowie zur Erstellung eines Offshorenetzplans. Dabei wollen wir auch weiterhin eine möglichst frühzeitige und umfassende Bürgerbeteiligung sicherstellen. Auch die von uns beschlossene umfassende Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes enthält Regelungen zum beschleunigten Netzausbau. Weiterhin wird im novellierten Energiewirtschaftsgesetz der Einbau von intelligenten Zählern als Ausgangspunkt kommender intelligenter Netze geregelt. Hinzu kommen zahlreiche Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs auf den Energiemärkten sowie die Förderung von Speichern. Im Rahmen des neuen Energieforschungsprogramms werden wir die Entwicklung und Anwendung neuer Speichertechnologien unterstützen, die wir brauchen, um die fluktuierende Energieversorgung aus erneuerbaren Energien zu verstetigen. Ich sagte es: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Das gilt für den Ausbau der Netze, und das gilt gleichermaßen für die erforderlichen neuen Stromerzeugungskapazitäten, insbesondere bei Wind, Sonne und Biomasse. Leitlinie dabei sind Kosteneffizienz und zunehmende Marktorientierung. ({15}) Diesem Ziel dient die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Die Grundpfeiler der bisher so erfolgreichen Förderung der erneuerbaren Energien bleiben bestehen. Die gesetzliche Vergütung, der Einspeisevorrang und die Verpflichtung zum Netzanschluss haben unverändert Bestand. ({16}) Damit sichern wir die notwendigen Investitionen für den weiteren Ausbau. Schwerpunkt des zukünftigen Ausbaus soll die Windenergie an Land und auf See sein. So werden die Finanzierungsbedingungen für Offshoreanlagen verbessert, und mit der Novellierung des Bauplanungsrechts, etwa mit der erleichterten Flächenausweisung für erneuerbare Energien, leisten wir einen Beitrag zum Ausbau und zu einer schnelleren Modernisierung von Windkraftanlagen an Land. ({17}) Aber - das ist neu -: Wenn die erneuerbaren Energien zukünftig noch schneller einen Großteil der Energieversorgung übernehmen sollen - 35 Prozent sind immerhin mehr als ein Drittel des zukünftigen Stromverbrauchs -, dann müssen wir konsequent auf Kosteneffizienz und Marktintegration achten. Ein Schritt auf diesem Weg ist die Einführung der sogenannten optionalen Marktprämie, die die erneuerbaren Energien an das Marktgeschehen heranführt. Das ist ein qualitativ neuer Zugang, den wir aber brauchen, wenn erneuerbare Energien einen größeren Anteil an der Stromversorgung übernehmen sollen. ({18}) Im Bereich der Photovoltaik und der Biomasse wollen wir bestehende Potenziale für Kostensenkungen ausschöpfen. Darüber hinaus ist die Vereinfachung der Regelungen ein Leitgedanke des Erneuerbare-EnergienGesetzes. Wo immer möglich, sind Sonderregelungen oder spezielle Boni abgeschafft oder vereinfacht worden. Damit wird die Förderpraxis vereinfacht und mehr Transparenz geschaffen. Meine Damen und Herren, unsere Wirtschaft und vor allem die energieintensive Industrie sind in besonderer Weise darauf angewiesen, Strom zuverlässig und zu wettbewerbsfähigen Preisen beziehen zu können. ({19}) Die rund 1 Million Beschäftigten in der energieintensiven Industrie leisten einen zentralen Beitrag für die Wertschöpfung in unserem Land. ({20}) Unsere Devise heißt: Die Unternehmen genauso wie die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland müssen auch in Zukunft mit bezahlbarem Strom versorgt werden. Deshalb wollen wir die erneuerbaren Energien schneller zur Marktreife führen und effizienter gestalten. Die EEG-Umlage soll nicht über ihre heutige Größenordnung hinaus steigen; heute liegt sie bei etwa 3,5 Cent pro Kilowattstunde. ({21}) Langfristig wollen wir die Kosten für die Vergütung des Stroms aus erneuerbaren Energien deutlich senken. Mit Blick auf die stromintensiven Unternehmen wollen wir Zuschüsse zum Ausgleich für emissionshandelsbedingte Strompreiserhöhungen vorsehen. Die Bundesregierung wird sich - das sage ich hier zu - mit aller Kraft in Brüssel dafür einsetzen, dass unsere Unternehmen faire Wettbewerbsbedingungen in Europa erhalten. ({22}) Darüber hinaus wird ab 2012 die Härtefallregelung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ausgeweitet. Meine Damen und Herren, wenn wir schneller aus der Kernenergie aussteigen und in die erneuerbaren Energien einsteigen, dann brauchen wir für die Zeit des Übergangs fossile Kraftwerke. Auch daran führt kein Weg vorbei. Dazu werden wir den Rahmen für hocheffiziente Kohle- und Gaskraftwerke fortentwickeln. Mit dem Entwurf einer Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetzes leisten wir einen Beitrag zur Versorgungssicherheit und Effizienz der Stromerzeugung. In einem ersten Schritt wollen wir die Frist für förderberechtigte KWKAnlagen bis ins Jahr 2020 verlängern und die Voraussetzungen für die Förderung flexibler gestalten. Noch im Laufe dieses Jahres werden wir über weitergehende Schritte entscheiden. Die schnelle Fertigstellung der in Bau befindlichen fossilen Kraftwerke mit einer Leistung von rund 10 Gigawatt bis 2013 ist aus Gründen der Versorgungssicherheit und der Netzstabilität unabdingbar. Mindestens 10, eher 20 weitere Gigawatt müssen in den nächsten zehn Jahren hinzugebaut werden. Durch ein Planungsbeschleunigungsgesetz wollen wir zudem den weiteren zügigen Ausbau von Kraftwerkskapazitäten sicherstellen. Insbesondere mit Blick auf kleine und mittelständische Energieversorger werden wir zudem ein neues Kraftwerksförderprogramm auflegen. Auch dies ist ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit. Aber machen wir uns nichts vor: Alle noch so ehrgeizigen Maßnahmen für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der dafür erforderlichen Netze werden nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, die Energieeffizienz in unserem Land zu steigern. Im Zentrum steht dabei der Gebäudebereich. Auf ihn allein entfallen rund 40 Prozent des deutschen Energieverbrauchs, etwa ein Drittel aller CO2-Emissionen. Genau hier müssen wir ansetzen. Ziel bleibt es - so haben wir es schon im Herbst beschlossen -, bis 2050 einen nahezu klimaneutralen Gebäudebestand zu erreichen. Auch im Bereich der energieeffizienten Geräte und Prozesse wollen wir mehr tun, um den Stromverbrauch schon bis 2020 um 10 Prozent zu senken. Wir werden deshalb die Mittel für das KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf 1,5 Milliarden Euro jährlich aufstocken. Hinzu kommen neue steuerliche Anreize für die Gebäudesanierung, die auf weitere rund 1,5 Milliarden Euro an gezielter Förderung anwachsen werden. ({23}) In einer Novelle der Energieeinsparverordnung wollen wir festlegen, dass Gebäude nach 2020 und öffentliche Gebäude schon nach 2018 nur noch als Niedrigstenergiehäuser errichtet werden sollen. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wird die Energieeffizienz als wichtigstes Kriterium rechtlich verankert. Hierzu haben wir die Vergabeverordnung entsprechend geändert. Zudem wollen wir einen Fahrplan für die energetische Sanierung von öffentlichen Gebäuden des Bundes erarbeiten mit dem Ziel, den Wärmebedarf der Bundesgebäude bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 2010 zu senken. Auf europäischer Ebene werden wir uns für anspruchsvolle Produktstandards im Rahmen eines sogenannten Top-Runner-Ansatzes einsetzen. Energieeffizienz soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa ein neues Markenzeichen werden. Die Finanzierung der Maßnahmen des Energiekonzepts beruht dabei auf einem soliden Fundament. Ab 2012 sollen die Erlöse aus der Versteigerung der Emissionszertifikate unmittelbar in den von uns im vergangenen Herbst eingerichteten Energie- und Klimafonds fließen. Schon ab 2012 werden die Mittel des Fonds verstärkt. Meine Damen und Herren, diese vier Punkte - erstens die Novelle des Atomgesetzes, zweitens die Arbeit für ein Entsorgungskonzept, drittens die Versorgungssicherheit bis 2013, viertens das Energiekonzept der Zukunft zeigen schon die Größe der Aufgabe, die vor uns steht. Ich sage ganz deutlich: Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe - ohne Wenn und Aber. Alle, die zweifeln, wie wir als großes Industrieland in zehn Jahren ohne Kernenergie auskommen wollen, ohne gleichzeitig die Klimaschutzziele zu riskieren, ohne Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie zu gefährden, ohne das Steigen der Strompreise in das sozial nicht mehr Erträgliche in Kauf zu nehmen, ohne gefährliche Stromausfälle zu provozieren, ohne dass andere Länder um uns herum denselben Weg einschlagen, alle, die solche Fragen stellen, sind keine Ideologen, keine Ewiggestrigen, keine Spinner, denn sie stellen wichtige Fragen. ({24}) Sie sind anzuhören, sie sind ernst zu nehmen, und wir haben Antworten darauf zu finden. ({25}) Es ist ja wahr: Es scheint einer Quadratur des Kreises nahezukommen, all das schaffen zu wollen, was wir uns vorgenommen haben. Deshalb ist ein fünfter Punkt zwingend und unerlässlich: die Einrichtung eines lückenlosen Monitoringprozesses. Nur so können wir prüfen, ob wir unsere Ziele auf dem Weg zur Energie der Zukunft tatsächlich erreichen oder was wir zusätzlich tun müssen, wenn wir sie zu verfehlen drohen. Dabei geht es nicht um den schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie - der steht fest -; nein, es geht um die regelmäßige Überprüfung der Umsetzung des Maßnahmenprogramms, auf die ein Land wie Deutschland in seinem eigenen Interesse nicht verzichten darf. Dieses Monitoring muss im Sinne eines richtigen Projektmanagements durchgeführt werden. ({26}) Deshalb wird die Bundesregierung diese Überprüfung jährlich vornehmen und dem Deutschen Bundestag das Ergebnis zur Debatte vorlegen. Sie wird auf der Grundlage von Berichten von Institutionen wie dem Statistischen Bundesamt, der Bundesnetzagentur oder des Umweltbundesamtes erfolgen. Über die Ergebnisse wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrichten, und gegebenenfalls wird sie Empfehlungen zum weiteren Vorgehen aussprechen. Meine Damen und Herren, wenn wir den Weg zur Energie der Zukunft so einschlagen, dann werden die Chancen viel größer sein als die Risiken. Welches Land, wenn nicht unser Land, sollte dazu die Kraft haben? Deutschland hat schon so manches Mal gezeigt, was es kann, was in ihm steckt, und hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt: die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, weltweit in dieser Form einmalig; die Vollendung der deutschen Einheit, historisch ohne Vorbild; aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise stärker herausgekommen, als wir in sie hineingegangen sind, und - ja, auch das - besser als die meisten anderen. ({27}) Deshalb sind wir überzeugt: Deutschland hat das Potenzial und die Kraft für eine neue Architektur unserer Energieversorgung. Die Energie der Zukunft soll sicherer sein und zugleich verlässlich, wirtschaftlich und bezahlbar. Wir können als erstes Industrieland der Welt die Wende zum Zukunftsstrom schaffen. Wir sind das Land, das für neue Technik, Pioniergeist und höchste Ingenieurkunst steht. Wir sind das Land der Ideen, das Zukunftsvisionen mit Ernsthaftigkeit, Genauigkeit und Verantwortung für zukünftige Generationen Wirklichkeit werden lässt. ({28}) Wir alle, Regierung und Opposition, Bund, Länder und Kommunen, die Gesellschaft als Ganzes, jeder Einzelne, wir alle gemeinsam können, wenn wir es richtig anpacken, bei diesem Zukunftsprojekt ethische Verantwortung mit wirtschaftlichem Erfolg verbinden. ({29}) Dies ist unsere gemeinsame Verantwortung. Für dieses gemeinsame Projekt werbe ich mit aller Kraft und mit aller Überzeugung. Herzlichen Dank. ({30})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ich würde niemandem, den die Realität zu neuen Einsichten zwingt, einen Vorwurf machen. Was ich Ihnen vorwerfe, ist das falsche Pathos, auch die Unaufrichtigkeit, mit der Sie hier auftreten. ({0}) Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet Sie sich hier als die Erfinderin der Energiewende in Deutschland hinstellen. Das zieht einem doch die Schuhe aus. ({1}) Nur damit es hier in diesem Hohen Hause noch einmal gesagt ist: Der Atomausstieg stand im Gesetz. Die Energiewende war eingeleitet, gegen Ihren Widerstand. Und sie fand statt: täglich, seit zehn Jahren. Meine Damen und Herren, so war das. ({2}) Ich erinnere mich noch genau an die Debatte, die wir in ähnlicher Aufregung in diesem Haus vor einem halben Jahr, im September und Oktober vergangenen Jahres, geführt haben. Auch damals - das ist ja noch gar nicht lange her - war Ihnen kein Wort zu groß. Auch damals wurde nicht mit Pathos gespart. Sie, Frau Merkel - ich darf das einmal zitieren -, haben von einer „Revolution im Bereich der Energieversorgung“ gesprochen, die bis zum Jahr 2050 trägt. ({3}) Herr Röttgen hat das Ganze als „weltweit unübertroffen“ bezeichnet. ({4}) Herr Westerwelle hat diesem Beschluss „epochale Bedeutung“ für den Klimaschutz beigemessen. ({5}) Meine Damen und Herren, so schnell können Epochen vorbeigehen. Aber das spürt Schwarz-Gelb ja nicht nur in der Energiepolitik. ({6}) Frau Bundeskanzlerin, ganz ehrlich: Bei Ihrem Auftritt hier heute Morgen hätte ich mir von Ihnen ein Wort des Bedauerns gewünscht, ({7}) statt Wortgirlanden über die Lehren aus Fukushima, die eben zu spät gezogen worden sind. Plötzlich ist alles anders bei Ihnen; wir wundern uns. Jetzt wird das KonradAdenauer-Haus außen und innen grün angestrichen. ({8}) Horst Seehofer macht auf Baldur Springmann der Grünen. Er zahlt die Mitgliedsbeiträge für die letzten Jahrzehnte und tut so, als sei er Gründungsmitglied gewesen. ({9}) Bei alldem hoffen Sie tatsächlich darauf, dass Sie in der Zukunft in Bezug auf die Sicherheitspolitik ernst genommen werden. Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass auch Sie jetzt für den Atomausstieg sind, und noch weniger, dass Sie nach zwei Kehrtwenden um 180 Grad und nach den Pirouetten in der letzten Woche nun genau dort angekommen sind, wo Rot-Grün die Dinge schon gestaltet. ({10}) Das werde ich Ihnen nicht vorwerfen. Aber vor allen Dingen werde ich eines nicht vergessen - das sage ich mit großem Ernst -: mit welchen Hetzreden Sie uns vor zehn Jahren durch die Landschaft getrieben haben. ({11}) Landauf, landab konnten Sie sich vor zehn Jahren gar nicht einkriegen vor Spott, Häme und angeblicher Empörung über die Politik, die wir damals eingeleitet haben. „Totengräber der Wirtschaft“ haben Sie uns überall im Land nachgerufen. ({12}) Und jetzt klatscht sogar Herr Fuchs bei der Regierungserklärung von Frau Merkel, auch wenn es ihm schwerfällt. ({13}) Die Atomkatastrophe in Tschernobyl - auch daran darf ich erinnern - wurde damals nicht etwa als gefährlicher Reaktorunfall angesehen, der uns zum Umdenken zwingt, sondern als Betriebsunfall eines verlotterten Sowjetkommunismus. Ihre Haltung damals war: Wir machen einfach weiter, als wäre nichts geschehen, an allen Mehrheiten und Sicherheitsbedenken vorbei. Das war ein Jahrzehnt lang die Hybris Ihrer Energiepolitik. Sie waren schlicht und einfach auf dem falschen Dampfer. Dicker und länger konnte der Holzweg gar nicht sein, den Sie sich da selbst zurechtgezimmert haben. ({14}) Jetzt müssen Sie herunter von diesem Holzweg. Jetzt müssen Sie alles korrigieren. Das ist gut so. Aber hören Sie doch bitte auf, uns das Ausräumen Ihrer Positionen aus der Vergangenheit als nationale Gestaltungsaufgabe zu erklären! Die Gesellschaft war immer schon weiter als Sie. ({15}) Was Sie dem Bundestag vorlegen, ist eben nicht ein Gesetz zur Energiewende, sondern es ist Ihr Irrtumsbereinigungsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg bringen müssen. ({16}) Was das letzte halbe Jahr und die doppelte Kehrtwende in der Energiepolitik hinterlassen, ist noch nicht abzusehen. Ich rede nicht nur von den Irritationen in der Wirtschaft, ausgelöst durch Ihr „Rein in die Kartoffeln“ mit der Verlängerung der Laufzeiten und „Raus aus den Kartoffeln“ mit der Rückkehr zu den Beschlüssen von Rot-Grün. Was das an Verunsicherung hinterlässt, kann im Moment noch niemand ermessen. Ich sage nur: So viel Unsicherheit gab es noch nie. Aber vielleicht einmal ein anderer Gedanke: Was bedeutet es eigentlich für die politische Kultur in diesem Lande, wenn Sie heute mit derselben Euphorie und Überzeugungskraft genau das Gegenteil von dem vertreten, was Sie vor einem halben Jahr gesagt haben? Das muss doch den einen oder anderen nachdenklich machen. ({17}) Nun wäre angesichts dessen für die Opposition nichts einfacher, als die vorliegenden Gesetzentwürfe abzulehnen. Nichts wäre leichter für eine Opposition, als zuzuschauen, wie Sie, Frau Merkel, Irritation in den eigenen Reihen säen und den Koalitionspartner ein ums andere Mal düpieren. Ob man sich das alles gefallen lassen muss, Herr Rösler, ist eine andere Frage; das müssen Sie entscheiden. ({18}) Ginge es um Unterstützung dieser Regierung, dann würde ich in jedem Fall zu jedem einzelnen Gesetz Nein sagen. Aber es geht eben nicht um diese Regierung, es geht um mehr. Es geht um die Wiederherstellung von Vertrauen - auch in der Energiepolitik. Es geht um die Wiederherstellung eines energiepolitischen Grundkonsenses, den diese Regierung in der Vergangenheit ohne jede Not zerstört hat. ({19}) Wenn Sie jetzt nach Ihrer energiepolitischen Irrfahrt an den Ausgangspunkt zurückkehren, muss etwas zustande kommen, was länger hält als nur sechs Monate. Wir können in diesem Land, in der größten Volkswirtschaft Europas, nicht eine Energiepolitik aufsetzen, die wir alle sechs Monate oder alle zwei Jahre oder nach je12966 der Bundestagswahl korrigieren. Das geht nicht, das kann sich keine Regierung erlauben. ({20}) Und weil das so ist, sage ich: Erstens. Wenn Sie glaubwürdig, rechtlich und tatsächlich unumkehrbar auf den Atomausstieg zugehen, wenn Sie diesen phasenweise gestalten, so wie wir das in unserem Modell auch vorgesehen hatten, dann werde ich jedenfalls nicht aus taktischen Gründen krampfhaft nach Gründen suchen, um meiner Partei die Ablehnung des Atomausstieges zu empfehlen. Das kann ich Ihnen sagen. Zweitens. Das Gesetzespaket besteht nicht nur aus dem Atomgesetz. Wir werden uns die 700 Seiten, die Sie uns übermittelt haben, natürlich sehr genau angucken. Ich kann auch verstehen, dass Sie die Unterstützung durch die Breite des Hohen Hauses suchen. Aber nach einem Blick in Ihr Gesetzespaket kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Wenn Sie durch die Gestaltung des Gesetzes die wirklichen Potenziale der erneuerbaren Energien, des Repowering, der Onshoreanlagen, nicht schöpfen und nicht schöpfen wollen, können wir doch nicht zustimmen! Das ist die falsche Richtung! ({21}) Mit anderen Worten: Da müssen Sie sich in den nächsten Tagen entscheidend bewegen. Die Beratungen in den Ausschüssen stehen dafür zur Verfügung. Das Dritte ist: Glaubwürdig werden Sie - jenseits von Abstimmungen hier im Deutschen Bundestag - am Ende doch nur dann sein, wenn Sie bei einer entscheidenden Frage bezüglich der Zukunft der Kernenergie in diesem Land ebenfalls glaubwürdig sind. Es geht nicht nur um einen phasenweisen Atomausstieg, nicht nur um eine Fixierung des Enddatums - Sie müssen sich auch endlich entschließen, in der Endlagerfrage Ihre Position zu wechseln. Wir brauchen eine ergebnisoffene Endlagersuche. ({22}) Mit einem haben Sie recht: Der Umbau der Energielandschaft, der uns da bevorsteht, ist gewaltig. Und in den nächsten Jahren wird es nicht nur einen Umbau der Energielandschaft, sondern einen Umbau der gesamten Wirtschaft geben. Ich habe gestern beim ZVEI geredet. Die Elektroindustrie ist natürlich begeistert darüber, was in den nächsten Jahren stattfindet. Darin stecken viele Potenziale. Hier bieten sich Chancen. Ich schaue auch auf die energieintensiven Betriebe. Ich schaue auf die Werthaltigkeit der deutschen Volkswirtschaft. Die Werthaltigkeit der deutschen Volkswirtschaft ergibt sich aus der ununterbrochenen Innovationskette, beginnend bei den Grundstoffindustrien, die in der Regel energieintensiv sind, bis hin zu der kleinen Hightechschmiede. Wenn wir jetzt einen solch gewaltigen Umbau auf den Weg bringen, dürfen wir die ersten Kettenglieder nicht vergessen oder gar aus dem Lande treiben. Das ist auch für diejenigen wichtig, die einen Umbau der Energielandschaft wollen. ({23}) Deshalb darf es nicht nur ein Monitoring des Umbauprozesses geben, sondern es muss auch ein Monitoring innerhalb der Wirtschaftsprozesse geben, wie der Umbau der Energielandschaft auf diesen Teil der Wirtschaft wirkt, der besonders wertvoll und im Hinblick auf den internationalen Wettbewerb besonders gefährdet ist. Es gibt da Vorschläge, Frau Merkel. Da reicht es nicht aus, bestehende Regelungen wie etwa die Ausnahmen bei der Ökosteuer zu festigen und dass Sie sich in Brüssel dafür einsetzen wollen, dass die Sonderbedingungen beim europäischen Emissionshandel weiter gelten. Vielmehr müssen Sie da ein bisschen kreativer werden. Es gibt dazu Vorschläge, und wir werden die hier im Deutschen Bundestag auch einbringen. Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat zum Abschluss ihrer Rede gesagt, dass es sich beim Ausstieg und Umstieg „um eine Herkulesaufgabe“ handele. Wem sagen Sie das! Wir haben uns dieser Herkulesaufgabe beginnend vor zehn Jahren mit einer Aufrichtigkeit und Offenheit gewidmet, ({24}) indem wir nicht geleugnet haben, was auf die Wirtschaft und die Menschen zukommt, sondern vor zehn Jahren gesagt haben: „Der Umbau der Energielandschaft wird stattfinden; die Zukunft wird ohne Atom sein; der Umbauprozess wird mehr als 20 Jahre dauern.“ Sie haben sich nicht entschließen können, diese Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern zu wahren. Das ist der Unterschied. ({25}) Ich schließe mit einem Zitat aus einer Rede, die hier im Hohen Hause gehalten wurde: Es ist … ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik, insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bundesrepublik … von Grund auf neu zu überdenken. … Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantworten. Das ist ein Zitat aus der Rede von Hans-Jochen Vogel vom 14. Mai 1986, drei Wochen nach der Katastrophe von Tschernobyl. Meine Damen und Herren, es hat 25 Jahre, genau ein Vierteljahrhundert, gedauert, bis die heutige Regierung und die Regierungsparteien an diesem Punkt angekommen sind. Das ist eine bemerkenswerte Lernkurve, Frau Merkel. Dazu gratuliere ich. ({26})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Bundeswirtschaftsminister Dr. Philipp Rösler. ({0})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Zu einer guten Energiepolitik gehören immer drei Dinge: Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der Energie. Insofern stelle ich hier fest: Das vorliegende Energiekonzept findet hinsichtlich dieser drei wesentlichen Säulen genau die richtige Balance; ({0}) es ist ein gutes, vernünftiges Energiekonzept für Deutschland. ({1}) Die Frage der Umweltverträglichkeit war in der Tat die Begründung für die nun anstehenden wesentlichen Entscheidungen. Denn anders als die bisherigen Katastrophen - Sie haben Tschernobyl angesprochen - war die Katastrophe von Fukushima die erste, die nicht auf menschliches Versagen, sondern auf technisches Versagen zurückzuführen ist. ({2}) Es wäre verantwortungslos gewesen, wenn eine Regierung darauf nicht reagiert hätte. Insofern ist es richtig, gemeinsam in einem gesellschaftlichen Konsens, mit der Ethik-Kommission und allen beteiligten gesellschaftlichen Gruppen, den Beschluss zu fassen, nach 2022 auf die Kernenergie zu verzichten. ({3}) Wenn aber hier im Hause jemand unaufrichtig ist, dann sind es doch die Kollegen von Rot und Grün. ({4}) Denn Sie haben bei Ihrem Ausstiegsbeschluss einfach nur Ihre Ideologie befriedigt. ({5}) Sie sind den Menschen die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie die Energieversorgung in Deutschland nach dem beschlossenen Ausstieg tatsächlich gesichert werden soll. ({6}) Deswegen ist es richtig, dass diese Regierungskoalition auf das wichtige Thema Versorgungssicherheit setzt. In der Tat: Wir steigen deutlich schneller aus, als Sie es jemals geplant haben. Sieben Kraftwerke sind vom Netz gegangen. ({7}) Aber man darf die Versorgungssicherheit im Sinne von Netzstabilität niemals außer Acht lassen. Deswegen ist es natürlich klug, insbesondere bei Berücksichtigung schwieriger Witterungsbedingungen, ein Reservekraftwerk vorzuhalten. ({8}) Denn eines können wir uns in Deutschland nicht leisten: einen Blackout. Das wäre volkswirtschaftlich aus unserer Sicht nicht zu verantworten. Sie wären leichtfertig bereit, dieses Risiko einzugehen. Mit uns ist so etwas nicht zu machen. ({9}) - Zu Ihnen komme ich noch, Herr Trittin. Zum Thema Versorgungssicherheit gehört auch die Beantwortung der Frage, wie wir möglichst schnell zu neuen Kraftwerken kommen. Deswegen brauchen wir ({10}) andere Gesetze, um die Planung und den Bau von Kraftwerken und Netzen insgesamt zu beschleunigen; ({11}) denn das einzig Limitierende beim Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien ist der Ausbau unserer Netze. ({12}) Deswegen ist es klug, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, mit dem erstmals die Planung von den Ländern auf den Bund übertragen wird. So machen wir Schluss mit dem Flickenteppich und kommen dazu, unsere Netze bundeseinheitlich neu zu planen, ähnlich wie das beim Bundesverkehrswegeplan der Fall ist. Wir haben das ehrgeizige Ziel, die Planung und den Bau von Netzen deutlich zu beschleunigen. Bisher haben wir dafür teilweise über zehn Jahre gebraucht; das wollen wir auf vier Jahre reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges, aber richtiges Ziel, wenn es darum geht, die erneuerbaren Energien besser nutzen zu können. ({13}) Es geht auch um den Neubau von Kraftwerken. Ich sage das ganz bewusst: Es geht auch um den Neubau von konventionellen Kraftwerken. Auch hier müssen wir schneller werden. Ich finde es geradezu absurd, dass es beispielsweise nicht möglich ist, an derselben Stelle, an der in Stade ein Kernkraftwerk vorhanden war, das nun zurückgebaut wurde, ein konventionelles Kraftwerk zu bauen. Wir müssen gerade solche Standorte nutzen, weil dort die Infrastruktur vorhanden ist. Deswegen brauchen wir zusätzlich zum Netzausbau auch ein Planungsbeschleunigungsgesetz in Deutschland. ({14}) Wir gehen fest davon aus, dass die Grünen künftig bei jeder Demonstration an unserer Seite stehen werden und jedem Gegner von neuen Kraftwerken und neuen Trassen zurufen werden: Wer Nein sagt zur Kernenergie, muss Ja sagen zum Netzausbau und zum Kraftwerksneubau. Ich bin sehr gespannt, ob Sie am Ende den Mut dazu aufbringen werden. ({15}) Auch die Frage der Bezahlbarkeit ist wichtig. Es ist richtig, dass wir in das Erneuerbare-Energien-Gesetz erstmalig Marktmechanismen einbringen; ({16}) denn wir wollen, dass die bisherige EEG-Umlage bei 3,5 Cent pro Kilowattstunde stabil bleibt und durch die Marktprämie vielleicht erstmalig die Chance gegeben wird, Spielräume für Senkungen zu schaffen. ({17}) - Herr Kelber, es kann nicht sein, dass wir eine Energiewende haben, aber Sie sich nicht trauen, den Menschen zu sagen: Jawohl, wer eine solche Energiewende will, der muss auch bereit sein, mit moderaten Kostensteigerungen umzugehen. Diese Ehrlichkeit haben wir. Sie scheinen sie nicht zu haben. ({18}) Es ist richtig, dass wir alles versuchen, um die Belastungen für die Menschen und gleichzeitig für die Wirtschaft und gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen in unserem Land moderat zu halten. Deswegen ist es gut, dass wir erstmalig die Fördermöglichkeiten bzw. die Entlastungen umstellen. Künftig können auch kleinere Unternehmen von der EEG-Umlagebefreiung profitieren und nicht mehr nur die großen. Das fördert Handwerk, Mittelstand und Gewerbe. Es ist klug, dabei auf bürokratische Verfahren wie verpflichtend vorgeschriebene Energiemanagementsysteme, zu verzichten. Wir wollen einen automatischen Ausgleich zur Stärkung der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland. ({19}) Deswegen ist es richtig, energieintensive Unternehmen durch Strompreissenkungen zu entlasten, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen zu können. Darum setzen wir uns gemeinsam auf europäischer Ebene für diese Unternehmen ein. Wir dürfen - das ist entscheidend - nicht glauben, dass sich aus der Umstellung der Energiepolitik allein durch Strompreissenkungen neue Chancen ergeben. Es eröffnen sich vielmehr auch völlig neue Chancen bei dem wichtigen Thema Effizienz und bei der Herstellung neuer Produkte. Deutschland wird künftig federführend sein und voranschreiten, wenn es darum geht, energieeffiziente Produkte auf den Markt zu bringen. Ich sage Ihnen voraus: Eines Tages werden auch andere Staaten - in Europa und weltweit - auf die Idee kommen, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Kernenergie auszusteigen. Diese Staaten werden nach wie vor Produkte, Instrumente und Ideen für die Nutzung erneuerbarer Energien benötigen. Genau an dieser Stelle wird Deutschland dann federführend sein. Das bedeutet für unsere deutsche Wirtschaft kein Risiko, sondern eine Chance. ({20}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie haben damit die Chance, den Fehler, den Sie Anfang 2000 gemacht haben, endlich zu korrigieren. ({21}) Sie können endlich dafür sorgen, zu zeigen, dass Sie nicht nur aussteigen wollen, sondern auch die Frage beantworten können, wie Sie in die erneuerbaren Energien einsteigen wollen. ({22}) Das gilt insbesondere für die Grünen. Ich habe mich gewundert, Herr Steinmeier, dass Sie so betont haben, Sie hätten eine Antwort auf die Frage der Endlagerung gefunden. Da bin ich jetzt wirklich überrascht. Das einzige, was Sie in Ihrer Zeit gemacht haben, war doch, ein Moratorium festzulegen. Sie haben sich gerade nicht um die Endlagerung gekümmert. Das war zum Schaden der nachfolgenden Generationen. ({23}) Die vorliegenden Gesetze bieten auch Ihnen eine Chance, Ihre Fehler zu korrigieren. Sie können gerne dabei mitmachen. ({24}) Oder haben Sie etwa Angst, weil vielleicht wieder ein bisschen die kleine, traurige Dagegen-Partei durchschimmert? Wir jedenfalls reichen Ihnen auch zu dieser Energiepolitik die Hand. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere sehr, Herr Präsident, dass Sie nicht das Recht haben, den Bundestag zu fragen, wer eigentlich die 700 Seiten, die uns Anfang der Woche erreicht haben, schon gelesen hat, und eine ehrliche Antwort darauf zu verlangen. Ich sage Ihnen: Diese Art von Tempo zerstört die parlamentarische Demokratie. ({0}) Keiner glaubt, dass die Abgeordneten diese 700 Seiten vor der Debatte gelesen haben. Herr Rösler, ich habe Ihrer Rede zugehört. Manchmal imponiert mir Dreistigkeit. Ich finde aber, Sie haben die Grenze überschritten. ({1}) Heute geht es darum, dass Sie und nicht andere Ihre Fehler korrigieren. Das hätten Sie wenigstens einmal deutlich sagen müssen. ({2}) Immerhin scheinen wir heute fast ein Wunder zu erleben. Binnen eines halben Jahres wurden aus den Atomparteien Union und FDP Atomausstiegsparteien, zumindest halbe. Die Reaktion auf die Atomkatastrophe in Fukushima ist eindeutig: Atomtechnologie und deren Risiken sind letztlich nicht beherrschbar; also müssen wir aussteigen, und zwar so schnell wie möglich. ({3}) Warum - das ist doch eine spannende Frage - gelingt das zuerst in Deutschland und nicht in Frankreich oder Polen? Ich kann Ihnen sagen, warum: Weil es in Deutschland eine ungeheuer starke Antiatombewegung gibt, die jetzt einen Erfolg feiert, für den sie jahrzehntelang gekämpft hat. ({4}) Das muss einmal klar gesagt werden. Ich sagte es schon: Die Bundesregierung will die Energiewende, aber halbherzig. Zunächst geht es doch um nichts anderes als um die Rücknahme der im Dezember letzten Jahres beschlossenen Verlängerung. Das heißt, Sie korrigieren sich. Im Kern gehen Sie auf das zurück, was SPD und Grüne mit der Atomlobby schon ausgehandelt und wir schon immer als halbherzig bezeichnet hatten. Das heißt, das, was Sie jetzt vorlegen, ist eine Korrektur der von Ihnen beschlossenen falschen Gesetze. Das könnten Sie doch einfach einmal klar sagen. ({5}) Ich verstehe es nicht: Warum wollen Sie den Atomausstieg erst Ende 2022? Das sind elf weitere Jahre Fukushima-Risiko; das können wir uns überhaupt nicht leisten. Die Bundesregierung behauptet, ein früherer Atomausstieg sei nicht möglich. Frau Bundeskanzlerin, die Fachleute sagen etwas anderes: Der BUND sagt 2013. Professor Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung, sagt 2014. Greenpeace sagt 2015. Das Öko-Institut Freiburg sagt 2015. Selbst das Umweltbundesamt, eine Behörde des Bundesumweltministeriums, spricht von 2017. Der Branchenverband der Energiewirtschaft sagt 2020. Sie kommen auf 2022. Ich sage Ihnen: Dahinter steckt nichts anderes als der Wunsch, den vier Konzernen Eon, EnBW, RWE und Vattenfall noch elf Jahre lang hohe Profite mit dem Atomstrom zu ermöglichen. Nichts anderes steckt dahinter! ({6}) Wir haben uns mit den Fachleuten beraten und sind auf das Jahr 2014 gekommen. Bei einem Atomausstieg im Jahr 2014 müsste kein einziger Haushalt, kein einziges Unternehmen ohne Licht leben. Das ist realisierbar. ({7}) Nun signalisiert die SPD der Bundesregierung Zustimmung zu den Gesetzentwürfen; das hat auch Herr Steinmeier gesagt. Die Spitze der Grünen liebäugelt mit der Zustimmung. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Wenn es wahr ist, dass die jetzige Regierungskoalition - zumindest im Kern - zu dem zurückkehrt, was Sie im Jahre 2000 verabschiedet haben, und Sie dem jetzt zustimmen wollen, dann sagen Sie damit, dass sich an Ihrem Kompromiss aus dem Jahre 2000 nach Fukushima nichts hätte ändern müssen. Das geht nicht. ({8}) Auch Sie müssen Konsequenzen aus Fukushima ziehen. Deshalb brauchen wir zweifellos weiter gehende Rege12970 lungen. Die Antiatombewegung sieht das übrigens ganz genauso. Die vielen Fotos von Herrn Gabriel und von Herrn Trittin bei den Demos der Antiatombewegung tragen angesichts ihrer Haltung jetzt nicht zu ihrer Glaubwürdigkeit bei. ({9}) Es geht wieder einmal um das Verhältnis zur Atomlobby, um eine Machtfrage. Das ist der zweite Punkt; dieser ist spannend. Sie alle sagen jetzt: Wir wollen den Ausstieg aus der Atomenergie unumkehrbar und für immer. Frau Bundeskanzlerin, wenn wir das wirklich wollen - dass Sie mir zustimmen, nehme ich dankend zur Kenntnis -, dann habe ich eine Frage: Warum verankern wir - dies haben wir im April 2011 beantragt - das Verbot der Nutzung der Atomenergie und das Verbot von Atomwaffen nicht im Grundgesetz? ({10}) Wir sind doch hier eine klare Mehrheit. Alle Fraktionen wollen das. Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, Sie wollen, dass die Unumkehrbarkeit im Gesetz steht. Ich muss Ihnen sagen: Das ist wirklich albern; denn ein Gesetz kann durch jede Mehrheit im Bundestag aufgehoben werden und damit auch dessen Unumkehrbarkeit. ({11}) Herr Steinmeier, das ist so, als ob Sie ins Gesetz schreiben: Dieses Gesetz gilt. Das stimmt, aber das brauchen Sie nicht ins Gesetz zu schreiben. Unumkehrbar wird es nur durch eine Verankerung im Grundgesetz; denn dann müsste es, um zur Atomenergie zurückzukehren, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat geben. Diese wird sich niemals finden. Deshalb wäre es dann unumkehrbar. ({12}) Nun hat Bundesumweltminister Röttgen gesagt - Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken -, dass er die Aufnahme in das Grundgesetz nicht möchte, und zwar deshalb nicht, weil künftige Mehrheiten dann gebunden wären. Ja, ich möchte künftige Mehrheiten gerne binden. Wir müssen der Bevölkerung sagen, dass das Gesetz nicht mehr leicht zu ändern ist, sondern dass dies höchst kompliziert wäre und dass es dafür keine Mehrheiten mehr geben wird. Das scheint mir das Entscheidende zu sein. ({13}) Wenn Sie dazu Nein sagen, dann heißt das: Die Regierungskoalition will einen Atomausstieg mit Rückfahrkarte. Das ist nicht hinnehmbar. ({14}) Kommen wir zum dritten Punkt. Der Atomausstieg muss untrennbar mit einer Energiewende verbunden werden. Dies hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die Frage der erneuerbaren Energien. In Ihren Gesetzentwürfen, liebe Regierungskoalition, steht zu den erneuerbaren Energien nichts Neues. Es gibt nicht eine einzige zusätzliche Fördermaßnahme. Das ist falsch; denn wir müssen die Erzeugung erneuerbarer Energien viel stärker fördern, um aus der Atomenergie so schnell wie möglich aussteigen zu können. Die andere Seite ist die Macht der vier Konzerne. Die vier Konzerne, die ich genannt habe, haben in den letzten Jahren einen Profit von 100 Milliarden Euro gemacht. Die werden überhaupt nicht zur Kasse gebeten. Im Gegenteil: Sie sorgen dafür, dass es dabei bleibt. Wieso haben diese Konzerne einen solchen Profit gemacht? Weil sie die Bürgerinnen und Bürger und auch die Unternehmen abgezockt haben, ohne dass Sie irgendetwas dagegen unternommen haben. Ich sage: Es ist eine Kernfrage, dass die Politik wieder für Wasser, für Bildung, für Gesundheit und auch für Energie zuständig wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen: Das Parlament, das sie wählen, wird darüber entscheiden. Die Vorstände der vier Konzerne dürfen sie nämlich nicht wählen. ({15}) Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das deutlich macht, was für ein Unsinn dabei herauskommt. Ein Alleinstehender, der in einer kleinen Mietwohnung lebt und wenig Strom verbraucht, zahlt pro Kilowattstunde mehr als jemand, der in einer Villa mit Swimmingpool wohnt. Diese Person verbraucht nämlich mehr. Wer mehr verbraucht, bekommt billigeren Strom. Das ist so was von antiökologisch und dämlich! Wenn die Politik zuständig wäre, gäbe es solche Schwachsinnsregelungen nicht, und wenn doch, würden sie nicht halten. Das ist das Entscheidende. ({16}) Die Zuständigkeit der Politik ist also eine Frage der Demokratie und der Demokratisierung. Die Stromnetze gehören in die öffentliche Hand; denn sie sind ein Machtinstrument. ({17}) Zum Vierten. Die Energiewende soll sozial gestaltet werden. Was heißt das? Darauf gibt es von der Regierung nicht eine einzige Antwort. Wer soll eigentlich die Kosten der Energiewende tragen? Kostet erneuerbare Energie nichts? Wie stellen Sie sich die Verteilung vor? Das Erste, was Sie geregelt haben, ist: Die energieintensiven Industrien müssen die Kosten auf jeden Fall nicht tragen. Sie bekommen eine Entlastung von 1,2 Milliarden Euro. Das heißt mit anderen Worten: Die Bürgerinnen und Bürger und die kleinen Unternehmen müssen die Kosten tragen. Genau das akzeptieren wir nicht. Den Riesenprofit der Energiekonzerne habe ich bereits erwähnt. Auch dieser muss, zumindest zum Teil, herangezogen werden. Heute haben wir die Situation, dass ein Hartz-IVEmpfänger 44 Euro im Monat für Strom ausgibt. Angerechnet werden aber nur 30,42 Euro. Auf diesen Betrag wurde der Regelsatz festgelegt. Finden Sie das in Ordnung? Ich finde das nicht in Ordnung. Hartz-IV-Empfänger wissen nämlich nicht mehr, wie sie das Ganze bezahlen sollen. ({18}) Jedes Jahr werden 800 000 Strom- und Gasversorgungssperrungen vorgenommen. Haben Sie sich damit einmal beschäftigt? Ich habe eine alleinerziehende Frau mit drei Kindern besucht, bei der eine Stromsperre vorgenommen wurde. Ich sage Ihnen: Ich war wirklich entsetzt. Das verletzt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist so nicht zu garantieren. ({19}) Ich sage Ihnen: Stromsperren und Gassperren sind zu verbieten. Dafür brauchen wir - jetzt werden Sie sich wieder furchtbar aufregen - eine staatliche Strompreiskontrolle, ({20}) wie es sie übrigens unter allen Unionsregierungen bis zur Großen Koalition gab. SPD und Union haben sie dann abgeschafft mit der Begründung, es gebe genug Wettbewerb. Das war ein schlechter Scherz; denn die vier Konzerne telefonieren miteinander und verabreden, wie sie uns abzocken. Hier gibt es keinen wirklichen Wettbewerb. ({21}) Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zum sogenannten Strahlenproletariat, das entstanden ist. Ich finde, das ist ein einzigartiger Skandal. ({22}) - Ja. Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. - Meine Fraktion hat eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Dabei stellte sich heraus, dass es bei den AKW-Betreibern weniger als 6 000 Festangestellte, aber über 24 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter und Beschäftigte von Fremdfirmen gibt. Die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter verdienen im Schnitt nur zwei Drittel dessen, was Festangestellte verdienen - das muss man wissen -, und - das ist der größte Skandal - sie sind einer doppelt so hohen Strahlenbelastung ausgesetzt wie die Festangestellten, weil sie immer wieder in die entsprechenden Bereiche geschickt werden. Ich sage Ihnen: Das ist eine Unverschämtheit der Konzerne! ({23}) Ich will auch begründen, warum. Es stecken drei Dinge dahinter.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. - Die Konzerne machen einen Profit von 100 Milliarden Euro, zahlen Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern aber schlechte Löhne. Außerdem gefährden sie ihre Gesundheit. Sie verachten sie. Das ist nicht zu dulden. ({0}) Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht nur eine Energiewende, sondern auch eine Kulturwende und eine soziale Wende in unserem Land. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute eines der wohl ehrgeizigsten Projekte in dieser Legislaturperiode. ({0}) Dass es bei diesem kontrovers diskutierten Thema gelungen ist, den Sachverstand von Wissenschaft, Wirtschaft und Technik und den Sachverstand der breiten Gesellschaft und der Politik zu bündeln und in konkretes politisches Handeln umzusetzen, ist eine großartige Leistung der Bundeskanzlerin und dieser Bundesregierung. Das verdient Anerkennung und Respekt. Ich danke dafür. ({1}) Herr Steinmeier, der größte Teil Ihrer Rede war ({2}) von einem Blick in die Vergangenheit geprägt. ({3}) Um die Energiepolitik künftig für dieses Land zu gestalten, ist es erforderlich, dass wir den Blick in die Zukunft richten. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um das, was wir gemeinsam wollen, nämlich einen schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie und einen schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien, in gemeinsamer Verantwortung richtig zu gestalten. ({4}) Wir dürfen nicht in einer hämischen Art und Weise besserwisserisch den Blick einfach in die Vergangenheit richten. Wir brauchen den Blick in die Zukunft. ({5}) Ich will nur an zwei Punkten den Unterschied zwischen dem, was damals von Ihnen beschlossen wurde, und dem heutigen Weg deutlich machen. Damals stand die Reststrommenge im Vordergrund, und die Entscheidung über das Enddatum der einzelnen Kraftwerke haben Sie in die Hände der Betreiber gelegt. Heute wird gesetzlich ein Enddatum festgelegt. Dadurch schaffen wir Planungssicherheit für alle Beteiligten: für die Betreiber, für die Investoren und vor allem auch für diejenigen, die in die erneuerbaren Energien investieren wollen und müssen. ({6}) Der zweite Unterschied ist, dass damals kein Wort über die Fragen verloren wurde, wie wir den Umstieg schaffen, was notwendig ist, um die Energieversorgung tatsächlich zu sichern, was an Ersatzkraftwerken notwendig ist, was an Netzausbau notwendig ist, wie der notwendige Netzausbau beschleunigt wird, wie es mit der Netzintegration der erneuerbaren Energien ausschaut und was mit den notwendigen Speicherkapazitäten ist. Zu all diesen notwendigen Themen haben Sie nicht nur nichts gesagt, sondern Sie haben in Ihrer ganzen Regierungszeit auch überhaupt nichts in die Wege geleitet, um dies zu realisieren. ({7}) Verantwortliche Energiepolitik schaut anders aus, als nur Überschriften zu setzen. ({8}) Wir haben uns die Diskussion in den letzten Wochen wirklich nicht leicht gemacht - auch in den eigenen Reihen nicht -, und wir haben gerade in meiner Landesgruppe und in meiner Fraktion auch immer dafür Sorge getragen, die Diskussion über das Enddatum nicht an den Anfang zu stellen, sondern zuerst den Weg zum Ausstieg und Umstieg zu definieren, um dann mit Fachleuten darüber zu diskutieren, was technisch, was wirtschaftlich und was auch aufgrund der Eigentumsrechte rechtlich möglich und richtig ist. Dann erst sind wir zu der Entscheidung für 2022 als Enddatum gekommen. ({9}) - Wir haben kontrovers diskutiert; das habe ich erwähnt. ({10}) - Entscheidend ist das, was im Gesetzentwurf steht. Das ist ein rechtlich sauberer und technisch und wirtschaftlich realisierbarer Weg. Damit ist das ein seriöser Weg. ({11}) Wer die Leute glauben machen will, es ginge noch schneller, wie Sie das gerade gesagt haben, der streut den Leuten Sand in die Augen und gaukelt ihnen etwas nicht Realisierbares vor. ({12}) Auch ich weiß, dass das, was wir hier vor uns haben, einer ganz großen Kraftanstrengung bedarf. Energieversorgung betrifft die Grundbedürfnisse eines jeden Bürgers. Sie ist die Lebensader für unsere Volkswirtschaft und für unsere Beschäftigten. Da lohnt es sich schon, sich über den richtigen Weg auseinanderzusetzen. Es lohnt sich meines Erachtens auch, zu streiten, und zwar in dem Sinn, dass wir darum ringen, wie wir das beste Ergebnis erreichen können. Wir dürfen aber nicht besserwisserisch streiten, nur um recht zu haben. Wir müssen vielmehr um die besten Argumente ringen. ({13}) Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was uns verbindet. Der Minister hat vorhin die drei Kernelemente angesprochen, die auch im Energiewirtschaftsgesetz verankert sind und an die wir uns bei jeder energiepolitischen Diskussion erinnern sollten, nämlich Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit. Darin sind wir uns doch einig; das hoffe ich zumindest. ({14}) Der Strom darf nicht ausfallen, ({15}) und zwar weder in den Betrieben und Krankenhäusern noch im Bereich der Datenverarbeitung oder in den Haushalten. Wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, müssen wir gemeinsam für den entsprechenden Ersatz sorgen. Es geht nicht ohne fossile Ersatzkraftwerke. Deshalb darf es nicht sein, dass man konkrete Projekte blockiert. Das wäre unglaubwürdig. Zu einem verantwortungsvollen Handeln gehört auch, dass wir die Äußerungen der Bundesnetzagentur in Bezug auf die nächsten zwei Jahre ernst nehmen. Wir können uns in diesem Lande keinen Blackout leisten. Das wäre völlig verantwortungslos. ({16}) Wenn wir uns darin einig sind, dass der Strom nicht ausfallen darf, dann müssen wir uns auch darin einig sein, dass wir beim Umstieg in die erneuerbaren Energien alles tun müssen, um den Netzausbau nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu befördern. Wir müssen die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass er zügig erfolgen kann, und zwar nicht nur in Bezug auf die überregionalen Netze, sondern auch in Bezug auf die Verteilernetze. Damit die Netzintegration der erneuerbaren Energien funktioniert, müssen wir dafür sorgen, dass die entsprechenden Speicherkapazitäten vorhanden sind. All das gehört dazu, wenn wir es mit der Versorgungssicherheit und mit dem Ziel, dass der Strom in diesem Land nicht ausfallen darf, ernst meinen. ({17}) Ein zweiter Punkt. Wir haben mit diesem Konzept auch die Strompreise im Auge. Das gilt für die privaten Verbraucher genauso wie für die Unternehmen. Es ist deshalb wichtig, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz darauf zu achten, dass die Einspeisevergütungen den Zweck der Anschubfinanzierung und der Innovationsfinanzierung erfüllen. Sie sollen aber keine Dauersubventionierung sein. ({18}) Ich weiß sehr wohl, dass es an dieser Stelle immer wieder Diskussionen gibt. Diese sind auch berechtigt. Wir dürfen aber auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik diesen Zweck nie aus den Augen verlieren. Zur Behandlung der Strompreisproblematik gehört auch, das Augenmerk auf die energieintensiven Betriebe zu richten. Hunderttausende von Arbeitsplätzen in diesen Unternehmen sind davon unmittelbar betroffen. Es sind aber auch Hunderttausende von Menschen in den vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Es wäre also zutiefst fahrlässig, wenn wir diese Problematik nicht beachten würden. Deshalb wird es auch hier eine zusätzliche Entlastung geben. ({19}) Ich will noch einen dritten Punkt ansprechen; da sind wir uns eigentlich einig. Es geht um die Verantwortung für die Natur und unsere Umwelt, also für das, was uns der Herrgott mitgegeben hat. Deshalb muss uns die Reduzierung der CO2-Belastung ein Anliegen sein. Deshalb müssen wir in diesem Konzept ein starkes Augenmerk auf die Energieeffizienz sowohl der Kraftwerke als auch aller Geräte, die wir benutzen, und auf die Einsparmöglichkeiten richten. Wir legen ebenfalls großen Wert auf die Maßnahmen, die wir zum Beispiel in der Gebäudesanierung vorgesehen haben, und auf die Frage der intelligenten Netzinfrastruktur und Ähnliches. Ich will dabei zum Ausdruck bringen, dass ich gerade mit diesem Energiekonzept Chancen sehe, dass wir den Schwerpunkt ein bisschen mehr, als wir das bisher tun, auf dezentrale Energieversorgung legen. Hier bieten sich sowohl im Bereich der erneuerbaren Energien als auch im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung große Chancen. Was uns, insbesondere in unserer Fraktion, ausgehend von meiner eigenen Landesgruppe, noch wichtig ist, ist der jährliche Fortschrittsbericht. Er ist uns deshalb wichtig, weil jeder, der den Ausstieg aus der Kernenergie ernsthaft will, den Umstieg mitmachen muss und die notwendigen Schritte auf diesem Weg nicht blockieren darf. Da wir in der Vergangenheit erstens nicht dieses genaue Konzept mit den Verbesserungsmöglichkeiten, den Planungsbeschleunigungen und dergleichen, was jetzt in den Gesetzentwürfen verankert ist, beschrieben haben und zweitens auch kein Monitoring vorgesehen hatten, ist vieles nicht geschehen, was auf dem Weg zum weiteren notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien notwendig gewesen wäre. ({20}) Deshalb wollen wir diesen jährlichen Fortschrittsbericht. Wir wollen ihn, um dann nachjustieren zu können, und zwar nicht beim Enddatum des Ausstiegs, sondern bei dem, was auf diesem Weg noch notwendig ist und wo blockiert wird. Das war uns ein ganz wichtiger Aspekt. Ich bin dankbar dafür, dass dieser nun in den Gesetzentwürfen verankert ist. Nun wissen wir bei der riesigen Aufgabe, die vor uns liegt, um den breiten gesellschaftlichen Konsens. Das Ergebnis der Ethik-Kommission hat deutlich gemacht, dass das vorgelegte Energiekonzept von einer breiten Basis in der Gesellschaft und auch in der Ethik-Kommission voll mitgetragen wird. Wir alle wissen, dass das nur mit einer Kraftanstrengung aller Beteiligten vor Ort möglich ist: des Bundes, der Länder, der Kommunen, aber auch der Investoren und der Bürger, ja jedes Einzelnen für sich. Da wird es noch viele Diskussionen in den Regionen bei konkreten Kraftwerksbauten, Netzausbauten und Ähnlichem geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ein gutes Signal, wenn dieser Konsens nicht nur in der Gesellschaft, nicht nur in der Ethik-Kommission spürbar wäre, sondern wenn dieser Konsens auch von diesem Hohen Hause ausginge. Darum möchte ich Sie herzlich bitten. Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen über die Gesetzentwürfe in den Ausschüssen ein und bitte Sie bei der zweiten und dritten Lesung herzlich um Ihre Zustimmung. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Rösler, nachdem ich Ihrer Rede zugehört habe, ({0}) habe ich Verständnis für die Kanzlerin, die Sie bei diesen Entscheidungen einfach übergangen und ignoriert hat, weil Sie wirklich nichts zum Thema zu sagen haben. ({1}) Durch Fukushima ist uns eines deutlich geworden: Es gibt kein vernachlässigbares Restrisiko. In Fukushima ist dieses Restrisiko dreimal höchst real geworden. Nun, nach diesem Zwischenfall, 25 Jahre nach Tschernobyl, zieht auch die CDU aus diesen Erfahrungen Konsequenzen. Das ist spät, aber es ist richtig. ({2}) Sie, Frau Merkel, beenden damit auch einen persönlichen Kampf. Zehn Jahre lang haben Sie gegen die Energiewende in Deutschland, gegen Energieeffizienz, Energiesparsamkeit und erneuerbare Energien gekämpft. Sie haben noch in der Bundestagswahl - ich zitiere - erklärt: Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke weltweit gebaut werden, wäre es jammerschade, wenn Deutschland aussteigen würde. Das war Ihre Position. Dieser Tage lobte der US-Präsident die deutsche Energiepolitik, weil sie mit neuer Technologie Klimaschutz, Wachstum und Arbeitsplätze verbunden hat. Meine Damen und Herren, das war ein scharfer Tadel an Sie, Frau Merkel; denn Sie haben in der Energiepolitik der letzten zehn Jahre eine ganz einfache Rolle eingenommen. Sie waren die Dagegen-Partei. ({3}) Sie haben nicht nur versucht, uns im letzten Jahr die Laufzeitverlängerung als Revolution - oder Ihr Umwelt12974 minister als Meilenstein - zu verkaufen. Die CDU veranstaltete in Nordrhein-Westfalen Fackelzüge gegen die Einführung des Emissionshandels. Sie waren gegen die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Da, wo die Union regiert hat - in Hessen, Bayern und BadenWürttemberg -, haben Sie den Ausbau der Windenergie bürokratisch so schikaniert und blockiert, dass es heute nicht einmal lächerliche 1 Prozent an Windstrom in diesen Bundesländern gibt. ({4}) Sie haben das schrittweise korrigiert: erst beim Emissionshandel, dann beim Erneuerbare-Energien-Gesetz. Heute rollen Sie auch die Fahne beim Ausstieg aus der Atomenergie ein. Da kann ich nur sagen: Willkommen, gnädige Frau, im 21. Jahrhundert. ({5}) Dies ist ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung und der Umweltverbände. Es ist ein Erfolg der Hunderttausende von Menschen, die auf Mahnwachen, bei Demonstrationen und Sitzblockaden für einen Ausstieg gestritten haben. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich bei denen schon nicht entschuldigen wollen - dafür hätte ich ja Verständnis -, so finde ich, dass Sie sich heute bei diesen Menschen für die Nachhilfe hätten bedanken sollen, die sie Ihnen erteilt haben. ({6}) Heute übernehmen Sie die Laufzeitbegrenzung von Rot-Grün. Sie packen einen Deckel drauf, damit die von Ihnen selbst verursachte und angestiftete Zockerei mit den Reststrommengen ein Ende hat. Sie üben tätige Reue und schalten die sieben ältesten Atomkraftwerke plus Krümmel ab, die aufgrund eben dieser Zockerei noch am Netz sind. Ohne diese Zockerei wären sie nicht am Netz. Sie schalten damit die Kraftwerke ab, die gegen einen Flugzeugabsturz überhaupt keinen Schutz haben. ({7}) Für all das haben Sie unsere Unterstützung. Aber warum nehmen Sie eigentlich Ihre Novelle vom letzten Jahr nicht vollständig zurück? Warum bleibt es bei der Absenkung der Sicherheitsstandards? Warum wird § 7 d des Atomgesetzes nicht gestrichen? ({8}) Warum müssen wir - wenn Sie einen Konsens wollen das nach wie vor vor dem Bundesverfassungsgericht beklagen? Sie haben den Ministerpräsidenten zugesagt, Sie wollten - ich zitiere - „eine ergebnisoffene Standortsuche auf einer gesetzlichen Grundlage“. Ich frage Sie: Was ist daran ergebnisoffen, wenn man parallel dazu in Gorleben weiterbaut? Wenn es ergebnisoffen sein soll, warum wollen Sie dann weiterhin in Gorleben den Grafen Bernstorff enteignen? Warum streichen Sie nicht die Ermächtigung zur Enteignung im Atomgesetz? Das frage ich Sie, wenn Sie Konsens wollen. ({9}) Heute wandeln Sie beim Ausstieg zögerlich auf grünen Pfaden. Damit kann man bekanntlich nichts verkehrt machen. Aber beim Einstieg in die energiepolitische Zukunft halten Sie an den Fehlentscheidungen fest, die Sie im letzten Jahr getroffen haben. Mit der Laufzeitverlängerung bis 2040 wollten Sie bis 2020 den Ausbau erneuerbarer Energien auf 35 Prozent deckeln. Das ist weniger, als Sie selbst in Brüssel bei der EU-Kommission für Deutschland gemeldet haben. Jetzt, wo Sie bis 2022 aus der Atomenergie ausgestiegen sein wollen, bleibt es bei den 35 Prozent. ({10}) Da wundert es Sie, dass die Wende, die Sie vollzogen haben, von den Menschen in diesem Lande nicht als glaubwürdig angesehen wird? Nehmen wir ein anderes Beispiel. Sie haben sich mit den Ministerpräsidenten darauf verständigt, dass Onshorewindenergie, also Windenergie an Land, nicht benachteiligt werden soll. Sie mindern zwar die Benachteiligung, die Sie ursprünglich vorgesehen haben, aber Sie verschlechtern die Bedingungen für das Repowering. Erklären Sie uns doch einmal, wie Sie bei einer zusätzlichen Hürde, die Sie mit der EEG-Umlage daraufpacken, ({11}) zu einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien zu verträglichen Preisen an Land kommen wollen, wenn Sie weiterhin Repowering und Onshorewindenergie in dieser Weise schlechter behandeln, als es notwendig gewesen wäre! ({12}) Dafür gäbe es eine Erklärung. Die Erklärung ist: Sie haben das Wesen der Energiewende immer noch nicht verstanden. ({13}) Es geht hierbei um den Ausbau erneuerbarer Energien, Energieeinsparung und Energieeffizienz. Aber dies setzt eine andere Struktur unserer Energieversorgung voraus, nämlich eine flexiblere und dezentralere Struktur. ({14}) Worauf Sie hinauswollen, ist der Ersatz der Grundlast Atom durch die Grundlast Kohle. Da treffen Sie sich mit der Linken von Gregor Gysi. ({15}) Energiewende geht, gerade im Einstiegsprozess, anders. Ob Erneuerbare-Energien-Gesetz oder NetzausbauJürgen Trittin gesetz: Bei all diesen Gesetzen gibt es massiven Änderungsbedarf. Ich habe Ihre Botschaft durchaus gehört, Frau Hasselfeldt - Ihr Minister hat das auch gesagt -, dass Sie bereit seien, tatsächlich zu konkreten Veränderungen zu kommen. Wir werden in dem Gesetzgebungsprozess darauf achten, dass diesen Ankündigungen auch Taten folgen. Seit Montag steht Frau Merkel der Energiewende nicht mehr im Weg. Aber eines scheint immer noch zu gelten: Merkel bleibt Merkel. Sie glauben immer noch, man käme vorwärts, wenn man gleichzeitig bremst und Gas gibt. Gnädige Frau, damit kommt man nur ins Schleudern und ist zu abrupten Kehrtwendungen gezwungen. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Kauch ist der nächste Redner für die FDPFraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Trittin, Hochmut kommt vor dem Fall. ({0}) Die Grünen sollten sich fragen, ob sie, wenn sie regieren würden, ihre Energiepolitik nicht auch hätten ändern müssen. Denn das von uns vorgelegte Konzept sieht eine deutlich frühere Abschaltung der alten Kernkraftwerke vor, als sie es vorgesehen haben. Sie haben es mit dem Reststrommengenkonzept doch gerade den Unternehmen ermöglicht, das Datum immer weiter nach hinten zu verschieben. ({1}) Das war doch ein rot-grünes Gesetz, von Ihnen als Umweltminister verantwortet, Herr Trittin. ({2}) Warum haben Sie denn die ältesten Kraftwerke nicht abgeschaltet? Warum haben Sie denn keine zusätzliche Sicherheit eingefordert? Weil Sie, Herr Trittin, einen Deal mit den vier großen Stromkonzernen gemacht haben. Die Hybris, die die Grünen hier an den Tag legen, besteht darin, einen Deal gemacht zu haben, nichts für die Sicherheit getan zu haben und uns vorzuwerfen, dass wir den Paragrafen, mit dem wir mehr Sicherheit schaffen, ({3}) jetzt nicht abschaffen. Das ist absurd, meine Damen und Herren von den Grünen. ({4}) Die FDP will den schnelleren Umstieg in der Energieversorgung, wir wollen den schnelleren Ausstieg aus der Kernkraft. Deswegen haben wir gemeinsam mit der Union ein Gesetzespaket vorgelegt. ({5}) Die Koalition hat gemeinsam ein klares Signal gesetzt. Wir Liberale haben insbesondere an drei Punkten dieses Gesetzes einen wesentlichen Anteil. Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass die Brennelementesteuer nicht abgeschafft wird. Diese Brennelementesteuer wurde eingeführt, weil sich die Stromkonzerne in vergangenen Jahren ihrer Abfälle sehr günstig in der Asse entledigt haben. Deshalb müssen sie auch an den Kosten beteiligt werden. Wir haben vereinbart, dass die Konzerne einen Beitrag zur Haushaltssanierung leisten. Daran hat sich nichts geändert. Wir wollen die Bürger entlasten, wir wollen die Spielräume nicht einengen und das Geld nicht dadurch verpulvern, dass wir vier Konzernen ein Geschenk machen. Dafür hat die FDP gesorgt. ({6}) Zweitens. Die FDP hat dafür gesorgt, dass wir neben der Erkundung von Gorleben auch andere Entsorgungsoptionen entwickeln. Da bin ich schon sehr erstaunt über das, was Herr Steinmeier gesagt hat, nämlich dass man das jetzt endlich machen müsse. Wir haben vereinbart, dass wir das machen. Ich möchte festhalten: Wer das nicht gemacht hat, das waren Herr Trittin und Herr Gabriel. Rote und grüne Umweltminister haben elf Jahre davon geredet, aber sie haben es nicht durchgesetzt. Wir werden es jetzt durchsetzen. ({7}) Drittens. Wir sorgen für Netzstabilität in diesem Land. Frau Hasselfeldt hat es sehr deutlich gesagt: Man kann den Bürgerinnen und Bürgern, den Menschen in den Betrieben, den Arbeitenden in den Krankhäusern und in den EDV-Zentralen nicht zumuten, dass wir das Risiko eingehen, dass der Strom ausgeht, auch nicht in Bayern, auch nicht in Baden-Württemberg. ({8}) Deshalb ist es notwendig, ein Stand-by-Kraftwerk für die nächsten beiden Winter vorzuhalten. Das ist unsere Versicherung für die Stromversorgung der Bürgerinnen und Bürger. ({9}) Wir kümmern uns nicht nur um den Ausstieg, wir kümmern uns auch um den Einstieg; denn der Einstieg ist eine Chance für unser Land, eine Chance für Innovation, für neue Technologien und für die Modernisierung unserer Wirtschaft. Dieser Einstieg wird in erheblichem Maße anlagesuchendes Kapital nach Deutschland ziehen. Das ist ein neues Konjunkturprogramm, und zwar ein marktwirtschaftliches. Aber es ist auch eine Herausforderung an uns alle. Das funktioniert nicht von alleine. Das bedeutet, dass auch der ländliche Raum Funktionen für die Energieversorgung übernehmen muss, die bisher zu großen Teilen die Städte übernommen haben. Nicht überall wird es so bleiben, und nicht alles wird so bleiben, wie es war. Das müssen die Menschen wissen, wenn wir aus der Kernkraft aussteigen. Wir werden Netze brauchen, und wir werden Masten brauchen. Die wird man in der Landschaft sehen, ebenso Windräder, die Schlagschatten werfen, Solarkraftwerke, die dem einen oder anderen nicht gefallen werden, und große Biogasanlagen, die gegebenenfalls zu mehr Verkehr in den Dörfern führen. All das ist unvermeidbar. Wir sind bereit, das zu tragen. Wir sind gespannt, ob auch die Grünen bereit sind, Verantwortung für den Umstieg bei der Energieversorgung zu tragen. ({10}) Rot-Grün hat das EEG immer so gestrickt, dass möglichst viele neue Anlagen errichtet wurden. ({11}) Das haben Sie gemacht, ohne dass Sie die Netze entsprechend angepasst haben; denn Sie haben immer nur auf die Anlagen geschaut, nie auf das Gesamtsystem. Das Ergebnis können Sie heute sehen: Nachdem die sieben ältesten Kraftwerke und Krümmel abgeschaltet worden sind, exportieren wir im Norden den Windstrom und importieren im Süden den Kernkraftstrom und den Braunkohlestrom aus Frankreich und aus Tschechien. Das ist das Ergebnis von elf Jahren mit rot-grünen Umweltministern in diesem Land. ({12}) Die FDP will mit der Erneuerung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes drei Ziele erreichen: Wir wollen weiter und schneller einen dynamischen Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir wollen mehr Effizienz. Ich freue mich, dass es uns in der Koalition gelungen ist, uns darauf zu verständigen, dass wir die Umlage bei 3,5 Cent stabilisieren. Das bedeutet: kein fester Deckel. Aber das bedeutet auch: Es gibt eine politische Verpflichtung, dass wir die Kosten ernst nehmen, die wir den Bürgerinnen und Bürgern über ihre Stromrechnung auferlegen, und dass wir nicht nur daran denken, den Betreibern eine möglichst fette Rendite zu garantieren, wie es uns Herr Trittin heute hier wieder vorgeworfen hat. ({13}) Meine Damen und Herren, wir wollen Anreize setzen für eine möglichst gute Integration der erneuerbaren Energien in den Markt und in das Netz. Deswegen setzen wir auf die Direktvermarktung. Wir geben den Anlagenbetreibern bei ihrer Vergütung sozusagen einen Airbag. Mit der Marktprämie stehen sie sich vergütungsmäßig nie schlechter als bei der Festvergütung; aber erstmals müssen sie sich darüber Gedanken machen, sich einen Kunden zu suchen. Das ist das Mindeste, was man in einer Marktwirtschaft erwarten muss: dass sich zum Beispiel große Anbieter von Biogasanlagen für den Strom einen Kunden suchen müssen und dass sie den Strom dem Netzbetreiber nicht nur vor die Füße werfen nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. ({14}) Zum Abschluss möchte ich sehr deutlich machen: Wir wollen Onshore- und Offshorewindkraft. Es geht auch um das Planungsrecht. Es nützt nichts, einem Windparkbetreiber oder einem Anlagenbetreiber eine möglichst fette Rendite zu garantieren, wenn man keine Flächen geben kann, weil sie in der Planung nicht ausgewiesen werden. Es nützt eben auch nichts - da müssen wir noch eine Änderung am Erneuerbare-Energien-Gesetz vornehmen -, dass man sagt: „Solarparks, Solarkraftwerke in der Freifläche sind für den Verbraucher am günstigsten“, aber nur Flächen zur Verfügung stellt, die in Ostdeutschland oder Nordrhein-Westfalen liegen, während dort, wo wir wegen des Kernkraftausstiegs jetzt Kapazitäten brauchen - in Bayern, in Baden-Württemberg -, gesagt wird: Wir haben leider keine Flächen für die Solarenergieerzeugung. - Zum Umstieg gehört, dass man sagt: Wir schaffen auch Flächen für Anlagen und sorgen nicht nur für Vergütungen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein herzliches Dankeschön an die Hunderttausenden und Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit Jahrzehnten gegen die Atomenergie in unserem Land engagiert haben, ({0}) die aushalten mussten, dass sie aus den Reihen von CDU und CSU und FDP ignoriert, ausgelacht, verleumdet und beleidigt worden sind, auch noch in den letzten Wochen, sogar noch in den ersten Tagen nach Fukushima. Noch einmal ein herzliches Danke! Ohne ihren Widerstand hätten CDU/CSU und FDP auch nach Fukushima einfach weitergemacht. ({1}) Jetzt gilt aber: Sie haben gewonnen; Schwarz-Gelb hat verloren. Die wollten die Energiewende im letzten Jahr vernichten, wurden zum Einlenken gezwungen und beschimpfen jetzt immer noch in Parlamentsreden, in Flugblättern und auf den Webseiten die, die schon lange auf dem richtigen Weg waren. Herr Rösler, bei allem Respekt: Ihre Rede war die Bewerbung als Kaltreserve der Koalition. ({2}) Diese Rede werden wir eins zu eins in der heute-show wiederfinden. Sie erinnert mich an das Verhalten eines Kleinkindes, das über seine eigenen Füße gestolpert ist und am Boden liegend nach allen um sich herum haut, weil irgendjemand anderes an seinem Unglück ja schuld gewesen sein muss. ({3}) Frau Bundeskanzlerin, ein einziges Wort des Einsehens, eine einzige kleine Entschuldigung bei den Bürgerinnen und Bürgern, einmal der Verzicht auf das Überhöhen des eigenen Handelns, wäre das so schwierig gewesen? ({4}) Seit Mitte März wurden jetzt fast drei Monate Fachberatungszeit für gute Gesetze durch Grabenkämpfe in der Koalition vergeudet. Selbst Koalitionsabgeordnete haben sich gestern in den Ausschussanhörungen, vorgestern beim Deutschen Bauernverband über die mangelnde Sorgfalt in den Gesetzentwürfen und über die mangelnde Beratungszeit beschwert. Aber da gilt eines, werte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Beschweren Sie sich doch nicht, ändern Sie es doch gemeinsam mit uns! Sie hätten nicht akzeptieren müssen, dass selbst die Sachverständigen nur 24 Stunden Vorbereitungszeit für die Fachanhörungen bekommen haben. Aber jetzt sind wir mitten in der Debatte. Die EthikKommission hat ihr Ergebnis vorgelegt, ({5}) und dieses Ergebnis lautet: Die bisher von CDU/CSU und FDP gemachte Energiepolitik ist unethisch gewesen; Sie sollen zurück zu dem, was SPD und Grüne vorgelegt haben. ({6}) Schwarz-Gelb will nun den mit voller Absicht - mit voller Absicht! - gemachten Fehler einer Laufzeitverlängerung weitgehend zurücknehmen. CDU und CSU haben in der letzten Woche auch bei der Brennelementesteuer und dem schrittweisen Ausstieg eingelenkt, verbal übrigens ebenso bei der bundesweiten ergebnisoffenen Endlagersuche. Ob die FDP das in allen Punkten unterstützt, ist mir auch nach den Reden von heute Morgen unklar, ich glaube, den meisten innerhalb der FDP auch. Sie müssen hier schon für Klarheit sorgen. Sind Sie Teil der Koalition, legen Sie uns also einen Entwurf vor, über den wir mit Ihnen diskutieren können, oder sind Sie bei dem Versuch, die CSU von früher zu imitieren, gleichzeitig Regierung und Opposition zu sein? Das müssen Sie unter sich klären. Wir begrüßen das Einlenken von Schwarz-Gelb in der Frage der Atomkraftlaufzeiten - trotz der Zeitverzögerungen und Kosten, die durch die Extrarunde im Oktober entstanden sind, als wir an der gleichen Stelle geredet haben, als wir mit dem gleichen Pathos erklärt bekommen haben, warum Atomkraftwerke in diesem Land länger laufen müssen, bis in die 40er-Jahre unseres Jahrhunderts hinein. Eines gilt auch: Wir könnten noch schneller aussteigen, wir könnten noch sicherer aussteigen, Herr Fuchs, wir könnten auch preisgünstiger aussteigen, ({7}) wir könnten die Erneuerbaren noch schneller ausbauen, wir könnten die Energieeffizienz noch stärker voranbringen. ({8}) Wir bitten Sie, wir fordern Sie auf: Nutzen Sie wenigstens die kurzen Beratungszeiten auch dafür, das ernst zu nehmen, was Ihnen die Ethik-Kommission aufgeschrieben hat, und das ernst zu nehmen, was die Sachverständigen gestern in den Anhörungen gesagt haben! Selbst Ihre eigenen Sachverständigen haben massive Kritik an den Gesetzentwürfen geübt. Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz. ({9}) Ohne dieses Gesetz wäre ein schneller Atomausstieg gar nicht möglich. Es ist eine deutsche Erfolgsgeschichte, übrigens beschlossen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP, auch die erste Novelle beschlossen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP. Daran muss man manchmal erinnern. ({10}) Frau Merkel hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz zweimal abgelehnt, Herr Röttgen - er wird ja gleich noch reden - hat es abgelehnt; aber der Atomausstieg, Milliardeninvestitionen und 400 000 Jobs in Deutschland hängen am Erneuerbare-Energien-Gesetz. Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung jetzt mit diesem Gesetz vor? ({11}) Das Ausbauziel bleibt unverändert - trotz Atomausstiegs. Das muss man mal erklären! Wir schalten also 20 Prozent der Leistung ab, aber die Erneuerbaren wol12978 len Sie nicht mehr ausbauen, als bisher geplant. Es ist eine dreiste Bevorzugung der großen Energiekonzerne, quasi als Entschädigung für die Rücknahme der Laufzeitverlängerung. ({12}) Bei den preisgünstigen dezentralen Erneuerbaren wie dem Onshorewind wird gekürzt und ausgebremst. Schon heute brechen die Anmeldezahlen zusammen. Die teureren zentralen Anlagen allerdings, wie die Energiekonzerne sie lieben, werden bei der Vergütung vergoldet. Das Konzept, das hinter dieser Novelle des ErneuerbareEnergien-Gesetzes durch Schwarz-Gelb steht, heißt: weniger neue Kilowattstunden bei höheren Kosten, die die Verbraucherinnen und Verbraucher zu tragen haben. Dies ist ein unsinniger Entwurf; den müssen Sie ändern. ({13}) Zum Atomgesetz. Zunächst die gute Nachricht: Sie nehmen die Laufzeitverlängerung tatsächlich weitgehend zurück. Ich fand den Begriff von Frank-Walter Steinmeier, dass das ein Irrtumsbereinigungsgesetz ist, die treffendste Beschreibung für ein Gesetz, die ich seit Jahren gehört habe. ({14}) Wir gehen auch davon aus, Frau Bundeskanzlerin, dass Ihre Ankündigung einer ergebnisoffenen und, Frau Hasselfeldt, bundesweiten Endlagersuche so gemeint ist, wie Sie es gesagt haben, und dass dem auch Taten folgen. Man muss übrigens nicht bis zum Ende des Jahres warten. Man könnte mit einem einzigen Satz im Atomgesetz eine solche bundesweite Suche als Voraussetzung für die Genehmigung eines Endlagers festschreiben und dann am Ende des Jahres in einem weiteren Gesetz die Details regeln. Auch auf diese Weise könnten Sie beweisen, dass Sie es wirklich ernst meinen. Wir als SPD behalten uns vor, mit eigener Mehrheit, spätestens ab 2013, weitere schwarz-gelbe Irrtümer und Unterlassungen im Atomrecht zu revidieren. Wir werden die längst fertiggestellten höheren Sicherheitsstandards in Kraft setzen. Herr Dr. Röttgen weigert sich ja, unter diese seine Unterschrift zu setzen. Wir werden den Enteignungsparagrafen wieder streichen und die vollen Anwohnerrechte wiederherstellen. Wir werden auch den Vorschlag der Ethik-Kommission für einen parlamentarisch kontrollierten Überwachungsprozess für den Atomausstieg durchsetzen. Dieser sieht ja als Kernforderung auch die Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung des Atomausstiegs vor, wenn wir bei unseren Zielen des Ausbaus und der Netzmodernisierung schneller vorankommen als heute erwartet. ({15}) Die Mitglieder der Ethik-Kommission sind durch die Bundeskanzlerin handverlesen worden. Durch keinen parlamentarischen Prozess sind die Teilnehmer bestimmt worden. Wenn es sich so verhält, muss aber auch die obengenannte Kernforderung der Ethik-Kommission erfüllt werden. Man darf sich nicht nur die genehmen Vorschläge heraussuchen, Frau Merkel. Das ist nicht in Ordnung. Ein letzter Punkt: Die Expertenanhörung hat aufgezeigt, dass Zweifel berechtigt sind, ob die Novelle des Atomgesetzes auch juristisch wasserdicht konstruiert ist. Im Kern geht es um die nicht begründete Ungleichbehandlung bei den Laufzeiten. Alle Antworten der Bundesregierung gegenüber verschiedenen, bei der Anhörung anwesenden Rechtsexperten waren unbefriedigend. Wir können aber von der schwarz-gelben Bundesregierung erwarten, dass sie ein ordentlich gemachtes Gesetz vorlegt, das alle Kriterien erfüllt. Wir lassen nicht zu, dass Sie eine juristische Hintertür in die Laufzeitverkürzung, in den Atomausstieg einbauen. Das geht nicht. ({16}) Wir sind erschrocken über die mangelnde handwerkliche Qualität der Gesetzentwürfe. Eines können wir aber erwarten: Tun Sie dem Land einen Gefallen, indem Sie wenigstens bei der Beseitigung Ihrer Irrtümer etwas Sorgfalt an den Tag legen! Das wäre ein letzter Dienst an diesem Land. ({17}) Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Trittin ist leider schon weg, ich sage es aber trotzdem: Herr Kollege Trittin, Sie waren, wenn ich mich nicht sehr irre, von 1998 bis 2005 Umweltminister in diesem Lande. In diesen sieben Jahren hätten Sie zusammen mit Ihren Kollegen von der SPD das Flugzeugabsturzproblem lösen können, wenn Sie es denn gewollt hätten. Es gibt ja Stimmen, die behaupten, dass Sie persönlich es gewollt haben. Aber Sie waren während dieser Zeit eben Kellner und nie Koch. Sie werden wahrscheinlich auch nie Koch werden. Lieber Herr Kollege Steinmeier, ich habe Ihre rückwärts gewandte Rede sehr wohl gehört. Ich kann mir auch durchaus denken, warum sie rückwärts gewandt war: Weil Sie damals noch bessere Umfragewerte als heute hatten, erinnern Sie sich lieber an diese Zeit. ({0}) Das ist verständlich. Zu Ihnen fällt mir ein Zitat von John F. Kennedy ein: Einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo die anderen erst einmal reden. ({1}) Sie haben 25 Jahre nur geredet, aber nie angepackt; und das macht diese Koalition jetzt. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden - dafür müssen wir alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenführen - jetzt anpacken. Wir müssen dafür sorgen, dass die Dinge, die wir uns vorgenommen haben, gemeinsam umgesetzt werden. Das wird alles andere als einfach. Der Neubau von effizienten Gas- und Kohlekraftwerken wird nötig sein. Der Neubau von Pumpspeicherkraftwerken wird nötig sein. Der Ausbau der Stromleitungsnetze wird nötig sein. All das wird viel Kraft kosten. Das wird häufig gerade von Politikern der Grünen sehr kritisch betrachtet. ({3}) Ich frage mich, woher diese fast überall in Deutschland zu spürende grundsätzliche Angst vor neuen Technologien, vor neuen Infrastrukturprojekten kommt. ({4}) Was müssen wir dagegen tun? Ausländer sprechen ja sogar schon von „German Angst“. ({5}) Ich habe vor kurzem an einer Podiumsdiskussion in den USA zum Thema „Energiepolitik nach Fukushima“ teilgenommen. Da fragte mich ein Japaner, mit dem ich dort saß: Michael, where was the nuclear accident, in Germany or in Japan? ({6}) Diese Frage ist durchaus berechtigt: Warum ist die Hysterie in Deutschland so groß, und haben Sie von den Grünen nicht einen großen Anteil an dem Schüren dieser Hysterie? ({7}) Mit Hysterie und Ablehnung von Infrastrukturprojekten werden wir in Deutschland keine Probleme lösen. ({8}) Im Gegenteil: Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Probleme in den Griff zu bekommen. ({9}) Richtig ist, dass wir den Ausbau der erneuerbaren Energien fördern müssen, dass wir so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien umsteigen müssen. Das ist aber nicht neu, Herr Oppermann. Das haben wir bereits mit dem Gesetz vom letzten Jahr beschlossen. ({10}) Wir hatten nur Skepsis - ich habe sie immer noch -, ob die Brücke von zehn Jahren, die wir jetzt bauen, ausreicht. Ich hoffe, dass das der Fall ist. Sie alle sind gefordert, daran mitzuarbeiten. Dass das Ganze nicht einfach ist, weiß, glaube ich, jeder in diesem Hohen Hause. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten; denn es sind eine Menge Punkte zu berücksichtigen. ({11}) Versorgungssicherheit ist einer der zentralen Punkte. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, das TAB, hat festgestellt, dass ein einstündiger Ausfall, ein einstündiger Blackout in Deutschland 1,3 Milliarden Euro kostet. Pro Tag wären das fast 30 Milliarden Euro. Wenn das passiert, dann werden wir alle hier anders diskutieren. Wir werden darüber nachdenken müssen, wie wir das verhindern können. Es ist notwendig, dass wir uns darum in Zukunft stärker kümmern. ({12}) Die Bundesnetzagentur mahnt uns schon die ganze Zeit, dass wir vorsichtig sein sollen, falls der geplante schnelle Ausbau nicht funktionieren wird. Seit Fukushima sind wir zum Stromimporteur geworden. Wir haben vor Fukushima 98 Gigawattstunden pro Tag exportiert - ich zitiere die Bundesnetzagentur - und importieren seitdem pro Tag 23 Gigawattstunden. Das kann nicht die Zielrichtung sein. Die Bundeskanzlerin hat völlig zu Recht gesagt, dass wir das nicht wollen. Wir müssen Selbstversorger bleiben. Aus diesem Grunde müssen wir so schnell wie möglich auch mehr auf fossile Kraftwerke setzen und Verträge mit Gasproduzenten abschließen, um in Zukunft genügend Gas zu haben. Einen Punkt möchte ich in dem Zusammenhang erwähnen, der mir Sorge macht: Wir werden natürlich in eine noch größere Abhängigkeit von Russland geraten. Machen wir uns nichts vor: Bis jetzt kommen bereits 38 Prozent unseres Gases aus russischen Quellen. Ich gehe davon aus - und das sagen auch die Energieversorger -, dass der Anteil auf eine Größenordnung von über 40 Prozent wachsen wird, wenn wir zukünftig acht bis zehn zusätzliche Gaskraftwerke brauchen. In dem Zusammenhang sollten wir uns noch einmal sehr intensiv mit dem Thema LNG-Terminal, vielleicht in Wilhelmshaven, beschäftigen. ({13}) Das muss dann als Alternative aufgebaut werden. Auch das ist etwas, was von vielen von Ihnen abgelehnt wurde. Beim Netzausbau haben wir mit dem NABEG die richtigen Weichen gestellt. ({14}) Der Netzausbau ist dringend notwendig. Denn der Strom von der Nordsee oder von der Ostsee nützt uns gar nichts, wenn er nicht dahin transportiert werden kann, wo er gebraucht wird. ({15}) Sie wissen genau, dass es um einen Netzausbau von 4 400 Kilometern geht. Diese 4 400 Kilometer müssen in kürzester Zeit gebaut werden. Bundesminister Rösler hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass sie innerhalb von vier Jahren gebaut werden müssen. Das heißt, dass eine gewaltige Beschleunigung erforderlich ist. Wir müssen circa 500, 600, 700 Kilometer pro Jahr bauen. Auch dabei sind Sie alle gefordert. Das funktioniert nur, wenn alle Parteien das wollen. Da kann nicht einer vor Ort sagen: Das geht mich nichts an; die sollen die Leitungen irgendwo anders hinbauen. ({16}) So machen Sie von den Grünen das ja sonst sehr gerne. Sie verbünden sich mit Ihren Freunden von Attac, BUND etc., den üblichen Verdächtigen, ({17}) und verhindern den Leitungsausbau. So kann es nicht weitergehen. Wenn wir da nicht gemeinsam vorgehen, werden wir die Energiewende nicht schaffen. ({18}) Notwendig ist auch, dass wir beim EEG aufpassen. Ich bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar für Ihre eben gemachte Äußerung, dass die EEG-Umlage nicht über 3,5 Cent pro Kilowattstunde steigen soll. Das muss unsere Richtschnur sein, auch bei den jetzt anstehenden Verhandlungen. Denn wenn dieser Preis steigt, zahlen das gerade die kleinen Leute, Herr Gysi. Dann zahlen nämlich gerade diejenigen, die sich keine Solaranlage leisten können, die sie nicht auf dem Dach haben. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben. Herr Kelber profitiert; er ist der Cheflobbyist der Solarwirtschaft. Das war schon immer so. ({19}) Unsere Aufgabe ist es aber nicht, dafür zu sorgen, dass die Solarindustrie noch mehr Geld verdient. ({20}) Es gibt keine Zeitung, die in den letzten Tagen nicht großformatige Anzeigen vom BSW enthalten hätte. Das zeigt, dass man anscheinend doch verdammt viel Geld haben muss; sonst könnte man sich solche Anzeigen in der FAZ und anderswo nicht leisten. In Prospekten von SolarWorld - das ist im Wahlkreis von Herrn Kelber, glaube ich - werden 10 Prozent Rendite über 20 Jahre versprochen. - Donnerwetter, das ist wesentlich mehr, als man bei Griechenland bekommen kann, und in diesem Fall ist es sicher. - Das kann nicht funktionieren. Das muss geändert werden. Solche Renditen sind unsittlich; denn sie müssen von den kleinen Leuten bezahlt werden. ({21}) Das heißt, wir werden an das EEG herangehen; denn die Solarwirtschaft ist in der Förderung die teuerste. Wir haben heute pro Jahr insgesamt eine EEG-Förderung von 13,5 Milliarden Euro; davon entfallen 6,7 Milliarden Euro allein auf die Solarwirtschaft. Das kann nicht richtig sein; denn nur 2 Prozent des gesamten Stroms der erneuerbaren Energien kommen aus Solarpaneelen. Das zeigt, dass es hier ein totales Missverhältnis gibt. Das werden wir beim EEG korrigieren. Da müssen wir alle gemeinsam ran; es müssen vernünftige Lösungen gefunden werden. Wir müssen bei Solarenergie eine Deckelung im EEG einführen, ansonsten wird es nicht funktionieren. Sonst wird zu viel aufgebaut. Das ist nicht meine Vorstellung. ({22}) Das Wichtigste, was wir in diesem Hohen Hause zu beachten haben, ist, dass Deutschland ein guter Arbeitsplatzstandort bleibt. Auch die energieintensive Industrie muss in Deutschland bleiben. Wenn die abwandert, gehen Wertschöpfungsketten verloren und wird das Folgen haben, die wir so nicht wollen. Mein Deutschland ist und bleibt ein Industrieland. Daher werde ich dafür kämpfen, dass die Industrie überall in Deutschland preisgünstigen Strom erhält. Das darf nicht durch verrückte Preissteigerungen kaputtgemacht werden. Das können wir uns nicht leisten. Denn wir können gerade jetzt mit Freude feststellen, dass sich die Arbeitsmarktsituation endlich entspannt hat. Ich darf daran erinnern: Am Ende Ihrer Regierungszeit hatten Sie 5 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen, Frau Künast. Wir werden dieses Jahr unter 2,3 Millionen Arbeitslose haben; das ist eine Erfolgsstory. Das darf nicht durch eine falsche Energiepolitik kaputtgemacht werden. ({23}) Lassen Sie mich zum Schluss den Vater des Industrielandes Deutschland, Ludwig Erhard, zitieren. ({24}) Er hat gesagt: Unser Tun dient nicht nur der Stunde, dem Tag oder diesem Jahr. Wir haben die Pflicht, in Generationen zu denken und unseren Kindern und Kindeskindern ein festes Fundament für eine glückliche Zukunft zu bauen. Das werden wir mit unseren Gesetzen tun. Bitte helfen Sie dabei mit, dass es funktioniert! ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Ulrich Kelber. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege Fuchs muss es einfach aushalten, dass ich mich jedes Mal, wenn er seine Lügen verbreitet, zu Wort melde. ({0}) Außerhalb des Deutschen Bundestages ist das, was Sie machen, natürlich längst strafbewehrt. Sie haben wieder mit einer Formulierung versucht, den Eindruck zu erwecken, ich hätte irgendeinen wirtschaftlichen Vorteil von meinem Engagement für erneuerbare Energien, für die ich mich seit 30 Jahren einsetze. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Fuchs, veröffentliche ich meine Steuererklärung auf meiner Website. Dort kann man sehen, dass ich keinen Cent daran verdiene. Im Gegensatz zu Ihrem Kreisverband veröffentlicht meine Partei übrigens auch sämtliche Spenden. Aber immerhin gibt es ja eine durch die SPD initiierte Verpflichtung zur Veröffentlichung von entgeltlichen Tätigkeiten neben dem Mandat. Bei mir finden Sie da übrigens - mit Ausnahme des kommunalen Aufsichtsrates - null. Bei Ihnen finde ich: Vortrag Stufe 2, Vortrag Stufe 2, Vortrag 1 Stufe 2, Vortrag 2 Stufe 2, Vortrag 3 Stufe 3, Aufsichtsrat Stufe 3, Beirat Stufe 3, usw. Zwei kleine Vorschläge: Erstens. Lesen Sie meine Steuererklärung, die 0 Cent Einnahmen neben dem Mandat ausweist! Zweitens. Schaffen Sie einfach einmal so viel Transparenz wie ich! Danach können Sie den Mund hier vorne wieder aufmachen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Kelber, erstens habe ich fast alle Ämter in Aufsichtsräten und Beiräten schon vor meiner Tätigkeit als Abgeordneter des Hohen Hauses innegehabt. ({0}) Zweitens steht es mir frei, diese Tätigkeiten weiter auszuüben. Ich erhalte dadurch erhebliche Erkenntnisse, die Ihnen in vieler Hinsicht fehlen. ({1}) Drittens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie hier vielleicht auch den Rechenschaftsbericht Ihrer Kreispartei zitieren sollten, die erheblich von SolarWorld unterstützt wird; das verschweigen Sie immer gerne. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Kollegen Fuchs hat eben deutlich gemacht, womit wir es hier seit Tagen und Wochen zu tun haben: mit einer Panikmache bei den Menschen, die vor vermeintlichen Strompreissteigerungen, Stromausfällen und unbezahlbaren Stromrechnungen gewarnt werden. Dabei sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Ein Umbau der Energieversorgung hin zur Nutzung erneuerbarer Energien wird Mehrkosten von durchschnittlich 0,2 bis 0,5 Cent je Kilowattstunde nach sich ziehen. Wir sagen nicht: Das kostet nichts. Aber es geht um einen sehr überschaubaren Betrag. Ich habe mir einmal herausgesucht, wie sich die Stromkosten eines Dreipersonenhaushalts mit einem Verbrauch von 3 500 Kilowattstunden in den letzten Jahren entwickelt haben. 2001 kostete die Kilowattstunde im Durchschnitt 14,3 Cent, zehn Jahre später 24,9 Cent. Wir hatten also in den letzten Jahren einen viel stärkeren Anstieg, der vielen Menschen Probleme macht. Kollege Gysi hat vorhin angesprochen, dass viele Menschen inzwischen längst Probleme haben, ihre Rechnungen zu zahlen. Das hat nichts mit einem Umbau des Energiesektors zu tun, sondern mit Abzocke, fehlender Strompreis12982 aufsicht und fehlenden sozialen Tarifen, wie es sie in Ländern wie Belgien und Frankreich längst gibt. ({0}) Und es hat etwas damit zu tun, dass die großen vier Energiekonzerne entsprechende Gewinne gemacht haben. Wir haben uns die Daten zu den drei großen deutschen Energiekonzernen Eon, RWE und EnBW vom Wissenschaftlichen Dienst geben lassen: Sie haben ihre Gewinne in den letzten Jahren von circa 10 Milliarden Euro im Jahr auf 23 Milliarden Euro im Jahr gesteigert. Das zahlen die Kundinnen und Kunden. Worüber? Über die Stromrechnung; ich habe es eben erläutert. ({1}) Jetzt erleben wir, dass es nicht zum schnellstmöglichen Ausstieg kommt, sondern zu einem Ausstieg erst im Jahr 2022, einem Jahr, das keiner der Wissenschaftler und Sachverständigen vorgeschlagen hat. Die Begründung dafür, dass der Ausstieg erst 2022 erfolgen soll, findet sich in Ihren Texten: Da sagen Sie, dass nicht nur die Abschreibung, sondern auch die Möglichkeit, angemessene Gewinne zu erzielen, zu berücksichtigen ist. Deswegen kommen Sie auf das Jahr 2022. Man muss sich das wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Seit Wochen und Monaten - nicht erst seit Fukushima, sondern auch schon anlässlich der Laufzeitverlängerung - demonstrieren Hunderttausende von Menschen, die eine sehr legitime Forderung erheben: die Forderung nach dem sofortigen Ausstieg. Sie wissen nämlich, dass jeder Tag des Betriebs von Kernkraftwerken ein weiterer Tag der Gefahr ist. Sie wissen, dass der Block 1 in Fukushima Ende März hätte vom Netz gehen können. Das ist einer der Blöcke, die heute mit einer Kernschmelze zu kämpfen haben und bei denen wir bis heute nicht wissen, wie umfänglich die Gefahren und wie groß die Folgen sind, wie viele Tausende von Toten und Hunderttausende von Krebskranken das nach sich ziehen wird. Die Menschen stellen also die sehr berechtigte Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg. ({2}) Wenn wir hier über Daten und Jahreszahlen diskutieren, dann geht es um eine Abwägung zwischen dieser sehr berechtigten Forderung und anderen Interessen, nämlich dem Interesse an einer sicheren Stromversorgung und dem an bezahlbaren Strompreisen; dabei ist zu berücksichtigen, in welchem Zeitraum der Umbau vollzogen werden kann. Die Gutachten nennen Jahreszahlen zwischen 2013 und 2017; Sie aber nennen das Jahr 2022 und feiern das als große Errungenschaft. Ich erinnere daran: Da waren wir vor einem halben Jahr schon einmal. ({3}) An dieser Stelle möchte ich auch nicht verschweigen, dass mit mir damals viele den Zeitraum für den rot-grünen sogenannten Atomausstieg für zu lang hielten und als Laufzeitgarantie empfunden haben, die mit den Konzernen ausgehandelt worden war. ({4}) Nun nennen Sie 2022 in der Hoffnung, dass deswegen keine Klagen eingereicht werden. Gestern haben wir aber gehört, dass es Klagen geben wird. ({5}) Wir haben es als Drohung empfunden, dass der Eon-Vertreter in der gestrigen Anhörung sagte: Wir werden die Vermögensschäden konkret beziffern und mit der Bundesregierung erörtern und auf Gespräche setzen, um juristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. - Sie wollen also weiterkungeln, und sie wollen Entschädigungen. Dabei wissen Koalition und Konzerne, dass nach einem Verfassungsgerichtsurteil von 1991 eine entschädigungslose Enteignung aus Gründen des Gemeinwohls sehr wohl möglich ist. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe von meiner Japan-Reise, die ich im Mai unternommen habe und die mich auch in die Präfektur Fukushima geführt hat, die Einsicht mitgenommen, dass aus dem GAU eine weitere Lehre zu ziehen ist. Aus vielen Gesprächen mit Flüchtlingen, aber auch mit Verantwortlichen, zum Beispiel mit Bürgermeistern und dem Gouverneur, habe ich die Lehre gezogen, dass jedes Land der Welt und jede Regierung mit der Bewältigung der Auswirkungen eines GAUs überfordert wäre. Das gibt uns den Auftrag, den schnellstmöglichen Ausstieg ernsthaft anzugehen. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen befinden sich in einem Lernprozess. Das ist erfreulich. Um die Rückfallgefährdung Ihrer eigenen Parteien in Grenzen zu halten, brauchen Sie aber einen Konsens mit denen, die das, was Sie jetzt lernen, schon immer so gesehen haben, und mit denen - teilweise sind sie in Ihrer eigenen Partei -, die das immer noch nicht so sehen wollen. Wir Grüne sind uns unserer Verantwortung durchaus bewusst. Wir wollen unsere Verantwortung gerne dafür übernehmen, dass es in dieser Gesellschaft über die Parteien hinaus einen breiten Konsens gibt; denn wir wissen so gut wie Sie, dass Sie einen gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage ohne die Grünen nicht bekommen werden. ({0}) Wir sind uns aber auch der Verantwortung bewusst, dass gerade wir ganz genau darauf achten müssen, dass Ihre Vorlage zum Atomausstieg und das, was wir hinterher beschließen sollen, die Lehren aus Fukushima tatsächlich berücksichtigt. Da haben wir noch Beratungsbedarf. Nehmen wir das Thema Sicherheit. Wo findet man das Thema Sicherheit in Ihrem Gesetzentwurf? Um Sicherheit zu gewährleisten, bedarf es gar nicht viel: NehSylvia Kotting-Uhl men Sie § 7 d Atomgesetz zurück, der die Sicherheitsanforderungen relativiert. ({1}) Dann würde wieder der Stand von Wissenschaft und Technik gelten, den bekanntermaßen nichts toppen kann. Auf dem Stand von Wissenschaft und Technik führen wir dann Sicherheitsanalysen durch, für die mehr Zeit zur Verfügung steht, als Sie der RSK gegönnt haben, und stellen anschließend Nachrüstanforderungen. Dann haben wir für die Sicherheit etwas getan. ({2}) Zu dem von Ihnen angestrebten Ziel der Unumkehrbarkeit. Wir wissen: Gesetze kann man ändern, auch Meinungen können sich ändern. Wir erleben das gerade sehr häufig, in regelmäßigem Turnus. ({3}) - Ja, man kann alles ändern. - Wenn es Ihnen aber ernst damit ist, so nah wie möglich an das Ziel der Unumkehrbarkeit heranzukommen, frage ich Sie: Warum schieben Sie das Ende des Atomausstieges, von heute aus gesehen, in eine dritte Legislatur? Das ist ja eine längere Frist, als in der Empfehlung der Ethik-Kommission vorgesehen. In dieser dritten Legislatur, nach der dritten Bundestagswahl, stehen theoretisch noch sechs Kraftwerke zur Abschaltung an. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Töpfer zitieren, der auf meine Frage hin gestern sagte: Wir wollten nicht, dass der Ausstieg 2021 beginnt, sondern dass er 2021 endet. ({4}) Was aber vor allem fehlt, ist eine Konkretisierung Ihrer angekündigten Bereitschaft, sich auf eine ergebnisoffene Endlagersuche zu begeben. Wenn Sie sagen, Sie wollen andere Gesteinsformationen prüfen, so ist das ein bisschen dünn. Die neueste Vorschrift im Gesetz dazu ist die Enteignungsklausel für Gorleben, die Lex Gorleben. Ich sage Ihnen: Das überzeugt niemanden. Wer eine Endlagersuche ernst meint, damit beginnen und ein Gesetz dazu erlassen will, der kommt ohne einen Baustopp in Gorleben nicht aus. Niemand wird Ihnen abnehmen, dass Sie es wirklich ernst meinen. Darüber hinaus sage ich Ihnen: Ohne den Brandherd dort zu befrieden, werden Sie keinen gesellschaftlichen Konsens herstellen können. Voraussetzung für einen solchen Konsens ist ein Baustopp in Gorleben. ({5}) Ihre Vorlage ist Ausdruck eines Lernprozesses. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen der nächsten Wochen - die Zeit ist kurz genug, aber wenn man sich anstrengt, ist es möglich - das, was Ausdruck Ihres Lernprozesses ist, gemeinsam so verbessern, dass es den Lehren aus Fukushima entspricht. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Norbert Röttgen. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alois Glück, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat heute erklärt, die Energiewende sei die größte Herausforderung für Deutschland und die deutsche Gesellschaft seit der Wiedervereinigung. Ich füge hinzu, dass nach meiner Auffassung mit diesem Projekt auch die größten Chancen für unser Land verbunden sind, die es seit langem gegeben hat. Dabei ist die Lage nicht so, wie sie vor zehn Jahren war. Frau Kotting-Uhl, Sie haben gerade auf Fukushima hingewiesen. Das war am 11. März dieses Jahres. Fukushima war und ist - das haben wir übereinstimmend festgestellt eine Zäsur. Fukushima ist eine neue Menschheitserfahrung: die Erfahrung der Nichtbeherrschbarkeit der Kernenergie in einem Hochtechnologieland. Eine Gesellschaft darf das aufnehmen, eine Gesellschaft sollte das aufnehmen. Die Politik ist ebenfalls gut beraten, wenn sie aus den weltweiten Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gemacht worden sind, lernt. Darum ist die Situation heute nicht die gleiche wie vor zehn Jahren. Vor zehn Jahren hat es keine Einladung an die Opposition gegeben, zu einem parteiübergreifenden, fraktionsübergreifenden gesellschaftlichen Konsens zu kommen, wie sie heute zum Beispiel Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion ausgesprochen hat. ({0}) Es hat auch keine Einladung an die Ministerpräsidenten gegeben, in dieser Frage zu einem Konsens zu kommen. ({1}) Heute befinden wir uns in der Konsensbildung an einer ganz anderen Stelle als vor zehn Jahren. ({2}) Das ist eine positive Entwicklung in Deutschland. ({3}) Vor zehn Jahren gab es auch noch nicht 17 Prozent Anteil der erneuerbaren Energien am Strom. Dieser Prozentsatz hat sich erheblich gesteigert. ({4}) Die technologisch-industriellen und ökonomischen Möglichkeiten, die wir heute haben, bedeuten eine große Chance. Wir sollten sie gemeinsam ergreifen. Die Botschaft an die Bevölkerung muss heute sein, ({5}) Gemeinschaft, Gemeinsinn und damit eine große Chance für Deutschland zu realisieren. Das muss unsere Debatte bestimmen. ({6}) Ich bin davon überzeugt, dass es um Gemeinsamkeit und Gemeinschaft geht. ({7}) - Das möchte ich jetzt gern ausführen, Herr Kollege Fell. - Das Wesen der Demokratie ist nicht Harmonie und auch nicht, dass wir alle einer Meinung sind und immer das Gleiche wollen. Zum Wesen der Demokratie gehören vielmehr Kontroverse und Auseinandersetzung als ein Funktionselement oder ein Lebenselement von Demokratie. Einer Demokratie tut es gut, ja es ist geradezu notwendig für eine gute Entwicklung, dass eine Gesellschaft auch in der Lage ist, über Grundfragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung einen Konsens zu erreichen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Nein. Ich habe ja gesagt, dass ich gleich gerne darauf zurückkomme. Ich finde es positiv - es gehört doch zu unserer gemeinsamen Erfahrung -, dass wir in der Kontroverse, in dem Kampf zwischen Kapital und Arbeit, in der sozialen Marktwirtschaft einen Ausgleich gefunden haben. Es gehört zu unseren positiven Erfahrungen, dass wir in dem Konflikt zwischen Friedensziel und der Bereitschaft zu militärischen Einsätzen einen Ausgleich gefunden haben. Es ist für manche sehr schmerzhaft, diesen Weg zu gehen, aber es ist doch Ausdruck von demokratischer Entwicklung und Reife, dass man sich selber korrigiert und zu neuen gemeinschaftlichen Positionen kommt. In diesen Kontext stelle ich, dass wir in Deutschland zu der Überzeugung kommen, dass es keinen Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie gibt, sondern dass es ein großes Ziel ist, die Bewahrung der Lebensgrundlagen, die Bewahrung der Schöpfung in unsere Vorstellung und Konzeption von Wachstum, Industrie und Wirtschaft zu integrieren. Damit erreichen wir in Deutschland ein großes Ziel und einen wichtigen Ausgleich. ({0}) Wir sollten den Blick nicht zurückwenden, sondern die Chancen für unser Land ergreifen, indem wir fragen: Welche Möglichkeiten bietet die Situation jetzt für die Zukunft? ({1}) Diese Regierung ist entschlossen, diesen Weg zu gehen. Wir sind entschlossen, den gesellschaftlichen Konsens, den es in Deutschland gibt, in Politik und Gesetzgebung zu realisieren. ({2}) Frau Kotting-Uhl, das, was Sie gerade gesagt haben, war, glaube ich, falsch. Sie haben eben gesagt: Die Grünen entscheiden darüber, ob es Konsens in der Gesellschaft gibt. ({3}) - Wir können es ja im Protokoll nachlesen. Ich habe Ihrer Rede zugehört. ({4}) Ich glaube, niemand - keine Person, kein Mitglied des Bundestages, keine Fraktion - sollte sich zu wichtig nehmen. Die Gesellschaft möchte diesen Konsens, und wir als Parteien disponieren nicht darüber, ob die Gesellschaft Frieden, Konsens und Fortentwicklung will. Dieses Recht hat keine Fraktion und keine Partei. Wir jedenfalls wollen diesem Bedürfnis entsprechen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Kotting-Uhl?

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Bitte. Ich habe sie ja angesprochen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Röttgen, wir neigen nicht zu Überheblichkeit, auch wenn dies hier oft behauptet wird. ({0}) Ich erlaube mir, zu zitieren - ich glaube, das kann ich ziemlich genau -, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt, dass wir - so gut wie wohl auch Sie - wissen, dass es in dieser Frage ohne die Grünen keinen gesellschaftlichen Konsens geben wird. Stimmen Sie mir da zu? ({1})

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Genau so hatte ich Sie verstanden und wollte ich Sie zitieren. In dieser Selbsteinschätzung stimme ich Ihnen ausdrücklich nicht zu. Die Grünen entscheiden nicht darüber, ob es in Deutschland einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Vielmehr ist der gesellschaftliche Konsens da, ({0}) und Sie müssen sich entscheiden, ob Sie Teil des gesellschaftlichen Konsenses sind oder ob Sie außen vor bleiben. ({1}) Das ist die Frage, die Ihnen Schmerzen bereitet. Darum habe ich Verständnis für manche Rede, die Sie halten. Für die Zerrissenheit bei Ihnen habe ich Verständnis, über die mache ich mich auch nicht lustig, sondern die nehme ich sehr ernst. ({2}) Für Sie stellt sich die Frage, ob Sie jetzt Gesetzentwürfen, die von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden sind und in denen der Ausstieg aus der Kernenergie und der Einstieg in die erneuerbaren Energien zeitlich definiert werden, zustimmen. ({3}) Die Gesetzentwürfe wurden von den Koalitionsfraktionen und nicht von Ihnen eingebracht. Das ist der Punkt, mit dem Sie sich auseinandersetzen müssen. ({4}) Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sich nicht so wichtig, sondern stellen auch Sie sich in den Dienst der Fortentwicklung der Gesellschaft! Das ist Ihre Aufgabe und Verantwortung. Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht, und verfolgen Sie nicht parteipolitische Interessen! ({5}) Wir haben viel erreicht. Sie müssen sich jetzt entscheiden, ob Sie zustimmen oder außen vor bleiben. Wir haben eine ethische Haltung zur Kernenergie und zur Bewertung des Risikos der Kernenergie erreicht. Die Bundeskanzlerin hat das ausgeführt. Sie hat die ethischen Aspekte genannt, die uns zu der Entscheidung zum Ausstieg führen, nämlich dass wir im Hochtechnologieland Japan erneut die Erfahrung der Nichtperfektion des Menschen, der Nichtbeherrschbarkeit der Natur und der Nichteingrenzbarkeit der Schäden gemacht haben. ({6}) Das ist eine Erfahrung, die die Menschheit gemacht hat. Daraus ziehen wir die ethische Konsequenz, dass es geboten ist, die wirtschaftliche Nutzung dieser Technologie zu beenden. Schon allein deshalb, weil wir eine bessere Alternative haben, ist die Beendigung richtig und ethisch fundiert. In dieser Frage besteht ein ethischer Konsens. ({7}) Wir haben daraus allerdings auch eine Konsequenz in anderer Richtung gezogen - auch dies ist ein Unterschied zur Situation vor zehn Jahren -: Die rot-grüne Ausstiegskonstruktion sah eine nicht befristete, eine zeitlich nicht bestimmte Übertragung von Strommengen vor. Nach dem Gesetz von 2002, dem Ausstiegsgesetz von damals, wäre es ganz sicher nicht zur Beendigung der Nutzung der Kernenergie bis zum Jahre 2022 gekommen. Vielmehr wäre die Kernenergie bis weit in die Mitte des nächsten Jahrzehnts genutzt worden. Der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, bietet durch die vorgesehene zeitliche Staffelung die Chance, Klarheit zu schaffen. Für die Gesellschaft, aber auch für die Investoren wird Klarheit bestehen, wohin die Investitionen jetzt fließen müssen, wenn man eine Rendite erzielen will. Das ist ein wesentlicher Vorzug dieses Gesetzentwurfes und eine wesentliche Veränderung im Vergleich zu der Gesetzeslage, die Sie hier beschlossen haben. Nehmen Sie das zur Kenntnis. ({8}) Das ist auch nicht Hysterie und nicht Panik, sondern eine rationale, eine ethische Bewertung, die auch von der großen Mehrheit der Gesellschaft so vorgenommen wird. ({9}) Dass Gesetzgebung, Politik und Parlament dies aufnehmen, ist positiv.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Nein. ({0}) Ich möchte den zweiten Konsens, den wir erreicht haben, darstellen. Die Energiefrage betraf in Deutschland immer den Kern von Industrie. Darum ist die Frage einer neuen Energiepolitik auch eine Frage der wirtschaftlichen Modernisierung unseres Landes. Wir wollen nämlich Industrieland bleiben, und wir werden Industrieland bleiben. ({1}) Wir wollen wirtschaftliches Wachstum, und wir werden es erzielen. Durch die neue Energiepolitik wollen wir das wirtschaftliche Wachstum nicht begrenzen und die Industrie nicht einschränken. Vielmehr geht es um wirtschaftliche Modernisierung und technologische Innovation, die unserem Land guttun werden, auch bei der Entwicklung der Industrie. ({2}) Manche sagen: Ihr müsst investieren; das kostet doch Geld. - Ja, klar. Glauben wir denn, dass wir als führendes Industrieland in einem Billigwettbewerb bestehen könnten? Glauben wir denn, dass wir unsere Technologieführerschaft und unsere wirtschaftliche Spitzenstellung dadurch behalten, dass wir nicht in Infrastruktur, Energieerzeugung und Industrie investieren? Nein, diese neue Energiepolitik ist ein Investitionsprogramm, sie ist ein Modernisierungsprogramm, und sie ist ein Innovationsprogramm. Sie leistet einen Beitrag dazu, dass wir ein führendes Industrieland bleiben werden. Darum ist die Frage „Kostet der Strom dann 0,3 Cent oder 0,8 Cent pro Kilowattstunde mehr?“ falsch. ({3}) Die Kosten werden beherrschbar sein. Das sind Investitionskosten zum Nutzen unseres Landes. - Das ist der Konsens, den wir erreicht haben. ({4}) Wir müssen dafür eine weitere Veränderung vornehmen, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz betrifft. Seinen Ursprung hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz übrigens im Stromeinspeisungsgesetz, das 1991 in Kraft getreten ist; bei diesem Thema sollte man also etwas weiter in die Vergangenheit blicken. Das Stromeinspeisungsgesetz wie auch jetzt das Erneuerbare-EnergienGesetz sind im Wesentlichen - bislang war das auch richtig - ein Fördergesetz bzw. ein Subventionsgesetz, um Technologien, die noch nicht wettbewerbsfähig sind, in den Markt zu bringen. Wir haben es geschafft, den Anteil erneuerbarer Energien an der gesamten Stromproduktion auf 17 Prozent im Jahr 2010 zu erhöhen. Im Laufe von gut zehn Jahren kam es zu einer Vervielfachung des Anteils erneuerbarer Energien. Jetzt wollen wir eine weitere Verdopplung oder sogar eine Verdreifachung erreichen. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung soll sich bis 2050 auf 80 Prozent erhöhen. Die Grundversorgung mit Strom soll dann durch den Einsatz erneuerbarer Energien gewährleistet werden. Das kann man aber nicht mehr auf der Basis eines Subventionsgesetzes leisten. Daher muss sich der Charakter des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verändern: von einem Subventionsgesetz zu einem Marktordnungsgesetz. Wir wollen diese Technologien in den Markt führen. Dort sollen und werden sie sich bewähren. ({5}) Auch dies ist ein Unterschied zu früher: Wir setzen nicht auf planwirtschaftliche Steuerung, sondern auf marktwirtschaftliche Instrumente und Ordnung. Wir glauben, beides miteinander verbinden zu können: eine ökologische Ausrichtung in der sozialen Marktwirtschaft. Das ist jedenfalls unsere konkrete Vision. Ich glaube, dies wird auch von der Bevölkerung gewollt. Dritter Punkt. Was bedeutet das im Hinblick auf Wachstum? Es wird gesagt: Das ist ein Sonderweg; unsere Nachbarn sind irritiert. - Selbstverständlich beobachten unsere Nachbarn, was in Deutschland passiert. Sie fragen sich: Ist das richtig? Muss uns das besorgen? Inwiefern sind wir davon betroffen? Ich glaube, zum Konsens in unserer Gesellschaft gehört, dass wir Wachstum anders verstehen müssen. Zwei Missverständnisse, zwei historische Fehlverständnisse von Wachstum dürfen wir nicht beibehalten. Das eine ist aus meiner Sicht der postmaterialistische Irrtum, wir könnten und sollten auf Wachstum verzichten, um die Natur zu schützen. Wir werden ohne Wachstum keine erfolgreiche solidarische Gesellschaft sein und bleiben. Darum gehört das Wachstumsbekenntnis in diese Debatte. Wir sind eine Gesellschaft, die nur aufrechtzuerhalten ist, wenn es Wachstum gibt. ({6}) Zum anderen geht es darum, die Grenzen der Natur in unsere Vorstellung und unsere Konzeption von Wachstum zu integrieren. Wachstum darf nicht mehr, wie es seit der Industriealisierung der Fall war, durch den Verbrauch und die Zerstörung von Natur, durch Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen entstehen. ({7}) Die neue Vorstellung von Wachstum besteht darin, dass wir die technologische Entwicklung, wie es sie beispielhaft in der Energieversorgung gibt, in unsere Industrieund Wachstumspolitik integrieren. Es ist nicht mehr derjenige der Gewinner, der am meisten Ressourcen verbraucht. Wir gewinnen den Wettbewerb um mehr Wohlstand und mehr Gerechtigkeit in unserer Zeit nur dann, wenn wir mit immer weniger Verbrauch von Natur und Ressourcen immer mehr produzieren. Das ist unser Ziel. Darin besteht der Wettbewerb unserer Zeit, und wir wollen diesen Wettbewerb gewinnen. ({8}) Neu ist schließlich die Chance auf einen Konsens. Wir brauchen diesen Konsens, weil es eine nationale Pioniertat ist, für die wir alle brauchen: die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Mittelständler, die großen Unternehmen, die Kommunen, die Länder, den Bund und auch die Bürger, die mitmachen, die sich in Energiegenossenschaften zusammenschließen und Energieerzeuger werden, die nicht nur passive Verbraucher sind, sondern über intelligente Systeme und Zähler selber bestimmen können, wann sie welchen Strom verbrauchen. Ein Teil dieses Konsenses ist der Konsens über die sichere dauerhafte Lagerung von hochradioaktiven Abfällen. Auch hier gibt es eine Veränderung hinsichtlich der Wahrnehmung nationaler Verantwortung, und ich glaube, das sollten wir sehr positiv würdigen. Aber auch an dieser Stelle muss Klarheit herrschen. Die Augen zu verschließen und nicht zu untersuchen, führt nicht zum Ziel. Wir haben diese radioaktiven Abfälle. Es ist in unserer Verantwortung, sie dauerhaft sicher zu lagern. Darum ist es falsch, zu sagen: Wir machen ein Moratorium und beschäftigen uns nicht mit dieser Frage. - Natürlich muss die Eignung des Standorts Gorleben unter Beteiligung der Öffentlichkeit ergebnisoffen - ich betone und unterstreiche das: ergebnisoffen - geprüft werden. ({9}) Es müssen aber - über Gorleben hinaus - auch andere Optionen der Endlagerung, andere geologische Formationen untersucht werden. Auch das ist eine neue Entwicklung hin zum Konsens in dieser Gesellschaft. Ich sage darum heute auch an die Bevölkerung gerichtet: Das ist eine veränderte Situation. Hier entsteht ein gemeinschaftlicher Wille, und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das zum Nutzen unseres Landes ist. Der Erfolg, den wir haben werden, wird über unser Land hinausstrahlen, ein positiver Beitrag sein und ein Beispiel dafür geben, dass es in einem Hochtechnologieland, im Industrieland Deutschland möglich ist, die Bewahrung der Lebensgrundlage und der Schöpfung mit einer klaren Wachstums- und Industriepolitik zu verbinden. Das ist eine große Chance. Wir sollten sie gemeinschaftlich ergreifen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu zwei Kurzinterventionen erteile ich zunächst Hans-Josef Fell und dann Bärbel Höhn.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister Röttgen, Sie haben gerade gesagt, die erfolgreiche Entwicklung der erneuerbaren Energien müssten wir gemeinsam weiterführen. Sinngemäß haben Sie gesagt, es gebe dafür in der Bevölkerung eine große Akzeptanz und auch Innovations- und Investitionsbereitschaft. Ich kann diese Worte nur unterstreichen; ich halte das für richtig. Ich frage Sie aber: Warum haben Sie einen Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG vorgelegt, mit dem exakt das Gegenteil bewirkt wird? Wir hatten gestern im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages eine vierstündige Anhörung zur geplanten Reform des EEG. Die Verbändevertreter haben diesen Gesetzentwurf aufgrund vieler Details schlichtweg zerrissen und ihn als klare Bremse für den Ausbau der erneuerbaren Energien bezeichnet. Der Bundesverband WindEnergie hat beispielsweise gesagt, dass es wegen der von Ihnen angekündigten Verschlechterungen bei der Onshorewindvergütung schon jetzt eine Investitionszurückhaltung in den südlichen Bundesländern gibt. Der Vorsitzende des Bundesverbandes BioEnergie, Herr Lamp, ein ehemaliger CDU-Kollege dieses Hohen Hauses, hat gesagt: Wenn das, was an Vorstellungen zur Bioenergie in diesem Gesetzentwurf enthalten ist, Realität wird, werden wir die Bioenergie in wenigen Jahren nicht mehr wiedererkennen. Er hat Details genannt und kopfschüttelnd gefragt, warum die Vergütung für Bioöle völlig abgeschafft wird. Zu einem Zeitpunkt, wo wir eine Nachhaltigkeitsverordnung auf den Weg gebracht haben, kann das doch nicht der Weg zu einem Ausbau der erneuerbaren Energien sein. Die Solarenergiebranche hat gesagt, sie verstehe die Welt nicht mehr. Sie will große Investitionen beispielsweise in Freiflächenanlagen tätigen, um mehr Netzstabilität, Netzintegration und Speicherfähigkeit zu erreichen. Sie hat aber angesichts des Gesetzentwurfs, in dem die Ackerflächen nicht mehr berücksichtigt werden, keine Chance, in diese Bereiche zu investieren. Das alles ist eine Folge der Rahmenbedingungen, die Sie schaffen wollen. Die Deckelung des Anteils erneuerbarer Energie auf 35 Prozent bis zum Jahr 2020 stellt keinen beschleunigten Ausbau dar. Frau Merkel hat es in ihrer Rede noch einmal betont: Sie wollen über die Deckelung der EEG-Umlage auf 3,5 Cent eine Gesamtdeckelung für den Ausbau erneuerbarer Energien erreichen. Herr Fuchs hat hier mit ganz klaren Worten gesagt, die Solarenergie solle gedeckelt werden. Wie soll denn ein Ausbau erneuerbarer Energie noch möglich sein, wenn Sie im Detail solche Hemmnisse einbauen? ({0}) Es wird keinen Ausbau geben, wenn erfolgen wird, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen. Ich fordere Sie daher auf: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück, und treten Sie in Verhandlungen mit der Branche ein! So haben wir eine Chance, den Ausbau der erneuerbaren Energien, der gesamtgesellschaftlich gewünscht wird, auch wirklich voranzutreiben. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Die drei Minuten für die Kurzintervention sind abgelaufen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse ({0}) - Dann hat jetzt Kollegin Bärbel Höhn das Wort und anschließend Barbara Hendricks, die sich ebenfalls zu einer Kurzintervention gemeldet hat. Danach gibt es keine weiteren Kurzinterventionen zu dieser Rede.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich brauche keine Redezeit von drei Minuten. - Herr Minister Röttgen, Sie haben eben darauf hingewiesen, dass es jetzt an der Zeit ist, miteinander zu verhandeln, und dass Sie einen gesellschaftlichen Konsens wollen. Wir wollen mit Ihnen verhandeln. Ich möchte darum bitten - dazu werde ich Ihr Büro anrufen -, dass wir einen Termin vereinbaren. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne wissen: Wer hat Prokura? Sollen wir mit Herrn Kauder, mit Ihnen oder mit der Kanzlerin reden? Wir haben eben gefragt, ob es in Gorleben einen Baustopp gibt. Wir sind der Meinung, dass es keine ergebnisoffene Suche geben kann, wenn Sie Fakten schaffen. Wir wollen auch gerne wissen, was Sie zur Sicherheit sagen. Vor einem halben Jahr haben Sie gesagt, Sie seien der Minister für Sicherheit. Nach Fukushima sehen wir aber keinerlei zusätzliche Sicherheitsanstrengungen bei den Atomkraftwerken. Ich werde also mit einem Terminwunsch auf Sie zukommen. Ich erwarte, dass wir einen Termin vereinbaren und dass wir Grüne mit Ihnen über die uns wichtigen Punkte des Gesetzentwurfs reden. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Barbara Hendricks das Wort zu einer letzten Kurzintervention.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben durchaus versucht, Ihre inhaltliche Neupositionierung argumentativ zu überhöhen. In dem Zusammenhang haben Sie zum Beispiel gesagt, es sei eine neue ethische Erkenntnis, dass der Mensch nicht unfehlbar und die Technik deswegen nicht immer beherrschbar sei. Ich habe einmal nachgeschaut und herausgefunden, dass Sie derselben christlichen Kirche angehören wie ich. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, dass es für einen Christen eine neue ethische Erkenntnis ist, dass der Mensch nicht unfehlbar sei und dass die vom Menschen erschaffene Technik nicht immer beherrschbar sei. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Herr Kollege Fell, es ist ja der erste Versuch, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Sie stellen aber Behauptungen auf, die sachlich falsch sind. ({0}) - Ich rede von dem Gesetzentwurf, den Sie kritisiert haben, und zwar im Tonfall der Empörung. Ich frage mich immer, was die wahren Gründe dafür sind. Sie haben gesagt, es gebe beim Ausbau der erneuerbaren Energien eine Deckelung auf 35 Prozent. Das ist Unsinn; das steht nicht im Gesetzentwurf, das schlagen wir nicht vor. An dieser Stelle können Sie Ihre Empörung ein Stück zurückschrauben. Es gibt keine 35-Prozent-Deckelung, sondern diese 35 Prozent sind eine Mindestgröße. Wir glauben, dass wir vielleicht sogar noch mehr erreichen können. Aber unsere Aufgabe ist es, innerhalb von neun Jahren mehr als eine Verdoppelung des bisherigen Anteils auf mindestens 35 Prozent zu erreichen. Das ist ein anspruchsvolles Ziel. Wenn wir von 40 Prozent gesprochen hätten, hätten Sie wahrscheinlich erklärt, 40 Prozent seien zu wenig, es müssten mindestens 45 Prozent sein. Insofern müssen Sie sich selber einmal fragen, ob Sie noch realistische Ziele verfolgen und realistische Oppositionspolitik machen. Es ist ein Mindestziel, keine Deckelung. Genauso gibt es bei der EEG-Umlage keine Deckelung auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde. Allerdings wollen wir das EEG so ausgestalten, dass wir diese Größenordnung halten und langfristig absenken können; denn diese bezahlen die Verbraucher. Es klingt schön, wenn in den Reden immer mehr gefordert wird, aber diese Rechnung wird ohne den Wirt gemacht. Der Wirt ist der ganz normale Bürger und die ganz normale Bürgerin in Deutschland. ({1}) Damit bin ich bei Ihrer Anhörung. Ich rede mit den Verbänden und respektiere sie, weil sie die Vertreter der Interessen von Unternehmen sind. Sie sind keine Träger von Allgemeinwohlbelangen, sondern sie sind Vertreter wirtschaftlicher Interessen, ({2}) die sich dafür einsetzen, dass die Subventionen für ihre Unternehmen möglichst hoch sind, um das einmal klar zu sagen. Sie sollten zu diesen Vertretern wirtschaftlicher Interessen die gleiche Distanz haben, die Sie zu anderen Vertretern wirtschaftlicher Interessen haben, nicht weil sie etwas Illegitimes tun, sondern weil sie legitim ihre ureigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen, und je höher die Subventionen sind, desto erfolgreicher war der Verband. Auf diese Verbände haben Sie sich gerade bezogen. Ein bisschen Distanz zu ihnen ist schon angemessen. ({3}) Ich kenne das. Subventionen zu senken, ist schmerzhaft. Stellen Sie sich ein Gesetz mit garantierten Subventionen vor, die immer höher werden sollen, und in diesem Gesetz soll festgeschrieben werden, dass die Kilowattstunde bezahlt wird, unabhängig davon, ob dieBundesminister Dr. Norbert Röttgen sen Strom irgendein Mensch braucht. So kann es nicht bleiben. Wir müssen diese Subventionsabhängigkeit zu einer Marktintegration dieser Branchen umlenken. Auch diese Branchen müssen sich daran orientieren, ob man das Produkt, das sie herstellen, braucht. ({4}) Ansonsten werden wir das nicht schaffen. Das ist doch kein böser Wille. Wie soll denn eine Versorgung von 50 oder 80 Prozent mit erneuerbaren Energien gelingen, wenn Strom unabhängig davon produziert wird, ob ihn irgendein Mensch braucht? Wir müssen auch in diesen Bereich ein bisschen Nachfrageorientierung und Markt hineinbringen, sonst werden wir scheitern. Mit gutem Willen allein kann man keine Energieversorgung erreichen, Herr Kollege. ({5}) Das war das, worauf ich kurz hinweisen wollte. Wenn man all das einmal nüchtern und sachlich betrachtet, dann stellt man fest, was da an positiven Veränderungen stattfindet. Ich wollte die Erfahrungen, die wir gemacht haben, gerne noch mitteilen. Ihre Reden habe ich persönlich nicht alle nachgelesen. Ich habe vorher nicht historisch recherchiert, sondern habe heute in meiner Rede nach vorne gesehen. Aber vielleicht lesen Sie einmal Ihre Reden nach, als es um die erste Reduzierung der Photovoltaikvergütung ging, die wir eingebracht und beschlossen haben. Sie haben damals den Tod der Branche vorausgesagt. Sie sagten, ich sei der Totengräber, die Reduzierung sei so falsch, wie sie nicht falscher sein könne, und auch die Branche sei dagegen. Was haben wir erlebt? Ein munteres und lebendiges Wachstum dieser Branche, sodass wir im zweiten Anlauf eine nochmalige Senkung der Vergütung vorgenommen haben, und zwar im Konsens mit der Branche. Diese Branche hat gelernt, dass es auf Dauer auch für sie keine Perspektive ist, nur mit immer höheren Subventionen zu wirtschaften. Sie hat gelernt, alleine erfolgreich zu sein. Ich empfehle dieses Lernbeispiel auch allen anderen. ({6}) Frau Höhn, wir können gerne einen Termin vereinbaren. Herr Brüderle hat sich schon gemeldet; er möchte zum Gespräch hinzukommen. ({7}) - Gut, wer auch immer. - Es geht aber nicht darum, dass wir jetzt verhandeln. Wir befinden uns in einer parlamentarischen Beratung. Es hat eine Anhörung stattgefunden. Es gibt selbstverständlich die Offenheit, auf vernünftige Anregungen einzugehen, miteinander zu diskutieren, um zu einem gemeinschaftlich guten Ergebnis zu kommen. Wir sind aber doch keine Verhandlungsparteien, die sich gegenüberstehen. Vielleicht versuchen Sie einmal, sich dem Gedanken zu öffnen, dass es hier darum geht, ein nationales Werk zu schaffen, von dem alle profitieren. Wir sollten uns in den Dienst der nationalen Sache stellen. Das wäre doch einmal ein Ansatz, an ein solches Thema heranzugehen. ({8}) Frau Hendricks, es ging doch nicht um die neue anthropologische Erkenntnis der Beherrschbarkeit bzw. Nichtbeherrschbarkeit der Natur und der Begrenztheit auch des Menschen. Ich habe die Positionierung des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner, aus dem Jahr 1980 nachverfolgt. Er hat aus dem Spannungsfeld zwischen einerseits dem minimalen bzw. klitzekleinen Risiko der Eintrittswahrscheinlichkeit und andererseits der Nichtbegrenzbarkeit der Schäden heraus für sich damals die Position bezogen: Weil die Schäden so immens und nicht begrenzbar sind und weil sie sich über Generationen fortsetzen, verlange ich absolute Sicherheit. Die gibt es - naturwissenschaftlich und anthropologisch - nicht. Darum gab es vor 30 Jahren die ethische Positionierung von Kardinal Höffner und übrigens - auch damals schon - der Deutschen Bischofskonferenz gegen die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie. Aber Kardinal Höffner hat niemals gesagt: Das kann man gar nicht anders sehen. Vielmehr geht es darum, wie eine Gesellschaft mit Risiken umgeht, welche sie bereit ist hinzunehmen und in Bezug auf welche sie sich zutraut, zu sagen: Das können wir beherrschen. Weil wir alles tun, sind wir in der Lage, mit dieser Technologie umzugehen. - Das ist übrigens eine der Grundfragen moderner Gesellschaften bzw. Risikogesellschaften. Dabei geht es um eine der ernstesten Diskussionen unserer Zeit. Darum sind Sie, glaube ich, etwas oberflächlich mit dieser Frage umgegangen, Frau Kollegin. Ich glaube, dass die Frage der ethischen Verantwortung in der Risikogesellschaft eine der Grundfragen auch zukünftiger technologischer Entwicklung sein wird. Übrigens sind auch die erneuerbaren Energien nicht nur gut; auch sie führen zu Eingriffen und Belastungen, auch da gibt es Konflikte. Das wird eine uns immer begleitende Frage sein, nämlich die ganz konkrete Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfung. Diese ganz konkrete Bestimmung haben wir hier an einer Stelle vorgenommen. Ich glaube, dass sie richtig ist und auch in der Gesellschaft mit vollzogen wird. Danke sehr. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort in der Debatte hat nun Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Debatte, die jetzt für einige Zeit unterbrochen war, haben Sie - da muss man, glaube ich, den Rednern der Regierungskoalition ein Kompliment machen - ein unglaubliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Wenn man bedenkt, dass Sie heute, zum Beispiel Herr Röttgen, den Atomausstieg teilweise mit den gleichen Worten begründet haben wie vor einem halben Jahr die Laufzeitverlängerung - also das komplette Gegenteil -, kann man nur sagen: bewundernswert, ganz toll. Nachdem Sie den Karren sozusagen vor die Wand gefahren haben, begehen Sie außerdem Fahrerflucht und zeigen auf alle anderen, die es gewesen sein sollen. ({0}) Sie sind diejenigen, die meinen, uns jetzt daran erinnern zu müssen, dass zum Ausstieg aus der Kernenergie auch der Einstieg in etwas Neues gehört. Meine Damen und Herren, das ist Chuzpe. Ich will Sie daran erinnern, dass wir es mit unserer Gesetzgebung waren, die dafür gesorgt haben, dass aus 5 Prozent erneuerbare Energien im Strombereich 17 Prozent geworden sind. ({1}) Das ist nicht von allein geschehen. Wir haben mit dem Atomausstieg und durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz die Rahmenbedingungen gesetzt, die diese Investitionen überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir waren es, die das, was Sie jetzt als Forderungsliste aufgestellt haben, schon längst begonnen hatten. Ihre Forderungsliste - damit spreche ich beispielsweise Frau Hasselfeldt an - ist im Grunde genommen Ihre Blockadeliste. Ich kann das im Einzelnen aufführen. Sie sagen, Sie sorgen jetzt dafür, dass endlich auch in Effizienz investiert wird. Sie haben Fortschritte bei der effizientesten Form der Energieumwandlung, der KraftWärme-Kopplung, verhindert. ({2}) Sie haben in Ihrer jüngsten Regierungszeit die KraftWärme-Kopplung sogar noch mit zusätzlichen Auflagen erschwert. Sie haben auf der Nachfrageseite, also da, wo Energieeffizienz sozusagen beim Kunden beginnen soll, schon in der schwarz-roten Koalition alle unsere Ansätze blockiert, die - das propagieren Sie heute - etwa über einen Energieeffizienzfonds Haushalte beim effizienteren Umgang mit Energie unterstützt hätten. Sie haben die Industrie in den letzten anderthalb Jahren nicht etwa unterstützt, wie Sie das heute gefordert haben, sondern ihr zusätzliche Kosten auferlegt. Sie haben für die Industrie die Ökosteuer erhöht, wenn auch nicht in dem Umfang, wie es die Regierung zunächst vorgeschlagen hatte. Jetzt tun Sie so, als seien Sie der Erfinder einer industriefreundlichen Politik, in der Erkenntnis, dass wir nur durch das Vorhandensein einer vernetzten Industrie besser aus der Krise herausgekommen sind als viele andere. Sie haben, um beim Thema Energieeffizienz zu bleiben, das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm zusammengestrichen. Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in Sachen Energiewende Nachhilfeunterricht nötig und müssten nicht nur lernen, wie man aussteigt, sondern auch umsteigt, dann sagen wir Ihnen: Wir waren schon lange auf dem Weg und hätten schon sehr viel weiter sein können. Sie haben das auch schon in Zeiten unserer schwarz-roten Koalition blockiert. ({3}) Ich könnte die Aufzählung fortsetzen, wie Sie beispielsweise beim Netzausbau neue Technologien blockiert und beim Speicherausbau notwendige Anreize verhindert haben oder wie Sie - das haben Sie heute als besondere Errungenschaft propagiert - in der letzten Legislaturperiode verhindert haben, dass wir mit der Systemintegration der erneuerbaren Energien vorankommen. Dazu hatten wir schon Vorschläge vorgelegt. Jetzt bewegen Sie sich. Aber die Marktprämie greift zu kurz; das hat die Anhörung gestern gezeigt. Wir brauchen andere Instrumente. Ich hoffe, dass wir mit Ihnen gemeinsam zu Lösungen kommen. Heute war viel von Konsens die Rede. Bei den meisten Rednern hat aber der Stil der Rede nicht wirklich in Richtung Konsens gezeigt. Ich will eines klarstellen: Eben wurde gesagt, die Opposition sei im Jahr 2000 nicht eingeladen gewesen, sich an einem Energiekonsens zu beteiligen. Die Opposition hat sich damals Gesprächen verweigert. Sie war nicht an einem Konsens interessiert, der auf dem Atomausstieg aufbaut. ({4}) Jetzt haben wir eine völlig andere Situation. Für eine Regierung ist es leicht, der Opposition Konsensgespräche anzubieten. Aber die Lage hat sich doch völlig umgekehrt. Erstens sind wir, die Opposition, zuerst auf Sie zugegangen und haben Ihnen angeboten, Konsensgespräche zu führen. Zweitens sind Sie doch darauf angewiesen, mit uns zusammenzukommen. Denn - es ist richtig, was hier gesagt worden ist, aber man darf es nicht auf eine Fraktion beschränken - es ist wichtig, dass wir als Politiker in dieser Frage mit einer Stimme sprechen. Ohne einen politischen Konsens wird ein gesellschaftlicher Konsens unglaublich schwierig. ({5}) Dabei geht es nicht nur um die Ausstiegsfrage und das Tempo des Ausstiegs, sondern auch um die Frage, wie wir Versorgungssicherheit schaffen wollen. Wie halten wir es beispielsweise mit dem konventionellen Kraftwerkspark? Wie wollen wir es mit der Industrie halten? Was sind wir bereit für sie zu tun? Frank-Walter Steinmeier hat heute einiges zu diesem Thema gesagt, und ich glaube, es ist ein zentrales Thema. Wenn wir die Wertschöpfungskette in Deutschland verlieren, dann verlieren wir die Basis für unsere Volkswirtschaft, und dann können wir uns alle hehren Ziele auch im sonstigen energiepolitischen Bereich in die Haare schmieren. Deswegen müssen wir sehr genau darauf achten, was wir für die energieintensiven Unternehmen tun können. Dazu liegen Vorschläge vor, einige davon seit langem. Bisher ist aber nichts passiert. Nehmen wir das Thema „abschaltbare Lasten“. Viele dieser Unternehmen können abgeschaltet werden. Das ist ein hoher Wert, gerade wenn volatile Einspeisung zunimmt und wenn der Netzausbau noch nicht vollendet ist. Das muss ausreichend honoriert werden. Die Kompensation der CO2-Lasten ist genannt worden. Ich sage noch ein Weiteres: Diese Unternehmen sind Grundlaststromabnehmer. Sie bekommen ihren Strom aus Grundlastkraftwerken, bezahlen aber nach der Merit Order praktisch einen Gas-Strompreis. Das ist nicht in Ordnung. Das muss man angehen, und auch dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch. Ich bitte Sie herzlich, mit diesen Vorschlägen konstruktiv umzugehen. Wir brauchen Lösungen. Wir sind daran interessiert, mit Ihnen gemeinsam Lösungen zu finden, die über Wahldaten hinaus halten. Das muss unser gemeinsames Ziel sein, allein schon deshalb, weil Sie nur so die Akzeptanz für Infrastrukturinvestitionen in diesem Land bekommen. Wenn wir das nicht schaffen und am Ende weiter über Energiepolitik streiten, dann wird sich der Streit in der Bevölkerung fortsetzen, und dann werden Sie niemanden überzeugen können, vor Ort Investitionen zuzulassen, die er eigentlich nicht haben möchte. Also: Bitte keine Worthülsen, sondern ehrliches Bemühen um einen parteiübergreifenden Konsens! Nehmen Sie die Angebote zu Gesprächen an! Ob Sie diese Gespräche dann Verhandlungen oder Beratungen nennen, ist egal; aber sorgen Sie dafür, dass es möglich ist, ausreichend und intensiv genug über einen möglichen Konsens zu reden. Dann wird man am Ende vielleicht an der einen oder anderen Stelle ein Auge zudrücken. Das wird wahrscheinlich jeder müssen. Aber Sie sind es, die ein vernünftiges Angebot machen müssen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es auf dieser Seite des Hauses auch nur annähernd so viel Sinn für Klamauk und theatralische Auftritte gäbe wie auf jener Seite des Hauses, hätte ich eigentlich barfuß ans Rednerpult treten müssen; denn nach der Rede von Herrn Steinmeier hat es mir nicht nur die Schuhe, sondern auch die Socken ausgezogen. ({0}) Ich will auch gerne sagen, warum. Wer mit so viel falschem Pathos und Unaufrichtigkeit seine vergangene, übrigens inzwischen abgewählte, Politik im Nachhinein zu verklären versucht, der lebt nicht im Hier und Heute und im Morgen, sondern in der Vergangenheit. Das ist, glaube ich, das Grundproblem der Sozialdemokraten in diesen Tagen, nicht nur bei diesem Thema. Sie leben in der Vergangenheit. Kommen Sie mit! Machen Sie mit bei der Gestaltung der Zukunft! ({1}) Wie schrieb doch die Stuttgarter Zeitung dieser Tage so schön in einem Kommentar? Während Rot-Grün sich aus der Kernenergie herausschleichen wollte, legt diese Bundesregierung ein klares Konzept zum Umstieg vor. ({2}) Dem ist nichts hinzuzufügen; denn im Gegensatz zu Ihrer früheren Politik belassen wir es nicht bei einem Ausstiegsbeschluss, sondern wir legen feste Ausstiegsdaten fest, wir beschäftigen uns mit allen Fragen rund um den Ausstieg aus der Kernenergie, wir beschäftigen uns mit dem Ausbau aller erneuerbaren Energien, und wir beschäftigen uns auch mit Endlagerfragen, Netzausbau und Speicherkapazitäten. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich für die umfassende, auch ethisch unterfütterte Position der EthikKommission danken. Auf der Tribüne sitzt Herr Professor Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich möchte den Dank an Sie stellvertretend für die Ethik-Kommission weitergeben. Herzlichen Dank! ({3}) Lassen Sie mich als Haushälter etwas zu den haushalterischen Auswirkungen unserer Konzeption sagen; denn das ist meine Aufgabe. Der beschleunigte Umstieg in die erneuerbaren Energien wird nicht spurlos an Haushalt und Verbrauchern vorübergehen. Darauf wurde schon hingewiesen. Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass auch der Haushalt davon betroffen ist; denn es handelt sich um eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Entscheidung von großer Tragweite, sowohl in technischer als auch in volkswirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Diese Herausforderung ist nicht nur für uns auf nationaler Ebene von weitreichender Bedeutung; wir werden auch international sehr aufmerksam beobachtet. Ich finde es schon bemerkenswert, dass wir uns an die Spitze der Bewegung in diesem Bereich setzen. Wir werden sicherlich noch große Erfahrungen sammeln können, wie international darauf reagiert wird. Was heißt das aber für den Bundeshaushalt? Für die Jahre 2011 bis 2015 rechnen wir mit ansteigenden Belastungen von 0,2 Milliarden Euro bis 2 Milliarden Euro jährlich. Diese Belastungen resultieren aus folgenden Maßnahmen: Erstens, die steuerliche Förderung von Maßnahmen der energetischen Gebäudesanierung ab 2013. Das wird uns nach dem Finanztableau des Gesetzentwurfs im Entstehungsjahr zunächst einmal mit etwa 100 Millionen Euro belasten. In den Folgejahren steigt diese Belastung kontinuierlich auf circa 1,5 Milliarden Euro in der vollen Jahreswirkung an. Zweitens. Wir haben Mindereinnahmen bei der Kernbrennstoffsteuer. Es ist vollkommen klar, dass dadurch, dass die sieben älteren Kernkraftwerke plus Krümmel nicht mehr ans Netz gehen, entsprechend weniger Einnahmen aus dieser Steuer fließen. Wir rechnen damit, dass uns an dieser Stelle etwa 1 Milliarde Euro fehlen wird. Ich will hier nur anmerken, dass die Grünen darauf immer mit großem Beifall reagieren, obwohl sie ansonsten stets für Steuererhöhungen sind. Ich bin froh, dass die Kernbrennstoffsteuer erhalten bleibt. Dafür zu sorgen, das war, sehr geehrter Herr Kauch, auch unser Bemühen; ich kann das zumindest für mich persönlich sagen. Was kommt hinzu? Risiken sind sicherlich damit verbunden, dass die Energieversorgungsunternehmen angekündigt haben, gegen das Erheben der Kernbrennstoffsteuer zu klagen. Unbestritten ist es das Recht jedes Steuerpflichtigen, sich gegen Besteuerung zu wehren. Es erschließt sich mir aber nicht, wie sich aus der Gesetzesbegründung ein Grund zur Klage gegen das Erheben dieser Steuer ableiten lässt. Einen rechtlichen Zusammenhang zwischen der Laufzeitverlängerung und der Einführung der Kernbrennstoffsteuer gab es nicht und gibt es nämlich nicht; darauf hat der Kollege Kauch schon hingewiesen. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich eindeutig, dass die Steuereinnahmen zur Haushaltskonsolidierung verwendet werden und als Beteiligung an der Deckung der Kosten der Asse zu verstehen sind. Nebenbei bemerkt: Im Hinterkopf hatte man immer den Gedanken, dass die Kernkraftbetreiber durch die Strompreissteigerung nach der Einführung des CO2-Emissionshandels nicht belastet werden, sondern von ihr profitieren. Es geht um den Effekt der sogenannten Windfall Profits, der sich aus der Nichtbeteiligung am Emissionshandel und gleichzeitig steigenden Strompreisen ergibt; diesen Effekt gibt es auch in Zukunft. Eine weitere Belastung für den Bundeshaushalt resultiert aus der kompletten Umschichtung der Einnahmen aus der Versteigerung der CO2-Zertifikate vom Haushalt in den neu zu schaffenden Energie- und Klimafonds. Ich will kurz darstellen, wie dieser Fonds ausgerichtet sein wird - da gibt es einige Änderungen -: Erstens. Eingerichtet ist er, um zusätzliche Ausgaben zur Förderung einer umweltschonenden, zuverlässigen und bezahlbaren Energieversorgung zu ermöglichen. Es handelt sich um ein Sondervermögen. Zunächst einmal ist anzumerken, dass die freiwilligen Zahlungen der EVUs in diesen Fonds wegfallen. Bisher sind mehr als 70 Millionen Euro eingezahlt worden. In den folgenden Jahren werden 1,4 Milliarden Euro fehlen. Wir sehen, dass wir zumindest 2011 einen Ausgleich aus dem Haushalt in diesen Fonds in der Größenordnung von etwa bis zu 225 Millionen Euro leisten müssen. Ich sage bewusst „bis zu“; denn die Höhe dieses Ausgleichs hängt von den Ausgaben dieses Fonds ab. Zweitens. Die Einnahmen aus der Versteigerung der Emissionszertifikate fallen dauerhaft weg. Ab 2012 werden diese Einnahmen nämlich in diesen Fonds fließen; bisher war vorgesehen, dass dem Bundeshaushalt 2012 knapp 850 Millionen Euro und ab 2013 jährlich gut 900 Millionen Euro zugute kommen. Damit werden die Einnahmen dieses Fonds gefestigt. Sie werden in den kommenden Jahren auf einen jährlichen Betrag von über 3 Milliarden Euro ansteigen. Damit ist dieser Fonds mit Sicherheit gut ausgestattet. Drittens. Gleichzeitig werden in diesem Fonds die Ausgaben für Elektromobilität gebündelt. Damit wird dieser Bereich übersichtlicher, transparenter gestaltet. Bisher sind die Ausgaben über die Ministerien Verkehr, Wirtschaft, Umwelt und Forschung verteilt. Das bedeutet aus meiner Sicht einerseits eine Entlastung des Haushalts, andererseits mehr Transparenz. Viertens. Außerdem statten wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm künftig besser aus. Seine Mittel werden von derzeit gut 900 Millionen Euro auf über 1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Das wird entsprechend gegenfinanziert. Fünftens. Darüber hinaus erfolgt aus diesem Fonds ein Ausgleich emissionshandelsbedingter Strompreiserhöhungen für stromintensive Unternehmen in Höhe von jährlich bis zu 500 Millionen Euro. Warum machen wir das, meine Damen und Herren? - Wir sind der Auffassung, dass wir, wenn die Europäische Kommission dem zustimmt, etwas dafür tun müssen, dass Arbeitsplätze in diesem Bereich in Deutschland erhalten bleiben. Es geht um den Arbeitsplatzstandort Deutschland. Wir dürfen Arbeitsplätze nicht gefährden. ({4}) Schließlich gibt es noch eine Kreditermächtigung für den Fonds, die aber nicht dauerhaft sein soll, sondern nur in Ausnahmefällen greifen soll. Wir müssen noch genau darüber reden, wie wir dies ausgestalten. ({5}) Aber da werden wir uns, glaube ich, schnell einig. Wenn ich zusammenfasse, komme ich zu dem Ergebnis, dass wir angesichts der Größenordnung des Vorhabens überschaubare Belastungen haben. Allerdings darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, es bestünden noch Spielräume für neue Wünsche. Denn eines muss man immer wieder festhalten: Zentrales Ziel der Koalition von CDU/CSU und FDP ist die Konsolidierung des Haushalts. Das steht über allen politischen Vorhaben in der gesamten Legislaturperiode. Das ist schon allein deshalb so, weil wir besser mit Geld umgehen können als alle anderen Fraktionen in diesem Haus. Das wird auch so bleiben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6070 bis 17/6077, 17/5931, 17/6092, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 17/6084, 17/6119 und 17/6109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Da ich keinen Widerspruch höre, ist das offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine BätzingLichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Finanztransaktionsteuer in Europa einführen - Gesetzesinitiative jetzt vorlegen - Drucksache 17/6086 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag zur Finanztransaktionsteuer, den wir hier heute im Deutschen Bundestag debattieren, ist eine besondere parlamentarische Initiative. Zeitgleich wird der gleiche Antrag in der französischen Assemblée nationale beraten. Es handelt sich also - das passiert ja nicht jeden Tag oder jede Woche hier im deutschen Parlament - um eine grenzüberschreitende, deutsch-französische Parlamentarierinitiative in einer äußerst wichtigen Frage. ({0}) Diese Initiative ist es wert, dass sie in beiden Parlamenten breite Unterstützung findet. Ich bitte daher die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen um eine breite Unterstützung dieser Initiative, ({1}) nicht nur wegen der Sache selbst, sondern weil sich hier ganz konkret zeigt, dass Deutsche und Franzosen an einem Strang ziehen und zusammen ein gemeinsames Interesse verfolgen. Ich finde, so sollte europäische Demokratie ablaufen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Warum aber ist eine solche Initiative bitter nötig? Wir als Initiatoren wollen uns mit den vielen Sonntagsreden der Regierenden in Deutschland und Frankreich zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer nicht mehr zufriedengeben. ({2}) Das gilt auch für die vielen gesellschaftlichen Gruppen und Initiativen im Land. Immer mehr Menschen in ganz Europa wollen eine derartige Steuer und werden zu Recht immer unruhiger, weil es auf der Ebene der Regierungen nicht weitergeht. Es stimmt, dass Frau Merkel und Herr Schäuble immer wieder die Einführung einer Finanztransaktionsteuer einfordern, genauso auch Herr Sarkozy und Frau Lagarde. Aber außer dass hin und wieder Briefe geschrieben wurden, hat sich in der Sache in den letzten zwölf Monaten nichts bewegt. Dabei bringt es auch niemanden mehr weiter, auf die bösen internationalen Partnerstaaten zu verweisen, die partout nicht mitmachen wollen. Natürlich wäre es sehr wünschenswert, wenn alle relevanten Finanzzentren der Welt bei einer Finanztransaktionsteuer mitmachen würden. Aber darf man sich hinter einer solchen Bedingung verstecken? Dann passiert und bewegt sich nämlich gar nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der fünf größten EU-Länder will die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. ({4}) Herr Schäuble, Frau Merkel, das sollte doch für Sie eine ausreichende Basis sein, sich gegen die Ideologen und Finanzlobbyisten in Ihren eigenen Reihen und in der FDP durchzusetzen. Dieser Rückhalt müsste auch groß genug sein, um es wagen zu können, sich mit der Finanzindustrie anzulegen. Seien Sie endlich so mutig, ein Gesetz vorzulegen, durch das eine Finanztransaktionsteuer in einem ersten Schritt schon einmal in Deutschland, Frankreich und anderen dazu bereiten Staaten eingeführt wird. Das würde eine Entwicklung in Gang setzen, die nicht mehr zu stoppen wäre. ({5}) Wenn meine Informationen stimmen, denken auch die französischen Konservativen in eine ähnliche Richtung. Nur, es muss gehandelt werden. Oder ist diese Koalition auch in dieser Frage wie üblich handlungsunfähig? Vor diesem Problem stehen wir derzeit ja leider des Öfteren. ({6}) Wir brauchen die Lenkungswirkung einer Finanztransaktionsteuer, um unerwünschte Aktivitäten und Geschäfte zurückzudrängen und so einen weiteren Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte zu leisten. Machen wir uns doch nichts vor: Auch wenn die ökonomische Entwicklung aktuell erfreulich ist, sind die Finanzmärkte nach wie vor sehr labil. Die Lösung der GriechenlandProbleme ist doch auch deshalb so schwierig, weil nicht nur Banken und Finanzinstitute in Griechenland auf wackligen Füßen stehen. Wir sind bei der Finanzmarktregulierung noch lange nicht da, wo wir sein müssten. Das Kasino ist wieder eröffnet. Die Finanzindustrie macht wieder munter auf Risiko. Da trifft leider auch die deutsche Regierung ein gerüttelt Maß an Schuld. Wegen der großen Meinungsunterschiede in der Koalition gerade in Finanzmarktfragen war die Regierung gelähmt und ist auf G-20-Ebene und europäischer Ebene oftmals nur schwankend und unklar aufgetreten. Auch hier zeigt sich, was es bedeutet, wenn Führung fehlt. Deutschland muss als sehr starke Macht in Europa die Führung mitprägen. Wir sind aber auf europäischem Parkett derzeit nicht meinungsbildend, und das kann nicht gut gehen. ({7}) Was die Meinungsunterschiede angeht, will ich nur an die schmerzhaften Debatten im letzten Jahr erinnern, als sich der damalige FDP-Vorsitzende an dieser Stelle für alle sichtbar und erkennbar gewunden hat, nur um das Wort „Finanztransaktionsteuer“ nicht in den Mund nehmen zu müssen. Wir brauchen aber diese Steuer, auch als Finanzierungsinstrument. Dass wir darauf nicht verzichten können, weiß auch der Bundesfinanzminister, der in seinem Finanzkonzept ab 2012 daraus jährlich Einnahmen in Höhe von 2 Milliarden Euro vorgesehen hatte. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten Herr Schäuble bzw. sein Haus aber auch anfangen, um dieses Geld zu kämpfen, und dürften es nicht einfach streichen. Es stimmt ja sowieso vieles nicht mehr von dem, was vor einem Jahr in dieses sogenannte Sparpaket eingestellt wurde. Ich erinnere mich aber, was hierzu vor fast genau einem Jahr in Fernsehbeiträgen gesagt wurde. Frau Merkel und andere haben da gesagt: Wir stellen die soziale Ausgeglichenheit dieses Pakets dadurch her, dass die Wirtschaft in Form einer Finanztransaktionsteuer sowie anderer Maßnahmen wie einer Brennelementesteuer beteiligt wird. - Wie sieht denn inzwischen das Ergebnis aus? Mittlerweile wird der Haushalt nur noch dadurch stabilisiert, dass man bei den sozial Schwachen und den Arbeitslosen spart - das ist aber die falsche Stelle, jawohl -, während andere Maßnahmen erst einmal nicht umgesetzt wurden. Auch das ist ein Beleg für Ihre unsoziale Politik. ({8}) Das ist so ähnlich wie in der Atomenergiefrage. Sie wissen gar nicht mehr, was Sie vor drei Tagen, geschweige denn vor einem Jahr öffentlich gesagt haben. Sie setzen auf die Vergesslichkeit des Publikums - leider oft zu Recht. Das muss sich ändern in der deutschen Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Diejenigen, die von den Rettungsmaßnahmen des Staates in der Finanzkrise profitiert haben, müssen also auch an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Sie dürfen nicht außen vor bleiben. Auch die aktuell sprudelnden Steuerquellen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das richtig und wichtig ist. Wir müssen darüber eine ehrliche Debatte führen. Für die Wahrnehmung wichtiger gesellschaftspolitischer Aufgaben ist dieser Staat auf allen Ebenen strukturell unterfinanziert. Das gilt unabhängig von der aktuellen Entwicklung bei den Steuereinnahmen. Darüber müssen wir eine ehrliche Debatte in diesem Haus führen. ({10}) Dabei geht es dann nicht nur um eine Finanztransaktionsteuer, sondern in meinen Augen zum Beispiel auch um eine modernisierte private Vermögensteuer ({11}) und andere Finanzierungsmaßnahmen, um Geld für die Erfüllung gesellschaftspolitisch wichtiger Aufgaben - Befriedung der Gesellschaft, Forschung und Entwicklung, Bildung und andere Zwecke - zur Verfügung zu haben und verwenden zu können. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion ist grundsätzlich gegen eine exzessive Erhöhung der Steuerbelastung und gegen Doppelbesteuerungen, die eine Überforderung für den Steuerzahler bedeuten. Das heißt aber nicht, dass wir uns gegen einen Umbau der europäischen Steuersysteme wenden oder gegen eine gerechtere Besteuerung des Finanzmarktes sind. Man muss das aber natürlich im Gesamtkontext sehen. Umschuldungen, Basel III, neue Einlagensicherungssysteme, die deutsche Bankenabgabe all das muss wohl bedacht sein und darf nicht in einer Scharfmacherrede angeprangert werden. ({0}) Eine bessere Lenkungswirkung durch Finanzmarktsteuern und ein Beitrag des Finanzsektors sind unter bestimmten Voraussetzungen mit uns durchaus denkbar und machbar. Das muss intensiv geprüft und international zielführend gestaltet sein. Die Vorwürfe der SPD gegenüber der Bundesregierung wegen des angeblich fehlenden Handlungsnachweises weisen wir zurück. Die Dinge müssen fachlich beurteilt werden. Die Besteuerung des Finanzmarktes muss wettbewerbsneutral, wirksam, unbürokratisch, umsetzbar und wachstumsfreundlich erreicht werden. ({1}) Den Beweis dafür lieferte der EU-Kommissar für Steuern, Herr Semeta, in dieser Woche im Finanzausschuss. Leider waren Sie nicht anwesend, Herr Poß. Ich zitiere ihn für Sie noch einmal wörtlich. ({2}) Er sagt: Es ist unverantwortlich, eine Bewertung vorzunehmen, wenn keine unvoreingenommene Prüfung einer positiven Lenkungsfunktion durch die EUKommission vorliegt. So weit der Kommissar. ({3}) Das ist eine klare Aussage. Er sagt, die Prüfung liege noch nicht vor. Er hat uns eine Folgenabschätzung zur Finanztransaktionsteuer oder einer Finanzaktivitätsteuer, wie sie diskutiert wird, zugesagt. Es ist nun einmal so, dass das Initiativrecht dafür die Kommission hat und nicht die Parlamente, auch nicht in Frankreich oder Deutschland. Deswegen, Herr Poß, ist der SPD-Antrag ein reiner Schaufensterantrag. ({4}) Da bringt uns auch die Begleitmusik, die Sie gemeinsam mit Frankreich bestellt haben, nicht weiter. Wir weisen diesen Schaufensterantrag zurück; wir werden ihm in dieser Form nicht zustimmen. ({5}) Es geht um eine fachgerechte Entscheidung. Dabei muss verhindert werden, dass Steuersubstrat in Drittstaaten verlagert und unsere Wettbewerbsfähigkeit am Finanzplatz Deutschland erheblich beschädigt wird. Es gilt, eine gemeinsame Lösung zumindest in Europa zu erreichen. Wir setzen uns mit den Chancen und den Fakten ohne ideologische Scheuklappen auseinander und vertreten dabei folgenden Standpunkt: Um einen finanziellen Beitrag des Finanzsektors zu erhalten, unterstützen wir die möglichst weltweite, aber zumindest auf europäischer Ebene oder wenigstens innerhalb der EuroZone abgestimmte Einführung einer Finanztransaktionsteuer. ({6}) Diese ist nach unserer Auffassung zur zusätzlichen Generierung von Einnahmen aus dem Finanzsektor sehr gut geeignet. Diese Auffassung teilt auch das Europäische Parlament. Ich glaube, das ist die beste Grundlage. Es sollte uns bewusst sein, dass zum Erreichen dieses Ziels so viele Länder wie möglich von der Einführung einer Finanztransaktionsteuer überzeugt werden müssen. Bisher sind nur Österreich, Frankreich und Deutschland dafür, wobei Frankreich auch eine andere Lösung bevorzugen würde. ({7}) Wir brauchen aber möglichst alle. Wir müssen über die Ausgestaltung dieser Steuer nachdenken. Hinsichtlich der Ausgestaltung einer Finanztransaktionsteuer sollte, um einen Konsens auf europäischer Ebene zu erreichen, den Diskussionen nicht - auch nicht durch Deutschland - vorgegriffen werden. Wir sind der Auffassung, dass die Finanztransaktionsteuer möglichst alle Finanzinstrumente, die gehandelt werden, erfassen soll. So sollten Finanzinstrumente, die börslich und außerbörslich gehandelt werden, in die Besteuerung einbezogen werden. Damit könnte der Finanztransaktionsteuer eine breite Bemessungsgrundlage zugrunde gelegt werden. Insbesondere bei einer Ausklammerung bestimmter Finanzinstrumente wäre eine Verschiebung des Geschäfts in diese Bereiche zu erwarten. Dies muss unbedingt vermieden werden. Deshalb sprechen wir uns für eine möglichst alle Finanzinstrumente umfassende Finanztransaktionsteuer aus. Die Anknüpfung an die Erwerbsgeschäfte über Finanzinstrumente hat den großen Vorteil, dass es bei jedem auf Finanzinstrumente bezogenen Handelsgeschäft bzw. Transaktionsgeschäft zu einer Steuerentstehung kommen wird. Eine Unterscheidung in gute und schlechte Geschäfte, wie sie die SPD immer wieder versucht vorzunehmen, wird damit nicht vorgenommen. Das wäre auch nicht sinnvoll. Vorrangig bei der Einführung einer Finanztransaktionsteuer ist die Erzielung von Einnahmen. Natürlich sollte die Steuer auch Lenkungswirkung entfalten. Wenn wir uns für die Finanztransaktionsteuer eine breite Bemessungsgrundlage mit einem niedrigen Steuersatz vorstellen, dann dürfen wir nicht vergessen, die Lenkungswirkung zu prüfen. Wir sind auf die Prüfung der EU-Kommission angewiesen. Ich glaube, wenn Sie wie in Ihrem Antrag von einem Steuersatz in Höhe von 0,05 Prozent - letzten Endes eine aus der Luft gegriffene Zahl - ausgehen, dann sind Sie gewissermaßen nicht verhandlungsfähig. Das ist sicher die oberste Grenze, die sich andere Länder vorstellen können. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie einfach eine Zahl ohne Prüfung der Lenkungswirkung und ohne Substanz in die Welt setzen, ist dies inkompetent. Dann können Sie keine Kompetenz in der Finanzwirtschaft nachweisen. Sie erweisen damit Ihrer Sache, der Sache der Finanztransaktionsteuer, wirklich keinen Dienst. ({8}) Ganz besonders schlimm wird es, wenn man sieht, dass die SPD in ihrem Antrag das Geld schon weltweit verteilt hat. ({9}) Das ist nicht seriös. Dieses Geld gehört in den Bundeshaushalt; denn der Bundeshaushalt hat in der Finanzmarktkrise die Banken gerettet. Das Geld wurde nicht weltweit an die Armen verteilt. Für die Bekämpfung der Armut ist die Entwicklungshilfe zuständig. Sie machen einfach ein Fass auf und sagen: Das Geld aus dieser Steuer können wir in die Welt transferieren. ({10}) Das sieht Ihr Antrag vor. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe schon viele Anträge der SPD gelesen, aber der nun vorliegende Antrag stellt keine gute Vorbereitung dieses Hohen Hauses dar. Das Budgetrecht wird von diesem Hohen Haus und insbesondere vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages wahrgenommen und darf nicht für eine solche Verteilungsaktion, wie sie im SPD-Antrag gefordert wird, genutzt werden. Deswegen können wir diesem Antrag nicht zustimmen. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Richard Pitterle für die Fraktion Die Linke. ({0})

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit 2009 höre ich im Bundestag von der Bundesregierung, man wolle die Finanzbranche zur Bewältigung der Krisenkosten heranziehen. Und? Es passiert nichts. Die Linke sagt: Wir brauchen endlich die Finanztransaktionsteuer. ({0}) Mit dieser Steuer soll jeder und jede, der oder die an der Börse und außerbörslich mit Wertpapieren, Derivaten und Devisen spekuliert und dabei fette Gewinne macht, mindestens 0,05 Prozent davon abgeben. Da sind wir uns mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Initiativen ganz einig, die auch die Einführung der Steuer fordern. Blicken wir zurück. Am Anfang hat die Regierungskoalition die Finanztransaktionsteuer abgelehnt; mit den Argumenten, sie verzerre den Wettbewerb, sei nicht effektiv, nur global machbar und leicht zu umgehen, haben Sie all unsere Vorschläge abgeschmettert. Diese Argumente haben Sie sich dann auch noch von Ihren Sachverständigen bestätigen lassen. ({1}) Dann wurde die Finanzkrise zur Euro-Krise, und die Regierung wandelte sich vom Saulus zum Paulus. Vor gut einem Jahr, am 17. Mai 2010, berichtete zum Beispiel Die Zeit: Auch der CSU-Vorsitzende … Horst Seehofer erneuerte die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer, „ohne Wenn und Aber“. Die Regierung müsse „diese Branche, die Finanzbranche insgesamt, der wir ja zum großen Teil diese Wirtschafts- und Finanzkrise leider zu verdanken haben, bei der Bewältigung der Kosten auch heranziehen“, sagte er. Das ist Originalton Seehofer. Diese Regierung ist, wie man auch in der Energiepolitik sieht, für manche Wende gut. Wenn es in die richtige Richtung geht, werden wir sie deswegen nicht kritisieren. Aber hier reicht es nicht, den Mund nur zu spitzen; man muss auch pfeifen. ({2}) Denn inzwischen wissen alle, dass die Finanzmärkte einerseits enorme Handelsvolumina haben und rasant gewachsen sind und dass sie andererseits nach wie vor kaum Steuern zahlen. Alle Unternehmen, die ein Produkt verkaufen, müssen auf das Produkt Umsatzsteuer erheben und sie beim Staat abliefern; nur Finanztransaktionen sind davon ausgenommen. Allein an der Frankfurter Derivatenbörse Eurex werden Umsätze gemacht, die 60-mal so hoch sind wie das gesamte deutsche Bruttoinlandsprodukt, ohne dass ein einziger Cent Steuern gezahlt wird. Das ist doch ein Skandal. ({3}) Fakt ist, dass die Finanztransaktionsteuer nicht nur Staatseinnahmen bringen, sondern auch eine wichtige Lenkungswirkung entfalten kann. Das heißt, dass es unattraktiver wird, mit hoher Geschwindigkeit an den Finanzmärkten zu spekulieren; für alle Zocker wird es weniger profitabel, weil bei jeder Spekulation ein Teil des Profits abgezogen wird. Die maßlosen Spekulationen nämlich führten zur Finanzkrise und später zur EuroKrise. Seither bedrohen sie die Stabilität zahlreicher Volkswirtschaften, siehe Griechenland. Frau Merkel und Herr Schäuble sind leider nicht da. Gerne würde ich ihnen glauben, dass es ihnen mit dem Versprechen ernst ist, das sie mit dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy abgegeben haben. Gerne würde ich ihnen auch glauben, dass sie die Mehrheit ihrer Fraktionen hinter sich haben. Wenn wir heute gleichzeitig mit dem französischen Parlament eine Entscheidung zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer zu treffen haben, dann können wir unseren Freundinnen und Freunden in Frankreich nur zurufen: „Oui, Madame! Oui, Monsieur!“ Sorgen Sie dafür, dass die Finanztransaktionsteuer jetzt beschlossen wird. Wir brauchen in Europa wirtschaftliche Stabilität; wir brauchen Steuergerechtigkeit. Deshalb brauchen wir Gesetze, die verhindern, dass die Geringverdienerinnen und Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner die Lasten der Krise tragen müssen und die Vermögenden uneingeschränkt und fröhlich weiterzocken können. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man von falschen Prämissen ausgeht, kommt man nicht zum richtigen Ergebnis. Das belegt die SPD mit ihrem heute vorgelegten Antrag wieder einmal eindrucksvoll. Ihre Feststellung, dass der Finanzsektor „keinen … Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens“ leistet, ({0}) ist in der Sache grundfalsch; das wissen Sie auch. Wenn Sie sich einmal darüber informieren wollen, sollten Sie einmal mit der Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt sprechen und sie fragen, ob sie den Eindruck hat, dass der Finanzsektor einen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens dieser Stadt leistet; danach sind Sie vielleicht klüger, als Sie es mit Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen. ({1}) Meine Damen und Herren, man kann dem Finanzsektor viele Dinge vorwerfen und vieles kritisieren; in den letzten Jahren ist auch unter Ihrer Regierungsverantwortung vieles nicht richtig gelaufen. Es schadet aber auch nicht, wenn man sich vorher zumindest ansatzweise informiert. Dieser Grundsatz gilt auch, wenn man Frank-Walter Steinmeier heißt und einen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringt. ({2}) Ihr Antrag zeigt einmal mehr, dass die SPD über keinen Kompass mehr verfügt. Wohin wollen Sie eigentlich? Wollen Sie zurück in die Zeiten des Klassenkampfes, oder wollen Sie nach vorne? Vertreten Sie heute eigentlich die Finanzpolitik Ihres früheren Finanzministers Oskar Lafontaine, oder vertreten Sie die Finanzpolitik Ihres früheren Ministers Peer Steinbrück? ({3}) Beide haben übrigens keine Finanztransaktionsteuer eingeführt. Es gehört zu dem wenigen Guten, was man über die sozialdemokratische Finanzpolitik sagen kann, dass die SPD in der Regierung ganz schnell vergisst, was sie in der Opposition gefordert hat. ({4}) Vermögensteuer? Fehlanzeige. Finanztransaktionsteuer? O-Ton Steinbrück: Der Welt ist es egal, was der SPD-Ortsverband Kessenich will. Nicht nur der Welt war und ist es egal, was die SPD wollte. Ihrem selbsternannten Kanzlerkandidaten war es in seiner Zeit als Finanzminister erst recht schnurz. Deshalb darf es auch der christlich-liberalen Koalition egal sein, was die SPD heute mit diesem Antrag fordert. ({5}) Eine Partei, die in ihrer gesamten Regierungszeit, gleich ob sie mit der grünen Partei oder der CDU/CSU regiert hat, nicht einmal einen ernsthaften Versuch unternommen hat, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, sollte sich auch jetzt mit Anträgen zurückhalten. ({6}) Sie sind in dieser Frage nämlich schlicht unglaubwürdig. ({7}) Sie haben die Finanztransaktionsteuer nicht eingeführt, weil Sie diese, als Sie die Regierungsverantwortung trugen, für falsch hielten und nicht wollten. Wir führen die Finanztransaktionsteuer ebenfalls nicht ein, weil wir sie für falsch halten und sie deshalb nicht wollen. ({8}) Es besteht zwischen uns im Grunde Konsens. Der Unterschied ist nur, dass Sie in der Opposition etwas fordern, was Sie während Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt haben. Wenn man Argumente gegen die Finanztransaktionsteuer benötigt, findet man in Ihrem Antrag eine geeignete Arbeitsgrundlage. Er enthält viele Allgemeinplätze und keine Fakten. Man könnte sagen: viel Sigmar Gabriel, kaum Helmut Schmidt. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Steinbrück? ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Peer Steinbrück (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Wissing, würden Sie bestätigen, dass sich die Bundeskanzlerin und der seinerzeitige Bundesfinanzminister auf den Finanzgipfeln im April 2009 in London und im September 2009 in Pittsburgh massiv für die Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer eingesetzt haben und - mehr noch die Aufnahme einer entsprechenden Empfehlung in das Kommuniqué des Gipfels im September 2009 sowie einen konkreten Prüfauftrag an den Internationalen Währungsfonds durchgesetzt haben? Wenn Sie dies zugeben, würden Sie dann auch Ihre bisherigen Ausführungen freundlicherweise korrigieren wollen?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Steinbrück, es stimmt, dass man sich auf internationaler Ebene dafür eingesetzt hat. Übrigens hat auch diese Bundesregierung auf internationaler Ebene gesagt, dass sie eine Besteuerung des Finanzsektors erreichen möchte. Auf internationaler Ebene hat es aber keinen Konsens gegeben. Deshalb hat diese Regierung genauso vernünftig gehandelt wie Sie damals und den Unfug gelassen, diese Steuer auf nationaler Ebene einzuführen. Diesen Unfug sollte die SPD weiterhin unterlassen. ({0}) Es macht keinen Unterschied, ob man in der Regierung oder in der Opposition ist. Eine nationale oder re12998 gionale Transaktionsteuer bringt nichts. Das wissen Sie sehr gut, Herr Steinbrück. ({1}) In dieser Position kann ich Sie nur unterstützen; damit lagen Sie immer richtig. Ihre Fraktion liegt jetzt aber falsch, wenn sie dem Bundestag vorschlägt, das Gegenteil zu machen, nämlich diese Steuer national einzuführen. Deswegen bleibe ich bei meiner Position. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, gestatten Sie eine Nachfrage des Kollegen Steinbrück?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Peer Steinbrück (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie bestätigen, Herr Kollege Wissing, dass die Diskussion inzwischen weitergegangen ist und auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank die Einführung einer solchen Finanzmarkttransaktionsteuer dann für richtig hielte, wenn mindestens die wichtigsten kontinentaleuropäischen Finanzplätze einbezogen würden? Das heißt, wenn die Bundesrepublik Deutschland sich mit ihrem Gewicht in Brüssel dafür einsetzen würde, dass im Benelux-Bereich, in Frankreich, möglicherweise auch in Italien eine solche Finanzmarkttransaktionsteuer eingeführt würde, dann gäbe es sogar Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft, die sich darüber nicht grämen würden. Insofern kommt es darauf an - das ist meine Frage -, ob Sie als FDP-Vertreter bereit wären, auf die Bundesregierung stärker einzuwirken, dass zusammen mit diesen Ländern, die sich teilweise bereits für die Einführung einer solchen Finanzmarkttransaktionsteuer ausgesprochen haben, die Chance auf Realisierung genutzt wird. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie kennen die Beschlussfassung des Deutschen Bundestages. Sie kennen auch die gemeinsamen Anträge von CDU/CSU und FDP. ({0}) Deshalb lohnt es sich für Ihre Fraktion, nicht immer so zu tun, als würden wir diesen Weg ausschließlich blockieren. ({1}) - Ganz ruhig. - Wir haben gesagt: Wir sehen nicht ein, dass wir den deutschen Finanzplatz beschädigen ({2}) und Ausweichbewegungen beispielsweise nach London eröffnen; denn - da bin ich ganz bei Ihnen - 10 Prozent von nichts bringt noch lange keine höheren Steuereinnahmen. ({3}) Deshalb haben Sie einen nationalen Weg abgelehnt. Den lehnen auch wir ab. Wir als FDP-Fraktion sagen: Eine Finanztransaktionsteuer ausschließlich in der Euro-Zone ist nicht vertretbar, weil sie den deutschen Finanzplatz nachhaltig schädigt. ({4}) Ohne Großbritannien kommt eine solche Steuer nicht in Betracht. Das ist die Position der Bundesregierung. In der Opposition vertreten Sie jetzt die Auffassung, dass es, wenn sie in Deutschland und in Frankreich eingeführt würde, automatisch zu einer flächendeckenden Einführung der Finanztransaktionsteuer kommen würde. Diese Position haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie vertreten, weil Sie wissen, dass sie falsch ist. ({5}) Deswegen sei es Ihr Recht als Oppositionsfraktion, jetzt all die Dinge zu fordern, die Sie in der Regierung für falsch gehalten haben. Wir bleiben bei einem klaren Kurs. ({6}) Wir können uns gerne inhaltlich mit der Finanztransaktionsteuer auseinandersetzen. Sie schreiben, die Steuer würde unerwünschte Effekte zurückdrängen. Sie müssten schon näher erklären, wie die Finanztransaktionsteuer unerwünschte Effekte erkennt und zurückdrängt. Diese Steuer ist nämlich nicht selektiv; sie unterscheidet nicht zwischen guter und spekulativer Anlage, sondern sie belastest alle, und zwar alle gleich. Sie belastet die Riester-Rentner und Besitzer von Lebensversicherungen ({7}) genauso wie Hedgefonds, nur dass es für Letztere ein Leichtes ist, sich einen anderen Finanzplatz auszusuchen und der Finanztransaktionsteuer zu entgehen. Ich erkenne daher nicht, welche unerwünschten Nebeneffekte die Steuer zurückdrängen soll. Wenn Sie schreiben, dass die Finanztransaktionsteuer einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte leistet, so ist auch das mehr als gewagt. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass die Anleger, nur weil Sie in Deutschland und Frankreich eine Finanztransaktionsteuer einführen, verlustbringende Investments länger halten werden, und dass dies auch noch den Finanzmarkt stabilisiert. Ich glaube, die Finanztransaktionsteuer wird eher das Gegenteil bewirken. ({8}) Dort, wo sie nicht umgangen wird, wird sie zu stärkeren Reaktionen der Märkte führen, weil die Märkte die Steuer in ihre Kalkulation einbeziehen. Während bisher die schnelle Reaktion der Märkte dazu beiträgt, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen, ({9}) würde die Finanztransaktionsteuer dafür sorgen, dass die Reaktionen später erfolgen und dafür umso heftiger ausfallen. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass Ihr Antrag vor allem autosuggestiven Charakter hat. Sie glauben selber nicht mehr an diese Steuer und wollen sich mit dem Antrag immer wieder selbst überzeugen. ({10}) Ich habe auch Verständnis für die Widersprüchlichkeiten in Ihrem Antrag. Ebenso habe ich Verständnis dafür, dass Sie in der Opposition glauben, Punkte mit einer Politik machen zu können, die Sie in der Regierung niemals ernsthaft verfolgt haben. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Machen Sie es wie Herr Steinbrück und schicken Sie Ihren Finanztransaktionsteuer-Antrag dorthin, woher er gekommen ist, nämlich an den Ortsverband Kessenich. - Ich glaube, das habe ich richtig zitiert, Herr Steinbrück. Wie Sie richtig schreiben, gibt es bisher keinen Konsens, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, weder auf europäischer noch auf internationaler Ebene. Es ist mehrfach versucht worden, ist aber ganz klar gescheitert. Das liegt aber nicht daran, dass die anderen Regierungen so viel dümmer wären als die SPD im Deutschen Bundestag; sie haben sich vielmehr mit der Finanztransaktionsteuer auseinandergesetzt, deren Schwächen erkannt und suchen nun eine bessere Lösung zur Besteuerung des Finanzsektors. Das geschieht aber nicht aus Gründen der Regulierung, sondern zur Lösung der Haushaltsprobleme. Nur die SPD tut in der Opposition immer so, als habe sie einen finanzpolitischen Erkenntnisrausch, der ihr in Regierungszeiten abhanden gekommen ist. ({11}) Sie präsentieren der Öffentlichkeit in altbekannter Manier ein Sammelsurium sozialdemokratischer Wiedergänger wie die Vermögen- oder die Finanztransaktionsteuer. ({12}) Hiervon wollten Sie zu Regierungszeiten nichts wissen. Deswegen sollten Sie den Deutschen Bundestag damit nicht länger behelligen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Frage, wer als Opposition bei bestimmten Themen die Klappe aufgerissen hat und nachher in der Regierungszeit nichts zu liefern hat, wäre ich als FDP ganz leise. ({0}) Zu dem Vorwurf, man bringe hier nur Allgemeinplätze, sage ich, Herr Wissing, dass die Gegenargumente, die Sie heute gebracht haben, viel schlimmer als Allgemeinplätze waren. Es waren längst widerlegte Behauptungen. ({1}) In der Anhörung des Finanzausschusses ist ganz klar gesagt worden: Die Belastung des Kleinanlegers ist minimal und von Personen aufgebauscht worden, die die Finanztransaktionsteuer mit fadenscheinigen Argumenten ins Aus katapultieren wollten, weil sie das tut, was notwendig ist, nämlich den Finanzsektor zu belasten. ({2}) Gestern im Finanzausschuss sah man ganz klar, wie die Positionen in dieser Debatte verteilt sind. Alle Fraktionen haben dem anwesenden EU-Kommissar Semeta ganz eindeutig die deutsche Position mit auf den Weg gegeben: Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer. Wir haben gesagt, dass das jetzt auf europäischer Ebene vorangebracht werden muss und dass nicht nur rumgeeiert werden darf, wie es auch hier die Koalition macht. Eine Fraktion war die große Ausnahme. Man sieht, warum diese Bundesregierung nicht vorankommt: Die Unterstützung der FDP für diese Position fehlt. Hören Sie auf, zu blockieren! Wir brauchen keinen parlamentarischen Arm der Finanzbranche, sondern eine Unterstützung für das, was von einer breiten Mehrheit dieses Hauses getragen wird: eine Finanztransaktionsteuer. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wissing?

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Würden Sie, Herr Kollege Schick, weil Sie sich immer gerne mit der Vergangenheit beschäftigen, dem Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit erklären, wer unter Rot-Grün verhindert hat, dass eine Finanztransaktionsteuer von der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden ist? War das damals die SPD oder Bündnis 90/Die Grünen?

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gab unter Rot-Grün Initiativen für eine TobinSteuer. Ich erinnere an eine Studie aus dem Hause Wieczorek-Zeul. Man fragt sich, ob ein Ministerium der aktuellen Bundesregierung auch nur mit einer Studie versucht hat, die Debatte voranzutreiben. Das könnte man ja tun. Das gab es damals, und das ist von beiden Parteien unterstützt worden. ({0}) Ich frage Sie umgekehrt - das könnte vielleicht jemand aus den Koalitionsfraktionen klären -: Wenn ich eine Idee voranbringen will, dann versuche ich, dazu eine Konferenz zu organisieren, eine Studie in Auftrag zu geben. Warum gibt es bisher nur von einem österreichischen Institut eine Studie dazu und nicht einmal von einem deutschen? ({1}) Die Bundesregierung könnte ja eine Studie in Auftrag geben. Hören Sie auf, nur zu reden! Handeln Sie endlich, und bringen Sie diesen Gedanken voran! ({2}) Ich will noch kurz auf das eingehen, was Herr Michelbach gesagt hat. Wissen Sie, Herr Michelbach, wir haben hier heute etwas, was es nicht häufig gibt: eine parallel organisierte Debatte der französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages und einen abgestimmten Antrag. Wenn wir bei allen Delegationsgesprächen mit den französischen Kollegen immer die Zusammenarbeit der nationalen Parlamente hochhalten und dafür kämpfen - das ist richtig -, dann können wir hier in der Debatte nicht sagen, das sei Begleitmusik. Ich finde, eine solche Haltung haben Europa und auch der Bundestag nicht verdient. ({3}) Zur konkreten Frage: Warum brauchen wir unbedingt eine Finanztransaktionsteuer? Wir stellen fest, dass der Finanzmarkt an vielen Stellen zu groß ist. Das sagen nicht nur einige Oppositionsleute, sondern inzwischen ist das als Ursache dieser Finanzkrise deutlich geworden. So schreibt ein Forscherteam des Internationalen Währungsfonds und der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung, UNCTAD: Zu viel Finanzwirtschaft ist schlecht. Es schadet der Wirtschaft eines Landes, wenn es einen aufgeblähten Finanzsektor hat. - Genau aus diesem Grunde brauchen wir eine Schuldenbremse für Banken - Leverage-Ratio -, die Sie in harter Form aber nicht wollen und auf internationaler Ebene verhindern. ({4}) Wir brauchen auch eine Besteuerung von Finanzumsätzen. Denn es ist für die wirtschaftliche Entwicklung nicht gut, wenn Umsätze an den Finanzmärkten privilegiert werden. Es ist falsch, wenn auf jedes Brötchen und jeden Stuhl Umsatzsteuer erhoben wird, aber nicht auf Finanzprodukte. Das muss korrigiert werden. ({5}) Es gibt einen zweiten wichtigen Punkt: die soziale Balance und die Verteilungsfrage. Ja, es ist zu Recht gesagt worden, dass eine Finanztransaktionsteuer ein Teil eines Ausgleiches sein kann, wenn wir jetzt die Haushaltssanierung angehen und es um die Frage geht: Wer trägt die Finanzierung künftiger Ausgaben? So hat auch die Bundeskanzlerin im Juni 2010, also vor einem Jahr, gesagt: Die Tatsache, dass wir eine Finanztransaktionsteuer einplanen, ist ein Beitrag zur Gerechtigkeit. - Das war Ihre Aussage, als es damals um das Sparpaket ging. Damit wurde begründet, dass es Kürzungen gibt: beim Heizkostenzuschuss, bei der Rente und bei den Arbeitsmarktmaßnahmen. Sie haben damals gesagt: Dieses Paket ist ausgewogen, weil es auch zu einer Belastung der Industrie bzw. der Wirtschaft kommt, zum Beispiel durch die Brennelementesteuer und die Finanztransaktionsteuer. Wo stehen wir heute? Ursprünglich ging man von Einnahmen aus der Brennelementesteuer in Höhe von 2,3 Milliarden Euro aus. Mittlerweile ist bekannt, dass die Einnahmen deutlich geringer ausfallen - man rechnet jetzt mit 1,3 Milliarden Euro -, und die Finanztransaktionsteuer ist aus dem Finanztableau für den Haushalt 2012 hinausgeflogen. Das heißt, wenn Sie Ihren eigenen Maßstab der sozialen Balance der Haushaltspolitik von vor einem Jahr anlegen würden, müssten Sie heute zugeben, dass von einem fairen Ausgleich keine Rede mehr sein kann, weil die Maßnahmen, die zur Belastung der Wirtschaft eingeplant waren, so nicht realisiert werden. Bei der sozialen Balance Ihrer Politik besteht ganz dringender Korrekturbedarf. ({6}) Es hat einen tieferen Grund, warum wir diese soziale Balance brauchen. Es ist so - das müssen Sie zur Kenntnis nehmen -, dass die Schieflage bei der Einkommensverteilung eine der Ursachen der Finanzkrise war. ({7}) In diesem Punkt besteht in der Forschung inzwischen ein ziemlich breiter Konsens; Joseph Stiglitz hat das schon vor zwei Jahren deutlich gemacht. Studien des Internationalen Währungsfonds kamen zu dem Ergebnis, dass der Zusammenhang zwischen der Konzentration hoher Einkommen bei wenigen Haushalten und der hohen Verschuldung ärmerer Haushalte in dieser Krise eine wichtige Rolle gespielt hat. Wenn man aus der Krise herauskommen und versuchen will, die Wirtschaft zu stabilisieren, sodass die Wahrscheinlichkeit einer neuen Krise sinkt, dann muss man dafür sorgen, dass auch die Einkommen der Unter- und Mittelschicht wieder stabilisiert werden. ({8}) Das heißt nichts anderes, als dass wir uns mit der Frage beschäftigen müssen: Wie wird die Steuerlast verteilt? Schauen Sie sich die Situation in Europa an. Die EU-Kommission fordert von Spanien, die Mehrwertsteuer auf Grundgüter, also auf Güter, die jede Bürgerin und jeder Bürger braucht, zu erheben. Es ist wichtig, dass sich die deutsche Bundesregierung jetzt aktiv dafür einsetzt, dass nicht Steuern auf Grundgüter erhoben werden, die jeder Bürger und jede Bürgerin zahlen muss - auch die Menschen, die schon in der Finanzkrise viel verloren haben -, sondern dass endlich die Privilegierung von Finanzumsätzen abgeschafft und durch die Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer die Finanzierung europäischer Ausgaben gewährleistet wird. ({9}) - Für das Stichwort „Klassenkampf“ bin ich Ihnen sehr dankbar, Herr Volk. ({10}) - „Klassenkampf“ hat er gesagt. ({11}) Nein! Machen Sie sich einmal wieder den Gedanken einer sozialen Marktwirtschaft klar. Schon am Beginn der Bundesrepublik Deutschland ist ein breiter Konsens entstanden - übrigens von Ordoliberalen formuliert und vorgeschlagen -: Eine Marktwirtschaft kann nur stabil sein, wenn es einen sozialen Ausgleich gibt. Wer heute daran erinnert, mitten in der Krise, die dadurch verschärft wurde, dass die Verteilungssituation nicht stimmt, der macht keinen Klassenkampf, sondern der sorgt dafür, dass eine solche Krise in Zukunft nicht mehr stattfinden kann. Dass die FDP dabei nicht mitzieht, ist ihr schwächster Punkt. Deswegen nähern sich Ihre Umfrageergebnisse langsam den Steuersätzen, die wir für die Finanztransaktionsteuer vorschlagen. ({12}) Haben Sie eigentlich wahrgenommen, dass in der Wissenschaft inzwischen klar ist, dass der Markt für Collateralized Debt Obligations - CDOs -, der Markt für die problematischen Hypothekenpapiere, nur entstehen konnte, weil es eine Konzentration von Reichtum bei wenigen Individuen gab? Nehmen Sie es eigentlich zur Kenntnis, dass die Schieflage auch eine Ursache dieser Krise ist und dass wir aus dieser Krise nur herauskommen, wenn wir diese Schieflage korrigieren? Das hat überhaupt nichts mit Klassenkampf zu tun, sondern das ist das Wiederherstellen der Bedingungen für eine soziale Marktwirtschaft. Erinnern Sie sich einmal: Das führen Sie ständig im Mund. Tun Sie es auch! ({13}) Ich muss zum Schluss kommen. - Ich glaube, eine Sache ist wichtig: Wir müssen dieses Anliegen in diesem Haus wirklich gemeinsam vertreten. Deswegen ist die Kooperation mit der französischen Nationalversammlung gut. Wir müssen uns klarmachen: Wenn wir die Debatte in Europa gewinnen wollen und das sicherstellen wollen, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land will, nämlich eine wirkliche Veränderung an den Finanzmärkten, dann müssen wir gemeinsam dafür kämpfen. Es kann dann nicht sein, dass Vertreter der Regierungskoalition hier Larifari von sich geben und ausweichende Bedingungen formulieren, sondern dann ist an dieser Stelle ein wirkliches Handeln von Regierung und Fraktionen notwendig. Wir haben heute bei den Koalitionsfraktionen erlebt, dass das nicht der Fall ist. Korrigieren Sie das, damit hinter den Ankündigungen der Minister und der Kanzlerin etwas mehr als nur laue Konzepte steht. Wir brauchen jetzt eine wirkliche Strategie, die dieses Haus hier gemeinsam entwickeln muss. Hören Sie auf, das zu blockieren! ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Poß, nachdem sich die Sozialdemokraten bei vielen bedeutenden europäischen Abstimmungen in den letzten Monaten etwas schwergetan haben, begrüßen wir es natürlich außerordentlich, dass uns deutsche Sozialdemokraten und französische Sozialisten nun gemeinsame, wortgleiche Anträge zeitgleich diskutieren lassen. Dadurch wird aber der Inhalt natürlich nicht viel aktueller. Zum einen wissen Sie - mein Kollege Michelbach hat darauf hingewiesen -, dass wir in wenigen Tagen oder Wochen hoffentlich den Prüfbericht der Europäischen Kommission zu eben diesem Thema Finanztransaktionsteuer erwarten und dann gemeinsam prüfen müssen, ob unsere deutschen Interessen und unsere deutsche Position dort hinreichend wiedergefunden werden. Zum anderen wollen Sie mit diesem Antrag wahrscheinlich den Eindruck erwecken, dass, wenn wir auf europäischer Ebene zu einer Finanztransaktionsteuer kommen, es an Ihrem heutigen Antrag liegt. Wir wissen beide, dass das am Ende wahrscheinlich nicht der Wahrheit entspricht. ({0}) Deswegen versuche ich, einige sachliche Anmerkungen aus meiner Sicht in dieser Debatte zu machen. Deutschland ist - das würde ich am Beginn gerne bewusst festhalten - bei der Einführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer gemeinsam mit Frankreich und Österreich momentan Motor in Europa. ({1}) Um das sehr klar zu sagen, weil es hinsichtlich der nationalen Einführung, Herr Wissing, und der internationalen Einführung hier offensichtlich eine unterschiedliche Debattenlage gibt: Das Präsidium der CDU hat vor der Euro-Krise, am 14. Januar 2010, einstimmig beschlossen, dass wir eine internationale Finanztransaktionsteuer einführen wollen. ({2}) Wir haben genauso klar gesagt: „Wir sind gegen einen nationalen Alleingang“, weil wir fest davon überzeugt sind, dass bei solchen Fragen sowohl die Zeit der Ideologien als auch die Zeit nationaler Alleingänge vorbei ist. Auch das ist eine Lehre aus der Krise. ({3}) Die Einheit des Euro-Raums - was aus meiner Sicht das Minimum sein müsste -, besser noch die Einheit Europas, sollte in dieser Frage unser Maßstab und Ziel sein. Es sind schon viele Zahlen genannt worden; ich greife nur eine heraus: Zwei Drittel des Handelsumsatzes der europäischen Börsen - da bin ich noch nicht in New York, Schanghai oder Hongkong - entfallen auf die Börsen in London und Madrid. Das heißt, wenn Großbritannien und Spanien nicht mitmachen, bleibt dieser europäische Tiger, den wir zu schaffen versuchen, zahnlos. Wir wissen auch, dass die Deutsche Börse in Frankfurt nicht einmal einen Anteil von 10 Prozent am europäischen Börsenumsatz macht. Wir sind also gut beraten, die Bundesregierung dabei zu unterstützen, internationale Lösungen - zumindest im Euro-Raum, besser noch in ganz Europa - herbeizuführen. ({4}) Weil ich den Eindruck habe, dass wir Deutsche hier unsere Position offensiv vertreten müssen, will ich sehr deutlich machen: Wir von der CDU/CSU sind nicht bereit, zu akzeptieren, dass auf der einen Seite Triple-ALänder wie Frankreich, Österreich und Deutschland, die momentan Motor des Aufschwungs sind, und auch Finnland und Luxemburg dringend benötigt werden, um mit ihrer herausragend guten Bonität Europa und den Euro zu stabilisieren, sich Europa auf der anderen Seite weigert, von diesen Ländern vorgeschlagene Regelungen zu internationalen europäischen Spielregeln zu akzeptieren. Wir erwarten deshalb, dass die EU - in diesem Punkt teile ich Ihre Kritik, Herr Kollege Schick - jetzt zügig zu Ergebnissen kommt. Deutschland hat sich aufgrund guter Politik, aber auch wegen der vielen fleißigen Arbeitnehmer und insbesondere des deutschen Mittelstandes, der momentan in Europa ein stabilisierender Faktor ist - auch das muss man an dieser Stelle einmal wohlwollend und lobend erwähnen -, als stabil erwiesen und sollte zusammen mit den vorhin von mir erwähnten Ländern Vorschläge für die Ausgestaltung von europäischen Spielregeln machen. Unser Finanzminister Wolfgang Schäuble hat völlig recht, wenn er sagt: Eines darf keinesfalls passieren, nämlich dass wir drei Jahre diskutieren und dann nichts hinbekommen. - Das wäre in der Tat ernüchternd für Europa, ernüchternd für das Thema, aber auch ernüchternd für die Bevölkerung, weil sie dann den Eindruck bekommen würde, dass wir weder Lehren aus der Krise gezogen haben noch international in der Lage sind, den Finanzsektor zu regulieren und so zu gestalten, wie wir es mit Blick auf unsere Verantwortung für richtig halten. ({5}) Ich will jetzt sehr bewusst das aufgreifen, was Sie, Herr Wissing, gesagt haben und was Gegenstand einer kritischen Debatte war: Europa - das ist zumindest mein Eindruck - benötigt Deutschland. Wenn ich an die nächsten 48 Stunden denke, liegt mir auf der Zunge, zu sagen: offenkundig mehr denn je. Europa benötigt insofern auch unsere soziale Marktwirtschaft, die nicht zuletzt der Grund dafür ist, dass Deutschland so stark ist. Zu dieser sozialen Marktwirtschaft - ich sage das sehr deutlich - gehören neben Freiheit auch Spielregeln und soziale Gerechtigkeit. ({6}) Wer von uns also erwartet, dass wir in einer schwierigen Situation zu Europa stehen - ich vermute, die Mehrheit dieses Hauses wird dies in den nächsten Stunden tun - und dass wir für unsere Währung Euro einstehen, der muss auch akzeptieren, dass wir bei den Regeln für die Finanz- und Wirtschaftsordnung in Europa ein kräftiges Wörtchen mitreden möchten. Die Menschen in Deutschland erwarten von uns zu Recht, dass wir, wenn wir aus Überzeugung für Europa werben, auch in anderen Bereichen unsere Positionen durchsetzen, die zur Vermeidung einer neuen Krise notwendig sind. Wir erwarten hier von unseren europäischen Partnern und Freunden - ich sage das sehr klar und glaube, dass dies auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland, völlig unabhängig von der Parteiorientierung, so sieht -, dass sie die berechtigte Interessenlage Deutschlands respektieren und sich in der Frage einer inDr. Frank Steffel ternationalen europäischen Finanztransaktionsteuer dem Vorschlag von Frankreich, Österreich und Deutschland anschließen. Nach einer europäischen Lösung - auch das sollte heute betont werden - muss es unser Ziel sein, eine internationale Regelung in Nordamerika und in vielen anderen Ländern dieser Erde durchzusetzen. Denn nur internationale Regeln schützen uns vor einer erneuten Finanzkrise. Der Grund für den Dissens in der Debatte, Herr Kollege Wissing, war - das war zumindest mein Eindruck -, dass einige Ihnen unterstellt haben, Sie würden nicht für internationale Regeln einstehen. Natürlich sind wir in der Koalition gemeinsam der Auffassung, dass auf internationaler Ebene Lehren aus dieser Finanzkrise gezogen werden müssen. Da schaden nationale Alleingänge. Denn bei aller Bedeutung der Finanztransaktionsteuer: Sie wird nicht alle Probleme, die im Rahmen der Finanzkrise aufgetreten sind, lösen können. Sie wäre aber ein ergänzender Baustein neben vielen anderen Dingen, die wir gemeinsam in den letzten Jahren angegangen sind, und insofern ein weiterer Schutz vor einer möglichen nächsten Krise. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in ihrer Position, europäische Regelungen zu erreichen und dann daran zu arbeiten, sie international durchzusetzen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte hat uns in ihrem Verlauf leider gezeigt - das wissen wir eigentlich schon -, wie der Zustand dieser Regierungskoalition ist und in welch unterschiedlichen Tonarten dort gesprochen wird. Ich will das aber gar nicht weiter vertiefen, weil ich dann meine wertvolle Redezeit auf die FDP verwenden müsste. Meine Redezeit beträgt sieben Minuten. Diese Zahl ist Gott sei Dank höher als die Prozentzahl, die die FDP bei einer Wahl bekäme. Ich möchte gerne aufgreifen, was mein Vorredner, Herr Steffel, deutlich gemacht hat, und an seine Rede anknüpfen. Wir als Sozialdemokraten haben den vorliegenden Antrag nicht eingebracht, um dieses Thema zu vereinnahmen. Dafür sind dieses Thema und die damit in Verbindung stehende Aufgabe zu wichtig. Wir haben das Ganze im Zusammenhang mit der Bewältigung der europäischen Krise und der Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten dieser Krise zu sehen. Das müssen wir erreichen. Das wollen wir über eine Finanztransaktionsteuer hinbekommen. Daher ist es richtig, wenn hier eine solche Tonart angeschlagen wird. ({0}) Ich möchte noch auf etwas anderes eingehen. Es ist erfreulich, zu hören, dass der Bundesfinanzminister, der sich hierzu unterschiedlich deutlich ausgesprochen hat, von Teilen der Koalition unterstützt wird. Auch bei der Bundeskanzlerin gab es ein Hin und Her; ({1}) auch sie hat sich in diese Richtung geäußert. Hier bedarf es weiterer Unterstützung. Wir sind auch deshalb noch nicht weiter, weil aus der Regierungskoalition keine einheitliche Unterstützung kommt. Da wollen wir gemeinsam nachhelfen. Wir hoffen - diese Hoffnung gebe ich noch nicht auf; denn die Debatte ist noch nicht zu Ende -, dass wir hier einen Schritt weiterkommen. Ich will einige Punkte ansprechen, die missverstanden worden sind. Herr Michelbach hat sich dahin gehend geäußert - das ist der erste Aspekt -, wir als SPD wollten diese Steuer national einführen. In unserem Antrag wird klar, dass eine internationale Einführung richtig wäre. Ich muss an dieser Stelle aus unserem Antrag zitieren - denn er ist offensichtlich nicht gelesen worden -: Die Gesetzesinitiative soll so ausgestaltet sein, dass sie sich in der Europäischen Union …, notfalls aber vorerst allein in der Euro-Zone oder in einem Zusammenschluss von mehreren Einzelstaaten einführen lässt … Darum geht es uns; das ist der Weg. Dazu sage ich: Mit den Worten „mehrere Einzelstaaten“ sind nicht nur Deutschland, Frankreich und Österreich gemeint, sondern es sollte auch bekannt sein, dass Belgien, Luxemburg, Finnland und außerhalb des EURaums auch Norwegen diesen Weg mitgehen würden. Von daher gibt es hierfür eine breite Basis. Diese Chance muss ergriffen werden. Das ist der Kern des Antrags. Darum geht es. ({2}) Der zweite Aspekt ist der Prüfbericht. Es war gestern im Finanzausschuss toll, Herrn Wissing und Kommissar Semeta nebeneinander sitzen zu sehen. Ich bewundere Herrn Wissing dafür, dass er gestern die Nerven behalten hat. ({3}) Eigentlich hätte er aus dem Hemd springen müssen; denn der Kommissar der Europäischen Union hat gestern deutlich gemacht, dass die EU-Kommission nicht mehr an der Finanzaktivitätsteuer festhält, die die Bundesregierung dankenswerterweise ablehnt und für die es hoffentlich keine Mehrheit gibt, sondern jetzt vorurteilsfrei die Finanztransaktionsteuer prüfen will. Er hat zu dem wichtigen Thema der Gefahr der Abwanderung erklärt, dass wir uns nicht damit aufhalten sollten, darüber zu jammern und es als Gegenargument zu strapazieren, sondern dass die Kommission versucht, Wege zu finden, wie man diese Abwanderung einhegen kann, wie man dafür sorgen kann, dass die Transaktionen besteuert werden, ohne dass es zu Abwanderungen kommt. Einen solchen Weg muss man gehen. Das ist ein konstruktiver Umgang damit. Herr Wissing, statt hier Ihre Märchenstunde über die Vergangenheit abzuhalten, die offensichtlich nur Sie selber und ein paar FDPler erlebt haben, wäre es besser gewesen, dies zu sagen und deutlich zu machen; denn das hätte auch Ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Ich erwarte, dass Sie als Vorsitzender des Finanzausschusses - das sind Sie noch - die Debatten kennen. Sie haben uns an einer Stelle Unglaubwürdigkeit vorgeworfen: Wir würden sagen, dass der Finanzsektor nicht vernünftig besteuert wird, und das sei falsch. Die EU-Kommission befasst sich aber deshalb mit diesem Thema, weil festgestellt worden ist - Kollege Schick hat dies dargestellt -, dass der Finanzsektor im Bereich der Umsatzbesteuerung ausgespart werde, dass dies - so steht es in Vorlagen der EU-Kommission - eine Unterbesteuerung des Finanzsektors bedeute und dass man das korrigieren wolle. Ich erwarte, Herr Wissing, dass Sie als Vorsitzender des Finanzausschusses das wissen und uns hier nichts vorwerfen, sondern endlich klar die Wahrheit sagen und sich dazu bekennen, dass Sie - und nicht wir mit unserem Antrag - auf dem Holzweg sind. ({4}) Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren, sich wirklich zu überlegen, wie Sie sich in dieser Sache verhalten und damit umgehen wollen. In dieser Minute - das ist wahrscheinlich einmalig - führt die französische Nationalversammlung auf der Grundlage eines gleichlautenden Antrages die gleiche Debatte wie wir. Ich finde, das ist ein großer Schritt. Ich hoffe, dass wir einen solchen Gleichschritt, wie wir ihn jetzt mit unseren Parteien hinbekommen haben, auch zwischen Deutschland und Frankreich erreichen. Richtig überraschend und positiv ist aber, dass sich vorgestern die UMP, die konservative Partei Frankreichs, die Partei des Präsidenten Sarkozy, dem Antrag der Sozialisten in Frankreich, der dem Antrag der Sozialdemokraten in Deutschland entspricht, angeschlossen hat. ({5}) - Herr Brinkhaus, ich bedanke mich für die Detailkorrektur, die aber im Kern nichts ändert. Es wurde ein eigener Antrag eingebracht, so wie man das parlamentarisch macht; aber er ist im Kern wortgleich. Er sieht übrigens einen Steuersatz von 0,05 Prozent - Herr Michelbach hat dies hier noch bekrittelt - und eine breite Bemessungsgrundlage vor. Es gibt aber eine Differenz: Die Einnahmen sollen nicht unbedingt in den nationalen Haushalt eingestellt werden, wofür wir hier sind, sondern die UMP schreibt, dass dieses Geld insbesondere für Entwicklungshilfe und den Kampf für Klimaschutz eingesetzt werden soll. ({6}) Ich teile das von der inhaltlichen Seite her. Das könnte eine Verwendungsmöglichkeit sein. Wir sagen aber trotzdem, dass es eine Vereinnahmung in den nationalen Haushalt geben soll. Ich sage nur: Die UMP, Ihre Schwesterpartei in Frankreich, geht da einen Schritt weiter. Sie lehnen dies hier vehement ab. Auch das sollte Sie zum Nachdenken bringen. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie diesen Schritt gemacht hätten. Sie können das hier nachholen, indem Sie heute unserem Antrag zustimmen. Wenn Sie hier und heute einen eigenen Antrag - wortgleich mit unserem eingebracht hätten, dann hätten wir auch Ihrem Antrag zugestimmt, und wir hätten die Situation, dass nicht nur die Franzosen in ihrer Nationalversammlung,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- sondern hoffentlich auch wir hier die Finanztransaktionsteuer auf den Weg bringen könnten. Das braucht Deutschland dringend, das braucht Europa dringend, und das brauchen auch die Menschen in unseren Ländern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das deutsch-französische Verhältnis ist natürlich wichtig und verdient eine besondere Pflege. Es ist auch begrüßenswert, wenn solche Initiativen in beiden Parlamenten zeitgleich beraten werden. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass man die Dinge hier unkritisch durchwinkt, sondern man sollte schon einen kritischen Blick auf das werfen, was hier vorgelegt wurde. Sie schreiben in Ihrem Antrag als erste These, dass der Finanzsektor keinen seiner Bedeutung entsprechenden Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leistet. Das steht auf der ersten Seite. Da habe ich mich gefragt, wie es eigentlich um die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer und auch die Einkommensteuer bei den Managern jener Unternehmen steht; denn hier wird ja nach Leistungsfähigkeit besteuert. Dass da keiner einen seiner Bedeutung entsprechenden Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leistet, kann man sicherlich nicht sagen. Die Lösung aus Ihrer Sicht ist eine Finanztransaktionsteuer, die - das haben Sie ja selber im Laufe der Debatte mehrfach gesagt - wie eine Umsatzsteuer wirkt. Sie soll aber die Verursacher treffen. Wenn man eine solche Steuer einführen möchte, dann muss man Pro und Kontra abwägen. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob sie das geeignete Instrument ist, um dieses Ziel zu erreichen. Wen wollen Sie denn damit treffen? Angesichts der Immobilienblase in den Vereinigten Staaten, die man siBjörn Sänger cherlich als krisenursächlich ansehen kann, frage ich mich, ob Sie die Clinton-Administration treffen wollen, ({0}) die hinsichtlich der Hypothekenkredite in den Vereinigten Staaten einen Fehler gemacht hat. Oder wollen Sie vielleicht die Landesbanken treffen, die die Krise nach Deutschland importiert haben, oder am Ende gar die Sparkassenvorstände, die in den Aufsichtsräten der Landesbanken agiert haben? Das alles werden Sie mit der Finanztransaktionsteuer nicht schaffen. Im Gegenteil: Sie werden wie bei jeder Umsatzsteuer erreichen, dass die Belastung letzten Endes an den Anleger durchgereicht wird. Dabei entsteht auch - das schreiben Sie sogar in Ihrem Antrag, und es blieb im Übrigen damals in der Anhörung unwidersprochen - ein gewisser Effekt für die Arbeitnehmer, zum Beispiel auf ihre Pensionskassen, und für die RiesterSparer. ({1}) Denn wenn die Vermögen entsprechend umgeschlagen werden, fällt auch diese Steuer an. Das kann das Endvermögen um 6 bis 9 Prozent mindern. Die Frage ist, ob man damit wirklich die Finanzmärkte erreicht. Werden diese an der Krise beteiligt? Reichen die Maßnahmen, die die Bundesregierung zum Beispiel mit der Bankenabgabe eingeleitet hat, nicht aus, um den Sektor entsprechend an der Krise zu beteiligen? Des Weiteren möchten Sie die Finanztransaktionsteuer zur Bekämpfung der Armut heranziehen. Das ist ein hehres, richtiges und gutes Ziel. Die Frage ist aber, was Sie mit dem Geld machen wollen. Wollen Sie damit die Krisenkosten bezahlen oder die Armut bekämpfen? Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben; es sei denn, Sie beherrschen die Kunst der wundersamen Geldvermehrung. Das Ziel, das Sie mit dieser Steuer verfolgen, entspricht dem Ziel, das Sie eigentlich immer verfolgen, nämlich Abkassiererei. Sie stellen damit Ihr Ziel in eine Linie mit Ihren bisherigen Vorhaben: Trinken für die Truppe, Rauchen für die Rente und jetzt Spekulieren gegen Hunger. ({2}) Die nächste Frage, die sich mir stellt, ist, ob die Lenkungswirkung, die Sie dieser Steuer unterstellen, überhaupt eintreten wird. Manche Ökonomen sagen, dass Sie damit Liquidität aus dem Markt herausziehen und die schnelle Informationsweitergabe bei Fehlbewertungen am Markt beseitigen. ({3}) Am Ende würde eine derartige Steuer möglicherweise mehr schaden als nutzen. Damit komme ich zur Frage der Abwanderung. Das ist aus meiner Sicht als jemand, der aus Hessen kommt - Frankfurt liegt schließlich in Hessen -, ({4}) das größte Problem. Wenn Sie eine solche Steuer nur in der Euro-Zone einführen wollen, dann ist der Finanzplatz London davon nicht betroffen. In den Millisekunden, in denen diese Geschäfte stattfinden, Herr Dr. Troost, kann man auch den Handelsplatz ändern. ({5}) Das ist ein einfacher Klick im Programm, und schon findet die Transaktion in London statt. Damit haben Sie letztlich keines Ihrer Ziele erreicht, weil die Spekulation und der Handel mit Finanzprodukten dort weiterlaufen. Wir unterstützen selbstverständlich eine Prüfung und gründliche Aufarbeitung aller Punkte, die ich eben genannt habe, um zu einer vernünftigen Datenbasis zu kommen und zu erkennen, ob das Instrument sinnvoll ist. Wir wollen aber keine Einführung einer solchen Steuer unterhalb der Europäischen Union. Wenn überhaupt, dann wäre die Ebene der G 20 sinnvoll. Ich glaube aber, das ist ausgeschlossen, wobei man auch da sagen kann, dass dann möglicherweise der 21. kommt, der Regulierungsarbitrage schafft. Unterhalb der Europäischen Union bzw. ohne den Finanzplatz London werden wir die Steuer nicht einführen können, und wir werden dies auch nicht wollen. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Axel Troost hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen ausdrücklich diese zeitgleiche Debatte hier und im französischen Parlament. Die Forderung nach einer Finanztransaktionsteuer, für die wir schon vor der Finanzkrise eingetreten sind, ist inzwischen breit in der Bevölkerung und auch in diesem Haus verankert. Dem ist eine lange Vorarbeit vorausgegangen. Zunächst wurde die Forderung vor allem von Attac erhoben, inzwischen unterstützt sie ein breites Bündnis von 82 Organisationen in der Kampagne „Steuer gegen Armut“. Dieses Engagement will ich hier ausdrücklich würdigen. ({0}) Auch international ist die Stimmung gut: Neben Frankreich sind inzwischen auch viele andere Länder zu der Einführung bereit. Das Europäische Parlament - das ist heute noch nicht erwähnt worden - hat am 8. März mit der deutlichen Mehrheit von 78 Prozent für die Einführung dieser Steuer gestimmt. Die traditionell eher links angesiedelte Forderung wird inzwischen also auch breit von Konservativen in Europa befürwortet. Vorgestern, am Dienstag, hat Kommissionspräsident Barroso gesagt: Ich bin für eine Finanzmarkttransaktionsteuer und werde dazu in sehr naher Zukunft einige Ideen einbringen. Nun haben wir gehört, dass uns der zuständige EUKommissar, Herr Semeta, der gestern bei uns war, zugesichert hat, dass eine unvoreingenommene, ergebnisoffene Prüfung vorgenommen wird. Ich selbst bin Volkswirt und kenne die Kolleginnen und Kollegen und die Mehrheiten. Wenn die Mehrheit derjenigen, die prüfen, aus Personen besteht, die seit 20 Jahren sagen, die Finanzmärkte seien das Effektivste und Finanzkrisen könnten nicht vorkommen, dann ist zumindest nicht sicher, ob diese Personen ihre Meinung wirklich so schnell ändern. Oder - um es an einem einfachen Beispiel deutlich zu machen -: Wenn Sie dem sehr berühmten Professor „Un-Sinn“ ({1}) den Auftrag geben, unvoreingenommen und ergebnisoffen eine Prüfung durchzuführen, dann wissen Sie, was das Ergebnis ist: Unsinn! ({2}) Wir Bundestagsabgeordnete sind nicht dazu gewählt worden, Unsinn zu machen, sondern wir sind gefordert, Politik zu machen. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich die Rede von Herrn Steffel begrüßen und sagen, dass nahezu Einmütigkeit herrscht, dass Druck ausgeübt werden muss und wir deutlich machen müssen, dass wir als deutsches Parlament der Ansicht sind, dass diese Steuer auf europäischer Ebene breit eingeführt werden muss. ({3}) Die Bundesregierung bemüht sich in der Tat, bei dieser Einigung voranzukommen, und dafür loben wir sie. Aber mein Eindruck ist bisher, dass es zwei große Probleme gibt. Das erste Problem ist die FDP. ({4}) Das ist heute sehr deutlich geworden. Ich will auf die Beiträge gar nicht eingehen. Es war nur peinlich, was Herr Sänger hier vorgetragen hat. ({5}) Es ist wirklich so: Die FDP steht auf völlig verlorenem Posten und sollte nicht nur ihre Führungsmannschaft, sondern auch ihre unhaltbaren Positionen ausrangieren, damit wir weiterkommen. ({6}) Ich habe schon einmal in einer Debatte zu diesem Thema gesagt: Es kann nicht sein, dass der Schwanz FDP in dieser Frage mit dem Hund, dem gesamten Parlament, wackelt. ({7}) Wenn es stimmt, dass die FDP und die CDU/CSU eine gemeinsame Fraktionsklausur abhalten wollen, dann kann ich die CDU/CSU nur bitten, die FDP in dieser Frage wieder an die Leine zu nehmen, damit man mit gemeinsamen Positionen vorangehen kann. Das zweite Problem ist die Frage, auf welcher Ebene die Steuer eingeführt werden soll und wie groß die Zustimmung zu der Einführung der Steuer sein muss. Wenn man die Zustimmung aller 27 EU-Staaten fordert, dann ist das aus unserer Sicht eher unrealistisch. Es muss darum gehen, mit dem Kern, Frankreich, Österreich und anderen, zu schauen, insbesondere noch Großbritannien ins Boot zu bekommen, um dann die Steuer einzuführen. Es muss darum gehen, eine Koalition williger Staaten hinzubekommen, die dann entsprechend handelt. Was wir wirklich brauchen, ist ein Vorratsbeschluss des Deutschen Bundestages, der dokumentieren würde, dass die Bundesrepublik wie Frankreich, Belgien und Österreich sofort eine solche Steuer einführen würde. ({8}) Lassen Sie mich noch etwas zu den Einnahmen aus dieser Steuer sagen. Eine Finanztransaktionsteuer - das wissen alle, die sich damit beschäftigt haben - bringt weit mehr Einnahmen als die von Schäuble veranschlagten 2 Milliarden Euro. Insofern ging es nie um so etwas wie ein Instrument zur Finanzierung von Steuersenkungen für Hoteliers; die Finanztransaktionsteuer ist vielmehr traditionell eine Steuer zur Finanzierung globaler Angelegenheiten wie Entwicklungshilfe oder Umweltund Klimaschutz. ({9}) Und das ist auch richtig so. Seit 40 Jahren haben alle Bundesregierungen das Versprechen gebrochen, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe zu verwenden. Eine Mehrheit von 353 Bundestagsabgeordneten, darunter also auch Mitglieder der Regierungskoalition, unterstützt inzwischen einen Aufruf zur Erfüllung dieses Versprechens. Mit einer Finanztransaktionsteuer wäre dies problemlos finanzierbar. Es ist schon wichtig, das hier noch einmal zu betonen. Das heißt nicht, dass diese Steuereinnahmen nicht in den Haushalt fließen. Das heißt auch nicht, dass darüber hinausgehende Einnahmen aus dieser Steuer nicht für eine nachhaltige Politik in der Bundesrepublik selbst genutzt werden können. Die Bundesregierung sollte in enger Abstimmung mit der französischen Regierung und koordiniert mit anderen Regierungen noch in diesem Jahr eine Gesetzesinitiative für eine europäische Finanztransaktionsteuer vorlegen und dann in der Tat - ich stimme Herrn Steffel völlig zu - auch international, etwa im G-20-Rahmen, versuchen, andere davon zu überzeugen, dass das Erheben dieser Steuer eine sinnvolle Maßnahme ist. Wir sollten versuchen, noch vor der Sommerpause einen entsprechenden Vorratsbeschluss hier im Bundestag zu fassen. Danke schön. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Ralph Brinkhaus spricht für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zwei Vorbemerkungen machen: Erstens. Ich glaube, dass eine gut organisierte, international möglichst breit angelegte Finanztransaktionsteuer nicht dazu führen wird, dass der Finanzplatz Deutschland ernsthafte Probleme bekommt. Ich bin deswegen der Meinung, dass die eine oder andere Aufregung an dieser Stelle übertrieben ist. Zweitens. Ich bin der Meinung, dass das Konstrukt Finanztransaktionsteuer völlig überschätzt wird. Man konnte hier hören, welche Einnahmen damit erzielt werden sollen, was damit gemacht werden soll: Der Hunger und die Armut in der Welt sollen damit bekämpft werden; die Umwelt soll gerettet werden. ({0}) Ich glaube, das ist illusorisch. Es ist auch illusorisch, zu glauben, dass wir mit einer lokal begrenzten Finanztransaktionsteuer eine Lenkungswirkung in der Form erzielen, dass unerwünschte Geschäfte von den internationalen Finanzmärkten verschwinden. Ich finde es befremdlich, mit welcher teilweise geradezu religiösen Inbrunst dieses Thema vorangetragen wird. Ich erkenne den guten Willen, insbesondere bei einigen Nichtregierungsorganisationen; aber ich sehe auch sehr viel Naivität. ({1}) Zu Ihrem Antrag. Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf, sich zusammen mit den europäischen Partnern für eine Initiative zur Finanztransaktionsteuer einzusetzen. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie wissen: Die Bundesregierung macht das bereits. Sie wissen auch: Die Bundesregierung findet nicht schrecklich viele Partner für dieses Projekt. Sie wissen darüber hinaus, dass wichtige europäische Länder gegen dieses Projekt sind. Insofern ist Ihr Antrag an dieser Stelle fehlgeleitet. Was Sie formulieren, ist nicht richtig. Zweitens. Sie fordern eine Finanztransaktionsteuer in Höhe von 0,05 Prozent. Sie müssen uns jetzt auch einmal begründen, wie Sie auf diese Zahl kommen. Herr Troost ist hier einmal durch die Gegend gelaufen und hat 0,01 Prozent gefordert. ({2}) Es gibt NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die 0,1 Prozent fordern. Dieser Steuersatz ist durchaus erheblich. Wenn nämlich ein zu niedriger Steuersatz gewählt wird, dann werden wir kein Steuersubstrat erzielen. Wenn ein zu hoher Steuersatz gewählt wird, dann werden wir die Geschäfte, die wir besteuern wollen, im Zweifel in andere Länder vertreiben, und zwar in solche, in denen diese Steuer nicht erhoben wird. Das gilt es zu bedenken. Das konnten Sie nicht ausräumen. ({3}) Sie fordern in Ihrem Antrag, dass diese Steuer auf Wertpapiergeschäfte, auf Derivate, auf Devisentransaktionen erhoben wird. Das kann man machen. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie erklären - schließlich wollten Sie mit diesem Antrag etwas Neues einbringen -, warum Sie genau diese Abgrenzung vornehmen. Sie sagen: Wir wollen börsliche und nichtbörsliche Geschäfte besteuern. Auch da müssen Sie mir noch erklären, wie das administrierbar sein soll. Wie soll zum Beispiel die Verwaltung von nichtbörslichen Geschäften aussehen? Das ist durchaus eine große Herausforderung. Sie sagen, meine Damen und Herren von der SPD, dass diese Steuer im ersten Schritt dazu genutzt werden soll, die nationalen Haushalte zu stärken. Das kann man machen. Damit befinden Sie sich im Widerspruch zu den Nichtregierungsorganisationen, auch zu einzelnen Parteien, die dezidiert fordern, dass dieses Geld zur Rettung der Umwelt und des Klimas, zur Bekämpfung des Hungers und für die Dinge, die ich eben benannt habe, verwandt wird. Sie müssen auch beantworten, warum Sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen sind. Sie sagen: Wir bauen eine Kaskade auf. Die Steuer soll möglichst in der Europäischen Union gelten, wenn das nicht klappt, im Euro-Raum und sonst in einer Koalition der Willigen. Herr Sieling von der SPD hat gerade aufgeführt, wer zu dieser Koalition der Willigen, die das einführen wollen, gehören könnte. Aber Sie müssen die Frage beantworten: Was ist, wenn Großbritannien, der Finanzplatz London, nicht mitmacht? Dann bekommen wir ein erhebliches Problem. Was machen wir, wenn die Schweiz nicht mitmacht, wovon auszugehen ist? Diese Fragen sind unbeantwortet geblieben. Zum Schluss - ich weiß nicht, warum Sie das vorgesehen haben - fordern Sie, dass das Parlament über den Prozess der Entscheidungsfindung zeitnah und umfassend zu informieren ist. Das ist ein selbstverständliches parlamentarisches Recht. Aber vielleicht war einfach noch ein bisschen Platz auf dem Papier, sodass Sie das hinzugefügt haben. Wenn ich das alles einmal zusammenfasse, dann muss ich sagen: Ich halte es - das ist sehr ernst gemeint - für eine sehr gute Idee, etwas zusammen mit den französischen Parlamentariern zu machen. Ich glaube, das sollten wir an der einen oder anderen Stelle öfter machen, und zwar deswegen, um einen Gegenpol zum Europäischen Parlament zu bilden und um die Bedeutung der nationalen Parlamente herauszustellen. Ich glaube, das ist wichtig und gut. Dieser Antrag eignet sich nur bedingt dafür, weil Sie mit Ihrem Antrag nichts wirklich Neues liefern, ({4}) weil Sie Dinge bekräftigen, die schon geschehen, weil Sie viele Fragen unbeantwortet lassen und weil dieser Antrag, bei allem Respekt, handwerklich noch eine Menge Potenzial nach oben hat. Insofern habe ich mir schon die Frage gestellt: Warum wurde dieser Antrag eingebracht? Im Übrigen - Sie haben es gestern im Finanzausschuss gehört -, das Timing ist sehr schlecht, die Europäische Kommission erwartet die Ergebnisse wichtiger Studien in den nächsten Wochen, die uns dann sicherlich auch weiterbringen. ({5}) Ich habe mir also die Frage gestellt: Was ist der Anlass dafür, dass die SPD diesen Antrag eingebracht hat? Erste Vermutung: Sie wollten als Opposition der Regierung einfach einmal zeigen: Ihr müsst mehr tun. Ich glaube, die Regierung tut eine Menge, und es ist schon erstaunlich, dass es eine christlich-liberale Regierung ist, die das Projekt Finanztransaktionsteuer mit einer derartigen Vehemenz vorantreibt, und nicht eine sozialistische Regierung. ({6}) Das kann es also nicht sein. Der zweite Punkt ist: Sie wollten vielleicht dezent darauf hinweisen, dass unser Koalitionspartner dieses Projekt nicht mit der gleichen Begeisterung verfolgt, wie wir das tun. ({7}) Dazu muss ich sagen: Das ist Ihnen, wenn ich mir die heutige Debatte anschaue, graduell auch durchaus gelungen. ({8}) Aber wir befinden uns in einer Koalition. Ich glaube, es ist auch ganz gut und richtig, dass die FDP nicht immer einer Meinung mit uns ist und andere Akzente setzt. Das war übrigens in der Großen Koalition mit Ihnen, Herr Poß, genauso der Fall. ({9}) In einer Koalition muss man sich einfach einigen und Kompromisse finden. Ich glaube, die Regierung hat einen guten Kompromiss gefunden und vertritt diese Linie eigentlich ganz gut. ({10}) Das kann es also auch nicht sein. Meine dritte These ist - das ist die These, die am schlagendsten ist -, dass die SPD einfach mal ein finanzpolitisches Lebenszeichen von sich geben wollte. ({11}) Denn während diese Bundesregierung und diese Regierungskoalition in den letzten 14 Monaten acht Gesetze auf den Weg gebracht haben, darunter sehr umfangreiche, innovative Pakete - ob das nun das Verbot der Leerverkäufe war oder zum Beispiel das Bankenrestrukturierungsgesetz -, wurde in den Diskussionen von Ihrer Seite, subjektiv gefühlt, immer nur geäußert: Eigentlich brauchen wir eine Finanztransaktionsteuer. Mehr ist nicht gekommen. Das war, subjektiv gefühlt, Ihr Beitrag. ({12}) Jetzt ist es nicht meine Aufgabe, die Oppositionspolitik zu bewerten. Aber, ehrlich gesagt, konstruktive Vorschläge, auch wenn sie nicht gut waren und wir sie nicht teilen, sind leider nicht von der größten Oppositionspartei gekommen, sondern von den Grünen. Das ist ein peinliches Beispiel dafür, wie die finanzpolitische Qualität und die Situation der SPD momentan sind. Außer Finanztransaktionsteuer fällt Ihnen nichts, aber auch gar nichts ein. ({13}) Das Schlimme an der Sache ist, dass Sie den Menschen damit suggerieren, dass die Regulierung der Finanzmärkte und das Erzielen von Steuersubstrat aus dem finanzwirtschaftlichen Sektor mal so eben per Federstrich durch diese Steuer erreicht werden können. Nein, das ist eine mühsame Kärrnerarbeit, das ist ein Kampf um jede Regulierung, und das ist ein Kampf um jede gute Entscheidung. An diesem Kampf haben Sie sich nicht beteiligt. Das werfe ich Ihnen vor. ({14}) Sie haben immer nur die Finanztransaktionsteuer gefordert. Das ist der einzige Beitrag, den Sie hier leisten, und das ist schlichtweg zu wenig. ({15}) Wie geht es jetzt weiter? Das ist ja die entscheidende Frage. Es geht jetzt so weiter, wie es die Bundesregierung, unser Bundesfinanzminister und unsere Bundeskanzlerin angekündigt haben: Wir werden auf europäischer Ebene weiterhin vehement darum kämpfen, dass wir eine vernünftig ausjustierte Finanztransaktionsteuer bekommen. Wir werden daran arbeiten. ({16}) Aber wir werden auch darauf achten, dass eine solche Finanztransaktionsteuer, wenn sie denn eingeführt wird, so organisiert wird, dass danach der Finanzplatz Deutschland und der Finanzplatz Europa noch Bestand haben und nicht das passiert, was den Schweden Ende der 90er-Jahre passiert ist, als mit viel gutem Willen eine ähnliche Steuer eingeführt worden ist, was jedoch zur Folge hatte, dass daraufhin der Finanzplatz nachhaltig verwüstet worden ist. Das ist nicht der richtige Weg. ({17}) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der Weg, den diese Regierung geht, ist nicht spektakulär, weil Verhandlungen, die im demokratischen Umfeld stattfinden, nie spektakulär sind. Dieser Weg ist lang, aber wir werden ihn gehen. Ihr Antrag dazu war nett, aber nicht unbedingt hilfreich. Danke schön. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ihre Rede, Kollege Brinkhaus, stand wohl offenbar unter dem Obersatz, wie man acht Minuten Redezeit füllt, wenn man unschlüssig ist. Ich glaube, das war Ihr Problem. ({0}) Es ist in der Tat bemerkenswert, wie sich die Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion bisher verhalten haben; Sie, Herr Flosbach, werden ja gleich noch sprechen. Der Kollege Dr. Steffel ist sehr deutlich geworden und hat, wie ich finde, eine vollkommen klare Linie vertreten. Diese hat ja die Koalition in der Bundesregierung eigentlich schon beschlossen. Insofern müsste eigentlich auch die FDP sagen: Das ist schon beschlossen. Wir müssen das mittragen, weil wir in dieser Koalition sind und als eine der Koalitionsfraktionen die Regierung tragen. Kollege Michelbach war ein wenig offen in seinen Formulierungen; nun gut. ({1}) Und Kollege Brinkhaus war ein wenig unschlüssig. ({2}) - Nein, ich war gerade hier. Sie waren ein wenig unschlüssig. Sie haben sich nicht so recht geäußert, in welche Richtung Sie denn nun wirklich etwas vorantreiben wollen. Es war Ihnen irgendwie nicht so ganz klar, wie Sie mit dieser Frage umgehen sollen. ({3}) Deswegen haben Sie versucht, sich an der SPD abzuarbeiten, die selbstverständlich im Finanzausschuss an allen mit der Finanzmarktregulierung zusammenhängenden Themen genauso verantwortungsvoll arbeitet wie Sie. ({4}) - Ich bin stellvertretendes Mitglied des Finanzausschusses. Ich komme gewöhnlich nicht, ({5}) aber ich habe Zugang zu den Protokollen. Herzlichen Dank. Vor ungefähr zwei Monaten hat die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank stattgefunden. Im Vorfeld haben 1 000 Ökonomen aus 53 Ländern, darunter Jeffrey Sachs, Dani Rodrik und Christian Fauliau, einen Aufruf unterzeichnet, in dem ein Appell an das G-20-Finanzministertreffen zur Einführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer enthalten war. Das hat bedauerlicherweise die dort Zusammengekommenen nicht weiter interessiert. In der Unterrichtung des Bundesministeriums der Finanzen an den Finanzausschuss über die Frühjahrstagung vom 14. bis 16. April in Washington heißt es unter „Sonstiges“ - man merke: „Sonstiges“ -: Das Thema Entwicklung inklusive Financial Transaction Tax spielte bei dem Treffen keine größere Rolle. Bedauerlicherweise muss man das feststellen. Genau hier knüpft der Antrag der SPD an. Wenn wir auf der Ebene der G 20 zurzeit nicht vorankommen, dann ist es nötig, über ein abgestuftes Verfahren, wie wir es im Antrag dargestellt haben, wie es auch von meinen Vorrednern dargestellt worden ist und wie es übrigens auch Kollege Steffel als möglich und zielführend - in dieser Reihenfolge natürlich - dargestellt hat, das Thema Finanztransaktionsteuer voranzutreiben. Selbstverständlich verfolgen wir immer noch das große Ziel, möglichst alle mit ins Boot zu holen. Aber wenn das nicht geht, sollten zumindest wir damit anfangen. Eigentlich müssten wir doch davon überzeugt sein, dass dieses Vorhaben, wenn es denn gut ist und ein höheres Finanzaufkommen ermöglicht, eine Strahlkraft entwickeln wird. Es macht dann auch nichts, wenn der Londoner Finanzplatz nicht von Anfang an dabei ist. Man sollte sich nämlich nur einmal vor Augen führen, dass Großbritannien bei der Relation der Neuverschuldung seines Haushaltes zum Bruttoinlandsprodukt auch nicht besser dasteht als Griechenland. Großbritannien könnte also durchaus auch ein bisschen Geld gebrauchen, um eigene Probleme besser zu lösen. ({6}) Ich will nur, vorsichtig und ohne den Briten zu nahe treten zu wollen, die Daten vor diesem Hause einmal deutlich machen. Wenn Aufkommen auf vernünftige Art und Weise erzielbar ist, wird das seine Strahlkraft entwickeln. Selbstverständlich wird das Aufkommen - da muss ich Ihnen widersprechen, Kollege Brinkhaus - dem deutschen Bundeshaushalt zugeführt, und die Verwendungszwecke werden dann in diesem Parlament festgelegt, auch zugunsten von Entwicklung und Klimaschutz, und zwar in den jeweiligen Haushalten. Uns liegt daran, dass es ein nationales Aufkommen ist, selbstverständlich auch mit internationalen Verwendungszwecken, die durch dieses Parlament, durch diesen Haushaltsgesetzgeber zu bestimmen sind. Es soll keine europäische Steuer mit europäischem Aufkommen definiert werden. So ist das zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir den NGOs widersprechen würden; im Gegenteil. ({7}) Ich möchte mich noch kurz mit der heutigen Debatte auseinandersetzen. Der Kollege Volker Wissing hat wie immer nach dem Motto agiert: Frechheit siegt. Damit hat er zu verbergen versucht, dass er die Finanztransaktionsteuer eigentlich nicht will. Er sagt das nur nicht deutlich, weil er sich nicht offen gegen die Koalitionsräson stellen kann. Aber es kommt klar genug zum Ausdruck. Da war es doch gut, dass der Kollege Dr. Steffel seinem Koalitionspartner Wissing einen Grundkurs in sozialer Marktwirtschaft gegeben hat. Das hat mich gefreut, Kollege Steffel. Es hat aber leider nicht geholfen. Denn schon der FDP-Kollege Sänger war, ebenso wie einige Zwischenrufer aus der FDP, nicht bereit, die in diesem Grundkurs enthaltene Botschaft zu akzeptieren. ({8}) In diesem Zusammenhang möchte ich den Mitgliedern der FDP - ich meine nicht die Fraktion - zurufen: Die Abgeordneten, die entsendet werden, sollten über eine Grundausstattung an historisch-politischem Wissen und an ökonomischem Wissen verfügen. Herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist sehr interessant. Aber an dieser Stelle sollte der Bundesregierung - unserer Bundeskanzlerin, unserem Finanzminister Schäuble -, auch vonseiten der Opposition, dafür gedankt werden, dass sie bei jeder internationalen Tagung deutlich macht, dass die große Mehrheit der Deutschen für eine Finanztransaktionsteuer ist, und dass sie diese Steuer weltweit, unter den G 20, in Europa oder wo auch immer einführen will. Das ist unser gemeinsames Anliegen, auch in diesem Parlament. Insbesondere die Regierungskoalition hat dies deutlich gemacht, indem sie 2,3 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt hat. ({0}) Damit haben wir ein Ziel formuliert, auch wenn uns bewusst ist, dass es weltweit große Widerstände und Schwierigkeiten, die Steuer durchzusetzen, gibt. ({1}) Ich finde es auch gut, dass beispielsweise die Parlamente in Frankreich und in Deutschland - wir haben ja einen relativ engen Kontakt zu den Franzosen - sowie Präsident Sarkozy sich dieses Themas angenommen haben und dass wir dieses Thema in der Europäischen Union federführend vorantreiben. Der heute vorliegende Antrag der SPD ist im Grunde eine Bestätigung der Regierungspolitik. ({2}) Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, über dieses Thema zu diskutieren; deswegen haben wir dazu keinen eigenen Antrag eingebracht. Ihre Worte, Herr Sieling, waren natürlich viel schärfer als der Inhalt Ihres Antrages. Es ist ein relativ ruhiger Antrag. Sie sagen: Setzen Sie die Finanztransaktionsteuer global durch. Wenn das nicht klappt, machen Sie es wenigstens in Europa oder, wenn auch das nicht funktioniert, zumindest in der Euro-Zone oder auch nur mit Gleichgesinnten. - Das ist natürlich ein bisschen wenig. Die Einführung beinhaltet ein höheres Risiko, wenn nur wenige dahinterstehen. Der Kollege Brinkhaus hat gerade am Beispiel Schwedens deutlich gemacht, wie innerhalb kürzester Zeit 85 Prozent des Marktes eingebrochen sind. Das passiert, wenn man es isoliert einführt und nicht mit den anderen abstimmt. Das ist ein großes Risiko, dessen wir uns bewusst sind. Ich glaube jedoch, dass insgesamt die Chance, dieses Thema voranzubringen, recht groß ist, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch global. Wir sollten uns einmal die Länder China, Hongkong, Brasilien, Indien und Südafrika auf der G-20-Ebene ansehen, die bereits heute eine Besteuerung ihrer Transaktionen durchführen. Übrigens hat auch Großbritannien eine Steuer, eine Stempelsteuer, die allerdings auf ansässige oder registrierte Unternehmen beschränkt ist. ({3}) Aber sie haben einen Weg gefunden, eine Besteuerung einzuführen, deren Aufkommen immerhin 3,5 Milliarden Pfund ausmacht. Warum sind wir im Grunde für eine Besteuerung des Finanzsektors? Wir haben nicht nur mehrere Krisen erlebt, sondern stecken teilweise noch mittendrin. Wir haben mehrfach überlegt, wie wir den Finanzmarkt durch eine Besteuerung an den Kosten beteiligen können. Hier wird über die Finanzaktivitätsteuer, das heißt die Besteuerung von Gewinnen und Vergütungen, diskutiert. Oder soll man den Handel von Papieren im Bereich der Banken, aber auch der Privatleute besteuern? Wir haben am Finanzmarkt bisher keine Mehrwertsteuer, die wir in allen anderen Bereichen selbstverständlich erheben. Der erste Gedanke ist natürlich: Die Banken waren die Hauptverursacher der Krise, also müssen wir sie heranziehen. Nun wissen Sie alle, dass etwa zehn Banken mit recht großen Beträgen gerettet werden mussten. Aber es ging auch um die anderen Banken, die durch die Rettung dieser zehn Banken gesichert werden mussten. Jetzt kann man natürlich sagen, dass diese Banken mehr Steuern zahlen sollten, zum Beispiel über die Aktivitätsteuer. Das würde heißen, die Gewinne und Vergütungen würden noch einmal zusätzlich besteuert. Das kann ein Weg sein. Aber mit dieser Besteuerung und dem damit verbundenen Kumulativeffekt, durch den die Banken mehrfach belastet würden, würden viele Dinge nicht umgesetzt werden, die wir mit Blick auf die Regulierung des Finanzmarktes für wichtig halten. Wir wollen, dass die Banken stabiler werden. Es ist ein Markenzeichen dieser Bundesregierung und dieser Koalition, dass wir in erster Linie darauf abstellen, wie wir den Finanzmarkt wieder stabil machen können. Da sagen wir: Wir brauchen mehr Eigenkapital in den Unternehmen. Das ist einer der absolut wichtigsten Punkte, damit eine solche Krise nicht noch einmal passieren kann. Stabilität - das ist das Wort dieser Regierung. ({4}) Daran anknüpfend haben wir - Herr Kollege Brinkhaus hat mehrere Gesetze aufgezählt - durch das sogenannte Restrukturierungsgesetz einen Weg gefunden, wie wir Banken auch in der Insolvenz übertragen können, wenn sie systemrelevant sind. Oder wir können sie pleitegehen lassen, ohne dass das System gefährdet wird. Dafür haben wir eine zusätzliche Bankenabgabe eingeführt. Dies ist zwar noch einmal eine Belastung des Finanzsektors, aber notwendig, um in Zukunft für weitere Krisen gewappnet zu sein. Das Wichtigste im deutschen Markt ist die Versorgung unserer mittelständischen Wirtschaft mit Krediten. Dazu brauchen wir stabile Banken. Deswegen müssen wir ganz genau festlegen, wo angesetzt werden soll, wo Banken belastet werden sollen, wo wir aber auch Banken stärken können, damit sie unseren Mittelstand finanzieren können. Wir haben im Gegensatz zu England einen starken Mittelstand. Diese Wirtschaft ist stabil. Diese Wirtschaft schafft es, 40 Prozent aller Leistungen ins Ausland zu transportieren. Das ist die Stärke. Deswegen müssen wir darauf achten, dass die Banken hier in Deutschland besonders stabil sind. Die Finanztransaktionsteuer soll auf Umsätze beispielsweise durch Aktien, Renten, Derivate, Devisen erhoben werden. Das ist hier vorgeschlagen worden. Die Europäische Kommission hat gesagt: Das kriegen wir derzeit nur global hin. Herr Semeta hat gestern bei uns im Finanzausschuss deutlich gemacht, dass hier noch keine Entscheidung gefallen ist, ob besser die Aktivitätsteuer oder die Transaktionsteuer eingeführt werden soll. Warum gibt es hier noch Unterschiede? Viele gehen davon aus, dass man mit einer Finanztransaktionsteuer auch seinen eigenen Heimatmarkt beschädigen kann, wenn das passiert, was heute in der Finanzwirtschaft vielfach passiert: Im Grunde wird auf den Knopf gedrückt, und der Handel findet nicht in Frankfurt, sondern in London, New York, Hongkong oder anderswo statt. ({5}) Das ist eine Problematik, der wir uns stellen müssen. Deswegen ist es auch so wichtig, Herr Staatssekretär, internationale Verhandlungen zu führen, um die anderen mit auf diesen Weg zu nehmen. Es kann nicht sein, dass wir unseren Finanzmarkt durch diese Abwanderung schwächen und die anderen dadurch gestärkt werden, wie beispielsweise damals in Schweden. Bei jeder Besteuerung und jeder Regulierung stellt sich aber die Frage: Sind sie eigentlich für den eigenen Finanzmarkt richtig? Die Krise hat gezeigt, dass wir gute Regulierung brauchen, wenn wir einen stabilen Finanzmarkt haben wollen. Jede Regulierung und jede Besteuerung bedeutet immer ein gewisses Stück Wettbewerbsbehinderung für den eigenen Markt. Wenn wir dadurch aber einen stabilen Markt erreichen können, kann es nur der richtige Weg sein, recht scharfe Bedingungen für den Finanzmarkt zu schaffen, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit, dass sich der Finanzmarkt zukünftig an den Kosten der Finanzkrise und an unserem Gemeinwesen beteiligt. Meine Damen und Herren, die Finanztransaktionsteuer hätte die Krise nicht verhindert; das wissen wir. ({6}) Oftmals wird so getan, als ob wir mit der Steuer unseren ganzen Haushalt sanieren könnten. Wir haben Einnahmen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt, weil wir das für einen realistischen Wert halten, der in naher Zukunft erreicht werden kann. Die Finanztransaktionsteuer hätte die Krise nicht verhindert; denn sie ist durch günstige Kreditzinsen in den USA entstanden. Die entsprechenden Kredite sind nach Europa verkauft worden, auch an unsere Landesbanken. Das wäre durch eine solche Steuer nicht verhindert worden. Finanzmarktregulierungen hingegen können in Zukunft Krisen verhindern. Wir haben in dieser Koalition innerhalb eines Jahres acht große Gesetze auf den Weg gebracht, um zukünftige Krisen zu verhindern. Das hat es bisher noch nicht gegeben. Sie haben heute einen Antrag zur Finanztransaktionsteuer vorgelegt, die in unse13012 rem Paket bereits enthalten ist. Sie haben einen solchen Antrag aber in den elf Jahren Ihrer Regierungsführung nicht eingebracht; Sie haben nicht versucht, das Ganze umzusetzen, auch nicht in der rot-grünen Koalition. ({7}) Wir stellen uns als Koalition hinter unsere Regierung. Wir unterstützen unsere Bundeskanzlerin und unseren Finanzminister. Wir kämpfen für ein stabiles System. Wir sind keine schwache Gesellschaft im europäischen Konzert; wir Deutsche sind derzeit der große, stabile Anker, im Gegensatz zu den Jahren am Anfang des Jahrtausends, als wir in allen Tabellen Letzter waren. Damals hielten wir die rote Laterne, jetzt sind wir vorne: Wir sind die Lokomotive in Europa; wir sind diejenigen, die derzeit den Zug insgesamt ziehen. Diese Stärke haben wir mit dieser Regierung erreicht. Wir haben dafür gesorgt, dass wir am Finanzmarkt deutlich stabiler aufgestellt sind als in den Zeiten Ihrer Regierungsführung. Darauf können wir stolz sein. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor- lage auf Drucksache 17/6086 an die Ausschüsse zu über- weisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis n und 34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis e auf: 34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex - Drucksache 17/6053 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({1}) Nr. 1272/2008 und zur Anpassung des Chemikaliengesetzes und anderer Gesetze im Hinblick auf den Ver- trag von Lissabon - Drucksache 17/6054 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Interna- tionalen Organisation für erneuerbare Ener- gien über den Sitz des IRENA-Innovations- und Technologiezentrums - Drucksache 17/6039 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie und zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes - Drucksache 17/6055 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 9. März 2010 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/6056 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 4. Juni 2010 zwischen der Regie- rung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Turks- und Caicosinseln über den steuerlichen Informationsaustausch - Drucksache 17/6057 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik San Marino über die Unterstützung in Steuerund Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/6058 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Britischen Jungferninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/6059 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Rechtsausschuss i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Februar 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 17/6060 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Rechtsausschuss j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vierten, Fünften und Sechsten Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals ({6}) - Drucksache 17/6061 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 4. August 1963 zur Errichtung der Afrikanischen Entwicklungsbank - Drucksache 17/6062 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Übereinkommens vom 29. November 1972 über die Errichtung des Afrikanischen Entwicklungsfonds - Drucksache 17/6063 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Rechtsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Mit Essen spielt man nicht - Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen - Drucksache 17/5934 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aussagekräftigen Abschlussbericht zur beendeten Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Operation Enduring Freedom vorlegen - Drucksache 17/6123 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union p) Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin Organlebendspende - Drucksache 15/5050 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({11}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 12a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Graf ({12}), Kerstin Griese, Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern - Drucksache 17/6090 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klare Regelungen für Intensivtierhaltung - Drucksache 17/6089 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver- zichten - Drucksache 17/6088 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor Rentenminderungen schützen - Gesetzliche Regelung im SGB VI verankern - Drucksache 17/6108 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen - Drucksache 17/6107 Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zuerst zu den unstrittigen Überweisungen. Hier geht es um die Tagesordnungspunkte 34 a bis n und 34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis d. Interfraktionell wird vorgeschlagen, diese Vorlagen an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Jetzt kommen wir zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6107 mit dem Titel „Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen“. Hier wünscht die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie mitberatend an den Gesundheitsausschuss. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Deshalb frage ich: Wer stimmt für die Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Überweisung so beschlossen, bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Damit gibt es heute keine Abstimmung zu diesem Punkt. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 35 a und b, 35 e bis m sowie Zusatzpunkt 13 auf. Hier handelt es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen wir keine Aussprache vorgesehen haben. Tagesordnungspunkt 35 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzteordnung - Drucksache 17/5804 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16}) - Drucksache 17/6106 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Kirsten Tackmann Friedrich Ostendorff Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6106, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5804 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf wurde einstimmig in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dafür stimmt, möge sich bitte erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? In dritter Beratung wurde der Gesetzentwurf ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Torsten Staffeldt, Dr. Martin Lindner ({18}), Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft als nationale Aufgabe - Drucksachen 17/5770, 17/6028 Buchstabe a Berichterstattung: Abgeordneter Eckhardt Rehberg Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6028, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5770 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 35 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 269 zu Petitionen - Drucksache 17/5919 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 270 zu Petitionen - Drucksache 17/5920 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht wurde ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 271 zu Petitionen - Drucksache 17/5921 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Bündnisgrünen haben sich enthalten. Tagesordnungspunkt 35 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 272 zu Petitionen - Drucksache 17/5922 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 35 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 273 zu Petitionen - Drucksache 17/5923 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrüne angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 36 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 274 zu Petitionen - Drucksache 17/5924 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und FDP. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke gestimmt. Tagesordnungspunkt 35 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 275 zu Petitionen - Drucksache 17/5925 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. SPD und Linke haben dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 35 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 276 zu Petitionen - Drucksache 17/5926 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen gestimmt haben SPD und Bündnisgrüne. Die Linke hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 35 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 277 zu Petitionen - Drucksache 17/5927 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({28}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group verhindern - Keine weitere Erosion des nuklearen Nichtverbreitungsregimes - Drucksachen 17/5374, 17/6139 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Dr. Bijan Djir-Sarai Kerstin Müller ({29}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6139, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5374 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen ha13016 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ben zugestimmt. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine. Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die Bundesregierung ({30}) - Zu einem gewaltfreien Redebeitrag gebe ich jetzt das Wort dem Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. ({31})

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil es aus unserer Sicht dringend notwendig ist, dieses Thema nach der Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven und der im Vorfeld geführten Debatte noch einmal aufzugreifen. Bei der Debatte, die wir nur wenige Tage vor der letzten Nationalen Maritimen Konferenz in diesem Hause geführt haben, waren sich alle einig, wohin die Reise gehen sollte. Wenn man sich aber die Ergebnisse der Nationalen Maritimen Konferenz anschaut, dann ist von diesen Absichtserklärungen, die insbesondere von der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen abgegeben worden sind, nichts übrig geblieben. Wir lesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Überschrift: „Eine maritime Enttäuschung“, in der Financial Times Deutschland: „Reeder meutern gegen Regierung“ und im Handelsblatt: „Reeder holen die deutsche Flagge ein“. Was die Bundesregierung bei der Nationalen Maritimen Konferenz an Nichtzusagen hinterlassen und was sie mit ihrem Agieren dort verursacht hat, bedeutet einen schweren Schaden für die maritime Wirtschaft in Deutschland. ({0}) Ich kann für mich behaupten, bei internationalen Konferenzen dabei gewesen zu sein, ob in Emden, Rostock, Hamburg oder anderenorts. ({1}) - Das sind internationale Maritime Konferenzen, Herr Kollege. - Es hat regelmäßig Erwartungen gegeben, die nicht immer zu 100 Prozent erfüllt werden konnten. Das ist völlig klar. Diesmal aber ist keine einzige Erwartung erfüllt worden. Überhaupt nichts ist passiert. ({2}) Gehen wir die einzelnen Punkte einmal durch: Wir haben die Rede von Herrn Rösler gehört. Die war - darauf hat der Staatssekretär in der Abmoderation Wert gelegt - frei gehalten, das war wunderbar. Sie hatte eine gewisse Struktur, das war auch wunderbar. Konkrete Zusagen aber, wie der maritimen Wirtschaft in den einzelnen Sektoren geholfen werden kann, gab es keine. Auch denjenigen, die vielleicht von dem Stil der Rede in den ersten Minuten noch begeistert waren, ist spätestens beim Mittagessen aufgegangen, dass nichts Substanzielles hinter diesen Aussagen steckte. Die Bundeskanzlerin hat, als sie über die Werften gesprochen hat, gesagt: „Die Sorge ist im Raum.“ Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. Wir brauchen aber keine sich sorgende Mutti, sondern wir brauchen eine handelnde Kanzlerin, die den Werften in Deutschland hilft und Unterstützung anbietet. ({3}) Der Kollege Ramsauer hat überhaupt noch nicht begriffen, was für eine Unruhe er mit seinen Entwürfen für eine neue Wasserstraßenpolitik in diesen Bereich hineingetragen hat. Anstatt auf der Maritimen Konferenz klar und deutlich zu sagen: „Das war eine Fehlentwicklung, ich stehe unter Druck von einzelnen Abgeordneten in der Koalition, das korrigieren wir“, will er diesen Weg - bislang jedenfalls - nicht korrigieren oder verlassen. In allen Reden seitens der Bundesregierung kam deutlich zum Ausdruck, dass es Handlungsdruck gebe, die Haushaltslage schwierig sei und man ordnungspolitisch sauber sein wolle. Das hat Herr Rösler, glaube ich, in jedem dritten Satz gesagt, das sagt auch der Maritime Koordinator alle naselang. Es geht aber nicht an, dabei zuzusehen, wie diese Branche immer wieder in große Schwierigkeiten gerät, und sich trotzdem auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Dafür sind wir aber ordnungspolitisch sauber. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Otto, ich will Ihnen sagen: Sie sind der Maritime Koordinator dieser Bundesregierung. Diese Funktion ist damals parallel zu den Maritimen Konferenzen eingeführt worden, um in der Bundesregierung jemanden zu haben, der die Interessen für diesen Sektor wahrnimmt und der gerade nicht die Abwehrhaltungen aus den einzelnen Ressorts noch verteidigt. Sie sagen: Im Verteidigungshaushalt ist nicht mehr Geld vorhanden, deshalb kann die Marine keine Schiffe bestellen; in anderen Bereichen sieht es ähnlich aus. Sie sind nicht der Verteidiger der einzelnen Ressorts, sondern Sie sollten sich als Interessenvertreter der maritimen Wirtschaft gegen das aufbäumen, was auf der Ministerialebene überall vorgetragen wird. Das wäre Ihr Job. Ich möchte Ihnen, sehr geehrter Herr Otto, zum Abschluss eines sagen - das kann ich Ihnen nicht ersparen -: Als Frau Wöhrl diese Position zur Regierungszeit der Großen Koalition übernahm, war die gesamte maritime Szene skeptisch. Die heutige SPD-Opposition hatte diese Skepsis gegenüber Frau Wöhrl zu Beginn ihrer Amtszeit geteilt. Frau Wöhrl ist es gelungen, sich im Laufe ihrer Arbeit bei allen Beteiligten einen hohen Respekt zu erarbeiten. ({4}) Davon sind Sie, Herr Otto, noch weit entfernt. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ingbert Liebing hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genauso wie der Kollege Duin habe auch ich die Chance gehabt, an der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven teilzunehmen. Ich habe dort die beiden Workshops zu den Themen „Seeschifffahrt“ und „Offshorewindenergie“ besucht. Ich habe die strittigen Diskussionen im Workshop „Seeschifffahrt“ erlebt, aber auch den Optimismus und die Aufbruchsstimmung, als es um Offshorewindenergie ging. Deshalb, Herr Kollege Duin, habe ich für die Kritik, die Sie hier vorgetragen haben, überhaupt kein Verständnis; denn damit werden Sie den Verhältnissen nicht gerecht. ({0}) Offensichtlich scheint Ihrer Fraktion das Thema nicht so wichtig zu sein, sonst wären bei der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, mehr Kollegen anwesend. ({1}) Allein die Lokalität dieser Veranstaltung in Wilhelmshaven auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports hat deutlich gemacht, welche Aufbruchsstimmung an der Küste vorherrscht. Die Baustelle des Jade-Weser-Ports ist ein Symbol für Dynamik in der maritimen Wirtschaft, nicht zuletzt deshalb, weil die Bundesregierung mit Tatkraft - insbesondere auch durch die zusätzliche Verkehrsanbindung - dafür sorgt, dass die maritime Wirtschaft erfolgreich ist. Wir tun das, was für die maritime Wirtschaft notwendig, richtig und sinnvoll ist. ({2}) Dennoch möchte und muss ich eine kritische Anmerkung an die Adresse des Maritimen Koordinators richten. Eine Bemerkung von ihm in seiner Abschlussansprache konnte ich nicht nachvollziehen. Sie haben dort zum Thema CCS mit Blick auf eine CO2-Speicherung im Meer angekündigt: Seien Sie sicher, wir werden das machen. - Dazu sage ich ausdrücklich: Seien Sie da nicht so sicher. Wir arbeiten an einem Gesetzentwurf bezüglich Demonstrations- und Forschungsvorhaben. Bei solchen Vorhaben beginnt man nicht mit der teuersten Lösung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone. Mit dieser Äußerung haben Sie Verunsicherung und Widerstand hervorgerufen sowie neue Gründungen von Bürgerinitiativen gegen CCS provoziert. Sie sollten jetzt erst einmal das erledigen, was in diesem Bereich auf der Tagesordnung steht. Deswegen sage ich ausdrücklich: Das war nicht gerade hilfreich. Die kritischen Diskussionen im Workshop „Seeschifffahrt“ habe ich kurz angesprochen. Dazu wird mein Kollege Rehberg noch einiges sagen. Ja, es gibt dort Konflikte, die uns sicherlich noch weiter beschäftigen werden. Das wird noch Thema hier im Parlament sein. Ich möchte ausdrücklich die Aufbruchsstimmung und den Optimismus im Workshop zur Offshorewindenergie würdigen. Lange genug ist in diesem Bereich zu wenig passiert. Umweltminister Trittin hat seinerzeit in rot-grüner Verantwortung die Seeanlagenverordnung mit zwei Sätzen geändert; das war es dann. Danach ist jahrelang nichts passiert. Der erste Offshorewindpark, die erste Demonstrationsanlage, Alpha Ventus, ist von CDU-Umweltminister Röttgen mit eingeweiht worden. Jetzt, nach vielen Jahren, müssen wir uns an die Aufgaben machen, die in Ihrer Verantwortung viel zu lange liegen geblieben sind. Wir haben jetzt ein großartiges Paket auf den Weg gebracht. Es ist in dem Workshop gelobt worden und wird von der Branche angenommen. Wir werden in der nächsten Sitzungswoche im Zusammenhang mit dem EEG hier im Plenum darüber abstimmen. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen werden und ob Sie zustimmen werden. In dem Gesetzentwurf werden eine Verbesserung der Vergütung von Offshorewindenergie, eine Einbeziehung der Sprinterprämie in die Anfangsvergütung und die Verschiebung des Degressionsbeginns von 2015 auf 2018 vorgesehen. Wir führen ein optionales Stauchungsmodell ein; das sichert mehr Liquidität in der schwierigen Anfangsphase. Wir verpflichten die Netzbetreiber, dauerhaft für die Netzanbindung zu sorgen. Das BSH wird einen Masterplan Offshorenetzanbindung erarbeiten. Wir werden eine neue Genehmigungsstruktur schaffen, mit Konzentrationswirkung in der Verantwortung des BSH; das macht die Genehmigungsverfahren schneller, schlanker und einfacher. Ich nenne auch das KfW-Programm mit einem Volumen von 5 Milliarden Euro, das die finanzielle Absicherung zehn weiterer Windparks ermöglicht. Von dieser Entwicklung wird eine breite maritime Wertschöpfungskette profitieren. Davon wird auch der Schiffbau profitieren, wenn es um Errichter- und Versorgungsschiffe geht. Auch die Hafenwirtschaft blickt mit Spannung und Optimismus auf diese Entwicklung, weil es dort um eine vielfältige Versorgungs- und Dienstleistungsstruktur geht, die sich jetzt im Aufbruch befindet. Die Länder und die Kommunen engagieren sich bei diesem Thema. Der runde Tisch „Maritime Offshoreinfrastruktur“ bündelt diese Engagements, um dies so schnell wie möglich und so geordnet wie möglich über die Bühne zu bringen, damit wir alle davon profitieren können. Das Ziel ist, bis 2030 eine Leistung von 25 000 Megawatt zu erreichen. Dann würden wir off13018 shore etwa 15 Prozent des gesamten Strombedarfs decken. Das allein ist eine gute Entwicklung und eine gute Perspektive mit gewaltigen Chancen für die maritime Wirtschaft. Ich habe das Signal, das von der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven ausging, so verstanden, dass die Branche Gewehr bei Fuß steht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie möchte diese Maßnahmen umsetzen und wird es auch tun. Hierin liegt eine gewaltige Chance, gerade vor dem Hintergrund der Ergebnisse, die die Maritime Konferenz in Wilhelmshaven gebracht hat. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herbert Behrens hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Maritime Konferenz in Wilhelmshaven sollte so etwas wie eine Leistungsschau der Bundesregierung sein; zumindest war sie so angekündigt. Das hat dieser Konferenz enormen Wind verliehen. Hätte man diesen Wind genutzt, um damit Energie zu erzeugen, dann wären wir bei der Energiewende, über die wir heute Morgen diskutiert haben, wie ich glaube, schon ein Stück weiter. ({0}) Sehen wir uns die Wirklichkeit an. Die Werften stecken trotz des Spezialschiffbaus immer noch in einer tiefen Krise; das wurde auch in Wilhelmshaven von den einzelnen Akteuren so gesagt. Trotzdem wird die Förderung der Schiffbaufinanzierung zurückgeschraubt. ({1}) Die Bürgschaftsquote muss bei 90 Prozent bleiben; das wurde von Ihnen infrage gestellt. Wenn das nicht passiert, wird den Werften in Mecklenburg-Vorpommern die Luft ausgehen. Dann werden wir in MecklenburgVorpommern nicht nur in sozialer, sondern auch in technologischer Hinsicht ein Fiasko erleben. Das müssen wir auf jeden Fall verhindern. ({2}) Bis zum Jahr 2020 sollen in der Nord- und Ostsee Windparks mit einer Leistung von 10 000 Megawatt installiert werden. Doch das neue Offshoresonderprogramm der staatlichen KfW steht den Werften, die beispielsweise in den Bau von Offshoreversorgungsschiffen investieren wollen, offenbar nicht zur Verfügung. Diese Forderung von Werften, der Zulieferindustrie und der IG Metall wird nicht erfüllt. Massive Kritik erntete die Bundesregierung in Wilhelmshaven auch für ihren völlig verkorksten Reformvorschlag im Hinblick auf die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung; wir haben in den Workshops davon gehört. Beschäftigte und Unternehmen der Binnenschifffahrtsbranche machten auf der Maritimen Konferenz ihrem Unmut Luft. Wir haben in Wilhelmshaven kein Bekenntnis zur Verbesserung der ökologischen Bilanz des Schiffsverkehrs zu hören bekommen. ({3}) Statt sich eindeutig für die Einhaltung der Grenzwerte für Schwefelemissionen in Nord- und Ostsee stark zu machen, philosophierten Mitglieder der Regierungskoalition über Moratorien und Stichtagsverschiebungen. Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie wissen wollen, wer an der Maritimen Konferenz teilgenommen hat, sollten Sie nicht nur in das Veranstalterverzeichnis sehen. Sie sollten auch nach links und rechts schauen. Dann würden Sie möglicherweise feststellen, dass auch Menschen, die nicht im Teilnehmerverzeichnis stehen, sehr wohl an dieser Konferenz teilgenommen haben. Ich habe bereits einige Ausführungen zur Bilanz der Maritimen Konferenz gemacht. Sie ist in gewisser Weise desaströs. Dort, wo es zu wirklich zukunftsweisenden Initiativen hätte kommen können, ist nichts geschehen. An dieser Stelle stimme ich der Kritik der Kolleginnen und Kollegen von der SPD zu. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Gegenstand der Maritimen Konferenz gewesen ist: die Aufkündigung des Maritimen Bündnisses. ({4}) Lassen Sie mich dazu noch ein paar Worte sagen. 3 700 Schiffe von deutschen Eignern fahren auf den Weltmeeren - 445 davon unter deutsche Flagge. Das heißt, über 3 000 Belegschaften arbeiten teils unter schlimmen Bedingungen. Niedrige Heuern und geringe Sicherheitsstandards sind an der Tagesordnung. Oft haben die Beschäftigten keine Chance, mit den Gewerkschaften Kontakt aufzunehmen und Unterstützung zu bekommen. ({5}) Aus diesen schlechten Bedingungen ziehen die Reeder im Moment ihren Extraprofit. Wettbewerb auf Kosten der Menschen und der ökologischen und sozialen Standards ist ein schmutziger Wettbewerb. Dagegen kämpft die Linke. Wir fordern ein Maritimes Bündnis zwischen Politik, Reedern und Gewerkschaften, das maßgeblich den Beschäftigten dient. Wenn die Reeder Zuschüsse zu den Lohnkosten bekommen, wenn Ausbildungskosten für den Seeleutenachwuchs bezuschusst werden, dann ist das in Ordnung, wenn wieder mehr Schiffe unter deutscher Flagge fahren und wenn wieder tarifliche Heuern und soziale Standards gelten. Allerdings darf es Subventionen nur so lange geben, bis ein vereinbartes Ziel erreicht worden ist. Darum kann es durchaus richtig sein, dass die Bundesregierung ihre Lohnkostenzuschüsse auslaufen lässt. Eine Subvention muss auf jeden Fall infrage gestellt werden, wenn sich eine Seite gar nicht mehr an die Vereinbarung hält und einen Konsens auflöst. 600 Schiffe - das hatten die Reeder zugesagt - sollten im internationalen Seehandel wieder unter deutscher Flagge fahren. Dass die Reeder diese Zusage nicht einhalten, sondern heute nur 445 Schiffe unter deutscher Flagge fahren, ({6}) ist angeblich - das wurde gesagt - der Krise geschuldet. Die Reeder sagen: Wir sind auf jeden Fall nicht damit einverstanden, dass diese Subvention infrage gestellt wird. Sie drohen damit, dass weitere Schiffe nicht mehr unter der deutschen Flagge fahren werden. Das ist nicht einmal mehr nur eine Drohung, sondern schon Wirklichkeit. Die Zahl der ausgeflaggten Schiffe steigt an; die Gesamttonnage der ausgeflaggten Schiffe hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verzehnfacht. Jetzt damit zu drohen, aus dem Maritimen Bündnis auszusteigen, weil die Zuschüsse zu den Lohn- und Ausbildungskosten halbiert werden sollen, ist nicht akzeptabel und nicht aufrichtig. Wir brauchen eine vernünftige Förderung, mit der den Beschäftigten geholfen wird. Dies dürfen nicht nur Subventionen sein, und es darf auch nicht nur zu Steuerentlastungen über die Tonnagesteuer kommen, sondern wir brauchen eine sozial-ökologisch orientierte Wende in der maritimen Wirtschaft. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto. ({0})

Hans Joachim Otto (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001666

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich durchaus, dass wir heute im Rahmen einer Aktuellen Stunde noch einmal Gelegenheit haben, die maritime Wirtschaft in den Fokus der parlamentarischen Aufmerksamkeit rücken zu können. Verbunden mit der Debatte, die wir vor knapp vier Wochen hier im Hause geführt haben, und der gerade erfolgreich beendeten Siebten Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven können wir damit erneut die strategische, unverzichtbare Bedeutung und die große Perspektive für diese Zukunftsbranche in den Blick nehmen. ({0}) Die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven mit fast tausend Teilnehmern hat zum wiederholten Male gezeigt: Das Konzept der maritimen Koordinierung und auch des partei- und branchenübergreifenden Zusammenhalts ist ein Erfolgsmodell. ({1}) Viele von Ihnen, Herr Kollege Duin, seien es Mitglieder der Koalitions- oder der Oppositionsfraktionen, haben die Konferenz mitgestaltet und an ihr mitgewirkt. Dafür möchte ich mich namens der Bundesregierung bei allen bedanken, auch wenn sie hier kritische Töne finden. Der Dank gilt darüber hinaus aber auch dem Land Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven, die in einer unglaublichen logistischen Kraftanstrengung diese Konferenz auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports möglich gemacht haben. Auch das sollte an dieser Stelle im Deutschen Bundestag lobend hervorgehoben werden. Nicht zuletzt gelten mein Dank und meine Glückwünsche den vielen Tausend Beschäftigten und den Unternehmern der Branche. Diesen ist nicht nur zu verdanken, dass die Konferenz dank ihrer Mitwirkung so erfolgreich abgelaufen ist, sondern vor allem, dass sich die Branche heute so überraschend gut präsentieren kann. Die Zahlen und die Wachstumsraten sprechen für sich. Ob das Anziehen des Welthandels, der Ausbau der Offshorewindenergie oder das Entstehen bzw. Wachsen neuer Geschäftsfelder für maritime Technologien: Seefahrt und Häfen, Schiffbau und Zulieferer, Logistik und Meerestechnik werden in jedem Fall davon profitieren. Wenn wir jetzt alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar in dieselbe Richtung, dann stehen wir vor einer lang anhaltenden Phase des Aufschwungs für die gesamte Branche. Ich warne aus den genannten Gründen vorsorglich davor, die Lage und die Perspektiven der maritimen Wirtschaft schlechtzureden. Diese Warnung gilt auch außerhalb dieses Parlaments, nämlich für die Verbände; denn damit würden sie der Branche einen Bärendienst erweisen und im schlimmsten Fall sogar schaden. Sie rücken die maritime Wirtschaft damit in ein Licht, in dem sie sich, gerade außerhalb der Küstenregionen - ich weiß, wovon ich rede -, nicht so darstellen kann, wie sie es an13020 gesichts der Erfolge, die sie hat, verdient hätte. Das gilt auch - Herr Kollege Behrens hat es angesprochen - für das Maritime Bündnis. Das Maritime Bündnis wurde übrigens nicht gekündigt. Ich habe keine Kündigungserklärung bekommen. Selbstverständlich ist es ein prioritäres Anliegen der Bundesregierung und insbesondere von mir persönlich, das Bündnis aufrechtzuerhalten und zu stärken. Herr Kollege Duin, Herr Kollege Behrens, verständlicherweise ist es der Bundesregierung keine Freude, kleinere - das betone ich: kleinere - Anpassungen am Haushalt vornehmen zu müssen. Herr Kollege Duin, der Maritime Koordinator ist, wie der Name sagt, ein Koordinator, er ist leider kein Imperator. Das hätte ich zwar manchmal gerne, aber ich darf nur koordinieren. Wir alle kennen die Zwänge, die uns die Haushaltslage auferlegt. Das gilt auch für die Länder, und zwar auch für die, die nicht von CDU/CSU und FDP regiert werden. Daher waren nach Meinung des Bundesfinanzministers Kürzungen an dem durchaus erfolgreichen - darüber sind wir uns einig - Instrument der Lohnkostenzuschüsse unumgänglich. Umso mehr ist ein Ergebnis der Konferenz zu begrüßen: Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Herr Ramsauer, wird sich in den nächsten Tagen mit der Branche erneut zusammensetzen. Er wird mit der Branche nach Alternativen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Seeverkehrswirtschaft suchen, übrigens auch nach solchen, die den Haushalt und damit die Steuerzahler nicht belasten. Herr Kollege Duin, natürlich sind die Kürzungen um rund 27 Millionen Euro schmerzhaft. Wir sollten allerdings nicht die vielen anderen erfolgreichen Instrumente zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der maritimen Wirtschaft im Rahmen des Maritimen Bündnisses und des Programms „LeaderSHIP Deutschland“ aus den Augen verlieren. Herr Kollege Behrens, nur zur Klarstellung: Die Mittel für den Schiffbau sind immer erhöht worden. Das liegt übrigens in der Verantwortung des Bundeswirtschaftsministeriums. Was Sie beklagen, betrifft nicht die Mittel für Schiffbau, sondern die Mittel für Reeder. Allein die Entlastungswirkung der Tonnagesteuer - ich bitte Sie, sich das vor Augen zu halten wird auf mindestens 500 Millionen Euro, wahrscheinlich auf bis zu 1 Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Ich kann Ihnen versichern, die Bundesregierung hält daran fest. Das gilt auch für die Ausbildungsbeihilfen für die Seefahrt. Die Titel für Innovationsbeihilfen und FuE-Mittel im Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie wurden erhöht. Mit dem Masterplan „Maritime Technologien“, dem KfW-Sonderprogramm für Offshorewindenergie und dem fortschreitenden „LeaderSHIP“-Prozess im Schiffbau stellen wir die Weichen für ein langfristiges Wachstum auf den Zukunftsmärkten. Deswegen, Herr Kollege Duin, lieber VDR - Verband Deutscher Reeder -, halten Sie sich bitte vor Augen: Die schmerzlichen Kürzungen im Bereich der Lohnkostenzuschüsse betreffen nur rund 2 bis 3 Prozent der gesamten Fördermittel für die Teilbranche Schifffahrt. Wenn Sie die gesamten Fördermittel heranziehen, die der Bund für die maritime Wirtschaft bereitstellt, dann stellen Sie fest, dass die Kürzungen im Promillebereich liegen. Das alles ist kein Anlass, um das Maritime Bündnis infrage zu stellen. Ich lade Sie alle ein, Kollegen von Koalition und Opposition, Vertreter der Teilbranchen der maritimen Wirtschaft, Unternehmer und Vertreter der Beschäftigten: Lassen Sie uns den bewährten, gemeinsamen Weg erfolgreich fortsetzen. ({2}) Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft im Blick behalten. Nur so können wir den bereits eingeleiteten Wachstumskurs fortsetzen und - darum geht es uns gemeinsam - den maritimen Standort Deutschland dauerhaft stärken. Die Bundesregierung wird im Rahmen der maritimen Koordinierung weiterhin ihren Teil dazu beitragen. Seien Sie versichert, Herr Kollege Duin, auch ich persönlich werde meinen Beitrag wirksam, nicht immer laut nach außen, aber immer sehr nachdrücklich innerhalb der Bundesregierung leisten. Versprochen! ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde steht nicht nur unter dem Titel „Ergebnisse der Maritimen Konferenz“, sondern Sie haben angekündigt, auch zur Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde zu sprechen. ({0}) - Genau, es ist immer das Problem, alles unterzubringen. Bündnisse sind dazu da, Konflikte beizulegen. Mit ihnen legt man gemeinsame Ziele und Interessen fest. Bündnisse brauchen Verlässlichkeit, sonst funktionieren sie nicht. Das Maritime Bündnis scheint nach dem, was wir eben hier und auch schon in Wilhelmshaven gehört haben, offensichtlich nicht mehr so ganz zu funktionieren. Die Bundesregierung trifft in dieser Debatte nur die halbe Schuld. ({1}) Denn wir müssen ehrlich sein: Auch die Reeder haben ihren Teil des Bündnisses nicht eingehalten. Es fahren heute kaum mehr Schiffe unter deutscher Flagge, obwohl es eigentlich vereinbart war. Wir wollten auf 600 Schiffe unter deutscher Flagge kommen. Dorthin sind wir nie gekommen. Prozentual ist es sogar weniger geworden: Fuhren vor zehn Jahren noch 15 Prozent der deutschen Schiffe unter deutscher Flagge, sind es heute insgesamt lediglich 12 Prozent. Jetzt hat die Bundesregierung ohne Vorankündigung die Beiträge für die Seeschifffahrt gekürzt und hält sich damit nicht an ihren Teil der Vereinbarung. Das Maritime Bündnis wurde also von beiden Seiten aufgekündigt. Reeder und Bundesregierung schieben sich jetzt gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Wer wird verlieren? Am Ende werden die Seeleute verlieren; Kollege Behrens hat es schon angedeutet. Da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zu diesem gemeinsamen Versagen! Aber auch die Reeder haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Selbst die Jahre großer Gewinne haben kaum etwas geändert. Die 600 Schiffe unter deutscher Flagge hat es nie gegeben. Die Beihilfen wurden dankbar mitgenommen und dazu weitere Subventionen eingestrichen, allen voran die Vorteile aus der Tonnagebesteuerung. Sie haben es schon gesagt: Das sind locker über 500 Millionen Euro. Die Subventionen an die Reeder werden regelmäßig unter den größten Posten im Subventionsbericht der Bundesregierung gelistet. Hierzu gehören die Tonnagebesteuerung mit etwa 500 Millionen Euro, der Lohnsteuereinbehalt mit etwa 18 Millionen Euro, die Ausbildungsförderung mit 2 Millionen Euro und der jetzt gekürzte Finanzbeitrag an die Reeder für das Führen der deutschen Flagge, der zuvor mit jährlich 57 Millionen Euro zu Buche schlug. Alles in allem kommen hier pro Jahr etwa 580 Millionen Euro an Subventionen zusammen. Die Seeschifffahrt bleibt damit eine stark subventionierte Branche, obwohl sie in den Jahren vor der Krise satte Gewinne geschrieben hat. ({2}) Natürlich ist die Kürzung von 30 Millionen Euro ein großer Brocken, doch muss sie im Verhältnis der gesamten Förderung und der fehlenden Gegenleistung durch die Reeder gesehen werden. Die 30 Millionen Euro machen nur 5 Prozent der gesamten Fördersumme aus. ({3}) Es ist deswegen schon etwas vermessen, wenn man jetzt von der Reederseite knallhart ankündigt - Herr Duin hat das schon aus der Financial Times Deutschland zitiert -: Wir werden ausflaggen und weniger deutsche Seeleute beschäftigen … So geht das auch nicht. Gleichzeitig ist es genauso falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hier einfach nur den Geldhahn aufdrehen zu wollen. ({4}) Denn auch als das Geld geflossen ist, wurden die Vereinbarungen nicht eingehalten. Im Maritimen Bündnis muss jeder seinen Beitrag leisten. Deswegen muss das Bündnis jetzt erneuert werden. Die Bundesregierung muss sich mit den Reedern an einen Tisch setzen, und zwar sofort. An die Reeder geht meine klare Aufforderung: Drohen Sie nicht mit Ausflaggung; denn auch Sie brauchen die Unterstützung durch die Politik in diesem Hause. ({5}) Die Reeder fordern wie selbstverständlich bei der Piraterieproblematik die Hilfe des Staates. Wir haben im Verkehrsausschuss schon einmal begonnen, die Debatte darüber zu führen. Das ist auch richtig; denn das Risiko der Reeder und vor allem der Besatzungsmitglieder, wenn sie durch die entsprechenden Seegebiete fahren, ist enorm. Die Reeder sollen hier nicht alleingelassen werden, ihnen soll geholfen werden. Sie müssen aber auch auf dem Teppich bleiben und beim Maritimen Bündnis kompromissbereit sein. Deshalb muss das Maritime Bündnis auf neue Beine gestellt werden. Herr Otto, Sie hatten ja schon angedeutet, dass Sie es stärken wollen. Dabei müssen wir auch insgesamt seine Machbarkeit überprüfen. Utopische Versprechen helfen da niemandem weiter. Gleichzeitig muss man darüber reden, was bei Nichteinhaltung passiert; denn sonst steht das Bündnis wie bisher nur auf dem Papier. Das neue Bündnis sollte aber auch aktuelle Fragen aufgreifen. Es sollte über die Einführung einer ökologischen Komponente in die Tonnagesteuer nachgedacht werden, es sollte strikte Regelungen bei der Ausflaggungsgenehmigung durch die Bundesregierung geben, und wir müssen auf mehr Ausbildung von Bordpersonal setzen, um weitere Schiffe auch mit Personal aus Deutschland besetzen zu können. Viertens sollte das neue Bündnis auch die Probleme Piraterie, Emissionshandel und Meeresschutz mit einbeziehen. Greifen Sie, Herr Otto und meine Damen und Herren von der Regierung, die Probleme umfassend auf und sorgen Sie gemeinsam für Verlässlichkeit.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, könnten Sie jetzt verlässlich zum Schluss kommen?

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich bin so gut wie dabei.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Na ja.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gehen Sie aufeinander zu und machen Sie das maritime Bündnis fit für die Zukunft. Der Fortbestand der maritimen Wirtschaft, dieser durchaus wichtigen Branche mit mehr als 380 000 Beschäftigten, hängt davon ab. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eckardt Rehberg hat das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD! Ich glaube, Sie haben die falsche Überschrift gewählt. Es wäre in Ordnung gewesen, die Überschrift „Ergebnisse der Maritimen Konferenz“ zu wählen. Aber die Formulierung „Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die Bundesregierung“ in der Überschrift ist aus meiner Sicht vollkommen falsch. Herr Kollege Duin, ich meine, Sie können - bei aller persönlichen Wertschätzung - nicht sagen: Da ist nichts rausgekommen. Gucken Sie sich erst einmal die Handlungsempfehlung aus dem Workshop „Schiffbauindustrie“ an. Ich finde, es ist wichtig und gut, dass eine Arbeitsgruppe zum Thema Schiffbaufinanzierung eingesetzt wird, damit die Thematik „Was können wir noch mehr für den deutschen Schiffbau bzw. die deutsche Werftindustrie tun“ wirklich noch einmal auf den Prüfstand kommt. Wir wollen keine höheren Bürgschaften. Herr Kollege Behrens, 90 Prozent Verbürgung bedeuten über 10 Prozent Kapitalkosten. Ich möchte, dass wir wieder zu ganz normalen Bauzeitenfinanzierungen zurückkommen: 80 Prozent Landesbürgschaft und 20 Prozent Fremdkapital mit Kapitalkosten zwischen 3 und 4 Prozent. Das macht die deutschen Werften wettbewerbsfähig. ({0}) Der Bereich maritimer Technologien ist ein Zukunftsfeld. Hier gibt es ganz konkrete Vereinbarungen im nationalen Masterplan „Maritime Technologien“. Dazu wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die kleinteilige mittelständische Industrie bzw. das kleinteilige Forschungsnetz noch stärker miteinander verzahnen bzw. verbinden soll. Denn bei uns fehlt im Bereich Offshore, Öl und Gas der große Player. Eine ganz konkrete Maßnahme ist, dass man im nächsten Jahr zum ersten Mal auf die Leitmesse nach Houston geht. Aus meiner Sicht sind das Zukunftsfelder, die von der Bundesregierung ins Visier genommen werden. Sie haben hier den Eindruck erweckt, Wilhelmshaven sei ein Fehlschlag gewesen. Dazu sage ich: Ganz im Gegenteil, Wilhelmshaven war eine kontinuierliche Fortentwicklung bzw. eine Fortsetzung der sechs vorangegangenen Nationalen Maritimen Konferenzen. Gerade wir aus dem Norden, Herr Kollege Duin, sollten ein essenzielles Interesse daran haben, dass diese Konferenzen weitergeführt werden; denn diese branchenübergreifende Konferenz ist einmalig in Deutschland. Wir sollten sie nicht schlechtreden, sondern sie positiv nach vorne tragen, hinein in die gesellschaftliche Mitte der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Es gab ein Konfliktthema, und zwar die Zuschüsse für die deutsche Seeschifffahrt. Frau Kollegin Wilms, für mich sind das keine Subventionen. Die Tonnagesteuer ist für mich Standortpolitik. Das ist erfolgreiche Standortpolitik, die dazu geführt hat, dass Deutschland der führende Schifffahrtsstandort in der Welt ist. Für mich sind auch Lohnsteuereinbehalt und Lohnkostenzuschüsse Standortpolitik. Denn die Europäische Kommission hat 1997 und 2004 gesagt: Wir müssen die europäischen Flotten stärken. Herr Kollege Duin, damals waren Sie noch nicht im Parlament, aber Rot-Grün hat regiert. Man muss fragen, warum man damals nicht die gleichen Rahmenbedingungen geschaffen hat wie Italien, Frankreich, die skandinavischen Länder und Holland. Jetzt haben wir das Ergebnis, dass bei gleicher Tonnage ein holländisches Schiff rund 400 000 bis 500 000 Euro günstiger fährt als ein deutsches Schiff. Unter liberianischer Flagge ist es fast 1 Million Euro Unterschied. Wir müssen uns, glaube ich, an diesem Punkt damit befassen, wie wir der Kritik begegnen. Der Vorstandsvorsitzende von Hamburg Süd, Herr Gast, beklagt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember 2010, dass nur 440 Frachter unter deutscher Flagge fahren. Er sagte - ich zitiere -: Es gibt aber leider diverse Unternehmen, die das nicht tun. Er ist nämlich der Meinung, dass 20 Prozent der Linienreeder unter deutscher Flagge fahren könnten. Weiter sagte er: Sie haben dies aber auch nicht getan, als sie im Boom viel Geld verdienten. Wenn wir über das Fahren unter deutscher Flagge reden, dann treffen wir immer die Falschen. Wir müssen eigentlich die treffen, die die Tonnagesteuer in Anspruch nehmen, aber nicht unter deutscher Flagge fahren. ({2}) Deswegen glaube ich, dass wir die Tonnagesteuer mit dem Thema Lohnsteuereinbehalt verbinden müssen. Gleichzeitig müssen wir aber über die Schiffsbesetzungsverordnung dafür Sorge tragen, dass deutsche Seeleute auch weiterhin auf Schiffen von deutschen Reedereien eine Chance haben. ({3}) Ich glaube, an der Stelle sind wir alle miteinander gefordert. Denn die Reeder - Frau Wilms ist darauf eingegangen - haben auch bei der Zahl der Ausbildungsplätze die Zusage nicht eingehalten. Heute bilden weniger Reedereien aus als vor sieben oder acht Jahren. Ich mache mich weder zum Fürsprecher von Verdi, Herr Kollege Duin, noch zum Fürsprecher der Reeder; ich habe das Allgemeinwohl des maritimen Standorts Deutschland im Blick. Deswegen sollten wir weiter über die Ergebnisse der Maritimen Konferenz diskutieren. Aber Ihr zweiter Punkt, die Aufkündigung des MaritiEckhardt Rehberg men Bündnisses, ist sachlich nicht gerechtfertigt und einseitig. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die maritime Wirtschaft hat große Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Als Abgeordnete für die Stadt Wilhelmshaven habe ich mich auch persönlich sehr über die Entscheidung gefreut, die Siebte Nationale Maritime Konferenz 2011 in der Jadestadt zu veranstalten. Das war ein sehr wichtiges Zeichen für die Region, für den Tiefwasserhafen, für die maritime Wirtschaft in Deutschland und Europa und auch ein wichtiges Zeichen für den größten Marinestandort in unserem Land. Ergebnisse der Konferenz vermissen wir leider bis heute. In Wilhelmshaven ist klar geworden, dass Ihnen in der maritimen Wirtschaftspolitik eine Idee fehlt. Es fehlt Ihnen an Leidenschaft. ({0}) Es fehlt an einer Linie, an einem Konzept für die Zukunft des maritimen Standortes Deutschland. Sie haben die Maritime Konferenz nicht nur zur Selbstdarstellung missbraucht - das allein wäre schlimm genug -, sondern Sie haben auch noch Schaden angerichtet, den andere jetzt richten müssen. Man muss sich das einmal klarmachen: Die größte und wichtigste Konferenz zur maritimen Wirtschaft in Deutschland findet am größten Bundeswehr- und Marinestandort Deutschlands statt, und einige für die maritime Wirtschaft weltweit wichtige Themen kommen schlichtweg gar nicht vor. Ich spreche zum Beispiel von der Hafen- und Seesicherheit, für die unsere Soldatinnen und Soldaten derzeit vor der somalischen Küste und anderswo erfolgreich arbeiten. Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass dieses Thema - denken Sie an die Piraterie am Horn von Afrika! -, das wichtig ist für die maritime Wirtschaft in der Welt, in dem sich Deutschland ein Profil erarbeitet hat und in das sich deutsche Sicherheitsfirmen mit innovativen Ideen einbringen können, völlig ignoriert wird? 80 Prozent des weltweiten Handels - das sagen auch Sie immer - werden über See abgewickelt. Wir alle, die deutsche Exportnation insbesondere, sind auf sichere Häfen und verlässliche Handelswege auf See angewiesen. Wilhelmshaven als größter Marinestandort wäre die ideale Kulisse gewesen, sich diesem Thema ernsthaft und intensiv zu widmen und vor allem ein deutsches Profil zu schärfen. Ein eigener Bereich der Marine zu diesem Thema auf der Maritimen Konferenz wäre die richtige Antwort auf die Herausforderung der Hafenund Seesicherheit gewesen. Sie haben diese Chance leider verpasst. Verehrter Herr Staatssekretär Otto, Sie schreiben mir zu diesem Thema, dass ausreichend Marineangehörige im Auditorium vertreten gewesen seien; ich hoffe zu Ihren Gunsten, dass es sich bei der Antwort um ein Büroversehen gehandelt hat. Oder wollen Sie mir ernsthaft erklären, dass der Maritime Koordinator der Bundesregierung das Thema Seesicherheit ausreichend behandelt sieht, wenn ein paar Marineangehörige als Gäste auf der Konferenz umherwandeln? ({1}) Kollege Otto, das ist ein bisschen unter Ihrem Niveau. ({2}) Bei der deutschen Marine - das kann ich Ihnen heute hier sagen - haben Sie sich damit nicht viele neue Freunde gemacht. In Deutschland gibt es neben der Marine eine Reihe von Unternehmen, die im Bereich der Hafen- und Seesicherheit tätig sind. Deutschland hat hier ein Profil, mit dem sich weltweit etwas für die Sicherheit auf See erreichen lässt. Das sollten wir unterstützen, und wir sollten die Chancen, die darin liegen, nutzen. Ich hoffe sehr, dass dieser Appell heute Gehör findet. Wenn wir schon dabei sind: Mein zweiter Appell gilt dem Thema Marineschiffbau, das auf der Konferenz zwar eine Rolle spielen durfte, aber auch das war - mit Verlaub - keine angemessene Rolle. Das passte ebenfalls in das Bild einer verschenkten Konferenz. Im Verteidigungsausschuss habe ich dazu die Auskunft bekommen, dass die Bundesregierung bei der Branche keine falschen Erwartungen wecken wollte. Ich frage mich, ob das der richtige Ansatz für eine Maritime Konferenz ist; denn die Idee dieser Konferenz ist doch, die gesamte Palette an maritimen Themen zu diskutieren und nicht nur das, was der Regierung gerade besonders aussichtsreich und angenehm erscheint. Oder werden hier Themen abgesetzt, die die schönen Bilder - Bundeskanzlerin Merkel, Wirtschaftsminister Rösler und Verkehrsminister Ramsauer mit goldenem Maschinentelegrafen - stören könnten? Gerade beim Marineschiffbau wären eine ehrliche Bestandsaufnahme und eine offene Diskussion über die Perspektiven und Anforderungen gut gewesen. Aber auch diese Chance wurde vertan. Den nächsten Telegrafen müssen Sie sich noch verdienen. Die SPD-Fraktion und ich als Abgeordnete von der Küste ohnehin sind immer bereit, mitzuhelfen, die maritime Wirtschaft in Deutschland zu stärken und neue Betätigungsfelder zu erschließen. Die Maritime Konferenz 2011 ist jedenfalls hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben. Für die Bundesregierung gilt dies nach meiner Einschätzung nicht. Sie haben Ihre derzeitigen Fähigkeiten ausgeschöpft, und wir haben festgestellt, dass diese bei weitem nicht reichen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Torsten Staffeldt hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute einen Brückentag. Heute Morgen ging es um Brücken zu erneuerbaren Energien, und jetzt geht es um eine Brücke, die man das Maritime Bündnis nennen kann. Das ist eine Brücke zum Ufer der globalen Konkurrenzfähigkeit. Diejenigen, die die Brücke gebaut haben, sind die Reeder, die Schiffbauer, die Hafenbetriebe, die Sozialpartner und die Politik. Die SPD behauptet nun, dass das Bündnis aufgekündigt sei. Die SPD stellt sich vor die Brücke und sagt: Da ist gar keine Brücke. Wir haben sie damals mitgebaut. Darum wissen wir das. - Nur weil die SPD etwas nicht sehen will, heißt das noch lange nicht, dass dies nicht da ist. ({0}) Darum ist der Titel dieser Aktuellen Stunde mehr als absurd. Von einer Aufkündigung des Maritimen Bündnisses kann auf gar keinen Fall die Rede sein. Die SPD, wie üblich, verunsichert wieder einmal die Partner des Maritimen Bündnisses und scheint das Ende des Bündnisses herbeizusehnen. Anders ist das nicht zu interpretieren. Das ist demagogisch, führt zu Verunsicherung und befördert genau die falschen Reaktionen: Ausflaggung und Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland im schlimmsten Falle. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie reißen diese Brücke ein, unnötigerweise und fahrlässig. Um Ihre Worte, Herr Duin, zu verwenden: Sie sind die nationale Enttäuschung. ({1}) Diese Brücke wird nicht nur von den Reedern getragen, sondern auch von den Schiffbauern, der Meerestechnik, den Offshoreunternehmen, den Hafenbetrieben und nicht zuletzt den Sozialpartnern. Um beim Bild der Brücke zu bleiben: Auf der Brücke hat jeder seine eigene Fahrspur. Und das funktioniert auch. Wenn Sie die Ergebnisse der Nationalen Maritimen Konferenz ansehen, stellen Sie fest, dass die große Mehrheit der Teilnehmer die Ergebnisse positiv bewertet. Herr Behrens, auch wenn ich nur in zwei Workshops war, habe ich feststellen können, dass die Mehrheit der Workshops sehr konstruktiv und sehr positiv verlaufen ist. Alle Partner müssen bei dieser Brücke ihren Teil zum Erfolg beitragen. Vor allen Dingen mit den Reedern haben wir Probleme. Man muss ganz klar sagen: Die Reeder, die unter deutscher Flagge fahren, sind ein Teil des Fundaments dieser Brücke. ({2}) - Danke, danke. - Gerade die wenigen, die seit Jahren unter deutscher Flagge fahren, sind ein wesentliches Fundament. Dieses Fundament ist aber auch in diesem Jahr nicht so stark, wie vereinbart worden war. Wir sind von der Zielgröße der 600 Schiffe nach wie vor entfernt. Das ist ein Problem. ({3}) - Nein. Das mache ich vielleicht beim nächsten Mal wieder. Um dieses Problem zu lösen, haben wir den Maritimen Koordinator, Herrn Hans-Joachim Otto. ({4}) Um beim Bild der Brücke zu bleiben: Er inspiziert die Brücke und macht Vorschläge zur Verbesserung der Tragfähigkeit und der Verkehrsleistung; aber er baut sie nicht. Er ist insofern, wenn Sie so wollen, ein Brückeninspektor. ({5}) Das macht er gut, und daran besteht eigentlich auch kein Zweifel. Das sagen alle. Wir machen natürlich noch andere Sachen. Eine breite Straße auf der Brücke ist für die deutschen Reeder die Tonnagesteuer. Es gibt Vorfahrtspuren auf der Brücke für schnellere Fahrzeuge, die besondere Kriterien erfüllen, zum Beispiel Ausbilden, unter deutscher Flagge Fahren. Diese Vorfahrtspuren nennen sich „Schifffahrtsbeihilfe“, „Lohnsteuereinbehalt“ oder „Lohnnebenkostensubvention“. Meine Damen und Herren, auch ich sehe das Problem, dass die Kürzungen der Mittel für den maritimen Standort Deutschland mit Schwierigkeiten verbunden sind. Darum gibt es im Moment auf den Vorfahrtspuren auf der Brücke Sperrungen und Baustellen. Daher begrüße ich ausdrücklich das Gesprächsangebot von Verkehrsminister Ramsauer an die Reeder und an Verdi. Es soll ergebnisoffen an einer Problemlösung gearbeitet werden. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die Brücke wieder besser befahrbar wird, dass die Baustellen verschwinden und dass die Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgehoben werden. Das sollte schnell geschehen. Meines Wissens ist schon nächste Woche der erste Gesprächstermin. ({6}) Meine Damen und Herren von den Unternehmen, den Verbänden und den Sozialpartnern, die jetzt zuhören, wir als Politik können Ihnen keine goldenen Brücken bauen; dem steht die Schuldenbremse des Grundgesetzes entgegen. Wir können Ihnen aber versichern, dass wir dafür arbeiten, die breite Brücke des Maritimen Bündnisses befahrbar zu halten. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ingo Egloff redet jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Staffeldt, zu sagen, die SPD gefährde das Maritime Bündnis, weil sie auf die Gefahren hinweise, die vonseiten der Bundesregierung ausgingen, ist ein bisschen - wenn wir schon von Spuren auf Brücken usw. reden - neben der Spur. Fakt ist doch, dass in einem Moment, wo hier allgemein festgestellt wird, dass sich die Reeder nicht an die getroffenen Verabredungen gehalten haben, diese Bundesregierung den Reedern zusätzliche Munition dafür gibt, dieses Bündnis aufzukündigen, indem die Lohnnebenkostenhilfen halbiert werden. ({0}) Herr Staatssekretär Ferlemann sagte laut Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die Anträge für 2010 hatten zur Folge, dass bereits 2011 das ganze Geld ausgegeben ist. Was will Herr Ramsauer den Reedern in dem Gespräch denn sagen? Diese Frage stellt sich doch an dieser Stelle. Ich glaube, dass das das falsche Signal für die maritime Wirtschaft ist. Da die maritime Wirtschaft 12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in diesem Land erwirtschaftet und über 400 000 Arbeitsplätze bis weit in den Süden der Republik hinein geschaffen hat, hat die SPD unter Bundeskanzler Schröder dafür gesorgt, dass im Rahmen dieser Maritimen Konferenz versucht wurde, alle Player an einen Tisch zu bringen. Das war acht oder neun Jahre lang erfolgreich, auch unter der Großen Koalition. ({1}) Sie haben mit den von Ihnen angekündigten Kürzungsmaßnahmen erreicht, dass ein Teil der Mitglieder dieses Maritimen Bündnisses sagt: Wir können uns vorstellen, auszusteigen. Sie sind diejenigen, die mit dieser Politik denen auch noch Argumente für diesen Ausstieg liefern. Deswegen ist es falsch, meine Damen und Herren, an dieser Stelle so zu handeln. Richtig wäre es, bei den Zuschüssen zu bleiben und gleichzeitig die Reeder zu verpflichten, sich an die Vereinbarungen zu halten, die wir mit ihnen getroffen haben, meine Damen und Herren. ({2}) Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede dazu lapidar gesagt - ich habe das nachgelesen -: „Ich frage mich, ob die Zuschüsse zu den Lohnnebenkosten unbedingt notwendig sind“, ohne das weiter auszuführen. Weiter wurde gesagt, der Bundesverkehrsminister stehe für weitere Gespräche bereit. Das ist, glaube ich, schlicht und ergreifend zu wenig, wenn man das Maritime Bündnis am Leben erhalten will. Natürlich muss der Bundesverkehrsminister für derartige Gespräche bereitstehen. Das ist sein Job. Sein Job ist es im Übrigen auch, dafür zu sorgen, dass das Maritime Bündnis weiter existiert, genauso wie es der Job der Bundeskanzlerin wäre, das zu tun, wenn sie denn die Bedeutung der maritimen Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland endlich erkennen würde, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD Wir kommen jedenfalls mit Fensterreden nicht weiter. Fensterreden werden nicht dafür sorgen, dass Arbeitsplätze auf deutschen Schiffen geschaffen werden. Wenn weiterhin Schiffe ausgeflaggt werden, dann können ja Herr Otto und Herr Ramsauer am Kai stehen und den Schiffen hinterherwinken, wenn sie unter der Flagge Maltas, Zyperns oder Liberias fahren. Aber welche junge deutsche Frau oder welcher junge deutsche Mann soll denn eine nautische Ausbildung anstreben, wenn klar ist, dass sie hinterher unter der Flagge Liberias fahren müssen? Das ist doch unrealistisch. ({3}) Der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi in Hamburg hat dazu gesagt - Gewerkschafter haben ja immer eine etwas drastische Ausdrucksweise -: Es reicht nicht aus, „La Paloma“ durch das Bullauge zu pfeifen. Wer das tut, der hat noch lange keinen Beitrag zur deutschen Seeschifffahrt geleistet. - Recht hat er, der Mann. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Matthias Heider spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion zu uns. ({0})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Egloff, lapidar ist das natürlich nicht, wenn eine Branche eine Sonderveranstaltung im Rahmen des Regierungsalltags bekommt. Das wird nicht jeder Branche zuteil. Die Resonanz auf die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven hat einmal mehr die herausragende Bedeutung der Exportnation Deutschland belegt. Sie ist mehrfach angesprochen worden: 95 Prozent des interkontinentalen Warenaustauschs werden über den Seeweg abgewickelt, 90 Prozent des europäischen Außenhandels und 60 Prozent des deutschen Exports, über den wir uns übrigens neulich im Wirtschaftsausschuss unterhalten haben. Diese Zahlen veranschaulichen, dass die Hafenwirtschaft und die Seeschifffahrt nicht nur für die Küstenregion eine sehr große Bedeutung haben, sondern für ganz Deutschland und den Europäischen Wirtschaftsraum spielen sie eine bedeutende Rolle. Häfen sind die Brückenköpfe der Wirtschaft, und die Logistikkette entfaltet ihre Tiefenwirkung bis weit in das deutsche Hinterland, aus dem übrigens ein Großteil der Waren kommt, die exportiert werden. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben die Bedeutung der maritimen Wirtschaft immer wieder betont und entsprechend gehandelt. In dem Bericht über die maritime Wirtschaft wird dies ebenso deutlich wie im Antrag der Union und der FDP zur Zukunftsfähigkeit. Dass neben Häfen, Schiffbau und maritimen Technologien auch die leistungsfähige deutsche Seeschifffahrt von hoher Bedeutung ist, versteht sich von selbst. ({0}) Der Zweck, den maritimen Standort Deutschland zu stärken, Wertschöpfung und Ausbildung auch unter wettbewerblich schwierigen Bedingungen zu erhalten, ist eine Herausforderung. Wir wollten es den deutschen Reedern mit dem Maritimen Bündnis ja erleichtern, unter deutscher Flagge zu fahren. Die Bundeskanzlerin hat in Wilhelmshaven betont, dass sie die Erfolgsgeschichte des Bündnisses fortschreiben will. ({1}) Von einer Aufkündigung kann da überhaupt keine Rede sein, Herr Kollege Egloff. ({2}) Die Gewerkschaften hingegen klagen in der Onlineausgabe der Welt am 31. Mai über den angeblichen Teilausstieg aus dem Maritimen Bündnis. Von dem in dem Artikel zitierten Hamburger Verdi-Landeschef Rose hätte ich mir eine solch sorgenvolle Betrachtung auch einmal gewünscht, als der DGB im Herbst letzten Jahres aus dem Ausbildungspakt ausgestiegen ist, meine Damen und Herren. ({3}) Gewerkschaften und SPD erheben hier den Vorwurf, dass die Zuschüsse zur Senkung der Lohnkosten in der Seeschifffahrt von 56 Millionen auf 28 Millionen Euro in 2011 reduziert wurden und in 2012 ganz auslaufen. Aber über welche Dimensionen reden wir hier eigentlich, Herr Kollege Duin? Durchschnittlich entfielen von den 56 Millionen Euro auf jedes der 566 im Jahr 2010 unter deutscher Flagge fahrenden Handelsschiffe genau 98 936 Euro pro Jahr. Das entspricht den Brennstoffkosten eines 8 000-TEU-Containerschiffes pro Tag auf Basis des aktuellen Energiepreisniveaus. ({4}) Zum Fahren der derzeit größten Containerschiffe der Emma-Mærsk-Klasse mit 14 700 TEU werden gerade einmal 13 Mann Besatzung benötigt. Die Bedeutung der Personalkosten in der Seeschifffahrt nimmt ab. Diese betriebswirtschaftlichen Eckpunkte nenne ich nur, damit einmal klar ist, wovon wir hier überhaupt reden. Die Bundeskanzlerin hat den Reedern auf der Maritimen Konferenz ein klares Bekenntnis zur Ausbildungsplatzförderung in Höhe von 7,5 Millionen Euro und zu den Regelungen zur Tonnagesteuer überbracht. Laut Subventionsbericht der Bundesregierung belaufen sich die steuerlichen Ausfälle bei dieser Pauschalsteuer auf 500 Millionen Euro. Die nun in Rede stehenden 56 Millionen Euro machen nur ein Zehntel der bisherigen Subventionen in Höhe von 556 Millionen Euro in Form von Tonnagesteuervorteilen plus Lohnkostenzuschüssen aus. Nimmt man das Ziel der Haushaltskonsolidierung ernst - das tun Sie, liebe Kollegen von der SPD, offenbar nicht -, kann man der deutschen Seeschifffahrt durchaus zumuten, einen solchen Beitrag zu erbringen, zumal die Prognosen für den internationalen Handel hervorragend sind. Dass darüber hinaus in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs deutsche Kapitäne und Offiziere gefragt sind und zu guten Konditionen auch unter anderen Flaggen fahren, zeigt, dass wir uns um das maritime Fachwissen keine Sorgen zu machen brauchen. ({5}) Ich komme zum Schluss: Ihre Vorhaltungen, meine Damen und Herren von der SPD, sind reiner Alarmismus. Es bleibt also die Frage zu klären, warum Sie diese Aktuelle Stunde überhaupt auf die Tagesordnung gebracht haben. Die Substanzlosigkeit Ihrer Vorwürfe lässt eigentlich nur eine Erklärung zu: Die Idee kam Ihnen in dieser Woche, als Sie auf der Spargelfahrt des Seeheimer Kreises auf Havel und Spree unterwegs waren, ({6}) sich im Überschwang für Ihre Oppositionsarbeit auf die Schultern geklopft haben und die Wellen an der Reling des Schiffes „La Paloma“ - so hieß es übrigens - richtig hochgeschlagen haben. Da haben Sie sich überlegt: Dieses Thema gehört eigentlich auf die Tagesordnung dieses Hauses. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Aktuell haben wir hier einige SPD-Beiträge zu diesem Thema gehört. Auf alle Fälle hatten sie nichts mit Haushaltskonsolidierung zu tun und stellten auch keinen Beitrag zur Verbesserung des Maritimen Bündnisses dar. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hans-Joachim Hacker hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Heider, mit der Kenntnis der Terminplanung des Deutschen Bundestages scheint es bei Ihnen ja ein bisschen zu hapern; denn wenn erst auf der Spargelfahrt der Beschluss zur Beantragung dieser Aktuellen Stunde gefasst worden wäre, dann wäre dieses Thema erst in der nächsten Sitzungswoche auf die Tagesordnung gekommen. Aber sei’s drum. Das sollte ja ein Gag von Ihnen sein; er ist nicht ganz so angekommen. ({0}) Ich denke, die heutige Debatte hat deutlich gemacht, dass die Siebte Maritime Konferenz nicht die Erwartungen erfüllt hat, die an sie gestellt worden sind. Wir wollten nicht, Herr Staffeldt, dass hier heute darüber diskutiert wird, was die maritime Wirtschaft leistet, sondern wir wollten heute über die Politik der Bundesregierung und ihre Konzepte diskutieren. Ich sage es Ihnen in einem Satz: Diese Bundesregierung fährt in der maritimen Politik ohne Kompass und ohne Ziel, und das darf nicht so bleiben. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Maritimen Konferenzen der letzten Jahre, die ja auf Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückgehen, waren Treffen, bei denen maritime Bündnisse geschmiedet wurden, bei denen konkrete Verabredungen getroffen wurden und bei denen auf aktuelle Fragen ganz konkrete Antworten gegeben wurden. ({2}) - Das ist richtig, Herr Kahrs. - Die Siebte Maritime Konferenz war aber nun wirklich keine Erfolgsgeschichte. Herr Staatssekretär, Sie haben Selbstlob verteilt. Aber das, womit Sie sich geschmückt haben, waren Leistungen der maritimen Wirtschaft, nicht Leistungen der Bundesregierung. Das können wir so nicht stehen lassen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie ein Konzept dazu vorlegen, wie es mit der maritimen Wirtschaft in Deutschland weitergehen soll. ({3}) - Nein, das hat gefehlt. ({4}) Bei der Maritimen Konferenz machen Sie das Gleiche wie im Bereich der Städtebauförderung: Sie wickeln erfolgreiche Projekte ab. Das ist keine gute Politik für Deutschland und im konkreten Fall nicht für die maritime Wirtschaft. ({5}) Ich hätte gedacht, dass die maritime Politik, gerade weil die Kanzlerin einen Wahlkreis an der Küste hat, dieser Koalition eine Herzensangelegenheit wäre, ({6}) dass sie mit Engagement und Empathie betrieben würde. Aber Zukunftsfragen der maritimen Wirtschaft werden in der Bundesregierung nicht beantwortet, ({7}) weder in der Maritimen Konferenz noch in anderen Gesprächen mit Ihnen, Herr Staatssekretär. Das darf so nicht bleiben; denn das ist nicht gut für den Norden. Ebenso wenig gut ist es für Süd- und Südwestdeutschland, wo wichtige Zulieferbetriebe ihren Sitz haben und wo bedeutsame Warenströme ihren Ursprung haben, die über die Häfen abgewickelt werden. ({8}) Ich möchte an dieser Stelle auch Herrn Ferlemann einmal ansprechen. Herr Ferlemann, Sie schreiben gerade fleißig. Ich hätte mir gewünscht, dass auf der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven endlich einmal eine konkrete Aussage zur Elbe getroffen worden wäre. ({9}) An den Binnenhäfen an der Elbe, zum Beispiel in Wittenberge, wird investiert. Wir warten dringend auf eine Positionierung des Bundesverkehrsministeriums in der Frage, wie es mit der Nutzung der Elbe weitergehen soll und wie wir unsere Vereinbarung mit Tschechien erfüllen können. Da haben Sie eine Bringschuld. Sie können das nicht weiter auf die lange Bank schieben. Sie müssen jetzt einen konkreten Vorschlag machen - wenn möglich, noch in diesem Jahr, am besten noch vor der Sommerpause, Herr Ferlemann. ({10}) - Herzlichen Dank. ({11}) Heute ist viel über Offshore gesprochen worden. Die Kanzlerin hat einen Förderrahmen von 5 Milliarden Euro angeboten. Aber sie hat nicht gesagt, wie das umgesetzt werden soll. ({12}) Es muss weiterhin darum gehen, dass die Offshoregebiete an das deutsche Netz angebunden werden. Herr Rehberg, da haben Sie in der Vergangenheit auf das falsche Pferd gesetzt. Sie haben Offshore vernachlässigt, ({13}) und zwar zugunsten der Atomindustrie. ({14}) Sie haben jetzt die Wende geschafft und schalten nun um. In der Vergangenheit haben Sie ganz andere Prioritäten gesetzt. Im Zusammenhang mit Offshore stelle ich die Frage: Wo sind Ihre Angebote zur Finanzierung des Baus von Spezialschiffen im Rahmen des KfW-Sonderprogramms „Offshore-Windenergie“? Darauf wartet die Wirtschaft. Es gibt kein Angebot. Wenn wir über Offshore diskutieren, stellt sich für die SPD auch die Frage nach der Lebens- und Rechtssituation der Arbeitnehmer in diesem Bereich. Wann wollen Sie Regelungen treffen im Hinblick auf Arbeitsschutz, Tarifverträge und Mindestlöhne? ({15}) Was sich in diesem Bereich abspielt, ist nicht in Ordnung. Da brauchen wir Regelungen. Wir können das mit auf den Weg bringen. Für den Gesundheitsschutz ist auch die Bundesregierung verantwortlich. ({16}) Auf all diese Fragen haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, keine Antwort gegeben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werfe noch einen Blick in Richtung Verkehrsministerium. Der Fokus muss viel stärker auf die Hinterlandanbindung gerichtet werden, Herr Ferlemann. Wenn ich dann ein letztes Wort sagen darf, Frau Präsidentin,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ein letztes Wort, ein letzter Blick. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- dann geht dieses an die Kollegen von der Union, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Ich vermisse Ihr Engagement ({0}) für den Hafen Mukran im Wahlkreis der Bundeskanzlerin. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dort ist ein riesiges Areal mit Loks der Deutschen Bahn AG vollgestellt. Dieser Hafen muss dringend entwickelt werden. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Patrick Döring hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal wird in dieser Debatte versucht, mithilfe eines völlig an der Realität vorbeigehenden Zerrbildes, das hier insbesondere durch die Sozialdemokraten in ihren Reden gezeichnet wird, die Situation in Deutschland - in diesem Fall der maritimen Wirtschaft - völlig falsch darzustellen. Geschätzter Herr Kollege Hacker, die Lebensbeichte über die schönsten Projekte des Wahlkreises kann man zu Hause vortragen, aber sie hat in dieser Rede nun wirklich nichts zu suchen. Diese Bundesregierung und diese Koalition investieren mehr als alle Vorgängerregierungen und -koalitionen in Hafenhinterlandanbindungen, ({0}) in das Schienennetz vor Wilhelmshaven, in die Ertüchtigung des Eisenbahnknotens Bremen, in die Anbindung des Hamburger Hafens durch das dritte und vierte Gleis, ({1}) durch die Ertüchtigung der Strecke Uelzen-Stendal und durch die Planfeststellung für die Y-Trasse. ({2}) Wir sorgen dafür, dass unsere Seehäfen auf leistungsfähigen Strecken angebunden werden - mehr als alle anderen Regierungen vor uns. ({3}) Das gehört eben auch zur Leistung dieses Staates. Dazu kommen 580 Millionen Euro unmittelbare Hilfen für diese Branche. Es ist ein großes Verdienst der Haushälterinnen und Haushälter dieser Koalition und der Fachpolitiker, dass in dieser gewaltigen Unterstützung weitestgehend keine Kürzungen vorgenommen wurden, einer Unterstützung, die wir zu Recht erbringen, weil wir mit der Tonnagesteuer 1998 ein europäisches Besteuerungsregime geschaffen haben. Aber ich sage auch: Man macht einen Fehler, wenn man wegen der Kürzung von 27 Millionen Euro im Bundeshaushalt aus der florierenden maritimen Wirtschaft eine Elendsbranche macht, indem man sie herbeiredet. Damit tut man der Branche keinen Gefallen. ({4}) Lassen Sie mich auf das kommen, was der Kollege Hacker eben zum Thema Offshore gesagt hat. Wir werden in den auf der Konferenz zuständigen Arbeitskreisen und überall, wo wir zurzeit reden, für das, was wir in diesem Bereich tun, gelobt. ({5}) Wir realisieren schnell und zügig eines der größten industriellen Förderprojekte - über 5 Milliarden Euro KfW-Mittel -, die es jemals gab. Wer uns vorwirft, wir hätten an dieser Stelle aufs falsche Pferd gesetzt, hat nicht begriffen, welche gewaltige Anstrengung wir mit der Hilfe der KfW geleistet haben und was wir dort insgesamt auf den Weg bringen. ({6}) Aber wir müssen auch sehen: Wahrscheinlich hat die Kürzung im Bundeshaushalt Auswirkungen auf die Beschäftigung und Ausbildung von deutschen Seeleuten. Diese müssen wir in den Gesprächen, die das Ministerium führt und die wir als Berichterstatter führen, noch einmal genau analysieren; vielleicht müssen wir auch zu anderen Lösungen kommen. Da geht es nicht darum, dass der eine den anderen bestraft oder der eine dem anderen Wortbruch vorwirft oder gar eine Fraktion im Deutschen Bundestag einseitig ein Bündnis, das die Regierung und die Branche geschlossen haben, aufkündigt. Es geht vielmehr darum, richtige und solide Lösungen jenseits von Haushaltsbelastungen zu finden, zum Beispiel über Entschlackung und Entbürokratisierung, über andere Verfahren oder Anrechnungsmöglichkeiten oder über Veränderungen bei der Tonnagesteuer. ({7}) All das ist möglich. Das kann man besprechen. Jedenfalls wollen wir nicht, dass maritime Kompetenz in Deutschland verloren geht. Das gilt es zu verhindern. ({8}) Wir reden hier über 580 Millionen Euro Hilfe und weit darüber hinausgehende zusätzliche Anstrengungen der öffentlichen Hand. Da muss ich sagen - die Kollegin Evers-Meyer musste schon gehen -: Man kann darüber streiten, ob es richtig oder falsch war, dass das Thema Pirateriebekämpfung auf der maritimen Konferenz nicht diskutiert wurde. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass man auch anerkennt, dass dieser Staat bzw. der Deutsche Bundestag weit über die Fraktionsgrenzen der Koalition hinaus mit gewaltigen Anstrengungen, auch finanzieller Art, die Sicherheit der Seewege garantiert und den militärischen Einsatz finanziert. Auch das gehört hinzugerechnet, wenn man über die Hilfe für die Seewirtschaft und unsere Wirtschaft spricht. Das ist ein Verdienst des gesamten Deutschen Bundestages. Das kann man auch als Oppositionsredner erwähnen. ({9}) Kommen wir zu den Herausforderungen an die Investitionen für die Infrastruktur unserer Seehäfen. Auch in der Rede von Herrn Duin ist wieder das leidige Thema Wasser- und Schifffahrtsverwaltung angesprochen worden. ({10}) - Sehr geschätzter Herr Kollege Duin, das Einzige, was in diesem Fall zur Verunsicherung beiträgt, sind die Wortmeldungen von Ihnen und dem geschätzten Kollegen Beckmeyer; ({11}) denn niemand sonst verbreitet Verunsicherung zu diesem Thema. Im Koalitionsvertrag haben wir angekündigt, dass wir leistungsfähige Verwaltungsstrukturen schaffen wollen. ({12}) Diese leistungsfähigen Verwaltungsstrukturen werden wir nach den Beschlüssen des Haushaltsausschusses mit dem Ministerium ganz in Ruhe aufbauen. Parallel dazu werden wir schauen, wo wir die Investitionen konzentrieren können. ({13}) Es ist ein Verdienst des Hauses, dass wir über die Investitionsnotwendigkeiten in diesem Bereich offensiv sprechen. Abschließend will ich auf Folgendes hinweisen: In Dresden hat die frühere Ratspräsidentin der EKD, Frau Käßmann, gesagt: ({14}) Nichts ist gut in unserem Land … So ähnlich haben sich auch die Debattenbeiträge der Sozialdemokraten angehört. Ich glaube, wir sind als deutsche Parlamentarier aufgerufen, in diese Mentalität nicht einzustimmen. In Deutschland ist viel mehr gut, als viele, viele Menschen, offenbar auch in der SPD, glauben. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir werden sicherstellen, dass dies auch bei denen ankommt, die betroffen sind. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich Kollegen Hans-Werner Kammer das Wort. ({0})

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir werden es sicherlich unterschiedlich beurteilen, ob die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven ein großer Erfolg war oder nicht. Für mich jedenfalls ist klar: Diese Maritime Konferenz war ein großer Erfolg. ({0}) Ich möchte das anhand von zwei Punkten herausstellen. Zum einen war die Veranstaltung auf dem Baugelände des ersten deutschen Tiefwasserhafens ein einzigartiges Symbol für den Aufbruch der deutschen maritimen Wirtschaft in eine neue Zeit. Zum anderen ging von ihr die klare Botschaft an die Wirtschaft in der ganzen Welt aus: Die maritime Wirtschaft in Deutschland bleibt international führend und hat weiterhin gewaltige Wachstumspotenziale. Die Sozialdemokraten haben nach Ergebnissen gefragt. ({1}) Das ist absolut verständlich. Denn es waren nur wenige SPD-Bundestagsabgeordnete auf der Konferenz bzw. sie waren nur für kurze Zeit da. Vor allem waren sie nicht dabei, als die Präsentation der Ergebnisse der Gespräche in den Foren anstand; da fehlten etliche. ({2}) Deshalb will ich Ihnen gern etwas Nachhilfe geben. Vorher möchte ich einen Satz zu Herrn Behrens sagen. Herr Behrens, ich bin von Ihrem Beitrag für die Linke mehr als entsetzt. Ich nehme an, dass Sie zu einer alternativen maritimen Konferenz vorgetragen haben. Ich sage nur etwas zu Ihren Aussagen zur Vertiefung von Elbe und Weser, die ich der Presse entnommen habe: Mit einem Kanuboot werden wir niemals Container in die Häfen bekommen; aber das fordern Sie im Grunde. ({3}) Ich hätte allerdings auch gern meine Wahlkreiskollegin Evers-Meyer angesprochen, nur ist sie leider nicht mehr da. Sie hat sich in der lokalen Presse darüber beschwert, dass die Marine nicht entsprechend beteiligt ist, dass die Piraterie nicht auf der Tagesordnung stand. Ich hätte mir von der SPD-Fraktion gewünscht, dass dieses Thema in ihrem Antrag zur Maritimen Konferenz breiter behandelt worden wäre. Bei uns wurde es breit behandelt. Wäre Frau Evers-Meyer damals bei der Debatte dabei gewesen, hätte sie es mitbekommen. Aber leider war es so: Eröffnung, Abendessen und dann wieder weg. Das genügt nicht, wenn man diese Themen ernsthaft besprechen will. ({4}) Ich sage ausdrücklich: Ich nehme es nicht hin, dass meine Kollegin sagt, die Fähigkeiten der Regierung reichten nicht aus. Wir waren in einer Großen Koalition. Da war ein Minister ({5}) - Herr Duin, nun hören Sie doch einmal zu - Tiefensee gemeinsam mit uns in Wilhelmshaven. ({6}) Als er wieder in Berlin war, hatte er nur vergessen, dass es in Deutschland überhaupt eine Küste gibt; das muss man dazusagen. ({7}) Wir haben in mehreren Arbeitsgruppen die verschiedenen Themen besprochen. Ich war in der Arbeitsgruppe „Hafenwirtschaft & Logistik“. Da ging es um die Zukunft der deutschen Häfen. Ich habe dort Perspektiven und Strategien für die Hinterlandanbindung, die Y-Trasse und die Vertiefungen von Weser, Elbe und Ems angesprochen. Das war aber für einen ehemaligen SPD-Bürgermeister offensichtlich zu anspruchsvoll; es ging ihm nur um die Klassifizierung der Fließgewässer. So sehen intellektuelle Tiefpunkte aus; auch das muss man dazu sagen. ({8}) Unbestrittener Höhepunkt der Maritimen Konferenz war aber das persönliche Bekenntnis unserer Kanzlerin zur Küste, zu ihren Menschen und ihrer Wirtschaft. ({9}) Allen Anwesenden - aber nur denen, Herr Duin - wurde wieder einmal bewusst: Diese Bundesregierung setzt die Rahmenbedingungen für die Zukunft. Sie haben von einer Kündigung des maritimen Pakts gesprochen. Was Sie dazu gesagt haben, ist schlichtweg die Unwahrheit. Wenn Sie nicht schon Rote wären, dann müssten Sie von der Sozialdemokratie jetzt rot werden. Da haben Sie uns wirklich die Unwahrheit gesagt. Ich glaube, es ist klar, dass wir vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Erholung auch unseren Subventionskurs korrigieren müssen. Mein Kollege Dr. Heider hat bereits gesagt, dass wir einige Dinge zurücknehmen müssen. Diese Korrektur fällt aber sehr moderat aus, sodass es wirklich keinen sachlichen Grund zur Panikmache gibt. Wir steigen nicht aus dem Maritimen Bündnis aus, ganz im Gegenteil: Wir sichern insbesondere die Ausbildung qualifizierter Nachwuchskräfte für den maritimen Standort Deutschland. Das war so, und das wird auch so bleiben. Als Abgeordneter des Wahlkreises Wilhelmshaven freue ich mich besonders über das Ergebnis der Siebten Nationalen Maritimen Konferenz. Wenn wir auf diesen Ergebnissen aufbauen, werden wir weitere Erfolge für unser Maritimes Bündnis erzielen, und das ist gut so. Dieses Signal ist von der Konferenz in Wilhelmshaven ausgegangen. Darüber freue ich mich besonders. Danke. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011 - Drucksachen 17/5125, 17/5196 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksachen 17/6105, 17/6146 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Lothar Binding ({1}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/6121 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({3}) Otto Fricke Dr. Gesine Lötzsch Sven-Christian Kindler Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute mit dem Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes einen Gesetzentwurf, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, als lächerlich bezeichnet haben. Deshalb beginne ich mit ein paar Zitaten aus dem Protokoll der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben. Professor Dr. Loritz sagte: „Ich beurteile das Ziel des Gesetzes uneingeschränkt positiv.“ Weiter meinte er: Es ist „die einzige realistische Chance, dass man sich einzelne Gesetzesänderungen vornimmt, um insgesamt eine Vereinfachung zu erreichen“. ({0}) - Nein, der Neue Verband der Lohnsteuerhilfevereine sagt: Wir begrüßen insbesondere, dass man sich bemüht, im Gesetz zu bleiben, also nicht einen riesengroßen Wurf zu machen, der dann viele neue Unwägbarkeiten nach sich zieht, sondern sich einzelne Regelungen vornimmt. Auch der Familienbund der Katholiken sagt zu den Familienmaßnahmen im Gesetzentwurf: Die … Maßnahmen im Bereich der Familienbesteuerung … werden von uns sehr begrüßt. Sie sehen, liebe Kollegen, Sie sind allein mit Ihrer Kritik. ({1}) Ich weiß auch, warum. ({2}) Sie haben an dem Gesetzentwurf außer Kleinigkeiten gar nichts auszusetzen, und um ein Argument zu finden, nicht zustimmen zu müssen, versuchen Sie hier, diesen Gesetzentwurf kleinzureden, indem Sie ihn als lächerlich bezeichnen. Nun aber zu den Einzelheiten. Dieser Gesetzentwurf ist ganz wesentlich einer für Familien, für Bürokratieabbau, für Entlastungen und für Vereinfachungen für Eltern mit Kindern und für Eltern in ihrem Verhältnis zu ihren Eltern. Fangen wir mit dem Kinderfreibetrag an, der den Familien allein eine Entlastung in Höhe von 260 Millionen Euro bringt. Das ist aber nur der finanzielle Teil. Die Vereinfachung, die damit verbunden ist, ist für die Familien noch viel wertvoller. Bisher war es so, dass Kinder in Berufsausbildung, die über 18 Jahre alt waren und durch Ferienjobs oder durch ihre Ausbildungsvergütung mehr als 8 004 Euro verdient haben, kein Kindergeld mehr beziehen konnten. Die Finanzämter mussten 100 Prozent der Fälle prüfen, obwohl in 99 Prozent der Fälle die Einkommensgrenze nicht überschritten wurde. Dieser Verwaltungsaufwand ist unnötig. Noch viel schlimmer ist aber, dass bei 1 Prozent der Fälle durch die Finanzverwaltung festgestellt wurde, dass die Grenze für das eigene Einkommen der Kinder überschritten wurde. Grund dafür konnte sein, dass die Kinder eine Stunde zu viel gearbeitet und deshalb die Lohngrenze überschritten haben. Ein anderer Grund, der noch schlimmer ist, konnte das Verbummeln einer Monatskarte sein. Dies konnte dazu führen, dass über 1 000 Euro weniger Kindergeld bezogen wurden. Das finden wir nicht richtig. ({3}) Nun können Sie einwenden, dass in einem bürokratischen Staat auch die Erziehung der Kinder zum Aufbewahren von Belegen zum Erziehungsauftrag gehört. Wenn dieser Erziehungsauftrag aber 1 000 Euro kostet, ist das, glaube ich, ein teures Vergnügen. ({4}) Wir werden diese Einkommensgrenzen wegfallen lassen und nur, um Missbrauch zu vermeiden, bei einer Zweitausbildung eine 20-Stunden-Begrenzung vorsehen. Ansonsten glauben wir, dass es gut ist, wenn junge Menschen sich anstrengen und versuchen, möglichst viele eigene Einkünfte zu haben. Das wollen wir nicht durch bürokratische Hemmnisse verhindern. ({5}) Zweiter Bereich: Kinderbetreuungskosten. Hier herrschte bisher ein ziemliches Durcheinander. Zum Beispiel musste der Steuerpflichtige, der Kinderbetreuungskosten absetzen wollte, nachweisen, dass er entweder einer Berufstätigkeit nachgeht, sich in Ausbildung befindet oder krank ist. Bei einer Berufstätigkeit liegt eine gewisse Regelmäßigkeit vor; bei Krankheit handelt es sich dagegen eher um eine Frage von Wochen. Innerhalb eines Jahres musste man der Finanzbehörde unter Umständen mehrfach den aktuellen Status mitteilen, um überhaupt Kinderbetreuungskosten geltend machen zu können. Das halten wir für falsch. Deshalb haben wir diese Regelung geändert. Künftig sind bei Familien die Kinderbetreuungskosten - egal in welcher Situation - als Sonderausgaben abzugsfähig. Die Behauptung, dass Eltern deswegen höhere Kindergartengebühren zahlen müssten, ist unwahr. Kinderbetreuungskosten mindern stets die Bemessungsgrundlage. Dritter Bereich: Kinderfreibeträge. Auch dieser Bereich war sehr ungerecht geregelt. Bislang war es so, dass Elternteile, die zwar rechtlich zu Unterhaltszahlungen verpflichtet sind, die Zahlung aber verweigern, den Kinderfreibetrag nicht bekommen können. Elternteile aber, bei denen festgestellt ist, dass sie keinen Unterhalt zahlen müssen - zum Beispiel wegen Vermögenslosigkeit -, konnten den Kinderfreibetrag behalten. Derjenige - meistens handelt es sich um die Mütter -, der die Kosten für das Kind alleine trägt, konnte somit nur einen halben Kinderfreibetrag geltend machen. Das ist ungerecht, und das werden wir mit dem neuen Gesetz ändern. Immer mehr Eltern entscheiden sich Gott sei Dank nach einer Scheidung dazu, die Kinder gemeinsam zu betreuen. Die Kinder leben in der einen Hälfte des Jahres beim Vater, in der anderen Hälfte bei der Mutter. Bisher war es so, dass nur derjenige Kinderbetreuungskosten über den Betreuungsfreibetrag geltend machen konnte, bei dem das Kind mit Hauptwohnsitz gemeldet war. Das ist ungerecht, und auch das werden wir ändern. ({6}) Vierter Bereich: die Ehegattenbesteuerung. Das ist ein Dauerthema; wir haben uns schon sehr lange damit befasst. Wir haben immer wieder versucht, Möglichkeiten der Ehegattenbesteuerung zu schaffen, die verhindern, dass Eheleute schlechter gestellt werden als Ledige. Auch in diesem Bereich haben wir Vereinfachungen durchgeführt. Wir haben aufgrund der Ergebnisse der Anhörung sichergestellt, dass Eheleute, auch nachdem sie sich für eine Veranlagung entschieden haben, das Recht haben, eine andere Veranlagung zu wählen, die für sie günstiger ist. Ein weiterer Punkt. Familien sind nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch Kinder und Großeltern oder Eltern und deren Eltern. Wir wollen, dass Familien füreinander einstehen. Zum Beispiel soll Rentnern mit einer geringen Rente Wohnraum von ihren Kindern zu einem günstigen Preis zur Verfügung gestellt werden können. Bisher war die Berechnung dieser Mieten sehr schwierig, vor allem im Hinblick darauf, wie man das Ganze steuerlich absetzen konnte. Das war jedes Mal ein Fall für den Steuerberater. Es gab zwei Grenzen, nämlich 56 und 75 Prozent der ortsüblichen Miete. In diesem Bereich musste die Miete mindestens liegen, um die Kosten für die Wohnung überhaupt steuerlich abziehen zu können. Das haben wir vereinfacht, was mit Sicherheit dazu führt, dass es weniger Diskussionen zwischen Familienangehörigen gibt. Das wird die Bereitschaft von Kindern, ihren Eltern günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sicherlich erhöhen. Wir haben die Abzugsfähigkeit von Spenden verbessert; denn es ist ärgerlich, wenn man etwas Gutes tut und hinterher feststellt, dass man leider an den Falschen überwiesen hat und deshalb keine Spendenquittung bekommt. Bei der Pendlerpauschale haben wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Wahlrechte gegeben, die tatsächlich zu einer Vereinfachung führen. Auch hier haAntje Tillmann ben wir für einen erheblichen Abbau von Bürokratie gesorgt. Wir schenken den Menschen in großen Bereichen mehr Zeit. Das ist zugleich weniger Zeit, die sie für Steuererklärungen aufbringen müssen. Weil ich die familienpolitischen Maßnahmen in den Vordergrund stelle, sage ich: Das ist hoffentlich mehr Zeit, die sie mit ihren Familien verbringen. ({7}) Wir sind uns einig, dass wir über Steuervereinfachungen sprechen, nicht über Steuersenkungen. Wir versuchen, dort zu entlasten, wo es den Staatshaushalt nicht belastet. Das gelingt am besten bei den Bürokratiekosten. Mit diesem Gesetz werden wir den Unternehmen Bürokratiekosten in Höhe von 4 Milliarden Euro ersparen. Zum Beispiel lassen wir bei der Umsatzsteuer zu, dass demnächst Rechnungen nicht mehr nur auf Papier, sondern auch per E-Mail übersandt werden können. Rechnungen als einfache E-Mails, Computerfaxe oder mittels Datenträgeraustausch - wenn der Empfänger zustimmt - werden künftig von der Finanzbehörde anerkannt. Natürlich tragen wir den Bedenken der Innenpolitiker Rechnung, die sagen, dass eine einfache E-Mail auch Gefahren bergen könne. Deshalb haben wir im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, dass neben der elektronischen Signatur und dem EDIVerfahren auch die neue De-Mail ein sicheres Verfahren im Sinne des Gesetzes ist. Wenn man also vor Hackern sicher sein möchte, ist De-Mail ein einfaches Verfahren im Sinne des § 14 Umsatzsteuergesetz, mit dem man auch erheblich Kosten und Bürokratie einsparen kann. Der Normenkontrollrat sagt dazu: Die elektronische Rechnungsstellung stellt insbesondere wegen später folgender Vereinfachungsmöglichkeiten eine zentrale Maßnahme zur Vereinfachung dar. Diesem Bereich kommt eine Schlüsselstellung zu, ähnlich wie anderen Projekten, wie zum Beispiel ELENA. - Es gibt also noch einen Sachverständigen, der ausdrücklich sagt: Dieses Gesetz ist richtig und gut für die Unternehmen. Wir haben die Pauschalen für Waldbesitzer geändert. Wir haben uns im Rahmen der Anhörung davon überzeugen lassen, dass bestimmte Betriebskostenpauschalen erhöht werden müssen. Wir werden die Betriebskostenpauschale bei eingeschlagenem Holz von 65 auf 55 Prozent senken; bei auf dem Stamm verkauftem Holz gehen wir auf 20 Prozent. Auch das ist ein Ergebnis der Anhörung. Wir haben ernst genommen, was uns Sachverständige ins Stammbuch geschrieben haben. Dann macht eine Anhörung wirklich Sinn, weil Bürgerinnen und Bürger und Sachverständige mit Gesetzgebung machen und uns helfen, Fehler bei der Gesetzgebung zu vermeiden. All diese Maßnahmen werden heute nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfes und nach Zustimmung des Bundesrates dazu führen, dass das Verhältnis zwischen Staat und Bürger einfacher wird. Aber wir wissen natürlich auch, dass das nur ein erster Schritt ist. Wir haben jetzt im Wesentlichen Familien und Privatleute entlastet. Wir werden ab Dienstag - Montag ist ja Pfingsten - nahtlos mit der Erarbeitung von Vereinfachungen bei der Unternehmensteuer weitermachen. Wir brauchen die Verlängerung der Regelung bei der Umsatzgrenze im Rahmen der Istbesteuerung. Wir brauchen den Gleichklang von Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht. Wir brauchen eine Verkürzung von Aufbewahrungs- und Prüffristen, und wir brauchen einheitliche IT-Schnittstellen von Steuer, Rente und Betriebsprüfung. Das alles sind Maßnahmen, die wir völlig umsonst bekommen können; diese werden wir angehen. Ich würde mich freuen, wenn Sie den ersten Schritt mitgehen. Wir gehen diesen Weg aber auch ohne Sie. Wir werden auch bei der Unternehmensteuerreform im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und im Sinne von Bürokratieabbau und Haushaltskonsolidierung weitermachen. Danke. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einige Vorbemerkungen zu einigen Sätzen machen, die ich vorhin aufgeschnappt habe. Herr Brinkhaus hat gesagt: Die Regierung tut eine Menge. - Das finde auch ich. Herr Döring sagte, wir hätten etwas nicht begriffen. Es ist ja ein beliebtes Spiel, dass man den anderen unterstellt, dass sie etwas nicht verstehen und es deshalb schief läuft. ({0}) Ich möchte einiges in Erinnerung rufen. Es gab eine Phase eins. Sie erinnern sich: Holperstart, Gurkentruppe, spätrömische Dekadenz, Westerwelle. Heute haben wir gelernt, dass Rösler es schafft, dieses Niveau weiter abzusenken. ({1}) Die Phase zwei war eine Phase der Ruhe und des europäischen Abtauchens. ({2}) Die Phase drei war der Herbst der Entscheidungen. Sie erinnern sich: Die Laufzeiten der AKW wurden verlängert usw. Jetzt erleben wir die Phase vier. Das ist sozusagen die Phase der Kehrtwende. Das haben wir heute am Beispiel AKW gesehen. Atomkraftwerke sind jetzt plötzlich des Teufels. Ganz aktuell sehen wir das auch am heutigen Desaster mit der Gewerbesteuer. Wir merken: Die Regierung tut eine Menge. Aber wer eine Menge tut, tut nicht unbedingt das Richtige. Lothar Binding ({3}) ({4}) Ich möchte das, was Frau Tillmann gesagt hat, sowohl als falsch bezeichnen als auch als richtig bestätigen. Sie haben gesagt, dass wir diesen Gesetzentwurf lächerlich finden. ({5}) - Ich habe das gesagt. - Diese Aussage ist, bezogen auf einzelne Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf, nicht zutreffend. Aber bezogen auf Ihre eigenen Maßstäbe ist diese Aussage richtig. Denn das, was Sie uns Bürgern über viele Jahre hinweg versprochen haben, nämlich die Steuern einfach, niedrig und gerecht zu gestalten - zwei Jahre Ihrer Regierungszeit sind bereits um -, wird auch mit diesem Gesetzentwurf erneut verfehlt. ({6}) Deshalb ist die Aussage, der Gesetzentwurf sei lächerlich, gemessen an Ihren eigenen Maßstäben richtig. Ihr Gesetz muss sich ja an Ihren Maßstäben messen lassen. Hinweise auf E-Mail usw. finde ich im Jahr 2011 nicht besonders gelungen. Es gibt das EHUG, BilMoG und ELENA; darüber müssen wir übrigens noch einmal reden. Über ELENA werden die Unternehmen verpflichtet, einen Datenfriedhof anzulegen, der überhaupt nicht genutzt wird. Die Unternehmen werden ohne jeglichen Sinn über ein Jahr lang belastet. Man muss sagen, dass der Gesetzentwurf insgesamt positive Elemente enthält. Aber er erreicht trotz eines großen Aufwands und hoher Kosten von fast 600 Millionen Euro nur einen kleinen Effekt. Vielleicht sollte man noch erwähnen - das macht viele gute Elemente aus -, dass der Gesetzentwurf auf einvernehmlich vorgebrachte Vorschläge der Länder zurückgreift. Insgesamt positiv finde ich allerdings, dass man sagt: In den Ländern gibt es gute Initiativen, die wir übernehmen. Jetzt zu einigen konkreten Punkten. Es klingt nicht schlecht, zu sagen: Die Einkommensüberprüfung bei volljährigen Kindern, die sich in der Schul- oder Berufsausbildung befinden, soll wegfallen. - Besonders gut gefällt mir, dass der Fallbeileffekt - auch Sie haben ihn erwähnt - beseitigt werden soll. Die Regelung, dass jemand, der 1 Euro zu viel verdient, den Anspruch auf Kindergeld verliert, war sehr schlecht. Man muss allerdings beachten, dass auch Ihre Regelung im Hinblick auf den Bezug von Kindergeld zu Schieflagen führt. Denn die Missbrauchsregelung für die Zeit nach der Erstausbildung bevorzugt jene, die Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielen, und benachteiligt jene, die einer Erwerbstätigkeit im Umfang von größer/gleich 20 Stunden nachgehen. Diese Asymmetrie halten wir für problematisch. Wir wollen nicht ausgerechnet diejenigen belohnen, die Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung erzielen, sondern eher diejenigen, die selbst arbeiten gehen. Diese Regelung macht diesen Gesetzentwurf, glaube ich, sehr schlecht. ({7}) Was uns ohne Einschränkung gefällt, ist die Verbesserung bei der Entfernungspauschale. Bisher musste man auf sehr komplizierte Weise nachweisen, welche Strecke man mit dem öffentlichen Personennahverkehr und welche Strecke man mit dem privaten Pkw zurückgelegt hat, und man musste umfangreiche Aufzeichnungen führen. Dass dies wegfällt, ist sicherlich eine sehr gute Sache. Die Ausführungen, die Sie in Ihrer Rede zum Thema Kinderbetreuungskosten gemacht haben, habe ich nicht richtig verstanden. Bisher konnte man durch Berufstätigkeit veranlasste Kosten als Werbungskosten absetzen, private und andere Ausgaben waren Sonderausgaben. Ich habe Sie so verstanden, dass künftig all diese Ausgaben zu Sonderausgaben werden sollen. Das würde bedeuten, dass diese Kosten nicht mehr abzugsfähig wären. ({8}) Sie haben aber gerade ausgeführt, diese Kosten seien in Zukunft genauso abzugsfähig wie bisher. Ich glaube, wir müssen noch genauer darüber diskutieren, wie das gedacht ist. Nicht eingegangen sind Sie auf den Antrag, den die SPD eingebracht hat. In diesem Antrag, der auf einem großen Konsens in den Ländern basiert, fordern wir, die Pauschbeträge für behinderte Menschen, die seit 1975 festgeschrieben sind, anzuheben. Hier haben in der Vergangenheit viele Leute nichts getan, weil dies in der scharfen Form wie heute auch nicht nötig war. ({9}) - Sie haben recht; das ist völlig klar. Vielen Dank für Ihren einmaligen Einwand. - Inzwischen bilden die Pauschbeträge für behinderte Menschen, auch aufgrund der Inflationsrate, die tatsächlichen Aufwendungen nicht mehr angemessen ab. Wir wollten unseren Fehler, hier zehn Jahre nichts getan zu haben, jetzt korrigieren. ({10}) Aber die Regierung verhindert unseren ernsthaften Versuch, dies zu korrigieren. Das halten wir für eine traurige Entwicklung im Umgang mit guten Vorschlägen der Opposition. Jetzt komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der besonders gut klingt, bei dem man aber besonders merkwürdig vorgegangen ist - auf dem Bundessteuerberaterkongress, an dem 1 300 Steuerberater teilgenommen Lothar Binding ({11}) haben, hat man allenthalben gehört, dass man die geplante Regelung in ihrer jetzigen Form überhaupt nicht versteht -: Es geht um die zweijährige Steuererklärung. Wer „zweijährige Steuererklärung“ hört, denkt zunächst einmal, damit ist gemeint, dass man für zwei Jahre eine Steuererklärung abgibt. Aber so ist das nicht gedacht. Gemeint ist nur die Möglichkeit der gleichzeitigen Abgabe von zwei einzeljährigen Steuererklärungen zum gleichen Zeitpunkt. Das ist natürlich keine besonders gute Sache. Denn die Bürger haben nur die Möglichkeit, auf diese Erstattung entweder zwei Jahre zu warten oder aber Geld und Liquidität zu verlieren. Das ist, wie gesagt, keine gute Sache. ({12}) Es kommt aber noch schlimmer. Auf dem Steuerberaterkongress hieß es zu diesem Thema: Es gibt mehr offene Fragen als positive Antworten. - Sie hatten gerade die einmalige Chance, uns das zu erklären. ({13}) Da das etwas ganz Neues ist, hätten Sie die Chance gehabt, eine Formulierung zu finden, die für jeden Bürger verständlich, einfach und transparent ist. Ich zitiere den neuen § 25 a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes: Werden die Einkommensteuererklärungen unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 und 2 oder des Absatzes 2 für zwei aufeinander folgende Veranlagungszeiträume zusammen abgegeben, beginnt der Zinslauf für Zinsen nach § 233 a der Abgabenordnung für den ersten Veranlagungszeitraum des Zweijahreszeitraums erst 15 Monate nach Ablauf des zweiten Veranlagungszeitraums. Jetzt werden Sie sagen: So etwas muss in jedem Gesetz stehen. Da der Abs. 1 nicht vorgetragen wurde, konnte man das gar nicht verstehen. Sie hatten aber auch die Chance, den Abs. 1 ganz neu und für jeden Bürger - hier sitzen ja viele Bürger - transparent und verständlich zu formulieren. Ich möchte Ihnen § 25 a Abs. 1 Ihres Gesetzentwurfes vortragen: Die steuerpflichtige Person kann die Einkommensteuererklärungen für zwei aufeinander folgende Veranlagungszeiträume ({14}) auf Antrag abweichend von § 25 Absatz 3 innerhalb von fünf Monaten nach Ablauf des zweiten Veranlagungszeitraums zusammen abgeben, ({15}) wenn sie in beiden Veranlagungszeiträumen voraussichtlich - damit wird schon angedeutet, was da passiert ausschließlich Einkünfte im Sinne des § 2 Absatz 1 Nummer 4 bis 7 erzielt. Die Summe der nicht einem inländischen Steuerabzug unterliegenden jährlichen Einnahmen nach den §§ 20, 21 und 22 Nummer 1 Satz 1 und 2 und Nummer 2 und 3 darf 13 000 Euro nicht übersteigen. Erzielt die steuerpflichtige Person im Verlauf des ersten Veranlagungszeitraums des Zweijahreszeitraums andere als die in Satz 1 genannten Einkünfte oder übersteigt die Summe der Einnahmen nach Satz 2 13 000 Euro, ist eine gleichzeitige Abgabe von Steuererklärungen im Zweijahreszeitraum nicht möglich. Ich denke, die Bürger gehen jetzt nach Hause und können ihre zweijährige Steuerklärung abgeben. ({16}) Insofern wird deutlich, warum wir sagen: Mit dieser Schimäre, mit dieser Begriffsbildung kann man dem Bürger doch keine aus sich selbst generierte, einfache, verständliche, transparente Steuergesetzgebung vorgaukeln. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({17}) - Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil diese Art der Irrtumsverbreitung in der Bevölkerung keinen guten Eindruck macht. ({18}) Es gibt auch Steuersenkungen. Schauen wir einmal nach, wo es Steuersenkungen gibt: Der Arbeitnehmerpauschbetrag wird von 920 Euro auf 1 000 Euro angehoben. Gut, „1 000 Euro“ klingt einfacher als „920 Euro“; das stimmt. In Wahrheit spart dadurch jeder Arbeitnehmer 3 Euro, aber nicht pro Tag - nicht, dass das jemand falsch versteht. Das ist in Richtung Steuersenkung ja doch ein erster Schritt. ({19}) Insofern ist es richtig: Die CDU/CSU-FDP-Koalition tut viel. Wenn Sie weiterhin in 3-Euro-Schritten vorgeht, dann gibt es noch viel zu tun. ({20}) Ich zitiere hierzu die Bundessteuerberaterkammer, die sagt: Das ist nicht effektiv. Außerdem betrifft das nur Bürger, die Werbungskosten zwischen 920 Euro und 1 000 Euro haben. Eine Sache ärgert uns besonders: Begünstigt werden diejenigen, die keine berufsbedingten Aufwendungen haben. Alle anderen müssen im Veranlagungszeitraum nämlich ohnehin die Belege sammeln; denn es bleibt so komplex wie bisher: Am Ende des Veranlagungszeitraums muss man schauen, ob man die Pauschale in Anspruch nehmen kann oder ob man die Werbungskosten einzeln abrechnen muss, sodass der Gesetzentwurf im Ergebnis viel weniger hält, als er verspricht. Wir wollen uns an diesem Fehlversprechen nicht beteiligen. Vielen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Binding, Ihre elfminütigen Ausführungen ({0}) haben gezeigt, dass Sie krampfhaft danach gesucht haben, ({1}) irgendwie einen Grund zu finden, ({2}) diesen Gesetzentwurf abzulehnen. ({3}) Der Höhepunkt wurde erreicht, als Sie hier einen Gesetzestext vorgelesen haben, ohne inhaltlich etwas dazu zu sagen. ({4}) Sie haben leider Gottes auch verschwiegen, dass wir hier ein Angebot an die Steuerpflichtigen machen. Niemand wird gezwungen, ({5}) von diesem Angebot Gebrauch zu machen, sondern jeder einzelne Steuerpflichtige kann sich überlegen, ob er einmal alle zwei Jahre seine Steuererklärung abgeben will. ({6}) Ich möchte ganz kurz aus der Anhörung zitieren; denn wir haben uns im Gegensatz zu Ihnen von den Sachverständigen beraten lassen. Sie haben nämlich gesagt - zumindest Professor Loritz und Dr. Hechtner -, dass es zumindest ein richtiger Schritt ist, dies auszuprobieren, den Steuerpflichtigen also dieses Angebot zu machen. Sie haben von der Stimmung auf dem Deutschen Steuerberaterkongress gesprochen. Ich sage eines ganz deutlich: Das Angebot, die Steuererklärung alle zwei Jahre abzugeben, richtet sich an jene Steuerpflichtigen, die ihre Steuererklärung selber abgeben, ({7}) und nicht an die Steuerberater, weil die Steuerberater weiterhin dabei bleiben, die Steuererklärung für ihre Klienten jährlich abzugeben. Das ist auch in Ordnung; denn es ist ein Angebot. Ich gehe davon aus, dass die Finanzämter die Steuerpflichtigen entsprechend beraten werden, ob sie ihre Steuererklärung alle zwei Jahre abgeben können. Ich möchte auf das eingehen, was Sie zum Thema Arbeitnehmerpauschbetrag gesagt haben. Die Diskussion zeigt, dass Sie den Begriff Steuervereinfachung schlichtweg nicht verinnerlicht haben. ({8}) Vielmehr sprechen Sie im Rahmen der Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages von Steuersenkungen. Für uns ist das eine Maßnahme der Steuervereinfachung. ({9}) Jeder Pauschbetrag muss immer wieder, schon allein inflationsbedingt, angepasst werden. Es ist für uns ein Beitrag zur Steuervereinfachung, dass der Arbeitnehmer einen höheren Pauschbetrag in Anspruch nehmen kann. ({10}) Einer Mär möchte ich deutlich widersprechen. Es wird immer wieder behauptet, es seien in dieser Legislaturperiode auf Betreiben der FDP- und der Unionsfraktion keine Steuerentlastungen vorgenommen worden. ({11}) Zum 1. Januar 2010 haben wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Familien in einer Größenordnung von 24 Milliarden Euro entlastet. ({12}) Das war eine deutliche Entlastung. Jetzt geht es um Steuervereinfachung. Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass der Arbeitnehmerpauschbetrag unter der Ägide eines SPDFinanzministers gekürzt wurde. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob auf den Oppositionsbänken tatsächlich die Arbeitnehmerpartei sitzt. Ich habe daran große Zweifel; denn wir machen Steuerpolitik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({13}) Weitere Punkte des vorliegenden Entwurfs eines Steuervereinfachungsgesetzes führen in vielen anderen Bereichen zu einem deutlichen Bürokratieabbau. Allein durch die elektronische Rechnungsstellung rechnen wir bei den Bürokratiekosten mit einem Entlastungsbetrag in einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro. Das ist keine Entlastung, die zulasten der Staatskasse geht, sondern es handelt sich um den Abbau übertriebener Bürokratie, die Sie als SPD-Finanzminister zehn Jahre lang in finanzpolitischer Verantwortung schlichtweg haben bestehen lassen. Sie hatten zehn Jahre lang nicht die Kraft, Sie hatten nicht die Vision und den Willen, das Steuerrecht zu vereinfachen. Im Zweifel haben Sie das Steuerrecht verkompliziert. Das ist die Wahrheit. ({14}) Zu den Bereichen, die wir unterhalb der gesetzlichen Regelung angehen. Ich spreche von einer stärkeren Kommunikation in elektronischer Form zwischen Steuerpflichtigen und Finanzamt. Ich spreche von dem Projekt der vorausgefüllten Steuererklärung. Ich spreche von dem Projekt der zeitnahen Betriebsprüfung. Dies sind alles Punkte, die den Steuerpflichtigen, der seiner Steuererklärungspflicht nachkommt, von Bürokratie entlasten. Das macht die Steuererklärungspflicht einfacher. Ich bin der Überzeugung: Wenn der Steuerpflichtige in Deutschland schon Steuern zahlen muss, dann soll er es wenigstens einfach haben; er soll Freude daran haben, seine Steuererklärung auszufüllen. Dafür sorgen wir mit dem vorliegenden Steuervereinfachungsgesetz. ({15}) Erlauben Sie mir abschließend, darauf hinzuweisen, dass der vorliegende Gesetzentwurf nicht umsonst den Titel „Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011“ trägt. Er trägt diesen Titel deswegen, ({16}) weil dies das erste in einer Reihe weiterer Steuervereinfachungsgesetze sein wird. ({17}) Wir werden auch ein Steuervereinfachungsgesetz 2012 auf den Weg bringen, in dem wir weitere Vereinfachungen im Steuerrecht gesetzlich formulieren werden, und zwar Vereinfachungen, die die Steuerpflichtigen von Bürokratie entlasten, ohne dass es in großem Umfang zulasten der Staatskasse geht. ({18}) Ich lade Sie ganz herzlich ein, an der weiteren kontinuierlichen Arbeit an der Steuervereinfachung teilzunehmen. Ich lade Sie, den Bundesrat und die Opposition, übrigens auch ein, dieses Steuervereinfachungsgesetz 2011 so schnell wie möglich in Kraft zu setzen, weil es wirklich höchste Zeit wird, den Steuerpflichtigen klarzumachen: Wir kümmern uns tatsächlich um die mittlerweile zu komplizierte Steuergesetzgebung. Wir wollen es für die Steuerpflichtigen einfacher machen. Das ist Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Ich lade Sie herzlich ein, hieran mitzuwirken. Vielen Dank. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Tillmann und Herr Flosbach von der CDU haben den Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes unmittelbar nach der Anhörung gelobt und gesagt: Die heutige Sachverständigenanhörung hat in einhelliger Weise die mit dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 vorgesehenen Maßnahmen begrüßt. ({0}) Dem Protokoll der Anhörung entnehme ich etwas anderes. ({1}) Alle haben gesagt, das Ziel des Gesetzentwurfs sei uneingeschränkt positiv. Aber das besagt bei weitem nicht, dass Ihre Maßnahmen dafür geeignet sind. Da kann ich nur sagen, Herr Volk: Sie haben schlicht und ergreifend Ihr Ziel verfehlt. ({2}) Der Vertreter der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Dieter Ondracek, - ich zitiere noch einmal - meinte in der Anhörung: Was kommt raus: keine Erleichterung, eher das Gegenteil. Praktiker hauen Ihnen den Gesetzentwurf um die Ohren. Von einer einhelligen Begrüßung ist dieser Gesetzentwurf meilenweit entfernt. Vielleicht haben Sie davon geträumt, das hat aber mit der Realität nichts zu tun. ({3}) Fakt ist: Die Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf werden im Großen und Ganzen zu keiner, in wenigen Bereichen zu einer geringen Vereinfachung, in manchen Bereichen sogar zu einer Verkomplizierung führen. Einiges hat mein Kollege Binding schon ausgeführt; ich ergänze noch einige andere Punkte. Ich begrüße ausdrücklich, dass Sie der Forderung der Linken nachgekommen sind und auf die von Ihnen geplante Anhebung der Bagatellgrenzen für Vermögensverwahrer und -verwalter bei der Erbschaftsteuer verzichtet haben. Das begrüßen wir uneingeschränkt. ({4}) Ebenfalls begrüße ich die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages um 80 Euro auf 1 000 Euro. Es wurde aber schon gesagt: Im Jahr 2003 lag der Betrag bei 1 044 Euro. Wenn es Ihnen bei der Anhebung um eine Inflationsanpassung gegangen wäre, hätten Sie vonseiten der CDU schon Jahre Zeit gehabt, hier tätig zu werden. ({5}) Sie sind weit von dem Stand entfernt, den wir vor acht Jahren hatten. Allein diese Maßnahme macht mit 330 Millionen Euro etwa die Hälfte des konkreten Entlastungsbetrages aus. Wer ungefähr 30 000 Euro brutto im Jahr verdient, wird monatlich um 2 bis 3 Euro entlastet. Auf diese Peanuts sind Sie auch noch stolz. Dabei ziehen Sie den Menschen mit den gestiegenen Krankenversicherungsbeiträgen ein Vielfaches aus der Tasche. Das ist die Realität. ({6}) Zudem muss man sagen: Diese Vereinfachung kommt gerade einmal 1,6 Prozent der Steuerpflichtigen zugute. Damit kann man sich einfach nicht schmücken. ({7}) Als zweite große Vereinfachung verkaufen Sie die zweijährige Steuererklärung. Das heftet sich die FDP groß an die Brust. An dieser Stelle möchte ich dem langjährigen Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Dieter Ondracek, zum einen für sein Wirken danken. Zum anderen möchte ich aus seiner gestrigen Abschiedsrede zitieren: Gott verschone uns vor der Zweijahreserklärung. - Recht hat der Mann, sage ich. ({8}) Es handelt sich lediglich um eine Fristverlängerung. Sollten Sie hier diesen Gesetzentwurf beschließen, so hoffe ich - hier zitiere ich noch einmal Dieter Ondracek -: Mit Gottes Hilfe wird niemand die Zweijahreserklärung in Anspruch nehmen. Sie wissen so gut wie ich, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Steuererklärung abgeben, meistens zu Recht auf eine Erstattung hoffen. Nennen Sie mir nur einen Grund, warum sie darauf noch ein weiteres Jahr warten sollten. Dies sieht im Übrigen auch die Bundessteuerberaterkammer so - ich zitiere -: Da wird es … mehr Probleme geben, als es Vereinfachungen geben wird … Das hat auch der Kollege Binding schön belegt. Das heißt, sowohl die Deutsche Steuer-Gewerkschaft als auch die Bundessteuerberaterkammer wie auch zahlreiche Fachleute lehnen die zweijährige Steuererklärung ab, und Sie stehen hier immer noch völlig ungerührt und sagen: Es ist prächtig, was wir hier als Angebot unterbreiten. - Das ist Ihnen wirklich prächtigst gelungen. ({9}) Prächtigst gelungen ist Ihnen auch die Vereinfachung der Veranlagungsarten für Eheleute. Erst streichen Sie drei Veranlagungsarten, um dann festzustellen, dass das verwaltungstechnisch nicht geht, und anschließend führen Sie mit Ihrem Änderungsantrag drei neue Tatbestände ein. Prima Vereinfachung! Das ist doch Etikettenschwindel. ({10}) Schauen wir uns noch einmal an, wie es - von wegen Senkung oder nicht - konkret abgelaufen ist. Sie haben überlegt, ob Sie bei den Behindertenpauschbeträgen etwas machen. Durch die Anhebung des Mindestbehinderungsgrades wollten Sie eine Verschärfung einführen. Gleichzeitig wollten Sie eine Erhöhung der Pauschbeträge vornehmen. Dies haben Sie wieder zurückgezogen mit der Begründung des Staatssekretärs: Wir hatten uns zwischen einer Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages und einer Anhebung des Behindertenpauschbetrages zu entscheiden. - Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wenn es eine Vereinfachung geben soll, kann man doch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen. ({11}) Bei den Kinderbetreuungskosten müssen wir erst einmal prüfen, was die von Ihnen gewählte Rechtskonstruktion tatsächlich bedeutet und ob sie überhaupt so möglich ist. Ich frage Sie: Warum vereinfachen Sie nicht, indem Sie die Abgeltungsteuer abschaffen, anstatt sie zunehmend weiter zu verkomplizieren? Warum nehmen Sie keine Vereinfachung vor, indem Sie das Ehegattensplitting abschaffen? Wie den Zeitungen zu entnehmen ist, wird das selbst aus Brüssel vorgeschlagen bzw. direkt gefordert. Warum gestalten Sie nicht den Einkommensteuertarif gerecht, indem Sie den sogenannten Mittelstandsbauch abschaffen und eine linear-progressive Besteuerung wählen? ({12}) Da herrscht bei Ihnen Schweigen im Walde. Dabei bräuchten Sie nur unsere Vorschläge aufzugreifen. Wir brauchen dazu gar keine Einladung von Ihnen. Die VorDr. Barbara Höll schläge liegen auf dem Tisch. Greifen Sie zu! Verwirklichen Sie sie, und wir haben eine tatsächliche Steuervereinfachung! Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über das Steuervereinfachungsgesetz. ({0}) Als es im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht wurde, hat Christian Lindner am 11. Dezember 2010 erklärt - das habe ich noch im Ohr -, dieses Steuervereinfachungsgesetz werde ein Meilenstein. ({1}) Heute, bei der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs, müssen wir allesamt feststellen: Das ist mehr eine Mischung aus ({2}) - gut - Stolperstein und Placebo. Die Zweijahressteuererklärung zum Beispiel ist ein Placebo; denn sie ist nun einmal nichts anderes als eine Fristverlängerung. Wir alle wissen, dass diejenigen, von denen Sie sagen, sie sollten die Möglichkeit bekommen, diese längere Frist in Anspruch zu nehmen, wahrscheinlich eher diejenigen sind, die ein bisschen laxer damit umgehen und Probleme haben, Fristen einzuhalten. Genau denjenigen werden Sie am Ende aber damit, dass sie nicht mehr zum Steuerberater gehen können, ein zusätzliches Problem aufbürden. Dann haben sie das nämlich verschlampt, stellen fest, dass sie das jetzt ganz schnell machen müssen, das aber gar nicht mehr können, und können sich schließlich noch nicht einmal vom Steuerberater helfen lassen. ({3}) Die sogenannte Zweijahressteuererklärung ist tatsächlich ein wichtiger Punkt Ihres sogenannten Steuervereinfachungsgesetzes. ({4}) Ansonsten enthält Ihr Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes lächerliche Regelungen. Die Erhöhung des Pauschbetrages um 80 Euro ist hier schon genug durch den Kakao gezogen worden. Das brauche ich jetzt nicht noch intensiver zu begründen. Die Ungerechtigkeit gegenüber den Behinderten ist ebenfalls dokumentiert worden. Dieser Kritik schließen wir uns uneingeschränkt an. Andere Punkte kritisieren wir gar nicht; diese Maßnahmen sind allerdings längst überfällig. Sie hätten außerdem durchaus in ein anderes Gesetz gepasst. Dafür hätte das Jahressteuergesetz ausgereicht. Dass Rechnungen jetzt auch elektronisch archiviert werden können und nicht mehr in Papierform aufbewahrt werden müssen, ist zwar okay, hätte aber nicht unbedingt des Steuervereinfachungsgesetzes bedurft. Mit 97 Vorschlägen haben Sie angefangen. Das Ergebnis ist schlicht halbherzig. Sie haben auch schon das nächste Gesetz angekündigt; ansonsten wäre das auch noch peinlicher gewesen. ({5}) Ich möchte mich auf zwei negative Beispiele beschränken, die noch nicht so im Fokus gestanden haben. Beim Ehegattensplitting wollen Sie eine Reduzierung der Veranlagungsmöglichkeiten von sieben auf vier vornehmen. Eine echte Steuervereinfachung wäre es gewesen, wenn Sie das Ehegattensplitting ganz abgeschafft hätten und das System auf eine Individualbesteuerung plus übertragbaren Grundfreibetrag umgestellt hätten. ({6}) Eine solche Änderung ist im Übrigen überfällig; denn das Ehegattensplitting fördert weder Kinder noch die Ehe, sondern wirkt sich schlichtweg positiv aus bei besonders großen Einkommensunterschieden zwischen Eheleuten. Dabei geht es um eine relevante Geldsumme, nämlich um 18,9 Milliarden Euro. Wenn man den Grundfreibetrag einführte, stünde zwar nicht die komplette Summe zur Verfügung, aber grundsätzlich wäre es eine gute Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen zugunsten der Familienförderung durchzuführen. Auch das lehnen Sie ab. ({7}) Dabei wurde Ihnen das noch einmal ins Stammbuch geschrieben. Zum Beispiel werden Sie im Gutachten Ihrer Sachverständigenkommission zum ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung im Januar 2011 aufgefordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Das ist eine wichtige Maßnahme zur Gleichstellung in Deutschland. Auch von außen gibt es Kritik. Die EU-Kommission beispielsweise hat vor zwei Tagen betont, dass das Ehegattensplitting in Deutschland ein wirtschaftspolitisches Hemmnis und ein wettbewerbspolitisches Problem ist. Machen Sie also endlich das, was zwar schon allgemein bekannt ist, was Ihnen aber jetzt auch noch einmal offiziell von EU-Seite und von Ihren eigenen Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben wird! ({8}) Ein anderes Beispiel ist die Steuergestaltung. Der Steuerexperte der OECD beispielsweise sagt dazu, Steuergestaltung sei selbstverständlich legitim, zumal bei einem so komplizierten Steuerrecht wie in Deutschland, aber das Versteckspiel koste alle Beteiligten unglaublich viel Zeit und Geld. Was ist Steuergestaltung? Unter Steuergestaltung versteht man den Versuch, möglichst wenig Steuern zu zahlen. Da das deutsche Steuerrecht kompliziert ist, können sich das nur diejenigen leisten, ({9}) die Steuern zahlen, aber vor allem auch Fachleute beauftragen können, nach Steuerschlupflöchern im deutschen Gesetz zu suchen, die die Gesetzgeber, also wir, in der Form nicht erkannt haben. Große Heere von Beratern werden dafür bezahlt, diese Steuerschlupflöcher zu finden. ({10}) Spätestens dann, wenn ein Steuerschlupfloch besonders groß ist, befassen wir uns wieder im Bundestag damit. Dann müssen wir dem als Deutscher Bundestag mit viel Mühe hinterherregulieren. Das muss nicht sein; das kann man anders machen. Das wissen Sie auch. Wir haben das Thema nicht neu aufgebracht. Dazu gibt es bereits eine lange Diskussion. Wir als grüne Fraktion beispielsweise haben schon 2007 einen Antrag dazu eingebracht. Auch der Bundesrat hat fertige Gesetzesformulierungen vorgelegt. Aber dieses Haus beschäftigt sich nicht damit. Wir haben dazu einen Änderungsantrag eingebracht, den Sie gestern abgelehnt haben. ({11}) Darin schlagen wir eine Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle vor. Sie würde Vereinfachung und Steuergerechtigkeit miteinander verbinden. In den USA, in Großbritannien und Kanada beispielsweise gibt es das schon. Sie wirkt wie ein Frühwarnsystem für Behörden und Firmen, schafft Rechtssicherheit für Unternehmen und vermeidet Steuerausfälle. Das wäre ein echter Vereinfachungseffekt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Fazit: Sie haben uns einen großen Wurf versprochen. Angekommen ist stattdessen ein großer Papierberg. Mehr Steuervereinfachung wäre möglich gewesen; sie wäre auch tatsächlich nötig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin!

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine letzte Bemerkung: Wir wollen aber nicht mehr Steuervereinfachung auf Kosten von Steuergerechtigkeit. Man muss beides miteinander verbinden. Wir haben entsprechende Änderungsanträge eingebracht. Denen sind Sie nicht gefolgt. Deswegen können wir den Gesetzentwurf nur ablehnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Paus, Sie haben gerade selber gesagt, das deutsche Steuerrecht sei kompliziert. Wir leisten einen Beitrag dazu, es ein bisschen zu vereinfachen und Bürokratie abzubauen. Ein Schritt wird heute getan. Viele weitere Schritte müssen folgen. Das ist ein Ziel, das sich die christlich-liberale Koalition gesetzt hat. Es wäre schön, wenn Sie diese Arbeit unterstützen würden. ({0}) Sehr viele konstruktive Vorschläge kamen in den Beratungen aber nicht. ({1}) Herr Binding, es ist schön, dass Sie unser Motto „Einfach und gerecht“ übernommen haben, ({2}) das ein sehr wertvoller und wichtiger Beitrag zur Gestaltung des Steuerrechts in Deutschland ist. ({3}) Sie haben allerdings von einer grünen Wiese gesprochen, die es leider nicht gibt. ({4}) Wir haben die Steuergesetzgebung im Einkommensteuerrecht und in allen anderen steuerlichen Bereichen. Daraus müssen wir das Beste machen und die besten Lehren ziehen. Deswegen ist es fast schon lächerlich, wenn Sie Paragrafen zitieren; denn die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler werden das Einkommensteuergesetz sicherlich nicht in Gänze lesen. ({5}) - Das hätten Sie vielleicht machen können; aber wegen der Kürze der Redezeit war das nicht möglich. Die Reduzierung der Erklärungs-, Prüfungs- und Veranlagungsaufwendungen ist das erklärte Ziel, das wir mit dem Steuervereinfachungsgesetz erreichen wollen. Ich glaube, es gelingt uns, das Steuerrecht zu vereinfachen und Bürokratie abzubauen. Das ist die große Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Ich glaube, wir leisten einen Beitrag dazu, diese Aufgabe zu erfüllen. Man muss auch schauen, welche finanziellen Auswirkungen das Ganze hat. Sie reden immer von 3 oder 4 Euro. Wir stehen vor der großen Herausforderung der Einhaltung der Schuldenbremse, die ab 2016 gilt, und der Konsolidierung der Haushalte. Davon haben Sie nicht gesprochen. Unser Gesetz trägt zur Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem der Familien mit Kindern, bei. Es handelt sich um 590 Millionen Euro, was eine schöne Summe ist. Der geringere Bürokratieaufwand für Unternehmen schlägt sich in einer Kostenersparnis von ungefähr 4 Milliarden Euro pro Jahr nieder. Das ist etwas, was sich sehen lassen kann. Das sollte man in einer solchen Debatte nicht verschweigen. ({6}) Es gibt viele Maßnahmen, die sicherlich sinnvoll sind. Ich nenne zum Beispiel die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages. Frau Kollegin Dr. Höll, 60 Prozent aller steuerpflichtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ersparen sich durch die Anhebung des Pauschbetrages einen bürokratischen Aufwand. ({7}) - Durch die Änderung nicht. - Durch die Änderung sind in der Summe 550 000 Arbeitnehmer mehr betroffen, insgesamt über 22 Millionen. Auch das ist etwas, was sich sehen lassen kann. ({8}) Es gibt viele weitere positive Punkte. Durch die verbesserte Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten werden die Steuerzahler um 60 Millionen Euro entlastet, 200 Millionen Euro Entlastung ergeben sich aus dem Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze bei der Beantragung von Kindergeld und bei dem Kinderfreibetrag. Von der Vereinfachung bei der Berechnung der Entfernungspauschale profitieren hauptsächlich die Menschen in den ländlichen Räumen. Auch für die Unternehmen - das ist in der Debatte verschwiegen worden - sind Erleichterungen im Gesetz vorgesehen, die sich auf 4 Milliarden Euro belaufen. Diese Einsparung für die Unternehmen resultiert unter anderem aus Erleichterungen bei der elektronischen Rechnungslegung. Man sollte nicht immer nur die negativen Dinge sehen. Es ist auch die Aufgabe der Opposition, das Positive herauszuarbeiten. Man sollte nicht nur Dinge miesmachen, sondern auch schauen, an welcher Stelle man konstruktive Vorschläge machen kann. Ich habe bis auf kleine Ansätze von Frau Paus in dieser Hinsicht nicht sehr viel gesehen. ({9}) Es müssen weitere wichtige Maßnahmen auf den Weg gebracht werden. Das Steuervereinfachungsgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen eine bessere Harmonisierung der steuerlichen und sozialrechtlichen Vorschriften, die bisher die Unternehmen stark belasten. Dieser Aufgabe müssen wir uns gemeinsam in diesem Haus stellen. Es gibt noch viele Dinge, die im Bereich des Unternehmensteuerrechts zu tun sind. Das Steuervereinfachungsgesetz ist kein Steuerentlastungsgesetz. Ich glaube, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben da etwas falsch verstanden. Es gehen sicherlich steuerliche Erleichterungen mit diesem Gesetz einher, aber diese sind nicht das Ziel des Gesetzes. Wir wollen Bürokratie abbauen und Steuererleichterungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erreichen. Es ist ein kleiner Schritt - das habe ich gesagt -, aber es ist ein Schritt. Wir haben diesen Schritt getan. Sie - Herr Binding, Sie haben es angesprochen - haben lange Zeit einen Bundesfinanzminister gestellt; aber in dieser Zeit sind keine positiven Effekte für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erzielt worden. Das aber ist in dieser Zeit wichtig. Unser Ziel muss es sein, vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Beschäftigten in unserem Land am Aufschwung teilhaben zu lassen. Es müssen in der Steuergesetzgebung Maßnahmen ergriffen werden, um die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu entlasten. Das hat der finanzpolitische Sprecher unserer Fraktion in die Diskussion eingebracht. Wir müssen neue Regelungen bei der Steuerprogression auf den Weg bringen; wir müssen aber auch schauen, welche Spielräume wir haben. Die Schuldenbremse, die Haushaltskonsolidierung und die Nachhaltigkeit sind angesprochen worden. Frau Kollegin Paus, wir haben uns über dieses Thema im Rahmen der Debatte schon einmal unterhalten. Eines unserer Ziele bei der Weiterentwicklung der Steuergesetzgebung muss sein, dass wir die Auswirkungen auf die kommenden Generationen immer mit beachten. Wir müssen die Nachhaltigkeitsprüfung als einen wesentlichen Bestandteil der Gesetzgebung ansehen. Wir müssen in diesem Hause verstärkt Wert darauf legen, dass die arbeitenden Menschen in diesem Land unter keiner zu hohen Steuerlast leiden. Vom Bund der Steuerzahler stammt die Feststellung, dass aufgrund der kalten Progression eine Lohnerhöhung um 1 Prozent eine um 2 Prozent höhere steuerliche Belastung nach sich zieht. Unsere Aufgabe ist es, hieran etwas zu ändern. Dabei müssen wir den Haushalt natürlich im Blick haben; die Konsolidierung unserer Staatsfinanzen ist die große Aufgabe. Stimmen Sie unserem ersten Schritt in Richtung Steuererleichterungen zu. Bisher sind wichtige Maßnahmen ergriffen worden. In Zukunft können Sie sie mittragen, gerade im Hinblick auf die Familien mit Kindern, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, das deutsche Steuerrecht zu vereinfachen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Steuerverein- fachungsgesetzes 2011. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/6105 und 17/6146, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/5125 und 17/5196 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge- gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthal- tung der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6122. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von SPD und Linken abgelehnt. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis r auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Ägypten endgültig stoppen - Drucksache 17/5935 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Libyen endgültig stoppen - Drucksache 17/5936 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien endgültig stoppen - Drucksache 17/5937 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Tunesien endgültig stoppen - Drucksache 17/5938 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Oman stoppen - Drucksache 17/5939 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Jemen stoppen - Drucksache 17/5940 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in die Vereinigten Arabischen Emirate stoppen - Drucksache 17/5941 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien stoppen - Drucksache 17/5942 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Israel stoppen - Drucksache 17/5943 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Marokko stoppen - Drucksache 17/5944 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Libanon stoppen - Drucksache 17/5945 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Kuwait stoppen - Drucksache 17/5946 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Jordanien stoppen - Drucksache 17/5947 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Bahrain stoppen - Drucksache 17/5948 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Katar stoppen - Drucksache 17/5949 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Algerien stoppen - Drucksache 17/5950 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss q) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen - Militärische Zusammenarbeit be- enden - Atomwaffenfreie Zone befördern - Drucksachen 17/2481, 17/4508 - Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Hörster Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Dr. Frithjof Schmidt r) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen - Drucksachen 17/5054, 17/5039, 17/5204, 17/5823 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jan van Aken für die Linke das Wort. ({18})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine Legende, dass deutsche Rüstungsexporte besonders scharf kontrolliert werden. Im Gegenteil: Man kann praktisch jede deutsche Waffe fast überall in die Welt liefern. Nur ein Beispiel: Im Jahr 2009 hat die Regierung Rüstungsexportgenehmigungen für 135 Länder weltweit erteilt, darunter für Kriegsgebiete, auch für Diktaturen, etwa im Nahen Osten und in Nordafrika. Ein besonders schwerer Fall ist Saudi-Arabien. Die Bundesregierung selbst schreibt in ihrem Menschenrechtsbericht von schwersten Menschenrechtsverletzungen, von Folterungen, von Todesstrafen. Sie beschreibt in ihrem eigenen Menschenrechtsbericht, dass Frauen dort Menschenrechte vorenthalten werden, Dissidenten inhaftiert werden, Geständnisse erzwungen werden; außer der muslimischen dürfe keine andere Religion ausgeübt werden. Trotzdem hat Deutschland in den letzten zehn Jahren Rüstungsexporte im Wert von sage und schreibe 675 Millionen Euro nach Saudi-Arabien genehmigt. Das muss doch irgendwann einmal ein Ende haben. ({0}) Das sind übrigens Waffen, mit denen die Saudis nicht nur ihr eigenes Volk unterdrücken; damit führen sie auch praktisch Krieg. Wir haben Fotos, die zeigen, wie saudische Soldaten mit deutschen G-36-Sturmgewehren vor zwei Jahren an der jemenitischen Grenze Krieg geführt haben. Selbst solche Vorfälle halten die Bundesregierung nicht davon ab, eine Waffenfabrik in Saudi-Arabien aufzubauen. Das muss man sich vorstellen: Dort wird eine Fabrik zur Produktion des deutschen G-36-Sturmgewehrs aufgebaut. Diese Fabrik wird über Jahrzehnte Waffen produzieren, und diese Waffen werden über Jahrzehnte eingesetzt werden. Noch in 100 Jahren werden überall auf der Welt Menschen mit deutsch-saudischen G-36-Gewehren erschossen werden, weil Sie jetzt eine falsche Entscheidung getroffen haben. Die sollten Sie sofort zurücknehmen. ({1}) Jetzt wird es ganz pikant - das hat uns die Bundesregierung diese Woche schriftlich gegeben -: Der deutsche Rüstungskonzern EADS wollte einen Milliardendeal mit den Saudis machen. Die Saudis haben zur Bedingung gemacht: Dann müssen aber saudische Grenzpolizisten durch deutsche Polizisten ausgebildet werden. - Und Sie tun das! Sie schicken über 70 deutsche Polizisten nach Saudi-Arabien, damit EADS einen Rüstungsdeal machen kann. ({2}) Die Reisekosten der deutschen Polizisten werden von EADS bezahlt, ihr Gehalt vom deutschen Steuerzahler. Sie finanzieren mit deutschen Steuergeldern einen riesigen Rüstungsdeal von EADS, und zwar mit einem Land, von dem Sie selber sagen, dass es große Menschenrechtsverletzungen begeht. Diesen Deal müssen Sie sofort aufkündigen! ({3}) Saudi-Arabien ist aber nur ein Beispiel. Das Gleiche gilt für viele andere Länder in dieser Region. Die Linke hat jetzt 16 Anträge eingebracht, damit der Rüstungsexport in 16 Länder des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas verboten wird. Wir wollen, dass über alle 16 Anträge namentlich abgestimmt wird; denn ich finde, Sie sollten auch ganz persönlich eine Entscheidung treffen, ob in Zukunft noch Waffen nach Saudi-Arabien oder an andere Diktatoren geliefert werden oder nicht, und dann die Verantwortung dafür übernehmen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich weiß, dass wir darüber nicht so schnell einig werden. Aber Sie können hier einen kleinen Anfang machen. Sie können nun entscheiden, dass an einzelne Diktatoren keine Waffen mehr geliefert werden. ({4}) Da möchte ich die Damen und Herren der FDP direkt ansprechen. Es ist doch ein geradezu liberales Prinzip, die individuelle Freiheit hochzuhalten. Wie können Sie verantworten, dass diese Freiheit in Saudi-Arabien mit deutschen Waffen niedergehalten wird? Meine Damen und Herren von CDU und CSU, ich verstehe bis heute nicht, wie Sie Waffenexporte mit Ihrem christlichen Glauben vereinbaren können. Nur zur Erinnerung: In Saudi-Arabien darf das Christentum nicht praktiziert werden. In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie sich jeden Antrag genau anschauen und zumindest bei dem einen oder anderen Land sagen werden: In diese Diktatur, in diese Kriegsregion darf keine deutsche Waffe mehr exportiert werden. - Sie sollten nicht den gleichen Fehler wie bei Ägypten, Libyen und Tunesien machen. Überall dorthin haben Sie bis vor kurzem Waffen geliefert. Selbst Herr Kauder hat öffentlich gesagt: Das war ein Fehler. - Machen Sie den Fehler nicht noch einmal! Stoppen Sie die Waffenexporte in die infrage stehenden 16 Länder! Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erich G. Fritz für die CDU/CSUFraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr van Aken, bevor ich sage, was zu sagen ist: Ihre pauschale Darstellung der Polizeiausbildung ist zu schlicht. Der Zusammenhang - das kann ich jetzt nicht nachprüfen - mag diskussionswürdig sein. Aber wir haben nun einmal überall auf der Welt die Erfahrung gemacht: Dort, wo wir Polizisten und Führungskräfte ausbilden, gibt es anschließend eine größere demokratische Substanz, gibt es in Krisensituationen Menschen, die andere Qualitäten aufweisen als den puren Gehorsam gegenüber Diktaturen. Deshalb ist es zumindest gefährlich, auf diese Art und Weise zu argumentieren. ({0}) Meine Damen und Herren, bei diesem Thema lassen sich nach Max Weber interessengeleitete Positionen auf der einen und wertgebundene Positionen auf der anderen Seite wunderbar gegeneinander in Stellung bringen. Das hilft aber nicht wirklich weiter. Wenn der an Werte Gebundene nur an seine Werte denkt, ist er politisch handlungsunfähig. Wer nur interessengeleitet ist, bewegt sich am Rand der moralischen Unfähigkeit. Es geht also darum, die beiden Prinzipien vernünftig und möglichst verantwortungsvoll miteinander zu verbinden. In Ihren 16 Anträgen zum Verbot von Exporten von Kriegswaffen und Rüstungsgütern unterscheiden Sie überhaupt nicht. Sie verstehen auch gesicherte Autos für Botschaften als Waffen. Das ist zumindest oberflächlich und zeigt, dass Sie mit diesen Anträgen bestimmte Intentionen verfolgen. ({1}) Alle Ihre Anträge sind fast inhaltsgleich. In den Ausschussberatungen haben Sie einen Antrag für die gesamte Region gestellt. Das war durchaus sinnvoll. Jetzt zeigen Sie, dass Sie etwas ganz anderes im Sinn haben, als wirklich darüber zu diskutieren. Ihnen geht es nämlich in Wirklichkeit um einen propagandistischen Erfolg. Sie hatten auch eine Reihe von Anfragen gestellt, mit deren Hilfe Sie belegen wollten, dass die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierungen der letzten zehn Jahre das Schlimmste darstelle, was man sich überhaupt vorstellen könne. Das ist Ihnen ja nicht gelungen; das lässt sich weder den Summen noch den Zielländerlisten entnehmen. Weil Ihnen das nicht gelungen ist, haben Sie nun erneut eine ganze Reihe von Anträgen gestellt, die wir heute zu beraten haben. Sie verschweigen dabei aber, dass etwa gegen Libyen und Syrien jeweils ein Waffenembargo besteht; daran halten wir uns natürlich. So gibt es eigentlich gar keinen Grund, entsprechende Anträge vorzulegen. Sie wollen vergessen machen, dass die Bundesregierung selbstverständlich das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, unverzüglich angewiesen hat, ihr alle Anträge, die diese Region betreffen, vorzulegen. Diese werden damit separat behandelt und gehen nicht den routinemäßigen Weg. In einer der Anfragen, die Sie gestellt hatten, schildern Sie - das hat mich besonders beeindruckt - das ägyptische System. Sie tun so, als ob Sie schon seit 20 Jahren zu den intensivsten Kritikern dieser Diktatur gehört hätten. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit haben Sie genauso auf die stabilisierende Wirkung Ägyptens gehofft und gesetzt wie alle anderen. ({2}) - Ja. Wir gehen jetzt seit einem Jahr anders an die Sache heran. Hier sind wir einer Meinung. Hier gibt es ja nun auch keine Genehmigungen mehr. ({3}) - Sagen Sie hier doch einmal, was denn geliefert worden ist. Sie verschweigen einfach zu viel. ({4}) Wir halten uns an alle Maßnahmen, die die Bundesregierungen in den letzten 20 Jahren seit Rabta, seit dem illegalen Export nach Libyen, getroffen haben. Ob Aus13046 bau des Zollkriminalinstituts, Entwicklung neuer Instrumentarien, verbesserte Eingriffsmöglichkeiten bei Fahndungen oder erhöhte Strafandrohungen, wir versuchen alles, um illegale Ausfuhren zu verhindern. Wir tun das alles in einem insgesamt transparenten Verfahren. Damit glauben wir die Genehmigungen verantworten zu können, die die Bundesregierung bisher erteilt hat. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion. ({0})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute unter anderem über den SPD-Antrag zur Reduzierung von Waffenexporten und zu einer stärkeren parlamentarischen Beteiligung des Deutschen Bundestages an Entscheidungen, die ansonsten in geheimer Sitzung im Bundessicherheitsrat allein von den Ressortvertretern der Bundesregierung getroffen werden. Ich appelliere an CDU/CSU und FDP, unseren Antrag entgegen Ihrem Verhalten in den Ausschüssen anzunehmen. Damit würden Sie auch die Forderungen der katholischen und der evangelischen Kirche, die wir aufgenommen haben, umsetzen. ({0}) Die Einwände, die wir in den Beratungen von Ihnen gehört haben - das waren bisher die einzigen -, lassen sich leicht widerlegen; denn sie sind lediglich vorgeschoben. Da wurde gesagt, es gehe um die Trennung von Exekutive und Legislative. Schweden und Großbritannien haben natürlich auch eine entsprechende Trennung zwischen Exekutive und Legislative; trotzdem gibt es dort solche Regelungen, wie wir sie vorschlagen. Es geht also, wenn man will. Mein Verdacht ist jedoch, dass die Regierungsparteien bei Waffen- und Rüstungsexporten keine wirkliche Transparenz schaffen wollen. Des Weiteren wird gesagt, das bringe zu viel Verwaltungsaufwand mit sich. Es wäre, ehrlich gesagt, wohl ein bisschen Verwaltungsaufwand wert gewesen, wenn man damit verhindert hätte, dass dem Gaddafi-Regime Abschussrampen für Panzerabwehrraketen, Kommunikationstechnik und Störsender geliefert wurden, die dieser nun gegen die eigene Bevölkerung einsetzen kann. ({1}) Ich habe elf Jahre dem Bundessicherheitsrat angehört und darf mich aus Gründen der Geheimhaltung natürlich nicht zu Einzelentscheidungen und auch nicht zu meinem eigenen Stimmverhalten äußern. Ich bitte Sie ausdrücklich, mich auch nicht dazu zu zwingen. Aber so viel kann ich aufgrund meiner Erfahrung sagen: Diese Geheimhaltung hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass die richtigen politischen Grundsätze zu den Waffenund Rüstungsexporten, die die rot-grüne Regierung 1999 und 2000 beschlossen hat, einerseits und die realen Entscheidungen im Bundessicherheitsrat zu den Rüstungsexporten andererseits immer weiter auseinanderklaffen. Da hilft nur parlamentarische Offenheit. Das ist die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss. ({2}) Diese Erfahrungen im Bundessicherheitsrat sind - neben meiner grundsätzlichen restriktiven Haltung gegenüber Waffen- und Rüstungsexporten - ein Grund, warum ich diese Initiative verfolge. Ich werde sie weiter verfolgen, und sie wird zum Erfolg führen. Warum muss der Bundestag über Waffen- und Rüstungsexporte parlamentarisch mit entscheiden, und warum muss dieses Thema auf der Tagesordnung bleiben? Dafür gibt es mindestens sechs gute Gründe: Erstens. Waffen- und Rüstungsexportlieferungen an nordafrikanische Länder müssen ein Ende haben. Was brauchen die Menschen in der Region jetzt wirklich? In Tunesien oder Ägypten braucht man Hunderttausende Arbeitsplätze für junge Menschen, die gut ausgebildet sind und Hoffnungen auf den demokratischen Wandel setzen. Darauf müssen diese Länder ihre Finanzmittel konzentrieren, statt sie für Rüstungsimporte zu verschwenden. ({3}) Wenn ich das ergänzen darf: Die nordafrikanischen Länder brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, die auf Demokratisierung nicht mit Frontex antwortet, sondern die den europäischen Werten der Menschlichkeit und Solidarität entspricht. ({4}) Wir fordern die Regierung auf, hier zu erklären, dass der Stopp von Waffenexporten in nordafrikanische Länder, den sie Anfang des Jahres beschlossen hat, jetzt fortgesetzt wird. Ich würde gerne wissen: Wie ist der Stand in Bezug auf diese Länder? Zweitens. Unsere Befürchtung ist, dass die anstehende Umstrukturierung der Bundeswehr dazu führen wird, dass ausgemusterte Waffen und Rüstungsgüter weltweit exportiert und dadurch die nächsten Konflikte angeheizt werden. Gerade bei dem Export solcher Güter, die bereits vom deutschen Steuerzahler bezahlt worden sind, ist eine parlamentarische Mitentscheidung wichtig. Drittens. Besonders schädlich finde ich das Verhalten der Bundesregierung beim Export von Kampfflugzeugen nach Indien. Nach den damaligen Ministern Brüderle und zu Guttenberg haben Minister Westerwelle und nun noch die Bundeskanzlerin in Indien antichambriert. Hier wird leichtfertig mit den restriktiv formulierten deutschen Rüstungsexportrichtlinien umgegangen; ({5}) denn diese Richtlinien besagen, dass Lieferungen in Spannungsgebiete nicht genehmigungsfähig sind. An die Adresse Indiens gerichtet sage ich: Statt 126 Kampfflugzeuge im Milliardenwert zu kaufen, sollte die indische Politik auf die Bekämpfung der Armut im Land setzen. ({6}) Etwa ein Drittel der 1,2 Milliarden Menschen in Indien lebt unterhalb der Armutsgrenze. Viertens. Die Bundesregierung versucht, die restriktiven Regelungen der Rüstungsexportrichtlinien auszuhöhlen, indem sie auf strategische Partnerschaften verweist. Unter diesem Deckmantel wird dann auch in Länder geliefert, die vom Waffenexport eigentlich ausgeschlossen sind. Fünftens. Wichtig für die Transparenz gegenüber dem Deutschen Bundestag ist auch, dass die Bundesregierung durch die Vorlage des Rüstungsexportberichtes verstärkt ihrer Informationspflicht nachkommt. Das hätten wir - das sage ich selbstkritisch und gestehe es freimütig zu - bereits früher veranlassen können. Schön und richtig wäre, wenn er in drei- oder sechsmonatigen Abständen erfolgt. Ich fordere alle Fraktionen des Deutschen Bundestags auf, sich über eine neue Struktur dieses Rüstungsexportberichts Gedanken zu machen; denn - vielleicht hat es noch nicht jeder festgestellt - die Verteidigungsgüterrichtlinie, die in diesem Jahr in Kraft tritt, wird zukünftig bewirken, dass Waffenlieferungen innerhalb europäischer Länder nicht mehr in der Statistik des Rüstungsexportberichtes auftauchen. Wir weisen frühzeitig auf diesen Sachverhalt hin und fordern, das in dem Bericht auch deutlich zu machen. Sonst wird uns die Bundesregierung noch erzählen, in ihrer Regierungszeit seien die Waffen- und Rüstungsexporte zurückgegangen. ({7}) - Ja, genau. Sechster und letzter Punkt. Viele europäische Staaten - Frankreich, Österreich, Großbritannien, Italien, Niederlande - haben neben Deutschland Waffen und Rüstungsgüter nach Nordafrika geliefert. Außerdem gibt es europäische Rüstungsfirmen. Es ist an der Zeit, dass endlich die acht gemeinsamen Regeln, die Ausdruck des gemeinsamen europäischen Standpunkts sind und die sehr wichtig und richtig sind, in den europäischen Ländern gesetzlich fixiert werden. Eines ist klar - darauf wird vielleicht auch in der morgigen Debatte Bezug genommen -: Die exzessive Verschuldung europäischer Partnerländer wie Griechenland und im Übrigen auch Portugal hängt auch damit zusammen, dass sie teure, unnötige Waffenimporte unter anderem aus Deutschland und Frankreich zu bezahlen hatten. ({8}) SIPRI weist darauf hin, dass der Anteil deutscher Waffenexporte nach Griechenland bei 13 Prozent und der Anteil französischer Waffenexporte bei 12 Prozent liegt. ({9}) Es ist wirklich eine Schizophrenie, sich von Ländern wie Griechenland und Portugal Waffen abkaufen zu lassen und ihnen gleichzeitig Geld zu liefern, damit sie finanziell stabilisiert werden können. Dieser Schizophrenie muss ein Ende gemacht werden. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Sie alle kennen diesen wunderbaren Film Und täglich grüßt das Murmeltier mit Bill Murray. Ein bisschen erinnert mich die heutige Debatte daran. Wir haben bereits am 18. März, am 24. März und am 12. Mai über dieselben Anträge geredet. Die Szenarien sind gleich. Ich glaube, der einzige Unterschied ist, dass heute Staatsministerin Pieper anstelle des damaligen Staatsministers Hoyer anwesend ist. Ansonsten haben wir komplett die gleiche Aufstellung. Der große Unterschied ist: Bei Und täglich grüßt das Murmeltier handelt es sich um eine 120-minütige, witzige, intelligente Unterhaltung. Das, was Sie uns vorlegen, ist weder witzig noch intelligent. Es sind dieselben langweiligen Schaufensteranträge, die Sie für Ihre Klientel brauchen. ({0}) Damit betreiben Sie Klientelpflege und wenden sich an die S-Bahn-Brandstifter, die unter dem Deckmantel, gegen Waffenexporte zu sein, gehandelt haben. ({1}) Seriös ist das natürlich nicht, was Sie vorlegen. Seriös wäre es, darauf hinzuweisen, dass eine militärische Mittelmacht wie Deutschland selbstverständlich eine Sicherheits- und Verteidigungsindustrie braucht und dass Sicherheit durch diese Industrie exportiert wird, zum Beispiel auch nach Saudi-Arabien. Dr. Martin Lindner ({2}) ({3}) Der Export nach Saudi-Arabien bestand im Wesentlichen in einem Auftrag an EADS zum Küstenschutz. Dieser Milliardenauftrag ist übrigens unter Frau Wieczorek-Zeul genehmigt worden, die elf Jahre im Bundessicherheitsrat saß. ({4}) Frau Kollegin, in diesen elf Jahren sind Sie nicht auf die Idee gekommen, einen solch wunderbaren Antrag wie den heutigen zu stellen. Deswegen wiederhole ich meinen Zuruf von vorhin: Ein Vegetarier, der T-Bone-Steaks verzehrt, ist glaubwürdig im Vergleich zu Ihnen; das kann ich Ihnen sagen, Frau Wieczorek-Zeul. ({5}) Alles, was Sie sagen, ist Kokolores. Es ist nicht glaubwürdig, wenn man so lange wie Sie in der Verantwortung stand und sich in dieser Zeit nichts getan hat. ({6}) Ich erinnere Sie daran: Im Jahr 2005 - da waren Sie schon geraume Zeit im Amt - sind die Rüstungsexporte um 1,2 Milliarden Euro gestiegen. Ich habe nachgeschaut: Lag das vielleicht an einem Großauftrag? Nein, Exporte im Umfang von 900 Millionen Euro gingen in die Dritte Welt, ({7}) in die Länder, für die Sie verantwortlich und zuständig waren. Wenn Sie uns Schizophrenie vorwerfen, muss ich mich fragen, worum es sich bei dem handelt, was Sie heute hier vorgetragen haben. ({8}) Meine Damen und Herren, eine Thematisierung der Anträge der Linken ist nicht lohnenswert; sie sind ein relativ naives und perfides Manöver zur Klientelpflege. ({9}) Aber was Sie als eigentlich ernst zu nehmende Fraktion beantragen, meine Damen und Herren von der SPD, ist nicht minder problematisch. Ihre Anträge sind natürlich nicht so populistisch wie die der Linken. Aber erzählen Sie uns einmal, wie Sie sich die praktische Exekution der Anträge vorstellen. Wie sollen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages 16 000 Anfragen betreffend Rüstungsexporte seriös bearbeiten? Das können sie nicht. ({10}) Das ist klassisches exekutives Handeln. Der Deutsche Bundestag setzt den gesetzgeberischen Rahmen unter anderem für die Exportwirtschaft; die Verwaltung vollzieht diese Gesetze. Die Bearbeitung einzelner Anträge und darauf erfolgender Genehmigungen gehören selbstverständlich zum exekutiven Handeln. Wie soll es, bitte schön, anders gehen? Wie soll denn ein Ausschuss oder gar ein einzelner Abgeordneter einen Rüstungsexportantrag in seiner ganzen Tiefe bearbeiten? ({11}) - Sie schaffen das? Sie schaffen es doch nicht einmal, anständige Anträge zu formulieren. Wie können Sie glauben, dass Sie in der Lage wären, solche Anträge seriös zu bescheiden? Das ist schlichtweg lächerlich. ({12}) Wenn wir über das Thema Rüstungsexporte sprechen, müssen wir natürlich eine Diskussion darüber führen, wie die Länder der NATO und der Europäischen Union ihre Rüstungsanstrengungen bei Hightechprodukten koordinieren können. Darin scheint mir ein Hauptproblem zu bestehen. Wir bilden zwar mit der NATO eine Verteidigungsgemeinschaft und mit der EU eine Wirtschaftsgemeinschaft; aber wir haben, was die Rüstungsindustrie angeht, noch immer nationale Verteidigungsstrategien. Da liegt das Problem: Die Stückkosten sind gigantisch hoch; damit steigt der Druck, zu exportieren. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir zahlen die hohen Stückkosten und belasten damit die nationalen Verteidigungsetats überproportional, oder wir koordinieren zukünftig unsere Rüstungsprojekte auf intelligentere Weise; dann wäre bei gemeinsamen Unternehmen wie EADS der Druck geringer, zu Exporten in größerem Umfang zu kommen. Das wäre ein seriöser Beitrag, den Export von Hightechprodukten zu verringern. Wir reden hier nicht über G 36. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sich die Sicherheitslage der Menschen im Nahen oder Mittleren Osten dadurch geändert hat, dass dort Waffenfabriken unter deutscher Beteiligung gebaut wurden; anderenfalls hätten China und Russland dort Fabriken gebaut. Darum geht es nicht; das ist doch nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist - da besteht ein berechtigtes Interesse -, dass wir beim Export von Hightechprodukten zu einer restriktiven Handhabung kommen; denn es tangiert natürlich unsere Sicherheitslage, wenn Produkte - keine Stangenware - in nennenswertem Umfang unkontrolliert exportiert werden, die tatsächlich zu einer Gefährdung unserer Sicherheit führen können. Hier stehen die FDP, die Koalition und die Bundesregierung für eine weiterhin vernünftige, restriktive Handhabung, natürlich in dem Bewusstsein, dass Deutschland eine bedeutende Exportmacht ist und es bleiben will. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst dem Kollegen Fritz. Diese Kurzintervention beVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse zieht sich auf die Rede von Heidemarie Wieczorek-Zeul, die anschließend eine Kurzintervention angemeldet hat. Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, vielleicht können Sie gleich darauf erwidern und dann Ihre Intervention formulieren.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin, ich bin auf den SPD-Antrag, der sich qualitativ von den übrigen Anträgen unterscheidet, nicht eingegangen, weil ich nach der Beratung im Wirtschaftsausschuss den Eindruck gewonnen hatte, dass es Ihnen nicht um den Inhalt Ihres Antrags geht, sondern nur um die Darstellung Ihres Antrags im Plenum. Im Rahmen der ersten Lesung habe ich ausdrücklich angeboten, über diese Themen ausführlich zu reden. Im federführenden Ausschuss war eine Diskussion darüber nicht möglich, weil dieser Antrag ohne Diskussion wieder an das Plenum überwiesen worden ist. Insofern hatte ich den Eindruck, dass er Ihnen nicht so wichtig ist, und habe ihn unter die anderen subsumiert. Ansonsten haben wir die Zwischenzeit genutzt und uns die verschiedenen Praktiken noch einmal genau angesehen. Ich glaube nicht, dass Sie das britische Modell wirklich wollen. Dort liegen Beschaffung für die Armee und Genehmigung der Exporte nämlich in einer Hand. Das möchten Sie bestimmt nicht. Das einzige Modell, über das man reden kann - es gibt sehr gute Gründe dafür, aber auch dagegen -, ist das schwedische Modell. Sie werden allerdings feststellen, dass die beiden Länder nicht vergleichbar sind, weder in bündnispolitischer Hinsicht noch hinsichtlich der industriellen Basis noch hinsichtlich aller anderen Aspekte, die die Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheitspolitik und die Kooperationsfähigkeit betreffen. Die Schweden haben das Genehmigungsverfahren in ein unabhängiges Institut ausgelagert. Weil dieses Institut völlig außerhalb der Exekutive steht, haben sie logischerweise ein zusätzliches parlamentarisches Kontrollgremium, das innerhalb eines ganzen Jahres etwa 1 600 Anträge bearbeitet. Insofern ist ein Vergleich schwierig. Man müsste auf der Basis eines solchen Antrages einen längeren Disput darüber führen, was sinnvoll ist und was nicht und wie man die Gewalten auch in dieser Frage ordentlich teilt. Dass es in diesem Haus Kontrolle gibt, zeigen nicht zuletzt die vorliegenden Anfragen. Ich habe noch von keinem Kollegen gehört, dass ihm in irgendeinem Ministerium die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, wenn er über ein bestimmtes Projekt etwas erfahren wollte. Von daher sollten wir die Sache adäquat und zielführend behandeln. Wir sollten uns möglichst nicht gegenseitig Versagen und moralische Unfähigkeit vorwerfen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Fritz. Ihr Beitrag hat sich positiv von dem - ich persönlich würde sagen: herabsetzenden - Ton Ihres Kollegen Lindner unterschieden. ({0}) Ich muss sagen: Vielleicht wäre es an der Zeit, dass innerhalb der FDP einmal über die Frage des Umgangs gesprochen wird, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, welche subkutanen Beleidigungen über den Tisch gereicht werden. Zu dem Punkt, den Sie angesprochen haben, Herr Fritz. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses - ich nenne jetzt keinen Namen - gesprochen. ({1}) - Also: Herr Polenz. - Ich habe mit Herrn Polenz und Herrn Mißfelder - da ist er - zusammengesessen und gesagt: Überlegt, ob wir in der Richtung weiterarbeiten können. - Es gab keine positive Reaktion. Das ist die Wahrheit. Ich nehme aber zur Kenntnis - deshalb sage ich das jetzt auch -, dass der Rüstungsexportbericht wegen der nicht mehr auftauchenden innereuropäischen Waffenund Rüstungsexporte sowieso geändert werden muss. Deshalb sollten sich - erstens - alle zusammensetzen und überlegen, wie er künftig aussehen soll. Zweitens - wir haben diesen Vorschlag gemacht - sollten wir den Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses in diesem Sinne einsetzen; denn jedes Parlament nutzt seine Möglichkeiten. Das Angebot steht. Wir werden die Anträge voranbringen. Insofern wird es dazu Gelegenheit geben. Ich komme zu meinem zweiten Punkt, zu dem, was Herr Lindner bereits in der ersten Debatte gesagt hat. Ich weise darauf hin, dass es sich hierbei um einen Ablenkungsversuch handelt. In der Zeit von Rot-Grün ist der Anteil von Genehmigungen von Rüstungsexporten in die ärmsten Entwicklungsländer drastisch reduziert worden. Sie haben eine Zahl aus dem Jahr 2005 genannt. Der Anteil der Lieferungen an die ärmsten Entwicklungsländer ist hier gering. Im Übrigen weisen der Rüstungsexportbericht der GKKE - also der Kirchen - sowie der deutsche Rüstungsexportbericht darauf hin, dass der Anteil der armen Entwicklungsländer bei den Rüstungsexporten verschwindend gering ist. Im Jahr 2005 gab es mit Südafrika einen spezifischen Fall. Dieser Punkt war sehr umstritten. Er war auch für mich umstritten, ohne dass ich jetzt ins Detail gehen kann. Lenken Sie also bitte nicht ab. Beteiligen Sie sich im Sinne von Herrn Fritz konstruktiv und ohne Ihren hämischen Ton an der Sachdebatte. Das wäre dem Ernst dieses Themas angemessen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lindner, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, mir ist Häme wirklich fern. ({0}) - Mir ist Häme wirklich fern, grundsätzlich. - Wenn man, einen Tag bevor man Sie hört, den Rüstungsexportbericht in die Hand bekommt und dort liest, dass in dem von Ihnen genannten Jahr die Rüstungsexporte um 900 Millionen Euro in die Höhe gegangen sind, und weiß, dass Sie wie kein anderes Mitglied des Hauses lange in Regierungsverantwortung waren, von 1998 bis zum Jahr 2009, und ununterbrochen dem Bundessicherheitsrat angehört haben, Sie aber genau in dem Moment aufwachen, in dem Sie die exekutive Verantwortung verlassen und damit die Chance verloren haben, auf eigenen Mehrheiten beruhende Vorschläge zum vernünftigen Umgang mit dem Thema Rüstungsexport einzubringen, und glauben, uns im Monatsrhythmus Vorschläge unterbreiten zu können, wie nunmehr die Legislative einzelne Rüstungsentscheidungen zu handhaben hat, dann erlauben Sie uns bitte, dass wir das nicht so vollständig ernst nehmen können, wie es der Sache vielleicht - wie Sie es zu recht angemerkt haben - angemessen wäre. Herzlichen Dank.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Lindner, Inhaftierung von Dissidenten, unter Folter erzwungene Geständnisse, öffentliche Hinrichtungen, Sie würden wahrscheinlich an dieser Stelle sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier. Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung führt die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien akribisch auf. Dennoch genehmigt dieselbe Regierung nicht nur Rüstungs-, sondern auch Kriegswaffenexporte in dieses Land und entsendet zudem noch deutsche Polizisten zur Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte. Dabei sind nach der Rüstungsexportrichtlinie und dem Verhaltenskodex der EU die menschenrechtliche Lage und friedenspolitische Kriterien zwingend zu berücksichtigen. Wir müssen feststellen, dass in der Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Die Linke hat in 16 Anträgen die kritische Menschenrechtslage in arabischen Ländern dargelegt und fordert für jedes einzelne ein umfassendes Embargo für Rüstungsgüter. Wo bereits ein Embargo besteht, fordert sie eine Art Ewigkeitsgarantie, unabhängig von der zukünftigen Entwicklung des Landes. Wenn man diese Forderung logisch übersetzt, heißt das eigentlich, sämtliche Rüstungsexporte für alle Zeit zu verbieten. ({0}) So steht es auch in Ihrem anderen Antrag, der heute zur Abstimmung steht und den wir ablehnen werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lindner?

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Keul, bei Saudi-Arabien muss man differenzieren. Es geht im Wesentlichen - ich sagte das vorhin schon - um einen Küstenschutzauftrag für SaudiArabien durch EADS. Das ist öffentlich bekannt. ({0}) Das sind im Wesentlichen Radargeräte, Küstenschutzgeräte und Elektronik. Das hat doch mit Menschenrechtsverletzungen wirklich nichts zu tun. Wir helfen dort, eine Radarüberwachung zum Schutz gegen Piraterie aufzubauen. ({1}) Sie können den Küstenschutz doch nicht zur Bekämpfung von missliebigen Bürgern einsetzen; das gilt auch für U-Boote und anderes. Bei der Betrachtung dessen, was exportiert wird, muss man differenzieren. Das andere sind Konzessionen, die gehandelt werden. Im eigenen Land werden Fabriken aufgebaut. Auch das hat mit Exporten von Deutschland in diese Länder nichts zu tun. ({2}) Ich glaube, es lohnt sich für eine seriöse Partei, der Sie angehören, die Dinge, über die wir reden, anders als die Populisten auf der linken Seite des Hauses sauber auseinanderzuhalten.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Lindner, ich habe gedacht, Sie seien zynisch, aber es ist noch viel schlimmer. Sie haben sich gar nicht mit dem befasst, was in Saudi-Arabien passiert. ({0}) Bei dem Auftrag der Firma Cassidian geht es nicht um Küstenschutz, sondern um die Sicherung der Tausende Kilometer langen Grenze quer durch die Wüste. Diese wird überwacht. Es geht auch um innere Repressionen. Man darf sich dieser Grenze vonseiten Saudi-Arabiens gar nicht nähern; wenn man es tut, setzt man sich den Repressalien des Regimes aus. Beschäftigen Sie sich also erst einmal damit. Polizisten werden dazu ausgebildet, nach innen repressiv zu unterdrücken. Es geht hier nicht um Boote oder Fregatten für den Küstenschutz. Das ist etwas völlig anderes. ({1}) Das Anliegen, das wir teilen, ist: weniger Handel mit todbringenden Waffen. Da sind wir uns einig. Auch meine Fraktion setzt sich für eine restriktivere Rüstungsexportpolitik ein. Aber ob es nun zielführend ist, für alle genannten Staaten ein umfassendes Embargo zu fordern, bezweifele ich sehr. Denn diese Forderung dürfte in ihrer Radikalität nicht nur auf politische, sondern auch auf verfassungsrechtliche Hürden stoßen, besonders wenn es um Rüstungsgüter geht, die keine Kriegswaffen sind. Sie von der Linken machen es sich einmal wieder sehr einfach. Wer ohnehin keine Regierungsverantwortung übernehmen will, kann erst einmal das Blaue vom Himmel fordern. ({2}) Es gibt aber durchaus einige diskussionswürdige Punkte, auf die wir an dieser Stelle hinweisen müssen. Nach unserem geltenden Recht sind Exporte von Kriegswaffen in Drittländer außerhalb von NATO und EU generell untersagt und dürfen nur ausnahmsweise genehmigt werden, wenn deutsche Sicherheitsinteressen es erfordern. Diese Einschränkung des freien Handels hat bei uns sogar Verfassungsrang. ({3}) Warum aber beispielsweise Waffenfabriken und Polizeitraining in Saudi-Arabien in einem besonderen deutschen Sicherheitsinteresse liegen sollen, hat die Bundesregierung bislang nicht begründen wollen und wohl auch nicht begründen können. Auf Nachfrage werden wir Parlamentarier immer wieder auf die allgemeinen Rechtsgrundlagen und auf das Prinzip der Einzelfallentscheidung verwiesen. ({4}) Ich bin allerdings durchaus der Meinung, dass einige der hier genannten Länder sich für den Export von Kriegswaffen deutlich disqualifiziert haben. Das ist doch ein Punkt, über den wir als Parlamentarier einmal reden sollten. Wollen wir nicht eine Rechtsgrundlage für den Erlass von einer Liste von Ländern, an die aufgrund der Menschenrechtslage und der Repressionen im Inneren keine Kriegswaffen geliefert werden dürfen, schaffen? Für eine solche Rechtsverordnung ließe sich im Außenwirtschaftsgesetz leicht eine Grundlage schaffen. So, wie es in der Außenwirtschaftsverordnung Listen von Waffengattungen gibt, gäbe es dann auch eine Liste von Ländern, bei denen das Ermessen der Genehmigungsbehörde auf Null sinkt. Über die Rechtsverordnung verbliebe die Entscheidung in der Sache selbst bei der Exekutive. Ein großer Vorteil wäre die Transparenz. Die Liste der Länder wäre Gegenstand öffentlicher Debatte und parlamentarischer Kontrolle. Wegen der Sensibilität und friedenspolitischen Bedeutung des Themas sind mehr Öffentlichkeit und weniger Geheimniskrämerei ohnehin dringend erforderlich. ({5}) Vor diesem Hintergrund werden wir dem entsprechenden Antrag der SPD zustimmen. Im Zusammenhang mit der Verbesserung des Außenwirtschaftsgesetzes würde ich auch vorschlagen, den Wortlaut der Rüstungsexportrichtlinien gleich ins Außenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um dem Menschenrechtskriterium klaren Gesetzesrang zu verschaffen. ({6}) Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen“ eingehen. Er enthält viele richtige Forderungen, insbesondere was die atomwaffenfreie Zone und die Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Standards betrifft. Die Einstellung jeglicher Zusammenarbeit mit Israel ist jedoch für uns keine tragbare Forderung, sodass Sie hier ohne unsere Zustimmung auskommen müssen. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Wolfgang Götzer für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ihren Anträgen fordert die Linke die Bundesregierung auf, den Export sämtlicher Rüstungsgüter in alle Länder des Nahen und Mittleren Ostens einzustellen bzw. keine weiteren Exporte zu genehmigen. ({0}) Außerdem soll die Ausbildungskooperation zwischen der Bundeswehr und der israelischen Armee beendet werden. ({1}) Dies soll wohl zu einer Verminderung der politischen Spannungen im Nahen Osten beitragen. ({2}) Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist das Ziel aller Fraktionen im Deutschen Bundestag, ({3}) eine nachhaltige politische Entspannung im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika herbeizuführen. ({4}) Die uns heute vorliegenden Anträge der Linken sind hierzu ganz sicher nicht geeignet. ({5}) Es handelt sich hierbei - das möchte ich unterstreichen um scheinheilige Schaufensteranträge. ({6}) Ein Wort zu Ihnen, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul. Sie haben zwar sachlich geredet, aber natürlich Kritik an der Praxis dieser Bundesregierung in den letzten Jahren geübt. ({7}) Auch Sie müssen sich einige Zahlen vorhalten lassen; zum Teil sind sie schon genannt worden. ({8}) - Die Zahlen sind nicht falsch. ({9}) Unter Rot-Grün wurden die meisten Rüstungsexporte genehmigt. Es geht um den Zeitpunkt der Genehmigung, nicht um den Zeitpunkt der Lieferung; das ist ein großer Unterschied. ({10}) Bei Paul Holtom vom SIPRI-Institut stößt die Kritik beispielsweise der Grünen-Chefin Claudia Roth am Anstieg der deutschen Rüstungsexporte auf Unverständnis. Jetzt kommt ein wörtliches Zitat: Die meisten Verträge, die diese Verdoppelung bewirkt haben, wurden ja während der rot-grünen Regierungszeit abgeschlossen. Das sagt der Vertreter des SIPRI-Instituts. ({11}) Es gibt eine weitere interessante Zahl, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul. Im Jahr 1998 - damals noch unter der Regierung Kohl - wurden nach offiziellen Angaben Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter im Umfang von 1,338 Milliarden DM erteilt, im Jahr 2000 - unter RotGrün - waren es 5,9 Milliarden DM, sprich: etwa 3 Milliarden Euro. Diese Zahlen müssen Sie sich vorhalten lassen. ({12}) Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches zum deutschen Rüstungsexport sagen. Alle Anträge auf Ausfuhrgenehmigungen werden im jeweiligen Einzelfall nach sorgfältiger Abwägung vor allem der außen-, der sicherheits- und der menschenrechtspolitischen Argumente entschieden. Wichtige Kriterien jeder Entscheidung sind dabei auch die Konfliktprävention und natürlich die Beachtung der Menschenrechte im Empfangsland. Ebendiesem Verfahren unterliegen auch Entscheidungen über Rüstungsexporte in die Regionen, die Gegenstand der Anträge der Linkspartei sind. ({13}) Die Tatsache, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie im Februar dieses Jahres in Anbetracht der aktuellen Ereignisse in Ägypten das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle angewiesen hat, ihm sämtliche Anträge auf Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen von Rüstungsgütern nach Ägypten vorzulegen, und dass die Bearbeitung dieser Anträge ausgesetzt wurde, zeigt, dass das derzeitige System funktioniert. ({14}) Ich darf noch einmal Paul Holtom vom SIPRI-Institut zitieren, der dazu sagt - das ist ein wörtliches Zitat -: Es ist nun mal so, dass die Deutschen bei Ausfuhren in Spannungsgebiete deutlich restriktiver sind als ihre Konkurrenten. Hört! Hört! ({15}) Da Israel in mehreren Ihrer Anträge erwähnt wird, möchte ich aus gegebenem Anlass darauf hinweisen, dass Deutschland aufgrund seiner Historie eine besondere Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit des Staates Israel hat. Deutschland hat sich bislang immer offen zu dieser Verantwortung bekannt und wird dies auch zukünftig tun. Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung umfasst auch eine enge Zusammenarbeit Deutschlands mit Israel im Verteidigungsbereich. Die Anträge der Linken berücksichtigen in keiner Weise die besondere deutsche Beziehung zu Israel. Diesen Aspekt zu unterschlagen, ist unverantwortlich. Freilich ist das einmal mehr bezeichnend für das Verhältnis der Linken zu Israel. ({16}) Über dieses Thema haben wir vor nicht allzu langer Zeit im Rahmen einer Aktuellen Stunde diskutiert. Wer heute die Tageszeitung Die Welt liest, erfährt, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sich offensichtlich schon selber mit der Abgrenzung zum Antisemitismus in Ihren eigenen Reihen beschäftigen mussten. ({17}) Offensichtlich haben Sie dies nötig. Die Forderungen bezogen auf Israel gehen im Übrigen gänzlich an den politischen und militärischen Realitäten im Nahen Osten vorbei. Deutschland muss und wird an seiner Verantwortung für die Sicherheit Israels festhalten und in diesem Zusammenhang auch die verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit Israel fortsetzen. Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel ist zudem darauf hinzuweisen, dass auch Deutschland von dieser Kooperation profitiert. Die in Israel hergestellten Drohnen, die die Bundeswehr nutzt, tragen wesentlich zur Verbesserung des Lagebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zur Erhöhung der Sicherheit unserer Soldaten im Einsatzgebiet bei. Hierauf können und dürfen wir nicht verzichten. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Deutschland eine äußerst verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungspolitik betreibt. ({18}) Dies gilt ganz besonders für die Regionen, die in den Anträgen der Linkspartei genannt sind. Ich bedanke mich. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen - Militärische Zusammenarbeit beenden - Atomwaffenfreie Zone befördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4508, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2481 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5823. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5054 mit dem Titel „Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5039 mit dem Titel „Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5204 mit dem Titel „Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 15 auf: 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Elisabeth Winkelmeier-Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Marlene Rupprecht, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Christian Ahrendt, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef Philip Winkler, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen - Drucksache 17/6143 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unterstützung für Opfer der Heimerziehung Angemessene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen - Drucksache 17/6093 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({3})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf zu dieser heutigen Debatte auch einige ehemalige Heimkinder sehr herzlich begrüßen, weil ich von einigen aus Briefen weiß, dass sie heute extra nach Berlin gereist sind, um diese Debatte hier vor Ort zu verfolgen, und viele haben mir geschrieben, dass sie sich unsere Debatte heute live zu Hause vor dem Fernseher ansehen wollen. Wenn wir heute über diesen Antrag sprechen - ich bin sehr froh, dass dieser Antrag in einem fraktionsübergreifenden Konsens geschrieben wurde -, dann wissen wir bei der Verarbeitung der zum Teil erschütternden Geschehnisse in den Erziehungsheimen der alten Bundesrepublik und der DDR um die große Aufmerksamkeit der Betroffenen. Ich weiß nicht, warum von der linken Seite höhnisches Gelächter kommt; denn es ist ein sehr ernstes Thema. ({0}) Ich kann mich nicht erinnern, im Bundestag in den letzten Jahren zu einem solch schwierigen Thema am Rednerpult gestanden zu haben. Für diejenigen, die das Ganze persönlich miterleben mussten, ist das Erlebte keine Geschichte, sondern es ist eine nachwirkende Realität. Das Leid - wenn man nicht selbst davon betroffen war - kann man sich nicht einmal im Ansatz vorstellen. Selbst wenn man es täte, könnte man sicher nicht nachempfinden, was den Opfern in ihrer Kindheit passiert ist. Als ungefähr vor acht Jahren die ersten Berichte über das Unrecht und das Leid in Heimen der jungen Bundesrepublik erschienen sind und drei Jahre später die ersten Petitionen beim Deutschen Bundestag eingegangen sind, habe ich - wie sicherlich viele von uns - gehofft, dass es sich einfach nur um schreckliche Einzelfälle handelt. Aber wir haben längst erfahren, dass es in Wahrheit keineswegs so war: Es waren keine Einzelfälle, sondern es war für sehr viele Menschen bittere Realität. Die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen war in der Praxis sehr unterschiedlich. Es gab sicherlich Heime mit einer sehr fürsorglichen Unterbringung, aber es gab auch Heime, in denen Kindern und Jugendlichen systematisch Leid und Unrecht zugefügt wurden. Wir mussten erfahren, dass das Ganze in katholischen Heimen, in evangelischen Heimen und auch in staatlichen Einrichtungen geschehen ist und dass tagtäglich, stündlich, minütlich gegen bestehendes Recht und elementare Grundsätze unserer Verfassung verstoßen wurde. Wenn man mit ehemaligen Heimkindern spricht, dann erfährt man von körperlicher Gewalt, aber auch von starker psychischer Gewalt, von Schlägen, Beschimpfungen und Beleidigungen, von dem immerwährenden Druck und der immerwährenden Furcht, die den betroffenen Kindern in einer der wichtigsten Entwicklungsphasen tagtäglich zuteil wurde. Es gab Essensentzug, Schlafentzug, Arrest und Isolation. Es gab - schon allein das Wort ist unglaublicher Hohn - sogenannte Besinnungszimmer. Betroffene berichten, dass sie sich jeden Tag alleine, verloren, ängstlich, hilflos und traurig gefühlt haben. Das Allerschlimmste in einer solchen Situation ist, wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat, sich jemandem anzuvertrauen. Die älteren Heimkinder wurden im Heim und für das Heim zur Arbeit geschickt, aber auch für externe Betriebe verpflichtet. Selbstverständlich gab es für ihre Arbeit keinen Beitrag für die Rentenkasse. Kein einziges Heimkind sah für sich die Möglichkeit, jemanden um Hilfe zu bitten oder sich über die Institution beschweren zu können. In der Bundesrepublik schied es faktisch aus, in der DDR gab es noch nicht einmal die theoretische Möglichkeit, Hilfe zu suchen. Die Folgen dieser Heimerziehung reichen bis in die Gegenwart. Viele ehemalige Heimkinder leiden noch immer unter Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Das sind Erlebnisse, die immer wieder hochkommen und die man ein ganzes Leben lang nicht mehr los wird. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich zwei Jahre lang intensiv mit der Thematik beschäftigt und festgestellt, dass mögliche Schadensersatzoder Entschädigungstatbestände in vielen Fällen mittlerweile verjährt sind. Deshalb wurde ein Runder Tisch eingerichtet. Knapp zwei Jahre hat der Runde Tisch beraten. Als Rehabilitierung wurde ein ganzes Maßnahmenbündel vorgeschlagen. Es ist uns wichtig, dieses Maßnahmenbündel fraktionsübergreifend nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern es konkret umsetzen zu können. Dazu gehören materielle Hilfen, das ist wichtig, aber selbstverständlich auch immaterielle Hilfen, zu denen meine Kolleginnen und Kollegen noch näher Stellung nehmen werden. Auch die Kinder und Jugendlichen in den Heimen der DDR haben Leid und Unrecht erlitten. Deswegen haben wir gesagt, wir halten es für notwendig, auch für die ehemaligen Heimkinder in der DDR Hilfsangebote vorzusehen und diese an den Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung zu orientieren. ({1}) Wir sind einen wichtigen Schritt weitergekommen, um für die ehemaligen Heimkinder wenigstens im Ansatz zu versuchen, Wiedergutmachung herzustellen. Selbstverständlich wird Leid - egal welche Summe bezahlt wird - nicht ausreichend bzw. angemessen ausgeglichen werden können. Aber es war wichtig, diese Arbeit zu leisten, auch die Arbeit des Runden Tisches, der stattgefunden hat. Ich möchte mich noch einmal im Namen aller bei denjenigen bedanken, die sich diese Jahre Zeit genommen haben, an diesem Runden Tisch mitzuwirken, die es versucht und vielleicht auch geschafft haben, all das etwas menschlicher erscheinen zu lassen. Wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass unser aufrichtiges Bedauern, unser aufrichtiges Mitgefühl im Hinblick auf dieses düstere Kapitel unserer Geschichte nicht nur in Worten zum Ausdruck kommt. Als Deutscher Bundestag wollen wir auch darangehen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und eine finanzielle Rehabilitierung der Opfer zu ermöglichen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Rupprecht hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2003 wurde in Deutschland der Film mit dem deutschen Titel Die unbarmherzigen Schwestern gezeigt. Er handelte von der Heimerziehung in Irland. Viele von uns werden ihn nicht gesehen haben, aber einige ehemalige Heimkinder haben ihn gesehen. Das löste bei ihnen Folgendes aus: All das, was sie glaubten ganz tief in sich vergraben zu haben - sie meinten, so mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen zu haben -, brach wie bei einem Vulkan aus ihnen heraus. Alle Verletzungen, alle Hilflosigkeit waren auf einmal wieder da. Diese betroffenen Menschen haben sich an Journalisten und auch an das Parlament gewandt, und zwar an eine Kollegin, die heute gar nicht mehr im Bundestag ist, und haben gesagt: Wir wollen darüber reden. - Denn Menschen, die Traumatisierungen, die schreckliche Dinge erleben, ob Misshandlung oder Missbrauch oder seelische Zerstörung, müssen ja weiterleben. Was tun sie? Sie müssen all das ganz tief vergraben, damit sie überleben können. Wenn aber das, was tief vergraben ist, wieder hervorkommt, brauchen sie Hilfe. Dieser Schrei nach Hilfe ging an die Öffentlichkeit. Meine Kollegin sprach mich damals an und sagte: Du bist doch für Heimerziehung in der Bundesrepublik zuständig. Ich antwortete: Ja, ich bin Kinderbeauftragte und bin auch für Jugendhilfe zuständig. Ich wusste damals nicht, dass es um erwachsene Menschen in meinem Alter ging. Ich habe mich damit auseinandergesetzt. Im Spiegel erschien immer wieder einmal ein Artikel des Journalisten Peter Wensierski über Heimerziehung und über Filme zu diesem Thema. Die erste Reaktion war eher eine Ablehnung dessen, was man gelesen hat, weil man einfach nicht wahrhaben wollte, dass so etwas nach dem Krieg in der Bundesrepublik passiert ist: Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung von Menschen, von Persönlichkeiten. Ich bin heute Mittag ins Internet gegangen, weil ich mir noch einmal vergegenwärtigen wollte, warum ich damals gekämpft habe. Ich habe mir das Buch des genannten Spiegel-Journalisten, Schläge im Namen des Herrn, noch einmal angesehen. Ich habe mir noch einmal eines der Schicksale von Menschen, die ich zum Teil kenne, vor Augen geführt. Immer wieder bin ich davon betroffen. Ich habe dann noch einmal die Berichte der Menschen anlässlich des Treffens in Torgau aufgerufen und über Strafen und Belobigungen nachgelesen. Ich habe gedacht: Egal worauf die Kinder und Jugendlichen getrimmt werden sollten, sie sind in beiden Systemen misshandelt worden. In beiden Systemen sind sie kaputtgemacht worden. ({0}) Ich habe damals mit dem Spiegel-Journalisten und auch mit Betroffenen Kontakt aufgenommen. Ein erster Verein wurde gegründet. Ich war zusammen mit Gabriele Lösekrug-Möller, Josef Winkler und Herrn Schiewerling Mitglied im Petitionsausschuss. Daher hatten wir Erfahrung mit Petitionsarbeit. Ich habe gesagt: Da wir nicht auf Grundlage eines Gesetzes helfen können - alles ist verjährt -, ist das Einzige, was wir tun können, das in Anspruch zu nehmen, was unser Grundgesetz in einem solchen Fall für Bürger bereithält, nämlich das Recht der Beschwerde und der Eingabe über den Petitionsausschuss. So kamen die ersten beiden Petitionen, die Herr Wensierski vom Spiegel und Herr Schiltsky vom Verein ehemaliger Heimkinder geschrieben haben, in den Petitionsausschuss. Ich kann mich noch gut an die Sitzung erinnern, zu der wir die ersten Betroffenen eingeladen haben. Noch nie habe ich Kollegen so erschüttert und mit Tränen in den Augen erlebt wie damals, als sie hörten, was mit Kindern gemacht wurde - die heute noch nicht wissen, warum das mit ihnen gemacht wurde. Für manche war es das erste Mal, dass sie darüber gesprochen haben. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Ein junges Mädchen ist schwanger und bekommt ein Kind. Sie ist nicht volljährig; damals lag das Volljährigkeitsalter noch bei 21 Jahren. Nach der Entbindung nimmt man ihr das Kind weg. Dieses Kind weiß nicht, warum es weggenommen wird. Es kommt in ein Säuglingsheim. Von da gerät es in die Erziehungsmaschinerie und erfährt nie, warum es eigentlich dort ist. Schon im Säuglingsheim erlebt es aber nur eines: Es ist niemand da, der ihm Hilfe gibt und es unterstützt. Es hat keine Tante, keinen Onkel, keine Oma oder Opa, zu der oder dem es flüchten kann, sondern ist gnadenlos ausgeliefert. - Das muss man sich einmal vor Augen führen. Deshalb hat sich der Petitionsausschuss sehr ernsthaft und intensiv zwei Jahre lang damit beschäftigt. Nach diesen zwei Jahren wussten wir zwar vieles mehr. Wir wussten aber nicht, wie wir es regeln können. Der Petitionsausschuss hat nicht so viele Instrumente zur Verfügung. Wir haben dann ein neues Instrument erdacht, Marlene Rupprecht ({1}) nämlich einen Runden Tisch, mit allen, die beteiligt waren und sind, und Nachfolgenden. Man kann wirklich viel über diesen Bundestag und über Politiker schimpfen. Wir haben es aber dort und auch weiterhin geschafft - darüber freue ich mich, so schlimm der Anlass ist, aus dem heraus wir heute debattieren müssen -, gemeinsam etwas auf den Weg zu bringen, indem wir sagen: Wir stellen uns der Verantwortung. Wir übernehmen diese Verantwortung. Wir werden das Leid nicht ungeschehen machen. Wir wollen, dass Menschen Zugang zu dem haben, was ihnen passiert ist, und dass sie darüber reden können. Wir wollen, dass Akten nicht mehr vernichtet werden, sondern dass das Ganze auch für die Nachwelt dokumentiert wird. Viele Betroffene leben heute in Not und Armut. Sie sollen jetzt Unterstützung bekommen, angesetzt am heutigen Leid. Es ist gut, Menschen dafür zu gewinnen und sie zu überzeugen. Wir hatten nämlich keine Rechtsgrundlage, sondern mussten mit gutem Willen alle an den Runden Tisch bitten. An diesem Runden Tisch mussten wir erst manche Hürden überwinden, die von außen kamen, um dann gemeinsam sagen zu können: Wir wollen diesen Menschen konkrete Hilfe geben, über Beratungsstellen, also über das Angebot von Beratung, und finanziell. Wir hatten von Anfang an die Kinder aus den Heimen im Osten nicht mit einbezogen, und zwar deshalb, weil der Petitionsausschuss kein Selbstbefassungsrecht hat. Wir durften sie nicht mit aufnehmen. Wir haben aber immer mit an sie gedacht. Mit Blick auf sie haben wir immer überlegt, was wir für sie tun können. Wir können nicht zweierlei Recht schaffen. Wir können weder nur für Heimkinder im Westen noch nur für Heimkinder im Osten oder nur für Kinder in der Psychiatrie oder nur für Kinder in Behinderteneinrichtungen Recht schaffen. Wir brauchen ein Recht für alle Menschen, die in Deutschland als Kinder und Jugendliche Menschenrechtsverletzungen erlitten haben. Deshalb bringen wir heute gemeinsam einen Antrag ein. Ich danke Ihnen allen für Ihre Bereitschaft dazu und für die konstruktive Zusammenarbeit. Es wird noch manches zur Überwindung notwendig sein. Die Jugend- und Familienministerkonferenz - und damit der Bundesrat - hat bereits für sich entschieden, für die Westeinrichtungen die Dinge auf den Weg zu bringen. Für die Heimkinder im Osten wurde jetzt aus Sachsen ein Antrag eingebracht. Ich hoffe, dass wir das Ganze schnell auf den Weg bringen können und eine gemeinsame Lösung hinbekommen. Es darf nicht passieren, dass sie im Parteigeharke untergeht. Das wäre fatal, weil wir den betroffenen Menschen damit nicht helfen. Zwar können wir ihnen die Last nicht abnehmen; aber wir können ihnen zumindest sagen: Wir unterstützen euch, damit ihr aus dem Elend herauskommt, in das ihr, was wir als Gesellschaft zugelassen haben, hineingestoßen wurdet. Die Betroffenen sollen wieder aufrecht gehen können, das erste Mal durchatmen und ihren Familien und Kindern darüber berichten können. Ich hoffe, dass wir das ganz zügig schaffen, sodass wir bereits am 1. Januar 2012 die große Stelle in Angriff nehmen können und die ersten Auszahlungen vornehmen können. Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die all die Jahre ganz nah an den betroffenen Menschen gearbeitet haben, statt über Pressemitteilungen und Ähnliches Öffentlichkeit zu suchen. Das ist ein Lichtblick für den Bundestag. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Laurischk das Wort.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen“ richten wir den Blick auf die deutsche Geschichte. Im Frühjahr 2006 kamen die ersten Petitionen im Petitionsausschuss an, die sich mit dem Thema Heimerziehung in den 50er- und 60erJahren in der damaligen Bundesrepublik befassten. Ziel der Petenten war, das erzieherische Unrecht, welches ihnen als Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung zugefügt wurde, öffentlich zu machen und eine finanzielle Wiedergutmachung zu erlangen. Ich möchte mich an dieser Stelle gerade auch bei diesen Petenten für ihren Mut bedanken, dieses Thema zum Thema zu machen und nicht still zu leiden, sondern es dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich in den Bundestag. ({0}) 2008 kam der Petitionsausschuss zu dem Ergebnis - der Kollege Jens Ackermann, der damals Mitglied dieses Ausschusses war, hat mich gerade darauf hingewiesen -, dass das Thema nicht mit einer Beschlussfassung abschließend behandelt werden kann, sondern dass die verjährten Ansprüche eine weitere Behandlung erfordern. Es kam seinerzeit durch einen gemeinsamen Beschluss des Bundestages zur Gründung eines Runden Tisches, der sich ausführlich mit der Heimerziehung befasst hat. Das hat zwei Jahre gedauert. Anfang dieses Jahres wurde uns als Ergebnis der Bericht des Runden Tisches überreicht. Wir haben uns als Mitglieder des Familienausschusses und des Rechtsausschusses mit dem Bericht befasst, der für uns auch Leitfaden für die weitere Beratung und Beschlussfassung war. Es war für uns eine wichtige Erfahrung, fraktionsübergreifend zu arbeiten. In den Beratungen waren immer alle Fraktionen vertreten, und wir haben uns sehr sachlich und im Bewusstsein der Problematik ausgetauscht. Wir haben insbesondere erkannt, dass das erlittene Unrecht Anerkennung finden muss. Wir stellen uns diesem Unrecht und der Problematik der Menschen, die es erlitten haben, und wir bedauern es ausdrücklich. Wir sind auch der Meinung, dass eine finanzielle Entschädigung notwendig ist. Wir haben Vorschläge gemacht, wie eine solche Entschädigung auszusehen hat. Die verschiedenen Träger sind daran zu beteiligen. Wir sind im Übrigen über das Ergebnis des Runden Tisches hinausgehend zu dem Ergebnis gekommen, dass das Schicksal der Heimkinder im Osten aufgegriffen werden muss. Auch das Leid von Kindern und Jugendlichen in Heimen in der DDR ist ernst zu nehmen. Es darf keinesfalls bagatellisiert oder vergessen werden. ({1}) Dazu bedarf es aber einer weiteren Aufarbeitung und Aufklärung der Vorgänge in der DDR. Das wird eine Aufgabe sein, der wir uns im Weiteren zu stellen haben. Die Heimkinder in den 50er- und 60er-Jahren, bis in die 70er-Jahre hinein, wurden in Deutschland drangsaliert, gedemütigt, oftmals verprügelt und vernachlässigt. Die Opfer haben schweres Leid und Unrecht erlebt. Sie waren körperlicher, seelischer und auch sexueller Gewalt hilflos ausgesetzt. Dabei waren die Kinder und auch die betroffenen Familien dem unmenschlichen System zum Teil schutzlos ausgeliefert. Es gab weder eine Aufsichts- noch eine Eingriffsebene. Verantwortlich für das erlebte Leid waren sowohl staatliche Organe als auch Träger der Einrichtungen, Heimleitungen und -personal, auch Eltern, Vormünder und Pfleger. Wir sind auch zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht nur Halbwüchsige und Jugendliche waren, die betroffen waren, sondern teilweise auch - das wurde schon angeschnitten - ganz kleine Kinder und Säuglinge. Ich erinnere mich gut an die Aussage einer betroffenen Frau, die nur relativ kurz in einem solchen Säuglingsheim war, aber zu mir sagte: Ich bin damals in diesem Heim seelisch gestorben. Viele ehemalige Heimkinder haben noch heute mit den Folgen der physischen und psychischen Misshandlungen zu kämpfen. Die Betroffenen leiden unter der lebenslangen Traumatisierung mit erheblichen Konsequenzen für sich selbst und auch für ihre Umgebung. Alle Beteiligten der Arbeitsgruppe im Bundestag waren sich deshalb einig, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht durch die Übergabe des Abschlussberichts erledigt sein kann und die Arbeit des Runden Tisches nicht folgenlos bleiben darf. Die FDP-Fraktion hält es insbesondere für wichtig, im Anschluss an die Einigung des Runden Tisches auch eine Einigung im Bundestag zu erzielen. Wir begrüßen es daher, dass alle Fraktionen bis zum Schluss zusammengearbeitet haben. Die gute Zusammenarbeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg zeigt, dass sich jeder Einzelne der Notwendigkeit der Aufarbeitung des erlittenen Unrechts bewusst war. Die Auseinandersetzung mit der Situation der Heimkinder dient allerdings nicht nur der Vergangenheitsbewältigung. Ich halte es auch für wichtig, dass eine gesellschaftliche Aufarbeitung mit Blick in die Zukunft stattfindet. Die Eingriffe in die Freiheitsrechte der Kinder und Jugendlichen und die Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit müssen uns zu der Erkenntnis führen, dass nur ein funktionierender Rechtsstaat vor einer Wiederholung schützt. Nur ein funktionierender Rechtsstaat garantiert, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die Opfer der damaligen Heimerziehung haben ein Anrecht darauf, dass sich Politik und Gesellschaft mit den Geschehnissen auseinandersetzen. Die Frage der Wiedergutmachung und der Hilfestellung muss für die Betroffenen abschließend und zufriedenstellend geklärt werden. Der vorgelegte Antrag ist ein eindeutiger Auftrag an die Bundesregierung, eine umfassende Lösung bis zum Jahresende vorzulegen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich das Wort. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte ehemalige Heimkinder! Die ehemaligen Heimkinder, die Gewalt und Misshandlungen in der Heimerziehung der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben, wurden so stark diskriminiert, dass sie oft 30 Jahre benötigten, um über ihr Schicksal zu sprechen. In der Bundesrepublik waren nach der Gründung 1949 bis 1975 in 3 000 Heimen fast 800 000 Kinder und Jugendliche betroffen. Aber die Opfer sind an die Öffentlichkeit gegangen, und zwar nicht mit Hilferufen, sondern mit Forderungen. Sie haben Demonstrationen organisiert und Petitionen im Bundestag eingereicht. Sie haben es geschafft, dass heute über ihre Forderung nach einer monatlichen Entschädigung im Bundestag gesprochen wird. Es ist erstaunlich, dass alle anderen Fraktionen in ihrem gemeinsamen Antrag nichts zu den Möglichkeiten der Wiedergutmachung und dem finanziellen Teil gesagt haben. Für die entgangenen Lebenschancen und die Verletzungen der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit sind Entschädigungsforderungen der ehemaligen Heimkinder in Höhe von einer monatlichen Zahlung von 300 Euro oder - hochgerechnet auf 15 Jahre - von 54 000 Euro wohl das Mindeste, was als Versuch der Wiedergutmachung gezahlt werden sollte. ({0}) Daher haben wir als Linke uns dem Antrag der anderen Fraktionen nicht angeschlossen; ({1}) wir haben vielmehr einen eigenen Antrag eingebracht, der einen Anspruch der Opfer auf Entschädigung nach einem Gesetz für die Opfer ehemaliger Heimerziehung vorsieht. Sie, meine Damen und Herren der anderen Fraktionen, entscheiden nach Kassenlage. Sie erklären, dass die Möglichkeit einer Klage nicht besteht, weil die Ansprüche verjährt sind. Ein Opferverband hat 1 000 Betroffene gefragt, was sie möchten. Von diesen 1 000 haben nur 9 Prozent gesagt: Wir nehmen die Empfehlung des Runden Tisches an. 88 Prozent haben gesagt: Dieser Spatz in der Hand ist uns zu klein. ({2}) Jetzt komme ich zu den Empfehlungen des Runden Tisches. Mit 18 Vertretern der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche, der staatlichen Heimträger, der Vertreter der Landesjugendämter, der Bundesländer und mit nur drei betroffenen Heimkindern haben Sie getagt. Die Zustimmung zu Ihrem Vorschlag einer freiwilligen Fondsregelung anstelle eines gesetzlichen Anspruchs haben Sie von den Heimkindern mit dem Ausspruch erpresst: Sonst gibt es gar nichts. ({3}) Das allein ist schon ein Skandal. ({4}) Sie sind erneut würdelos mit den betroffenen Opfern umgegangen. ({5}) - Ich habe die entsprechenden Briefe dabei. Ich kann sie ja vorlesen. Von den sechs abstimmungsberechtigten Betroffenen, die an der letzten Sitzung teilgenommen haben, zogen fünf ihre Zustimmung zurück. ({6}) Das heißt, Sie beschließen an den Opfern vorbei.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dittrich, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Rupprecht?

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie, meine Damen und Herren, wollen hiermit Unrecht relativieren. Sie schreiben auf Seite 2 Ihres Antrags, dass es auch fürsorgliche Heime gab.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dittrich, noch einmal: Gestatten Sie eine Frage der Kollegin Rupprecht?

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte keine Frage stellen, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Natürlich können Sie auch eine Feststellung treffen.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn Sie keine Frage stellen, dann können wir später darüber sprechen.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Kollegin Dittrich behauptet, dass die ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch - sechs waren es - unter Druck gesetzt und erpresst wurden. Ich war für den Petitionsausschuss Mitglied des Runden Tisches. Ich möchte hier feststellen, dass ich es nie zugelassen hätte, dass irgendjemand erpresst oder unter Druck gesetzt wird. ({0}) Meine Aufgabe am Runden Tisch war, darauf zu achten, dass die Vorgaben des Petitionsausschusses umgesetzt werden. Egal wer was im Nachhinein behauptet: Es stimmt so nicht. ({1})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dann muss ich mich wohl auf das Brieflein vom Landessprecher der ehemaligen Heimkinder Niedersachsens beziehen, in dem auch Sie angesprochen werden, Frau Marlene Rupprecht. Er beschreibt eindeutig, dass die Zustimmung erpresst wurde. Diese Aussage liegt hier schriftlich vor. Das Ganze ging auch an die SPD und an Sie. ({0}) Es gibt auch noch andere, die geschrieben haben. ({1}) Von den sechs, die berechtigt waren, an der Abschlussabstimmung teilzunehmen, haben bereits fünf ihre Zustimmung wieder zurückgezogen. Das bedeutet: Sie beschließen an den Opfern vorbei. ({2}) In einem echten Täter-Opfer-Ausgleich wird zunächst die Schuld anerkannt. Man geht auf die Opfer zu und bietet eine Wiedergutmachung, meist finanzieller Art, an. ({3}) Diese Opfer mussten sich aber durchkämpfen. Sie schreiben, dass es fürsorgliche Heime gab. Heime mit Schutz, Geborgenheit und Schulausbildung ohne Arbeitszwang? Nennen Sie diese Heime jetzt. Wo sind die Generationen von Heimkindern, die diese Heime erlebt haben? ({4}) Welche Bedingungen gab es dort, die es woanders nicht gab? Sie selbst zählen auf den Seiten 3 und 4 Ihres Antrags alle Verantwortlichen für die Heimerziehung auf: die Vormünder, die Pfleger, die Jugendämter, die Landesjugendämter, die Heimträger, die Gerichte und weitere. Wer fehlte eigentlich? Die gesamte staatliche Gewalt war beteiligt. Kinder und Jugendliche waren - dem stimmen auch Sie zu - rechtlich ausgeliefert; sie befanden sich in einer Situation der Ohnmacht. Sie behaupten, den Opfern werde geglaubt; aber die Entschädigung weisen Sie zurück.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Dittrich, kommen Sie bitte zum Schluss und beachten Sie das Signal.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dennoch weinen Sie hier fast Krokodilstränen und wollen nicht entschädigen. Wir fordern dagegen eine gesetzliche Entschädigung. Der von Ihnen vorgeschlagene Fonds mit 120 Millionen Euro bedeutet, dass für Rehabilitationen, die eigentlich Krankenkassenleistungen sind, der Krankenkasse 100 Millionen Euro zur Verfügung stehen und dass nur die restlichen 20 Millionen Euro direkt ausgezahlt würden. Für nur 30 000 Antragsteller bedeutete das eine Einmalzahlung von 666 Euro. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dittrich, ich bitte Sie jetzt wirklich, zum Schluss zu kommen.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit der Umsetzung Ihres Vorschlags kämen die Kirchen, der Staat und die Betriebe, die wir ebenfalls heranziehen wollen, sehr billig davon. Schaffen Sie als Gesetzgeber Recht! Schaffen Sie ein Entschädigungsgesetz! ({0}) - Peinlich bei Ihnen. ({1}) - Sie lügen sogar hier im Parlament. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dörner das Wort.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Dittrich, ich finde es sehr traurig und auch sehr unangemessen, wie durch Ihren Redebeitrag die sehr gute und immens wichtige Arbeit des Runden Tisches Heimkinder hier diffamiert wird. ({0}) Das hätte bei solch einem interfraktionellen Antrag und einer so großen Einigkeit hier im Parlament wirklich nicht sein dürfen. Ich möchte mit einigen Sätzen eines ehemaligen Heimkindes beginnen, die so in dem Materialband des Runden Tisches Heimkinder dokumentiert sind: Wärme, Zuneigung und Geborgenheit gab es nicht. Dafür gab es aber Demütigungen, Schläge und Erniedrigungen im Überfluss. Als ich einmal nachts ins Bett nässte, musste ich am nächsten Morgen vor der versammelten Gruppe den gestreiften ‚Bettnässer-Schlafanzug‘ anziehen. … Alle Kinder sollten einen ihrer Schuhe/Hausschuhe ausziehen, mir damit auf den Po schlagen und mich dabei laut als Bettnässer beschimpfen. Diese Sätze sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt dessen, was der Runde Tisch Heimkinder in den letzten Jahren aufgearbeitet und dokumentiert hat. Aber ich denke, er gibt uns einen kleinen Einblick in die damalige Lebensrealität in vielen Heimen und lässt uns vielleicht auch die Gefühlswelt der Kinder und Jugendlichen, die dem ausgesetzt waren, ein bisschen verstehen. Klar ist: Nichts, was der Deutsche Bundestag beschließt, kann dem Unrecht und dem Leid, das viele Kinder in Heimen erfahren haben, irgendwie gerecht werden. Viele Leben wurden in ganz jungen Jahren auf sehr schwierige Gleise gesetzt, oft - wir wissen das aus den Gesprächen mit den Heimkindern - mit schwerwiegenden Folgen bis heute. Das kann nicht wiedergutgemacht werden. Was aber geschehen kann, ist, die heutige Lebenssituation der ehemaligen Heimkinder zu verbessern. Das ist es, was wir tun wollen. Hier kann die Arbeit des Runden Tisches Heimkinder aus meiner Sicht gar nicht oft genug hervorgehoben werden, der hierzu sehr konkrete Empfehlungen unterbreitet hat. Ich möchte an dieser Stelle der Vorsitzenden des Rundes Tisches, Frau Dr. Antje Vollmer, und gerade den involvierten Heimkindern im Namen aller Fraktionen, die den interfraktionellen Antrag eingebracht haben, ausdrücklich danken. ({1}) Als Deutscher Bundestag wollen wir die Empfehlungen des Runden Tisches Heimkinder sehr schnell umsetzen. Schon zum kommenden Jahr soll ein Fonds bzw. eine Stiftung arbeitsfähig sein, die, konkret mit 120 Millionen Euro ausgestattet, Rentenansprüche ausgleicht und Entschädigungen an die ehemaligen westdeutschen Heimkinder zahlt. Es ist mir wichtig, an dieser Stelle noch einmal auf die Anlauf- und Beratungsstellen hinzuweisen, die nun von den Ländern eingerichtet werden; denn die materielle Frage ist ja immer nur eine Frage. Sie ist zwar eine sehr wichtige Frage; aber mit ihrer Lotsenfunktion nehmen diese Anlaufstellen eine sehr wichtige Aufgabe wahr. Mit der Würdigung der Leistungen des Runden Tisches wird aber auch deutlich, wie viele Schicksale tatsächlich noch aufzuarbeiten sind. Für die Aufarbeitung des Unrechts gegenüber den Heimkindern in der DDR ist ein Anfang gemacht. Uns allen ist auch klar, dass es keine Opfer erster und zweiter Klasse geben darf. ({2}) Nicht unterschieden werden darf zwischen Ost und West, aber auch nicht entlang der Frage, in welcher Einrichtung den Kindern und Jugendlichen Unrecht angetan wurde, ob in einem Säuglingsheim, ob im Fürsorgeheim oder in Einrichtungen der Kinderpsychiatrie oder der Behindertenhilfe. Ich bin sehr froh, dass wir in unserem Antrag auch einen Prüfauftrag verankern konnten. Ich möchte abschließend einen kurzen Blick in die Zukunft werfen. Viel Unrecht war in den Heimen ja auch deshalb möglich, weil es Strukturen gab, die kein Korrektiv hatten, und weil Kinder und Jugendliche selber nicht beteiligt waren und sich nicht selber einbringen konnten. Hier hat sich in den letzten Jahren zum Glück sehr viel getan. Aber ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam auch in die Zukunft blicken und schauen, wie man den Rechten von Kindern und Jugendlichen auch in der Kinder- und Jugendhilfe selbst stärkeres Gewicht verleihen kann. Beispielsweise den Bereich der Ombudschaft, der auch in den Empfehlungen des Runden Tisches vorkommt, halte ich für sehr zukunftsweisend. ({3}) In den Gesprächen mit den Heimkindern und auch im Bericht des Runden Tisches wird ja deutlich, dass es den ehemaligen Heimkindern gerade auch darum geht, dass es den Kindern und Jugendlichen, die heute in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind, gut geht. Das hat mich immer sehr berührt, wenn dieser Aspekt in den Gesprächen genannt wurde. Ich finde, dass wir uns bemühen sollten, dieses Signal aufzugreifen und dieses Ziel in unsere zukünftige Arbeit im Bereich der Kinderund Jugendhilfe mitaufzunehmen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Winkelmeier-Becker. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute mehrfach auch Einzelheiten darüber gehört, was Heimkindern widerfahren ist. Diese Geschichten machen uns immer sehr betroffen. Viele Menschen haben darunter viele Jahrzehnte gelitten, nicht nur in den Zeiten, die sie in Heimen verbracht haben, sondern das hat vielfach ihr ganzes Leben geprägt. Sie konnten lange Zeit nicht darüber sprechen, weil es zu schwer war, weil es geradezu unaussprechlich war, aber auch, weil es keiner hören und glauben wollte. Diese Lebensgeschichten müssen jetzt erzählt werden, sie müssen jetzt gehört werden. Dazu haben der Petitionsausschuss und dann der „Runde Tisch Heimerziehung“ das Forum gegeben. Es wurde daraufhin in der öffentlichen Diskussion aufgegriffen. Jetzt ist es an uns, am Parlament, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Schon die bisherige Diskussion ist nicht ohne Wirkung geblieben. Sie verändert auch unseren Blick retrospektiv auf die Zeit, in der das alles geschehen ist. Wir müssen daraus aber auch Lehren ziehen für das, was heute in der Jugendhilfe geschehen muss. Ich finde es toll, dass die Heimkinder nicht nur ihre eigene Situation in den Mittelpunkt stellen, sondern auch dafür eintreten, dass sich das, was sie erfahren haben, oder Ähnliches nie wieder ereignet. ({0}) Ich weiß natürlich, dass Heimerziehung heute ganz anders läuft als damals, dass das nicht vergleichbar ist. Es kommt aber in Einzelfällen immer noch vor, dass Kinder wehrlos bzw. ausgeliefert sind. Wir müssen alle dafür sensibilisieren, dass sie schutzbedürftig sind und nicht verletzt werden dürfen. Der jetzt vorliegende fraktionsübergreifende Antrag knüpft an die Ergebnisse des „Runden Tisches Heimerziehung“ an. Als ich zum ersten Mal gelesen habe, was der Bericht empfiehlt, habe ich mir gedacht, dass das wirklich nicht üppig ist. Der Umfang der finanziellen Leistungen in Höhe von 120 Millionen Euro ist sehr überschaubar. Auch die Tatbestände, bei deren Vorliegen Hilfe geleistet werden soll, sind nicht sehr weit gefasst. Im Wesentlichen beschränkt man sich auf den Ersatz für verpasste Rentenanwartschaften - für den entsprechenElisabeth Winkelmeier-Becker den Rentenersatzfonds sind 20 Millionen Euro vorgesehen - sowie auf die Bewältigung gesundheitlicher oder traumatischer Folgen, die nicht über die Krankenversicherung abgedeckt sind, und auf Hilfen bei der Aufklärung, was ja auch sehr wichtig ist. Dafür sollen 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Ehe wir das bewerten, sollten wir die Ausgangslage berücksichtigen. Da gibt es zum einen schlichtweg den Befund, dass hier Sachverhalte zur Bewertung anstehen, die nur sehr schwer aufgeklärt werden können. Dann muss man sicherlich auch sehen, dass Heimerziehung nicht per se und grundsätzlich immer nur als schädlich angesehen werden darf. Wir haben ja zum Glück auch Aussagen von Heimkindern gehört, in denen sie von liebevoller Erziehung und Zuwendung berichtet haben oder Problemlagen aufgezeigt haben, bei denen die Heimerziehung die bessere Alternative darstellte. Vor allem ist es aber so, dass alle Schadensersatzansprüche verjährt sind. Man kann die Haftung zulasten der Täter oder Träger auch nicht wiederbeleben. Deshalb gibt es an dieser Stelle keine zwingende Grundlage und auch keinen Anlass für den Bund, hier komplett für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen und umfänglichen Schadensersatz zu leisten. Vor diesem Hintergrund ist das, was nun herausgekommen ist, kein schlechtes Ergebnis. Man muss auch sehen, dass Länder und Kirchen, in deren Verantwortungsbereich die Missstände bestanden haben, gemeinsam mit dem Bund diese Lösung gefunden haben und der Bund in diesem Rahmen auch seinen Beitrag leistet. Ich möchte mich auch dafür einsetzen, dass die Ausgaben des Bundes dafür nicht komplett im Einzelplan 17 untergebracht werden; denn das würde bedeuten, dass die Aufarbeitung des damaligen Leides auf Kosten der Kinder und Jugendlichen von heute erfolgt. Das wäre so ziemlich das Letzte, was im Sinne der Heimkinder von damals wäre. ({1}) Der Antrag bezieht auch die Heimkinder in der DDR mit ein, obwohl diese nicht Gegenstand des Runden Tisches waren. Aber die Diskussion am Runden Tisch hat auch das Bewusstsein für das Unrecht, das den Heimkindern in der DDR widerfahren ist, geschärft. Auch sie haben Petitionen eingereicht. Ein bisschen schade ist, dass wir die Aufarbeitung nicht parallel betrieben haben. Es gibt aber bereits Vorarbeiten, zum Beispiel der Initiative Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Ich habe gehört, dass sich unter den Besuchergruppen eine Abordnung der Initiative des Jugendwerkhofs Torgau befindet. Wenn das stimmt, dann seien Sie herzlich gegrüßt. ({2}) Bei der weiteren Aufarbeitung werden wir sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den Situationen im Osten und im Westen feststellen. Eine Gemeinsamkeit ist eine aus heutiger Sicht teilweise moralisch verstaubte und autoritäre Pädagogik, die allzu schnell von Verwahrlosung ausging, die alleinerziehenden Müttern die Erziehungsfähigkeit generell absprach und die auch ein anderes Verhältnis zu Strafen hatte. Auf beiden Seiten werden wir Strafmethoden finden, die auch über das damalige Maß hinausgingen. Es war aber eine Spezialität der DDR, den Hilfebedarf selbst herbeizuführen. Zum Beispiel wenn die Entscheidung einer Familie, das Land zu verlassen und anderswo zu leben, oder wenn allein Kritik am politischen System so kriminalisiert wurde, dass die Eltern in die Haft gesteckt wurden und die Kinder ins Heim mussten, dann ist das eine Besonderheit dieses Staates. Es ist eine Spezialität der DDR, dass der Staat mithilfe der Heime sein Menschen- und Gesellschaftsbild durchsetzen und den Familien aufoktroyieren wollte. Deshalb ist das Unrecht an dieser Stelle nicht vergleichbar. ({3}) Der Aspekt der politischen Verfolgung ist im Wesentlichen bereits durch die Rehabilitationsgesetze aufgegriffen. In dem vorliegenden Antrag geht es mehr um den Aspekt, dass pädagogische Gründe dazu geführt haben, Kinder in Heime zu stecken. Das von den Opfern empfundene Leid ist gleich. Deshalb ist das der entscheidende Blickwinkel des Staates und unser Grund dafür, bei dem Engagement für die Opfer auf beiden Seiten den gleichen Maßstab anzulegen. Deshalb soll sich der Bund mit einem Drittel an den Kosten für die entsprechenden Maßnahmen zugunsten der Opfer in der DDR beteiligen. ({4}) Dass das nicht auf Kosten der Heimkinder im Westen geschehen darf, ist klar. Neben dem Drittel, das der Bund zahlen wird, werden auch die neuen Länder in die Pflicht genommen werden müssen. Des Weiteren ist über den Vorschlag nachzudenken, ob hier ein Rückgriff auf noch vorhandenes Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR möglich ist. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6143 und 17/6093 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren Vizepräsidentin Petra Pau Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes - Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten - Drucksache 17/5933 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Tom Koenigs, Marieluise Beck ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption - Drucksache 17/5932 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein international tätiges Hochbauunternehmen zwischen Deutschland und Dänemark ein Bauwerk errichten will und der Vorstand dieses Unternehmens vor diesem Hintergrund beschließt, dass sich ein Mitglied des Vorstands mit dänischen Abgeordneten trifft und ein anderes Mitglied mit deutschen, und dann beide Vorstände den Abgeordneten bei dieser Zusammenkunft erklären: „Wenn ihr euch für unser Bauanliegen zwischen Deutschland und Dänemark starkmacht und euch dafür in den Parlamenten einsetzt, dann werdet ihr von uns 100 000 Euro bekommen, oder die Ausbildung eurer Kinder im Ausland wird finanziert“, und die dänischen Abgeordneten darauf eingehen, dann ist das in Deutschland seit September 1998 eine Straftat. Aber wenn die deutschen Abgeordneten auf dasselbe Angebot eingehen, dann ist das in Deutschland bis zum heutigen Tag keine Straftat. Diesen gesetzgeberischen Irrsinn haben wir der letzten schwarz-gelben Koalition zu verdanken, die im September 1998 genau diese Rechtslage herbeigeführt hat. Seit dieser Zeit geraten wir international immer mehr in eine völlig vertrackte Situation, weil Sie - Schwarz und Gelb - sich weigern, diesen Rechtszustand zu beenden. ({0}) 1999 hat der Europarat gefordert, dass Abgeordnetenbestechung für strafbar erklärt wird. ({1}) Und die Bundesregierung hat dieses Abkommen unterschrieben. ({2}) Bis zum heutigen Tag haben 43 Staaten Europas dieses Abkommen ratifiziert. Wir gehören zu denjenigen, die die rote Laterne tragen und die es bisher immer noch nicht geschafft haben, zu ratifizieren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne, deswegen ist er ja gekommen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Montag, vielleicht sollten Sie eher sagen: eine rot-grüne Laterne. Denn ich frage Sie, ob Sie die Gründe nennen können, weshalb die Koalition von Rot und Grün, warum Ihre damalige Regierung dieses Gesetz, nachdem das 1998 von Schwarz und Gelb so eingeführt worden ist, nicht geändert oder ergänzt hat.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann Ihnen die Antwort darauf sehr gerne geben, betreffend die Zeit ab dem Jahr 2002, seit ich diesem Hohen Hause angehöre. Wir haben ab Oktober 2002 den Versuch unternommen, ein solches Gesetz zustande zu bringen. ({0}) Nachdem das Bundesjustizministerium einen Vorschlag gemacht hat, der von allen Fraktionen abgelehnt worden ist, haben wir uns darauf geeinigt, dass ein entsprechender Gesetzentwurf aus der Mitte des Deutschen Bundestages entwickelt wird. Daran mitzuarbeiten, haben sich Schwarz und Gelb verweigert. ({1}) Und als wir - Rot-Grün - so gut wie fertig damit waren, ist es leider zum Ende der Legislaturperiode gekommen. ({2}) - Sie können gerne lachen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ich weiß nicht, was daran eigentlich so lustig ist. Seit 2005 sind Sie am Ruder, und Sie kämpfen nicht einmal um eine Lösung. ({3}) Sie bemühen sich ja überhaupt nicht darum. ({4}) Sie diskutieren mit uns nicht über diese Frage, sondern Sie erklären uns - wie im April dieses Jahres in einer Bundestagsdebatte durch den Kollegen van Essen geschehen -: Für alle Bürger dieses Landes sei es schrecklich, wenn sie eine Straftat begehen und dafür bestraft würden. Nur für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gebe es eine schlimmere Strafe, nämlich nicht bestraft zu werden. - Das war Ihre Argumentation, Herr van Essen. ({5}) Sie können das im Protokoll nachlesen. Der Kollege Kauder hat im April in dieser Diskussion gesagt: Sie sagen: Alle - er meint die 152 Staaten, die die Völkerrechtsvereinbarung zur Bekämpfung der Korruption unterschrieben haben machen es. - Wenn alle ins Meer springen, springen wir dann hinterher? Das war seine Argumentation, auch nachzulesen im Protokoll. So beschäftigen Sie sich mit dieser Angelegenheit. ({6}) Meine Damen und Herren, wir haben jetzt wieder einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zeigt, wie man dieses Thema auf eine vernünftige, rationale, klare und rechtsstaatliche Weise behandeln kann. Wir haben jetzt auch ein Ratifizierungsgesetz vorgelegt; wir sind neugierig, wie Sie sich dazu verhalten werden. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU und FDP, die uns hier im April gesagt haben, dass sie sich nicht an der Arbeit an einem solchen Gesetz beteiligen, ich will zum Schluss sagen: Der Präsident des Deutschen Bundestags, Kollege Dr. Lammert, hat mich, weil er nicht hier sein kann, heute Vormittag ausdrücklich gebeten, in seinem Namen zu erklären, dass er ein solches Gesetz für den Parlamentarismus für dringend notwendig hält und deswegen das Haus bittet, sich damit zu beschäftigen. ({7}) Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen, meine Damen und Herren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Heveling. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema ist ganz offenkundig entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. ({0}) Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Weil hier zweifellos ein Zusammenhang mit dem Immunitätsrecht besteht, könnte die Betrachtung dieses Zusammenhangs ein Bestandteil der gemeinsamen Bemühungen in diesem Themenumfeld sein. So sprach vor acht Wochen der Präsident des Deutschen Bundestages, Kollege Norbert Lammert, zum Schluss der Debatte zum Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zum Thema Abgeordnetenbestechung. ({1}) Herr Kollege Ströbele ist ob dieser Äußerungen in verzücktes Jubilieren geraten, ({2}) und das Protokoll der Sitzung vermerkt Zwischenrufe der SPD und eine darauf bezogene Dankesbekundung des Präsidenten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Worte indessen kein bisschen ernst genommen. ({3}) Im Gegenteil: Sie haben sich keinen Deut um das geschert, was der Bundestagspräsident gesagt hat. ({4}) Anders ist das, was wir heute von Ihnen geboten bekommen haben, jedenfalls nicht zu erklären. Denn heute bekommen wir, wie schon vor acht Wochen von der Fraktion Die Linke, einfach nur den Aufguss eines Antrags aus der letzten Wahlperiode als Wiedergänger präsentiert: ({5}) Sie haben 2008 exakt den gleichen Gesetzentwurf schon einmal eingebracht. Offenkundiger lässt sich wohl kaum deutlich machen, dass man gar nicht so viel Interesse an einer zielführenden und ernsthaften Debatte hat. ({6}) - Lieber Herr Kollege Montag, ich werde gleich darauf eingehen. Dazu gibt es nämlich einiges Interessante zu sagen, auch in Bezug auf das, was der Herr Bundestagspräsident gesagt hat. ({7}) Offensichtlich geht es darum, hier den Oberlehrer zu spielen und sich wieder einmal nicht die Gelegenheit entgehen zu lassen, den Finger in eine vermeintliche Wunde zu legen. Dann werden scharfe und große Worte gewählt: Vor acht Wochen war von „peinlich“ und „oberpeinlich“ die Rede. ({8}) Als das Thema 2008 schon einmal diskutiert wurde, war von einem „Makel“ die Rede. Heute ist es auch nicht anders. Auch die Kritik am Gesetzentwurf ist die gleiche wie 2008. Insofern machen Sie vom Bündnis 90/Die Grünen es einem wirklich nicht leicht. ({9}) Ich habe bei der Vorbereitung der heutigen Rede lange überlegt, wie ich heute mit dem Gesetzentwurf umgehen soll. In Zeiten von VroniPlag und Co hielt ich es nicht für angemessen, die Beiträge der Kollegen aus der letzten Wahlperiode einfach zu plagiieren. ({10}) Auch wollte ich meine vor acht Wochen gehaltene Rede nicht noch einmal halten. Andererseits gibt es einfach keine neuen Argumente. ({11}) Da Sie damals offensichtlich nicht bereit waren, sich mit den sachlichen Argumenten auseinanderzusetzen, geschweige denn heute dazu bereit sind - Sie haben am Entwurf kein Jota verändert -, ist es vielleicht doch angebracht, die Argumente von damals noch einmal aufzurufen. Lassen Sie mich das ganz korrekt mit der Methode des Zitierens machen. Herr Kollege Kauder hat in der Debatte am 25. September 2008 zu Recht auf das größte Problem Ihres Gesetzentwurfs hingewiesen, auf die Übertragung der Verwerflichkeitsklausel. Ich darf zitieren: Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung ausgeführt hat. Wenn der Gesetzgeber einen Straftatbestand mit normativen Elementen - also mit wertausfüllenden Elementen - schmückt, sagt er eigentlich nichts. Das ist das Problem und die Krux des Gesetzentwurfs … Dieser Gesetzentwurf lässt mehr Fragen offen, als er klärt. … Regina Michalke hat sich in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflichkeitsklausel befasst. … Nimmt ein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deutschen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel- und Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln verwerflich sind. ({12}) Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in der Rechtssprache wird er durch einen anderen, genauso unverständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durch ein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung definiert. … Es stimmt, was Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn ein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dann sagt er letztendlich gar nichts. ({13}) Nun werden Sie einwenden, dass das bei § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nötigungsstraftatbestand, auch möglich ist. ({14}) Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008: Der § 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders strukturiert als der Straftatbestand des § 108 e des Strafgesetzbuches, sprich Abgeordnetenbestechung. In § 240 Abs. 2 - dem Nötigungsstraftatbestand sind die Nötigungsmittel genau definiert. Das können Sie hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung nicht eins zu eins übernehmen. Zitat Ende. Dieses Argument war 2008 genauso richtig, wie es heute richtig ist. Man kann an den Formulierungen, die Sie damals wie heute zur Gesetzesbegründung bemüht haben, ablesen, wie bewusst Sie sich dieses Problems sind. ({15}) Diese Unbestimmtheit und das Ungeklärte des Tatbestandes führen zu einem zweiten bedeutenden Problemkreis, der sich von 2008 bis heute ebenfalls nicht verändert hat. Hierauf hat der damalige Kollege Stünker von der SPD-Fraktion am 25. September 2008 richtigerweise hingewiesen - ich darf auch ihn zitieren -: ({16}) Wo liegt das Problem? Das Problem liegt - das ist hier schon häufig angesprochen worden - im Tatbestandsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbegriff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu schwammig gefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden im Ergebnis in die Hände der dritten Gewalt, in die Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat aus Art. 38 des Grundgesetzes sicherlich nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundgesetzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter sein. Er muss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darf parteilich sein. Das alles ist richtig. … Wir sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Tatbestand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung für eine Strafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung der Volksvertretung notwendig ist, ob wir also das Strafrecht mit dem Recht der Immunität verbinden müssen. Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: Bereits eine entsprechende Überschrift in der BildZeitung, dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsverfahren geraten ist - das kann ja völlig im Sande verlaufen -, führt zum politischen Tod. Das muss man mit bedenken.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Heveling, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde das jetzt gerne weiter ausführen. ({0}) Sieh mal einer an, selbst das, was der Bundestagspräsident vor acht Wochen gesagt hat, ist schon in der Debatte 2008 angeführt worden. Kein Erkenntnisgewinn bei den Grünen von 2008 bis heute. Stur wird wieder eingebracht, was schon 2008 Murks gewesen ist. ({1}) In der damaligen Debatte, im September 2008, ist vom damaligen Kollegen Stünker auch das Thema angesprochen worden, bei dem sich Kollege Montag eben auf die Frage des Kollegen Geis hin ein bisschen gewunden hat. Auch das möchte ich gerne zitieren. Da ging es um die Frage, warum das von Rot-Grün nicht geändert worden ist. Der damalige Kollege Stünker hat laut Protokoll dazu in Richtung des Kollegen Ströbele ausgeführt: Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke schon lange schließen können. Sie und ich, wir beide wissen das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in einer Kommission … eine Regelung erarbeitet. … - Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. - Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, die wir damals erarbeitet hatten - … - Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durften sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen blockiert haben. Man höre und staune. … Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging. … Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals gegenseitig blockiert. So weit das Zitat des Herrn Kollegen Stünker. ({2}) So sehr Sie uns den Mangel an Bereitschaft vorwerfen, das Thema überhaupt anzugehen, so sehr muss man Ihnen den Vorwurf machen, dass es Ihnen an der Bereitschaft mangelt, überzeugende Lösungen auf den Tisch des Hauses zu legen. Dadurch entlarvt sich der Gesetzentwurf als das, was er ist: als reine Show. ({3}) Ich selbst habe vor acht Wochen zum Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke ausgeführt: Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben sollte …, dann ist es mit einem gesetzgeberischen Schnellschuss, bei dem im Übrigen auch fraglich ist, ob er überhaupt den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots Genüge tut, sicherlich nicht getan. ({4}) Das ist der Sache … nicht angemessen, und der Schaden wäre hinterher weitaus größer als der Nutzen. Das aber gilt auch für Ihren Gesetzentwurf aus dem Jahr 2008. Er offenbart keinen tauglichen Lösungsansatz. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie wirklich sorgfältig und ernsthaft - jedenfalls 2008 - nach einer tragfähigen Lösung gesucht haben. Dann hätten Sie aber schon damals aufgrund der gewichtigen Kritikpunkte einsehen müssen: Das Thema ist ganz offenkundig entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. ({5}) Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Mit Ihrem Gesetzentwurf wird eine Lösung aber nicht gelingen. Wir lehnen ihn ab. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dr. Högl hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen alle, dass jedes Thema eine Geschichte hat und dass es gut ist, diese zu kennen. Man braucht sie für den Hintergrund. Ich darf aber an uns alle appellieren: Wir haben heute einen Vorschlag vorliegen und führen eine weitere Debatte, nachdem es bereits eine am 8. April gegeben hat. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam über die Zukunft diskutieren und darüber, dass es im Deutschen Bundestag Handlungsbedarf gibt. ({0}) Im Gegensatz zu meinem Vorredner, Herrn Heveling, habe ich unserem Bundestagspräsidenten Lammert am 8. April sehr gut zugehört. Wer nicht zugehört hat, kann es noch einmal nachlesen. Unser Bundestagspräsident hat am Ende der Debatte davon gesprochen, dass wir in dieser Frage einen erheblichen Handlungsbedarf haben und dass es trotz offensichtlicher Unterschiede in der Bewertung der Detailregelungen - darüber können und werden wir im weiteren Verlauf gerne streiten - erkennbare Übereinstimmungen gibt. Der Bundestagspräsident hat an uns appelliert, dieses Thema gemeinsam anzugehen. Diesen Appell möchte auch ich gerne - Herr Kollege Montag hat es bereits getan - aufgreifen. Diese Bemerkung unseres Bundestagspräsidenten fand ich sehr hilfreich. Wir sollten sie sehr ernst nehmen; denn so etwas macht ein Bundestagspräsident am Ende einer Debatte nicht jeden Tag. ({1}) Wir als SPD-Fraktion sind Bündnis 90/Die Grünen für die Vorlage der beiden Gesetzentwürfe dankbar. Am 8. April haben wir bereits über eine Vorlage von der Fraktion Die Linke diskutiert. Selbstverständlich werden wir auch mit eigenen Vorschlägen in die Debatte einsteigen. Wir waren in der Vergangenheit auch initiativ; deswegen kündige ich an, dass wir uns engagiert an der weiteren Beratung der vorliegenden Papiere sowie mit eigenen Vorschlägen beteiligen werden. Ich möchte voranschicken - das ist mir wichtig -, dass Deutschland kein Land ist, in dem Korruption herrscht. Wir sollten bei dieser Debatte auch nicht davon ausgehen, dass wir es mit Verwerfungen zu tun haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Högl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sicher. Bitte sehr. Jetzt dürfen Sie eine Zwischenfrage stellen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Kollegin. Ich frage Sie natürlich etwas ganz anderes als das, was ich den Kollegen von der CDU gefragt hätte; ({0}) er hat meinen Namen hier wieder ins Spiel gebracht. Seinerzeit hat die Justizministerin Frau Zypries ({1}) von den Sozialdemokraten - ich sage das lobend - den Mut aufgebracht, die UNO-Konvention für die Bundesrepublik Deutschland zu unterschreiben. Sie wurde von der Regierung damals unterschrieben, aber leider hat der Deutsche Bundestag es bis heute nicht geschafft, diese Urkunde zu ratifizieren. Deshalb fordern wir dies. Meine Frage an Sie lautet: Wir hatten in der Tat viele Wochen und Monate lang sehr intensive Verhandlungen über sehr viele unterschiedliche Vorschläge geführt und hatten, wie das in einer Koalition ist, auch unterschiedliche Auffassungen. Der Kollege Stünker hat damals einen Vorschlag vorgelegt, dem ich sehr viel abgewinnen konnte.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir auch.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Seitdem sind ja viele Jahre vergangen, und ich frage mich: Warum ist die sozialdemokratische Fraktion nicht in der Lage, diesen fertigen Entwurf des Kollegen Stünker als Antrag oder Gesetzentwurf hier in die Debatte einzubringen? ({0}) Dann wären wir schon sehr viel weiter. Dann hätten wir uns, zumindest die SPD und Bündnis 90/Die Grünen, vielleicht schon darauf verständigen können. Dann hätte auch die CDU/CSU noch die Möglichkeit - anders als Kollege van Essen, der das vollständig ablehnt -, sich einzubringen und mitzumachen. Es ist doch wirklich ein Unding - Kollege Montag hat das zu Beginn seiner Rede gesagt -, dass wir Abgeordnete anderer Länder unter Strafe stellen für einen Tatbestand, der in Deutschland für deutsche Abgeordnete nicht strafbar ist. Geben Sie mir recht, dass das ein unhaltbarer Zustand ist und dass Sie sich möglichst schnell an die Arbeit machen sollten, den Vorschlag des Kollegen Stünker in den Deutschen Bundestag einzubringen?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Ströbele, ganz herzlichen Dank für Ihre Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung. Ich darf Sie beruhigen - das hatte ich eben auch schon angekündigt -: Die SPD wird die Debatte mit Vorschlägen bereichern; sie wird Vorschläge vorlegen. Wir werden sicherlich auch an die umfangreichen Vorarbeiten anknüpfen. Sie wissen auch, dass es die SPD war, die sehr initiativ und drängend war und nach der Unterzeichnung der UN-Konvention sehr schnell Vorschläge vorgelegt hat. Uns ist, wie Sie wissen, 2005 die Neuwahl dazwischengekommen. ({0}) Sie fragen sich, warum wir seitdem den Vorschlag des Kollegen Stünker nicht vorgelegt haben. ({1}) - Ja, das will ich Ihnen ganz genau sagen: Wir haben regiert, aber, wie Sie sich vielleicht erinnern können, in anderer Konstellation. Wir waren in einer Großen Koalition ({2}) - das dürfen Sie gerne so sagen; die Bewertung muss jeder für sich treffen -, und die Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion der CDU/CSU haben verhindert, dass wir zu einer gemeinsamen Vorlage zum Thema Abgeordnetenbestechung kamen. Deswegen werden wir jetzt einen neuen Vorschlag machen. Wir werden uns an der Debatte beteiligen. Seien Sie gespannt und gewiss, dass wir auf bestimmte Vorschläge zurückkommen werden. Ich hoffe natürlich, dass Ihnen unser Vorschlag dann auch gefallen wird. ({3}) - Ja, wir werden im Herbst etwas vorlegen. Ich möchte noch ganz kurz etwas erwähnen, das bei der grundsätzlichen Frage, wie wir mit dem Thema Abgeordnetenbestechung umgehen, sehr wichtig ist. Wir müssen eine sehr sorgfältige Trennung zwischen legitimer, sinnvoller und richtiger Interessenvertretung auf der einen Seite und Korruption, Bestechung und Bestechlichkeit auf der anderen Seite vornehmen. Es ist sehr wichtig - das haben wir bei unseren Debatten über ein verbindliches Lobbyistenregister oder die Beschäftigung von Externen in der Bundesverwaltung schon angesprochen -, die Interessenvertretung, die wir in einer Demokratie brauchen, von den Verwerfungen, von Vorteilsnahme, von Korruption, von Bestechung und Bestechlichkeit zu trennen. Deswegen appelliere ich hier an uns alle, vor allen Dingen an die Koalitionsfraktionen, von einem grundsätzlichen Nein abzurücken. Das Signal gegen Korruption, Bestechung und Bestechlichkeit muss von uns hier im Deutschen Bundestag ausgehen. ({4}) Das ist wichtig. Wir haben es mit sehr vielen Vorurteilen zu tun. Deswegen müssen wir jedem Eindruck von Korruption selbstbewusst entgegentreten und ihn zurückweisen. Ich möchte ganz kurz eine Bemerkung zur UN-Konvention machen. Es ist schon gesagt worden, dass es uns in Deutschland schadet, dass wir die Konvention nicht ratifiziert haben. Wir müssen uns mit dem Thema Abgeordnetenbestechung befassen und endlich gesetzliche Regelungen vornehmen. Ich will in diesem Zusammenhang auch etwas zum internationalen Ansehen Deutschlands sagen; das halte ich für nicht unwesentlich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Högl, gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. Bitte, Herr Kauder.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Högl, Sie haben zu Recht den Bundestagspräsidenten Lammert erwähnt. Er sprach aber nicht von einem Straftatbestand. Wir reden hier über Bestechung und Bestechlichkeit von Amtsträgern. Verstehen Sie sich als Amtsträger? Das sind wir nicht. Wir sind freie Abgeordnete. Die Österreicher haben versucht, dies über den Begriff des Amtsträgers zu regeln, ({0}) und gesagt: Der Abgeordnete ist ein Amtsträger. Das gilt aber nur, wenn er sich wie folgt verhält. - Damit haben sie den Amtsträgerbegriff wieder ausgehebelt. Sie haben also einen Klimmzug gemacht, der letztendlich nichts gebracht hat. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Darüber sollten wir nachdenken. Fangen wir mit der Diskussion noch einmal bei null an. ({1}) Reden wir nicht über Bestechung, Bestechlichkeit und Korruption, sondern über Verhaltensmaßregeln. Das ist ein ganz anderer Ansatz, den der Bundestagspräsident meinte. ({2}) Das ist vielleicht ein besserer Weg als der, Abgeordnete mit einem Amtsträger zu vergleichen.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir können den Herrn Bundestagspräsidenten bei Gelegenheit vielleicht fragen, was genau er mit seinen hinweisenden Bemerkungen gemeint hat. ({0}) Ich habe sie in dieser Richtung verstanden. ({1}) Lieber Herr Kollege Kauder, wir reden über Abgeordnetenbestechung. Da ist nicht die Rede von Amtsträgerinnen und Amtsträgern. Wir unterscheiden hier sehr sorgfältig. ({2}) Ich möchte mich selbstverständlich nicht als Amtsträgerin, sondern als Abgeordnete verstanden wissen. Natürlich gehören dazu auch - das habe ich eben betont - das freie Mandat und die Möglichkeit, Interessen aufzugreifen und zu vertreten. Deswegen müssen wir bei der Formulierung der Regelungen zur Abgeordnetenbestechung sehr sorgfältig darauf achten, wie wir sie im Konkreten ausgestalten. Wenn ich Ihre Hinweise zur konkreten Ausgestaltung so verstehen darf, dass auch Sie grundsätzlich dafür sind, Regelungen zum Thema Abgeordnetenbestechung zu treffen, dann freue ich mich natürlich sehr. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte eine Bemerkung zum internationalen Ansehen Deutschlands machen. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, wie wir in der Welt dastehen. Wir diskutieren zurzeit über den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien und über den Beitritt von Kroatien zur Europäischen Union. Welches Thema steht da ganz oben an? Das Thema Korruptionsbekämpfung. ({4}) Wir geben zur Korruptionsbekämpfung sehr wichtige und sinnvolle Hinweise, auch bei unserem Einsatz in Afghanistan. Ich finde es mehr als peinlich und sehr beschämend, dass Deutschland neben Syrien, Saudi-Arabien, Myanmar und dem Sudan eines der wenigen Länder der Welt ist, das die UN-Konvention gegen Korruption noch nicht ratifiziert hat. Das sollten wir schnellstmöglich ändern. ({5}) Ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, wie die Positionen der Koalitionsfraktionen sind. Sie haben sich dazu sehr im Detail geäußert. Vielleicht sind Sie, lieber Herr Heveling, wenn Sie sich schon mit den Detailregelungen auseinandersetzen, im Grundsatz doch dafür zu gewinnen, hier etwas zu tun. Ich möchte zitieren, was die Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, Frau Dr. Grundmann, am 30. Juni 2010 - das ist noch gar nicht so lange her - auf die Frage des Kollegen Movassat von den Linken geantwortet hat: Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass Deutschland das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption so schnell wie möglich ratifizieren kann. Hört! Hört! Außerdem führte sie aus: Den Entwurf für ein Vertragsgesetz … wird die Bundesregierung unverzüglich vorlegen … Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, sind Sie der gleichen Auffassung wie die geschätzte Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, oder sind Sie anderer Auffassung? ({6}) Mich würde sehr interessieren, was Sie dazu sagen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich der Auffassung Ihrer eigenen Staatssekretärin anschließen würden; denn hier besteht wirklich Handlungsbedarf. Wir müssen diesen peinlichen Zustand schnellstmöglich beenden. ({7}) Ich will noch einige Bemerkungen zu der konkreten Formulierung machen. Es ist in der Tat - auch Sie, Herr Heveling, haben das gesagt - kein leichtes Thema. ({8}) Wir müssen bei der Formulierung der Norm sehr sorgfältig vorgehen. ({9}) - Ich glaube, Sie bekommen gleich nach meiner Rede das Wort. Dann können Sie sich auch dazu äußern. ({10}) Wir brauchen eine klare Definition des strafbaren Verhaltens. Wir müssen die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe vermeiden. Wir dürfen die Interpretation dessen, was wir in den Straftatbestand einbeziehen, nicht Dritten überlassen; das halte ich für ganz entscheidend. Wir dürfen vor allen Dingen keinen Anlass für grundlose Verdächtigungen und für einen Generalverdacht gegenüber Politikerinnen und Politikern geben. Ich glaube, auch Sie, Herr Kauder, haben darauf angespielt, dass wir dies auf jeden Fall vermeiden müssen. Deswegen bin ich noch skeptisch, ob der Ansatz der Grünen, den Vorteil mit dem Adjektiv „rechtswidrig“ einzugrenzen und dann auf ein verwerfliches Verhalten abzustellen, richtig ist. Ich denke, dass wir eine andere, bessere Definition des Vorteils benötigen, den Vorteil anders einschränken und vor allen Dingen das Verhältnis Leistung und Gegenleistung im Rahmen der Abgeordnetentätigkeit ganz sorgfältig definieren müssen. Lassen Sie uns doch gemeinsam allen Sachverstand, der hier im Deutschen Bundestag versammelt ist, zusamDr. Eva Högl mennehmen und auf der Basis der vorliegenden Vorschläge und der noch kommenden Vorschläge - unter anderem von uns - gemeinsam eine bestmögliche Formulierung des Gesetzentwurfs erarbeiten. Das wäre doch der richtige Weg, und das wäre ein gutes Signal hier aus dem Deutschen Bundestag. ({11}) - Das hört sich gut an. Ich möchte noch eine Bemerkung zum Thema Immunitätsrecht machen. Es ist noch ein wichtiger Zusammenhang zwischen einem Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und dem Immunitätsrecht, das wir hier im Deutschen Bundestag haben, herzustellen. Deswegen ist es wichtig, sich in diesem Zusammenhang auch über die Ausgestaltung des Immunitätsrechts Gedanken zu machen. Das möchte ich gerne in einem Zusammenhang sehen. Wir müssen uns darüber unterhalten, ob wir sagen, der Vorteil, der entgegengenommen bzw. gewährt wird, ist vorher zu genehmigen - das wäre eine Variante -, oder ob wir sagen - man kann auch beide Varianten gleichzeitig diskutieren -, dass die Verfolgung der Tat der vorherigen Zustimmung durch den Deutschen Bundestag bedarf. Diese Variante favorisiere ich persönlich, aber darüber müssen wir uns im Folgenden noch unterhalten. Ich darf mich bedanken und schließe mit einem Appell insbesondere an die Koalitionsfraktionen: Überlegen Sie noch einmal, ob Ihre Staatssekretärin im Bundesjustizministerium vielleicht doch nicht ganz falsch liegt, dass es sich nämlich lohnt, die UN-Konvention zu ratifizieren und gemeinsam mit uns an einer guten Regelung zur Abgeordnetenbestechung zu arbeiten, die überfällig ist. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege van Essen für die FDPFraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, zum wievielten Male ich jetzt hier stehe und etwas zur Abgeordnetenbestechung sage. ({0}) - Ja, es ist ganz schwierig. Das ist die gleiche Problematik, die auch der Kollege Heveling schon aufgezeigt hat. Es sind eigentlich alle Argumente ausgetauscht. Was noch nicht ausgetauscht wurde - deshalb bin ich dem Kollegen Heveling ganz dankbar -, ist, dass von der linken Seite des Hauses der Eindruck erweckt wird: Da ist die böse CDU/CSU, da ist die böse FDP. ({1}) Der Kollege Montag hat mir sogar unterstellt, ich hätte es gut gefunden, dass ein Abgeordneter nicht bestraft wird. ({2}) - Herr Kollege, ich schätze Sie außerordentlich. Dass Sie zu einem solchen Argument greifen müssen, zeigt aber, wie schlecht Ihre Argumente sind. ({3}) - Er hat mich natürlich nicht zitiert, sondern er hat hier schlichten Unsinn vorgetragen. Es gehört natürlich zur Geschichte, dass die hier gelobte Bundesjustizministerin eine UN-Konvention, die heute auch auf Vorschlag der Grünen zur Diskussion steht, unterzeichnet hat. ({4}) Sie hat das damals gegen den ausdrücklichen Widerstand der damals größten Fraktion, der SPD, getan. Sie hat das auch gegen den ausdrücklichen Widerstand des damaligen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der Grünen, des Kollegen Beck, getan, der heute wahrscheinlich nicht ohne Grund nicht hier ist. ({5}) - Ja, das können Sie gerne ausrichten. - Der Kollege Beck hat das in gleicher Weise getan, wie das CDU/CSU und FDP auch getan haben. Der Grund ist unverändert gleich und richtig: In der UN-Konvention wird ganz allgemein von Amtsträgern gesprochen, und es ist klar, dass es Unterschiede zwischen Abgeordneten und Beamten gibt. ({6}) Der Beamte hat seinen Pflichten neutral nachzukommen. Ein Abgeordneter hat nach dem Grundgesetz ein freies Mandat und kann auch völlig einseitige Interessen vertreten, was ein Beamter zu Recht nicht darf. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Deshalb ist es auch schwierig, das rechtlich zu fassen. In der Debatte hier, die wir erlebt haben, wurde das ja auch deutlich. Die rotgrüne Koalition hat damals sehr lange Zeit zusammengesessen, weil sie die Probleme offensichtlich gesehen und sehr lange gebraucht hat, bis überhaupt irgendetwas zur Abstimmung kam. Das Ganze ist nicht eingebracht worden, und wir haben hier auch gehört, dass es bei den Grünen dann ganz offensichtlich Widerstand gegen die Formulierung gegeben hat - wieder vom Kollegen Beck, der der Bundesjustizministerin ja vorher auch schon deutlich gemacht hatte, dass er der Auffassung ist, dass die Bundesrepublik Deutschland das Abkommen der Vereinten Nationen nicht unterzeichnen sollte. Das ist bis heute unverändert meine Auffassung, weil ich großen Wert darauf lege, dass es keine Verbeamtung des Deutschen Bundestages gibt. ({7}) Ich komme zu einem zweiten Punkt, der mir wichtig ist. Kollege Stünker hat in einer früheren Debatte exzellent aufgezeigt, dass es schwierig ist, mit bestimmten Begriffen zu arbeiten. In der Diskussion ging es um Geldbündel, die übergeben werden; das könnte man rechtlich noch fassen. Aber wenn eine Schulausbildung ermöglicht wird - Sie haben ein Beispiel genannt; es gibt viele unterschiedliche Fälle, die man sich vorstellen kann -, dann ist das strafrechtlich schwer zu fassen. Zu den Prinzipien des Rechtsstaates gehören Normenklarheit und Normenwahrheit. Das ist das Problem. Frau Kollegin Högl hat in einem Nebensatz darauf hingewiesen, dass es viele rechtliche Probleme gibt. Ja, sie sind unbestreitbar vorhanden. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das angesprochen haben. Von daher ist unser Vorgehen nicht Unwillen. Vielmehr haben wir Probleme, die wir nicht vernünftig lösen können. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass es einen Unterschied zwischen den Abgeordneten des Bundestages und der Landtage auf der einen Seite und denen der kommunalen Vertretungen auf der anderen Seite gibt. ({8}) Auch das ist rechtlich schwierig. Ich weiß, dass das in der Öffentlichkeit nicht immer ankommt. Wenn ich die Zuschauer oben auf der Tribüne fragen würde: „Muss das sein?“, dann würde mit Sicherheit jeder sagen: Klar muss das so sein! ({9}) Trotzdem bitte ich um Verständnis, dass wir darauf achten müssen, dass auch die Abgeordneten Rechtsvorschriften vorfinden, die den Ansprüchen eines Rechtsstaates genügen. ({10}) Ein weiterer Punkt, der für mich wichtig ist, ist das Immunitätsrecht. Frau Kollegin Högl, Sie haben es angesprochen, wofür ich sehr dankbar bin. Wir haben in Deutschland die Tradition, dass wir eine Aufhebung der Immunität in aller Regel durchwinken, und das ist auch gut so. Ich finde, dass sich jeder Abgeordnete, wenn ein strafrechtlicher Vorwurf gegen ihn erhoben wird, den Gerichten zu stellen hat. Die Staatsanwaltschaften müssen ermitteln können. Weil wir das so großzügig tun, ist die Versuchung, Vorwürfe gegen jemanden zu erheben und damit staatsanwaltschaftliche Ermittlungen loszutreten, bei uns besonders hoch. Wir alle kennen Fälle - ich bin seit 1994 im Immunitätsausschuss -, in denen aus politischen Gründen bestimmte Vorwürfe erhoben worden sind. Ein Kollege fand sich mit solchen Vorwürfen konfrontiert in den großen Zeitungen wieder. Als sich hinterher herausgestellt hatte, dass alle diese Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren, haben die Zeitungen leider vergessen, das der Öffentlichkeit mitzuteilen. ({11}) Deshalb haben wir die Verantwortung gegenüber den Kollegen, die sich einem strafrechtlichen Vorwurf ausgesetzt sehen, dass wir klare und eindeutige Vorschriften anwenden, wenn wir Vorwürfe gegen sie erheben. ({12}) Mein Wunsch ist deshalb - in den Beratungen werden wir das tun -, dass wir uns zusammensetzen. Vielleicht fällt dem einen oder anderen, trotz der Schwierigkeiten, die ich aufgezeigt habe, etwas Neues ein. ({13}) Bisher habe ich leider nichts Neues gehört. Ihr schlechter Vorschlag von 2008 ist durch das Liegenbleiben nicht besser geworden. ({14}) Trotzdem bin ich der Auffassung, dass wir über dieses Thema reden sollen und müssen. Frau Högl, insofern nehme ich Ihr Angebot an. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Montag das Wort. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege van Essen, Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte Sie nicht richtig zitiert, es sei Unsinn gewesen, was ich erzählt habe. ({0}) Sie haben Recht: Die rechtsstaatliche Abfassung von Strafnormen unter der Berücksichtigung des Grundsatzes der Normenklarheit ist schwierig. Aber ich habe noch nie gehört, dass dies dazu geführt hätte, dass dieses Parlament bei Strafvorschriften, die es für notwendig hält und die die Menschen draußen betreffen, gesagt hätte: Weil es so schwierig ist, machen wir es lieber nicht. ({1}) Nur hier in diesem Falle wollen Sie ein Sonderrecht haben. ({2}) Das ist das, was ich kritisiere, nicht, dass die Sache schwierig ist. Nun, Herr Kollege van Essen, komme ich zu dem Zitat. Am 8. April 2011 haben wir hier im Plenum diskutiert. Frau Kollegin Wawzyniak hat geschildert, wie ein Europaabgeordneter gefilmt worden ist, als er sich - ich kürze das einmal ab - hat bestechen lassen. Dazu sagen Sie ausweislich des Protokolls Folgendes: Sie - damit ist Frau Wawzyniak gemeint hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vorgang, der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parlament abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich - das sind Sie, Herr van Essen habe die Bilder gesehen, die zeigten, wie ein Abgeordneter aus Österreich die Verhandlungen führte und sich für bestimmte Dinge bezahlen lassen wollte … Das sehe ich genauso wie Sie, Herr Hartmann. Das ist eine Schande. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt: Kontrolle funktioniert … Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete hat eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten bekommen, als es jede strafrechtliche Verurteilung sein könnte. Er musste sein Mandat aufgeben und ist gesellschaftlich geächtet. Das ist, finde ich, eine Strafe, die durch keinen Strafrichter höher ausgesprochen werden könnte. Lieber Herr Kollege van Essen, dies habe ich sinngemäß zitiert, als ich Ihnen gesagt habe, Sie seien der Meinung, für alle Bürger dieses Landes sei es richtig, bei einer Straftat von einem Strafrichter bestraft zu werden, aber bei uns Abgeordneten sei es besser, wir würden nicht bestraft; denn die höhere Strafe sei, dass wir in der Öffentlichkeit geächtet wären. Ich glaube, Sie sollten den Vorwurf gegen mich, dass ich falsch zitiert habe, zurücknehmen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege van Essen hat das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mich wörtlich zitiert haben. Ich glaube, jeder, der mein wörtliches Zitat gehört hat, hat gemerkt, dass der Vorwurf, den Sie in Ihrer Rede gegen mich erhoben haben, völlig falsch ist. Es ist richtig, dass ich gesagt habe - das bleibt auch meine Meinung -: Der Kollege aus Österreich, der gefilmt worden ist, hätte möglicherweise eine Geldstrafe bekommen. Das, was jetzt passiert ist, dass nämlich seine politische Karriere zu Ende ist, dass er öffentlich geächtet ist, dass er all das verloren hat, was er sich aufgebaut hat, ist natürlich eine höhere Strafe, als sie jeder Strafrichter verhängen könnte. Dass uns das aber nicht davon entbindet, das, was wir dort an Fehlverhalten gesehen haben, strafrechtlich zu fassen zu versuchen, habe ich in meiner Rede deutlich gemacht. Deshalb weise ich erneut den Vorwurf, den Sie mir gegenüber erhoben haben, mit Nachdruck zurück. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben über dieses Thema bereits am 8. April diskutiert. Die Debatte hier zeigt: Seitdem hat keiner von uns neue Erkenntnisse gesammelt oder seine Position grundlegend geändert. Neue Argumente sind hier nicht genannt worden. Aber immerhin treten Grüne und die Linksfraktion in den Wettbewerb um die beste juristische Formulierung im Detail. ({0}) Sinnvoll ist das nur bedingt. Sinnvoll wäre es, gemeinsam an einer Vorlage zu arbeiten. ({1}) Zumindest die Oppositionsfraktionen könnten dabei schnell eine Einigung erzielen. Natürlich ist dafür noch ein bisschen Feinarbeit nötig, aber das wäre sehr lohnenswert; denn am Ende stünde ein breiter Konsens, zumindest in der Opposition. Das wäre gut. Besser wäre es, wenn sich auch die Regierungsfraktionen an der Arbeit, einen Konsens zu erzielen, beteiligen würden. Aber ich habe Herrn van Essen so verstanden, dass er das in Angriff nimmt. Ein Konsens wäre gut, weil dieses Thema uns alle betrifft. Wir täten gut daran, ein klares Signal an die Öffentlichkeit zu senden, wie wir als Parlament uns diesem Thema stellen. ({2}) Worum geht es? Wir sind gefordert, einen Missstand zu beseitigen. Deutschland hat die UN-Konvention gegen Korruption aus dem Jahr 2003 nicht ratifiziert. Bislang ist hierzulande nur der Stimmenkauf verboten. Es geht um den Kampf gegen Korruption und darum, dass Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten strafbar sein sollen. Niemand soll und darf sich - auf keiner Ebene - mit Geld politisches Handeln kaufen. Darauf muss jede Bürgerin und jeder Bürger vertrauen können. Dafür müssen wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen bzw. sie verbessern. ({3}) Ich frage Sie: Warum sollten wir uns auf andere - und sei es die notwendige vierte Gewalt im Staate, also die Medien - verlassen, wenn wir selbst etwas tun können, um Bestechlichkeit und Bestechung zu unterbinden? Es ist unsere Aufgabe, und dieser Aufgabe sollten wir uns stellen. ({4}) Im Gegensatz zu den Regierungsfraktionen sind Linke und Grüne der Meinung, dass es not- und der Demokratie guttut, Regelungslücken zu schließen, und dass es nicht ausreicht, die Aufdeckung von Korruption den Medien zu überlassen. Deshalb haben sowohl Grüne als auch wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, nein, leider keinen gemeinsamen, sondern jeweils einen eigenen. Ich habe mir die Mühe gemacht, beide Gesetzentwürfe zu vergleichen, um zu sehen, wo die Unterschiede sind. Sie sind marginal. In den meisten und wichtigsten Punkten stimmen die beiden Gesetzentwürfe überein. Es gibt einen wirklich essenziellen Unterschied zwischen den Anträgen in zwei Punkten. Das eine ist die Versuchsstrafbarkeit. Die wollen wir, die wollen Sie nicht. Den Vorschlag der Grünen, auch Wahlbewerber und Wahlbewerberinnen in die Regelung aufzunehmen, finden wir gut. Da, finde ich, kann man doch zusammenkommen. ({5}) Seitens der Regierungsfraktionen sind leider keine Fortschritte in der Diskussion zu erwarten. Immerhin hat Herr van Essen heute darauf verzichtet, uns im Hinblick auf die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korruption durch inzwischen 75 Staaten, zu denen unter anderem Großbritannien, Frankreich und die USA gehören, vorzuhalten, dass wir auch den Unterzeichnerstaat China aufgeführt haben. Ansonsten war wenig Neues zu hören. Die Koalitionsfraktionen haben auch heute darauf verzichtet - im Nachgang zur letzten Debatte muss man das allerdings noch einmal sagen -, darauf hinzuweisen, dass sie finden, dass die Einbeziehung auch von Mitgliedern von Gemeindevertretungen nicht eingeführt werden sollte. Das Motto war damals: Völkerrechtliche Vereinbarungen gelten für uns nur, wenn sie uns passen. Ich glaube, dass wir uns selbst und der Sache keinen großen Gefallen tun, wenn wir jetzt bis in die letzte Detailfrage weiter einen Wettstreit führen. Es ist, glaube ich, nötig, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen. Ich würde mich freuen, wenn wir alle gemeinsam dafür sorgen, dass es endlich eine gesetzliche Regelung gibt. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksache 17/5933 und 17/5932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({1}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1937 ({3}) vom 30. August 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 17/5864, 17/6133 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/6134 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Stinner für die FDP-Fraktion. ({6})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir vor einem Jahr über dieses Mandat gesprochen haben, hätte wohl niemand von uns im Traum daran gedacht, unter welch regionalpolitischem Kontext wir uns heute mit diesem Mandat beschäftigen müssen. Die Welt in der Region hat sich dramatisch verändert, verändert sich täglich aufs Neue. Natürlich müssen wir uns heute bei der Debatte über das Mandat überlegen, ob denn diese regionale Veränderung Auswirkungen auf die Ziele, den Inhalt und die Durchführung dieses Mandates hat. Das haben wir sehr genau geprüft, und ich möchte dazu einiges sagen. Erstens ist klar, dass das UNIFIL-Mandat der Stabilisierung in der Region dient. Das wird von allen Anrainern so gesehen. Alle Anrainer bitten uns inständig - ich darf das hier so nachdrücklich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen -, diese Aufgabe auch in Zukunft fortzusetzen, weil natürlich alle Anrainer verstehen, dass auch im gegenwärtigen Kontext eine solch stabilisierende Funktion notwendig ist. Wir haben im letzten Jahr eine Umorientierung und Neufokussierung des Mandates vorgenommen, weil wir der Meinung waren, dass die Überwachung auf See nicht Daueraufgabe der deutschen Marine sein kann. Nein, es muss auch hier darum gehen, dass wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Wir haben bei der Neuorientierung des Mandates im letzten Jahr den Schwerpunkt auf die Ausbildung der libanesischen Marine gelegt, damit wir die Marine im Libanon schrittweise ermächtigen, die Aufgaben selbst wahrzunehmen, und wir dem Ziel nahekommen, auch dieses Mandat richtig gut abschließen zu können. ({0}) Diese Aufgabe ist noch nicht erfüllt, wie wir alle wissen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich durch Besuche vor Ort ein Bild gemacht. Wir wissen, dass die libanesische Marine noch nicht so weit ist, aber daran wollen wir weiter arbeiten. Zweitens haben wir uns - auch das ist wichtig - sehr nachhaltig für den Aufbau von zivilen Kapazitäten eingesetzt. Ich nenne den Aufbau von Radarstationen. Auch das ist wichtig und richtig. Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung die Mittel hierfür bereitgestellt hat. Wir wollen das auch in Zukunft tun. UNIFIL ist ohne jeden Zweifel ein stabilisierendes Instrument, und zwar sowohl an Land als Puffer zwischen Israel und den Hisbollah-Kräften als auch auf See. Ich möchte noch einmal unseren Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich dafür danken - ich hoffe, auch in Ihrer aller Namen, meine Damen und Herren -, dass sie diese Aufgabe für die Stabilität in der Region nachhaltig wahrnehmen. ({1}) Es hat sich nicht nur in der Region vieles geändert. Auch im Libanon hat sich in den letzten zwölf Monaten einiges verändert. Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass bis zum heutigen Tage immer noch keine neue libanesische Regierung steht. ({2}) Den alten Premierminister kannten wir. Herr Hariri war kalkulierbar. Er war auch in Berlin zu Gast. Herr Miqati ist in der Warteschleife. Ich weiß nicht, was die gestrigen Gespräche ergeben haben. Es hat gestern Abend wohl ein Gespräch zwischen Miqati, Berri und Aoun gegeben. Ich weiß nicht, was dabei herausgekommen ist. Wir können nur hoffen, dass es im Libanon bald eine neue, möglichst stabile Regierung geben wird. Aber ich verhehle nicht, dass wir in den nächsten Monaten sehr genau beobachten müssen, welche innenpolitischen Auswirkungen das im Libanon haben wird. Denn es kann Einfluss auf unser Mandat haben. Wir werden uns spätestens in einem Jahr, vielleicht aber auch schon früher damit befassen müssen, welche Auswirkungen das hat. Welche Rolle die Hisbollah in Zukunft in der Regierung haben wird und wie sie eventuell bestimmte Positionen durchsetzen möchte, hat sicherlich Einfluss. Aber auch die Situation in Syrien hat großen Einfluss auf die Situation im Libanon. Es gibt in Syrien bis zum heutigen Tage Kräfte, die der Meinung sind, dass Libanon eigentlich ein Teil von Syrien ist. Nach wie vor besteht in Syrien der Anspruch, nachhaltig Einfluss auf Libanon auszuüben. Wir wissen nicht, wie die Entwicklung in Syrien ausgehen wird. Ich darf aber sehr deutlich sagen: Nach meinem Dafürhalten ist auch das Regime von Herrn Assad in Syrien am Ende. Wir sind uns sicherlich alle einig in der Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens der syrischen Regierung gegen die eigenen Bürger. ({3}) Das heißt, auch in Zukunft werden wir die Auswirkungen der regionalen Veränderungen auf das Mandat betrachten und diese mit einbeziehen müssen. Nachdem wir die Schwerpunktsetzung geändert haben, möchten wir sehr genau kontrollieren, ob auf Dauer ein solcher deutscher Einsatz notwendig ist. Das werden wir genau prüfen. Aber ich stelle abschließend eindeutig fest: Zum heutigen Zeitpunkt braucht die Region nach wie vor das stabilisierende Instrument von UNIFIL. Zum heutigen Zeitpunkt ist unser Einsatz für die Ausbildung der libanesischen Marine unabdingbar notwendig. Zum heutigen Zeitpunkt können wir uns zum Glück darauf berufen, dass alle Anrainerstaaten das genauso sehen. Deshalb darf ich Ihnen sagen, dass ich es richtig finde, dass die Bundesregierung das Mandat vorlegt. Meine Fraktion wird deswegen heute diesem Mandat zustimmen. Schönen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Evers-Meyer hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! UNIFIL ist ein Einsatz der Bundeswehr, der regelmäßig von den Meldungen aus Afghanistan überlagert wird. Deswegen spreche ich hier zuallererst im Namen meiner Fraktion allen Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Beschäftigten, die bei UNIFIL ihren Dienst leisten, unseren Dank und unsere Anerkennung aus. ({0}) Der Dank schließt auch die Familien ein, für die diese langen Einsätze eine enorme Belastung sind. Wir schät13074 zen ihre Arbeit vor Ort, und wir sind von der großen Bedeutung dieser Arbeit überzeugt. Deswegen werden wir dem vorliegenden Mandat auch in diesem Jahr zustimmen. UNIFIL ist ein wichtiger Einsatz. Die Marine leistet dort gute Arbeit und sendet ein wichtiges Signal für Sicherheit, Frieden und Stabilität in der Region. Die deutschen Schiffe vor der Küste Libanons helfen mit, den zerbrechlichen Frieden zu stabilisieren. Sie sind dort willkommen, und zwar bei allen Beteiligten. Nicht zuletzt deshalb waren wir immer davon überzeugt, dass dieser Einsatz richtig und wichtig ist. Die Kernaufgabe des Mandats, also Waffenschmuggel über See in den Libanon zu verhindern, bleibt aktuell. Zwar wurden im vergangenen Jahr Fortschritte gemacht - das Küstenradarsystem ist bis auf drei Radarstationen fertig -, aber die libanesische Marine ist trotz aller Anstrengungen gerade auch unserer Marine vor Ort noch nicht in der Lage, ihre Aufgaben verlässlich selbst zu übernehmen. Wenn man die kleinen Schiffchen sieht, die das Meer überwachen sollen, dann muss man schon sagen, dass wir uns ein wenig mehr anstrengen könnten. Ein zweiter wichtiger Punkt bei diesem Einsatz ist deshalb die Ausbildung der örtlichen Kräfte. Die Verstärkung der Anstrengungen bei der Ausbildung findet unsere ausdrückliche Unterstützung. Eine gut ausgebildete libanesische Marine mit funktionierendem Material ist für uns ein zentrales Ziel, ohne das UNIFIL der entscheidende Baustein für den nachhaltigen Erfolg fehlen würde. Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich der Nahe Osten stabilisiert. Das gilt angesichts der Veränderungen in Nordafrika, aber auch in Syrien heute mehr denn je. Das hätte man auch noch etwas deutlicher, so finde ich, in den Antrag schreiben können. Deutschland ist von allen Seiten, von Israel, vom Libanon und von den Vereinten Nationen, aufgefordert worden, die Mission fortzusetzen. Das ist eine Bitte, die uns stolz machen sollte und die wir nicht abschlagen sollten. Sie zeigt, dass wir, vertreten durch unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort, ein sehr hohes Ansehen genießen. Ein friedensstabilisierender Einsatz, der von allen Beteiligten ausdrücklich gewünscht wird, ist selten, und das sollten wir entsprechend würdigen. Ungeachtet dieser eindeutigen Faktenlage kommen andere Kolleginnen und Kollegen aber zu einem anderen Ergebnis. Warum, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, versuchen Sie seit Beginn von UNIFIL, diesen Einsatz zu verstecken? Sie tun das immer noch. Warum bleibt es bei der willkürlichen Mandatsobergrenze von 300 Mann? Sie wissen doch: Das sind zu wenige. Das reicht natürlich aus, um zwei Minenjagdboote und ein Versorgungsschiff vor der libanesischen Küste zu stationieren, aber - das wurde mir bei meinem Besuch im Libanon im vergangenen Jahr immer wieder bestätigt - es reicht eben nicht, um eine Lead-Funktion in diesem friedensstabilisierenden Einsatz zu übernehmen. Dafür hätten wir nur 50 Soldatinnen und Soldaten mehr ins Mandat schreiben müssen. Diesen Fehler haben Sie bei der letzten Mandatsverlängerung schon gemacht. Sie wollen ihn offensichtlich mit dieser Verlängerung nicht beseitigen. Das bedeutet aber, dass Deutschland bei diesem wichtigen UN-Einsatz auf der Führungsebene nicht vertreten ist. Das muss man sich einmal vorstellen! Stattdessen übernehmen jetzt Länder wie Brasilien die Führungsrolle. Nicht, dass wir etwas gegen Brasilien hätten, ({1}) aber Brasilien schickt keine Schiffe ins Mittelmeer, dafür 20 Führungsoffiziere, die den Einsatz leiten. Bitte erkläre mir einmal einer die deutsche Politik! Wenn Deutschland wirklich ein Interesse an diesem Einsatz hat und wenn es in den Vereinten Nationen eine bedeutendere Rolle spielen will, dann hätte sich bei UNIFIL und insbesondere bei dieser Mandatsverlängerung die Möglichkeit ergeben, unseren Anspruch konkret umzusetzen. Das haben Sie verspielt. Warum, bleibt Ihr Geheimnis. Ich weiß nur, dass Sie damit Deutschlands Ansehen in der Region eher schaden, und Sie schaden vor allen Dingen der Motivation unserer Soldaten vor Ort; denn sie haben kein Verständnis dafür, dass sich Deutschland an UNIFIL zwar beteiligt, aber keine Führung in dieser Mission übernehmen will. Das ist Ihr politisches Versäumnis. ({2}) Ich will hier einmal mehr sehr klar sagen, was mir wirklich Sorge bereitet - das geht vielen anderen in meiner Fraktion genauso -: Wir werden seit 2009 außenpolitisch nicht gut vertreten. ({3}) Der Außenminister lässt auch nach knapp zwei Jahren im Amt eine Linie vermissen. Es fehlt an Führung, es fehlt an Entscheidungen und klaren Positionen. Schon hier bei UNIFIL, einem wirklich wichtigen, überschaubaren und unterstützenswerten Einsatz, fehlt es dem Außenminister an jedweder Motivation. Herr Minister Westerwelle, Sie sind doch für dieses Mandat verantwortlich. Es wäre gut, wenn Sie neben schönen Bemerkungen über die Demokratisierung in der arabischen Welt einige handfeste Erklärungen dazu liefern könnten, warum Deutschland bei UNIFIL so sehr hinter seinen Möglichkeiten und Ansprüchen zurückbleibt. Dieser Einsatz ist sinnvoll. Er wird von der internationalen Gemeinschaft getragen und vor Ort von allen unterstützt. Dieser Einsatz verdient ein ernsthaftes Engagement der deutschen Regierung. Mit der Mandatsbegrenzung auf 300 Soldatinnen und Soldaten setzen Sie das falsche Signal. Es bleibt der Eindruck, auch bei unseren Partnern, dass wir uns in der Region - das ist mir persönlich gesagt worden - nicht ernsthaft und nicht an verantwortlicher Stelle einbringen möchten. Das ist bedauerlich; denn UNIFIL würde eine gute Möglichkeit dafür bieten. So bleibt uns nur die Hoffnung, dass in den verbleibenden zwei Jahren etwas mehr außenpolitische Weitsicht gezeigt wird. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hahn für die Unionsfraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, so ist es, Herr Kollege. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Anfangs hatte die UNIFIL-Mission zwei Ziele: zum einen die Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah zu überwachen und zum anderen den Wiederaufbau im Libanon abzusichern. Hierbei haben wir nachhaltige Erfolge erzielt. Doch wir können und sollten nicht dauerhaft in der Region präsent sein. Das haben wir auch so im Koalitionsvertrag festgelegt; der Kollege Stinner hat zu Recht darauf hingewiesen. Wir müssen die aktuellen Entwicklungen trotzdem weiterhin verantwortungsvoll beobachten. Um sukzessiv die Verantwortung in die Hände der libanesischen Streitkräfte übergeben zu können, haben wir uns im letzten Jahr entschieden, unseren Schwerpunkt auf die Ausbildung der Marine zu setzen. Hierbei konnten wir bereits gute Fortschritte erzielen. Mein Dank gilt an dieser Stelle allen unseren Soldatinnen und Soldaten, die bislang dort ihren Dienst versehen haben. Die Erfolge, die wir für den Libanon und die gesamte Region erzielen konnten, sind auch ihre Erfolge. Für ihr künftiges Wirken wünsche ich ihnen weiterhin Gottes Segen. ({0}) Ich konnte mich bei meinem letzten Besuch im vergangenen Jahr in persönlichen Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten davon überzeugen, dass erstens die nötige Motivation vorhanden ist und dass sie zweitens fest daran glauben, dass unsere Hilfe zur Selbsthilfe ankommt und ein tragfähiges Konzept darstellt. Unser Erfolg zeigt sich auch darin, dass wir zu Beginn des Mandats eine personelle Obergrenze von 2 400 Soldaten hatten und dass wir diesen Auftrag heute mit 300 Soldaten sehr gut wahrnehmen können. Unser Ziel ist es, dass Libanon mittelfristig selbstständig die Seegrenzen überwachen kann. Deutschlands bilaterale Aufbau- und Ausrüstungshilfe hat Libanon bereits befähigt, zumindest in Teilen die Überwachung der Hoheitsgewässer selbst zu übernehmen. An dieser Stelle appelliere ich aber auch an die Verantwortlichen im Libanon, den Willen zur Verantwortungsübernahme zu zeigen und das Ausbildungsangebot großzügig anzunehmen. Im Rahmen des vernetzten Ansatzes wird Deutschland auch künftig verstärkt den libanesischen Fähigkeitsaufbau fördern. Hierzu gehören neben den Beteiligungen am UNIFIL-Flottenverband auch politische, wirtschaftliche und sozioökonomische Maßnahmen. So beraten beispielsweise Experten der Bundespolizei und des Zolls seit September 2006 die zuständigen libanesischen Behörden in Fragen der Grenzsicherheit mit finanzieller Unterstützung aus Mitteln des Auswärtigen Amtes. Sie sind am Flughafen Beirut, an den Seehäfen und an der Nordgrenze zu Syrien beratend tätig. Die Beratertätigkeit ist mit entsprechender Ausbildungs- und technischer Ausstattungshilfe durch die Bundespolizei und den Zoll verbunden. Zum Wiederaufbau des im Sommer 2007 zerstörten Flüchtlingslagers leistet die Bundesregierung aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit und der zivilen Krisenprävention ebenfalls wesentliche Beiträge. Sie trägt dadurch zur Verbesserung der Lebensbedingungen der palästinensischen Flüchtlinge bei. Dies sind nur zwei Beispiele unserer vielschichtigen und sehr erfolgreichen Hilfe. Auch wenn von der Seeseite Waffenlieferungen merklich eingedämmt sind und der zivile Wiederaufbau vorangeht, können wir leider nicht von einer entspannten Situation vor Ort sprechen. Denn seit Monaten gibt es keine stabile Regierung. Doch ein stabiler Libanon ist für die Sicherheit Israels und der Gesamtregion maßgeblich und wichtig. Umso wichtiger ist es, dass Stabilität dauerhaft hergestellt wird. Die Unruhen in den letzten Monaten im Grenzgebiet zwischen Israel, Syrien und Libanon sind ein klares Zeichen dafür, wie angespannt die Lage noch ist. Wir wissen leider, dass diese auch plötzlich eskalieren kann. UNIFIL hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Situation nicht weiter verschärft wurde. Sowohl die libanesische als auch die israelische Regierung haben ausdrücklich um die Aufrechterhaltung des deutschen Engagements gebeten. Nur UNIFIL bietet einen von beiden Seiten anerkannten Rahmen für direkte Kontakte zur Klärung und Beilegung von Zwischenfällen. So schätzen sowohl Israel als auch Libanon gleichermaßen die Rolle der Mission als bilateralen und regionalen Stabilitätsanker. Auch vonseiten der für friedenserhaltende Maßnahmen zuständigen Abteilung des Sekretariats der Vereinten Nationen wurde großes Interesse an der Fortsetzung der deutschen Beteiligung bei UNIFIL bekundet. Daher bitte ich Sie alle um Zustimmung zur beantragten Mandatsverlängerung. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Buchholz hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme Herrn Stinner zu: Der arabische Frühling bietet Chancen für den Frieden im Nahen Osten. Allerdings glaube ich im Unterschied zur SPD, dass wir das nicht unterstützen, indem wir noch mehr Soldaten in die Region schicken, sondern dass wir das unterstützen, indem wir gar keine schicken. ({0}) Die Linke lehnt den UNIFIL-Einsatz ab. ({1}) Ich möchte hier die wichtigsten Argumente dafür anführen. Als Allererstes: Das Mandat ist nicht neutral. Mit dem Mandat wird zwar versucht, die Waffenlieferungen in den Libanon zu unterbinden, aber gleichzeitig werden die ungehemmten Waffenlieferungen an Israel ignoriert. Der Bundestag hat in den nächsten Wochen die Gelegenheit, diese Einseitigkeit zu beenden, indem er den Anträgen der Linken gegen alle Waffenlieferungen in den Nahen Osten zustimmt. ({2}) Auch wenn ich nach der heutigen Debatte pessimistisch bin, was die Position der anderen Parteien angeht, denken wir, dass das der richtige Weg ist. Wenn Sie dem nicht zustimmen, ist unsere Position wieder einmal bestätigt, dass Ihr Gerede davon, Frieden zu schaffen, nichts anderes als geheuchelt ist. ({3}) Zweitens wurde 2006 das bisherige UNIFIL-Mandat grundlegend erweitert, um die Einhaltung des Waffenstillstands in einer aktuell angespannten Situation nach dem Libanon-Krieg zu überwachen. Aber nun sind die Truppen bereits seit fünf Jahren dort, und es ist kein Ende in Sicht. Alles sieht nach einer dauerhaften Stationierung aus. Vielleicht war das ja auch ein Grund, warum die FDP bis zu ihrem Eintritt in die Regierung eine kritische Position zum Mandat hatte und selbst in den Koalitionsvertrag einen schrittweisen Ausstieg aus UNIFIL hineinverhandelt hatte. Davon ist leider heute nicht mehr viel zu spüren. ({4}) Ob man es sinnvoll findet oder nicht - ich persönlich finde es nicht sinnvoll -: Wenn es bei UNIFIL um einen Beitrag zur Ausbildung der libanesischen Marine geht, so gilt: Man kann auch bilaterale Vereinbarungen dazu treffen; dazu braucht man kein umfassendes robustes Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. ({5}) Drittens. UNIFIL ist ein Einsatz, wie gesagt, nach Kapitel VII der UN-Charta. Das schließt die Möglichkeit militärischer Zwangsmaßnahmen ein. Dadurch entsteht das Risiko, dass die UNO-Truppen in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden und deren Rolle als ein von allen Seiten akzeptierter neutraler Partner nicht mehr anerkannt wird. Im schlimmsten Fall wird die UNO zu einer Kriegspartei. Das lehnt die Linke prinzipiell ab. ({6}) Alle Erfahrungen zeigen, dass militärisches Vorgehen keine Probleme löst. Im Gegenteil: Sobald die UNO den Boden der Unparteilichkeit verlässt, besteht zumindest die Gefahr, dass sie zum Teil des Problems wird, statt dass sie zur Lösung beiträgt. Deswegen möchte ich die Kritik wiederholen, die die Linksfraktion bereits 2006 in der Debatte zum selben Thema formuliert hat - ich zitiere Lothar Bisky -: Die vorherrschende Politik steckt mehr und mehr Gedanken und materielle Ressourcen in militärische Konfliktbearbeitung. Das ist nicht der richtige Weg. ({7}) Viertens. Die Konflikte zwischen Libanon und Israel werden wohl nur dann nachhaltig gelöst werden können, wenn es einen gerechten Frieden im Nahen Osten gibt. Die Linke hat dafür Vorschläge unterbreitet. Einen Militäreinsatz hingegen lehnen wir ab. Deswegen sagen wir auch heute Nein zum UNIFIL-Mandat. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Kerstin Müller das Wort.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Buchholz, Sie haben hier noch einmal die Tatsache beklagt, dass UNIFIL ein Kapitel-VII-Einsatz ist. Ich sage es einmal so: Die Vorstellung, dass ein Krieg zwischen Libanon und Israel, um den es im Jahr 2006 ging, ohne einen Kapitel-VII-Einsatz hätte beendet werden können, ist derart naiv, dass ich wirklich nicht weiß, wie Sie seriös mit dieser Argumentation hier auftreten können. ({0}) Es geht also nicht um einen Kriegseinsatz, sondern darum, dass mit diesem Einsatz ein Krieg beendet wurde und die Region so stabilisiert wird. Aus unserer Sicht gibt es mindestens drei Gründe, warum UNIFIL und die deutsche Beteiligung daran wichtig sind. Meine Fraktion wird daher mit sehr, sehr großer Mehrheit zustimmen. Zuallererst hat diese Mission Bedeutung für die Stabilität der Region. Die Umbrüche in der arabischen Welt - sie wurden hier schon angesprochen - verändern die Region tiefgreifend. Während die DemokratisierungsKerstin Müller ({1}) prozesse in Ägypten und Tunesien Fortschritte machen, eskaliert die Lage in anderen Ländern, vor allem in Syrien, in dramatischer Weise. Man kann ja nicht über den Libanon sprechen, ohne Syrien anzusprechen. Das Assad-Regime geht mit unverminderter Gewalt gegen die Demonstranten vor. In den letzten Wochen wurden 1 000 Zivilisten getötet, 10 000 Menschen inhaftiert. Viele von den Freunden, die wir dort kennen und mit denen wir zusammengearbeitet haben, sind im Gefängnis. Wir wissen nicht einmal, wo sie sind. Zugleich sind Tausende auf der Flucht. Wir konnten heute lesen, dass viele aus Angst vor einem drohenden Massaker der Armee in Dschisr al-Schughur in die Türkei flüchten. Das ist eine schreckliche Bilanz. Meine Damen und Herren, ich finde es unerträglich, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis heute diese Gewalt nicht verurteilt. ({2}) Ich möchte von dieser Stelle aus wirklich an China und Russland appellieren: Bitte verhindern Sie zumindest diese Resolution, die auf Initiative von Deutschland, Frankreich und Portugal dem Sicherheitsrat noch einmal vorgelegt wird, nicht! Es muss zu einer Verurteilung kommen. Das Assad-Regime muss isoliert werden, damit es baldmöglichst abtritt. ({3}) Ein Wandel in Syrien wird auch die gesellschaftlichen Verhältnisse im Libanon, etwa die Rolle der Hisbollah, und vermutlich das Gesicht der ganzen Region verändern. Auch deshalb hat der UN-Sonderkoordinator für den Libanon, Michael Williams, noch einmal ganz deutlich gesagt: UNIFIL ist gerade in diesen außergewöhnlichen Zeiten ein Stabilitätsfaktor in der Region und muss unbedingt fortgesetzt werden. Recht hat er mit dieser Aussage. ({4}) Zweitens. Die Stabilität des Libanon und der Region - Sie haben das kurz gestreift, aber meiner Meinung nach falsch bewertet, Frau Buchholz - hängt eng mit der Sicherheit Israels zusammen. Ich erinnere an die Unruhen am Nakba-Tag, der gerade begangen wurde. An diesem Tag wurden bei Protesten von Palästinensern an den Grenzen 14 Menschen getötet. Es ist auch der Präsenz von UNIFIL an der südlibanesischen Grenze zu verdanken, dass die Situation nicht weiter eskaliert ist. Das ist auch ein Grund, weshalb der Libanon und Israel für die Fortsetzung des Mandates und ausdrücklich für eine deutsche Beteiligung sind. Welche besseren Gründe könnten es geben, das Mandat zu verlängern? ({5}) Der letzte Punkt ist die angespannte Lage im Libanon selbst; Herr Stinner hat es angesprochen. Vier Monate nach dem Sturz Hariris gibt es immer noch keine neue Regierung. Hier zeigt sich aber auch ein Schwachpunkt von UNIFIL, nämlich dass die Seeseite zwar erfolgreich abgesichert wird, aber der Waffenschmuggel an der syrisch-libanesischen Grenze nicht verhindert werden kann und die Hisbollah massiv aufgerüstet wurde. Dadurch fühlt sich Israel zu Recht bedroht. Wir müssen also weiter auf die Entwaffnung der Hisbollah drängen. Aus all diesen Gründen ist klar: UNIFIL ist ein Stabilitätsanker in einer fragilen Region. Deshalb darf man hier nicht lavieren. Wenn wir zu Frieden und Stabilität in der Region beitragen wollen, dann braucht die Region verlässliche Signale, und deshalb ist es vernünftig und richtig, dieses Mandat zu verlängern. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Gädechens für die Unionsfraktion. ({0})

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele haben nach dem libanesisch-israelischen Krieg viel versprochen; wenige haben ihre Versprechen gehalten. Deutschland hat nicht nur Hilfe versprochen, sondern nachhaltig Hilfe zur Selbsthilfe geleistet. Weite Teile der libanesischen Bevölkerung nehmen das deutsche Engagement dankbar zur Kenntnis. - Mit diesen Worten wurde in der letzen Woche eine Delegation von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, der auch ich angehörte, vom obersten libanesischen Admiral empfangen. Die Gründe, warum sich Deutschland im UNIFILMandat engagiert, sind in diesem Hohen Hause seit 2006 mehrfach diskutiert und beraten worden und sollten somit hinlänglich bekannt sein. Gleichwohl gilt es, einmal mehr festzustellen, dass unser Engagement nicht nur wichtig, sondern tatsächlich auch effektiv ist und die gewünschte Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht. Ich durfte mich davon überzeugen, dass die nahezu lückenlose Radarüberwachung in einem Radius von 24 nautischen Meilen, also circa 45 Kilometer, vor der libanesischen Küste funktioniert. Die von uns zur Verfügung gestellten Boote versetzen die sehr kleine, aber hochmotivierte und gut ausgebildete libanesische Marine in die Lage, unidentifizierte Seeziele - jedenfalls teilweise - abzufangen und zu kontrollieren. Dabei mutierte das ehemalige deutsche Sicherungsboot „Bergen“ zum Flaggschiff der libanesischen Marine. Ich war seinerzeit bei der Übergabe des Sicherungsbootes an die libanesische Marine mit dabei gewesen und war freudig überrascht, in welch einwandfreiem Zustand sich das Boot heute immer noch befindet ({0}) und welch hohen Ausbildungsstand die Besatzungsmitglieder haben. ({1}) Drei oder vier Boote reichen aber nicht aus, um gegenüber Israel glaubhaft zu verdeutlichen, dass zumindest die Seegrenze vor illegalem Waffenschmuggel geschützt werden kann. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung den UNIFIL-Einsatz bis zum Juni 2012 verlängern möchte. Würden wir nämlich das Mandat zum jetzigen Zeitpunkt beenden - beenden in einer Zeit der Unruhe in weiten Teilen der arabischen Welt -, würde Israel morgen die Seeblockade wieder aufleben lassen. Die innenpolitische Situation im Libanon - wir hörten es - scheint so zu sein, dass man sie auf den ersten Blick als ruhig bewerten könnte. Die Lage ist allerdings weit davon entfernt, stabil zu sein. Das kontroverse Gespräch zwischen zwei libanesischen Abgeordneten machte die Situation deutlich: ein Land mit Verfassung, aber leider immer noch ohne handelnde Regierung. Schlimmer noch: Wenn man die Skyline von Beirut sieht, blickt man auf eine prosperierende, pulsierende Metropole. Da fragt man sich ganz automatisch, warum dieses Land nicht in der Lage zu sein scheint, durch eigenes Steueraufkommen eine wirkungsvolle Küstenwache aufzubauen. Die Antwort mag in der allgegenwärtigen Hisbollah liegen. Besonders nachdenklich kann man schon werden, wenn man in den Beiruter Sportboothafen blickt, in dem mehr und größere Motorjachteinheiten liegen als in dem daneben liegenden Marinehafen. UNIFIL kann das innenpolitische Dilemma nicht lösen, das Problem der mächtigen Hisbollah-Einflussnahme muss der Staat Libanon eigenständig klären. Die deutsche Präsenz durch UNIFIL bietet uns aber noch eine ganz andere - für mich fast noch bedeutendere diplomatische Offerte. Das gewachsene Vertrauen und die Hochachtung zwischen Israel und Deutschland, die Anerkennung und Hilfsbereitschaft zwischen Deutschland und dem Libanon bringen uns in die exzellente diplomatische Mittlerposition, die von allerhöchstem Stellenwert ist. ({2}) Sinnbildlich - das bekräftigten die deutsche Botschafterin und der kommandierende Kapitän der Marineeinheiten - sei die deutsche Flagge am Heck des in exponierter Lage liegenden Tenders „Mosel“. Unsere Flagge als Staatssymbol zeigt jedem Libanesen: Hier ist ein Land, das nicht nur redet, sondern uns auf dem Weg in eine hoffentlich bald bessere Zukunft unterstützt. Dem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die im UNIFIL-Mandat hervorragende Arbeit leisten - er ist hier heute schon mehrfach formuliert worden -, kann ich mich nur anschließen, wiederholen muss ich ihn nicht, weil ich diesen Dank in der letzten Woche vielen Kameradinnen und Kameraden gegenüber auf dem Schnellboot „Zobel“ und dem Tender „Mosel“ persönlich aussprechen durfte. ({3}) Ich bitte Sie um Zustimmung zur Verlängerung des UNIFIL-Mandats. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa- che 17/6133 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Leba- non. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/5864 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschluss- empfehlung namentlich ab. Ich bitte nun die Schriftfüh- rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein- zunehmen. Sind an allen Urnen die dafür vorgesehenen Schrift- führerinnen und Schriftführer? - Das ist der Fall. Ich er- öffne die Abstimmung und bitte, die Karten einzuwer- fen. Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten eingeworfen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe- rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6142. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln aktiv unterstützen - Drucksache 17/6087 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 1) Ergebnis Seite 13080 D Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen - Drucksachen 17/5482, 17/6078 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Marina Schuster Tom Koenigs Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Christoph Strässer von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen feiert in diesen Tagen Jubiläum: Er wird fünf Jahre alt. Er ist neben der Peacebuilding Commission eines der wenigen Ergebnisse des mit großem Eifer angestoßenen Prozesses einer Reform der Vereinten Nationen insgesamt. In der Resolution, die vor fünf Jahren zur Gründung des Menschenrechtsrats geführt hat, hieß es - ich zitiere -: Die Generalversammlung beschließt, „dass die Tätigkeit des Rates von den Grundsätzen der Universalität, der Unparteilichkeit, der Objektivität und der Nichtselektivität, eines konstruktiven internationalen Dialogs und der … Zusammenarbeit“ im Hinblick auf die Förderung und den Schutz aller Menschenrechte bestimmt wird. Ich denke, wenn man nach fünf Jahren Bilanz zieht, inwiefern man diesem hohen Anspruch gerecht wurde, muss man feststellen - ich sage das etwas vorsichtig -, dass sicherlich nicht alle Erwartungen erfüllt wurden. Der Menschenrechtsrat ist die Nachfolgeorganisation der Menschenrechtskommission. Diese Menschenrechtskommission hat in den Jahren ihrer Arbeit vielerlei Kritik hinnehmen müssen, wie ich finde, zu Recht. Kritikpunkte waren unter anderem die Blockbildung und die Tatsache, dass es nicht möglich war, aktuelle menschenrechtliche Konflikte ernst zu nehmen und dort zu debattieren. Die Etablierung des Menschenrechtsrats war der Versuch, an diesen Umständen etwas zu ändern. Wenn man nun bilanziert, muss man, glaube ich, sagen, dass es hinsichtlich der Arbeit des Rates einige Fortschritte gegeben hat, es aber immer noch negative Punkte gibt. Diese möchte ich vorweg bewerten. Sie zeigen auf, dass noch viel zu tun ist. Ich glaube, dass es ein ziemlicher Skandal ist, dass Libyen vor anderthalb Jahren als Mitglied in den Menschenrechtsrat gewählt worden ist. Ich glaube, das kann und darf man nicht hinnehmen. ({0}) Von uns ist daher zu begrüßen - das zeigt, dass es möglich ist, in diesem Menschenrechtsrat zu arbeiten -, dass Libyen im März dieses Jahres mit der nötigen Zweidrittelmehrheit wieder aus dem Menschenrechtsrat entfernt wurde. Auch dies sollte man zur Kenntnis nehmen. Das gibt Anlass zu der Hoffnung, dass dieses Gremium vor aktuellen Entwicklungen die Augen nicht verschließt. Ich finde, an dieser Stelle muss man auch sehr deutlich ein Manko der ständigen Geschäftsordnung dieses Rates ansprechen, das darin besteht, dass es nicht gelingt, aktuelle Konflikte zum Thema zu machen. Man muss sich wirklich Mühe geben - wir wissen das durch den einen oder anderen Besuch des Menschenrechtsausschusses vor Ort -, um Bündnisse zu bilden, damit man bestimmte Punkte überhaupt auf die Tagesordnung bringen kann. So finde ich es nicht nur unangenehm, sondern sogar skandalös, dass sich der Menschenrechtsrat nach Beendigung des Krieges in Sri Lanka geweigert hat, das Vorgehen der sri-lankischen Regierung gegen die Tamilen überhaupt auch nur auf die Tagesordnung zu setzen, obwohl doch die ganze Welt weiß, dass dort massivste Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen sind. Damit wird, wie ich meine, der Menschenrechtsrat seiner Aufgabe nicht gerecht. ({1}) Genauso finden wir es nicht wirklich hilfreich - ich glaube, auch da sind wir uns alle einig -, dass aktuelle Probleme, die seit vielen Jahren virulent sind, zum Beispiel der Konflikt zwischen Darfur und dem Sudan, nicht auf der Tagesordnung des Rates erscheinen. Ich möchte daher die Aufforderung an die Bundesregierung richten, dass sie bei den Beratungen in der Generalversammlung in den nächsten Wochen und Monaten darauf hinwirkt, dass die ständige Geschäftsordnung derart geändert wird, dass die Behandlung dieser Konflikte auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Es kann nicht sein, dass man immer darauf achten muss, dass aufgrund der Blockbildungen im Menschenrechtsrat Mehrheitsverhältnisse entstehen, die nicht akzeptabel sind. Ich zitiere Manfred Nowak - keine Sorge, das ist kein Deutscher -, den österreichischen UNO-Sonderberichterstatter für Folter, der noch vor zwei Jahren gesagt hat: Eigentlich ist die Reform gelungen, aber wir müssen leider feststellen, dass in dem Rat die Staaten die Mehrheit haben, in denen die Menschenrechte am intensivsten verletzt werden. - Diese Feststellung - wie gesagt: nicht von einem deutschen Politiker - sollte man ernst nehmen. Deshalb richte ich an dieser Stelle noch einmal die Aufforderung aus unserem Antrag an die Bundesregierung, möglichst dafür zu sorgen und dafür zu arbeiten, dass es zu einem anderen Wahlverfahren kommt und diese Blockabhängigkeit bald der Vergangenheit angehört. ({2}) Das zieht auch inhaltliche Probleme nach sich. Ich will nur ein Beispiel nennen: die Entscheidung des Rates zur sogenannten Diffamierung von Religionen. Diese Entscheidung ist durchgesetzt worden mit der Mehrheit der Staaten der Islamischen Konferenz, die nur ein Ziel hat, nämlich, die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit in den Ländern, in denen auch der Islam kritisiert wird, einzuschränken bzw. abzuschaffen und die Verhältnisse in den islamischen Staaten zur menschenrechtlichen Grundlage für das Verhalten in diesem Rat zu machen. Das ist inakzeptabel, und auch solche Entscheidungen dürfen in dieser Form nicht im Menschenrechtsrat getroffen werden. ({3}) Nichtsdestotrotz glaube ich, dass der Menschenrechtsrat einen qualitativen Fortschritt darstellt. Einer der wesentlichen Punkte, die ich ansprechen möchte, ist das sogenannte UPR-Verfahren - Universal Periodic Review. Dies ist ein ständiges Überprüfungsverfahren, in dem sich alle 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, also nicht nur die Mitgliedstaaten des Rates, im Abstand von vier Jahren im Hinblick auf die menschenrechtliche Situation bei sich überprüfen lassen müssen. Das ist ein Fortschritt; denn man bekommt vor Ort - die Bundesregierung hat das, glaube ich, im Jahr 2009 in Genf gemacht - einen sehr intensiven Eindruck von der Situation in den jeweiligen Ländern. Daran sollte weiter gearbeitet werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass dieses Instrument geschärft wird und nicht nur einmal in vier Jahren ein Bericht vorgelegt wird. Wir erwarten daher, dass uns im Jahr 2012 - zur Halbzeit des Berichtes der Bundesregierung - ein Zwischenbericht vorgelegt wird, aus dem wir ersehen können, ob die Empfehlungen, die an die Bundesregierung gegeben wurden, befolgt werden. Wenn ja, ist das gut; wenn nein, müssen wir schauen, warum das nicht passiert ist. Das alleine bringt uns weiter. Es macht unsere eigene Glaubwürdigkeit in diesem Verfahren aus, nicht nur bei den anderen auf die Einhaltung der Empfehlungen zu achten, sondern auch bei uns selbst. Das wäre vorbildlich. Dass die Bundesregierung sich aus Kapazitätsgründen bislang weigert, einen Zwischenbericht für das Jahr 2012 zu erstellen, ist kein positives Beispiel für die Menschenrechtspolitik dieser Regierung und dieses Landes. Das muss geändert werden. ({4}) Ich komme zum zweiten Antrag, den wir in den Ausschüssen beraten. Im Menschenrechtsrat steht im Juli dieses Jahres der Bericht des Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen, John Ruggie, zum Thema „menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen“ an. Der Menschenrechtsausschuss hat dieses Thema im letzten halben Jahr zu seinem Schwerpunkt gemacht. Auch hier lautet die Aufforderung, dieses Verfahren massiv zu unterstützen, weil es sich mit einer Frage auseinandersetzt, die viel brisanter ist, als wir das alle vermuten. Ruggie versucht - leider unverbindlich -, eine lückenlose Kontrolle von Produkten zu erreichen, die - aus welchen Teilen der Welt auch immer - auf unsere Märkte kommen. Damit soll nachgewiesen werden, dass Produkte sauber sind und man sie empfehlen kann. Das bedeutet auch für unsere Unternehmen einen Schutz. Diese Form von Politik ist keine Belastung für den Standort, sondern ein positiver Standortfaktor. Die Menschen in unserem Land wollen wissen, woher ein Produkt kommt. Ist das ein Produkt aus einem Bürgerkriegsland? Ist das ein Produkt aus Usbekistan, wo, wie wir es gesehen haben, bei der Baumwollproduktion Kinderarbeit nach wie vor eine große Rolle spielt? Ich glaube, wir sollten diese wirtschaftlichen und sozialen bzw. kulturellen Rechte massiv in den Vordergrund unserer Politik stellen. Deshalb geht die Aufforderung an die Bundesregierung, diese Politik zu unterstützen und für ein Folgemandat zu sorgen, sodass diese Prinzipien Eingang in die alltägliche Arbeit finden. Wir können, sollen und dürfen uns Skandale wie den aus Usbekistan geschilderten nicht leisten. Hierbei kann dieser Bericht von großem Nutzen sein. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung und darum, auch in diesem Hohen Hause dafür zu werben, dass eine solche Politik in Deutschland zur realen Praxis wird. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon“ bekannt: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben gestimmt 484, mit Nein haben gestimmt 80, Enthaltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 571; davon ja: 484 nein: 80 enthalten: 7 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Michael Glos olms Josef Göppel Peter Götz Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({8}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({9}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({10}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({11}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({12}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({13}) Anita Schäfer ({14}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt ({15}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({16}) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({17}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({18}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({19}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({20}) Peter Weiß ({21}) Sabine Weiss ({22}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Gerd Bollmann Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({23}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Günter Gloser Angelika Graf ({24}) Kerstin Griese Michael Groschek Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Hubertus Heil ({25}) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Frank Hofmann ({26}) Christel Humme Josip Juratovic Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({27}) Fritz Rudolf Körper Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({28}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Petra Merkel ({29}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({30}) Michael Roth ({31}) olms ({32}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({33}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({34}) Werner Schieder ({35}) Ulla Schmidt ({36}) Silvia Schmidt ({37}) Carsten Schneider ({38}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({39}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Tack Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({40}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Heinz Golombeck Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({41}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({42}) Michael Link ({43}) Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({44}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({45}) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Stefan Ruppert Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel ({46}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({47}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({48}) Volker Beck ({49}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({50}) Ingrid Hönlinger Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Ute Koczy Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Markus Kurth Undine Kurth ({51}) Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Kerstin Müller ({52}) Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({53}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Nein SPD Klaus Barthel Willi Brase Michael Groß Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({54}) Hilde Mattheis Rüdiger Veit Waltraud Wolff ({55}) FDP Dr. h. c. Jürgen Koppelin DIE LINKE Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel olms Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Wolfgang Nešković Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({56}) Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Uwe Kekeritz Monika Lazar Till Seiler Dr. Harald Terpe Enthalten FDP Helga Daub Joachim Günther ({57}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Dr. Anton Hofreiter Beate Müller-Gemmeke Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Jetzt kommen wir zum nächsten Redner. Das ist der Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion. ({58})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich schließe an das an, was der Kollege Strässer am Schluss angesprochen hat, nämlich das Thema „menschenrechtliche Unternehmensverantwortung in Entwicklungsländern“. Das fällt nicht nur in meine Zuständigkeit, sondern es ist vor allem eine Herzensangelegenheit von mir. Ich bin der Auffassung, dass positive Veränderungen zu einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtssituation in den Entwicklungsländern führen können. Das bedeutet natürlich umgekehrt auch, dass es hier viel Nachholbedarf gibt. Wichtig bei der Unternehmensverantwortung ist, dass sowohl die Unternehmen und deren Organisationen als auch die nationale und die internationale Politik sich dieses Themas annehmen müssen. Aber auch der Verbraucher kann ganz aktiv mit seinen Kaufentscheidungen eingreifen. Die Medien sind ebenfalls entscheidend, die Missstände vor Ort aufdecken und Verbraucher informieren sollten. Das gab es in der Vergangenheit häufiger. Sie können die Widersprüche zwischen der Selbstdarstellung der Unternehmen und der Wirklichkeit in den Produktionsländern aufdecken. Es ist eine Konsequenz der globalisierten Welt, dass Produkte für unseren Markt weit entfernt produziert werden, vor allem in Staaten mit einem niedrigen Lohnniveau; das ist völlig legitim. Problematisch ist, dass Arbeits-, Sicherheits- und Umweltstandards in den Entwicklungsländern ein ganz anderes Niveau haben und teilweise nur in der Theorie den Vorstellungen, die wir von ihnen haben, entsprechen. Deshalb ist es eine notwendige Folge der Globalisierung, dass wir den auf dem deutschen Markt arbeitenden Unternehmen in die Produktionsländer folgen. Unzumutbare Bedingungen, die diese Unternehmen dort verantworten, dürfen wir nicht hinnehmen. Die Möglichkeiten, hier Verbesserungen zu schaffen, sind sehr vielfältig. Ich möchte zunächst einmal die Eigenverantwortung der Unternehmen nennen. Ein geändertes gesellschaftliches Bewusstsein, aber auch eigene Erkenntnisse haben zu CorporateSocial-Responsibility-Aktivitäten vieler Unternehmen geführt, bei manchen eher als Feigenblatt, bei anderen als echter Bestandteil der Firmenphilosophie. Zu denen, für die das Teil der Firmenphilosophie ist, gehört die Otto AG mit Sitz in meinem Wahlkreis, deren Engagement vor wenigen Tagen durch die Verleihung des Walter-Scheel-Preises an Dr. Michael Otto gewürdigt worden ist. Das zeigt, dass sich Aktivitäten im sogenannten Social Business für Unternehmen zumindest langfristig auszahlen. Ich glaube, dass die Firmen, die nur auf Quartalszahlen schauen, eine gesellschaftliche Entwicklung verschlafen, was sie in der Zukunft teuer zu stehen kommen kann. ({0}) Gleichwohl gibt es natürlich Unternehmen, die zum Beispiel Textilien in Bangladesch unter Bedingungen herstellen lassen, die nicht einmal die Mindestanforderungen an Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllen. Wir wollen hier nicht auf Einsicht warten, sondern wir müssen aktiv für Veränderungen eintreten. Die stärkste Waffe wäre ein Verbraucherboykott; aber das ist eigentlich nur das letzte Mittel. Grundsätzlich setze ich mich für bessere Verbraucherinformationen ein, damit der Verbraucher ein Bewusstsein für die Herstellungsbedingungen eines Produktes entwickeln kann. Das kann zum Beispiel bei der Textilproduktion durch ein zumindest EU-weites Label mit dem Titel „Socially made“ geschehen. Das heißt, der Verbraucher kann nachvollziehen: Dieses T-Shirt ist unter vernünftigen sozialen Bedingungen hergestellt worden. ({1}) Für ein solches Siegel müssen Mindeststandards von Lohnniveau, Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllt sein. Wir haben ja auch Beispiele für solche Siegel. Ich denke an Bio, an MSC und Fairtrade. Unternehmen, die in den Produktionsländern diese höheren Standards erfüllen, können damit werben und den Verbraucher informieren, dass er sozial verantwortungsvoll einkauft und ökologisch nachhaltig handelt, wenn er sich für ihre Produkte entscheidet. Umgekehrt werden Unternehmen Probleme bekommen, die teure Markensachen in Deutschland verkaufen, aber in Bangladesch oder anderswo nicht einmal die Mindeststandards im sozialen Bereich erfüllen. Wir schließen damit also eine wichtige Lücke. Deshalb freue ich mich, wenn möglichst viele Kolleginnen und Kollegen auch aus den anderen Fraktionen diese Idee aufgreifen. Im Bereich der Unternehmensverantwortung ist es meist so, dass nationale Alleingänge in unserer globalisierten Welt nicht weiterführen. Wir benötigen deshalb internationale Grundlagen und Vereinbarungen, am besten unter dem Dach der Vereinten Nationen. Ich bin froh, dass es gelungen ist, UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln als einen Global Compact zu entwickeln. Wir als Union sehen uns in der Verantwortung, diese Leitlinien der Vereinten Nationen zu unterstützen. Aktuell macht das auch die OECD. Wir machen das, indem wir zum Beispiel den Global Compact aus dem Etat des Entwicklungsministeriums mit 250 000 Euro unterstützen. Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Anmerkungen zu Ihrem Antrag machen, Herr Strässer. Sanktionsbewehrte Menschenrechtsklauseln in Freihandelsabkommen der EU haben Sie, als Sie noch in der Regierung waren, immer abgelehnt. ({2}) Jetzt fordern Sie diese. Welch wundersamer Gesinnungswandel! Im Übrigen ist die Erfüllung dieser Forderung bereits auf einem guten Wege. Zweitens wollen Sie alle Unternehmen auf die Einhaltung der Menschenrechte in allen Tochter- und Zulieferunternehmen verpflichten. Ich halte das für ein bisschen blauäugig. Wie wollen Sie diese Forderung vor allen Dingen in den Entwicklungsländern durchsetzen und ganz konkret erfüllen? Ich glaube, das ist sehr schwierig, wenn auch der Anspruch sicherlich sinnvoll ist. Festzuhalten ist, dass wir gemeinsam die UN-Leitlinien als zielführende Strategie zur Verbesserung der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen ansehen. Ich glaube, darauf gilt es in Zukunft aufzubauen. Danke sehr. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Annette Groth von der Fraktion Die Linke. ({0})

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich schließe mich dem Herrn Kollegen Klimke an und möchte in erster Linie über die oft menschenrechtsverletzenden Praktiken von Unternehmen sprechen; etliche Beispiele haben Sie schon benannt. Durch die Liberalisierung des Welthandels ist die Macht der internationalen Konzerne immer weiter angewachsen; das bestreitet niemand mehr. Viele der großen börsennotierten transnationalen Konzerne erzielen Jahresumsätze, die das Bruttoinlandsprodukt mittelgroßer Staaten deutlich überschreiten. Aufgrund ihrer Marktmacht diktieren Unternehmen den Zulieferbetrieben in den verschiedenen Regionen der Welt ihre Forderungen. Mit der Drohung, Arbeitsplätze zu verlagern, setzen sie gegenüber den Staaten ihre Profitinteressen durch. Umwelt- und Sozialstandards sowie Menschenrechte spielen dabei leider keine Rolle. Die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung verfügen heute über mehr als 70 Prozent des globalen Reichtums. Fast 80 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu elementarem sozialen Schutz. Juan Somavia, der Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO, betonte kürzlich, dass das Vertrauen der Menschen in Politik und Wirtschaft einen historischen Tiefststand erreicht habe. Die Fraktion Die Linke fordert seit vielen Jahren verbindliche und konkrete Mindeststandards für international arbeitende Konzerne. ({0}) Wenn das nicht gelingt, wird sich die Situation der Armen noch weiter verschlechtern. Beispiel Kakao. Weltweit bauen rund 5,5 Millionen Kleinbauern Kakao an; er ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Schokolade. Unsichere Einkommen, schlechte Arbeitsbedingungen sowie Kinderarbeit sind in diesem Sektor weit verbreitet. In der Elfenbeinküste arbeiteten im Jahr 2009 rund 820 000 Kinder in der Kakaobranche ein Skandal. ({1}) In den Anbauregionen der Elfenbeinküste haben 72 Prozent der Dörfer keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung, 53 Prozent keinen Stromanschluss und lediglich 40 Prozent einen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Weltweit hungert inzwischen mehr als 1 Milliarde Menschen. Wenn die Politik nicht umgehend handelt, werden die Nahrungsmittelpreise weiter steigen. Von diesen Preissteigerungen werden einige wenige Agrokonzerne wie Cargill, Bunge, ADM und Dreyfus in groAnnette Groth ßem Maßstab profitieren. Diese vier Konzerne kontrollieren 73 Prozent des Weltgetreidehandels und haben damit eine unglaubliche Macht über unsere Lebensmittel und Nahrung. Auch die Förderung der Agrospritindustrie, die Milliardensubventionen bekommt, um Nahrungsmittel in Tankfüllungen zu verwandeln, trägt massiv zur Verschlechterung der Lage der Ärmsten bei. Die Agrarkonzerne kontrollieren die Lieferketten und beherrschen die Märkte; auch Sie haben darauf hingewiesen. Gleichzeitig zocken Finanzspekulanten mit Nahrungsmitteln, um schnell Kasse zu machen. Auch die Spekulationen sind für steigende Lebensmittelpreise verantwortlich. Sie stellen damit einen Angriff auf eines der grundlegenden Menschenrechte dar: auf das Recht, sich selbstständig und angemessen ernähren zu können. Diesem unerträglichen Treiben muss durch verbindliche Regeln ein Ende gemacht werden. ({2}) Ich fürchte nur, dass die allseits bekannten und zitierten UN-Leitlinien nicht dazu beitragen werden, die menschenrechtsverletzenden Praktiken der transnationalen Konzerne einzudämmen. In diesem Zusammenhang möchte ich Oxfam zitieren: Die Politik hat auf diesem Feld im Großen und Ganzen versagt. Die meisten Regierungen sahen untätig zu, wie die großen Agrarkonzerne immer mehr Einfluss gewannen und die Landwirtschaftspolitik zunehmend mitgestalteten. Die Regierungen haben Wirtschaftsinteressen Vorschub geleistet und den Missbrauch öffentlicher Mittel für private Zwecke zugelassen. Es wurde darauf verzichtet, effektive Regeln zur Kontrolle der mächtigen Unternehmen zu beschließen. Deshalb wollen wir verbindliche, effektive Regeln, die in einem international gültigen völkerrechtlichen Vertrag festgeschrieben werden müssen. Konzerne, die diese Regeln brechen, müssen dafür zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Marina Schuster von der FDP-Fraktion. ({0})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion hat heute zwei unterschiedliche Anträge vorgelegt. Ich würde gerne noch einmal auf den ersten Antrag eingehen, nämlich auf den Menschenrechtsrat als solchen. Wir sind als Mitglieder des Menschenrechtsausschusses einmal im Jahr in Genf und führen dort Gespräche. Bei der letzten Sitzung des Menschenrechtsrates haben wir uns natürlich auch über den Stand der Reform des sogenannten Review-Prozesses informiert. Insofern müssen wir bezogen auf die bisherigen Ergebnisse auch einmal Bilanz ziehen: Es gibt Erfolge, aber leider auch Rückschläge. Zum einen ist es nicht gelungen, gute Vorschläge, die auch vonseiten der NGOs kamen, einzubauen; andererseits konnte verhindert werden, dass zum Beispiel das Mandat der Sonderberichterstatter abgeschwächt wird. Insofern liegen jetzt viele Hoffnungen auf der Generalversammlung in New York. Ich bin sehr froh, dass sich die Bundesregierung sowohl in Genf als auch in New York aktiv einbringt, um das Ergebnis des Review-Prozesses zu verbessern; denn wir sind ein großer Unterstützer, und es ist wichtig, dass wir andere Staaten finden, die sich diesem Reformprozess anschließen. Der Reformprozess darf nicht stoppen. Es gibt noch einiges, was an der Struktur des Menschenrechtsrates verbessert werden kann, zum Beispiel die Glaubwürdigkeit. Sie steht und fällt damit, wie schnell und effektiv der Menschenrechtsrat auf schwere Menschenrechtsverletzungen reagiert. Da gibt es gute Beispiele, wie im Fall von Libyen. Der Ausschluss Libyens ist gelungen, weil der libysche Botschafter vor Ort aktiv daran mitgewirkt hat und es hier zu einer klaren Stellungnahme des Menschenrechtsrates kam. Es gibt aber auch schlechte Beispiele - Herr Strässer hat es erwähnt - wie Darfur und Sri Lanka. Hier blieben die Debatten aus, und eindeutige Resolutionen kamen nicht zustande. ({0}) Das Problem ist, dass wir feststellen müssen, dass Blockbildungen, die regionale Zugehörigkeit, aber auch nationale Interessen manchmal mehr zählen als die Grundsätze der Universalität der Menschenrechte. Oft wird verhindert, dass zu humanitären Katastrophen Stellung genommen wird. Dafür sind andere Themen ständig auf der Tagesordnung. Ich möchte nur ein Beispiel nennen, nämlich den Nahostkonflikt. Ich möchte nur eine Zahl zur Veranschaulichung nennen: Im Jahr 2007 hat sich der Menschenrechtsrat 120-mal mit der Situation in Nahost beschäftigt. Aber keine der Resolutionen beinhaltete kritische Stellungnahmen zu den Menschenrechtsverletzungen der Palästinenser; es waren ausschließlich israelkritische Stellungnahmen. Insofern können wir mit dieser Bilanz des Menschenrechtsrates nicht zufrieden sein. ({1}) Illusionen dürfen wir uns bei der Frage, wie wir dort Verbesserungen durchsetzen können, nicht hingeben. Herr Strässer hat Manfred Nowak zitiert. Die Mehrheitsverhältnisse im Menschenrechtsrat sind, wie sie sind. Leider wurde durch die Wahl der Demokratischen Republik Kongo in den Menschenrechtsrat die Position verfestigt, dass die Staaten in der Mehrheit sind, die bei der Menschenrechtsbilanz fragwürdige Ergebnisse abliefern. Ich denke, dass wir uns bei der Problemanalyse einig sind. Es gilt weiter konstruktiv daran zu arbeiten und in New York viel zu erreichen. Ein Anliegen möchte ich ganz besonders herausstellen: Wir dürfen nicht zulassen, dass der Menschenrechtsrat instrumentalisiert wird ({2}) gerade von Staaten wie China, Kuba oder Russland. Auch die OECD ist hier genannt worden. Insofern gilt es lange zu bohren und Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir unterstützen die laufende Kandidatur Deutschlands für eine Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat, damit wir den Reformprozess vor Ort beflügeln können. Nun zum zweiten Antrag, der sich mit der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt. Zu diesem Thema gab es eine Anhörung und eine Reise in den Ostkongo und nach Ruanda. Man kann sicherlich sagen, dass sich John Ruggie um die Weiterentwicklung der Menschenrechtsstandards für Unternehmen verdient gemacht hat. Ich freue mich, dass die Guiding Principles die bisherigen Regelungen, die es bei der UN über den Global Compact, aber auch bei der OECD gibt, gut zusammenfassen. Gerade beim Thema OECD-Leitsätze sind zwei große Erfolge gelungen: zum Ersten die Aufnahme eines eigenen Menschenrechtskapitels und zum Zweiten die Tatsache, dass auch die Zulieferkette einbezogen wird. Es muss jetzt vor allem darum gehen, dass wir mehr und mehr Staaten und Unternehmen für die OECD-Leitsätze gewinnen. Schwellenländer sind dringend gefordert, sich den OECD-Leitsätzen anzuschließen. In dieser Richtung arbeiten wir konsequent. Das ist ein Anliegen der Bundesregierung, aber auch der deutschen Wirtschaft; denn unser Ziel muss sein, dass Menschenrechtsstandards weltweit Geltung erhalten. Diesen Weg werden wir konsequent weitergehen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu beiden Anträgen etwas sagen. Der Menschenrechtsrat verdient eine wahrheitsgetreue Würdigung, aber die Wahrheit sieht leider nicht sehr gut aus. Das Problem ist Folgendes: In Genf müssen sich Staaten, in denen es um die Menschenrechte schlecht bestellt ist, sozusagen selber am Kragen aus dem Sumpf ziehen, weil die Mehrheit dieser Staaten kein ehrliches Interesse an der Verbesserung der Menschenrechtslage hat. Manche haben ein Interesse daran, die Menschenrechtssituation in bestimmten Ländern in der außenpolitischen Argumentation als Instrument zu nutzen. Das sieht man zum Beispiel am Standing Point zu Palästina, der völlig unangemessen ist. Dort gibt es zwar viele Menschenrechtsverletzungen; aber wer Palästina bei jeder Sitzung auf der Agenda hat und es gleichzeitig nicht einmal schafft, eine Sondersitzung zum Völkermord in Darfur hinzubekommen, der zeigt, dass er einen einseitigen Fokus hat. Das ist das Dilemma, das wir beschreiben müssen. Das beschreibt aber auch die Aufgabe der deutschen und der europäischen Außenpolitik. Wir müssen mehr daran arbeiten, die Blockbildung aufzubrechen, und Ländern politisch und in der Kooperation etwas anbieten, wenn sie sich in Genf stärker an den Prinzipien der Menschenrechtspakte - die sie aus außenpolitischen Gründen unterschrieben haben - orientieren, statt sich im Block gegenseitig zu schützen. In Genf war interessant, zu beobachten - Frau Schuster hat unsere Reise erwähnt -, dass der ehemalige Büroleiter von Mubarak nach der demokratischen Revolution in Ägypten immer noch die Politik der Unabhängigen koordinierte, die eine Politik gegen eine echte Menschenrechtsanalyse in vielen Ländern verfolgen. Man stellt sich vor die Schurkenstaaten und redet das Ganze schön. Das verhindert, dass etwas passiert. Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, da der Herr Außenminister anwesend ist. Demnächst wird der Papst an diesem Pult stehen. Ich habe nicht verstanden, was uns der Vertreter des Vatikans bei der Menschenrechtsratssitzung zur Verurteilung der Gewalt gegen Lesben und Schwule sagen wollte. Nachdem mühsam eine Mehrheit dafür zustande gebracht wurde, die Gewalttaten zu verurteilen, sagte er, Schwule und Lesben würden Leute attackieren, die eine andere moralische und ethische Auffassung haben als sie. Ich bitte, noch einmal nachzufragen; denn das hat mich sehr irritiert. Diese Frage hätte ich gerne geklärt, bevor der Papst hier im Bundestag zu uns spricht. ({0}) Im Antrag der SPD für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln ist das Thema Ruggie-Prozess ein wichtiger Ansatzpunkt. Es werden wesentliche Forderungen unseres Antrags aus der letzten Wahlperiode aufgegriffen. So begrenzt der zentrale Gedanke im Ruggie-Prozess ist, auf die Corporate Social Responsibility zu setzen, obwohl sehr gut ausdefiniert wird, was das für Unternehmen heißt, sollte man in diesem Report nicht überlesen, dass Ruggie in Kapitel 26 seines Berichtes die Mitgliedstaaten ausdrücklich auffordert, in der nationalen Gesetzgebung darauf zu achten, Opfern von Menschenrechtsverletzungen das Recht auf Entschädigung einzuräumen. Er überlässt es den Mitgliedstaaten, die jeweiligen Defizite aufzuarbeiten. Da gibt es auch im deutschen Recht eine ganze Menge zu tun. Der Ansatz der SPD, den wir teilen, dass man auch Mutter- oder Tochtergesellschaften einbeziehen muss, ist richtig, weil die Firmen oft anders nicht zu fassen sind. Wir hatten dazu im Rechtsausschuss eine Anhörung. Die Vertreterin von Amnesty International, Katharina Spieß, hat am Fall Bhopal gezeigt, wie wenig die bisherigen Mechanismen greifen. Wenn ein Unternehmen auf eine solche Katastrophe, bei der Tausende von Menschen geVolker Beck ({1}) sundheitlich geschädigt wurden, damit reagiert, dass es diesen Unternehmensteil verkauft und sich so aus der rechtlichen Haftung stiehlt, dann ist klar, dass wir bessere rechtliche Instrumentarien brauchen. Wir können hier nicht nur auf das Prinzip Freiwilligkeit, CSR und OECD-Leitlinien setzen, sondern wir brauchen ein Instrumentarium, das den Managern von Unternehmen deutlich macht, dass sich Menschenrechtsverletzungen am Ende betriebswirtschaftlich nicht lohnen. Ansonsten ist es in dem Kalkül multinationaler Konzerne angelegt, zur Gewinnmaximierung - das kann man ihnen nur begrenzt vorwerfen - darauf zu setzen, ein Auge zuzudrücken oder sich sogar aktiv an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen, weil sie dann ihre Rohstoffe oder Halbfertigprodukte zu niedrigeren Preisen einkaufen können. Das dürfen wir nicht zulassen, sonst benachteiligen wir die Unternehmen im Wettbewerb, die sich daran zu Recht aus ethischen Gründen nicht beteiligen wollen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche nur zum Menschenrechtsrat, da sich der Kollege Klimke für die Union bereits zur menschenrechtlichen Verantwortung in den Unternehmen geäußert hat. Die Debattenbeiträge haben gezeigt, dass wir uns bei der Beurteilung der Arbeitsweise des Menschenrechtsrates einig sind und leider vieles zu beklagen ist. Die Debatte hier im Haus ist sicherlich sehr sinnvoll. Dies allerdings mit einem Antrag zu verbinden, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, aktiv zu werden, ist - das hat auch die Ausschussberatung gezeigt - völlig überflüssig, weil wir uns sehr einig sind. Die Bundesregierung ist hinsichtlich der Arbeit des Menschenrechtsrates sehr aktiv. Unser Außenminister war auch in diesem Jahr beim Menschenrechtsrat. Auch der Menschenrechtsausschuss war vor Ort. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, war in Genf. Auch viele Kollegen hier sind nicht zum ersten Mal bei den Sitzungen dabei gewesen. Wir können feststellen: Unser Engagement ist gut. Wir haben das, was im Menschenrechtsrat geschieht, zu kontrollieren und zu kritisieren. Er ist eine Neuorganisation der Menschenrechtskommission, die ausgesprochen schlecht gearbeitet hat. Das heißt nicht, dass es jetzt viel besser ist; aber wir sind auf einem guten Weg. Das sollten wir kritisch begleiten. Der Review-Prozess war bei unserem diesjährigen Besuch wie auch im Jahr zuvor ein zentrales Thema. Wir haben eine Reihe von Gesprächen im Rat, aber auch am Rande geführt. Im letzten Jahr haben wir mit der Hochkommissarin für Menschenrechte darüber diskutiert, wie der Review im nächsten Jahr, also in diesem Jahr, aussehen soll. Wir haben in diesem Jahr mit dem Präsidenten des Menschenrechtsrates gesprochen. Als wir nach Genf gefahren sind, hatten wir die große Hoffnung, dass das, was auf der Agenda der Bundesregierung, aber auch auf unserer Agenda gestanden hat, zumindest in wichtigen Teilen umgesetzt wird. Leider wurden wir enttäuscht. Die Worte des Präsidenten des Menschenrechtsrates waren - die Kollegen, die dabei waren, erinnern sich -: Der Prozess war schwierig und mitunter auch frustrierend. Wir waren dann auch sehr frustriert, als wir gehört haben, was erreicht bzw. was nicht erreicht werden konnte. In drei Monaten Debatte gab es keine Annäherung der Blöcke des Westens auf der einen Seite und des politischen Südens, wenn man ihn so bezeichnen kann, auf der anderen Seite. Es gab einige Verbesserungen auf Nebenschauplätzen. Aber die zentralen Punkte konnten nicht durchgesetzt werden, was sicherlich auch daran liegt, dass das Konsensprinzip gilt und die Mehrheitsverhältnisse eben so sind, wie sie hier schon beschrieben wurden. Bei nüchterner Betrachtung kann man, glaube ich, sagen, dass der Status quo dennoch akzeptabel ist. Die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter, die uns ganz wichtig war, wurde angesprochen. Wir hätten lieber eine Stärkung gehabt. Auch hätten wir eine Stärkung der Arbeit der Hochkommissarin für wünschenswert gehalten. Beides konnte nicht durchgesetzt werden. Andererseits konnte eine Schwächung der Position verhindern werden. Insofern können wir zufrieden sein. Ein Anliegen im Antrag der SPD betrifft den ReviewProzess. Es geht auch um das Staatenüberprüfungs- und UPR-Verfahren. Im Rahmen der zweiten Runde des UPR-Prozesses, der 2012 beginnt, muss in den Staatenberichten auch in Bezug auf folgende Fragen - darauf wird der Fokus zu richten sein - Auskunft gegeben werden: Was ist in der ersten Runde berichtet worden? Welche Hausaufgaben sollten daraufhin gemacht werden? Wurde das in den Staaten auch auf den Weg gebracht? Das ist, denke ich, ein ganz wichtiger Punkt. Es war auch ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung, dass das Verfahren auf einen guten Weg kommt. Damit könnten wir jetzt zufrieden sein. Ein Manko ist, dass aktuelle Themen nicht so ohne Weiteres auf die Tagesordnung gesetzt werden können; Kollege Strässer hat als Beispiel Sri Lanka angesprochen. Der Westen wird das - bei 11 von 47 Stimmen aus eigener Kraft nicht schaffen. Wir müssen also Verbündete suchen. Es geschieht relativ selten, dass wir dabei erfolgreich sind. Wir müssen die Regionalblöcke aufbrechen. Bei Sachthemen geht das auch. Ich denke da an die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Philippinen beim Thema Menschenhandel. Wir müssen versuchen, langsam und in kleinen Schritten diese Blöcke aufzubrechen, um im Sinne der Menschenrechte zu guten Ergebnissen zu kommen. Bei Libyen hat das geklappt; wir haben es gesehen. Ich denke, das war nur deshalb so, weil sich auch der libysche Botschafter auf die Seite derer gestellt hat, die die Situation in Libyen angeprangert haben. Wir waren live dabei und später sehr guten Mutes, dass sich das vielleicht auch im Hinblick auf die Situation Syriens fortsetzen wird. Aber dieser Prozess war leider nicht erfolgreich. Das einzig Positive ist: Damals dachten wir, dass Syrien demnächst einen Sitz im Rat haben wird. Das ist nicht geschehen. Syrien hat Gott sei Dank zurückgezogen. Dafür ist Kuwait in den Rat eingezogen. Im Hinblick auf die Statusfrage war Einvernehmen erzielt worden, dass der Menschenrechtsrat ein Nebenorgan der Vereinten Nationen bleiben wird. Unser Anliegen ist aber, dass die Beziehungen zwischen dem Menschenrechtsrat und dem UN-Sicherheitsrat verstärkt werden. Es ist ein großer Wunsch von uns, dass die Bundesregierung, die dieses Verfahren jetzt in New York weiter begleitet, dies vielleicht noch mit auf den Weg nimmt. Die Resolution ist in New York - mit dem kleinen Konsens, der erzielt wurde, aber auch mit allen Punkten, die strittig waren - vorgelegt worden. Sie ist also bekannt. Wir schauen, ob wir da vielleicht noch das eine oder andere erreichen können. Die Bundeskanzlerin hat auf dem Kirchentag darauf gepocht, dass eine Reform des UN-Sicherheitsrates dringend auf den Weg gebracht werden muss. Vielleicht ist das auch noch einmal ein Anschub, über das Verfahren bzw. die Arbeitsweise des Menschenrechtsrates nachzudenken, um bei den Menschenrechten auf einen besseren Weg zu kommen. Insgesamt sind wir uns in diesem Punkt, was den Menschenrechtsrat angeht, im Ausschuss, aber auch hier im Plenum sehr einig. Unsere Anliegen und Ziele sind auch die der Bundesregierung. In diesem Sinne sollten wir die Arbeit weiter begleiten. Ich denke, dass das bei diesem Thema möglich sein wird. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/6087 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6078, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5482 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen sowie Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({2}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({3}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksachen 17/5706, 17/6135 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/6136 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion das Wort. ({6})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir es mit einer EU-Perspektive für den gesamten Westbalkan ernst meinen, dann ist es unerlässlich, dass wir uns weiterhin im Kosovo engagieren. Dabei sind die Erfordernisse an die Präsenz von Truppen in den letzten Jahren zurückgegangen. Wir werden auch diesmal die Obergrenze reduzieren, und zwar von 2 500 auf 1 850 Soldaten. Von den geplanten 5 500 Soldaten von KFOR insgesamt werden wir 900 Soldatinnen und Soldaten stellen. Frau Kollegin Evers-Meyer ist nicht anwesend. Deshalb bitte ich, ihr auszurichten, dass Deutschland dort den Kommandeur stellt und damit in dieser Mission die Lead-Funktion hat. Auch stellen wir bis August dieses Jahres den Leiter der EULEX-Polizeimission. Dass wir uns, wie sie es in Bezug auf den UNIFIL-Einsatz gesagt hat, bei diesen Einsätzen zurückhalten, was die LeadFunktion angeht, stimmt also zumindest in diesem Fall nicht. Es ist ein sehr erfolgreicher Einsatz. ({0}) Im Übrigen darf darauf hingewiesen werden, dass weiterhin in einigen Regionen des Kosovo - Stichwort „Mitrovica und Umgebung“ - ein Eskalationspotenzial vorhanden ist. Insofern sind die Forderungen unbegründet, die wahrscheinlich wieder gebetsmühlenartig von den Linken kommen werden, das Militär an dieser Stelle abzuziehen, weil es nicht mehr nötig ist. ({1}) - Wenn Sie sagen: „Das war es nie“, dann kann ich nur sagen: So blind kann man in den 90er-Jahren nicht gewesen sein, um nicht zu wissen, dass dort Truppen zur Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen notwendig gewesen waren. ({2}) Es sei denn, man ist ideologisch verblendet. Dann war man vielleicht so blind. Im Übrigen ist dieser Einsatz ein Beispiel für die gelungene Verbindung von militärischen und zivilen Maßnahmen, also für den gelungenen vernetzten Ansatz. Ich habe eben schon erwähnt, dass die Europäische Union dort mit der EULEX-Mission präsent ist. Diese Mission hilft, einen Rechtsstaat mit all seinen Komponenten aufzubauen, sowohl was die Polizeimission als auch den Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und der Rechtsprechung angeht. Insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ist mit erheblichem Potenzial vertreten. Über 100 deutsche Experten aus dem Bereich der Justiz sind dort tätig, ebenso wie Polizeibeamte und andere Kräfte. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist seit Ende der 90er-Jahre dort aktiv, und zwar mit insgesamt 370 Millionen Euro seit 1999. Sie sehen also: Hier geht unter dem Schutz unserer Militärstreitkräfte parallel der zivile Aufbau der Gesellschaft voran. Ich will bei dieser Gelegenheit auf einen allgemeinen Punkt aufmerksam machen. Gerade an dem erfolgreichen Beispiel der Mission im Kosovo zeigt sich die Notwendigkeit, dass wir bei den von mir genannten Kräften wie Polizei, Verwaltungsbeamten und Justizbeamten mehr Potenzial und Kapazitäten bei uns in der Bundesrepublik Deutschland aufbauen und auch innerhalb der Europäischen Union darauf hinwirken, dass die Planziele, die dort vor Jahren vorgegeben worden sind, besser erreicht werden, als es bisher der Fall gewesen ist. Wir werden erleben, dass wir auch in anderen Teilen der Welt gefordert sein werden, und zwar nicht nur militärisch, sondern vor allem auch mit zivilem Engagement beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen, um bei der Umsetzung der Rule of Law entsprechend tätig zu werden. Wir sehen an allen Ecken und Enden, dass es an entsprechend qualifiziertem Personal mangelt. Dabei ist für die entsendenden Institutionen in Deutschland, also die Länderjustiz und die Länderpolizei, vorzusehen, dass die dort fehlenden Kräfte durch geeignete Kräfte ersetzt werden. Ich denke, wir alle haben in diesem Punkt eine gewaltige Aufgabe vor uns. Gerade das gelungene Beispiel des Kosovo zeigt, dass es sich lohnt, diese Kapazitäten aufzubauen und zum Teil vorzuhalten. ({3}) Ich sage zum Abschluss gegen die wahrscheinlich nachher von der Linken kommende Unterstellung der Militarisierung der Politik: Wer nicht erkennt, dass unter dem Schutz der Bundeswehr und der Alliierten, die dort präsent sind, eine Aufbauarbeit für dauerhafte Stabilität und einen dauerhaften Staatsaufbau mit der Perspektive eines Beitritts auch dieser Region zur Europäischen Union geleistet wird, der muss ideologisch verblendet sein. Wir stehen zu diesem Einsatz, weil er in seiner Gesamtheit und in der Verbindung mit EULEX sinnvoll ist, und bitten um Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandats. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen mitteilen, dass auf der Tribüne der Außenminister des Kosovo, Enver Hoxhaj, in Begleitung des Botschafters Dr. Vilson Mirdita Platz genommen hat. Herr Minister, wir freuen uns, dass Sie die Gelegenheit nutzen, bei dieser Debatte hier im Deutschen Bundestag dabei zu sein. Vielen Dank! ({0}) Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion. ({1})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn von anfangs 55 000 NATO-Soldatinnen und -Soldaten nunmehr nur noch rund 5 000 im Kosovo im Einsatz sind, stellen wir fest, dass der KFOR-Einsatz weiterhin erforderlich ist. Er bleibt deshalb erforderlich, weil wir ein stabiles Umfeld im Kosovo brauchen, damit dort Sicherheit erreicht wird, aber auch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte weiterentwickelt werden können. Das ist nicht nur für die Freiheit und Unversehrtheit aller Bürgerinnen und Bürger im Kosovo notwendig, sondern diese Stabilität ist auch Voraussetzung, damit das Kosovo eine Perspektive hat und den Weg hin zu einer EU-Mitgliedschaft weiter konstruktiv gehen kann. Wie weit dieser Weg ist, zeigen die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission. In manchen Bereichen gibt es Fortschritte; aber gerade in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gibt es keine oder nur sehr geringe Fortschritte. Deshalb muss es für uns darauf ankommen, gemeinsam Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Kräfte im Kosovo unterstüt13090 zen, die dort Reformen angehen wollen und die den Weg in Richtung Ausbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehen. Ich sage sehr deutlich: Damit diese Kräfte gestärkt werden, muss das Engagement der Bundesrepublik Deutschland, aber auch das Engagement der Europäischen Union im Kosovo und in der gesamten Region ausgebaut und gestärkt werden. Es muss klar sein, dass das Versprechen von Thessaloniki steht: Die Staaten in der Region, die den mühsamen Weg der Reformen erfolgreich gehen, müssen sich darauf verlassen können, dass sie am Ende dieses Weges die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union haben. ({0}) Deshalb brauchen wir deutliche Signale - wir haben die Argumente schon in anderen Debatten miteinander ausgetauscht - aus der EU, aber auch aus wichtigen Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland, dass nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union nicht Schluss ist mit den Anstrengungen vonseiten der Europäischen Union, die Beitrittsperspektive für die Staaten offenzuhalten, die die Kriterien erfüllen. Nach den Fortschritten, die wir in Serbien erleben können, muss es jetzt auch ein klares Signal gegenüber diesem Land geben, dass sich die dortigen Reformpolitiker - nicht nur Präsident Tadic - darauf verlassen können, dass die Europäische Union ihr Engagement, Serbien auf dem Weg in die EU zu begleiten, ausbaut. Gerade nach dem Erfolg der Verhaftung des Kriegsverbrechers Mladic müssen diejenigen in Serbien, die dafür verantwortlich sind, wissen, dass das aufseiten der Europäischen Union honoriert wird. Das, was unter dem konservativen Präsidenten Kostunica nicht möglich war, ist jetzt unter Präsident Tadic gelungen. Ich finde, er verdient dafür unsere Anerkennung und unsere Unterstützung. ({1}) Wenn wir in dieser Region glaubwürdig bleiben wollen, ist außerdem wichtig, dass wir alle Staaten dort fair behandeln. Das heißt, dass zum Beispiel in der Frage der Visaliberalisierung auch für das Kosovo weiterhin gelten muss: Wenn ein Staat die Bedingungen, die wir entwickelt haben, um die Teilnahme an einem liberaleren Visaregime zu ermöglichen, erfüllt, dann müssen wir darauf angemessen reagieren, und es darf nicht aus politischen Gründen oder Opportunitätsgründen Möglichkeiten erster und zweiter Klasse geben, die Visaliberalisierung zu erlangen. Das wäre kontraproduktiv, und das würde die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union aushöhlen. Ein weiterer Punkt, den ich für sehr wichtig halte - das ist vom Kollegen Spatz schon gesagt worden -: Wir müssen unser Engagement in der Zivilgesellschaft verstärken. Nur wenn es gelingt, tragfähige zivilgesellschaftliche Strukturen zu schaffen - nicht nur im Kosovo -, können die Reformprozesse mehr Dynamik bekommen und unumkehrbar werden. Außerdem ist aus meiner Sicht sehr wichtig, dass wir das Monitoring ausbauen. Trotz der Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission habe ich manchmal das Gefühl, wir müssten noch etwas genauer schauen, ob es Fortschritte gibt, zum Beispiel bei den Bürgerrechten. Die Europäische Union muss sich stärker engagieren, wenn wir feststellen, dass Konflikte in der Region zu eskalieren drohen. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass die Europäische Union deutlichere Signale aussendet, etwa dass die Art und Weise, wie die Regierung Berisha in Albanien mit der Opposition umgeht, von uns nicht toleriert wird und dass wir dazu nicht schweigen. ({2}) Klar ist: Das Kosovo muss den Weg zu Reformen, zu einer freiheitlichen Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit selbst gehen und gehen wollen. Dazu bedarf es auch des Vorbilds der politischen und ökonomischen Eliten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass da noch einiges verbesserungswürdig ist. Gerade die jungen Menschen im Kosovo - das Kosovo hat eine der jüngsten Gesellschaften in Europa - brauchen eine Perspektive. Gesellschaften mit zahlreichen jungen Menschen, die etwas können und etwas leisten wollen, gibt es nicht nur in Nordafrika, sondern auch in dieser Region. Es wäre fatal, wenn mangelndes Engagement der Europäischen Union dazu führte, dass die dortige junge Generation desillusioniert wird und das Gefühl hat, dass sie von uns allein gelassen wird. Im Kosovo und anderswo in dieser Region schwindet das Vertrauen, dass die Europäische Union es mit der Unterstützung beim EU-Beitritt wirklich ernst meint. Manche Menschen im Kosovo erleben KFOR durchaus als eine Art Besatzungsmacht. Angesichts dessen muss klar sein, dass die politischen Initiativen durch die Europäische Union, aber auch durch unsere Regierung im Vordergrund stehen. Die SPD unterstützt die Mandatsverlängerung. Wir verbinden das wirklich mit der Erwartung, dass die Bundesregierung und die Europäische Union ihr Engagement für das Kosovo, für die Region, für die Zivilgesellschaft, für eine Perspektive der jungen Menschen dort glaubhaft verstärken und ausbauen. Mit unserem militärischen Einsatz stehen wir in der Verantwortung für das Gelingen der Demokratie in dieser Region. Aus dieser Verantwortung können wir uns nicht wegstehlen. Wir sollten alles dafür tun, dass es durch ein verstärktes, glaubwürdiges Engagement zu einer so positiven Entwicklung kommt, dass wir das KFOR-Mandat möglichst bald beenden können. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Florian Hahn von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Genau vor einem Jahr haben wir hier über die Reduzierung der Mandatsobergrenze für KFOR von damals 3 500 Soldaten auf 2 500 abstimmen können. Der heutige Antrag sieht eine weitere Kürzung um mehr als ein Viertel auf 1 850 Soldaten vor. Diese sukzessive Reduzierung ist einmal mehr Beweis für den Erfolg unserer KFOR-Mission. Sie belegt, dass der Kurs von Anfang an gestimmt hat und unsere Strategie richtig war. Knapp 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten haben bislang in diesem Einsatz gedient. Jede und jeder Einzelne hat so einen Beitrag zur Befriedung des Kosovo geleistet. Ich möchte ihnen daher von ganzem Herzen danken und wünsche ihnen weiterhin bei ihrem Auftrag Gottes Segen. ({0}) Alle am Einsatz Beteiligten haben dazu beigetragen, dass das Kosovo auf dem Weg nach Europa ein gutes Stück vorwärtsgekommen ist und mit mehr Mut und Zuversicht in die Zukunft blicken kann. Dass hier und heute Regierungsvertreter des Kosovo unserer Plenarsitzung beiwohnen und der Debatte folgen, freut mich besonders. Es ist ein Zeichen, dass sie Interesse an einem gemeinsamen Europa und an einer guten Entwicklung in ihrem Land haben. Dafür sprechen auch andere Fakten. So wurden beim Aufbau einer funktionierenden Polizei und bei den einheimischen Sicherheitskräften im letzten Jahr nachhaltige Fortschritte erzielt, ebenso bei der Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX, an der derzeit über 100 deutsche Experten beteiligt sind. Die Funktionsfähigkeit des Konzepts der drei Sicherheitsreihen aus Kosovo-Polizei, EULEX-Bereitschaftspolizei und KFOR-Kräften hat sich dabei bewährt und ist ein richtiger Schritt auf dem Weg der sukzessiven Übergabe von Sicherheitsverantwortung. KFOR tritt mehr und mehr in den Hintergrund und kann das Handeln zunehmend den nationalen Sicherheitskräften und EULEX überlassen. Der kosovarische Sicherheitsapparat hat wiederholt bewiesen, dass er immer mehr dazu in der Lage ist, Verantwortung für die Sicherheit im Land zu übernehmen. So waren im Rahmen der letzten beiden Parlamentswahlen weder KFOR noch EULEX gefordert. Auch bei bislang fünf von neun besonders schützenswerten serbischen Denkmälern konnte die Sicherheitsverantwortung von KFOR an die kosovarischen Sicherheitsapparate abgegeben werden. Dies entlastet nicht nur KFOR, sondern es ermutigt auch die lokalen Stellen, den Weg fortzusetzen und Verantwortung für ihr Land zu übernehmen. Wie viel stabiler das Land heute schon ist, zeigt sich auch daran, dass die Wechsel an der Staatsspitze und die damit einhergehenden kurzzeitigen Phasen des Machtvakuums nicht zu einer Destabilisierung der Sicherheitslage geführt haben. Im Gegenteil: Der friedliche und gewaltfreie Ablauf unterstreicht vielmehr, dass das staatliche und sicherheitspolitische System des Kosovo sich zu festigen beginnt. Als wir damals die Entscheidung getroffen haben, einzugreifen und zu helfen, war dies nicht einfach. Wenn wir uns noch einmal die Ausgangslage vor Augen führen, kann man den heutigen Fortschritt gar nicht hoch genug bewerten. Dennoch sind für das Kosovo noch viele Hürden auf dem Weg zur Europäischen Union zu nehmen. Die größten Problemfelder sind das geringe Wirtschaftswachstum, die hohe Arbeitslosigkeit, der hohe Nettoimport sowie die anhaltende Korruption. All dies hemmt internationale Investitionen, die die Wirtschaft ankurbeln würden. Darüber hinaus schreibt beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung zu Recht, dass ein System von Checks and Balances fehlt. Parlament und Regierung stehen der Justiz fast machtlos gegenüber. Auch die Medien sind leicht beinflussbar. Die kosovarische Regierung muss hier konsequent tätig werden, damit das Land eine gute Zukunft hat. Wir helfen gern. Wir wollen ein friedliches Kosovo, und wir wollen Frieden auf dem Balkan; denn diese Region gehört zu Europa. Dafür stellen wir Soldaten zur Verfügung, Polizei im Zuge von EULEX, fördern Projekte zur interethnischen Aussöhnung sowie zur Multiethnizität im Kosovo. Dass die Förderung ankommt, können wir unter anderem daran erkennen, dass mehr und mehr Serben am politischen Leben teilnehmen. Dabei übernehmen sie demokratische Funktionen und damit Verantwortung in der Politik des Kosovo - ein wichtiger Schritt, um den multiethnischen Konflikt langsam weiter abbauen und gegenseitiges Vertrauen schaffen zu können. Um das Kosovo noch ein Stück auf dem Weg zu einem modernen und multiethnischen Staat in Europa zu begleiten, bitte ich Sie um Ihre Zustimmung für dieses Mandat. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erste Debatte zur Verlängerung des KFOR-Mandats hat sehr viel über die generelle Haltung der hier vertretenen Parteien gegenüber dem Balkan zum Ausdruck gebracht, eine Haltung, die vor Geschichtsvergessenheit und Paternalismus geradezu trieft. Da möchte ich gerade Sie, Herr Mißfelder von der CDU, ansprechen. Sie sagten, die Weigerung des serbischen Präsidenten Tadic, an einem Gipfeltreffen mit Obama und der sogenannten Präsidentin des Kosovo teilzunehmen, bedürfe „keiner Geißelung, aber des Hinweises, dass wir uns das so nicht vorstellen.“ In dieser Wendung kommt so viel Verachtung gegenüber dem serbischen Präsidenten zum Ausdruck, dass man sich schon sehr wundern muss, Herr Kollege. ({0}) Sevim Daðdelen Genau diese Haltung, Herr Kollege Mißfelder, kritisieren ich und meine Fraktion. Wir wollen keine Außenpolitik der Gewalt, der Drohungen und Androhungen. ({1}) Sie haben damit bereits genug Unheil angerichtet. Damit muss wirklich endlich einmal Schluss sein. Meine Damen und Herren, leider gehen die Äußerungen von Herrn Außenminister Westerwelle in eine ähnliche Richtung. Wiederholt behauptet er, dass der Status des Kosovo geklärt sei. Da frage ich mich ehrlich und ernsthaft: In welcher Welt leben Sie eigentlich? ({2}) Das entspricht doch einfach schlicht nicht den Tatsachen. Für Sie persönlich mag das vielleicht gelten, aber völkerrechtlich gilt das doch nicht, Herr Westerwelle. Warum verschweigen Sie, dass das Kosovo eben kein Mitglied der Vereinten Nationen ist? Ebenso gut könnten Sie behaupten, der Status von Abchasien, Südossetien oder Transnistrien sei geklärt. Die Linke fordert hier eine radikale Kehrtwende, weg von einer Außenpolitik, die einseitige Grenzveränderungen in Europa legitimiert und befördert. ({3}) Meine Kolleginnen und Kollegen, die Bundeswehr hat auf dem Balkan und auch anderswo nichts zu suchen. Sie hat dort bisher wirklich verheerend gewirkt, angefangen mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen Bombenkrieg gegen Jugoslawien ({4}) bis hin zum Zuschauen, als ein kosovo-albanischer Mob 2004 serbische Enklaven stürmte und die Häuser von Serben und Roma plünderte. Ich finde, ihre Erfolgsbilanz ist hier wirklich sehr schlimm. Deshalb bitte ich Sie, einmal nur für einen kurzen Moment innezuhalten und sich endlich diese schlimme Bilanz anzusehen. ({5}) Dazu gehört auch - das sage ich gerade meinen Kolleginnen und Kollegen von den Grünen - das absolute Versagen gegenüber dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Hashim Thaci. Sie ignorieren schlicht die Berichte des Europarates. ({6}) Ja, man kann bei Ihnen den Eindruck gewinnen, Sie würden diese Verbrechen auch noch beschweigen wollen. ({7}) Da Sie, Frau Beck, immer nach mir reden, möchte ich Ihnen im Vorhinein etwas sagen: Dass Sie versuchen, jeden, der es auch nur wagt, nach den Kriegsverbrechen der UCK zu fragen, im Stile der UCK als serbischen Nationalisten hinzustellen, ist für mich, Frau Beck, wirklich unerträglich und abstoßend. ({8}) Vor so einer Außenpolitik graust es einem ja. Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, beschweigen wir hier im Hause nicht weiter die Kriegsverbrechen der UCK. In diesem Zusammenhang ist die aktuelle Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage mit der Drucksachennummer 17/5848 sehr brisant. Sie bezeichnet die Frage nach Kriegsverbrechern als eine „innere Angelegenheit der Republik Kosovo“. ({9}) Man kann dies nur so interpretieren, dass Sie auf dem Balkan mit zweierlei Maß messen und hier bewusst wegschauen. Geben Sie sich endlich einen Ruck, und leiten Sie einen Richtungswechsel ein, um die fortgesetzte Straflosigkeit unter dem Schutz der Bundeswehr zu beenden! ({10}) Die Linke stimmt gegen die Fortsetzung des Militäreinsatzes. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, es wäre schon sehr wünschenswert, dass Ihre Kollegen einmal im Europarat auftauchen. ({0}) Wenn sie dort gewesen wären, wüssten Sie vielleicht - aber Sie könnten es auch nachlesen, wenn Sie wollten -, ({1}) dass bei der Plenardebatte über den Bericht des Kollegen Dick Marty, der übrigens meiner Fraktion angehört und der den Fragen der organisierten Kriminalität im Kosovo nachgegangen ist, ich diejenige gewesen bin, die für eine lückenlose und dringliche Aufklärung dieser Vorwürfe plädiert hat, und dass ich sogar so weit gegangen bin, vorzuschlagen, dass Ministerpräsident Thaci sich selber anzeigen möge; Marieluise Beck ({2}) ({3}) denn mit dem Leumund, dass man an einer organisierten Kriminalität, die sogar mit Organen gehandelt hat, beteiligt gewesen sei, kann man eigentlich nicht Ministerpräsident sein. Das alles können Sie nachlesen, und dann wäre es vielleicht an der Zeit, hier einiges von den unglaublichen Dingen, die Sie mir vorgehalten haben, zurückzunehmen. ({4}) KFOR ist - das wissen alle, die bei Gewalt nicht wegsehen und zwischen Tätern und Opfern wirklich unterscheiden wollen - nicht denkbar ohne Srebrenica. Ich möchte das hier noch einmal sagen, weil wir durch die Festnahme von General Mladic noch einmal die Bilder von Srebrenica vor Augen geführt bekommen haben. Am 11. Juli werden sich die Geschehnisse zum 16. Mal jähren, und wir werden an die Bilder der verzweifelten Frauen und Mütter denken, die ihre Söhne und Männer aus den Händen geben mussten, welche unter den Augen der UN in die Wälder abgeführt und dort umgebracht wurden. Die Entscheidung für KFOR ist nur vor diesem Hintergrund zu sehen. ({5}) Sie hat mit Sicherheit allein durch ihre Anwesenheit vielen Menschen das Leben gerettet. Es ist gut, dass diese Mission immer stärker ihren militärischen Charakter verlieren und den polizeilichen Charakter verstärken kann. Der Aufbau dieses kleinen Staates ist sehr schwierig, viel mühseliger, als wir uns das vorgestellt haben. Es gibt viele Schwierigkeiten in diesem Staat. Es gibt organisierte Kriminalität, bei der auch die zivile europäische Mission sich schwertut, sie so deutlich und durchschlagend zu bekämpfen, wie wir es uns wünschen würden. ({6}) Zudem gibt es viele Schwierigkeiten, mit denen dieses kleine Land konfrontiert ist, weil die Statusfrage zumindest aus serbischer Sicht noch ungeklärt ist. ({7}) Es macht mich sehr unruhig, dass bei der Stadt Mitrovica, die bis heute geteilt ist, immer noch nicht ganz klar ist, dass diese Teilung keinen Bestand haben kann. Dieses kleine Kosovo wird nicht durch Gebietsaustausch Ruhe finden, sondern nur, wenn dieser Staat von der serbischen Bevölkerung, von Roma, von Ashkali, von Ägyptern und von Kosovo-Albanern als gemeinsamer, multiethischer Staat gesehen wird. ({8}) Fantasien in Bezug auf einen Gebietsaustausch können nur von denen in die Welt gesetzt werden, die nicht wissen, dass die größten serbischen Enklaven im Süden des Landes liegen und insofern ein Gebietsaustausch in Mitrovica der serbischen Bevölkerung im Land nicht helfen würde. Der Weg wird nach wie vor schwierig sein. Es ist gut, dass sich Serbien bewegt. Wir müssen Herrn Tadic allen Respekt aussprechen und hoffen, dass dieser Weg der Aussöhnung weitergegangen wird, damit sowohl Serbien als auch das Kosovo die echte Perspektive haben, zu uns in der Europäischen Union dazuzugehören. Das wünschen sich vor allem die jungen Menschen in beiden Ländern, auch die, die wir im Augenblick als Stipendiaten bei uns im Deutschen Bundestag haben. Ich habe gestern Abend mit 13 jungen Menschen aus allen Westbalkanländern zusammengesessen. Sie wollen sich aus dem Würgegriff der Nationalisten befreien, weil sie nach Europa wollen und weil sie eine Zukunft haben wollen. Diese Zukunft sollten wir ihnen wirklich geben und ihnen die Türen aufmachen. Schönen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Peter Beyer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was geht uns das Kosovo an? Warum müssen wir dorthin immer noch unsere Soldaten entsenden und Präsenz zeigen? Das alles sind Fragen, die sich die Menschen hierzulande stellen. Erinnern Sie sich noch an die Flüchtlinge in den 1990er-Jahren? Deutschland erklärte sich seinerzeit bereit, sogenannte Kontingentflüchtlinge aufzunehmen, und zwar 10 000 an der Zahl. Insgesamt sprechen Flüchtlingsorganisationen von 100 000 Menschen, die vor Gewalt und Terror flohen. Uns allen wurde nicht zuletzt durch die Anwesenheit dieser Kinder, Frauen und Männer deutlich vor Augen geführt, dass vor unserer Haustür Krieg herrscht. Es handelte sich bei diesem Krieg aber nicht um einen historisch abgeschlossenen Prozess, den wir in den Geschichtsbüchern nachlesen könnten. Unruhen gibt es nach wie vor. Peacekeeping - mit Betonung auf „keeping“ - heißt die Formel für die Region, die zweifelsohne zu den größten Herausforderungen europäischer Friedenspolitik gehört. Das Kosovo ist nicht irgendwo, sondern gleich nebenan. Der Balkan hat uns schmerzlich daran erinnert, dass Frieden und Demokratie auch in Europa nicht selbstverständlich sind, dass wir als Deutsche im Schulterschluss mit unseren Partnern immer wieder für diese höchsten Güter kämpfen müssen. Seit 1999 engagiert sich die Bundeswehr nunmehr im Kosovo. KFOR ist damit der längste, ununterbrochene Einsatz der Bundeswehr überhaupt. Es hat - das steht außer Frage - schwierige Phasen des KFOR-Einsatzes gegeben. Das gilt nicht nur für die Zeit der ersten Monate im Jahr 1999, sondern zum Beispiel auch für den März 2004, als es zu schweren, gewaltsamen Ausschreitungen mit Toten und Verletzten und in der Folge zu Tausenden von Vertriebenen kam. Mit Ausnahme von Teilen der nördlichen Region ist die Sicherheitslage im Kosovo heute nachhaltig stabilisiert. So konnte beispielsweise das 2004 schwer beschädigte Erzengelkloster nahe Prizren, das die Bundeswehr viele Jahre über beschützte, im letzten Monat an die kosovarischen Sicherheitsbehörden übergeben werden. Der schrittweise Auf- und Ausbau selbsttragender Sicherheitsstrukturen ermöglicht uns jetzt die weitere Absenkung der Personalobergrenze des Mandats von ursprünglich 8 500 auf 1 850 Soldatinnen und Soldaten. Damit stellt Deutschland auch zukünftig das größte Truppenkontingent, von dem ein Teil als Reserve in Deutschland verbleiben kann. Welch besseres Zeichen für eine positive Entwicklung im Kosovo kann es geben, als die kontinuierliche Reduzierung der KFOR-Präsenz? Heute wird KFOR vor allem noch als sogenannte dritte Sicherheitslinie hinter der Kosovo Police und EUPOL benötigt. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière hat die Einzelheiten und Hintergründe zu diesem Einsatz in seinem Debattenbeitrag am 26. Mai an dieser Stelle ausführlich erläutert. Erlauben Sie mir daher einige Anmerkungen zur Entwicklung in Serbien; denn dort liegt ein ganz wesentlicher Schlüssel zu einer besseren Zukunft auch des Kosovo. Die Balkanregion steht nach wie vor unter dem Eindruck der Festnahme des Menschenschlächters von Srebrenica, Ratko Mladic. Mladic wird sich, wie seinerzeit Slobodan Milosevic und derzeit Radovan Karadzic, vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in einem Prozess nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verantworten müssen; er hat seinen Opfern im Übrigen stets die Rechtsstaatlichkeit verwehrt. Vieles ist für die Angehörigen der Opfer auch heute noch nur sehr schwer zu ertragen. Dennoch dürfen sie hoffen, durch die Thematisierung ihres Leids und die gerichtliche Aufarbeitung Linderung zu erfahren. Dazu leistet der Internationale Strafgerichtshof einen wertvollen Beitrag. ({0}) Die serbische Regierung ist und bleibt aufgefordert, aufzuklären, weshalb es fast 16 Jahre gedauert hat, Mladic festzusetzen, und welche Unterstützung er von wem, wann und wo erfahren hat. Dennoch - das ist anzuerkennen - gibt es das Bemühen, die Kapitel der Vergangenheit aufzuarbeiten. Meine Damen und Herren, dies ist nicht der Ort, die denkbaren politischen Entwicklungen und Szenarien im Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo en détail zu diskutieren. Es ist aber klar, dass es für Kosovo und Serbien an der Zeit ist, an der Lösung der gemeinsamen Probleme zu arbeiten. Die ersten auf Vermittlung der EU zustande gekommenen direkten Gespräche zwischen Belgrad und Pristina, die im März dieses Jahres begonnen haben, sind ein wichtiger erster Schritt und eröffnen der EU im Übrigen die nicht zu unterschätzende Möglichkeit, Einfluss auf Serben und Kosovaren zu nehmen. Bisher hat es drei Treffen in Brüssel und eines in Pristina gegeben. Dabei ging es vor allem um die Lösung von Alltagsfragen, beispielsweise um Pass- und Grundbuchfragen, Zollstempel, Telekommunikation und Elektrizitätsversorgung. Es ist auf ein Momentum für eine umfassende Gesprächsagenda zu hoffen, um die Beziehungen zwischen Serben und Kosovaren auf eine solide Basis zu stellen. Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung und für eine Zukunft in Europa. Für Stabilität und Sicherheit im Kosovo braucht es die KFOR. Sie gewährleistet den Rahmen, in den eingebettet das Land in eine europäische Zukunft schreiten kann, und zwar so lange, bis der Auftrag der Vereinten Nationen beendet ist. Das wird dann der Fall sein, meine Damen und Herren, wenn die Institutionen des Landes Sicherheit in allen regionalen Bereichen und allen Bevölkerungsschichten verlässlich gewährleisten können. Lassen Sie uns mit Blick auf die Balkanregion auch die Rolle unserer transatlantischen Partner, vor allem der USA, im Blick behalten; denn sie übernehmen eine verantwortungsvolle Rolle in der Region. So sind sie neben der EU aktiv an den direkten Gesprächen zwischen Serben und Kosovaren beteiligt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Wie bedeutend die verlässliche und partnerschaftliche Kooperation mit unseren amerikanischen Freunden insgesamt ist, hat der Besuch der Kanzlerin in Washington Anfang dieser Woche eindrücklich gezeigt. ({0}) Zum Abschluss danke ich den Frauen und Männern, die im Kosovo Dienst tun, und im Übrigen allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandsverwendungen. So aufgestellt, können die Kosovaren, kann Europa und können wir mit angemessen nüchterner Zuversicht nach vorn schauen. Ich danke Ihnen. http://lexika.tanto.de/artikel.php?TANTO_SID=e9a933dde31cd16c2f3f115d0dce7cd2&TANTO_KID=bundestag&TANTO_AGR=45081&shortname=felix&artikel_id=39886 ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- sache 17/6135 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio- nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/5706 anzuneh- men. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführer und Schriftführe- rinnen, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? - Dann eröffne ich die Abstimmung. Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte eingeworfen? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch eine größere Zahl von Abstimmungen vorzunehmen. Ich bitte Sie, soweit Sie sich daran beteiligen wollen, die Plätze einzunehmen, damit wir das zügig durchziehen können. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu den nun folgenden Tagesordnungspunkten sämtlich zu Protokoll zu nehmen. - Ich sehe, Sie sind damit einver- standen. Die Namen brauche ich nicht zu verlesen; sie erscheinen im Protokoll. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:2) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt ({0}), Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Barrierefreier Tourismus für alle - Drucksache 17/5913 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5913 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. 1) Ergebnis Seite 13114 C 2) Anlage 2 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:3) a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze - Drucksache 17/5178 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze - Drucksache 17/5708 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 17/6141 - Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Riebsamen Bärbel Bas Lars Lindemann Harald Weinberg Dr. Harald Terpe b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Besserer Schutz vor Krankenhausinfektio- nen durch mehr Fachpersonal für Hygiene und Prävention - zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Krankenhausinfektionen vermeiden - Tödli- che und gefährliche Keime bekämpfen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Prävention gegen Krankenhausinfektionen verbessern - Drucksachen 17/4452, 17/4489, 17/5203, 17/6141 - Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Riebsamen Bärbel Bas Lars Lindemann Harald Weinberg Dr. Harald Terpe Tagesordnungspunkt 13 a. Der Ausschuss für Ge- sundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- 3) Anlage 3 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms empfehlung auf Drucksache 17/6141, den Gesetzent- wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5178 in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei- chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositions- fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss, den wortgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5708 für erle- digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstim- mung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/6141 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh- lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4452 mit dem Titel „Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal für Hygiene und Prävention“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD und Enthaltung von den Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 17/4489 mit dem Titel „Krankenhausinfektionen vermeiden - Tödliche und gefährliche Keime bekämp- fen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak- tion. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- che 17/5203 mit dem Titel „Prävention gegen Kranken- hausinfektionen verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim- men der Linken und Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- tung der SPD. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:1) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, 1) Anlage 4 weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen - Drucksache 17/5917 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5917 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:2) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf - Drucksache 17/6000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss gem. § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen - Drucksache 17/1434 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation der Pflege sicherstellen - Drucksache 17/1754 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({7}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/6000, 17/1434 und 17/1754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/6000 2) Anlage 5 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms soll außerdem an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie da- mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:1) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({8}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit ({9}) - Drucksache 17/2211 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle gewährleisten Transsexuellengesetz aufheben - Drucksache 17/5916 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({11}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12}) Rechtsausschuss Federführung strittig Tagesordnungspunkt 23 a. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 23 b. Die Vorlage auf Drucksa- che 17/5916 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Fe- derführung ist hier jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen die Federführung beim Innenausschuss, die Fraktion Die Linke wünscht die Fe- derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Lin- ken angenommen. Damit liegt die Federführung beim In- nenausschuss. 1) Anlage 9 Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 17 auf:2) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung des Emissionshandels - Drucksachen 17/5296, 17/5711 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13}) - Drucksache 17/6124 Berichterstattung: Abg. Andreas Jung ({14}) Abg. Frank Schwabe Abg. Michael Kauch Abg. Eva Bulling-Schröter Abg. Dr. Hermann Ott - Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/6125 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Sören Bartol Heinz-Peter Haustein Michael Leutert Sven-Christian Kindler Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6124, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/5296 und 17/5711 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke, Enthaltung SPD und Grüne. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts - Drucksache 17/6051 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({16}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 2) Anlage 6

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit der heutigen Einbringung des Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung besserer, sicherer und fairer Finanzmärkte. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz zu Beginn dieses Jahres haben wir ein wesentliches Fundament für einen verbrauchergerechteren Finanzmarkt gelegt. Wir haben schon damals darauf hingewiesen, dass ein Gesetz zur Regulierung des sogenannten grauen Kapitalmarktes folgen wird. Dieses Gesetz legen wir Ihnen nun heute, wie angekündigt, vor. Mit dem Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagengesetz stellen wir sicher, dass die Pflichten für Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die im regulierten Finanzmarktbereich bereits Standard sind, nun auch auf Produkte des bisher unregulierten, also des Graumarktbereichs ausgeweitet werden. Durch diese Ausweitung der Produkt- und Vertriebsregulierungsmaßnahmen - zum Beispiel auf geschlossene Fonds - werden Anleger nun auch in diesen Bereichen besser und umfänglicher geschützt. Zu den Regelungen gehört eine Vielzahl von Beratungs- und Dokumentationspflichten, wie beispielsweise das aufsichtsrechtliche Gebot, anlegergerecht zu beraten, die Provisionen für entsprechende Produkte und Dienstleistungen offenzulegen sowie die Pflicht, Protokolle über Beratungsgespräche zu führen und diese dem Anleger zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus sieht der Entwurf die Einführung strengerer Anforderungen an den Inhalt und die Prüfung von Verkaufsprospekten für Vermögensanlagen vor. Wie bereits für Banken im Anlegerschutzgesetz verbindlich geregelt, werden nun auch die Anbieter von Vermögensanlagen des bisher unregulierten Marktes verpflichtet, kurze und übersichtliche Produktinformationsblätter zu erstellen, um den Anlegern in leicht verständlicher Art und Weise wichtige Informationen über Chancen und Risiken der ihnen angebotenen Produkte zu liefern. Zudem sollen für Emittenten von Vermögensanlagen zukünftig strengere Rechnungslegungsvorschriften gelten. So ist beispielsweise vorgesehen, dass Emittenten für jeden Fonds einen Jahresabschluss und einen Lagebericht innerhalb von sechs Monaten nach Ende des Geschäftsjahres von einem Wirtschaftsprüfer testieren lassen und den Anlegern zur Verfügung stellen müssen. All diese Maßnahmen leisten einen entscheidenden Beitrag für die Förderung der Transparenz und des Anlegerschutzes auf den Kapital- und Finanzmärkten. Für die Erteilung einer Erlaubnis für den gewerberechtlichen Vertrieb von Finanzanlagen und für die Finanzberatung sollen darüber hinaus künftig strengere Zulassungs- und Beratungsvorschriften gelten. Darunter fallen auch der Nachweis der Sachkunde sowie der Nachweis über eine Berufshaftpflichtversicherung. Natürlich werden durch diese zusätzlichen Prüfungen im Rahmen des Erlaubnisverfahrens sowie durch die Prüfungen zur Einhaltung der Informations-, Beratungs- und Dokumentationspflichten zusätzliche Kosten auf die Länder und Kommunen zukommen. Diese können aber zum einen durch Gebühren gedeckt werden. Und zum anderen sei angemerkt, dass zukünftig die Prüfung, ob es sich bei bestimmten Produkten des Graumarktbereichs um nach der Gewerbeordnung erlaubte Finanzanlagen handelt, wegfallen wird, was wiederum eine Erleichterung darstellt. Lassen Sie mich kurz eine erste Bewertung - oder besser: Einordnung - des Gesetzentwurfes vornehmen eine Einordnung der im Gesetz vorgesehenen Produktund Vertriebsregulierung. Ein wesentlicher Teil dieses Gesetzentwurfes befasst sich mit der Regulierung von Produkten, insbesondere mit der Regulierung von geschlossenen Fonds. Das ist uns sehr wichtig. Es ist uns deswegen sehr wichtig, weil wir glauben, dass gerade im Bereich der geschlossenen Fonds Handlungsbedarf besteht. Wir haben in den Vorgesprächen zu diesem Gesetz zur Kenntnis genommen, dass die seriösen Anbieter dieser Produkte sehr daran interessiert sind, eine weitreichende, über alle bisherigen Vorschriften hinausgehende Regulierung für diesen Bereich zu organisieren. Wir sehen darin einen wichtigen Beitrag dafür, dass unseriös handelnde Unternehmen aus dem Markt herausgehalten werden. Letztlich nützt diese Regulierung also nicht nur den Verbrauchern, die qualitativ hochwertigere Produkte erhalten, sondern auch den Anbietern, die in einem sauberen Marktumfeld arbeiten können. Die Verlängerung von Prospekthaftungsfristen, erweiterte Rechnungslegungsfristen und einige weitere Maßnahmen leisten ein Übriges, um eine bessere Produktqualität sicherzustellen. Produktregulierung ist im Übrigen ein Bereich, der von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht überwacht wird. Nun kann man kritisieren, dass eben diese Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht nicht auch damit betraut wird, die Aufsicht über die Finanzanlagenvermittler und damit über die Vertriebswege zu führen. Denn dies soll - wie bisher - über die Gewerbeordnung geregelt werden. Wir nehmen diese Kritik sehr ernst und haben schon im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses intensiv über diese Frage diskutiert. Auf der einen Seite wäre es sicherlich wünschenswert, für den gesamten Finanzdienstleistungsbereich eine Aufsicht aus einer Hand zu organisieren. Auf der anderen Seite muss man aber sehen, dass die BaFin eben nicht darauf ausgerichtet ist, kleinteilige Strukturen, wie sie zum Beispiel bei den Finanzanlagevermittlern, aber auch bei Versicherungsvermittlern vorliegen, zu überwachen. Die BaFin kann und macht Institutsaufsicht. Zu welchen Problemen „BaFin light“ führen kann, sehen wir ganz aktuell im Bereich der Leasingunternehmen, die über die bürokratischen und formalen Belastungen sowie über die Art und Weise, wie die BaFin die Aufsicht durchführt, klagen. Ich rate daher dringend dazu, die Diskussion weniger an den aufsichtsrechtlichen Strukturen festzumachen, sondern sich vielmehr auf die Inhalte und Standards zu konzentrieren. Genau das werden wir im Gesetzgebungsprozess tun. Wir möchten erreichen, dass die Verbraucher unabhänZu Protokoll gegebene Reden gig vom Vertriebsweg einheitliche Qualitätsstandards vorfinden. Und gerade das ist das dezidierte Ziel dieses Gesetzentwurfes. Wir werden im parlamentarischen Prozess daher sorgfältig prüfen, ob und in welchem Umfang dieses Ziel erreicht wird. Unser Augenmerk liegt dabei in erster Linie auf den Inhalten und weniger auf den Organisationsstrukturen. Das Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagengesetz ist im Kontext mit bereits abgeschlossenen, aber auch mit den noch geplanten bzw. den zum Teil schon auf den Weg gebrachten Regulierungsvorhaben zu sehen. Zu den abgeschlossenen Maßnahmen gehören insbesondere das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, aber auch Projekte wie OGAW IV. Bei den geplanten Vorhaben ist zum Beispiel die AIFMRichtlinie zu nennen. Im Zusammenspiel all dieser Gesetze, Richtlinien und Verordnungen haben und werden wir die Finanzmärkte, wie einleitend bemerkt, besser, fairer und sicherer machen. Die christlich-liberale Koalition hat hier in den letzten zwölf Monaten ein unglaubliches Tempo vorgelegt und eine Menge auf den Weg gebracht, darunter auch international Maßstab setzende Projekte wie das Bankenregulierungsgesetz oder das Verbot der Leerverkäufe. Weitere wichtige Initiativen werden in den nächsten Monaten folgen. Dies ist die erste Lesung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung. Wir werden in den Fachausschüssen weiter daran arbeiten und dazu noch vor der parlamentarischen Sommerpause eine Anhörung mit zahlreichen Sachverständigen vornehmen. Wir freuen uns auf die Stellungnahmen der Experten und die Erkenntnisse, die wir daraus gewinnen werden. Und wir freuen uns auf die bevorstehenden, hoffentlich fachlichen, Diskussionen. Ich lade Sie alle recht herzlich ein, sich konstruktiv daran zu beteiligen, um das Gesetz nach der Sommerpause zu einem guten Abschluss zu bringen.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Bundesregierung legt den Entwurf eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts vor. Dieser soll alle Fragen rund um den sogenannten grauen Kapitalmarkt neu regeln. In diesem Zusammenhang ist zunächst mit einem weit verbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Der graue Kapitalmarkt ist nicht unreguliert. Die Produktanbieter und Vermittler auf dem grauen Kapitalmarkt bedürfen schon heute einer Gewerbeerlaubnis und unterliegen den allgemeinen Anforderungen der Gewerbeordnung. Sie haften nicht nur für Betrug, was eine Selbstverständlichkeit ist, sondern zusätzlich für jegliche Schlecht- und Falschberatung. Die zugehörige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs existiert seit nunmehr rund 20 Jahren. Sie hat sich bewährt und hat gerade in den letzten Jahren an Schärfe sogar noch gewonnen. So gilt beispielsweise die Kick-back-Entscheidung des BGH zur Offenlegung von Provisionen in Form von Rückvergütungen nicht nur für Banken, sondern auch für die Anbieter anderer Finanzanlagen. Es mangelt daher nicht an Transparenz bei den vertriebenen Anlagen. Der Anlegerschutz ist gewährleistet durch eine umfassende Prospektpflicht. Es gelten die gesetzlichen Regeln über Haustürgeschäfte. Es gelten die gesetzlichen Regeln über verbundene Darlehen. Insbesondere sind im grauen Kapitalmarkt nicht die Ursachen für die Finanzkrise zu finden. Diese entspringt dem regulierten Bankenmarkt. Um es ganz klar zu sagen: Die Finanzkrise ist daher ein Kind genau des Marktsegments, das die dichteste Regulierung mit den schärfsten staatlichen Aufsichtsmitteln überhaupt vorweist. Trotz des Befunds eines ausgewogenen ordnungspolitischen Rahmens hat sich die Koalition entschlossen, das Netz um die Produkte und Akteure des sogenannten grauen Kapitalmarkts so zu knüpfen, dass seine Maschen den Anleger genauso schützen, wie es bei den Wertpapierdienstleistern der Fall ist. Ziel ist ein vergleichbares Spielfeld für die Wettbewerber. Fehlanreize, von dem einen auf den anderen Markt auszuweichen, soll es nicht geben. Wir wollen daher eine konsistente Produktregulierung sicherstellen. Dazu greifen wir in das bestehende haftungs- und aufsichtsrechtliche Gefüge ein. Bei den zusätzlichen Anforderungen an freie Vermittler und an die Produkte berücksichtigen wir, dass sich Vermögensanlagen von Wertpapieren unterscheiden. Wertpapiere sind standardisiert und liquide, Vermögensanlagen sehr verschieden und oft illiquide Finanzprodukte. Das führt zu besonderen Anforderungen insbesondere bei der Aufsicht über ihren Vertrieb. Denn der Verkauf von Vermögensanlagen vollzieht sich auf andere Weise als der von Wertpapieren als standardisiertem Produkt. Die gleiche Behandlung von Ungleichem ist hier nicht sachgerecht. Dem tragen wir Rechnung. Eine engere Aufsicht über den Vertrieb von Wertpapieren und Vermögensanlagen muss sich in das System der Gewerbeaufsicht einfügen. Vermittler von Finanzanlagen sind keine Banken. Sie können nicht wie diese reguliert werden. Hier geht es um einen Zuschnitt des Formats der Aufsicht auf die Bedürfnisse des Anlegerschutzes einerseits und der Struktur der Branche andererseits. Deshalb setzen wir im Bereich des Anlageprodukts und im Bereich der Akteure jeweils am effektivsten Aufsichtshebel an. Unser Vorbild bei der Aufsicht sind die Regeln, die sich bei den Versicherungsvermittlern schon bewährt haben. Unser Vorbild bei der Produktregulierung sind die Regeln über Wertpapiere. Abgerundet wird das Gesetz durch die Beseitigung einiger Schwachstellen in dem Bereich der Regulierung, der am schlagkräftigsten ist, nämlich bei der zivilrechtlichen Haftung. Im Einzelnen nun zu den drei Kernpunkten Produktaufsicht, Vermittleraufsicht und Haftungsrecht: Im Produktbereich wird der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zukünftig eine größere und tragende Rolle zukommen. Im Rahmen einer Kohärenzprüfung wird sie die Verkaufsprospekte auf Verständlichkeit überprüfen. Damit heben wir das Niveau bei den Verkaufsprospekten für Vermögensanlagen auf das Schutzniveau bei den Wertpapierverkaufsprospekten an. Die Bundesanstalt wird zukünftig auch die innere Widerspruchsfreiheit der zwingenden Prospektangaben überprüfen. Zu dieser inhaltlichen Prüfung ist fachlich nieZu Protokoll gegebene Reden mand besser geeignet als die Bundesanstalt. Gleichwohl sind wir uns einig, dass die Schaffung eines weitergehenden Schutzes etwa in Form einer umfangreichen inhaltlichen Prüfung unmöglich zu leisten ist. Die Bundesanstalt ist keine Behörde des Verbraucherschutzes und wird es auch niemals sein. Im Vermittlerbereich werden wir präventiv tätig, indem wir den Marktzugang in ordnungspolitischer Absicht und marktverträglich einschränken. Erstens verlangen wir von den Finanzanlagenvermittlern einen Sachkundenachweis. Dieser wird höhere Anforderungen an die Vermittler stellen als an Mitarbeiter von Banken. Zweitens werden die Vermittler zukünftig eine Berufshaftpflichtversicherung vorweisen müssen, mit der eventuelle Vermögensschäden abgedeckt werden können. Das Risiko des Kunden, schlecht beraten zu werden und dann auf dem Schaden und zusätzlich den verauslagten Prozesskosten sitzen zu bleiben, sinkt dadurch beträchtlich. Hier sind wir nah an dem, was die Anleger als Nachfrager von den Vermittlern ohnehin bereits verlangen; denn ein Großteil der Vermittler hat auf freiwilliger Basis eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung abgeschlossen. Drittens erweitern wir das bereits für Versicherungsvermittler bei den Industrie- und Handelskammern geführte Verzeichnis um die Finanzanlagenvermittler. Wir nutzen so vorhandene und bewährte Strukturen in kostengünstiger Weise aus. Und anders als das kürzlich eingeführte Beraterregister für Wertpapierdienstleister wird das Register öffentlich sein. Anleger und Behörden können daher bundesweit zugreifen und kontrollieren, mit wem sie es zu tun haben. Mit dieser Struktur wird es deutliche Verbesserungen beim präventiven Anlegerschutz geben. Sollte die Bundesanstalt zum Beispiel auf ein Schneeballsystem im Bereich der Vermögensanlagen aufmerksam werden, so kann sie nicht nur eine Warnung vor dem Produkt aussprechen, sondern zusätzlich über die Daten im Vermittlerregister die Vermittler ausfindig machen und die Gewerbeaufsichtsämter darüber informieren, welche der ihrer örtlichen Zuständigkeit unterfallenden Vermittler am Vertrieb des Schneeballprodukts beteiligt sind. Mit dem herkömmlichen und wohlbekannten Mittel der verwaltungsrechtlichen Auflage kann das Gewerbeaufsichtsamt den Vertrieb des Produkts untersagen. Das ist nur möglich, weil auf die dezentrale Struktur der Gewerbeaufsicht zurückgegriffen wird. Wir vereinen so das Beste beider Welten. Die Bundesanstalt verfügt über die Produktexpertise, die wir mit der jahrelangen Erfahrung und dem Vor-OrtWissen der Gewerbeaufsicht - die ohnehin schon für die Vermittler zuständig ist und diese kennt - kombinieren. Jeder macht das, was er am besten kann. Das gilt auch für die fortgesetzte Aufsicht über den laufenden Betrieb der Finanzanlagenvermittler. Mit einer Rechtsverordnung werden wir die Informations-, Beratungs- und Dokumentationspflichten aus dem Wertpapierhandelsgesetz auf die Finanzanlagenvermittler ausdehnen. Die fachliche Beurteilung, ob diese Pflichten eingehalten worden sind, erfolgt durch das Testat eines Wirtschaftsprüfers. Die Sachkunde hierzu liegt also bei externen Dritten. Die Gewerbeaufsicht überprüft nicht mehr als das Vorliegen des uneingeschränkten Testats. Nichts anders würde übrigens die Bundesanstalt machen. Hielte man hier eine Verantwortlichkeit der Bundesanstalt für notwendig, so schösse man mit Kanonen auf Spatzen. Denn wer hier eine Zuständigkeit der Bundesanstalt fordert, der fordert wegen der hohen Compliance-Kosten ein faktisches Arbeitsverbot für 80 000 kleine, mittlere und vor allem eigenverantwortlich tätige Unternehmer. Neben einmaligen Initiierungskosten in Höhe von rund 30 000 Euro würden bei einer Regulierung nach dem KWG laufende Kosten von jährlich mehr als 30 000 Euro anfallen. Das kann ein freier Vermittler nicht leisten. Durch eine KWG-Regulierung verschwände der freie Vermittler. Aber es verschwände natürlich nicht der Markt für Vermögensanlagen. Diesen teilen sich derzeit die Banken mit 40 Prozent und die freien Vermittler mit 60 Prozent Marktanteil. Eine Regulierung des Vertriebs von Vermögensanlagen durch die Bundesanstalt würde die Marktverhältnisse deutlich verschieben. Wir bekämen eine gesetzlich bewirkte Marktkonzentration. Derartige Folgen würden wir - und nicht nur wir von der FDP - bei jeder anderen Gelegenheit bekämpfen. Abgerundet wird das Gesetz durch eine systematisierende Angleichung bei der Prospekthaftung. Durch die Aufhebung des Verkaufsprospektgesetzes und die Streichung der Vorschriften über die Prospekthaftung aus dem Börsengesetz wird die bisherige künstliche Trennung aufgehoben. Inhaltlich finden sich die Vorschriften dann in Form einer Regelung im Wertpapierprospektgesetz wieder. Endlich wird dann auch die Verjährung der Haftung einheitlicher aussehen und vor allem verlängert. Ich fasse zusammen: Mit dem Gesetz erleichtern wir insbesondere die Durchsetzung von Ansprüchen. Der präventive Sachkundenachweis siebt erstens die schwarzen Schafe aus. Kommt es dann zu einem Haftungsfall, erleichtern wir zweitens die Identifizierung des Anspruchsgegners über das Werkzeug des Vermittlerregisters. Bei der gerichtlichen Geltendmachung hilft dem Anleger drittens die Verlängerung der Verjährung. Viertens sind die Titel nicht wertlos, weil es durch die Berufshaftpflicht zukünftig eine ausreichende Haftungsmasse geben wird, aus der etwaige Schadensersatzansprüche befriedigt werden können.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Täglich ringen die Staats- und Regierungschefs mit der europäischen Schuldenkrise und darum, die internationalen Finanzmärkte endlich zu zähmen. Abseits davon und weitgehend unbeachtet werden in Deutschland auf dem sogenannten grauen Kapitalmarkt tausendfach hochrisikoreiche, intransparente und schädliche Anlageprodukte an Anlegerinnen und Anleger verkauft, die für sie immer wieder mit erheblichen Verlusten verbunden sind. Dort tummeln sich unseriöse Anbieter, oftmals schlecht ausgebildet und teils in betrügerischer Absicht. Spektakuläre Fälle wie die Insolvenz der Phoenix Kapitaldienst GmbH mit rund 30 000 betrogenen Anlegerinnen und Anlegern und einem Gesamtschaden von Zu Protokoll gegebene Reden über 200 Millionen Euro oder der Skandal um die Göttinger Gruppe Vermögens- und Finanzholding GmbH & Co. KGaA mit geschätzten 200 000 Geschädigten sind nur die bekanntesten Einzelfälle. Diesen Markt müssen wir endlich ans Licht holen. Die Regierung ist mit dem erklärten Ziel gestartet, hier Abhilfe zu schaffen. Seit über einem Jahr warten wir nun auf einen Gesetzesvorschlag. Jetzt liegt uns der „Gesetzentwurf zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts“ vor. Nur: Leider wird hier nicht gut, was lange währt. Immerhin: Die umständliche Bezeichnung des Gesetzes bringt einen Fortschritt: Die Koalition versucht nicht - wie unlängst beim „Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz“ - mit schicken Namen zu verschwurbeln, dass leider ganz und gar nicht das drinsteckt, was auf Seite eins des Konvoluts angekündigt ist. Denn dass dieser Vorschlag tatsächlich dazu beiträgt, den grauen Kapitalmarkt endgültig zu zähmen, ist mehr als zweifelhaft. Das lässt sich auch begründen. Ich will mich hier nur auf einige wenige Punkte konzentrieren: Erstens: Die Aufsicht über die freien Vermittler bleibt bei den Gewerbebehörden. Finanzminister Schäuble hatte in einem ersten Entwurf für das Gesetz im März 2010 eine Regelung vorgesehen, wonach - statt wie derzeit die Gewerbeämter die BaFin zukünftig die Aufsicht über die ungefähr 80 000 freien Vermittlerinnen und Vermittler bekommen soll. Das ist nicht nur im Hinblick auf eine umfassende Aufsicht in Deutschland logisch, sondern auch angesichts der personellen Situation der Gewerbeämter in Deutschland mehr als notwendig. Wer soll auch Tausende Finanzvermittler kontrollieren, wenn er sich sonst um Frittenfett und die Organisation des örtlichen Weihnachtsmarktes kümmert? Das leuchtet jedem ein, nur nicht der Lobby der Finanzvermittler. Also wurde eine Unterschriftenaktion gestartet, Horrorzahlen zu zusätzlichen Kosten veröffentlicht, mit dem Verlust von Tausenden Arbeitsplätzen - kurz mit dem Untergang des Abendlandes - gedroht. Im damaligen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle fand sich denn auch eine Marionette, die die Argumente der Finanzvermittlerlobby nachtrompetete und dabei sogar in Kauf nahm, dass Finanzminister Schäuble seinen ursprünglichen Gesetzentwurf zurückziehen musste und nun ein Vorschlag auf dem Tisch liegt, beim dem die BaFin auch zukünftig bei der Aufsicht außen vor bleibt. Das ist gegen jede Vernunft und widerspricht auch dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb, wo es heißt: „Wir wollen ein konsistentes Finanzdienstleistungsrecht schaffen, damit Verbraucher in Zukunft besser vor vermeidbaren Verlusten und falscher Finanzberatung geschützt werden. Ein angemessener Anlegerschutz gegen unseriöse Produktanbieter und Falschberatung wird prinzipiell unabhängig davon gewährleistet, welches Produkt oder welcher Vertriebsweg vorliegt.“ Die Realität sieht anders aus: In Zukunft hängt der Schutz der Anlegerinnen und Anleger davon ab, welches Produkt sie kaufen: Bei einer Aktie sitzen die Profis der BaFin dem Anbieter im Nacken, bei einem geschlossenen Fonds das Gewerbeamt Henstedt-Ulzburg. Fußnote: Es wird vielleicht aufgefallen sein, dass Verbraucherschutzministerin Aigner bisher noch nicht erwähnt wurde. Noch Ende letzten Jahres hat sie großspurig gefordert, die Finanzaufsicht bei der BaFin zu konzentrieren. In der Berliner Invalidenstraße bei Minister Brüderle und in der Wilhelmstraße bei Minister Schäuble hat man damals darüber wahrscheinlich nur müde gelächelt, wenn überhaupt. Die Ministerin ist nichts anderes als ein Totalausfall. Stichwort „KWG-light“: Für die SPD-Fraktion ist klar, dass nicht jeder freie Vermittler in den Entschädigungsfonds der Wertpapierhandelsunternehmen einzahlen muss, die Vorschriften zum Risikomanagement von Finanzdienstleistungsinstituten anwenden oder alle Berichtspflichten für Großbanken erfüllen kann und soll. Das ist unnötige Bürokratie und bringt keinen wirklichen Mehrwert. Hier müssen wir angemessene Regelungen finden, die die Spezifika des Vermittlermarktes berücksichtigen und die immer wieder unter dem Stichwort „KWG-light“ diskutiert werden. Ich habe die große Hoffnung, dass sich die Vertreter der Regierungskoalitionen hier durchsetzen, die schon damals der Meinung waren, dass eine „KWG-light“-Lösung die bessere Alternative zur gewerberechtlichen Lösung ist. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme dazu einen sehr eleganten Weg vorgeschlagen: Die Aufsichtsbefugnis der BaFin über den freien Vermittlermarkt wird dort über eine spezielle Norm in der Gewerbeordnung verankert. Welche Anforderungen aus dem Kreditwesengesetz darüber hinaus für die freien Vermittler gelten sollen, könnte dann im Rahmen einer „Opt-in“-Lösung ebenfalls in der Gewerbeordnung verankert werden. So ersparen wir uns auch die Krücke eines umfangreichen Ausnahmenkatalogs für die freien Vermittler im KWG. Der Vorschlag zeigt einmal mehr überdeutlich: Ein einheitliches Schutzniveau für die Anlegerinnen und Anleger ist möglich, ohne die Branche zu überfordern. Die SPD bietet an diesem Punkt ausdrücklich ihre Unterstützung an. Zweitens: Neue Anforderungen an die freien Vermittler. Den Koalitionären von CDU und CSU ist es ganz offensichtlich ein wenig peinlich, wie ihre Minister Schäuble und Aigner vom Ex-Wirtschaftsminister beim Thema BaFin-Aufsicht am Nasenring durch die Manege gezogen wurden. Deshalb ist jetzt wohl die neue Sprachregelung, dass trotz Gewerbeaufsicht für die Vermittler ganz neue, zusätzliche Anforderungen gelten sollen: Sachkundeprüfung, Haftpflichtversicherung, Zuverlässigkeit, geordnete Vermögensverhältnisse und Berichtspflichten. Dieser Vorschlag ist richtig und unterstützenswert. Denn bis jetzt hat mir noch niemand erklären können, warum Friseure und Kfz-Mechaniker im Nebenberuf der Verwandtschaft und dem geneigten FreundesZu Protokoll gegebene Reden kreis beim gemeinsamen abendlichen Grillen teils hochriskante geschlossene Fonds verkaufen dürfen. Nur: Alles das soll in einer vom Finanzministerium gut gehüteten Verordnung geregelt werden, die der Bundestag noch nicht zu Gesicht bekommen hat und die - Zitat Gesetzentwurf - „ein vergleichbares Anlegerschutzniveau“ wie im Wertpapierhandelsgesetz sicherstellen soll. Das macht misstrauisch; denn Staatssekretär Asmussen aus dem Finanzministerium hat in diesem Zusammenhang von einer Eins-zu-eins-Lösung gesprochen. Die SPD wird genau darauf achten, ob das Versprechen der Eins-zu-eins-Lösung auch eingelöst wird. Ich bleibe skeptisch. Drittens: Das geplante Vermittlerregister. Seit der Verabschiedung des Anlegerschutzgesetzes in diesem Frühjahr müssen sich alle 300 000 Bankberater und Tausende Vertriebsbeauftragte sowie ComplianceBeauftragte der Banken ausnahms- und anlasslos in ein internes Register bei der BaFin eintragen. Treten dann im Beratungsgeschäft Kundenbeschwerden auf, sind sie der BaFin zu melden, die ihrerseits Sanktionen bis hin zum Tätigkeitsverbot für die einzelnen Berater verhängen darf. Die SPD-Fraktion hat diese Registerlösung als bürokratischen Unfug kritisiert. Wir wollten die Berater erst beim Eingang solcher Beschwerden in dem Register erfassen. Das wäre sinnvoll gewesen, ohne die präventive Wirkung der Datenbank zu mindern. Das Register ist jetzt offensichtlich die Allzweckwaffe der Koalition: Im „Copy-Paste-Modus“ sieht nun auch dieser Gesetzentwurf vor, dass sich künftig alle 80 000 Vermittler in das bereits existierende Register für Versicherungsvermittler eintragen müssen. Nur: Bei der Markierung des zu kopierenden Textes ist dem Ministerium offenbar ein Fehler unterlaufen. Denn sämtliche Passagen zur Möglichkeit von Kundenbeschwerden und Sanktionen der Aufsichtsbehörde wie im Bankensektor fehlen im Gesetzentwurf. Wir helfen da gerne bei den Grundfunktionen von „Windows Word“ nach. Diese kurze Aufzählung macht schon deutlich, dass wir uns das Gesetz genau ansehen müssen. Viele andere Punkte wären hier noch anzusprechen und werden uns im Rahmen der Beratungen weiter beschäftigen. Stichworte sind hier das geplante Vermögensanlageninformationsblatt - das VIB -, die neuen Prospektpflichten oder die Vorschriften zur Wertermittlung der Anlage. Ich habe die Hoffnung, dass die Regierungskoalition vom Struck’schen-Gesetz - dass nämlich Gesetze den Bundestag nie so verlassen, wie sie ihn erreichen - ausführlich Gebrauch macht. Es gibt viele Punkte, die an diesem Gesetzentwurf noch geändert werden müssen, damit für die Anlegerinnen und Anleger vom grauen Kapitalmarkt nicht weiter unkalkulierbare Risiken ausgehen. Die SPD will einen integren und transparenten Kapitalmarkt, bei dem nicht die Anbieter und Vermittler sowie der kurzfristige Gewinn und die Maximalrendite im Mittelpunkt stehen, sondern die Anlegerinnen und Anleger. Dafür kämpfen wir.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte diesen Gesetzentwurf und seine Entstehung mit einem 100-Meter-Lauf vergleichen. Die Bundesregierung wusste seit Jahren, dass etwas getan werden muss, um den Auswüchsen des grauen Kapitalmarktes Einhalt zu gebieten. Nun sprintet man los, etwas holprig, aber immerhin in die richtige Richtung. Nach 50 Metern beginnen Sie jedoch schon, die Arme hochzureißen und zu jubeln, obwohl das eigentliche Ziel noch nicht erreicht ist. Der graue Kapitalmarkt ist der Teil des Kapitalmarktes, der nicht vollständig unter das Kreditwesen-, Investment- und Versicherungsaufsichtsgesetz fällt und somit fast gar nicht durch Rechtsvorschriften und Behörden kontrolliert wird. Zu ihm gehören in erster Linie geschlossene Fonds ({0}), Bauherrenmodelle, bestimmte Genussrechte, Geschäfte mit Bankgarantien sowie manche Steuersparmodelle. Das gravierende Regulierungs- und Aufsichtsgefälle zum regulierten „weißen“ Kapitalmarkt ist das zentrale Problem. Ich möchte geschlossene Fonds herausgreifen: Sie sind in der Regel unternehmerische Beteiligungen ohne Stimmrecht und zugleich schwer handel- bzw. verkaufbar. Dem Anleger muss bewusst sein, dass er das volle Unternehmerrisiko bis hin zum Totalverlust trägt und dass unter Umständen Nachschusspflichten bestehen. Große Anteile der Beteiligungssummen - zum Beispiel Vertriebsprovisionen und Marketingkosten - wandern schon vorab in die Taschen der Fonds-Emittenten und -Vermittler. Nach wie vor gibt es eine erschreckend hohe Zahl an unseriösen Emittenten, deren graue Finanzprodukte von wiederum unseriösen, wenig qualifizierten und provisionsgetriebenen Produktvermittlern vertrieben werden. Diese locken Anleger mit dem Versprechen hoher Rendite und mit geschicktem Marketing in ihre Produkte, welche die zuvor gemachten Versprechen in der Regel nicht einlösen. Eine anlegergerechte Beratung oder Vermittlung findet nicht statt. Da Risiko und Kosten dieser Finanzprodukte insgesamt beträchtlich sind, beschert der ungeregelte graue Kapitalmarkt Anlegern jährlich finanzielle Verluste in Milliardenhöhe. Dies darf so nicht weitergehen! Die Linke ist deshalb der Meinung, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf zumindest einen wichtigen und längst überfälligen Schritt gehen, um weiterem verbraucherschädlichen Verhalten Einhalt zu gebieten. Es war an der Zeit, den Finanzinstrumentebegriff auszuweiten. Damit werden nun einige Produkte des grauen Kapitalmarktes als Vermögensanlage definiert, die in der Folge dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterliegen und so der Finanzaufsicht unterstellt werden. Natürlich muss man an dieser Stelle diskutieren, ob nicht noch andere Anlageformen wie Bankgarantien oder Schrottimmobilien mit in den Katalog aufgenommen werden müssen. Gut ist zudem, dass den Kreditinstituten mit dem Gesetzentwurf einige Pflichten erwachsen, die im regulierZu Protokoll gegebene Reden ten Bereich zu den Standards gehören: Es muss anlegergerecht beraten werden, Provisionen sind offenzulegen, und Beratungsprotokolle müssen angefertigt werden. Gerade bei der Provisionsoffenlegung sind jedoch noch weitergehende Regelungen notwendig. Weichkosten und Margen sind beispielsweise ohne Ausnahmen offenzulegen. Alles in allem will die Linke aber provisionsgetriebene Beratung überwinden. Nur ohne Provisionsdruck kann Beratung von Finanzprodukten unabhängig und das verkaufte Produkt folglich passgenau dem tatsächlichen Anlegerinteresse entsprechen! Eine bedeutende Ausnahmeregelung im Gesetzentwurf bereitet darüber hinaus Bauchschmerzen: Sehr kleine Fonds bis 100 000 Euro und mit einer Stückelung in nicht mehr als 20 Anteile und demgegenüber sehr große Anteile von mindestens 200 000 Euro bleiben von den Vorschriften des Gesetzes unberührt. Damit wird unterstellt, dass sehr große Anteile nur von professionellen Anlegern gehalten werden - die aufgrund der unterstellten „Professionalität“ als weniger schutzbedürftig gelten - und dass kleineren Investitionsvorhaben keine bürokratischen Erschwernisse auferlegt werden sollen. Dagegen ist theoretisch wenig einzuwenden, allerdings wird vergessen, dass bei geschlossenen Fonds für den Anleger auch Nachschusspflichten bestehen können. In diesem Falle wäre der Verlust pro Anteil nicht unbedingt nur auf 5 000 Euro begrenzt, sondern bedeutend höher. Dies kann den Anleger immer weiter in Geldnot und in eine Verschuldungsspirale treiben. Das dürfen Sie nicht zulassen! Man sollte an dieser Stelle die Produkt- bzw. Emittentenebene, auf der ja unter anderem Nachschusspflichten angesiedelt sind, stärker ins Auge fassen und auch dort mit anlegergerechten Regelungen aufwarten: Seit einigen Jahren gibt es vermehrt sogenannte Ansparfonds für unternehmerische Beteiligungen, mit geringen Anzahlungen und kleinen Monatsraten, damit auch Kleinanleger ihren Anteil am Fonds über Jahre zusammensparen können und eine hohe Mindesteinlage nicht sofort schultern müssen. Oft werden von den Fonds die Zielobjekte auf Kredit erworben. Bei einer Schieflage stehen die Anleger indes im Risiko, weil das gesamte zugesagte Ansparkapital haftet und die Restzeichnungssumme auf einen Schlag einzuzahlen ist. Ansparfonds können somit wie Nachschusspflichten ein Weg in die Privatinsolvenz sein. Auch sogenannte Blindpool-Konstruktionen stellen ein Risiko für Kleinanleger, aber nicht nur für diese, dar: Ein Blindpool ist ein Sammelbecken für Beteiligungskapital, bei dem den Anlegern zu Beginn noch unbekannt ist, in welche Art von Geldanlage mit welchem Gesamtumfang investiert wird bzw. welche Beteiligungen erworben werden. Der Anleger ist der Geschäftsführung des Unternehmens weitgehend schutzlos ausgeliefert, denn er investiert „blind“. Das Einsammeln von investitionswilligem Kapital durch den Emittenten darf aus Transparenzgründen meiner Ansicht nach nur dann infrage kommen, wenn klar und eindeutig im Voraus beschrieben und nachgewiesen wird, in welche Objekte in welchem Umfang und mit welchem Ziel investiert wird. Dreierlei Dinge müssen infolgedessen angepackt werden: Nachschusspflichten sind von vornherein zu deckeln, wenn es sie denn weiterhin geben soll. Produkte mit Nachschusspflichten dürfen ebenso wenig wie Ansparfonds aus dem Graumarktsegment aktiv an Anleger vertrieben werden; über deren Risiken ist an „prominenter“ Stelle in Prospekten und Gesprächen umfassend aufzuklären. Und über ein Verbot von Blindpool-Konstruktionen muss nachgedacht werden. Kommen wir nun noch zu den Finanzanlagenvermittlern: Künftig soll die Gewerbeerlaubnis für Vermittler an einen Sachkundenachweis und eine Berufshaftpflichtversicherung, ersatzweise eine entsprechende Kapitalausstattung, gebunden sein. Die Linke begrüßt es, dass die schwarzen Schafe vom Markt verschwinden. Dennoch sollte man überlegen, ob es sinnvoll ist, dass ein einzelner, langjährig tätiger, seriöser Finanzvermittler nun einen Qualifikationsnachweis erbringen muss, der mit Folgekosten verbunden ist. Wenn Sie dies schon auf diese Weise regeln wollen, müssen Sie auch konsequent bleiben: Banken als Ganzes fallen unter das Kreditwesengesetz. Doch dieses Gesetz bietet nicht unbedingt ausreichende Gewähr dafür, dass die Bankberater hinreichenden Sachverstand für eine anlegergerechte Beratung zu geschlossenen Fonds und Genussrechten besitzen. Diese Finanzprodukte dürfen sie aber am Schalter verkaufen. Es ist nicht plausibel, warum der Bankberater gegenüber dem einzelnen Vermittler eine Bevorzugung dadurch erfahren soll, dass er keinen gesonderten Qualifikationsnachweis erbringen muss. Der Linken ist wie auch den Verbraucherzentralen generell wichtig, Vermittler von Vermögensanlagen nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, der Gewerbeaufsicht, sondern der Finanzaufsicht, der BaFin, zu unterstellen. Die Vermittleraufsicht darf nicht zersplittert bleiben! Dafür setzen wir uns ein! Wenn sich freie Vermittler durch die regionale Organisation der Gewerbeaufsicht dort anmelden können, wo eine weniger strenge Aufsicht vorherrscht, ist ein Aufsichtsgefälle zu befürchten. Durch ihre permanente Aufsicht, die ein inhaltliches Prüfungsrecht ({1}) umfassen muss, kann die BaFin präventiv wirken. Für Anleger wird durch eine bundesweite Aufsicht zumindest ein bisschen eher das von der Bundesregierung angestrebte „einheitliche Schutzniveau in Regulierung und Beaufsichtigung unabhängig von Vertriebsweg und Produkt“ erreicht. Selbst wenn der vorliegende Gesetzentwurf, wie eingangs ausgeführt, ein Fortschritt ist, muss man trotzdem festhalten, dass das ursprüngliche Ziel, den grauen Kapitalmarkt umfassend zu regulieren oder gar verschwinden zu lassen, nicht erreicht wird. Sie beschränken sich zu sehr auf die Vertriebsebene und lassen somit die Produktebene sowie die Emittenten von Graumarktprodukten außer Acht. Damit befördern Sie einen „grauen Kapitalmarkt light“. Zu Protokoll gegebene Reden Die Linke will hingegen den grauen Kapitalmarkt derart umfänglich regulieren und am Anlegerschutz ausrichten, dass er zu einem „weißen“ Kapitalmarkt wird! Es darf nicht mehr ein halbwegs geregelter und ein so gut wie ungeregelter Kapitalmarkt nebeneinander existieren! Das Aufsichts- und Regulierungsgefälle muss weg, und damit muss der graue Kapitalmarkt in seiner Gesamtheit weg! Jeder Teil des Kapitalmarktes muss demnach unter das entsprechende Dach des Kreditwesen-, Investmentoder Versicherungsaufsichtsgesetzes gebracht werden. Nicht nur der Vertrieb von Produkten des grauen Kapitalmarktes ist strengeren Vorschriften zu unterwerfen. Intransparente, unseriöse und hochriskante Produkte dürfen erst gar nicht auf den Markt kommen. Zwielichtige, unseriöse Anbieter bzw. Emittenten solcher Produkte dürfen erst gar nicht am Marktgeschehen teilnehmen, hier müssen Barrieren aufgebaut werden. Deswegen fordern wir, als Zulassungs- und Kontrollstelle für Finanzinstrumente und zur Etablierung von Mindeststandards für Vermögensanlagen einen Finanzmarkt-TÜV einzurichten. Und man sollte noch eine weitere Seriositätsschwelle einziehen: Emittenten von beispielsweise geschlossenen Fonds müssen eine hohe Mindest- oder Anfangskapitalausstattung in Abhängigkeit von dem insgesamt benötigten Kapital für die Anlage aufweisen, und Gesellschaftsvertrag sowie Businessplan sind frühzeitig und vollständig vorlegen. Dies wären sinnvolle Regelungen! Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koalition, klopfen Sie sich jetzt noch nicht auf die Schulter, bringen Sie nach der Anhörung Ihre Aufgabe zu Ende, und stoppen Sie Ihren Lauf nicht auf halber Strecke! Die Linke hilft Ihnen dabei, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Ebnen Sie das Regulierungs- und Aufsichtsgefälle zwischen leidlich reguliertem und grauem Kapitalmarkt auf hohem Niveau vollständig ein, und sorgen Sie somit dafür, dass der graue Kapitalmarkt endlich „weiß“ wird.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sowohl im Jahr 2007, als auf Anregung der Grünen im Finanzausschuss vereinbart wurde, sich die ge- schlossenen Fonds in diesem Bereich noch einmal ge- nauer anzuschauen, als auch am Ende der letzten Legis- laturperiode, als wir Grüne mit unserem Antrag „Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches Anleger- schutzniveau überwinden“ die drastischen Regulie- rungsdefizite im grauen Kapitalmarkt zurück auf die politische Agenda holten, war jeweils meine Hoffnung, dass man zügiger diesen großen Problembereich des deutschen Finanzmarkts in Angriff nehmen würde. Doch kundenschädliche Regelungen sind offenbar langlebig. Gut, dass wir jetzt endlich im konkreten Gesetzgebungs- verfahren sind. Doch der vorliegende Gesetzentwurf zur Novellie- rung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanla- genrechts ist inhaltlich leider kein Grund zum Jubeln. Das im Koalitionsvertrag versprochene konsistente Fi- nanzdienstleistungsrecht wird nicht erreicht. Zwar begrüßen wir, dass der Vertrieb von Vermö- gensanlagen wie Anteile an geschlossenen Fonds durch Banken und Sparkassen künftig unmittelbar den anle- gerschützenden Vorschriften des Wertpapierhandelsge- setzes, WpHG, und der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, unterfällt. Nicht zielführend ist es jedoch, freie Finanzvermittler von In- vestmentfonds, geschlossenen Fonds und anderen Ver- mögensanlagen weiterhin einer allein gewerberecht- lichen Aufsicht durch die zuständigen Landesbehörden zu unterstellen. Es ist mehr als fraglich, wie die Landes- behörden mit den ungeeigneten Eingriffsbefugnissen des Gewerbeaufsichtsrechts eine effektive Überwachung der freien Finanzanlagenvermittler hinbekommen sollen bzw. ob die zuständigen Landesbehörden personell und fachlich dazu überhaupt in der Lage sind. Darüber hinaus hat die nun auch für Vermittler von Vermögensanlagen und geschlossenen Fonds in § 2 a WpHG eingeführte Ausnahme zur Folge, dass die anleger- schützenden Informations-, Beratungs- und Dokumenta- tionspflichten einschließlich der Offenlegungspflicht von Provisionen - sogenannte Wohlverhaltenspflichten - nicht direkt, sondern nur über eine Verordnung gelten sollen, um ein - so wörtlich - „gleichwertiges Anleger- schutzniveau“ herzustellen. Halten wir also fest, dass weder klar ist, inwieweit die Wohlverhaltenspflichten in der freien Finanzanlagenvermittlung und -beratung künftig gelten, noch klar ist, inwieweit deren Einhaltung überprüft wird. Sollte am Ende des Gesetzgebungsverfahrens gleich- wohl eine gewerberechtliche Regulierung der freien Finanzanlagenvermittlung gesetzlich fixiert werden, wäre darauf zu achten, dass nicht die gleichen Ausnah- metatbestände geschaffen werden wie im Rahmen der Regulierung der Versicherungsvermittlung. Insbeson- dere ist darauf Acht zu geben, dass von einer „Alte- Hasen-Regelung“ - wie sie laut Presseberichten von den Regierungsfraktionen nunmehr angestrebt wird - soweit wie möglich Abstand genommen wird. Eine lang- jährige Tätigkeit ist keine Garantie für eine angemes- sene Qualifikation und würde gesetzgeberische Ver- säumnisse für die nächsten Jahre quasi fortbestehen lassen. Als einen zweiten Punkt möchte ich auf die Anbieter von Vermögensanlagen eingehen, die der Gesetzentwurf ebenfalls adressiert. So wird jeder Anbieter künftig ne- ben dem Verkaufsprospekt auch ein Vermögensanlagen- Informationsblatt zu erstellen haben. Das ist zu begrü- ßen. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle unsere im Rahmen des Anlegerschutz- und Funktionsverbesse- rungsgesetzes geäußerte Forderung bekräftigen, die we- sentlichen Vorgaben für eine Produktkurzinformation standardisiert und konkretisiert vorzuschreiben, damit den Verpflichteten keine Spielräume gewährt werden, die die Vergleichbarkeit einzuschränken vermögen. Darüber hinaus befürworten wir, dass der Gesetzent- wurf den Prüfungsumfang der BaFin hinsichtlich der Prospektprüfung auf Kohärenz erweitert. So werden Prospekte von Vermögensanlagen künftig nicht nur da- rauf kontrolliert, ob die Informationen vollständig sind, Zu Protokoll gegebene Reden sondern auch, ob sie schlüssig und widerspruchsfrei sind. Bedauerlich ist jedoch, dass die Bundesregierung sich dem Vorschlag einer Prüfung der inhaltlichen Rich- tigkeit der im Verkaufsprospekt enthaltenen Angaben verschließt. Eine solche materielle Inhaltsprüfung könnte nämlich durch die verpflichtende Erstellung ei- nes Wirtschaftsprüfergutachtens - sogenannter IDW-S4- Standard - und dessen Hinterlegung und Offenlegung bei der BaFin erreicht werden. Da dieses Modell sowohl von der Branche als auch vom Bundesrat befürwortet wird, hoffe ich, dass wir im Rahmen der anstehenden Beratungen diesen Punkt noch korrigieren können. Ent- scheidend wird sein, wo man bei diesem Modell die Haf- tung verortet, da nach geltender Rechtslage weder die BaFin noch ein Wirtschaftsprüfer dem Anleger gegen- über für die Richtigkeit des Gutachtens haftet. Daher bietet sich die Schaffung einer spezialgesetzlichen Haf- tungsnorm an. Unentschuldbar ist in meinen Augen jedoch, dass man eine für die Steigerung des Anlegerschutzes maßge- bende Vorschrift des Diskussionsentwurfes im Referen- tenentwurf vergeblich sucht. Der Diskussionsentwurf sah in § 16 Vermögensanlagengesetz-Entwurf noch die Plicht des Anbieters zur Mitteilung des Wertes der Ver- mögensanlage vor. Das sollte Anlegerinnen und Anle- gern ermöglichen, einmal im Jahr einen Überblick über den Wert ihrer Kapitalanlage zu erhalten. Bedauer- licherweise ist die Bundesregierung hier vor der Bran- che eingeknickt. Das muss dringend revidiert werden. Jedenfalls kann das Abwarten auf die europäisch ein- heitlichen Bewertungskriterien, deren Umsetzung kaum vor Mitte 2014 zu erwarten ist, hier nicht als Argument gelten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/6051 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:1) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Lambrecht, Petra Crone, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gleichstellung eingetragener Lebenspart- nerschaften - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Cornelia Möhring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Öffnung der Ehe - Drucksachen 17/2113, 17/2023, 17/4516 - 1) Anlage 7 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Christine Lambrecht Stephan Thomae Ingrid Hönlinger Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts- ausschusses auf Drucksache 17/4516. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh- lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2113. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2023. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim- men von der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/ Die Grünen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:2) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si- cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik der Europäi- schen Union - Drucksachen 17/5903, 17/6140 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Johann Wadephul Joachim Spatz Dr. Diether Dehm Viola von Cramon-Taubadel b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine wirkungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäischen Außenund Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon - zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller ({3}), Marieluise Beck ({4}), 2) Anlage 8 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU - Drucksachen 17/5389, 17/5771, 17/6137, 17/6138 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Dr. Rolf Mützenich Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({6}) Zunächst Tagesordnungspunkt 20 a. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angele- genheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Ein- richtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge- meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6140, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5903 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom- men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge- genstimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion. Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine wir- kungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäi- schen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertra- ges von Lissabon“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6137, den An- trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5389 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstim- men der SPD und Enthaltung der Grünen angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsa- men Außen- und Sicherheitspolitik der EU“. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6138, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/5771 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal- tung der SPD angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Roth ({7}), Lothar Binding ({8}), Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Undine Kurth ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte indigener Völker stärken - ILO-Konvention 169 ratifizieren - Drucksache 17/5915 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({10}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Verbot von Koka-Blättern - Für die völkerrechtliche Anerkennung als schützenswerte Kultur der indigenen Völker im AndenRaum - Drucksache 17/6120 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({11}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute befassen wir uns mit zwei Anträgen, die den Schutz und die Rechte indigener Völker zum Gegenstand haben. Der Aufgabe, den Schutz und die Rechte indigener Völker auf unserer Welt zu stärken, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der SPD und der Grünen, unterstützen wir als CDU/CSU-Fraktion genauso vehement wie Sie. Ob diese Stärkung jedoch durch die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 und durch den freien Zugang zu Koka, wie Sie es in ihren Anträgen fordern, erreicht werden kann, bleibt zu diskutieren. Deutschland stärkt in der Zusammenarbeit mit seinen Partnerländern durch unterschiedlichste, zielgerichtete Projekte und Programme die Rechte der Indigenen. Dabei richtet sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nach den Vorgaben der ILO-Konvention 169 und hat diese Richtlinien im Konzept „Zusammenarbeit mit indigenen Völkern in Lateinamerika und der Karibik“ festgeschrieben. Das bedeutet: Bei allen entwicklungspolitischen Aktivitäten wird geprüft, ob sie negative Auswirkungen auf indigene Völker haben könnten. Bei Vorhaben, die Indigene direkt betreffen, werden diese bereits frühzeitig und umfassend in die Planung mit einbezogen. Denn wir wissen, dass indigene Völker einen besonderen Beitrag zur weltweiten kulturellen Vielfalt leisten. Dabei gilt es, insbesondere sowohl den Erfahrungsschatz als auch das naturspezifische Wissen dieser Völker als Fundus für den Schutz der Biodiversität zu erhalten und zu nutzen. Darin sind wir uns, so meine ich, alle einig. Auch aus diesen Gründen hatte sich Deutschland bei der Ausarbeitung der ILO-Konvention 169 im Jahr 1989 für diese stark gemacht und durch seine Paraphierung gezeigt, welche Bedeutung wir dieser Konvention für den Schutz und die Rechte indigener Völker zumessen, zumal es das bisher einzige internationale Vertragswerk mit völkerrechtlichem Status ist, das die Rechte indigener oder in Stammesgesellschaften lebender Bevölkerungsgruppen schützt. Die Forderung in Ihrem Antrag‚ Deutschland solle nun endlich auch ratifizieren, um zu zeigen, wie ernst wir es wirklich mit dem Schutz indigener Völker meinen, ist eine rein populistische Forderung. Sie ist schnell gefordert, klingt gut und findet leicht öffentliche Unterstützung. Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch Deutschland würde allerdings an der heutigen Situation indigener Völker in ihren Ländern rein gar nichts ändern. Und das wissen Sie selbst auch. Dennoch möchte ich gern noch einmal die Gründe dafür darlegen: Die ILO-Konvention 169 erkennt indigene Gemeinschaften als „Völker“ an, wenngleich auch ohne staatliche Souveränität, aber als kollektive Besitzer eines Territoriums und als Gemeinschaften mit eigenen traditionellen Selbstverwaltungsorganen. Die Konvention hat zum Ziel, Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl von Grundrechten für die Angehörigen indigener Gruppen rechtsverbindlich zu regeln. Dies betrifft unter anderem das Recht auf ihre eigene Lebensweise, Sprache und Kultur, das Recht auf traditionelles Land sowie die Nutzung der dort vorhandenen Ressourcen, das Recht auf Selbstverwaltung und das Recht auf spezielle Konsultations- und Partizipationsverfahren, die Einfluss auf das Territorium oder die Lebensweise von indigenen Gruppen haben. Die ILO-Konvention richtet sich vor allem an die Länder, zu deren Bevölkerung in Stämmen lebende Völker oder Eingeborene zählen. Das trifft für Deutschland nicht zu. Bei uns leben nationale Minderheiten, wie die Friesen, Sorben, Sinti und Roma oder die Dänen, die deutsche Staatsbürger sind. Alle genießen weitreichende Rechte, die von allen Seiten anerkannt und gefördert werden. Wir haben seit Jahren in Zusammenarbeit mit den nationalen Minderheiten eine sehr erfolgreiche Integrationspolitik, um die uns viele beneiden. Die ILO-Konvention 169 verfolgt im Gegensatz dazu einen segregativen Ansatz, der für indigene Völker in den Ländern, die bereits die Konvention ratifiziert haben, auch zielführend ist. Diese zwei genannten Punkte sind ausreichend, um zu verstehen, dass eine Ratifizierung nicht nur nicht nötig, sondern für Deutschland auch nicht zweckdienlich ist. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Unter Rot-Grün, in den Jahren 1999 bis 2005, haben Sie, als Sie die Möglichkeit zur Ratifikation hatten, nämlich genau aus diesen Gründen nicht ratifiziert. Auch die Forderung‚ Deutschland solle aus Solidaritätsgründen ratifizieren, hätten Sie sich selbst erfüllen können. Das haben Sie aber auch nicht getan. Unsere Solidarität mit den indigenen Völkern - und das auch schon zu Zeiten von Rot-Grün - spiegelt sich in den Projekten, Programmen und Handlungsrichtlinien der Bundesregierung wider. Diese entsprechen dem Geist der Konvention. Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass diejenigen Staaten die Konvention ratifizieren, in deren Gebiete indigene Völker leben. Nur dadurch wird die Kraft dieser Konvention erhöht. Da unterscheiden wir uns in unseren Politiken. Nicht die Anzahl der Unterschriften zählt, sondern wer und aus welchem Grund er unterschreibt, ist entscheidend. Derzeit haben 22 Länder der 183 Mitgliedstaaten ratifiziert, davon 15 lateinamerikanische Länder: In Europa sind es Spanien, Norwegen, die Niederlande und Dänemark, also vier europäische Länder mit zum Teil autonomen Gebieten, deren Situation sich von der in Deutschland lebende nationaler Minderheiten deutlich unterscheidet. Die Vereinten Nationen schätzen, dass weltweit circa 350 Millionen Menschen, das sind circa 4 Prozent der Weltbevölkerung, Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen sind. Diese leben in mehr als 500 Gemeinschaften und in mehr als 70 Ländern dieser Erde. Lateinamerika ist mit einem hohen Anteil Indigener an der Gesamtbevölkerung - circa 10 Prozent - ein regionaler Schwerpunkt der deutschen bilateralen Zusammenarbeit zur Stärkung indigener Rechte. In Bolivien gehören 62 Prozent der Bevölkerung indigenen Völkern an. Die nachhaltige Entwicklung der Länder Lateinamerikas wird also wesentlich davon abhängen, ob und wie die dort lebenden indigenen Völker mit eingebunden und gefördert werden. Deren Rolle bei der Lösung regionaler und globaler Probleme wird meines Erachtens immer noch unterschätzt. Insbesondere beim Erhalt der Biodiversität leisten Indigene aufgrund ihrer Lebensweise einen unschätzbaren Beitrag. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt vor allem die Bereiche Demokratieförderung, Schutz und Management natürlicher Ressourcen, Krisenprävention und Konfliktmanagement sowie Bildung. In Brasilien wurden zum Beispiel Indianergebiete ausgewiesen und geschützt. In Bolivien wurde die dezentrale Regierungsführung gestärkt und in Guatemala eine interkulturelle zweisprachige Erziehung aufgebaut. Auch auf internationaler Ebene wird die Bedeutung indigener Völker zunehmend erkannt und anerkannt. So gibt es im Rahmen des UN-Systems zahlreiche Gremien und Resolutionen, die sich mit der Verbesserung der Situation von indigenen Völkern befassen. Dies geschieht auf die unterschiedlichste Weise - beispielsweise durch die Unterstützung regionaler Dachverbände indigener Völker und ihrer Vertreter bei der Wahrnehmung ihrer Interessen gegenüber Regierungen und auf internationaler Ebene. Ein Beispiel ist das regionale Netzwerk „Indigene interkulturelle Universität“: Es bietet Postgraduiertenstudiengänge zu interkultureller, zweisprachiger Bildung und Medizin sowie zu Rechtspluralismus an. Auch die Stärkung der Rechte indigener Frauen ist Thema der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Zu Protokoll gegebene Reden Lateinamerika. So kooperiert das BMZ auch mit der COICA - Cordinadora de las Organizaciones Indigenas de la Cuenca Amazonica -, die die Interessen der indigenen Amazonasvölker vertritt, oder mit dem Zentralamerikanischen Rat Indigener Völker, CICA. In Lateinamerika haben, abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, alle Länder das ILO-Übereinkommen ratifiziert. Die meisten Verfassungen lateinamerikanischer Länder erkennen die nationale Gesellschaft mittlerweile als multiethnisch oder multikulturell an und sprechen den indigenen Bevölkerungsgruppen entsprechende Rechte zu. Das sind ermutigende Signale. Dennoch müssen wir die indigenen Völker und die Länder, in denen sie leben, weiter unterstützen. Eine Ratifizierung der ILO 169 durch Deutschland würde dahin gehend jedoch wenig bewegen. Und nun möchte ich noch etwas zu dem Antrag bezüglich einer Legalisierung von Koka sagen: Die Blätter der Kokapflanze gehören seit Jahrtausenden zum kulturellen und religiösen Erbe und Brauchtum der indigenen Völker, unter anderem auch in Bolivien. Das ist unbestritten. Deshalb ist man den Kompromiss eingegangen, dass Bolivien den Kokastrauch für traditionelle Zwecke anbauen darf. Bis 2006 erlaubte das bolivianische Gesetz eine jährliche Anbaufläche von 12 000 Hektar in der Yungas-Region. Die tatsächliche Anbaufläche der Kokaplantagen lag jedoch um ein Vielfaches höher. In diesem Zusammenhang muss man zur Kenntnis nehmen, dass Bolivien der drittgrößte Kokainproduzent der Welt ist. 2010 wurden 19 000 Tonnen Koka in Bolivien legal verkauft. Dennoch will Bolivien die Fläche für den legalen Kokaanbau auf 20 000 Hektar erweitern. Die interne Nachfrage des Kokablattes ist mit dieser Fläche mehr als ausreichend gedeckt. Deutschland erkennt durchaus die kulturelle Bedeutung von Koka an. Dennoch erachten wir eine Legalisierung der Kokapflanze vor dem Hintergrund der riesigen Drogenproblematik derzeit nicht für gangbar. Zur Begründung der gebotenen Legalisierung wird im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 zur unterschiedlichen strafrechtlichen Behandlung des Gebrauchs von Alkohol und Cannabis in Deutschland herangezogen. Es wurden in Anlehnung an das Bundesverfassungsgerichtsurteil Rückschlüsse dergestalt gezogen, dass die Kokapflanze wie Alkohol eine Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hätte. Diese Parallele kann meines Erachtens nicht gezogen werden. Zwar führt extensiver Alkoholmissbrauch zu schlimmen menschlichen Einzelschicksalen. Aber der legale Zugang zu Alkohol fördert nicht die organisierte Kriminalität, wie dies der Anbau von Koka wegen der Herstellungsmöglichkeit von Kokain zur Folge hat. Eine Folge, die Menschen, Natur und letztendlich Staaten zerstört. Dennoch hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, eine mögliche Einberufung einer Staatenkonferenz zur umfassenden Diskussion des bolivianischen Anliegens wohlwollend zu prüfen, sofern ein entsprechender Antrag von Bolivien gestellt würde. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt beide Anträge ab.

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist das Kauen von Kokablättern Tradition oder eine Droge? Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag zeigt, dass die Grünen das Kauen von Kokablättern lediglich als Tradition sehen, losgelöst von der damit zusammenhängenden Drogenproblematik in Form der Weiterverarbeitung von Kokablättern zu Kokain. Es ist richtig: Das Kauen von Kokablättern wird in weiten Teilen der indigenen Bevölkerung Boliviens und anderer Andenstaaten praktiziert und gilt nicht nur als Symbol für Tradition, sondern auch als Mittel gegen Schläfrigkeit und Höhenkrankheit. Entsprechend ist der Vorstoß der bolivianischen Regierung unter Präsident Evo Morales vom 12. März 2009 zu sehen, eine Änderung der UN-Einheitskonvention über Betäubungsmittel zu erreichen. Morales, selbst ehemaliger Kokabauer und überzeugter Konsument, wollte mit seinem Antrag auf Änderung von Art. 49 Abs. 2 e der UN-Einheitskonvention über Betäubungsmittel von 1961 eine Ausnahme für das Kauen von Kokablättern erzielen. Die Änderung sollte dabei nur für das Kauen des Kokablattes gelten, während die Weiterverarbeitung zu Kokain nach wie vor verboten bleiben sollte. Dieser Änderungsantrag ist jedoch am Widerstand von 17 UN-Mitgliedstaaten gescheitert. Auch Deutschland hat dem Antrag Boliviens zur Änderung der Drogenkonvention nicht zugestimmt. Ausschlaggebend für die Haltung Deutschlands waren drogenpolitische Erwägungen. Deutschland sieht in dem Änderungsvorschlag Boliviens die Gefahr, dass die über Jahrzehnte entwickelten rechtlichen Instrumente zur Bekämpfung der weltweiten Drogenproblematik beschädigt werden könnten. Diese Sorge ist nicht unberechtigt. Im Zuge einer Legalisierung des Anbaus von Kokablättern zum traditionellen Kauen und für den medizinischen und religiösen Einsatz würden nämlich automatisch die Rahmenbedingungen für eine lukrative Weiterverarbeitung zu Kokain begünstigt werden. Eine Trennung des Anbaus von Kokablättern zum Kauen einerseits und zur Weiterverarbeitung andererseits, wie im bolivianischen Antrag vorgeschlagen, ist in der Praxis aber nicht umsetzbar. Eine Ausnahmeregelung beim Kokaanbau würde außerdem einer Aufweichung der Konvention Tür und Tor öffnen und eine Grauzone beim Kokaanbau schaffen. Die traditionelle Bedeutung des Kokakauens für die indigene Bevölkerung Boliviens und weiterer Andenstaaten soll nicht verkannt werden. Die ILO-Konvention der Vereinten Nationen schützt die Rechte und Traditionen indigener Völker ausdrücklich. Die Gefahr eines Missbrauchs ist aber nicht von der Hand zu weisen. Unter dem Deckmantel des Brauchtumschutzes nämlich würde einer kriminellen Industrie Tür und Tor geöffnet. Ein Beispiel ist Mexiko, das unter den fortwährenden Kämpfen rivalisierender Drogenkartelle leidet. Seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón sind in Mexiko bereits über 36 000 Menschen ums Leben gekomZu Protokoll gegebene Reden men. Besonders betroffen ist der Norden des Landes, insbesondere die Stadt Ciudad de Juárez an der Grenze zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Juárez gilt in dieser Hinsicht als gefährlichster Ort der Welt. Drogenhandel ist in Bolivien zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Dies hat inzwischen die bolivianische Regierung eingeräumt. Seit 2007 ist die Anbaufläche für Kokablätter jährlich gewachsen. Laut UNO werden auf rund 30 000 Hektar Fläche Kokablätter angebaut. Nur ein Bruchteil davon deckt den Bedarf zum traditionellen Kauen und für religiöse Rituale. Der Großteil der Kokablätter wird in geheimen Labors zur Herstellung von Kokain verwendet. Bolivien ist nach Kolumbien der weltweit größte Produzent von Kokain. Die Verquickungen der Drogenmafia reichen dabei bis ins Umfeld von Präsident Morales. Morales selbst tritt für die Legalisierung des Kauens der Kokapflanzen nicht zuletzt auch deshalb ein, weil er als Anführer der Organisation der Kokabauern in der Provinz Chapare aktiv ist. Im Februar dieses Jahres wurde der ehemalige Polizeigeneral Boliviens, Rene Sanabria, in Panama wegen Drogenhandels festgenommen und nach Miami ausgeliefert. Auch in der Vergangenheit wurden einige dem Präsidenten nahestehende Personen wegen Drogenhandels verhaftet. Bereits 2008 hatte Morales die amerikanische Drogenbekämpfungsbehörde des Landes verwiesen mit der Begründung, sie mische sich in die inneren Angelegenheiten Boliviens ein. Angesichts der geschilderten Umstände halte ich die Entscheidung Deutschlands und 16 weiterer Staaten, den Antrag Boliviens zur Änderung der UN-Einheitskonvention abzulehnen, für richtig. Vorrangiges Ziel der Vereinten Nationen muss die Bekämpfung der internationalen Drogenökonomie sein. Deutschland ist trotz seiner Ablehnung des bolivianischen Antrags bemüht, konstruktive Gespräche mit der bolivianischen Regierung zu führen und gemeinsame Projekte zur Drogenbekämpfung zu intensivieren. Ich denke, dass dies der richtige Weg ist. Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir daher nicht zustimmen.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, hat im Jahr 1989 die ILO-Konvention 169 zu indigenen und in Stämmen lebenden Völkern verabschiedet. Am 5. September 1991 trat die Konvention in Kraft. Bis heute ist dies die einzige internationale Norm, die den Ureinwohnervölkern rechtsverbindlichen Schutz und eine Vielzahl von Grundrechten garantiert. Und bis heute - fast 20 Jahre nach Inkrafttreten - hat die Bundesrepublik Deutschland die Konvention 169 immer noch nicht ratifiziert. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen in allen Bundestagsfraktionen, sollten und müssen wir gemeinsam ändern. Dies wäre Ausdruck der internationalen Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands als führende Nation in Europa und auch als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Zu dieser Verantwortung und Glaubwürdigkeit gehört nämlich, dass internationale Abkommen und Vereinbarungen national ratifiziert und umgesetzt werden. Der gemeinsame Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, über den wir heute beraten, bietet dafür die parlamentarische Grundlage. Laut Vereinten Nationen zählen rund 400 Millionen Menschen in über 70 Ländern zu den indigenen Völkern. Das sind mehr Menschen als die Einwohner der USA und Deutschlands zusammen. Trotzdem sind die Lebensgrundlagen und traditionellen Rechte indigener Völker vielerorts bedroht. Hinzu kommen vielfach Menschenrechtsverletzungen vonseiten der jeweiligen Regierungen. Es geht um das Recht auf kulturadäquate und selbstbestimmte Entwicklung. Dazu gehört unter anderem die Anerkennung und praktische Berücksichtigung ihrer sprachlichen und kulturellen Besonderheiten. Das gilt auch für ein Brauchtum, das seit Jahrtausenden Bestandteil der Lebensverhältnisse von den indigenen Völkern in den Anden ist, nämlich die Blätter der Kokapflanzen zu konsumieren. Insofern bedarf es auch einer Toleranz gegenüber diesem Brauchtum, damit unnötige Konflikte vermieden werden. Der Antrag der Grünen zeigt hier Wege auf, wie auf internationaler Ebene mit diesem Problem umzugehen ist. Eine internationale Untersuchung zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Kauens von Kokablättern sollten die Vereinten Nationen einleiten, um weitere Erkenntnisse in dieser Frage zu erhalten. Es geht um die Verhinderung von Diskriminierung von Menschen mit indigenem Hintergrund und um garantierte gesellschaftliche und politische Beteiligungsrechte. Es geht um das Recht auf Aufrechterhaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme indigener Völker sowie den Zugang zu Land und Ressourcen - und deren Nutzung. Außerdem geht es um die Bekämpfung der Armut und schlechter Lebensbedingungen, von denen Menschen aus indigenen Völkern überproportional betroffen sind. Gerade der letzte Punkt macht die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit mit und für indigene Völker deutlich. Denn: Die Stärkung der Rechte indigener Völker und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen stellen eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung dar. Vor allem in Ländern mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil lassen sich die Millenniumsentwicklungsziele nur erreichen, wenn die Potenziale indigener Völker genutzt und ihre spezifischen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden. Außerdem ist die aktive Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen, einschließlich der indigenen, für die Entwicklung demokratischer und multiethnischer Gesellschaften unabdingbar. Dies stärkt die Zusammenarbeit und den Dialog von Staat und Zivilgesellschaft und kann möglichen Konflikten vorbeugen oder hilft, diese friedlich auszutragen. Schließlich leisten indigene Völker dort, wo sie in unmittelbarer Nähe zu natürlichen Ressourcen und biologischer Vielfalt leben und wirtschaften, dank ihres über Generationen überlieferten Wissens einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Initiative zur Rettung des Regenwaldes im Yasuni-Nationalpark in Zu Protokoll gegebene Reden Karin Roth ({0}) Ecuador, bei deren Umsetzung die dort lebenden indigenen Völker eine wichtige Rolle spielen. In der vergangenen Legislaturperiode hatten sich alle im Bundestag vertretenen Parteien in einem gemeinsamen Antrag für eine Unterstützung der Initiative eingesetzt. Bundesminister Niebel will heute davon nichts mehr wissen. Die Folgen sind klar: Wenn Deutschland als einer der wichtigsten Geber jetzt nicht zu seinem Wort steht, steht das Projekt vor dem Aus, wird eine einmalige Tier- und Pflanzenwelt für immer verloren gehen. Die SPD fordert deshalb, für das Regenwaldprojekt jährlich 40 Millionen Euro in den Haushalt einzustellen. Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 ist die Voraussetzung dafür, dass indigene Völker ihr Recht bekommen und ihre Rechte gegenüber dem Staat einklagen können. Sie ist die Grundlage zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie des Gesundheitsund Bildungsstandes der indigenen Völker. Sie verbietet jegliche Diskriminierung hinsichtlich des Arbeitsentgelts, der ärztlichen und sozialen Betreuung, der sozialen Sicherheit und der Vereinigungsfreiheit. Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen werden ebenfalls festgeschrieben. Ein wichtiger Fortschritt war die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker vom September 2007, die von der VN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde. Deutschland hatte dieser Resolution nicht nur zugestimmt, sondern war im Vorfeld auch aktiv an ihrer Ausarbeitung beteiligt. Deshalb wäre es nur folgerichtig, wenn Deutschland die ILO-Konvention 169 ratifizieren würde. Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht über die Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen vom August 2010 zu Recht festgestellt, dass Personen mit indigenem Hintergrund politische und gesellschaftliche Teilhabe ganz oder teilweise verwehrt werde. Die Bundesregierung räumt ferner ein, dass aktive Partizipation indigener Völker unabdingbar für die Verwirklichung ihrer Menschenrechte sei und die ILO-Konvention 169 das geeignete internationale Vertragswerk sei, einen umfassenden Schutz dieser Rechte zu gewährleisten. Trotz dieser richtigen Erkenntnisse ist die Bundesregierung bislang nicht bereit, dem Deutschen Bundestag die ILO-Konvention 169 zur Ratifizierung vorzulegen, und dies, obwohl die auswärtige Politik der Bundesregierung massiven Einfluss auf die Lebensbedingungen indigener Völker auf der ganzen Welt hat. So greifen die wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Unternehmen und die Außen-, Wirtschafts-, Handels-, Umwelt- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung direkt oder indirekt in die Rechte indigener Völker ein. Beteiligungen deutscher Firmen und Banken an Staudammbau- oder Öl-Pipeline-Projekten oder die Aktivitäten der staatlichen Durchführungsorganisationen sind Beispiele dafür. Auch die Maßnahmen im Rahmen der neuen Rohstoffstrategie der Bundesregierung berühren in vielen Fällen die Interessen indigener Völker. Gestern war genau dieses Thema Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dies macht deutlich, dass der Schutz der Rechte indigener Völker schon längst nicht mehr als rein innerstaatliches, nationales Anliegen betrachtet werden kann. Die Globalisierung hat Industrienationen, Schwellen- und Entwicklungsländer und somit auch die dort lebenden indigenen Völker näher denn je zusammengebracht. Mit der Ratifizierung der ILO-Konvention 169 würde Deutschland seines besonderen internationalen Gewichts und seiner Verantwortung für die Wahrung der Menschenrechte Rechnung tragen. Offiziell erweckt die Bundesregierung jedenfalls den Eindruck, dass sie ganz im Sinne der ILO-Konvention 169 handelt. Aber es fehlt die vertragliche Verpflichtung. Vor wenigen Tagen hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein Folgekonzept zur menschenrechtsbasierten Entwicklungspolitik vorgelegt. Dieses Konzept stellt die Achtung der Menschenrechte in allen Bereichen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den Mittelpunkt. Dies ist nicht neu, aber notwendig. Es baut im Wesentlichen auf dem unter der sozialdemokratischen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul bereits im Jahr 2008 entwickelten und anschließend in die Praxis umgesetzten „Entwicklungspolitischen Aktionsplan für Menschenrechte“ auf. Insgesamt zwölfmal werden die Menschenrechte der indigenen Völker und deren Einhaltung in dem Konzept erwähnt. Es wird kritisiert, dass indigene Völker in den meisten Staaten vom politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben weitgehend ausgeschlossen sind, dass ihre fortgesetzte Ausgrenzung nicht nur ihre Entwicklungschancen beschränkt, sondern auch Konfliktpotenzial mit Auswirkungen auf die politische Stabilität in sich birgt und dass die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 Grundvoraussetzung für die aktive Partizipation indigener Völker und die Verwirklichung ihrer Menschenrechte ist. Alles richtig. So weit, so gut. Aber was folgt daraus? Um es mit Doktor Faust in Goethes gleichnamigem Werk zu sagen: „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Das kann die Koalition und die Bundesregierung jetzt ändern. Im vorliegenden Antrag fordert die SPD-Fraktion gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Erstens. Die Bundesregierung soll dem Deutschen Bundestag die ILO-Konvention 169 umgehend zur Ratifizierung vorlegen. Das wäre ein wichtiges Signal an die internationale Staatengemeinschaft und Ausdruck der Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Welt. Zweitens. Die Bundesregierung soll die Resolutionen der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker in nationales Recht umsetzen und die entsprechenden internationalen Gremien mit ausreichenden Finanzmitteln unterstützen. Drittens. Die Bundesregierung soll sich auf europäischer Ebene und im Rahmen der Europäischen Initiative für Demokratie und Menschenrechte stärker für die Rechte der indigenen Völker einsetzen. Zu Protokoll gegebene Reden Karin Roth ({1}) Viertens. Wir erwarten, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommission die Rechte indigener Völker in der Welthandelsorganisation, WTO, und im Rahmen des Übereinkommens über geistiges Eigentum, TRIPS, durchsetzt. Wir fordern, fünftens, dass die Bundesregierung die Bedeutung indigener Völker für die biologische Vielfalt anerkennt und dem Deutschen Bundestag das NagoyaProtokoll für einen gerechten Ressourcenzugang zur Ratifizierung vorlegt. Am 5. September 2011 ist der 20. Jahrestag des Inkrafttretens der ILO-Konvention 169. Das wäre genau der richtige Zeitpunkt, damit Deutschland als drittgrößter Beitragszahler der ILO die Rechte indigener Völker durch die Ratifizierung der Konvention endlich vollständig anerkennt. Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen und ein internationales Zeichen - gemeinsam über die Fraktionsgrenzen hinweg - zu setzen.

Dr. Christiane Ratjen-Damerau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004204, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kennen Sie Valentina Rosendo Cantú? Valentina Rosendo Cantú wurde vor neun Jahren von Soldaten vergewaltigt, in ihrem Dorf im Süden Mexikos. Valentina Rosendo Cantú steht damit für eine Vielzahl indigener Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Die Täter von Valentina Rosendo Cantú wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. In Mexiko ist dies trauriger Alltag. Ungewöhnlich am Fall von Valentina Rosendo Cantú ist, dass er es bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica schaffte - und die Richter diese und andere Vergewaltigungen im vergangenen Jahr als Folter gegen die indigene Bevölkerung beurteilten. Sie verpflichteten Mexiko, die Verfahren von der Militärjustiz an zivile Gerichte zu übergeben und den Opfern Entschädigungen zu zahlen. Ohne diesen Druck von außen würde Mexiko gegen dieses Verbrechen nichts tun. Die dortigen Gerichte sehen keinen Handlungsbedarf, nicht in diesem Fall und auch nicht in den vielen anderen Fällen. Mexiko jedoch hat die ILO-Konvention 169 ratifiziert. Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Außen- und Entwicklungspolitik konsequent für die Verbesserung der Lage indigener Bevölkerungsgruppen und die Wahrung ihrer Rechte ein. Regierungsvertreter fordern die Einbindung der indigenen Bevölkerung in politische Prozesse und die zügige Umsetzung entsprechender Verfassungsvorschriften. Die Bundesregierung nutzt ihre bilateralen Beziehungen zu Ländern mit indigener Bevölkerung, um sich für deren Interessen einzusetzen. Deutschland setzt sich bei den Vereinten Nationen für die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen ein und unterstützt entsprechende Resolutionen und Erklärungen. Das „Permanente Forum für Indigene Angelegenheiten“ wurde unter anderem durch das Engagement Deutschlands eingesetzt. Insbesondere in Ländern mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil können die Milleniumsziele ohne die konkrete Verbesserung der Lebenssituation von Indigenen nicht verbessert werden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat daher ein übersektorales Konzept mit dem Namen „Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern in Lateinamerika und der Karibik“ erarbeitet. Es werden integrierte Vorhaben im Bereich der Armutsbekämpfung, der Regionalentwicklung oder Demokratieförderung unterstützt und die Rechte und Interessen indigener Bevölkerungsgruppen gefördert. Wie wir sehen, engagiert sich die Bundesregierung sehr für indigene Völker. Warum ratifiziert sie dann nicht die ILO-Konvention 169? Weil sie für Deutschland überflüssig ist und weil die behandelte Problematik auf Deutschland nicht zutrifft. Das Übereinkommen richtet sich ausnahmslos an frühere Kolonien, in denen heute indigene Bevölkerungsgruppen leben. In Brasilien sind das beispielsweise die Kaingang, in Dänemark die Inuits. Deutschland ist kein solches Land. Mit der ILO-Konvention 169 sollen für indigene Rechte der Gleichbehandlung und spezielle Beteiligungsrechte statuiert werden. Ihre soziale und kulturelle Identität, ihre Bräuche und Überlieferungen und ihre Einrichtungen sollen durch das Übereinkommen anerkannt und geschützt werden. In Deutschland setzen wir uns - erfolgreich - seit Jahrzehnten für die Integration von hier lebenden Minderheiten ein. Die Regelungen des Übereinkommens widersprechen dem und haben insgesamt eine trennende Zielsetzung. Indigene Bevölkerungsgruppen erhalten separate Rechte wie eigene Schulen und geschlossene Räume. Das ist für Staaten, in denen ein beachtlicher Bevölkerungsteil indigener Herkunft ist, sinnvoll, für uns in Deutschland aber nicht. Wir sind dank unseres Grundgesetzes und unserer Entwicklung in der Gleichbehandlung von Minderheiten so weit, dass wir für sie keine Sonderrechte brauchen. Wir leben die Gleichheit vor Recht und Gesetz. Eine Trennung und Absonderung würde nicht helfen, sie wäre kontraproduktiv. Solange das Übereinkommen ILO 169 auch auf die deutsche Bevölkerung angewendet werden könnte, muss sich die Bundesregierung daher gegen die Ratifikation aussprechen. In dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland leben keine Völker im Sinne des Abkommens, und eine Anwendung der Konvention würde der hiesigen Integration von Minderheiten schaden. Eine weitere Frage bei dem zurzeit debattierten Antrag lautet: Warum haben vorherige Regierungen die Konvention nicht ratifiziert? Die Konvention steht schon seit 20 Jahren zur Ratifikation bereit. Die Antragsteller hätten dafür genug Zeit gehabt, als sie selbst in Regierungsverantwortung standen. Ich kann es Ihnen erklären: SPD und Bündnis 90/Die Grünen sahen in ihren Regierungszeiten genau die gleichen Probleme wie wir. So ergab eine Ratifizierbarkeitsprüfung unter der rot-grünen Bundesregierung „äußerst gravierende Hemmnisse“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellte im Juni 2006 einen Antrag zur Ratifikation der ILO-KonZu Protokoll gegebene Reden http://www.sueddeutsche.de/thema/Mexiko vention 169. Zu der Zeit befand sie sich in der Opposition. Der Antrag wurde abgelehnt, auch mit den Stimmen der SPD. Hier werden also ernsthafte und wichtige Themen zur Stimmungsmache genutzt. Es soll aussehen, als ob wir uns nicht kümmern würden, als ob für uns Menschenrechtsverletzungen nicht von Belang wären, als ob wir andere Interessen über die von diskriminierten Bevölkerungsgruppen stellen würden. Solche Anträge werden zu Recht „Schaufensteranträge“ genannt. Sie taugen zu nichts anderem, als im Schaufenster ausgestellt zu werden und gut auszusehen. Ich empfinde dies im Hinblick auf ein solch bedeutendes und sensibles Thema als beschämend. Valentina Rosendo Cantú ist für mich eine Heldin. Obwohl Mexiko die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat, hat sich der mexikanische Staat nicht für ihre Rechte eingesetzt. Valentina Rosendo Cantú hat sich jedoch nicht mit dem himmelschreienden Unrecht abgefunden, das den Indigenen in Mexiko zugefügt wird. Sie hat den Gang durch die Institutionen gewagt und gewonnen. An uns liegt es, Druck auszuüben und Hilfestellungen zu bieten. Die Einhaltung von Recht und Gesetz darf kein Einzelfall bleiben; sie muss selbstverständlich werden. Dafür arbeiten wir in der Entwicklungspolitik.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Berührt es uns wirklich, wenn Jumma-Indigene in Bangladesch in einem Völkermordfeldzug ermordet, gefoltert, vergewaltigt und ihre Siedlungen niedergebrannt werden? Wenn zahllose Yanomami- und Yekuana-Indigene im Amazonas-Gebiet an von illegalen Goldgräbern eingeschleppten Krankheiten sterben? Oder wenn in Kolumbien innerhalb von fünf Jahren mehr als tausend Indigene ermordet und Tausende aus ihrer Heimat vertrieben werden, weil sie auf strategisch oder ökonomisch wichtigem Boden wohnen? Die Antwort aller deutschen Regierungen seit 1989 ist: nein. Seither nämlich steht die Ratifizierung des „Übereinkommens über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“, die ILO-Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, aus. Dabei ist es das bisher einzige rechtsverbindliche Dokument der Vereinten Nationen zum Schutz und zur Förderung indigener Gemeinschaften. Seit 22 Jahren weigert sich Deutschland also, dieser Konvention beizutreten. Das Europaparlament mahnte die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mehrfach, das Übereinkommen zu unterzeichnen. Die deutsche Bundesregierung aber verweigert eine Ratifizierung mit Hinweis auf die Prüfung der Rechtslage. Dass diese Begründung nur vorgeschoben ist, liegt auf der Hand. Zum einen fehlt das Interesse und der politische Wille, sich des Themas anzunehmen, zum anderen werden wirtschaftliche Nachteile für betroffene deutsche Unternehmen vor Ort, bei Wirtschaftskooperationen oder der Vergabe von Hermes-Bürgschaften befürchtet. Zum Schutz deutscher Unternehmen weigert man sich, endlich den Schutz für Indigene voranzutreiben. Das ist ein Skandal. Denn es herrscht akuter politischer Handlungsbedarf. Wenn der Bau des Belo-Monte-Staudamms in Brasilien das Leben von bis zu 40 000 Menschen konkret bedroht, dann ist dafür auch ein deutsches Unternehmen verantwortlich. Die Voith Hydro, ein Gemeinschaftsunternehmen von Voith und Siemens, hat erst kürzlich einen Vertrag über die Ausrüstung des mit dem Staudamm verbundenen Wasserkraftwerks in Höhe von 443 Millionen Euro unterzeichnet und somit die Zerstörung der Lebensgrundlage von Tausenden Indigenen im Gebiet des Xingu-Flusses besiegelt. Wenn in Kolumbien im Zuge des Kohleabbaus Indigene vertrieben oder sogar ermordet werden, wenn im Grenzgebiet Catatumbo die Existenz der Motilon Bari durch die mit dem Bergbau einhergehende Zerstörung des Ökosystems und Vertreibungen bedroht ist, dann profitieren davon auch deutsche Kraftwerksbetreiber. Schließlich hat Deutschland im Jahr 2009 17,9 Prozent der Kraftwerkskohle aus Kolumbien bezogen, die deutsche EnBW gar 30 Prozent. In den nächsten Jahren könnte Kolumbien nach Prognosen des Vereins der deutschen Kohleimporteure, dem Konzerne wie RWE, ThyssenKrupp und Vattenfall angehören, sogar Spitzenreiter für den atlantischen Steinkohlemarkt zu werden. Auch wenn es positive Beispiele gibt wie in Botswana, wo lokale Gerichte die Vertreibung von 5 000 Indigenen aus der Gruppe der San aus der Kalahari als verfassungswidrig erklärt haben, sodass diese nach jahrelangem Kampf nun endlich in ihre Ursprungsgebiete zurückkehren können, steht eines fest: Bei Verhandlungen um natürliche Ressourcen und Bodenschätze - Stichwort Rohstoffstrategie -, beim Verkauf von Ländereien an private Investoren - Stichwort Landgrabbing - oder bei Handelsabkommen wie beispielsweise Assoziierungsabkommen zwischen lateinamerikanischen Ländern und der Europäischen Union werden die Rechte der indigenen Gemeinschaften meistens übergangen. Dabei sind die Menschenrechte ausdrücklich kein ortsgebundenes Konzept. Die deutsche Bundesregierung kann also auch dann Verpflichtungen nach internationalem Recht gegenüber indigenen Gemeinschaften eingehen, wenn auf deutschem Staatsgebiet keine indigenen Gruppen leben. Denn jeder Staat, der die ILO-Konvention Nr. 169 ratifiziert, stärkt die Rechte indigener Gemeinschaften. Jeder Beitritt ist ein Beitrag, die Menschenrechte für die Indigenen durchzusetzen. Jeder Beitritt hilft außerdem, traditionelles Wissen, Erfindungen und Praktiken indigener Gemeinschaften zu schützen, Wissen also, das beispielsweise für den Erhalt und die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt relevant ist, wie Art. 8 der Biodiversitätskonvention richtig feststellt. Denn die etwa 370 Millionen Menschen, die in 5 000 indigenen Gemeinschaften in über 70 Ländern auf allen Kontinenten leben, stehen für den Erhalt kultureller und ökologischer Vielfalt. Die Anerkennung der Rechte indigener Gemeinschaften als nichtstaatliche Kollektive gehört daher zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Zu Protokoll gegebene Reden Die positiven Entwicklungen seit Inkrafttreten der ILO-Konvention Nr. 169 sind enorm. Immer mehr indigene Organisationen schließen sich zusammen und bilden Netzwerke, um ihre Interessen zu vertreten. Ein besonders positives Beispiel ist hierbei Bolivien, wo die Wahl des ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas, Evo Morales, unter anderem dazu geführt hat, das indigene Konzept des „Buen Vivir“ und der Rechte der Natur in die Verfassung aufzunehmen. Die ILO-Konvention Nr. 169 wurde inzwischen von 22 Staaten ratifiziert. Es ist Zeit, dass die deutsche Bundesregierung den guten Beispielen folgt und ihrer Verantwortung gegenüber den indigenen Gemeinschaften gerecht wird.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bereits 2002 beschloss der Bundestag einen umfangreichen Menschenrechtsantrag, der die Bundesregierung aufforderte, die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 zu prüfen. Leider hat Deutschland die Konvention der ILO bis heute nicht ratifiziert, obwohl sie als einzige völkerrechtliche Norm die Rechte indigener Völker umfassend und verbindlich festlegt. Damals scheiterte eine Ratifizierung vor allem an den Bedenken des Wirtschafts- und des Innenministeriums. Auch ein neuer Anlauf durch einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen in der letzten Legislaturperiode wurde durch die Stimmen der damaligen Regierungskoalition abgeblockt. Es ist daher sehr erfreulich, dass wir jetzt gemeinsam mit der SPD einen Antrag einbringen können. Noch schöner wäre es, wenn daraus sogar ein interfraktioneller Antrag gemeinsam mit der Koalition werden könnte. Kämen Signale aus den Koalitionsfraktionen, die in diese Richtung gehen, dann würden wir uns Gesprächen nicht verschließen und gegebenenfalls diesen Antrag zugunsten eines gemeinsamen Antrags zurückziehen. Als „Indigene“ werden weltweit circa 350 Millionen Menschen bezeichnet. Sie leben in circa 70 verschiedenen Ländern - und viele von ihnen weitestgehend im Einklang mit der Natur. Viele ihrer angestammten Gebiete sind regelrechte Biodiversitäts-Hotspots. Ihr traditionelles Wissen ist dabei unerlässlich für die Bewahrung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt auf unserem Planeten. Die Berichte des UN-Sonderberichterstatters für die Rechte indigener Völker, Rodolfo Stavenhagen, belegen, dass diese Menschen sowohl in ihren Grundrechten, aber auch in ihren kulturellen Rechten in vielen Regionen der Welt bedroht sind. Ihrer Lebensweise wird in zunehmendem Maße durch Umweltverschmutzung und skrupellose Ausbeutung von Rohstoffen die Grundlage entzogen. Verantwortlich sind nicht nur die Regierungen der einzelnen Länder, sondern auch multinationale Unternehmen. Insofern sind auch die Regierungen der wohlhabenden Industriestaaten in der Verantwortung, zu handeln - und nicht nur Staaten, auf deren Territorium indigene Völker leben. Wir fordern, wie in unserem Antrag formuliert, Richtlinien für die Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung, die die Rechte der indigenen Völker entsprechend der ILOKonvention 169 berücksichtigen. Der entwicklungspolitische Dialog mit Repräsentanten indigener Völker muss intensiviert und ihre Partizipationsmöglichkeiten müssen auf nationaler wie auch internationaler Ebene sowohl politisch als auch finanziell unterstützt werden. Es muss endlich eine politische Entscheidung für den Schutz dieser Menschen sowie für den Schutz der biologischen Vielfalt getroffen werden gerade in Zeiten des Klimawandels. Die Ausreden vonseiten des Wirtschafts- und Innenministeriums, nur Länder, in denen indigene Völker leben, könnten die Konvention ratifizieren, dürfen nicht länger gelten, ebenso wenig die ignorante Forderung, dass es möglichst keine Auswirkungen auf deutsche wirtschafts- und innenpolitische Belange geben darf. Die blutig niedergeschlagenen Indigenenproteste gegen ein Freihandelsabkommen in Peru im Jahr 2009 haben erneut deutlich gemacht, wie bedroht ihr Lebensraum ist und dass Indigenenrechte nicht einfach Wirtschaftsinteressen geopfert werden dürfen. Jede Ratifizierung der ILO-Konvention 169 stellt einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung des internationalen Menschenrechtsstandards für indigene Völker dar; gerade auch durch Länder, die selbst keine indigene Bevölkerung auf ihrem Staatsgebiet aufweisen. Die Niederlande und Spanien haben es uns vorgemacht. Jetzt ist es an Deutschland, die ILO-Konvention 169 endlich zu ratifizieren und damit auch seiner neuen außenpolitischen Verantwortung im UN-Sicherheitsrat gerecht zu werden. Ein weiterer Antrag von uns Bündnisgrünen, der aber auch ein interfraktioneller Antrag werden könnte - wir freuen uns da über die zustimmenden Signale der SPD -, fordert, dass den indigenen Völkern im Andenraum auch weiterhin die Möglichkeit gegeben wird, legal Kokablätter anzubauen. Dieser Antrag veranschaulicht beispielhaft die Problematik um die kulturellen Rechte indigener Völker. Die Blätter der Kokapflanze gehören seit Jahrtausenden zum kulturell-religiösen Erbe und Brauchtum dort. Auch zu medizinischen Zwecken werden die Blätter gekaut, und Touristen, die an der Höhenkrankheit leiden, schätzen diese Pflanze ebenso. Trotzdem stehen Kokablätter seit 1961 auf der Liste der verbotenen Betäubungsmittel der Vereinten Nationen, weil sie mit chemischen Mitteln zur gefährlichen Droge Kokain verarbeitet werden können. 2009 hatte Bolivien deshalb bei den Vereinten Nationen beantragt, das Anbauen von Kokablättern nicht zu unterbinden. Jedoch sollte dies nur im Inland geschehen und die Nutzung der Kokablätter nicht für den Export gestattet werden. Die Verarbeitung von Koka zu Kokain sollte weiterhin streng verboten bleiben. Auch in unserem Kulturkreis hat sich seit Jahrtausenden eine Droge etabliert: Alkohol. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 9. März 1994 den Alkoholkonsum in Deutschland damit gerechtfertigt, dass Alkohol als Lebens- und Genussmittel eine Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hat; in Form von Wein wird er auch im religiösen Kult verwendet. Weiterhin sieht sich der Gesetzgeber auch mit der TatsaZu Protokoll gegebene Reden che konfrontiert, dass er den Genuss von Alkohol wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden kann. Genauso geht es den Menschen im Andenraum. Daher brauchen wir die Anerkennung von Kokablättern als schützenswerte Heilpflanze und Bestandteil der Kultur der Indigenen in den Anden. Wir begrüßen, dass das BMZ kürzlich ein neues Menschenrechtskonzept vorgestellt hat, dass die Menschenrechte zum verbindlichen Leitprinzip der deutschen Entwicklungszusammenarbeit machen soll. Wenn es der Bundesregierung aber wirklich ernst damit ist, müsste sie jetzt im Kabinett beschließen, auch die Außenwirtschaftsförderung, die Agrar- und Handelspolitik und vor allem auch die neue Rohstoffstrategie kohärent an den Menschenrechten in ihrer vollen Bandbreite - also auch unter Einbeziehung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte - auszurichten. Folgerichtig müssten die Koalitionsfraktionen auch beiden heute von uns vorgelegten Anträgen zustimmen. Ich bin auf die Beratungen in den Ausschüssen gespannt und hoffe, dass wir zu einem Konsens finden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5915 und 17/6120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe Ihnen zwischenzeitlich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt: abgegebene Stimmen 565, mit Ja haben gestimmt 489, mit Nein haben gestimmt 66, Enthaltungen 10. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 565; davon ja: 489 nein: 66 enthalten: 10 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({6}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({7}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({10}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({11}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({12}) Anita Schäfer ({13}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt ({14}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({15}) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({16}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({17}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({18}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({19}) Peter Weiß ({20}) Sabine Weiss ({21}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker olms Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({22}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Graf ({23}) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({24}) Hubertus Heil ({25}) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann ({26}) Christel Humme Josip Juratovic Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({27}) Fritz Rudolf Körper Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christian Lange ({28}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({29}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({30}) Michael Roth ({31}) ({32}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({33}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({34}) Werner Schieder ({35}) Ulla Schmidt ({36}) Silvia Schmidt ({37}) Carsten Schneider ({38}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({39}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Tack Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({40}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Heinz Golombeck Joachim Günther ({41}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({42}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({43}) Michael Link ({44}) Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({45}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({46}) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Dr. Stefan Ruppert Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel ({47}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({48}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({49}) Volker Beck ({50}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({51}) Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger olms Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Ute Koczy Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Markus Kurth Undine Kurth ({52}) Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Kerstin Müller ({53}) Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Brigitte Pothmer Claudia Roth ({54}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Wolfgang Börnsen ({55}) DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Wolfgang Nešković Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({56}) Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Till Seiler Enthalten SPD Klaus Barthel Petra Hinz ({57}) Waltraud Wolff ({58}) FDP Dr. h. c. Jürgen Koppelin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Uwe Kekeritz Monika Lazar Beate Müller-Gemmeke Dr. Harald Terpe Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:1) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Belarus nach den Wahlen - Repressionen beenden - Drucksache 17/6144 - Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/6144. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. 1) Anlage 10 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({59}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei - Drucksachen 17/1101, 17/2025 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Dr. Rolf Mützenich Sevim Dağdelen Kerstin Müller ({60})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute diskutieren, fordert die Bundesregierung auf, sich bilateral und im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen für freie gewerkschaftliche Betätigung und Garantie von Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei einzusetzen. Konkret wird die Bundesregierung aufgefordert, sich gegen die Kriminalisierung legitimer Arbeitnehmerproteste in der Türkei einzusetzen und die türkische Regierung zur Vorlage eines Beschäftigungsangebots an die Tekel-Mitarbeiter in Übereinstimmung mit international anerkannten Arbeits- und Vereinigungsrechten zu drängen. Die Bundesregierung wird weiter aufgefordert, gegenüber der türkischen Regierung die Polizeigewalt gegen streikende Gewerkschaftsvertreter deutlich zu kritisieren, die Demokratisierung des türkischen Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation als Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern sowie sich auf EU-Ebene für eine ausführliche Hervorhebung der Lage der türkischen Gewerkschaften in den Fortschrittsberichten der EU-Kommission einzusetzen. Der Antrag beinhaltet einige gerechtfertigte Kritikpunkte. In der Tat kam die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2010 zu dem Ergebnis, dass das Land zwar Fortschritte bei der Erfüllung der EU-Beitrittskriterien gemacht hat, im Bereich der Grundrechte jedoch noch mehr erreicht werden muss. Das Problem ist jedoch nicht allein auf die Frage des Gewerkschaftsrechts beschränkt. Auch Journalisten werden häufig strafrechtlich verfolgt und verurteilt, und der Druck auf die Medien untergräbt die Pressefreiheit. Nicht-muslimische Religionsgemeinschaften und die Aleviten werden weiterhin unangemessenen Beschränkungen unterworfen. Die „demokratische Öffnung“, mit der insbesondere die Kurdenfrage angegangen werden soll, hat nur zu begrenzten Ergebnissen geführt. Gerade weil die Problematik sich nicht nur auf das Gewerkschaftsrecht beschränkt, halten wir von der Union es für nicht zielführend, einzelne Aspekte durch einen Antrag herauszugreifen. Wir lehnen es ab, einem Antrag zuzustimmen, der sich ausschließlich um Gewerkschaftsfreiheit dreht und andere Probleme wie Minderheitenschutz, die Rechte von Frauen oder den Schutz von Christen in der Türkei nicht betrachtet. Es ist zudem nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, sich in diesem Maße und so detailliert, wie Sie es in Ihrem Antrag tun, liebe Kollegen von der Linken, in die inneren Angelegenheiten eines Partnerstaats einzumischen. Davon ist unbenommen, dass deutsche Parlamentarier in der Türkei regelmäßig Rechtsfragen stellen, Missstände anprangern und das Problem auf bilateraler Ebene immer wieder ansprechen. Gleichwohl halten wir von der Union es für ungemein wichtig, dass wir die Erfüllung und Einhaltung der Kopenhagen-Kriterien, aber auch die außenpolitische Rolle der Türkei mit ihrer Wirkung auf Zypern/Nordzypern kritisch beleuchten und begleiten. Wir ermutigen unsere Partner, sich im Bereich der Menschenrechte, der Minderheitenrechte und auch der Gewerkschaftsrechte, dem „Acquis communautaire“ der Europäischen Union voll und ganz anzunähern. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei sich in Richtung Europa orientiert. Wir möchten, dass die Türkei auf der Seite Europas steht sowie eine klare und Kriterien orientierte Beitrittsperspektive zur Europäischen Union behält. Grundsätzlich gilt: Über die Betrachtung von Einzelaspekten dürfen wir nicht die herausragende strategische Bedeutung der Türkei als Dialogpartner zum Islam, als Energietransitland und als aufstrebende Wirtschaftsnation aus den Augen verlieren. Ihr Antrag, verehrte Kollegen von der Linken, greift zu kurz und wird deshalb von uns abgelehnt.

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Defizite bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaften in der Türkei können nicht geleugnet werden. Die Rechte der Gewerkschaften sind ebenso wie die der Arbeitnehmer in nicht unerheblichem Maße eingeschränkt. Es wurden zwar einige Rechte, wie beispielsweise das Recht zur Aushandlung von Tarifverträgen, auch im öffentlichen Bereich, gestärkt, doch sind die positiven Aspekte insgesamt eher bescheiden. Rechte zur Gewerkschaftsbildung und zur Organisationsfreiheit bleiben auch nach der letzten Verfassungsänderung deutlich hinter internationalen Standards zurück. Die Einschränkungen bei der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bilden nur einen kleinen Ausschnitt bestehender Defizite. Auch Jahre nach der Aufnahme der Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU sind auf etlichen Gebieten weiterhin spürbare Demokratiedefizite festzustellen. Dabei darf man nicht vergessen, dass zwischen der Ratifizierung von Verträgen, der Verabschiedung EU-konformer Gesetze und der Unterzeichnung internationaler Konventionen einerseits und der gesellschaftlichen Realität andererseits große Lücken klaffen. Dies ist auch und gerade auf arbeitsmarktpolitischem Gebiet traurige Realität in der Türkei. Der Antrag der Linken beschränkt sich auf die Frage der Demokratisierung des türkischen Gewerkschaftsrechts. Betrachten wir doch einmal ein anderes sozialund arbeitsmarktpolitisches Problem, nämlich das der Kinderarbeit, dann stellen wir eine deutliche Diskrepanz zwischen Gesetzeslage und Realität fest. Auf dem Papier ist die Türkei auf diesem Gebiet zwar den internationalen Verpflichtungen nachgekommen. So hat sie beispielsweise im Jahre 2001 die ILO-Konvention Nr. 182 über die schlimmste Form von Kinderarbeit ratifiziert und ist bereits 1992 dem von der ILO entworfenen Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit IPEC beigetreten. In der Realität aber gibt es noch viele Formen von Kinderarbeit in der Türkei, vor allem bei der landwirtschaftlichen Saisonarbeit sowie in kleinen und mittleren Familienbetrieben. Zwar haben die Gewerkschaften bei der Identifizierung von Kinderarbeit in der Vergangenheit eine positive Rolle gespielt, ihr Organisationsgrad aber ist in den genannten Sektoren relativ gering, wodurch ihren Einflussmöglichkeiten enge Grenzen gesetzt sind. Zu Protokoll gegebene Reden Diese und ähnlich gelagerte Probleme werden in dem Antrag außer Acht gelassen, was unweigerlich zu einer verkürzten Sichtweise führt. Die Benennung von Mängeln bei der Presse- und Meinungsfreiheit beispielsweise findet ebenso wenig Erwähnung wie die Offenlegung von Defiziten auf der Ebene der Religionsfreiheit oder der Frauenrechte. Gerade im Zusammenhang mit der Presse- und Meinungsfreiheit hat es in der Türkei in jüngster Zeit mitunter erschreckende Entwicklungen gegeben. Hier kommt auf die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu als unabhängiger Eckpfeiler der türkischen Gesellschaft. Die Verhaftungen kritisch eingestellter Journalisten und Schriftsteller, wie sie gerade wieder im März dieses Jahres stattfanden, sind äußerst besorgniserregend. Hier ist zu hoffen, dass die türkischen Gewerkschaften ihrer zivilgesellschaftlichen Verpflichtung nachkommen und sich für transparente Prozesse und die Einhaltung demokratischer Spielregeln einsetzen. Unerwähnt im Antrag der Linken bleibt auch, dass aus Sicht der Regierung Erdogan unbequeme Journalisten verhaftet werden oder dass die Regierung von dem kritischen Medienkonzern Dogan Holding angebliche Steuernachforderungen in astronomischer Höhe verlangt und andere zu dieser Holding gehörende Firmen wegen deren kritischer Berichterstattung keine staatlichen Aufträge mehr erhalten. Dadurch sah sich die Dogan-Gruppe zum Verkauf ihrer Tankstellenkette gezwungen. Hier sind die Gewerkschaften aufgefordert, ihrer gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, welche Richtung die Türkei unter einer zu erwartenden weiteren Regierung Erdogan einschlägt. Einerseits gibt sich die Türkei unter der Regierung Erdogan wirtschaftlich als Musterknabe, andererseits sind nationalistische Töne und Alleingänge festzustellen, die unsere besondere Wachsamkeit erfordern. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, in dessen Zusammenhang die türkischen Gewerkschaften künftig besonders gefordert sind. Dies ist die schleichende Unterwanderung der Wirtschaft und sämtlicher staatlicher Organisationen durch die Fethullah-Gülen-Bewegung. Diese Bedrohung, die sich vor allem auf die öffentliche Verwaltung und das Erziehungswesen sowie die Polizei und langsam auch auf das Militär erstreckt, wird in dem Antrag der Linken leider nicht erwähnt. Es zeichnet sich nämlich ab, dass die regierungstreue Fethullah-GülenBewegung beziehungsweise ihr gleichnamiger Anführer die regierungskritische Dogan-Gruppe als größten Medienkonzern der Türkei ablösen wird. Der ehemalige stellvertretende Direktor der nachrichtendienstlichen Abteilung der türkischen Polizei, Hanefi Avci, schreibt in seiner Autobiografie, ich zitiere, „dass die FethullahBewegung die türkische Polizei unter ihre Kontrolle gebracht hat“. Avci wurde kurz nach Erscheinen seines Buches festgenommen. Ganz bewusst mache ich auch auf den Einfluss dieser Bewegung in Deutschland aufmerksam und zitiere hier die Menschenrechtsaktivistin Serap Cileli mit den Worten: „Die Gülen-Bewegung ist eine Glaubensgemeinschaft mit missionarischen Absichten. Gleichgültigkeit und Unwissenheit der Deutschen über die Gülen-Bewegung führen zu fatalen Folgen.“ Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Türkei eng verbunden. Eine isolierte Betrachtung, die sich lediglich auf die EU-Konformität türkischer Gesetze bezieht, wird der Vielschichtigkeit der Probleme und Herausforderungen nicht gerecht. Wir können deshalb dem Antrag der Linken nicht zustimmen.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist schon merkwürdig, wenn wir heute, am 9. Juni 2011, über einen Antrag zur Türkei abstimmen, der mehr als ein Jahr alt ist. Wir beschäftigen uns also einige Tage vor einer wichtigen Wahl - der Wahl zur türkischen Nationalversammlung am 12. Juni 2011 - mit einem Antrag, der einen Miniausschnitt türkischer Politik behandelt, noch dazu einem Antrag, der an Aktualität verloren hat. Um nicht missverstanden zu werden: Gewerkschaftsrechte, Mitbestimmung, Tarifrechte ebenso wie Arbeitsbedingungen und soziale Rechte sind für uns Sozialdemokraten von hoher Wichtigkeit. Auch nachdem gegenüber dem in diesem Antrag beschriebenen Zustand leichte Verbesserungen eingetreten sind, bleibt für die Türkei auf diesem Gebiet noch viel Reformbedarf, ehe sie hier internationalen Standards der ILO - der Internationalen Arbeitsorganisation - entspricht. Aber bei den bevorstehenden Wahlen steht mehr auf dem Spiel. Die spannende Frage ist doch: Wird die Türkei nach diesen Wahlen den Weg zur weiteren Demokratisierung gehen? Wird, wenn die AKP von Premier Erdoğan eine verfassungsgebende Mehrheit im Parlament erreicht, eine Präsidialverfassung ohne Referendum - also ohne Mitsprache des Volkssouveräns - durch das Parlament gepeitscht? Oder wird die Türkei, nachdem sich die Oppositionspartei CHP neu formiert hat, zu einer parlamentarischen Demokratie mit Kompromissen und Ausgleich in der Gesellschaft werden? Viele Reformen stehen noch aus. An oberster Stelle gilt es, endlich wahre Pressefreiheit herzustellen. Wahre Meinungsfreiheit, die auch vor den Gerichten standhält, ist noch nicht erreicht, das Vertrauen in Rechtsstaat und Justiz noch immer mangelhaft. Wie wird nach der Wahl mit dem längst nicht gelösten Kurdenproblem umgegangen? Wer demokratische Repräsentanz aller Bevölkerungsgruppen will, darf nicht ständig unliebsame Parteien im kurdischen Gebiet verbieten, sondern muss im Gegenteil die hohe Hürde von 10 Prozent für den Einzug in die Nationalversammlung senken. Die Wahlkampagne war eine Schlammschlacht, die einer Demokratie unwürdig ist. Es ist nur zu hoffen, dass nach der Wahl ein zivilisierter Umgang der Parteien einkehrt. Viele in der zivilen Gesellschaft der Türkei sind der Machtkämpfe müde. Sie hoffen auf eine prosperierende, tolerante, demokratische Entwicklung in ihrem Land. Das türkische Selbstbewusstsein ist gestiegen. Viele in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders diejenigen, die beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg genießen und die bisherigen Reformen begrüßen, wollen nicht mehr mit ihrer Politikentwicklung vom Schielen auf den Zu Protokoll gegebene Reden EU-Beitritt abhängig sein. „Wir machen unsere Reformen für uns, nicht für die EU“, ist ein oft gehörter Satz. Die Kränkung durch die Haltung bestimmter EU-Länder, die nur eine „privilegierte Partnerschaft“ anbieten, sitzt tief. Die Türken und die Türkei haben sich von Europa entfernt. Nur noch 30 Prozent der Türken sind in Umfragen pro EU - in früheren Jahren waren es circa 70 Prozent. Die neue türkische Außenpolitik - „Null Probleme mit den Nachbarländern“ - führt zu einer Annäherung an Staaten wie Iran, Irak, Syrien und andere Länder des Mittleren Ostens, aber auch gleichzeitig zu Verwerfungen mit Israel. Dies muss die Europäer und die USA angesichts der Veränderungen und Risiken durch den arabischen Frühling alarmieren. Es muss in unserem Interesse sein, dass die Außenpolitiken nicht zu sehr auseinanderdriften. Die Türkei ist NATO-Mitglied und damit relevanter Sicherheitspartner, sie ist durch ihre geopolitische Lage von ausschlaggebender Wichtigkeit. Dies trifft auf die arabischen Länder ebenso zu wie auf den Kaukasus. Sie könnte hilfreich sein beim Lösen vieler Konflikte in der Region. Wir sollten die Türkei ermutigen, zur Lösung des Konfliktes um Berg-Karabach beizutragen und gleichzeitig das eigene Verhältnis zu Armenien zu klären. Ein „Modell für die arabische Welt“, wie manche hoffen, wird die Türkei nur werden, wenn sie ihre inneren demokratischen Reformen weitertreibt und gleichzeitig hohe Verantwortung zeigt in einer Region im Umbruch. Gewerkschaftsrechte sind ein Minibaustein auf dieser riesigen Baustelle. Die SPD enthält sich zum Antrag - wie in den Ausschüssen. Eine adäquate TürkeiDiskussion wird erst im Lichte der Ergebnisse der Wahlen möglich sein. Ob Europa die Türkei auf dem wichtigen Weg in die volle Demokratie begleiten kann, wird davon abhängen, ob wir die Türkei endlich als willkommenen Partner behandeln oder ob einige Länder, wie Deutschland, Frankreich und Österreich, mit ihrer Ausgrenzungsstrategie fortfahren.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, dass der vorliegende Antrag im Auswärtigen Ausschuss beraten wurde. Jetzt kommt er wieder ins Plenum zur abschließenden Beratung. Selbst der Zeitablauf sorgte nicht dafür, dass er besser und unterstützenswerter geworden wäre. Die Türkei ist ein sehr wichtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Union sowohl in wirtschaftlicher, kultureller als auch in militärisch-strategischer Hinsicht. Die EU und Deutschland arbeiten deshalb schon seit längerem mit der Türkei in den verschiedensten Bereichen eng zusammen. Wir haben deshalb ein großes Interesse daran, dass die Türkei bei der Demokratisierung und bei Menschenrechten weiter vorankommt. Und die Türkei muss ein eigens Interesse an diesen Fortschritten haben. Dies wird durch die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen mit der EU verstärkt. Wir sind uns auch alle einig, dass die Türkei nur dann eine Beitrittsperspektive hat, wenn sie die sehr hohen Standards der Kopenhagener Kriterien erfüllt. Nicht zuletzt wegen einer solchen Beitrittsperspektive hat die Türkei bereits einen beachtlichen Modernisierungsprozess hinter sich. Klar ist aber auch: Es gibt noch sehr viel zu tun. Auf vielen Feldern sind noch lange nicht die demokratischen Standards erreicht, wie wir sie fordern und wie sie für moderne Demokratien selbstverständlich sind, sei es im Justizsystem oder bei den Menschenrechten. So werden Misshandlungen von Personen in Polizeigewahrsam immer wieder öffentlich. Ebenso bedarf die Umsetzung von Minderheitenrechten für Kurden und Aleviten neuer Impulse. Hinsichtlich der Durchsetzung der zivilen Kontrolle des Militärs zeigen die derzeit laufenden Gerichtsverfahren und Verhaftungen im Zusammenhang mit aus der jüngeren Vergangenheit stammenden Putschplänen, dass die türkische Demokratie weiterhin große Anstrengungen bei der politischen Entmachtung des Militärs zu leisten hat. Und auch im Bereich des Gewerkschaftsrechts gibt es ohne Zweifel noch viel zu tun. Über all das muss mit der türkischen Regierung ernsthaft geredet werden. Und es wird geredet! Die Bundesregierung mahnt einen nicht nachlassenden Reformprozess bei jeder Gelegenheit an, und zwar auf allen Gebieten. Der vorliegende Antrag fordert also lediglich etwas, das schon längst Usus im Verhältnis zwischen der EU und Deutschland zur Türkei ist. Aber bei allem müssen wir die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren. Die Türkei hat in den letzten Jahren, trotz mancher Rückschritte, insgesamt gezeigt, wie reformbereit und -fähig sie ist. Es ist der falsche Weg, wenn jetzt der Deutsche Bundestag sich hinstellt und in einem offiziellen Beschluss den Zeigefinger hebt und der Türkei sagt, wie sie ihr Gewerkschaftsrecht zu gestalten hat. Auch auf EU-Ebene steht es dem Deutschen Bundestag nicht gut zu Gesicht, der Kommission vorzuschreiben, welche Punkte bei den Beitrittsverhandlungen wie zu gewichten sind. Es ist nicht angemessen, zum jetzigen Zeitpunkt die Beitrittsverhandlungen, die ergebnisoffen sein müssen, mit Anträgen aus einem nationalen Parlament zu beeinflussen und zu versuchen, zu steuern. Dass die Linke dies versucht, sagt übrigens einiges über deren Europahaltung und das Europaverständnis aus. Abgesehen davon greift der Antrag zu kurz. Wie kommt die Linke eigentlich dazu, sich nur auf ein einziges Thema zu konzentrieren? Wie gesagt, die Türkei muss noch viele Reformen im gesamten Sozialbereich anstoßen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Deutsche Bundestag jetzt und heute die Reform des Gewerkschaftsrechts derart hervorheben und einfordern sollte. Der Antrag tut geradezu so, als sei die Lage der Gewerkschaften der schlimmste Missstand und das dringlichste Problem in der Türkei. Es ist aber eines von vielen. Einer der wichtigsten Gründe allerdings, den Antrag abzulehnen, ist sein Unterton. Der Linken scheint es vordergründig darum zu gehen, die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts voranzubringen. In dem Antrag sind aber die Vorgänge um die Privatisierung des Tabakkonzerns Tekel der Dreh- und Angelpunkt der Kritik. Es soll so, meines Erachtens durchaus bewusst, die Privatisierung von Staatskonzernen als Quell allen Übels und eigentlicher Grund für soziale Verwerfungen dargestellt werden. Unterschwellig kann und soll man Zu Protokoll gegebene Reden Patrick Kurth ({0}) herauslesen, dass die Verstaatlichung von Unternehmen bzw. die Nichtprivatisierung eine Lösung des Problems wären. Erst die Übernahme durch einen kapitalistischen Konzern - auch noch aus den USA - hätte demnach die Konflikte hervorgerufen, so die Lesart. Worauf der Antrag aber überhaupt nicht eingeht, sind die Hintergründe der Privatisierung, ob und inwiefern diese nützlich bzw. unumgänglich waren. Dieser Duktus des Antrags ist für uns nicht akzeptabel. Es ist keineswegs die Privatisierung von Betrieben an sich, die ein Problem darstellt. Aber der vorliegende Antrag will genau dies implizieren. Die Linke benutzt den Antrag also, die Problematik vor den Karren ihrer Sozialismusfantasien zu spannen. Schließlich ist der Antrag hinsichtlich einer seiner wichtigsten Forderungen überholt. Bereits seit dem letzten Jahr finden wieder Großdemonstrationen der Gewerkschaften am 1. Mai auf dem Taksim-Platz in Istanbul und auch an vielen anderen Orten des Landes statt, friedlich und ohne Repressionen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Türkei auf einem guten Weg ist und jetzt konstruktiv auf diesem umfassenden Reformweg weiter begleitet werden muss. Der vorliegende Antrag jedenfalls ist überholt und nicht geeignet, die Türkei auf diesem eingeschlagenen Weg der Reformen voranzubringen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vom 15. Dezember 2009 bis 2. März 2010 kämpften rund 12 000 Arbeiterinnen und Arbeiter des ehemals staatlichen türkischen Tabak- und Alkoholmonopols Tekel sowie deren Familien landesweit um ihre Arbeitsplätze und Zukunft. Tausende kamen in die türkische Hauptstadt Ankara, um gegen ihre drohende Entlassung im Zuge der Privatisierung oder Überführung in den rechtlosen Leiharbeiterstatus 4/C. zu protestieren. Unter Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern versuchte die Polizei, ihren Widerstand zu brechen. Die entlassenen Tekel-Arbeiter fordern eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst, wie es ihnen als Staatsbedienstete nach türkischem Arbeitsrecht zusteht. Dem ist die türkische Regierung bis heute nicht nachgekommen. Auch angemessene Abfindungen wurden nicht gezahlt. Im Gegenteil. Ein Solidaritätskonto der entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ihrer Familien im Wert von 30 000 Euro wurde auf Weisung des türkischen Innenministeriums eingefroren. Die Forderungen unseres Antrages sind immer noch aktuell. Denn obwohl die Türkei das Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, über das Recht auf Vereinigung und kollektive Tarifverträge unterzeichnet hat, werden gewerkschaftliche Rechte durch Gesetze, die vielfach noch auf die Militärdiktatur zurückgehen, erheblich eingeschränkt. Die Linke. fordert deshalb die Bundesregierung auf, darauf zu drängen, dass die türkische Regierung ein Beschäftigungsangebot den Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeitern in Übereinstimmung mit den bei der ILO verankerten und international anerkannten Arbeits- und Vereinigungsrechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorlegt. Eine weitere zentrale Forderung an die Bundesregierung ist, im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit der Türkei und auf EU-Ebene die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der ILO als Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern. Letzte Woche, am 3. Juni 2011, fand in Ankara der Prozess gegen 111 Gewerkschafter statt. Auf der Anklagebank sitzen aktuelle und ehemalige Vorsitzende mehrerer Branchengewerkschaften, unter ihnen der Präsident der Nahrungsmittelgewerkschaft TEKGIDA IS, Mustafa Türkel. Sie waren an einer Aktion in Ankara zur Unterstützung von 12 000 Arbeiterinnen und Arbeitern am 1. April 2010 beteiligt. Ihnen drohen nun Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Das alles scheint offensichtlich kein Problem für die CDU/CSU und FDP zu sein, wenn man sich ihre Ausführungen zu unserem Antrag aus der ersten Beratung anschaut. Bei der CDU/CSU vor allem deshalb, weil es ja auch in anderen Bereichen gravierende Defizite gibt. Und die würden in unserem Antrag nicht berücksichtigt. Das war das Argument, um unsere Initiative zur Verbesserung der rechtlichen und in deren Folge auch zur verbesserten Durchsetzung sozialer Rechte abzulehnen. Wie instrumentell CDU/CSU mit Menschenrechten umgehen, wird am Antrag zum Schutz des Klosters Mor Gabriel von 2009 deutlich. In dem damaligen Antrag ist ganz im Sinne des Vorwurfs des Kollegen Dr. Wolfgang Götzer aus der ersten Beratung am 25. März 2010 - Plenarprotokoll 17/34 - gegen den heute zu beschließenden Antrag meiner Fraktion ein einzelnes Problem aufgegriffen worden, ohne die Lage der Türkei insgesamt zu beleuchten. Da schien eine isolierte Behandlung eines Aspektes sehr wohl völlig ausreichend. Nur hier ging es vermeintlich um die Religionsfreiheit. Und die liegt den Konservativen eben mehr am Herzen. Wenn es um Religionsfreiheit geht, dann sind mit einem Mal Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die scheinbar größten Menschenrechtsverteidiger. Geht es um Arbeitnehmerrechte, ist von Ihnen keine Hilfe zu erwarten. Als in der Türkei die Verhaftungswelle gegen Journalistinnen und Journalisten schwappte, gab es seitens der Bundesregierung wenigstens noch Bekundungen von Besorgnis. Nicht einmal so lau fällt der Protest hinsichtlich der Repression gegen Arbeiterinnen und Arbeitern aus, die ihre gewerkschaftlichen Rechte in Anspruch nehmen, um sich vor der Willkür der Unternehmensbosse zu schützen. Dass Sie von der FDP nicht im Geringsten daran interessiert sind, dass die türkische Regierung aufgefordert wird, internationale Standards bei den sozial- und arbeitsrechtlichen Normen einzuführen bzw. einzuhalten, wundert nun vermutlich niemanden. Die Rede meines Kollegen Serkan Tören in der ersten Beratung war geradezu eine Offenbarung in dieser Hinsicht. So wie die Kolleginnen und Kollegen von FDP in Deutschland den Unternehmen als ihrer ureigenen Klientel Steuergeschenke verteilt, will sie auch deutsche Unternehmen in der Türkei nicht mit international bindenden sozialen und arbeitsrechtlichen Standards „gängeln“, die deren Profit schmälern würden. Ganz nach dem Motto: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen aus.“ Da zeigt sich eben wieder, wes Geistes Kind die FDP ist. Sie ist schlicht eine Klientelpartei. Dass das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeiter nicht nur der türkischen Gesetzgebung, sondern auch dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation widerspricht, stört offenbar weder die Regierungsfraktionen noch die Bundesregierung. Das ist skandalös und beweist einmal mehr wie heuchlerisch sie mit den Menschenrechten umgehen. Die Durchsetzung von sozialen und Arbeitsrechten sind bei ihnen schlecht aufgehoben. Heuchlerisch ist die Behauptung seitens meines FDP-Kollegen Serkan Tören, der Deutsche Bundestag könne nicht die türkische Regierung zur Einhaltung bzw. Anwendung sozial- und arbeitsrechtlicher Normen auffordern. Zum einen wird das in unserem Antrag nicht gefordert - wir fordern die Bundesregierung auf, sich diesbezüglich im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit der Türkei endlich zu engagieren -, zum anderen schien dies aber in anderen Fällen für die FDP kein Problem zu sein. Während im Antrag zum Schutz des Klosters Mor Gabriel darauf hingewiesen wurde, dass Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Probleme des Klosters aufmerksam gemacht und diese auch in Gesprächen mit der türkischen Führung verdeutlicht haben, wird den türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter dieses Privileg nicht zuteil. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften Verdi, IG Metall und Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, beim Prozess in Ankara letzte Woche vor Ort waren. Dass es hier eben nicht um ein isoliertes Problem geht, zeigt der aktuell erwähnte Prozess und zeigt auch, dass eine solche Verfolgung in der Türkei überhaupt möglich ist. Von Unabhängigkeit der Justiz, die meinem Kollegen in seiner Rede zur ersten Lesung so wichtig war, ist doch hier offensichtlich kaum was zu spüren. Die von 111 Angeklagten anwesenden circa 80 sind teilweise mit unzulässigen Fragen, wie nach der Religionszugehörigkeit, konfrontiert worden. Des Weiteren wurden jedem der Angeklagten der gesetzliche Paragraf, der den Verstoß gegen das Versammlungsrecht ahndet, verlesen. Einige von ihnen sind mit angeblichen Beweisfotos konfrontiert worden. Die Verhandlung war nach circa 9 Stunden zu Ende und wurde auf Oktober vertagt. Gegen die nichtanwesenden Angeklagten ist zwecks Feststellung der Personalien und Vernehmung Haftbefehl erlassen worden. Im Zuge der Verweigerung von sozial- und arbeitsrechtlichen Normen werden auch solche Demokratiedefizite offenbar wie ungerechtfertigte Gerichtsverfahren, Einschüchterung und Polizeigewalt, wie sie gegenüber den demonstrierenden Arbeiterinnen und Arbeitern am 1. April 2010 stattfand. Was die derzeitige Regierung und der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von einer echten Demokratisierung halten, zeigen sie im aktuellen Wahlkampf wegen der Parlamentswahlen am kommenden Sonntag mehr als deutlich. Mit aller Macht und allen Mitteln will Erdogan die Zweidrittelmehrheit bei den Wahlen am 12. Juni erreichen. Damit könnte er eine neue Verfassung im Alleingang schreiben. Da verwundert es kaum, dass auch mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen versucht wird, die Konkurrenz, ist sie schon nicht komplett auszuschalten, so doch zumindest weitestgehend zu behindern oder kriminalisieren. So hatte die oberste Wahlbehörde YSK im April 2011 etliche unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten des Wahlbündnisses „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ nicht zur Wahl zugelassen. Nach Protesten im In- und Ausland wurde diese Entscheidung zurückgenommen. Doch die Repression geht weiter. Kritische Journalistinnen und Journalisten werden verhaftet, kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt. Große Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effektivität der Justiz bleiben weiterhin bestehen. Insbesondere mit den neuen Kompetenzen des Präsidenten sind die Sorgen und Ängste bezüglich einer zunehmenden Islamisierung der Türkei nicht von der Hand zu weisen. Die uneingeschränkte Wahrung der Gewerkschaftsrechte, das Streikrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen werden nicht gewährleistet. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Einhaltung bzw. Einführung international verpflichtender sozial- und arbeitsrechtlicher Normen zu verknüpfen. Genau das fordert die Linke in dem Antrag „Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei“. Ich hoffe, dass die Linke nicht die einzige Partei im Bundestag ist, die die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeiter verteidigt und unterstützt.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In drei Tagen wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Obwohl mit einem Machtwechsel in Ankara nicht zu rechnen ist, bleiben die Wahlen und die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Türkei hochspannend. Seit neun Jahren regiert die AKP, die Partei von Ministerpräsident Erdogan, alleine. Sie hat in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit große und wichtige Reformen auf den Weg gebracht, die die Grundlagen der heutigen Fortschritte der Türkei in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit waren. Eine besonders wichtige Komponente in dieser Reformdynamik war die Perspektive für die Türkei, Mitgliedsstaat der EU zu werden. Die aktuelle Lage und der Stand der Beitrittsverhandlungen geben aber Anlass zur Sorge; denn wir beobachten eine beunruhigende Stagnation in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei, die auch die bisher erzielten Erfolge und Fortschritte gefährden könnte. Aus diesem Grund haben wir im März dieses Jahres einen Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem expliziten Anliegen, die „Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben“ zu wollen. Aus Sorge um Menschenund Minderheitenrechte in der Türkei ebenso wie aus Sorge um den sozialen Frieden in diesem Land fordern wir die Bundesregierung in diesem Antrag auf, der sich Zu Protokoll gegebene Reden Claudia Roth ({0}) etablierenden Stagnation mit neuen außen- und europapolitischen Initiativen zu begegnen. Nicht nur die Lage der gewerkschaftlichen Rechte und generell die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind meilenweit von den ILO-Standards und den Gemeinschaftswerten der EU entfernt. Auch die aktuellen Festnahmen von renommierten Journalisten oder Schikanen und die juristische Verfolgung von Medienvertretern machen deutlich, wie dringend notwendig eine neue Dynamik und die Intensivierung der damals begonnenen Reformen in der Türkei sind. Die türkische Justiz braucht eine Generalsanierung in Sachen Rechtsstaatlichkeit, um endlich Schluss damit zu machen, dass jeder Verdächtige unmittelbar und quasi prophylaktisch in Haft genommen werden kann und manchmal sogar Jahre im Gefängnis verbringen muss, bevor seine Schuld rechtlich bewiesen ist. Bei solchen Fragen sind wir parteiisch, parteiisch für Menschen- und Bürgerrechte und für umfassende und vorbehaltlose Pressefreiheit. Die EU steht auch im eigenen Interesse in der Pflicht, die Beitrittsverhandlungen im Namen dieser fundamentalen Rechte der Menschen in der Türkei zu führen. Nur eine glaubwürdige Beitrittsperspektive kann den nötigen Druck und das günstige Klima schaffen, um die türkische Innen- und Rechtspolitik demokratisch und rechtsstaatlich zu gestalten und zu stabilisieren. Das ist der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgversprechenden Türkei-Politik in Deutschland. Deshalb setzen wir uns für das Ende der eingetretenen Blockade bei den Beitrittsverhandlungen ein. So besteht die Chance, dass die Türkei alle politischen und wirtschaftlichen Kopenhagen-Kriterien erfüllt und die daraus abzuleitenden Konsequenzen in Reformschritte umsetzt. Der Antrag der Fraktion Die Linke greift viele richtige und wichtige Punkte im Bereich der Gewerkschaftsrechte in der Türkei auf und thematisiert zu Recht die Verantwortung und Verpflichtung der deutschen Wirtschaft in der Türkei und in allen Unternehmen, die in beiden Ländern arbeiten. Dennoch werden wir uns enthalten, weil der Antrag detaillierte Erwartungen formuliert, die nur innerhalb der Türkei verwirklicht und umgesetzt werden können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2025, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1101 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts verbessern - Drucksachen 17/4041, 17/5562 Berichterstattung: Abgeordneter Patrick Döring

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bereits vor wenigen Monaten haben wir an dieser Stelle vor dem Hintergrund des vorliegenden und eines weiteren Antrags ausführlich über die Reiserechte in der Bundesrepublik gesprochen. Auch heute noch gilt unverändert, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und Bürger mit einer ebenso nachhaltigen wie verantwortungsbewussten Verbraucherpolitik begleitet. Das deutsche Reiserecht gewährt unbestritten ein hohes Maß an Schutz und reicht nicht nur im europäischen Vergleich deutlich über den geltenden Standard hinaus. Dieses hohe Niveau des Verbraucherschutzes werden wir nicht nur in Zukunft weiter halten; wir wollen die verbraucherfreundlichen Strukturen bei Bedarf auch weiter verbessern und punktuell ausbauen. Gerade weil das Reiserecht und eine an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientierte Verbraucherpolitik aber einen hohen Stellenwert haben muss, hat mich die bisher geführte Debatte verwundert und irritiert. Die Oppositionsparteien haben es versäumt, sich mit nachvollziehbaren und gut gemeinten Absichten für einen möglichen Ausbau der bewährten gesetzlichen Rahmenbedingungen einzusetzen. Die Aussprache war stattdessen immer wieder von unnötigem Aktionismus, nicht nachvollziehbaren Forderungen und mangelnden Sachzusammenhängen durchzogen. Ein Beispiel hierfür ist die Kritik an der Bundesregierung bezüglich des Krisenmanagements nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull. Zum einen betone ich an dieser Stelle wie in anderen Debatten zuvor gerne erneut, dass im vergangenen Jahr auf nationaler und internationaler Ebene zeitnah und in enger Abstimmung mit den am Luftverkehr Beteiligten die notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung der Lage geschaffen wurden. Zum anderen waren auch die Rechte der gestrandeten Flugpassagiere durch die Fluggastrechte-Verordnung ({0}) Nr. 261/2004 zu jeder Zeit gedeckt. Luftfahrtunternehmen waren und sind noch immer verpflichtet, im Fall eines wegen Vulkanasche annullierten Fluges Unterstützungsleistungen wie die Erstattung des Flugpreises anzubieten. Eine ebenso in der Verordnung festgeschriebene Informationspflicht schreibt Fluggesellschaften zudem vor, die Reisenden von den Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in Kenntnis zu setzen. Die Hilfs- und Informationsangebote an Flughäfen vor diesem Hintergrund als unzureichend zu beschreiben und dies sogar der Bundesregierung als mangelndes Krisenmanagement anzulasten, ist schlicht zusammenhanglos und nicht nachvollziehbar. Auch die parteiübergreifende Forderung der Opposition nach der Einführung einer wirksamen SchlichtungsPeter Wichtel stelle macht nur bedingt Sinn, da die Bundesregierung dieses Vorhaben nicht nur im Koalitionsvertrag festgelegt, sondern bereits umgesetzt hat. Mit der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, söp, ist die Realisierung einer unabhängigen und verkehrsträgerübergreifenden Schiedsstelle bereits im Dezember des Jahres 2009 gelungen. Die erfolgreiche Arbeit der Einrichtung ist ein weiterer Beleg für das hohe Niveau des Verbraucherschutzes in der Bundesrepublik und das Engagement der Bundesregierung, dieses Niveau zu halten und weiter zu verbessern. Der Ruf nach einer verpflichtenden Beteiligung der Fluggesellschaften an der bestehenden Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr ist ebenso unbegründet. Nachdem die Luftfahrtunternehmen sich grundsätzlich für die Teilnahme an Schlichtungsverfahren ausgesprochen haben, ist dies durchaus auch in einer eigenen Schlichtungsstelle denkbar. Letztendlich muss beachtet werden, dass es in der Luftfahrtbranche im Gegensatz zu anderen Verkehrsträgern wie der Schiene einen deutlich intensiveren Wettbewerb gibt. Die Bundesregierung arbeitet gegenwärtig mit Nachdruck daran, die Einbeziehung der Luftverkehrsträger in eine Schlichtung zu finalisieren. Entscheidend ist schließlich weniger, wo, sondern vielmehr dass auch Flugpassagiere ihre Anliegen so zeitnah und kostengünstig wie möglich im Rahmen einer außergerichtlichen Schlichtung prüfen lassen können. Letztendlich hat mich aber insbesondere ein weiterer in der Plenardebatte angesprochener Punkt verwundert. So wurde dem der Dienst- und Fachaufsicht der Bundesregierung unterstehenden Luftfahrt-Bundesamt mangelnder Einsatz für behinderte Flugreisende seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vorgeworfen. Eine Lektüre des jüngsten Berichtes der Europäischen Kommission über die Anwendung und Ergebnisse der Verordnung über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität verdeutlicht, dass diese Kritik absolut haltlos und unbegründet ist. Der Bericht unterstreicht, dass sich die Vorschriften der im Jahr 2008 in Kraft getretenen Verordnung weitgehend bewährt haben. Zwar ist die Auslegung der Verordnung in den Mitgliedstaaten noch nicht komplett harmonisiert; die große Mehrheit der europaweit betroffenen Passagiere hat aber die notwendigen Betreuungsleistungen erhalten, und es sind nur wenige einzelfallbezogene Probleme aufgetreten. In der Bundesrepublik hat das Luftfahrt-Bundesamt als nationale Durchsetzungsstelle seit Inkrafttreten der Verordnung keine systematischen oder strukturellen Defizite bei der Umsetzung feststellen können. Die erwähnten Punkte verdeutlichen, dass die Debatte seitens der Opposition teilweise unsachgemäß und an der eigentlichen Thematik vorbei geführt wird. Ein Fokus auf das Wesentliche - das ist die mögliche punktuelle Verbesserung der bewährten gesetzlichen Rahmenbedingungen - würde nicht nur der Aussprache bezüglich des vorliegenden Antrages guttun. Insbesondere das Reiserecht der Bürgerinnen und Bürger kann letztendlich von einem konstruktiven Austausch profitieren. Dass sich die Bundesregierung und auch die CDU/ CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bei Bedarf für eine Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Reiserechtes engagieren, belegen die jüngsten Beratungen in den parlamentarischen Gremien zur Fluggastrechte-Verordnung ({1}) Nr. 261/2004. Nicht erst seit Veröffentlichung des Berichtes der EU-Kommission zu den Entwicklungen und Erfahrungen mit der Verordnung setzt sich die Bundesregierung nachhaltig für deren zeitnahe Überarbeitung ein. Nach der bisherigen Anwendung der Verordnung bestehen noch offene Fragen und rechtliche Unklarheiten, die nur durch eine Überarbeitung durch den Verordnungsgeber umfassend und verbindlich geklärt werden können. Wichtig ist uns dabei allerdings, dass die Verbesserungen nicht pauschal und unverbindlich, sondern so präzise und rechtssicher wie möglich gestaltet werden. So werden die kurzfristigen Maßnahmen des von der EU-Kommission vorgeschlagenen Zwölf-Punkte-Planes die bestehende Rechtsunsicherheit nicht nachhaltig ausräumen können. Auch der Ansatz, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ohne Mitwirkung des Europäischen Rates und des EU-Parlamentes festzusetzen, betrachten wir als keine optimale Lösung. Sichere, verlässliche und rechtsverbindliche Regelungen kann alleine der EUVerordnungsgeber treffen. Auch inhaltlich müssen die Maßnahmen stimmig sein und eine klare Verbesserung des Reiseschutzes darstellen. Das ist im Fall des Vorhabens, das Bewusstsein der Reisenden für ihre Rechte durch Informationskampagnen in Zusammenarbeit mit den Verbraucherschutznetzen zu schärfen, offensichtlich gegeben. Die Umsetzung dieses Punktes wird von uns dementsprechend befürwortet und unterstützt. Die vorgeschlagene Förderung der Veröffentlichung verhängter Sanktionen betrachten wir dagegen kritisch. Für Maßnahmen wie eine schwarze Liste, die auch in der Debatte bezüglich des vorliegenden Antrages gefordert wird, gibt es schlicht keine rechtliche Grundlage. Zudem würde die Veröffentlichung von Daten einen Eingriff in die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen darstellen. Meine Ausführungen verdeutlichen, dass wir uns, wann immer wir mögliche Verbesserungen im Reiserecht erkennen, mit Nachdruck dafür einsetzen werden. Diese Verbesserungen sehen wir aber insbesondere im vorliegenden Antrag nicht. Bereits in der ersten Lesung vor wenigen Monaten habe ich betont, dass es für die geforderte Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs keine gesetzliche Grundlage gibt. Auch ein Sachzusammenhang zwischen der geforderten Datenerhebung und der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung ist nicht gegeben. Es ist nicht Aufgabe der amtlichen Verkehrsstatistik, Daten für die Überwachung von Passagierrechten zu erfassen. Die im Antrag formulierte Aufnahme der Verspätungstatbestände in das Verkehrsstatistikgesetz, VerkStatG, wäre schlicht sachfremd. Auch die Rolle des Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, die im Antrag scheinbar missinterpretiert wird, sollte in diesem Zusammenhang noch einmal unterstrichen werden. Das LBA ist kein rechtsdurchsetzendes Organ für FlugZu Protokoll gegebene Reden gäste und auch nicht im zivilrechtlichen Interesse tätig. Die Geltendmachung und Durchsetzung zivilrechtlicher Ausgleichsansprüche gegenüber der Luftfahrtindustrie im Interesse der betroffenen Fluggäste ist keinesfalls Aufgabe der Behörde. Ein Sachzusammenhang zwischen der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs ist, um dies erneut deutlich zu betonen, nach wie vor nicht gegeben. Abschließend betrachtet hebe ich erneut hervor, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger mit einer umsichtigen Verbraucherpolitik nachkommt. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich bewährt und werden, wenn es erforderlich ist, punktuell ausgebaut und weiterentwickelt. Forderungen, mit denen das hohe Niveau des Verbraucherschutzes nicht verbessert werden kann und weit über das Ziel eines angemessenen Reiseschutzes hinausschießen, werden unsere Unterstützung dagegen nicht finden. Den vorliegenden Antrag lehnen wir nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ab.

Ulrike Gottschalck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004043, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Europäische Kommission hat im April dieses Jahres dem Europäischen Parlament und dem Rat eine Mitteilung vorgelegt, mit der sie eine Auswertung der Fluggastrechteverordnung der EU ({0}) vornimmt. In dieser Bestandsaufnahme nennt sie Verbesserungen bei der Anwendung der Verordnung, erläutert verbleibende Hindernisse und schlägt Maßnahmen vor, die eine weiter verbesserte Anwendung dieser Verordnung ermöglichen könnten. Koordiniert mit der derzeit laufenden Überarbeitung der Pauschalreiserichtlinie ({1}) wird die EUKommission in diesem Jahr eine Folgenabschätzung der Fluggastrechteverordnung einleiten. Ziel ist, im Jahr 2012 Vorschläge zur weiteren Verbesserung der Fluggastrechte vorzulegen. Nach Informationen der EU-Kommission ist die Zahl der Fluggäste seit dem Jahr 2000 um rund 35 Prozent gestiegen; auch die Zahl der Fluggastbeschwerden ist in den letzten Jahren angestiegen. Aufgrund des wachsenden Flugverkehrs ist nach Informationen der EU-Kommission die Qualität des Flugverkehrs für die Passagiere gesunken. Die Kommission nennt als Gründe vermeidbare Verspätungen durch Überlastungen im Luftraum und auf Flughäfen, unzureichende Alternativplanungen bei extremen Schlechtwetterlagen und strengere Sicherheitsmaßnahmen, aber auch größere Flughäfen mit langen Wegen, Schwierigkeiten beim Gepäcktransfer und damit verbundene höhere Risiken für die Fluggäste, Anschlussflüge zu verpassen. Auch Geschäftspraktiken von Luftfahrtunternehmen zulasten von Flugpassagieren, die erst nach Verabschiedung der Fluggastrechteverordnung in Erscheinung getreten sind, können sich für die Passagiere als ebenso kostspielig erweisen wie Annullierung oder große Verspätung von Flügen. Nach Meinung der Kommission ist möglicherweise eine Anpassung der Fluggastrechteverordnung an diese Tatsachen notwendig. Aber auch Ansprüche, die die Fluggastrechteverordnung schon jetzt beinhaltet, werden laut EU-Kommission nicht ordnungsgemäß von den Luftfahrtunternehmen umgesetzt, wie der Anspruch auf Umbuchung bei nächster Gelegenheit und unter vergleichbaren Reisebedingungen, wenn ein vereinbarter Reiseweg geändert wurde, und der Anspruch auf Betreuung bei Wartezeiten. Nationale Durchsetzungsstellen bearbeiten die Beschwerden nicht schnell und effizient genug, und weil die Entscheidungen der nationalen Durchsetzungsstellen nicht verbindlich sind, werden sie von Luftfahrtunternehmen nicht immer befolgt oder von Gerichten nicht immer anerkannt. Laut Kommission fehlt es zudem an einer Überwachung, Erfassung und Veröffentlichung von Informationen über das Verhalten der Unternehmen und über das Niveau der Verbraucherzufriedenheit. Die EU-Kommission hält eine öffentliche Berichterstattung über Sanktionen und das Verhalten der Luftfahrtunternehmen für eine wichtige Bedingung für die korrekte Anwendung der Verordnung. Aus diesem Grund wird die Kommission die Herausgabe und Veröffentlichung der notwendigen Daten durch die Luftfahrtunternehmen auch unterstützen. Die Luftfahrtunternehmen sollen den nationalen Durchsetzungsstellen mehr Informationen zum Beispiel über Pünktlichkeit, die Zahl der von Störungen betroffenen Flüge und die angewendeten Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte übermitteln, die diese dann veröffentlichen sollen. Diese Transparenz zur besseren Überwachung der Passagierrechte halten wir ebenfalls für notwendig. Die Veröffentlichung dieser Daten sollte jedoch nicht nur empfohlen, sondern über das Verkehrsstatistikgesetz von der Bundesregierung auch verbindlich erlassen werden. Die betroffenen Unternehmen sollten zur Herausgabe der notwendigen relevanten Daten verpflichtet werden. Hinsichtlich dieses Anliegens unterstützen wir den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Die Bundesregierung besitzt gegenwärtig keine verlässlichen Zahlen zu Annullierungen, Verspätungen, Herabstufungen oder Nichtbeförderungen von Personentransporten. Diese Zahlen sind aber für eine effektive Durchsetzung von Fahrgast- und Passagierrechten erforderlich. Die im Antrag vorgeschlagenen §§ 12 und 18 des Verkehrsstatistikgesetzes reichen allerdings nicht aus, um die in diesem Antrag formulierte Forderung umzusetzen. § 12 befasst sich mit der Luftverkehrsstatistik, und § 18 bezieht sich auf die Personenbeförderungsstatistik auf Schienenstrecken. Um auch den Busbereich und die Schiffsreisen mit einzubeziehen, müssten die §§ 3 und 17 ebenfalls entsprechend angepasst werden. In der Begründung dieses Antrags wird umfangreich auf die Flugbeförderung eingegangen. Alle anderen Verkehrsträger werden in einem, nämlich dem letzten Satz zusammengefasst: „Gleiches gilt auch für die anderen sektorspezifischen Regelungen.“ Die Passagiere der anderen Verkehrsträger wie Bahn, Bus und Schiff haben aber für uns eine gleichrangige Bedeutung wie die Passagiere im Luftverkehr. Zu Protokoll gegebene Reden Diese Bedeutung spiegelt sich übrigens auf EU-Ebene auch in den Verordnungen für die Passagiere der übrigen Verkehrsträger wider. Im Dezember 2009 trat die Verordnung über die Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr in Kraft; 2010 verabschiedeten Rat und Parlament eine Verordnung über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und 2011 eine Verordnung über die Fahrgastrechte im Busverkehr. Auch diese Verordnungen beinhalten für die Fahrgäste, wie die Verordnung für die Fluggäste, das Recht auf Information, Erstattung, Änderung des Reisewegs, Betreuung während der Wartezeiten und unter bestimmten Bedingungen Ausgleichszahlungen. Außer dem Luftverkehr müssen auch die anderen Verkehrsträger in dem vorliegenden Antrag entsprechend ihrer Bedeutung umfangreicher behandelt werden. Zu den im vorliegenden Antrag genannten Parametern könnten noch weitere hinzugefügt werden, wie zum Beispiel die Anzahl der Beschwerden und die Anzahl und Höhe der Entschädigungen. Die Europäische Kommission schreibt in ihrem Bericht an das Europäische Parlament und den Rat über die Verordnung ({2}) Nr. 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisende mit eingeschränkter Mobilität vom April dieses Jahres, dass jeder sechste europäische Bürger unter einer Behinderung leidet. Die immer älter werdende europäische Bevölkerung führt zu einer steten Zunahme der Zahl von Flugreisenden, die aufgrund einer Behinderung oder eingeschränkter Mobilität spezieller Hilfe bedürfen. Angesichts dieser Tatsache kommt mir die Behandlung dieser Bevölkerungsgruppe in dem vorliegenden Antrag viel zu kurz; sie wird nur in einem Halbsatz erwähnt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass das Luftfahrt-Bundesamt, LBA, auch die Durchsetzung der Rechte von Fluggästen mit eingeschränkter Mobilität gewährleisten soll. Abschließend kann ich sagen, dass der Antrag die richtige Stoßrichtung hat. Er muss aber noch überarbeitet und um wichtige Punkte ergänzt werden. Die SPDFraktion wird sich daher enthalten.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mag den redlichen Ansatz verfolgen, die Durchsetzung der Rechte von Reisenden in Deutschland zu verbessern. Doch wie bei so vielem gilt auch hier: Der Teufel steckt im Detail. Lassen Sie mich daher nur kurz auf zwei kleine, jedoch nicht minder wichtige Punkte eingehen. Der erste Punkt ist die Datenbasis. Entgegen der Annahme meines geschätzen Kollegen Tressel haben wir mit der Deutschen Flugsicherung, DFS, und dem Central Office for Delay Analysis, CODA, einer Abteilung von Eurocontrol, längst Institutionen, die uns Monat für Monat umfangsreichstes Datenmaterial zur Verfügung stellen. Auf Grundlage der Meldungen von Piloten, die jede Verspätung einer von 76 möglichen Ursachen zuordnen und an die Flugsicherung melden müssen, wird in Europa jede einzelne Abweichung vom geplanten Flugablauf minutengenau erfasst. Vor diesem Hintergrung erschließt es sich mir nicht, warum wir darüber hinaus noch eine weitere, rein nationale Statistik brauchen sollten. Ich gebe allerdings zu: Wirft man einen ersten, flüchtigen Blick in diese Daten, so könnte man den Eindruck erhalten, die Anzahl der Verspätungen und Annullierungen hätte in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Lag die durchschnittliche Verspätung aller in Europa startenden und landenden Flüge im Jahr 2009 noch bei zehn Minuten, so schnellte sie binnen eines Jahres um 40 Prozent nach oben. Da die Fluggesellschaften nach Angaben von Eurocontrol 2010 für jede zweite Verspätung verantwortlich waren, wäre es nun einfach, ihnen den Schwarzen Peter zuzuschieben, wie es vonseiten der Opposition auch gerne und häufig getan wird. Völlig unberücksichtigt bleiben bei einer solch simplen Betrachtungsweise jedoch die durchaus komplexen Wirkungszusammenhänge. Denn die nähere Analyse der Daten zeigt, dass ein wesentlicher Teil der Verspätungen, die den Fluggesellschaften zugerechnet werden, Folgeverspätungen sind. Dabei wird allerdings nicht danach unterschieden, welchen Grund die ursprüngliche Verspätung hat. Es können sowohl endogene Faktoren, etwa Verzögerungen im Betriebsablauf oder technische Probleme am Flugzeuge auf die die Fluggesellschaften mehr oder minder direkten Einfluss haben, wie auch exogene Faktoren sein. Für das Jahr 2010 sind hier insbesondere die massiven Arbeitskampfmaßnahmen der Fluglotsen in Europa und das schlechte Wetter zu Beginn und zum Ende des Jahres 2010 zu nennen. Folglich müssen die in Deutschland dargestellten Verspätungen weder zwangsläufig hier entstanden sein, noch in der Verantwortung der Fluggesellschaften liegen. Würde man, wie im Antrag gefordert, nun eine weitere Differenzierung anstreben, würden sich für die Luftverkehrswirtschaft zusätzliche Informationspflichten ergeben, die sicherlich nicht dem Ziel des Bürokratieabbaus dienen. Darüber hinaus sei angemerkt, dass über 90 Prozent aller Flüge in Deutschland verzögerungsfrei ihr Ziel erreichten - bei rund 1,7 Millionen gewerblichen Flügen und circa 160 Millionen beförderten Passagieren im Jahr eine aus meiner Sicht durchaus beeindruckende Leistung. Der zweite Punkte der aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet werden sollte, ist die Durchsetzung der Verbraucherrechte. Wie im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vereinbart, werden wir hierzu eine unabhängige und verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle einrichten. Derzeit finden noch letzte Abstimmungsgespräche zwischen den verschiedenen Facheben statt, doch ich bin zuversichtlich, dass wir noch in diesem Jahr einen konsensfähigen Vorschlag auf den Tisch legen werden, der allen Interessen gerecht wird - denen der Verbraucher Zu Protokoll gegebene Reden und denen der Industrie. Einen Schlichtungszwang lehnen wir jedoch ab. Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst nach schlanken und praxisnahen Lösungen zu suchen, um die berechtigten Verbraucherinteressen durchzusetzen, anstatt durch einen weiteren Wust an Daten und Informationen Bürger wie auch Wirtschaft zusätzlich zu belasten.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke im Bundestag unterstützt den Antrag der Grünen. Wir sehen ihn als Ergänzung zu unserem eigenen Antrag „Fluggastrechte stärken“. Die fehlende Durchsetzung von Passagierrechten im Luftverkehr stellt immer noch ein Problem dar, das gelöst werden muss. In der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung war noch die Rede von einer „Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff“. Sie existiert bis heute nur auf dem Papier, obgleich täglich Hunderte von Passagieren Anspruch auf Entschädigung, Ausgleich oder sonstige Leistungen haben. Das Luftfahrt-Bundesamt ist in Deutschland offizielle Durchsetzungs- und Beschwerdestelle für die Rechte der Fluggäste. Nach unserer Auffassung kommt das Amt seiner Aufgabe nicht genügend nach. Beschwerden nimmt das LBA zwar entgegen, aber nachgewiesene Verstöße werden selten ordnungsrechtlich gegenüber den Unternehmen verfolgt. Auch im Fall des Vulkanausbruchs Eyjafjallajökull 2010 sind die europäischen und deutschen Fluggesellschaften ihren Zahlungsverpflichtungen nur zögernd und nicht zufriedenstellend nachgekommen. Klagen zum Beispiel gegen Air Berlin sind anhängig. Ein Passagier, der ein Problem mit einem konkreten Flug hat, ist heute in Deutschland der Willkür der Fluggesellschaften ausgeliefert, weil Beschwerden abgewiesen werden und gerechtfertigte Ansprüche eingeklagt werden müssen. So stellt sich die Linke Mobilität nicht vor. Gerechtigkeit und Teilhabe müssen auch in der Mitte der Gesellschaft möglich sein. Es kann nicht angehen, dass man bei Flugbuchungen eine Rechtsschutzversicherung mit abschließen muss. Selbstverständlich ist eine genaue statistische Erhebung der Verspätungen, Annullierungen, Fälle der Nichtbeförderung und Herabstufung im Hinblick auf die Fluggastrechteverordnungen dringend erforderlich. Die Ergebnisse dieser Evaluation sollten regelmäßig offengelegt werden. Allerdings reicht eine solche Evaluierung allein bei weitem nicht aus. Die Linke fordert die Einführung einer verbindlichen, unabhängigen und verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle. Eine Anbindung an die bestehende Schiedsstelle öffentlicher Personenverkehr ist denkbar, da oft mehrere Verkehrsträger Gegenstand einer Beschwerde sind. Eine Schlichtungsstelle, die allein von den Fluggesellschaften finanziert und getragen wird, für deren Tätigwerden der Fluggast erst einmal 50 Euro Eigenbeteiligung zahlen muss, lehnen wir ab. Mobilität muss ökologisch, sozial gerecht, barrierefrei und demokratisch sein. Mit der Evaluation von Beschwerden im Luftverkehrsbereich beschreiten wir den richtigen Weg.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Passend zur gestrigen Debatte in den Ausschüssen über die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Fluggastrechteverordnung haben wir heute diesen Antrag im Plenum. Wenn Sie mich fragen: Das war eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung. Selten habe ich in einem offiziellen Papier der EU-Kommission so deutliche Kritik gelesen. Das will ich Ihnen auch an einigen Punkten verdeutlichen. Sanktionen seien „nicht wirksam, verhältnismäßig und abschreckend genug“. Die Durchsetzung erfolge „zu komplex, zu langsam oder praktisch gar nicht“, heißt es wenig später. Die nationalen Durchsetzungsstellen seien „nicht in der Lage, eine immer größer werdende Zahl von Beschwerden innerhalb einer angemessenen Frist ordnungsgemäß zu bearbeiten“. Deshalb werden beispielsweise kollektive Rechtsmittel und Schlichtungsstellen gefordert. Auch dieser Antrag von uns lag Ihnen bereits vor. Aber das ist ja noch lange nicht genug: In Antworten auf zahlreiche Kleine Anfragen stellte die Bundesregierung erstaunlicherweise fest, dass Parameter wie Verspätungen, Annullierungen und Nichtbeförderung gar nicht erhoben würden. Die Zahlen sind sehr wohl vorhanden und werden bisher allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen erhoben. So hat jede Airline, jeder Flughafen und auch die Deutsche Flugsicherung diese Daten. Selbst die Auskunft erteilende Behörde, das LBA, hat Statistiken, die beispielsweise Piloten einsehen können. Das Problem: Das LBA bewertet lediglich die eingehenden Beschwerden. Dabei wissen wir doch alle: Die Beschwerden bilden nur einen Bruchteil des Problems. Denn: Welcher Fluggast kennt die Funktion des LBA? Nur 23 Prozent der Passagiere haben überhaupt einmal von der Fluggastrechteverordnung“ gehört. Wer von denen wendet sich bei einem Problem an das LBA? 86 Prozent der Passagiere geben an, durch die Fluggesellschaften nicht informiert zu werden. Wir alle haben das schon einmal erfahren. Was schlägt die Europäische Kommission neben einer besseren Aufklärung der Flugpassagiere vor? Ich zitiere einmal wieder aus meiner Lieblingslektüre der vergangen Tage: Die Verordnung würde größere Wirkung erzielen, wenn die Luftfahrtunternehmen ({0}) den nationalen Durchsetzungsstellen mehr Informationen übermitteln würden, die für die Veröffentlichung von Informationen bezüglich zum Beispiel Pünktlichkeit, Zahl der von Störungen betroffenen Flüge und angewendeten Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte hilfreich sind. Wir haben deshalb die laut Bundesregierung angeblich „nicht erhobenen“ Daten akquiriert und für Deutschland auswerten lassen. Dabei sind wir auf eine Dimension gestoßen, die zeigt, wie groß die Diskrepanz Zu Protokoll gegebene Reden zwischen Rechtsanspruch und Rechtsdurchsetzung für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist. So sehr die einzelnen Verordnungen auch zu kritisieren sind, das Problem liegt keineswegs auf europäischer Ebene. Das Problem sind die Durchsetzungsstellen; in Deutschland also das LBA und damit eine Behörde des Verkehrsministeriums. Solange hier keine offiziellen Daten gegenüber entsprechenden Tatbeständen, wie Verspätungen und Annullierungen etc., vorliegen, die die Probleme in der Umsetzung der einzelnen Verordnungen verdeutlichen, wird hier auch kein Problembewusstsein entstehen. Eine Evaluation dieser Daten ist letztlich der nächste Schritt in einer konsequenten Rechtsdurchsetzung. Bislang gilt beim BMVBS die Devise: keine Rechtsgrundlage für Statistiken, keine Daten, kein Problem. Aus den Antworten, die wir bislang erhalten haben, kann man nur eines folgern: Die Bundesregierung und allen voran Staatssekretär Mücke und Minister Ramsauer scheren sich nicht um Verbraucherrechte im Reisebereich. Einzig im Verbraucherministerium ist noch ein zartes Aufbegehren vorhanden, welches regelmäßig von Ramsauer und Leutheusser-Schnarrenberger im Keim erstickt wird. Die Rechtsdurchsetzung wird nicht allein durch Statistiken besser. Die bestehenden Probleme zwischen Norm und Praxis werden jedoch offensichtlich. Das wollen wir mit dem vorliegenden Antrag ändern. Eine Evaluation mit entsprechenden Lösungsansätzen darf man von den Fachbehörden durchaus erwarten. Die Passivität, die die Antworten der Bundesregierung zeigen, ist absolut unangemessen. Die ungenaue oder irreführende Information der Fluggäste durch Vertragsbedingungen der Luftfahrtunternehmen, durch deren allgemeine Informationen in Werbung und Presseerklärungen und durch spezifische Angaben in ihren Antworten auf Fluggastansprüche - lieber Herr Ramsauer stellt ein erhebliches Übel dar, das in jedem Fall geahndet werden sollte, auch wenn keine entsprechenden Beschwerden eingelegt wurden. Herr Ramsauer, Sie sollten sich einmal überlegen, ob Sie und Ihre Behörde weiter an Ihrer Lobbypolitik festhalten wollen. Die Rechtsdurchsetzung ist nationale Angelegenheit und nicht die der EU. Der vorliegende Antrag bedeutet letztlich nur eine Anpassung der Rechtslage an den ohnehin zu erfüllenden Anspruch. Selten bedeutet ein Antrag so wenig Mehraufwand für Behörden bei so viel mehr Erfolg. Man könnte also von einer optimalen Kosten-NutzenBilanz sprechen. Die Beschlussempfehlung, diesen Antrag abzulehnen, ist nicht nachvollziehbar. Wenn in den Ausschüssen Kolleginnen und Kollegen der Koalition das Gleiche beklagen, jetzt aber gegen unseren Antrag stimmen, ist das noch unverständlicher. Reisende würden Ihnen eine Zustimmung danken.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5562, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4041 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung der SPD angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland fördern - Drucksache 17/5914 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen sie mich zunächst auf die neuen und überaus positiven Zahlen der Bundesagentur für Arbeit eingehen, die letzte Woche erst veröffentlicht worden sind. Die Arbeitslosigkeit sinkt, und das konstant und rapide seit dem Regierungsantritt von Angela Merkel: bundesweit auf 7 Prozent mit weiter sinkender Tendenz und in meinem Wahlkreis München-Land sogar auf unter 3 Prozent. Das bedeutet fast Vollbeschäftigung. Das ist, wie ich finde, sehr erfreulich. Bildung ist das wichtigste Kulturgut und die zentrale wirtschaftliche Ressource unseres Landes. Da darf es nicht sein, dass fast 90 000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. Lesen und Schreiben sind heute und künftig elementare Fähigkeiten, deren Beherrschung Voraussetzung für die Gestaltung der eigenen Biografie ist. Nur so ist es möglich, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Gerade deshalb sind die veröffentlichten Zahlen des „Level-One Survey“-Forschungsprojekts der Universität Hamburg, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,3 Millionen Euro gefördert wurde, so ernüchternd. Fast 7,5 Millionen Menschen werden in Deutschland dem funktionalen Analphabetismus zugerechnet. Das entspricht etwa 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Funktional bedeutet in diesem Sinne, dass Menschen zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende, auch kürzere Texte wie zum Beispiel eine schriftliche Arbeitsanweisung verstehen können. Die Studie wurde im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen erstellt mit der Zielrichtung, die tatsächliche Größenordnung des AnZu Protokoll gegebene Reden alphabetismus in Deutschland wissenschaftlich zu ermitteln. Ziel der Dekade der Vereinten Nationen ist es, die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, weltweit zu halbieren und jedem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Für Industrieländer wie Deutschland bedeutet dies in Anbetracht des demografischen Wandels und damit sinkender Erwerbstätiger, vorhandene Bildungsbenachteiligungen frühzeitig zu erkennen und abzubauen. Analphabetismus ist aber auch immer im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen zu verstehen. Es ist daher kein individuell verschuldetes, sondern ein gesellschaftliches Problem, dessen Lösung auch von der Gesellschaft bewältigt werden muss. Mit der erschreckend hohen Zahl funktionaler Analphabeten in unserem Land dürfen wir uns nicht abfinden. Ansätze zur Lösung des Problems gibt es viele; zahlreiche Vorhaben zur Stärkung der Alphabetisierung und Verbesserung der Grundbildung in Deutschland wurden bereits auf den Weg gebracht. Deutlich wird bei der Bekämpfung des Analphabetismus aber auch, dass durch die Kulturhoheit der Länder gerade diese ganz besonders gefordert werden, da die Kompetenzen des Bundes hier nur sehr eingeschränkt sind. Dennoch versucht die Bundesregierung im engen Schulterschluss mit den Bundesländern, das ihr Mögliche auf den Weg zu bringen. Dafür möchte ich Frau Ministerin Schavan an dieser Stelle herzlich danken. Wichtig ist es, es erst gar nicht zum Analphabetismus kommen zu lassen: Daher ist der erste Ansatz, den die Bundesregierung in Angriff genommen hat, bereits im Rahmen der frühkindlichen Erziehung Defizite rechtzeitig zu erkennen und zu beheben, bevor diese sich dann verfestigen und zu späterem Analphabetismus führen, so immanent wichtig. Damit werden die Möglichkeiten der Prävention vor Schulbeginn thematisiert sowie gute Bildung, Erziehung und Betreuung in den Kindertageseinrichtungen so früh wie möglich bundesweit zur Verfügung gestellt, um die Chancen aller Kinder auf erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem zu erhöhen. Jedes Kind soll von Anfang an faire Chancen haben. Dort aber, wo es im frühkindlichen Bereich schon zu spät ist, ist die Anstrengung umso schwieriger und herausfordernder für alle Beteiligten. Aber auch hier setzen wir an. So ist zu begrüßen, dass sich zur nationalen Umsetzung der Ziele der Weltalphabetisierungsdekade die wichtigsten Akteure der Alphabetisierungsarbeit in einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben. Dies sind neben dem BMBF die Deutsche UNESCOKommission, der Deutsche Volkshochschul-Verband, der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e. V., der Verlag Ernst Klett Sprachen, die GEW und die Stiftung Lesen. Die Mitglieder dieses Aktionsbündnisses haben auf mehreren vom BMBF geförderten Fachtagungen eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet, in denen die wichtigsten Aufgaben für die Alphabetisierungsarbeit definiert wurden. Im Rahmen seiner Zuständigkeit engagiert sich das BMBF schon seit Jahrzehnten im Bereich Alphabetisierung. So hat die Bundesregierung 2006 durch das BMBF seine Förderung neu ausgestaltet und in einem Förderschwerpunkt „Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ gebündelt. Mit einer Fördersumme von rund 30 Millionen Euro ({0}) werden insgesamt 24 Verbundvorhaben mit über 100 Einzelprojekten gefördert. Wir werden also weiterhin verstärkt das Thema Alphabetisierung und Grundbildung in die Öffentlichkeit hineintragen und präventiv vorgehen. Wir empfehlen, den Antrag der SPD an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung zu überweisen.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lesen und Schreiben können, ist grundlegend. Denn es bedeutet, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich ihr nicht verschließen zu müssen. Oft gehen mit Analphabetismus Isolation, Nicht-verstanden Werden und mangelndes Selbstbewusstsein einher. Neuste Studien beziffern die Zahl der Analphabeten, die keine zusammenhängenden Texte lesen oder schreiben können, in Deutschland auf 7,5 Millionen. 2 Millionen von ihnen können sogar nur einzelne Wörter schreiben. Das Ziel von Alphabetisierung und Grundbildung ist daher unter dem Gesichtspunkt von Arbeitsmarktintegration und Gesellschaftsintegration gleichermaßen bedeutend. In Ihrem Antrag wenden Sie sich dieser sehr wichtigen - in der öffentlichen Diskussion oft vernachlässigten Frage zu, was wir grundsätzlich auch nur begrüßen können. Jedoch hält Ihr Antrag leider wenig Überraschendes bereit. Und werte Kollegen der SPD-Fraktion, Sie begeben sich mit Ihrem Antrag keinesfalls auf politisches Terrain, das die Bundesregierung bisher vernachlässigt hätte. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregierung hat das Thema Alphabetisierung und Grundbildung bereits seit längerem auf ihrer Agenda. Erste Ansätze in die richtige Richtung haben wir bereits in der Großen Koalition gesetzt, sogar mit Ihnen gemeinsam. Die jetzige christlich-liberale Bundesregierung hat diesen Weg nicht nur fortgeführt, sondern ihr Engagement weiter ausgebaut. Alphabetisierung und Grundbildung werden mit einem ganzheitlichen Ansatz erfolgreich gefördert. Das BMBF stellt in der sogenannten Alphabetisierungsdekade rund 50 Millionen Euro für lösungsorientierte Projekte zur Verfügung. Davon werden allein 35 Millionen Euro für den Förderschwerpunkt „Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung“ aufgewendet, da wir in Zukunft durch die frühkindliche Bildung Analphabetismus vermeiden wollen. In diesem Zusammenhang möchte ich einige konkrete Beispiele benennen: Um Kinder bereits in der sensiblen Prägungsphase zu fördern, hat die Bundesregierung zum einen das Projekt „Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“ gemeinsam mit der Stiftung Lesen ins Leben gerufen. Mit dem Programm erhalten Eltern kostenlos Lesebücher und Zu Protokoll gegebene Reden Marcus Weinberg ({0}) sollen zum Vorlesen und die Kinder selbst später zum Lesen ermutigt werden. Zum anderen stellt die Bundesregierung mit dem Programm „Offensive Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ bis zum Jahr 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfügung. Bis zu 4 000 Kitas können mit diesen Mitteln zusätzliches qualifiziertes Personal finanzieren, um den Bereich Sprachförderung und Integration weiterzuentwickeln. Neben der frühkindlichen Bildung und Leseförderung der Kinder im Schulalter liegt ein weiterer Schwerpunkt bei Menschen im erwerbsfähigen Alter, die unter sogenanntem funktionalen Analphabetismus leiden. Immerhin sind zwar 57 Prozent dieser Analphabeten in die Arbeitswelt integriert. Sie arbeiten jedoch meistens unterhalb ihrer fachlichen Qualifikation bzw. persönlichen Befähigung. Unser Ziel ist es daher, den bisher vom Erwerbsleben ausgeschlossenen Menschen die Möglichkeit zu geben, Sprache zu beherrschen, einen Job zu erlernen und diesem auch nachzugehen. Die unter ihrer Qualifikation tätigen Personen wollen wir durch gezielte Förderungen besser in die Arbeitswelt integrieren. So eröffnen wir ihnen die Chance auf eine adäquate Beschäftigung, schaffen Motivation und Selbstbestätigung. Werte Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie fordern mit Ihrem Antrag die Bundesregierung nun unter anderem auf, gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen ein „Grundbildungspaket“ zu vereinbaren. Die Idee ist gut, aber nicht neu und Ihre Forderung damit überholt. Die Bundesregierung hat diesen Ansatz bereits im Frühjahr dieses Jahres aufgegriffen und gemeinsam mit den Ländern ein breites gesellschaftliches Bündnis erarbeitet. An diesem Bündnis werden auch Unternehmensverbände, Kammern, Gewerkschaften und Volkshochschulverbände beteiligt. Was die weiteren Forderungen angeht, erscheinen diese ebenfalls weder zielführend noch erforderlich. Ich deutete es bereits an: Um die Alphabetisierung und Grundbildung nachhaltig und umfassend zu fördern, müssen wir uns verdeutlichen, welche Maßnahmen zielführend und wahrhaftig erfolgversprechend sind. Einfach den Geldhahn aufzudrehen oder unzählige, nicht zielorientierte Einzelmaßnahmen frei nach dem Gießkannenprinzip zu fördern, wird es mit uns nicht geben. Doch neben all den Forschungs- und Fördervorhaben dürfen wir eines nicht vergessen: Teilhabe an Gesellschaft und Erwerbsleben wird uns darüber hinaus nur mit einem breiten gesellschaftlichen Engagement gelingen. Es ist also auch unerlässlich, dass sich die Bürgerinnen und Bürger gegenseitig unterstützen, indem sie Neugier und den Lernwillen in einer Vorbildfunktion an die Kinder - auch aus den bildungsfernen Elternhäusern - weitergeben. Hier sollten alle Akteure aus Gesellschaft, Politik, Bildungswesen und Wirtschaft Hand in Hand arbeiten. Durch größere Sensibilität im Umgang mit Analphabetismus können wir dazu beitragen, dass wir Betroffene in unsere gesellschaftliche Mitte holen und nicht an den Rand verdrängen. Die Bundesregierung hat sich der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland bereits mit großem Engagement zugewandt. Fortschritte in die richtige Richtung sollten daher nicht durch wieder neue Projekte, Programme und föderale Abstimmungsprozesse ausgebremst werden. Aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag auch nicht zustimmen können. Ich fordere Sie daher auf, lieber gemeinsam mit uns den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und abseits von Parlamenten und Verwaltungen die Gesellschaft zu mehr gegenseitiger Unterstützung zu bewegen und im gesellschaftlichen Konsens Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland nachhaltig zu erreichen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit unserem Antrag „Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland fördern“ wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass endlich ein bildungspolitisches Tabu aufgebrochen wird, das viel zu lange in Deutschland gegolten hat, nämlich das Tabu, dass Analphabetismus ein Thema in unterentwickelten Ländern ist, in fernen Kontinenten und nur weit weg von hochmodernen, hochindustrialisierten und hochgebildeten Gesellschaften und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Tabu war und ist nicht gut für die Betroffenen, und es war und ist nicht gut für die Gesellschaft insgesamt. Experten, Fachverbände und Wissenschaftler sind bekanntlich Jahre lang von geschätzten 4 Millionen primären und funktionalen Analphabeten in Deutschland ausgegangen, eine Zahl, die für sich schon schlimm genug war. Aber sie hat in der Vergangenheit keine bildungspolitische Bewegung ausgelöst, wie sie beispielsweise der sogenannte PISA-Schock erzeugen konnte. Über die Gründe sollten sich alle Beteiligten parteiübergreifend, ohne Schuldzuweisungen, aber selbstkritisch und lernfähig noch einmal austauschen. Immerhin hat sich die damalige Bundesregierung 2003 zusammen mit den Akteuren der Alphabetisierungsarbeit auf die nationale Umsetzung der Weltalphabetisierungsdekade verpflichtet, die als Ziel hatte, bis 2012 die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, weltweit zu halbieren und jedem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Statt uns über eine Halbierung freuen zu können, erfahren wir jetzt durch neue wissenschaftliche Studien im Jahr 2011, dass die Zahl der funktionalen Analphabeten in Deutschland in Wirklichkeit fast doppelt so hoch ist wie ursprünglich angenommen, nämlich 7,5 Millionen. Das muss uns alle erst recht schockieren und zu gemeinsamen neuen Anstrengungen veranlassen, zumal wir eine Kanzlerin haben, die die „Bildungsrepublik“ ausgerufen hat. Was ist nun die neu festgestellte und offensichtlich schon länger vorhandene reale Ausgangslage, mit der wir uns in Deutschland tabulos befassen müssen? Die Studie „leo - Level-One Survey“ hat 2010 im Auftrag des BMBF die Größenordnung des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht. Die Ergebnisse der Studie wurden Anfang dieses Jahres vorgestellt. Danach betrifft der Analphabetismus im engeren Sinne mehr als 4 Prozent Zu Protokoll gegebene Reden der erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 18 bis 64 Jahren. Das entspricht einer Größenordnung von 2,3 Millionen Menschen, die zwar einzelne Wörter lesend verstehen bzw. schreiben können, nicht jedoch ganze Sätze. 300 000 Menschen davon können noch nicht einmal ihren Namen schreiben. Aber auch der funktionale Analphabetismus weist ein beängstigend hohes Ausmaß auf und betrifft kumuliert 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können danach zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende - auch kürzere - Texte. Die Betroffenen sind damit nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben oder am Arbeitsleben angemessen teilzunehmen; sie können schriftliche Arbeitsanweisungen nicht verstehen, schon gar nicht Zeitungen und Bücher lesen. Drei Sachverhalte wollen wir aus dieser Studie besonders herausstellen: Der erste besondere Sachverhalt ist, dass von den funktionalen Analphabeten knapp 57 Prozent erwerbstätig sind und nur 17 Prozent arbeitslos. Dieser Fakt hat sicherlich nicht nur mich überrascht, sondern wirft allgemein viele Fragen auf: Wie sollen wir uns vorstellen, dass mehrere Millionen Menschen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, keine zusammenhängende Texte lesen können? Wie kommen diese Menschen trotzdem einigermaßen klar? Welche „Überlebensstrategien“ haben sie entwickelt? Hier wird noch viel wissenschaftliche Aufklärung, aber auch persönliches Verständnis und persönliche Einfühlung von uns allen zu leisten sein. Ein zweiter besonderer Sachverhalt ist in unseren Augen, dass etwa 20 Prozent der funktionalen Analphabeten 18 bis 29 Jahre alt sind. Junge Menschen, die vor kurzem die Schule verlassen haben, können danach keine Bedienungsanleitung, keine Zeitung lesen oder keine Formulare ausfüllen. Folglich können sie auch nur sehr eingeschränkt mit dem Internet umgehen, welches für die junge Generation besonders hohen Stellenwert hat. Wie abgeschnitten müssen sie dadurch von wichtigen Kommunikations- und Teilhabeprozessen sein? Als dritter Sachverhalt erscheint uns besonders bemerkenswert, dass nur 19,3 Prozent der funktionalen Analphabeten keinen Schulabschluss haben. Ein großer Teil der funktionalen Analphabeten hat also Texte lesen und schreiben gelernt, einen Bildungsabschluss gemacht, diese vorhandenen mehr oder weniger ausgebildeten Fähigkeiten im Laufe der Zeit aber wieder verlernt. Dies alles muss uns „wachrütteln“! Dieser „ALPHASchock“ darf nicht ohne Antwort bleiben. Es kann nicht sein, dass der PISA-Schock vor circa zehn Jahren wie ein Blitz durch die Republik gegangen ist und unendliche Diskussionen über bzw. Konsequenzen für unser Schulsystem ausgelöst hat, während das katastrophale Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland direkt nach Veröffentlichung der Studie gerade einmal in 13 Zeitungsartikeln Erwähnung gefunden hat und dann die Ergebnisse der Studie ins Nichts zu verpuffen drohen, wenn wir nicht politisch aufwachen, aufpassen und uns engagieren. Ich sage noch einmal: Parteiübergreifend aufwachen, aufpassen und uns engagieren, gemeinsam mit Parlament und Regierung in Bund und Ländern, mit den Sozialpartnern und Verbänden sowie mit den Betroffenen und ihren Initiativen. Alphabetisierung ist eine Gemeinschaftsaufgabe jenseits von politischen Ideologien und verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. Denn im Prinzip dürften wir uns alle einig sein, dass hier Entscheidendes getan werden muss. Wir dürfen das Thema nicht immer wieder an den Rand drängen bzw. vergessen und verdrängen, nur weil die Menschen, die es betrifft, keine Lobby haben, auf sich aufmerksam zu machen. Herr Spiewak von der Wochenzeitung „Die Zeit“, die sich als einzige überregional bedeutsame Zeitung intensiv mit der Alpha-Level-Studie auseinandergesetzt hat, hat recht: Wir dürfen nicht länger wegschauen! Grundbildung bzw. Alphabetisierung ist eine elementare Aufgabe der Bildungspolitik, ein persönlicher existenzieller Bedarf und eine gesellschaftlich existenzielle Notwendigkeit, wenn wir nicht ganze Bevölkerungsgruppen aus dem gesellschaftlichen bzw. aus dem Erwerbsleben nachhaltig auszuschließen wollen. Wir alle zusammen müssen deshalb das Thema mit Nachdruck auf die Agenda bringen. Es ist hohe Zeit, mit einem „ALPHA-Grundbildungspakt“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie allen gesellschaftlichen Kräften die Anzahl der funktionalen Analphabeten in Deutschland so schnell es geht zu halbieren. Wir brauchen deutlich mehr Alphabetisierungskurse, mehr Angebote berufsbegleitender Grundbildung und mehr soziale Begleitung der Betroffenen. Wir brauchen eine zielgruppenorientierte Medienkampagne, eine „ALPHA-Offensive“, damit Analphabetismus entstigmatisiert wird und die Betroffenen ermutigt werden, aus ihrer Anonymität herauszutreten und Kurse zu besuchen. Hierbei brauchen wir nicht nur die Massenmedien - wie Fernsehen und Radio -, sondern auch die Hilfe der Familien, der Vereine und der Nachbarschaft, um Brücken zu bauen. Ebenso setzen wir uns ein für einen Ausbau des Berufsbildes „Alphabetisierungsund Grundbildungspädagoge“. Am Ende meiner Rede möchte ich großen Respekt und Anerkennung an die Betroffenen aussprechen, die die Scham überwunden haben und sich zu erkennen gegeben sowie den Kampf gegen den Analphabetismus aufgenommen haben. Für ihren Mut zu diesem Schritt bewundere ich sie. Ich wünsche mir noch mehr solche mutigen Menschen und ebenso viele Helfer in ihrem Umfeld, die ihnen diesen schweren Schritt erleichtern. Darüber hinaus möchte ich meinen herzlichen Dank an alle Träger und Akteure der Alphabetisierungsarbeit aussprechen. Sie leisten mit knappen Ressourcen - sei es in Kursen oder in der Entwicklung von Lernportalen etc. - Pionierarbeit. Pionierarbeit, die helfen kann, diese Art des „Bildungsnotstands“ in unserem Land zu überwinden. Dass dies jetzt endlich mit einem umfangreichen politischen Programm auch wirklich nachhaltig und erfolgreich geschieht, das ist allerdings die Aufgabe von uns als Parlamentarier und Regierung, denn sonst Zu Protokoll gegebene Reden sind die vielen betroffenen Menschen einmal mehr im Tabu allein gelassen. Das haben sie allerdings wahrlich nicht verdient.

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die hohe Zahl von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht eine besondere Mahnung, die uns die Forscher der LEO-Studie am Ende der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen mit auf den Weg geben. Denn Lesen und Schreiben sind nicht nur Grundtechniken. Die Forscher der PISA-Studie beschreiben beispielsweise Lesekompetenz vielschichtiger. Sie schreiben: Lesekompetenz wird im Sinne einer Basiskompetenz verstanden, von der angenommen wird, dass sie in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig ist. Insofern müssen wir die Herausforderung grundlegend verstehen. Alphabetisierung und Grundbildung sind Aufgaben, die an konkreten Lebenssituationen von Menschen anknüpfen und die sie umfassend in die Lage versetzen müssen, auf eigenen Beinen am Leben der Gesellschaft umfassend teilhaben zu können. Deshalb fordert die SPD-Fraktion auch einen umfassenden Grundbildungspakt, den der Bund mit den Ländern und Kommunen abschließen sollte. Sein Ziel muss sein, die Zahl der funktionalen Analphabeten in einem übersichtlichen Zeitraum zu halbieren. Diese nationale Aufgabe muss der Bund ressortübergreifend angehen. Und er muss Länder und Kommunen angemessen dabei unterstützen. Deshalb fordern wir bei einem Ausbau der Kursplätze auf bis zu 100 000 die Beteiligung des Bundes mit mindestens 20 Millionen Euro an den Kosten. Der Grundbildungspakt bildet das Dach für alle Aktivitäten. Er umfasst jedoch nicht alle Aufgaben, sondern ermöglicht die Verständigung darüber, Aktivitäten auf allen Ebenen und bei allen Akteuren anzustoßen. Wir sehen hier als SPD-Fraktion fünf wesentliche Aufgabenfelder: Erstens. Wir brauchen wirksame Instrumente, um Analphabetismus in den Betrieben und Verwaltungen diskriminierungsfrei erkennen zu können und Grundbildung zu fördern. Hier sind natürlich insbesondere die Sozialpartner in den Betrieben zu unterstützen, Analphabetismus im Betrieb zu erkennen. Die Herausforderung stellt sich aber ebenso für die Behörden, die für den Umgang mit Analphabetismus zu sensibilisieren sind. Deshalb fordern wir unter anderem auch, dass die Bundesagentur für Arbeit Alphabetisierung und Grundbildung als Voraussetzung für die Integration in den Arbeitsmarkt versteht und entsprechende Maßnahmen fördert. Zweitens. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis von Qualität in der Grundbildung und Vereinbarungen über Standards und nutzerorientierte Zertifikate. Rahmencurriculum, ein System von Zertifikaten, das Lernfortschritte arbeitsweltbezogen dokumentieren kann, Standards für die Aus- und Weiterbildung von Kursleiterinnen und Kursleitern sowie die Berufsausbildung zum Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen sind Instrumente, um eine hohe und vergleichbare Qualität der Grundbildungsangebote zu gewährleisten. Dazu gehört auch, die bestehenden Kurse in enger Zusammenarbeit mit den Trägerorganisationen laufend zu evaluieren und zu verbessern. Für die Schulen gelten in Zusammenarbeit mit den Bundesländern ebenso ehrgeizige Ziele: Wir müssen es schaffen, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die ohne die grundlegendsten Lese- und Schreibkenntnisse die Schule verlassen, gegebenenfalls auch mittels Förderangeboten außerhalb der Regelschulzeit deutlich zu verringern. Drittens. Mit Analphabetismus verbinden sich nicht selten weitere Probleme bei den Betroffenen. Deshalb muss in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit sichergestellt werden, dass Alphabetisierungskurse sozialpädagogisch begleitet werden, um die Probleme umfassend lösen zu können. Viertens. Wir brauchen ein dicht gestaffeltes Netz von Beratungs- und Informationseinrichtungen. Vor Ort müssen die Betroffenen auf eine flächendeckende und niedrigschwellige Bildungsberatung mit spezifischen Kenntnissen zurückgreifen können. Diese soll unterstützt werden durch eine bundesweite Service-, Beratungs- und Informationsstelle. Sie kann helfen, bundesweite Kampagnen zu starten, damit Betroffene ermutigt werden, aus der Anonymität herauszutreten und einen Alphabetisierungskurs zu besuchen. Im Übrigen sollten auch Behörden und Politik stärker für das Thema sensibilisiert werden. Unserer Meinung nach gehört auch die Aufnahme des Themenbereichs „Funktionaler Analphabetismus“ in die Nationale Bildungsberichterstattung zu den Maßnahmen, die einerseits öffentlich sensibilisieren und andererseits notwendiges Wissen für Administration und Politik kontinuierlich bereitstellen können. Fünftens. Die Städte und Gemeinden müssen gezielt unterstützt werden beim Aufbau von Alphabetisierungsund Grundbildungsnetzwerken. Deshalb ist es besonders wichtig, die gezielte Arbeit in besonders betroffenen Stadtteilen zu erleichtern, zum Beispiel, indem das bewährte Programm „Soziale Stadt“ um den Bereich der Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse ergänzt und erneuert wird. Sicherlich können im Rahmen dieser Debatte Lösungsansätze nur umrissen werden. Uns ist jedoch besonders wichtig, dass wir nun endlich in einen intensiven Dialog mit den Akteuren der Alphabetisierung und Grundbildung eintreten, um etwas für die Betroffenen zu erreichen. Denn wir können und wir wollen es uns vor allem nicht leisten, dass 7,5 Millionen Menschen aufgrund von funktionalem Analphabetismus von vollständiger gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen bleiben. Zu Protokoll gegebene Reden

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bereits im Jahr 2000 wurde auf dem Weltbildungsforum in Dakar das UNESCO-Programm „Bildung für alle“ auf den Weg gebracht. Eines der sechs bis zum Jahr 2015 zu erreichenden Bildungsziele ist die Halbierung der Analphabetenrate weltweit. Im Zuge der 2003 ausgerufenen Weltalphabetisierungsdekade, die dieses Ziel befördern soll, wurde für Deutschland mit der Level-One-Studie - leo - dieses Jahr erstmals belastbares Zahlenmaterial zur Größenordnung des funktionalen Analphabetismus vorgelegt. Diese jüngsten empirischen Befunde machen darauf aufmerksam, dass die Zahl derjenigen, die nur ein rudimentäres Textverständnis - funktionaler Analphabetismus - aufweisen, bei 14,5 Prozent - 7,5 Millionen Menschen - der erwerbsfähigen Bevölkerung liegt. Der größte Teil, 32,6 Prozent der Betroffenen, befindet sich in den Alterskohorten der 50- bis 64-Jährigen. Beunruhigend sind jedoch vor allem die 20 Prozent der funktionalen Analphabeten im Alter zwischen 18 und 29 Jahren. Der Antrag der SPD greift also ein Thema auf, das durchaus von bildungspolitischer und ökonomischer Relevanz ist. 67 Prozent der funktionalen Analphabeten verfügen über keinen oder einen unteren Bildungsabschluss. Psycho-organische Beeinträchtigungen oder Analphabetismus durch fehlende Praxis erklären die weiteren 23 Prozent. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Ursachen für das aufgeführte Phänomen vor allem bei den Defiziten im Bereich der allgemeinschulischen Bildung gesucht werden sollten. Jedes Jahr verlassen fast 65 000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss, häufig gerade aufgrund mangelnder Schreib- und Lesekompetenzen. Lesen und Schreiben sind der Schlüssel zum lebenslangen Lernen, Grundbildung die Voraussetzung für gesellschaftliche und berufliche Teilhabe. Es muss leider festgehalten werden, dass die Abbrecherquote der SPD-geführten Bundesländer Berlin - von 9,9 Prozent auf 11,5 Prozent -, Brandenburg - 11,7 Prozent auf 13 Prozent - und Mecklenburg-Vorpommern - 12,1 Prozent auf 16,8 Prozent - in den vergangenen Jahren auf ein trauriges Rekordniveau gestiegen sind, während sich die Bildungsinvestitionen von BadenWürttemberg - 6,3 Prozent auf 5,6 Prozent -, Bayern - 7,2 Prozent auf 6,4 Prozent - und Hessen - 8,1 Prozent auf 7 Prozent - auszahlen. Da der Kampf gegen den Analphabetismus vor allem in der Schule gewonnen oder verloren wird, ist diese zweigeteilte Entwicklung durchaus beachtenswert. Schließlich sei noch einmal an das Engagement der Bundesregierung erinnert, welche mit 26 Millionen Euro jährlich das Programm „Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“ der Stiftung Lesen fördert. Hierbei soll vor allem durch ein niedrigschwelliges Angebot die Lesebegeisterung bei Kindern innerhalb der Familien geweckt werden; denn wer früh und regelmäßig liest, hat später bessere Chancen. Schlechte Schulleistungen resultieren oft aus Versäumnissen in der frühen Kindheit. Die PISA-Ergebnisse haben gezeigt, dass viel zu viele Schüler große Probleme mit dem Lesen und Verstehen von Texten haben. Vorlesen in der Kindheit ist daher ein wichtiger Impuls bei der Entwicklung von Lese- und Sprachfähigkeiten und der Konzentrationsfähigkeit. Dass ein Projekt aus meinem Wahlkreis - Family Literacy, FLY, des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg - den UNESCO-Alphabetisierungspreis 2010 erhalten hat, freut mich besonders; denn hier wird die gesamte Familie in den Prozess einbezogen, und die Eltern werden darin gestärkt, den Schriftspracherwerb ihrer Kinder früh zu unterstützen. Zudem fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Internetportal iCHANCE, mit welchem vor allem junge Erwachsene angesprochen und informiert werden. Internetangebote bieten durch die Interaktivität in sozialen Netzwerken vielfältige Möglichkeiten zur Information, zur Bewusstseinsbildung und zum Abbau von Vorurteilen. Es ist nicht einfach, sich mit seinen Lese- und Rechtschreibschwächen zu offenbaren. Daher müssen wir ein offenes und unterstützendes Klima in unserer Gesellschaft schaffen. Die SPD weist im vorliegenden Antrag weiter darauf hin, dass gerade die kommunal getragenen Volkshochschulen als „Reparaturwerkstatt“ im Bereich des Analphabetismus tätig sind. Sicherlich wäre es wünschenswert, das Kursangebot auszuweiten und den Qualifikationsgrad der Kursleiter noch weiter zu steigern. Doch diesbezüglich stehen zunächst einmal Kommunen und Länder in der Pflicht.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Analphabetismus ist trotz der vermeintlich guten Schulbildung in Deutschland seit Jahren ein bekanntes Problem. Nun weist die LEO-Studie der Uni Hamburg nach, dass es weit größer ist als bisher angenommen. In der Öffentlichkeit wird es allerdings oft noch als Randthema betrachtet. Der SPD-Antrag nimmt die Studie zum Anlass, um einen „Grundbildungspakt“ von Bund, Ländern und Kommunen zu fordern und eine lange Liste von Maßnahmen, die ihr geeignet scheinen, die Zahl der Betroffenen in Deutschland zu halbieren. Auffällig ist, dass in Veröffentlichungen wenig darüber zu finden ist, warum die Zahl der funktionalen Analphabeten mit 7,5 Millionen betroffenen Menschen in der erwachsenen deutschsprachigen Bevölkerung so hoch ist und warum es noch einmal mehr als 13 Millionen Menschen sind, die nur fehlerhaft lesen und schreiben können. Nicht erklärt werden kann auch, warum es deutlich mehr Männer als Frauen unter den Betroffenen gibt. Wenngleich der Anteil der betroffenen Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten, die keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss und/ oder einen Migrationshintergrund haben, besonders hoch ist, muss auch die Frage gestellt werden, warum Analphabetismus auch bei Menschen mit höherem Schulabschluss in beträchtlichem Maße auftritt? Zu Protokoll gegebene Reden Wenn aber diese Ursachen nicht hinreichend klar sind, wird es schwer, wirksame und nachhaltige Gegenstrategien zu finden. Es gibt offensichtlich noch einen erheblichen Forschungsbedarf. Der Antrag der SPD allerdings zielt zunächst darauf, die Symptome zu bekämpfen. Das ist ehrenwert und notwendig. Einige Dinge kommen mir dabei allerdings zu kurz, bzw. ich würde sie ob ihrer Angemessenheit infrage stellen. Die erste und offensichtlich wichtigste Ursache liegt in der Qualität der Schulbildung und der starken Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Situation in den Familien. Wir wissen seit der ersten PISA-Studie, dass die Lesefähigkeit der Schulabgängerinnen und Schulabgänger zu wünschen übrig lässt. Damals wurde mehr als 22 Prozent der Jugendlichen bescheinigt, nur schlecht lesen zu können. Die damals 15-Jährigen sind heute 25. Viele von ihnen dürften sich heute unter den 13 Prozent der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen wiederfinden, die als funktionale Analphabeten gelten müssen. Wer nicht lesen und schreiben kann, ist in den Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stark eingeschränkt, findet schwerer eine Arbeit, hat damit weniger Einkommen, kann den eigenen Kindern nicht so gut helfen usf. So setzt sich ein Teufelskreis in Gang, aus dem ganze Familien nicht mehr herauskommen. PISA 2009 bescheinigte noch immer 18 Prozent schlechte Leserinnen und Leser. In den vergangenen zehn Jahren ist in Schule und Gesellschaft zu wenig passiert, um hier Abhilfe zu schaffen. Wenn es diesen Zusammenhang zwischen der Qualität der Lesefähigkeit, die in der Schule erworben wird, und der Zahl der Analphabeten gibt - und alles spricht dafür -, dann besteht die Gefahr, dass sich der Teufelskreis fortsetzt. Wenn Analphabetismus in der Zukunft verringert werden soll, dann darf man nicht nur die Symptome des eingetretenen Analphabetismus bekämpfen, sondern muss dort ansetzen, wo ein Großteil der Ursachen liegt: in der Schule! Dazu aber gibt es gerade einmal einen Punkt unter insgesamt 21 im Antrag der SPD. Hier aber muss man vor allem ansetzen, wenn Analphabetismus in der Zukunft spürbar verringert werden soll. Sonst hangelt man sich auch künftig von Hilfsprogramm zu Hilfsprogramm. Wir brauchen mehr Qualität in Schule, die ausfinanziert werden muss, und ausreichendes und gut ausgebildetes pädagogisches Personal auf allen Bildungsebenen. Ich verweise auf unsere diesbezüglichen Anträge. Hinzu kommt das dringende Erfordernis, die soziale Situation der Familien zu verbessern. Geringes Einkommen in sozial benachteiligten Familien beschneidet auch die Möglichkeiten, Bildungs- und Kulturangebote überhaupt in Anspruch zu nehmen. Zwar sucht die Bundesregierung nun über das Bildungs- und Teilhabepaket, dem zumindestens für Kinder und Jugendliche entgegenzuwirken, aber der gesamte Ansatz bleibt unbefriedigend und reicht auch in der Summe nicht aus. Pikant ist in diesem Zusammenhang, dass der Bund in diesem Paket Mittel für Nachhilfe über die Jobcenter zur Verfügung stellt, aber die Bundesagentur für Arbeit die Nachfrage des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach der Möglichkeit der Finanzierung von Alphabetisierungskursen verneint hat. Es sei nicht Aufgabe der Grundsicherung für Arbeitslose. Ja was denn nun? Nachhilfe bei schlechten Lernleistungen in der Schule - ja, Förderung der Alphabetisierung für eine bessere Vermittlung am Arbeitsmarkt nein? Die Logik muss mir einer erklären! Ein zweiter Kritikpunkt am SPD-Antrag: Wer Analphabeten den Schritt zum Lesen- und Schreibenlernen erleichtern will, braucht niedrigschwellige Angebote, die nicht stigmatisieren, die zugänglich und einladend sind, auch wenn sich die Betroffenen nur wenig am gesellschaftlichen Leben beteiligen ({0}). Sie müssen vielleicht auch über Umwege an die potenziellen Schülerinnen und Schüler gebracht werden. Die Forderung, Menschen mit geringer Grundbildung im Betrieb ausfindig zu machen, halte ich auch bei besten Absichten eher für schwierig. Vielmehr sehe ich hier eine große Gefahr von Stigmatisierung, die dann wieder zur Perfektionierung von Meidverhalten führen kann, aus Angst sich zu outen oder bloßgestellt zu werden, möglicherweise die Arbeit zu verlieren. Für sehr richtig und wichtig halten wir dagegen den Aufbau eines öffentlich finanzierten Systems der Bildungsberatung, in dem geschultes Personal tätig ist und ebenso praktische wie psychologische Hilfe leicht und gebührenfrei gegeben werden kann. Überhaupt muss es ein Recht auf solche, auch nachholende Angebote der Grundbildung geben, und sie müssen öffentlich finanziert werden. Die grundlegende Beherrschung der Kulturtechniken ist eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie darf keinem Menschen verwehrt werden. Die Probleme des Analphabetismus sind lange bekannt. Abhilfe ist hier nicht in einem einmaligen Kraftakt und in kurzen Zeiträumen zu schaffen. Wenn man aber nicht dort anfängt, wo die Hauptursache des Problems liegt, in der Schule und der sozialen Absicherung von Menschen, wird es größer und auf künftige Generationen vererbt.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit der aktuellen leo-Level-One-Studie liegen nun endlich zum ersten Mal nationale, belastbare und differenzierte Daten zur Literalität im Level-One-Bereich vor, dem untersten Kompetenzniveau im Lesen und Schreiben. Die Ergebnisse der Studie, die uns seit Anfang März vorliegen sind erschreckend: Die Zahl der funktionalen Analphabeten in Deutschland ist doppelt so hoch wie bisher angenommen. Bislang waren Experten von insgesamt vier Millionen funktionalen Analphabeten ausgegangen, in der Realität sind es jedoch 7,5 Millionen! 7,5 Millionen Menschen, deren schriftsprachliche Kompetenzen nicht ausreichen, um beispielsweise einfache Texte zu verstehen oder zu verschriftlichen. 7,5 Millionen Menschen, deren Teilhabe am gesellschaftlichen, Zu Protokoll gegebene Reden Petra Hinz ({0}) sozialen Leben und an der Arbeitswelt massiv eingeschränkt ist, deren Lebensqualität tagtäglich darunter leidet. Zwar sind 57 Prozent der Betroffen erwerbstätig, doch häufig in sehr schlecht bezahlten Jobs. Ihr Arbeitsleben ist geprägt von inneren Ängsten sowie vom Zwang zu vertuschen und vorzutäuschen. Das Problem des Analphabetismus ist in Deutschland lange Zeit nicht ausreichend im öffentlichen Bewusstsein gewesen. Ich begrüße es deshalb außerordentlich, dass dieses Thema nun im Bundestag zur Diskussion steht und die SPD mit ihrem Antrag viele wichtige Punkte zur Verbesserung der Situation aufzeigt. Die aktuelle Erkenntnisse belegen das Ausmaß des Analphabetismus, die Dringlichkeit einer besseren Alphabetisierung und damit auch der Grundbildung in Deutschland. Dies betrifft zum einen den primären Analphabetismus, bei dem Menschen aus verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind, sich Schriftsprache anzueignen, zum anderen die bereits erwähnte, weitaus größere Gruppe, der funktionalen Analphabeten. Wenn man sich die Zahlen nach Altersgruppen differenziert ansieht, besteht ebenfalls kein Grund zur Entwarnung. Zwar ist die Zahl der funktionalen Analphabeten bei der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen am höchsten, doch finden sich auch bei den 18- bis 29-Jährigen fast 20 Prozent wieder. Auffällig ist weiterhin, dass über 60 Prozent der funktionalen Analphabeten männlich sind. Angesichts der immer höheren Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt werden die beruflichen Möglichkeiten dieser Menschen immer geringer und ihre Perspektivlosigkeit wächst. Hier haben die Erwachsenenbildung und die Volkshochschulen auch in Zukunft eine wichtige Funktion. Notwendig ist es, die bereits 2003 von der vom Bundesbildungsministerium geförderten Tagung gemeinsam mit den wichtigsten Akteuren der Alphabetisierungsarbeit formulierten „Bernburger Thesen“ mit voller Kraft umzusetzen und die bisher eingeleiteten Maßnahmen zu evaluieren. Ein besonderer Handlungsauftrag für die Politik liegt in der erschreckenden Tatsache, dass die meisten dieser funktionalen Analphabeten in Deutschland eine Schule besucht haben und dort offenbar Lesen und Schreiben nur unzureichend gelernt oder später wieder verlernt haben. Wissenschaftler bestätigen den Verdacht, dass viele der späteren Analphabeten in der Schulzeit nur schlecht, aber zumindest hinreichend, lesen und schreiben können, dass diese Fähigkeit nach dem Verlassen der Schule jedoch verkümmert, wenn sie nicht gepflegt wird. Um dem Entgegenzusteuern ist eine Bewusstseinsbildung in allen Bereichen des menschlichen Lebens vonnöten, um betroffene Personen zu ermutigen, sich dem Problem zu stellen. Insbesondere den Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzten im Betrieb fällt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Aber auch in anderen Bereichen gilt es aufmerksam zu sein: So steigt beispielsweise die Anzahl derjenigen, die sich die Fragen zur Fahrprüfung lieber vorlesen lassen, als sie eigenständig zu bearbeiten. In der Schule hat sich in letzten Jahren in Bezug auf individuelle Förderung Vieles verbessert - die schwachen Schüler werden besser unterstützt, die Klassen sind kleiner. Dennoch schafft es unser Bildungssystem offenbar immer noch nicht, allen Kindern und Jugendlichen ein Mindestmaß an Bildung zu vermitteln. Professor Grotlüschen, die die leo-Level-One-Studie durchgeführt hat, bemängelt, dass es allein den Grundschulen überlassen wird, sich um die Basis des Lesens und Schreibens zu kümmern. Das sei ein falscher Ansatz, da einige Kinder langsamer lernen und auch in der weiterführenden Schule Unterstützung benötigen. Wir Grüne fordern seit Langem, die Lehreraus- und fortbildung so zu reformieren, dass die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer Bildungsbenachteiligung besser erkennen und abbauen können. Der nationale Bildungsbericht hat den Abbau von Chancenungleichheit als eine Kernaufgabe für unser Bildungssystem eindrücklich bestätigt. Eine individuelle Bildungsplanung für jedes Kind ist notwendig, um Defizite in der Lese- und Rechtschreibung frühzeitig zu erkennen. Hier ist zum einen eine stärkere Vernetzung der Sonderpädagogik mit der allgemeinen Pädagogik und eine größere Vernetzung vor Ort zwischen den Einrichtungen, die Grundbildungskurse anbieten, und den allgemeinen und beruflichen Schulen vonnöten. Die Sprachförderung, nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund, muss über die gesamte Bildungsbiografie systematisch fortgesetzt werden. Aber nicht nur die Schule muss den Förderbedarf erkennen, auch das familiäre Umfeld kann etwas tun. Durch regelmäßiges Vorlesen und das Beschäftigen mit Büchern können Eltern schon im Kleinkindalter wichtige Grundlagen legen. Wir brauchen eine politische und gesellschaftliche Kraftanstrengung um die Zahl der funktionalen Analphabeten zu senken. Die Länder sollten sicherstellen, dass in allen Regionen ausreichend Plätze für Alphabetisierungskurse zu Verfügung stehen, die Bundesregierung fordern wir auf, ihre Alphabetisierungsprogramme zu intensivieren, Lehrer- und Lehrerinnen, Betriebe und Ehrenamtliche in Vereinen müssen auf das Problem hingewiesen werden und ermutigt werden, einzugreifen. Deutschland hat auch im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen einen wichtigen Beitrag zu leisten. Ziel der Dekade ({1}) ist es, die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, weltweit zu halbieren. Der von der Bundesregierung angekündigte Grundbildungspakt kommt reichlich spät und ist in seiner Ausgestaltung ähnlich unkonkret und unverbindlich, wie der Ausbildungspakt. Die Zahlen über die Risikogruppe von Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlässt, sind seit vielen Jahren bekannt und liegt mit 7,5 Prozent auf einem nicht zu akzeptierenden Level. Auch bei der Lesekompetenzvermittlung in der weiterführenden Schule gibt es nach wie vor großen Handlungsbedarf, das haben die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre eindrücklich bewiesen. Die Schülerinnen und Schüler in Zu Protokoll gegebene Reden Petra Hinz ({2}) den weiterführenden Schulen werden häufig bei einer Leseschwäche nicht ausreichend gefördert und drohen im weiteren Bildungsverlauf abgehängt zu werden. Es fehlt vielerorts an dem Bewusstsein, dass nicht alle Kinder diese Kompetenzen bereits in der Grundschule erworben haben. Doch die Nationale Qualifizierungsinitiative hat bisher leider zu keinen Verbesserungen geführt und ist auch in anderen Bereichen eine Enttäuschung: Wie der Umsetzungsbericht „Aufstieg durch Bildung“ zeigt, ist nach zwei Jahren erschreckend wenig passiert. Es werden Bestandsaufnahmen gemacht, Listen ausgefüllt, aber mehr passiert nicht. Wir fordern, dass Bund und Länder endlich initiativ werden um gemeinsam Programme zur Bekämpfung des Analphabetismus zu erarbeiten und umzusetzen. Für ein westliches Industrieland wie Deutschland sollte der Abbau von Bildungsbenachteiligung und die Bekämpfung und Prävention von Analphabetismus ein Kernanliegen sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5914 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Adulte Stammzellforschung ausweiten, Forschung in der regenerativen Medizin voranbringen und Deutschlands Spitzenposition ausbauen - Drucksachen 17/908, 17/3618 Berichterstattung: Abgeordnete Eberhard Gienger Dr. Martin Neumann ({1}) Priska Hinz ({2})

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die adulte Stammzellforschung und die regenerative Medizin befinden sich zum überwiegenden Teil noch in der Grundlagenforschung. Bis es zu einer Anwendung im klinischen Bereich kommt, ist es noch ein weiter Weg. Die Bundesregierung hat die Potenziale der adulten Stammzellforschung zweifelsohne längst erkannt. So hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung die finanziellen Mittel zur Förderung sukzessive erhöht. Im Jahr 2005 ist die Stammzellforschung mit 1,4 Millionen Euro, 2009 mit 4,8 Millionen Euro, 2010 mit 9,1 Millionen Euro gefördert worden. Für 2011 ist eine weitere Steigerung auf 10,6 Millionen Euro vorgesehen. In Anbetracht der angespannten Haushaltslage meine ich, dass wir uns hier mehr als großzügig erweisen. Somit halten wir den Antrag der SPD-Fraktion für reichlich übertrieben, hier noch mehr Forschungsgelder zu investieren. Der Antrag der SPD-Fraktion erweckt in mir den Eindruck, dass die Realitäten nicht erkannt werden wollen. Ein „Fortpflanzungsmedizingesetz“ zu fordern geht an der Realität vorbei, denn dafür sind die rechtlichen Regelungen bereits im Embryonenschutzgesetz aufgeführt, und Fragen der regenerativen Medizin sind ausführlich in vier weiteren Gesetzen geregelt und zwar im Arzneimittelgesetz, im Medizinproduktegesetz, im Transplantationsgesetz und im Transfusionsgesetz. Seit 1997 gibt es das ELSA-Programm zur Erforschung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte in den Lebenswissenschaften. Warum verlangt hier die SPD-Fraktion erneut ein Begleitprogramm? Sie kritisieren, dass es zu viele kommerzielle Nabelschnurblutbanken gibt. Auch das entspricht nicht den Tatsachen. Es sind gerade mal drei kommerzielle. Fünf öffentliche und drei öffentlich-private Nabelschnurblutbanken zeigen ein anderes Bild. Die nicht kommerziellen befinden sich vor allem an Unikliniken. Geld zu investieren, um eine öffentliche Nabelschnurblutbank zu schaffen, wäre somit verschleudertes Kapital. Ihr Antrag enthält zu viele Forderungen und Prüfungen, die einerseits schon längst erfüllt sind und somit nicht mehr aktuell und andererseits auch entbehrlich sind. Hierzu zählt beispielsweise die Einrichtung eines Zentrums für klinische Studien in der regenerativen Medizin. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass die klinischen Studien dezentral und multizentrisch durchzuführen sind, und zwar dort, wo die entsprechenden fachlichen Kompetenzen und die Rahmenbedingungen vorhanden sind. Im Übrigen wurde von verschiedenen Gremien bereits bestätigt, dass die derzeitigen Mittel, die der Bund zur Verfügung stellt, den Anforderungen im vollem Umfang gerecht werden. Dies könnte die Opposition zur Kenntnis nehmen. Wir sind auf dem Laufenden. Sollten sich Veränderungen im Bereich der adulten Stammzellforschung ergeben, werden wir uns entsprechend beraten. Seien Sie versichert, dass auch wir große Hoffnung auf diese Forschung setzen, birgt sie doch das Potenzial, Menschen mit Behinderungen und/oder schweren Krankheiten zu therapieren.

Dr. Thomas Feist (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004032, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion, Drucksache 17/908, hat zum Ziel, die Forschung mit adulten Stammzellen und die regenerative Forschung weiter auszuweiten und insbesondere den Wissenstransfer in die Wirtschaft zu verbessern. Die positive Einschätzung der Potentiale der adulten Stammzellen und der regenerativen Forschung, die diesem Antrag zugrunde liegt, teile ich. Bevor man jedoch Maßnahmen zur Erreichung bestimmter Ziele formuliert, ist es unabdingbar, den aktuellen Istzustand richtig darzustellen, weil man sonst zu falschen Schlussfolgerungen gelangt. Der vorliegende Antrag gibt jedoch kein zutreffendes Bild der Förderungsrealität im Bereich der Stammzellforschung und der regenerativen Medizin wieder. Die in ihm formulierten Forderungen sind in weiten Teilen bereits erfüllt oder entbehrlich. Aus diesem Grund ist der Antrag abzulehnen. Dies möchte ich an einigen Punkten deutlich machen. Die Erhaltung der Gesundheit ist eine der größten Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. Die regenerative Medizin lässt auf effiziente Therapieansätze hoffen, auch für bislang schwer oder gar nicht zu behandelnde Krankheiten. Dabei spielt das Verständnis der Zell-, Gewebs- und Organfunktionen sowie die Nutzung der körpereigenen, natürlichen Selbstheilungskräfte eine entscheidende Rolle. Hierin liegt ein wichtiger Paradigmenwechsel von der symptomatischen Behandlung hin zu einer Ursachenbehebung. Die Stammzellforschung als Grundlagenwissenschaft der regenerativen Medizin spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Auch wenn sich die regenerative Medizin noch überwiegend im Bereich der Grundlagenforschung bewegt, gibt es erste Anwendungen, zum Beispiel bei der Regeneration von Haut oder Knorpel sowie bei der Behandlung von Herzinfarkten, die sich bereits im klinischen Einsatz befinden. Aus diesem Grund spielt die regenerative Medizin eine wichtige Rolle in der Forschungsförderung des Bundes. Bereits 1999 wurden erste Fördermaßnahmen bekannt gemacht. Im Rahmen des Gesundheitsforschungsprogrammes sind zudem verschiedene Maßnahmen auf den Weg gebracht worden. Im Zuge des Förderschwerpunktes „Biologischer Ersatz von Organfunktionen“ wurden 32 Vorhaben bis zum Jahr 2005 mit knapp 10 Millionen Euro gefördert. Im Herbst 2005 starteten zehn interdisziplinäre Verbünde der thematischen Folgemaßnahme „Zellbasierte, regenerative Medizin“, die mit insgesamt etwa 12 Millionen Euro gefördert werden und 46 Teilprojekte beinhalten. Daneben werden in dem Förderschwerpunkt „Gewinnung pluribzw. multipotenter Stammzellen“ gegenwärtig 51 Vorhaben bis zum Jahr 2013 mit ungefähr 15 Millionen Euro gefördert. Insgesamt haben sich die Ausgaben für die Stammzellforschung seit 2005 fast verachtfacht. Beliefen sich die finanziellen Zuwendungen 2005 noch auf 1,4 Millionen Euro, sind sie auf 10,6 Millionen Euro in diesem Jahr gestiegen. Die christlich-liberale Bundesregierung hat die Fördersumme seit 2009 also innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Mit jährlich rund 4 Millionen Euro wird seit 1997 systematisch die Erforschung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte in den Lebenswissenschaften gefördert. Die konkrete Auswahl der jeweiligen Themen erfolgt dabei wissenschaftsgetrieben durch die jeweiligen Antragsteller. Hier werden bereits Projekte gefördert, die auch für die regenerative Medizin von erheblicher Bedeutung sind, sodass ein gesondertes Begleitprogramm zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten und Verfahren der regenerativen Medizin, wie es im Antrag gefordert wird, aus Sicht meiner Fraktion als nicht notwendig erscheint. Darüber hinaus sind die Maßnahmen des Biotechnologieprogramms zu berücksichtigen, die im vorliegenden Antrag nicht erwähnt werden. Seit dem Jahr 2000 wurden bis heute rund 100 Millionen Euro investiert, um anwendungsorientierte Projekte zu fördern, die Wissenschaft, Kliniken, Behörden und Wirtschaft zusammenbringen. Mithilfe dieser Förderung sind in den letzen Jahren mehrere akademische Einrichtungen entstanden, die sich durch eine ausgezeichnete Infrastruktur auszeichnen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Heterogenität der Forschungsthemen im weiten Feld der regenerativen Medizin der richtige Ansatz, um sicherzustellen, dass die notwendigen klinischen Studien dezentral dort durchgeführt werden, wo die Experten angesiedelt sind. Das im Antrag geforderte Zentrum für klinische Studien würde deshalb eben nicht zur Erleichterung von Forschungsprojekten beitragen und ist als nicht zielführendes Instrument abzulehnen. Da mit den Forschungen im Bereich der regenerativen Medizin schnell auch große Erwartungen der betroffenen Patienten auf mögliche Heilmethoden verbunden sind, ist ein translationaler Forschungsansatz von entscheidender Bedeutung. Das bedeutet, dass universitäre, außeruniversitäre und private Partner zusammen daran arbeiten sollten, dass Forschungsergebnisse schneller in Innovationen am Markt und in die Gesellschaft überführt und damit für den Endanwender nutzbar gemacht werden. Um die Möglichkeiten der regenerativen Forschung für die klinische Praxis zu erschließen, wurden von 2006 bis 2011 zwei Translationszentren mit jeweils 20 Millionen Euro gefördert: das Berlin-Brandenburger Center für Regenerative Therapien, BCRT, und das Translationszentrum für regenerative Medizin, TRM, der Universität Leipzig. Von 2009 bis 2011 wird darüber hinaus die Arbeit des Referenz- und Translationszentrums für kardiale Stammzelltherapie mit rund 3,4 Millionen Euro unterstützt. Als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Leipzig II, in dem das TRM der Universität Leipzig liegt, freut es mich besonders, dass das Konzept des TRM nach einer Evaluation im Jahr 2010 überzeugt hat und weiterentwickelt werden konnte. Ziel des TRM und des translationalen Ansatzes ist es, dazu beizutragen, die Potenziale von Methoden und Verfahren für die regenerative Medizin näher zu validieren und für die therapeutische Anwendung zu erschließen. Das TRM setzt gleichzeitig auf den wissenschaftlichen Nachwuchs, indem Forscher, Ingenieure und Kliniker aus- und weitergebildet werden, um ihnen die Entwicklung, Evaluation und Anwendung von regenerationsbasierten Therapie- und Diagnoseverfahren zu ermöglichen. Dies ist der richtige Weg. Das sehen auch die Experten so: In den nächsten vier Jahren erhält das TRM in einer zweiten FörderZu Protokoll gegebene Reden phase weitere 15 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, um diesen Ansatz konsequent weiterzuverfolgen. Dazu möchte ich den Forscherinnen und Forschern aus Leipzig recht herzlich gratulieren. Zu Gratulationen gibt es auch noch aus einem weiteren aktuellen Grund Anlass: Für das Großprojekt „Sirius“ erhält das TRM bis 2014 1,65 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Mit zwei Kooperationspartnern aus den USA wird das Ziel verfolgt, unter Anwendung von neuronalen Stammzellen das Zeitfenster für eine erfolgreiche Behandlung von Hirninfarkten deutlich zu vergrößern. Diese Beispiele zeigen die überaus positive Entwicklung des TRM. Sie zeigen, wie wichtig der Bundesregierung die effektive Unterstützung von innovativen Konzepten im Bereich der regenerativen Medizin ist. Das Beispiel TRM Leipzig zeigt auch, dass die Forschungsförderung des Bundes hervorragend funktioniert und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bei der Suche nach neuen Behandlungsmethoden auf Grundlage der regenerativen Medizin die notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Zusätzlich zu den Wissenschaftlern stehen die Unternehmer und die Öffentlichkeit im Blick unseres Förderinteresses. Durch verschiedene Fördermaßnahmen wurden und werden vor allem kleine und mittlere Unternehmen bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten in der regenerativen Medizin vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, zum Beispiel: die Förderinitiative „Tissue Engineering“ mit 35 Millionen Euro in den Jahren 2000 bis 2009, die Förderinitiative „Regenerationstechnologien“ mit 15 Millionen Euro in den Jahren 2008 bis 2012, die Maßnahme „Biotechnologie BioChance“, die verschiedene Fördermaßnahmen unter dem Dach von „KMU-innovativ“ vereint. In den bisherigen sechs Runden wurden seit 1999 über 200 Zuwendungen ausgesprochen mit einer Gesamtsumme von circa 90 Millionen Euro. Wir brauchen den Antrag der SPD-Fraktion nicht, denn wir unternehmen bereits alles dafür, Deutschlands Spitzenposition in der biomedizinischen Forschung nachhaltig zu sichern. Um die Öffentlichkeit und insbesondere Schülerinnen und Schüler über Biotechnologie zu informieren und zu begeistern, stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung Informationen auf vielfältigsten Wegen zur Verfügung: als Filme, in Ausstellungen, durch Broschüren. Als besonders lohnenswert möchte ich das Internetportal biotechnologie.de erwähnen, welches die internetaffine Jugend besonders anspricht. Ergänzend zur virtuellen Welt nutzen wir die vielfältigen Möglichkeiten interaktiver Begeisterung junger Menschen für biotechnologische Forschungsthemen. Weil das tatsächliche Erleben und Anfassen das Verständnis für komplexe Zusammenhänge in hohem Maße fördert, bin ich besonders vom „BioTruck“ überzeugt, der im Rahmen der Initiative „BIOTechnikum. Leben erforschen - Zukunft gestalten“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung als mobile Ausstellungs- und Erlebniswelt durch die Republik tourt. Begleitet von erfahrenen Wissenschaftlern bringt der Truck auf seiner Tour durch Deutschland die Forschung in der modernen Biotechnologie direkt zu den Menschen vor Ort. In Leipzig war der Truck bereits, und ich habe ein sehr positives Feedback junger Menschen dazu erhalten. Im Juni hält der Truck unter anderem in Düsseldorf, Hamburg und Dresden. Ich kann Ihnen einen Besuch nur empfehlen, um sich ein Bild von dem zu machen, was es bereits gibt. Meine Ausführungen zur Forschungsförderung, Unterstützung der Unternehmen, Informationskampagnen der Öffentlichkeit und insbesondere zum konkreten Beispiel des TRM in Leipzig machten Ihnen hoffentlich deutlich, dass die Forderungen des vorliegenden SPDAntrages bereits in großem Maße erfüllt sind. Die Forschung im Bereich der regenerativen Medizin in Deutschland befindet sich auf einem sehr guten Weg.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dank einer guten Forschungspolitik seit 1998 ist Deutschland als Land mit vielen innovativen Forscherinnen und Forschern für die Zukunft der medizinischen Forschung und Versorgung gut aufgestellt. Wir verfügen über hervorragende Forschungsstrukturen und ein - trotz gefährlicher Operationen und Eingriffe der schwarz-gelben Bundesregierung - stabiles, solidarisch finanziertes Gesundheitssystem. Wir dürfen uns aber nicht auf den Meriten ausruhen, deren Ursprung in den politischen Entscheidungen der Vergangenheit liegt. Vielmehr müssen wir von parlamentarischer Seite immer wieder aktiv Themen aufgreifen, wenn wir unseren Forschungsfortschritt ausbauen und die Chancen Deutschlands in hoch innovativen Wissenschaftsfeldern sichern wollen. Die regenerative Medizin wird seit einigen Jahren als Schlagwort genutzt, wenn Beispiele für neue Ansätze moderner Medizin genannt werden. Klar ist: Nicht jeder Plan der Forscher von heute wird morgen oder übermorgen Realität werden. Bekannt ist aber auch: Schon heute kann die medizinische Wissenschaft Großes leisten, was aber nur verzögert seinen Weg in die medizinische Praxis findet. Insbesondere durch die Nutzung von Stammzellen konnten in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt werden. Der Hype um die embryonalen Stammzellen ist abgeflacht, die Nutzung von adulten Stammzellen, von Stammzellen aus der Nabelschnur oder auch von reprogrammierten Zellen hingegen hat in der Forschung stark zugenommen. Wir haben in Deutschland frühzeitig den Fokus der Forschungsförderung auf diese - ethisch unumstrittenen - Zellen gelegt. Die von uns geforderte und von der Bundesregierung zu Recht in den Ausschussberatungen angeführte Anhebung der Haushaltsmittel für diese Forschungsfelder von 1,5 Millionen Euro in 2005 auf 10,6 Millionen Euro in 2011 setzt deshalb einen erfolgreichen Weg fort. Geld allein hilft der Forschung jedoch nur bis zur Schwelle der kommerziellen Verwertung. Daher haben wir unter anderem auf den Regelungsbedarf hinsichtlich Zu Protokoll gegebene Reden der Erstattungsfähigkeit von Anwendungen der regenerativen Medizin hingewiesen. Leider hat die Bundesregierung und haben auch die Regierungsfraktionen diesen Punkt in den Beratungen weitgehend ignoriert. Unsere Forderung zur Einrichtung einer Nationalen Nabelschnurblutbank hätte neue Impulse für die Forschung erbringen können. Leider verwies die Bundesregierung hier nur auf die hochdynamische Landschaft diverser Nabelschnurblutbanken, die bereits etabliert seien. Wie wichtig aber ein koordiniertes Vorgehen nicht nur für die Forscher, sondern vor allem für mögliche Patienten ist, wird schlicht nicht berücksichtigt. Wie auch bei unserer Debatte im Forschungsausschuss zum Regelungsbedarf bei Biobanken zeigt sich, dass die Regierung offensichtlich überall dort, wo sich forschungspolitisch Dinge hochdynamisch entwickeln, vor Regelungen zurückscheut. Daher mein Hinweis an die Bundesregierung: Regelungen für dynamische Forschungsfelder müssen Forschung und Innovation nicht behindern; vielmehr können sie Strukturen bieten, Erfolge sichern und eine bestehende Dynamik zielführend kanalisieren. Hierzu brauchen wir natürlich kluge Regelungen, und dies ist fraglos eine Herausforderung für jede Bundesregierung. In den Ausschussberatungen hat die Fraktion der CDU/CSU betont, dass wir uns in den Zielen unseres Antrages einig seien. Die Kritik an unserem Antrag, die als Begründung für die ablehnende Haltung der Regierungsfraktion herhalten musste, wirkte hingegen sehr vorgeschoben. Der Tenor lautete: Alles in bester Ordnung, wir brauchen keine Veränderungen in Förderpraxis und Regelungswerken. Mit dieser Feststellung unterscheidet sich die CDU/ CSU massiv von den Einschätzungen der Expertinnen und Experten, die in der Forschung und - frühen - Praxis der regenerativen Medizin tätig sind. Um es in den Worten der Überschrift unseres Antrages zu sagen: Wir wollten Deutschlands Spitzenposition ausbauen und uns nicht mit der Einschätzung begnügen, dass heute alles schön und gut sei. Besonders überrascht hat uns, dass die FDP die Kritik der CDU/CSU an unserem Antrag weitgehend übernommen hat. Im September 2006 hatte die FDP-Fraktion noch einen Antrag „Forschung auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin stärken“ in das parlamentarische Verfahren eingebracht. Dieser Antrag enthielt eine Reihe von Forderungen, die zum Teil auch in unserem Antrag enthalten sind, der heute zur Schlussberatung ansteht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die FDP auch bei diesem Thema als Regierungsfraktion von ihren alten Forderungen aus Oppositionszeiten verabschiedet hat. Während die Regierungsfraktionen ohne gute Gründe unsere Initiative abgelehnt haben, haben die Grünen und Linken unseren Antrag unterstützt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Kolleginnen und Kollegen für ihre Unterstützung danken. Klar ist: Wir streiten in der Förderung der ethisch unproblematischen Stammzellforschung und der regenerativen Medizin nicht über den politisch richtigen Weg, sondern darüber, wie wir ein gutes Forschungsförderkonzept weiter voranbringen können. Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage unserer Fraktion zum Thema Stammzellforschung, die wir gemeinsam mit den Grünen eingebracht haben, zeigt: Wir sind auf einem guten Weg, die Bundesregierung hat viele Akzente richtig gesetzt. Die umfassenden Informationen in der Antwort auf die Kleine Anfrage waren und sind übrigens ein positives Beispiel für den Umgang der Regierung mit dem parlamentarischen Fragerecht. Dafür herzlichen Dank! Mit unserem Antrag wollten wir erreichen, dass das Thema Stammzellforschung und regenerative Medizin nicht unter den Tisch fällt. Dies ist uns gelungen. Wir haben Vorschläge unterbreitet, wie wir gemeinsam die Erfolgsgeschichte fortschreiben können. Wir bedauern sehr, dass die Regierungsfraktionen diesen Impuls nicht aufgenommen und verstärkt haben. Mein Appell zum Schluss: Auch wenn Sie heute unseren Antrag ablehnen, so nehmen Sie sich bitte unsere Vorschläge zu Herzen und entwickeln Sie die hilfreichen Regelungen und Fördermaßnahmen für die Stammzellforschung und regenerative Medizin weiter - im Sinne der gemeinsamen Sache, die wir in den Ausschussberatungen so klar erkennen und feststellen konnten.

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Stammzellforschung ist mit großen Hoffnungen verbunden. Mithilfe von Stammzellen werden neue Therapien für neurodegenerative Erkrankungen, für Diabetes oder auch für Krebserkrankungen entwickelt. Stammzellen werden teilweise als medizinische Wunderwaffen der Zukunft bezeichnet, als die Basis für nachwachsende Ersatzteile des menschlichen Körpers von A wie Auge ({0}) bis Z wie Zahn ({1}). Gerade bei der Forschung mit adulten Stammzellen hat es in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gegeben. Wir Liberalen teilen die positive Einschätzung der Potenziale, die die regenerative Medizin bietet - nicht nur im Bereich der Gesundheitsforschung, sondern auch bei biotechnischen Verfahren, die die SPD in ihrem Antrag nicht erwähnt. Wenn man liest, was die SPD in diesem Antrag fordert, hat man den Eindruck, die Bundesregierung habe dieses Thema bisher sträflich vernachlässigt. Das Gegenteil ist der Fall. Viele der Forderungen sind erfüllt. Regenerative Medizin ist ein wichtiges Thema der Forschungsförderung in Gesundheitsforschung und Biotechnologie. Die Standardisierung von Herstellungsprozessen im Bereich der regenerativen Medizin wird von der Bundesregierung gefördert. Die ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekte werden berücksichtigt. Es gibt, vor allem an Universitätskliniken, eine Reihe von nicht kommerziellen Nabelschnurblutbanken. Der DaZu Protokoll gegebene Reden tenschutz ist im Rahmen der bestehenden Bundes- und Landesgesetze geregelt. Ihr Antrag enthält auch mehrere Aspekte, die einem Liberalen sehr gut gefallen. Sie wollen kleine und mittlere Unternehmen, KMU, in die Forschungsförderung einbeziehen - sehr gut. Sie unterstützen die Validierungsförderung, also den Wissenstransfer zwischen Forschung und Unternehmen bei der Entwicklung von innovativen Therapien und Produkten in der regenerativen Medizin - auch sehr gut. Sie wollen bei der Jugend Interesse an diesem Forschungsfeld wecken - das ist sehr wichtig. Diese Aspekte sind aber nicht auf das Thema Stammzellforschung begrenzt, sondern sie betreffen alle Forschungsbereiche. Es handelt sich um Rahmenbedingungen, um ein forschungsfreundliches Klima, das es zu fördern gilt, unabhängig vom Thema. Einen Teil der Forderungen in diesem Antrag lehnen wir ab. Wir wollen zum Beispiel kein Zentrum für klinische Studien, sondern wir wollen, dass solche Studien dort durchgeführt werden, wo fachliche Kompetenz und gute Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind. Dort werden solche Studien dann auch gefördert, zum Beispiel in Rostock, im Rostocker „Referenz- und Translationszentrum für kardiale Stammzelltherapie“, einem der fünf Schwerpunktzentren für regenerative Medizin in Deutschland. Hier werden Stammzelltherapien für Herzkrankheiten erforscht und auch bereits angewandt. Hier gibt es ein Zusammenwirken von grundlegender, angewandter und klinischer Forschung an Stammzellen mit dem Ziel, die wissenschaftlichen und die klinischen Erkenntnisse in standardisierte, qualitätsgesicherte Therapien umzusetzen. Fast 150 Patienten mit Herzinfarkt wurden in den letzten zehn Jahren behandelt. Mithilfe von Stammzellen ist Muskelgewebe, das durch den Infarkt verloren gegangen war, wieder nachgewachsen. Der Herzchirurg Professor Steinhoff und sein Team sind auf diesem Gebiet weltweit führend. Das Rostocker Zentrum wird vom Bund, BMBF, vom Land MecklenburgVorpommern und von der Wirtschaft gefördert. Dieser Weg ist vielversprechend, so soll es weitergehen. Wenn wir Ihren Antrag ablehnen, dann also nicht, weil wir gegen Stammzellforschung wären - das sind wir natürlich nicht - , sondern weil die Forderungen in Ihrem Antrag zu einem guten Teil bereits erfüllt sind. Die, die nicht erfüllt sind, unterstützen wir nicht. Dass die Stammzellforschung auf einem guten Weg ist, möchte ich Ihnen zum Schluss noch an einem anderen kleinen Beispiel illustrieren. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt auf diesem Gebiet auch die Kooperation von deutschen Wissenschaftlern mit Kollegen in kalifornischen Forschungseinrichtungen mit insgesamt bis zu 12 Millionen Euro. Die deutschen Forscher können sich seit diesem Jahr an Ausschreibungen des kalifornischen Instituts für Regenerative Medizin, CIRM, beteiligen, eine auf Stammzellforschung spezialisierte Einrichtung zur Forschungsförderung. Im Rahmen von deutsch-amerikanischen Projekten sollen vielversprechende Ergebnisse der grundlegenden Stammzellforschung für eine medizinische Anwendung weiterentwickelt werden, damit die Therapie mit Stammzellen nicht länger nur Wunschdenken bleibt. Zu den ersten drei Teams mit deutscher Beteiligung, die von einem internationalen Gutachtergremium für eine Förderung ausgewählt wurden, gehört neben einem Team an der Universität Bonn und einem Team an der TU München auch ein Team vom Universitätsklinikum Jena. Das Uniklinikum Jena praktiziert die Förderung von Nachwuchswissenschaftlern bereits seit Jahren. Kürzlich wurden zum achten Mal junge Forscher ausgezeichnet, am „8. Tag der Nachwuchswissenschaftler“ im Forschungszentrum Lobeda. An diesem Wettbewerb beteiligten sich diesmal insgesamt 16 junge Mediziner, Biologen, Biochemiker und Biotechnologen, die ihre Forschungsergebnisse vorstellten. Jenaer Firmen haben dafür Preise gestiftet. Einen der Preise erhielt eine junge Forscherin, die an der Klinik für Innere Medizin ihre Diplomarbeit auf dem Gebiet der Stammzellforschung vorstellte. Sie sehen: Firmen, Nachwuchsförderung, Stammzellforschung - auch in Jena ist das alles versammelt. Dass ich mich darüber sehr freue, muss ich sicher nicht extra betonen.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Debatte über die Forschung mit adulten Stammzellen kommt gerade recht zu den aktuellen Beratungen über den zukünftigen Umgang mit der Organspende in Deutschland. Der Gesundheitsausschuss führt dazu zwei umfangreiche Anhörungen durch; die erste zu technischen und organisatorischen Aspekten der Organspende fand gerade gestern statt. Während dort der Frage nachgegangen wurde, wie Patienten besseren Zugang zu passenden Spenderorganen bekommen, geht es hier darum, den Erfolg von Transplantationen mithilfe der Forschung zu adulten Stammzellen deutlich zu verbessern. Denn eine bestimmte Art adulter Stammzellen hilft nachgewiesenermaßen dabei, Abwehrreaktionen des Körpers gegen ein neues, fremdes Organ abzuschwächen. Diese mesenchymalen Stammzellen, die aus dem Knochenmark oder Nabelschnurblut von Neugeborenen gewonnen werden, können die sonst üblichen Medikamente ersetzen, die das Immunsystem unterdrücken, aber leider auch gefährliche Nebenwirkungen haben. Von der Forschung an und mit adulten Stammzellen ist die Zukunft der regenerativen Medizin insgesamt abhängig. In der Erprobung sind Therapien für infarktgeschädigte Herzen, bei denen kardiale Stammzellen in das abgestorbene Herzmuskelgewebe injiziert werden, oder für die Regeneration der Leber bei Leberfibrose, die ansonsten nur durch Transplantation überwunden werden kann. Große Fortschritte gibt es inzwischen auch beim Aufbau von zerstörtem Gewebe beispielsweise der Luftröhre und der Harnblase mithilfe des sogenannten Tissue Engineering. Dabei wird Gewebe außerhalb des menschlichen Körpers auf Basis von adulten Stammzellen aufgebaut, die eine Zellbildung anregen und zur Ausdifferenzierung in unterschiedliche Zelltypen eingeschränkt fähig sind. In der Grundlagenforschung liegt der Schwerpunkt auf Verfahren, die adulte Stammzellen so reprogrammieren können, dass sie wie die umstrittenen embryonalen Zu Protokoll gegebene Reden Stammzellen zu wirklich pluripotenten Zellen und damit zum Ausgangspunkt für unterschiedliche Zelltypen werden. Im Prinzip ist die Behandlung mit reprogrammierten adulten Stammzellen bei allen Erkrankungen denkbar, bei denen es zur Degeneration bzw. zum Absterben von Zellen kommt. Dazu zählen Herzinfarkt, Parkinson, Diabetes, Knorpeldegeneration oder Alzheimer. Doch den anfänglichen Erfolgen in der Therapie stehen bislang vergleichsweise eingeschränkte Möglichkeiten zur Gewinnung von adulten Stammzellen gegenüber. Abhilfe könnte hier eine öffentliche Nabelschnurblutbank leisten, die gegenüber den bereits bestehenden oft kleineren Nabelschnurblutbanken einheitliche Standards in Bezug auf die Charakterisierung der gewonnenen Produkte, die Sicherung ihrer Qualität sowie den Datenschutz der Spenderinnen und Spender entwickelt. Solange die Bestände der öffentlich geförderten Einrichtungen nicht gemeinsam erfasst werden und Gewinnung und Lagerung nicht systematisch untersucht und geprüft werden, werden der Forschung Steine in den Weg gelegt, die vermeidbar wären. Das Anliegen des vorliegenden Antrags, dies zu ändern, findet unsere ausdrückliche Unterstützung. Ich will auch ergänzen, dass zur Frage des Datenschutzes, die in diesem Antrag von März 2010 noch vorsichtig als Prüfauftrag formuliert wird, inzwischen eine Reihe von Vorschlägen vorliegt, die unter dem Stichwort „Humanbiobanken für die Forschung“ erst jüngst in einer Anhörung des Forschungsausschusses diskutiert worden sind. Daran anzuknüpfen, sollte der Bundesregierung daher leichtfallen. Neben der Gewinnung der adulten Stammzellen braucht auch ihre Erforschung insgesamt eine breitere Förderung. Insofern ist auch dieses Anliegen des vorliegenden Antrags richtig. Derzeit ist nämlich noch nicht abzusehen, ob und wann eine Stammzelltherapie für weitere der erwähnten Erkrankungen tatsächlich etabliert sein und zur Verfügung stehen wird. Nur bei der Behandlung von Leukämie und Lymphdrüsenkrebs können wir derzeit von Standardtherapien sprechen, mit denen beispielsweise Blutkrebs überwunden werden kann. Demgegenüber wird das Potenzial adulter Stammzellen, sich auch zu anderen Gewebetypen zu entwickeln, noch höchst widersprüchlich eingeschätzt. Wie aus dem Vierten Stammzellbericht der Bundesregierung vom Februar dieses Jahres hervorgeht, haben sich bei einem Teil der erforschten alternativen Verfahren zur Gewinnung von pluripotenten Stammzellen noch keine Erfolge eingestellt. Für den gleichnamigen Förderschwerpunkt hat das BMBF für den Zeitraum von 2008 bis 2013 15,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Anfang dieses Jahres haben zudem Forschungsergebnisse die Stammzellszene aufgeschreckt, nach denen reprogrammierte Zellen häufiger genetische Schädigungen aufwiesen als die ursprünglichen Zellen. Solche Rückschläge, die in der Wissenschaft normal sind, zeigen, dass verstärkte Bemühungen und Fördermittel für die Weiterentwicklung des Potenzials adulter Stammzellen nötig sind. Dabei sollte auch die Erforschung von Risiken und Standards für die Patientensicherheit explizit ins Auge gefasst werden, was nicht nur die zuletzt genannten Ergebnisse nahelegen. Aus der Therapieforschung ist bekannt, dass Stammzellen auch Krebs erzeugen können. Es gibt anfängliche hoffnungsvolle Ansätze in den USA und in Deutschland, dieses Risiko zu umgehen. Insofern kann Frau Schavan bei der Forschung zur regenerativen Medizin und zu adulten Stammzellen ruhig noch eine Schippe drauflegen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bündnis 90/Die Grünen setzen sich schon seit vielen Jahren bei der Stammzellforschung für eine Stärkung alternativer Ansätze zur embryonalen Stammzellforschung, zum Beispiel der adulten Stammzellforschung, ein. Dieser Ansatz ist ethisch unbedenklich und auch im Sinne einer „Ethik des Heilens“ erfolgreicher als die embryonale Stammzellforschung mit ihren tumorauslösenden Risikopotenzialen. In diesem Sinne begrüßen wir den Antrag der SPD „Adulte Stammzellforschung ausweiten, Forschung in der regenerativen Medizin voranbringen und Deutschlands Spitzenpositionen ausbauen“, der heute zur Debatte steht. In dem Antrag wird unter anderem eine stärkere Förderung der adulten Stammzellforschung mit öffentlichen Mitteln sowie die Schaffung einer deutschen Nabelschnurdatenbank gefordert. Weiterhin enthält der Antrag diverse Prüfaufträge an die Regierung hinsichtlich weiter gehender Maßnahmen, mit denen die adulte Stammzellforschung gefördert werden könnte, zum Beispiel mittels eines Fortpflanzungsmedizingesetzes oder der Einrichtung eines Zentrums für klinische Studien im Bereich der regenerativen Medizin. Der Bundestag beschloss in der letzten Wahlperiode auf Basis eines interfraktionellen Antrags eine Verschiebung des Stichtages im Stammzellgesetz und damit eine Erweiterung der Möglichkeiten, mit embryonalen Stammzellen zu forschen. Eine Mehrzahl der grünen Abgeordneten hatte sich bei der Änderung des Stammzellgesetzes in der letzten Wahlperiode nicht nur aus ethischen, sondern auch aus forschungspolitischen Gründen gegen eine Verschiebung des Stichtages eingesetzt. Unter anderem zeigte sich schon damals, dass die viel größeren Potenziale in der adulten Stammzellforschung stecken und die embryonale Stammzellforschung keine Erfolge vorzuzeigen hatte. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt. Er zeigt sich - zum Glück - auch in der Zahl der mit Bundesmitteln geförderten Projekte, wie die Antwort der Regierung auf eine gemeinsam von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestellten Kleinen Anfrage beweist. So wird die adulte Stammzellforschung bzw. die Forschung mit anderen als embryonalen Stammzellen derzeit mit 72,8 Millionen Euro gefördert, im Vergleich dazu fließen 3,8 Millionen Euro in die embryonale Stammzellforschung. Anscheinend lässt sich die Schwerpunktsetzung bei der Förderung der Stammzellforschung durch die Regierung jedoch nicht auf Einsicht, sondern wohl eher auf die Antragslage aus der Forschungsszene zurückzuführen. Denn bei der eigens von der Regierung im Februar anberaumten Fragestunde zum letzten Stammzellbericht Zu Protokoll gegebene Reden Priska Hinz ({0}) - die bei den Abgeordneten mehr Fragen als Antworten zurückließ - betonte der damalige Gesundheitsminister Rösler auch noch nach mehrmaligem Nachfragen, dass „die Bundesregierung ausdrücklich keine Präferenz für ein bestimmtes Forschungsthema bei der Stammzellfor- schung“ habe. Es werde dahin gehend keine strategi- sche Ausrichtung der Regierung geben. Unklar blieb auch, warum der Gesundheitsminister statt der Forschungsministerin den Bericht vorstellte. Schließlich befindet sich die embryonale Stammzellfor- schung wie sowohl bei der Fragestunde im Februar als auch in der Antwort der Regierung auf die Kleine An- frage bestätigt auf dem Niveau der Grundlagenfor- schung. Ein therapeutischer Nutzen embryonaler Stammzellen ist nicht in Sicht. Einen schlanken Fuß macht sich die Bundesregierung bei der Frage, ob sie die Patentierung von embryonalen Stammzellen gutheißt. Auf entsprechende Fragen antwor- tet sie ausweichend bis gar nicht. So behauptet sie zum Beispiel, dass ihr „keine Kenntnisse“ darüber vorliegen, ob bei mit Bundesmitteln geförderten embryonalen Stammzellprojekten Patente beim Europäischen Patent- amt beantragt wurden. Dabei sagte der Stammzellforscher Oliver Brüstle, dessen Patentantrag auf embryonale Stammzellen derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt wird, unter anderem in der Zeitschrift „Der Spiegel“ am 11. November 2009, dass seine Forschung genehmigt und gefördert werde und er sogar nachweisen müsse, dass er sich um den Patentschutz kümmere. Wir kritisieren auch, dass von der Regierung embryo- nale Stammzellprojekte genehmigt werden, die der toxi- kologischen Prüfung von Pharmastoffen dienen. Diese Projekte sind aus unserer Sicht alles andere als „alterna- tivlos und hochrangig“, wie im Stammzellgesetz gefor- dert. Die Antwort der Regierung auf unsere Kleine An- frage, wie sie diese Genehmigung begründet, ist mehr als unzureichend bis ärgerlich: „Die wesentlichen Begrün- dungselemente für die vom RKI erteilten Genehmigun- gen sind dem Stammzellregister des RKI zu entnehmen“. Dort heißt es dann lapidar zu einem genehmigten Projekt - Professor Hengstler, Uni Dortmund - in diesem ethisch sehr umstrittenen Bereich, dass der Vorteil der Nutzung die höhere Reinheit, besssere Standardisierung und die mögliche unbebegrenzte Nutzung der Zellen für toxikolo- gische Tests sei und dass sich dies „voraussichtlich nur unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt“. Aus unserer Sicht gibt es derzeit keinen akuten Handlungsbe- darf im Bereich der adulten Stammzellforschung. Die in dem Antrag genannten Forderungen sind dementspre- chend auch relativ unkonkret formuliert. Sinnvoll ist sicherlich die Forderung, datenschutz- rechtliche Erfordernisse bei der Einrichtung einer Na- belschnurblutbank zu prüfen. Aus grüner Sicht wollen wir generell eine rechtliche Regelung von Biobanken, wozu auch Nabelschnurblutbanken gehören würden. Die Regierungskoalition weigert sich jedoch, dieses wichtige Thema zu regeln. Leider hat sich selbst die SPD noch nicht festlegen können, ob sie eine gesetzliche Re- gelung bei Biobanken will, sondern sie hat nur „Prüfbe- darf“ angekündigt. Dabei forderten bei der Anhörung zu Biobanken, die am 25. Mai im Forschungsausschuss stattfand, mehrere Experten eine gesetzliche Regelung, unter anderem Professor Dr. Kollek vom Deutschen Ethikrat sowie Dr. Weichert vom Unabhängigen Zentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein. Selbst der von der SPD benannte Sachverständige Professor Dr. Dabrock sprach sich für eine gesetzliche Regelung aus, auch um das Vertrauen der Probanden und Öffent- lichkeit in Biobanken stärken zu können. Unverständlich und problematisch ist die Forderung der SPD an die Regierung, zu prüfen, inwiefern ein Fort- pflanzungsmedizingesetz die Bedingungen für die rege- nerative Medizin fördern könnte. Ein Fortpflanzungsme- dizingesetz würde vor allem Bereiche wie die Lagerung von IVF-Embryonen, die Präimplantationsdiagnostik oder die Nutzung von Keimzellen betreffen, und dies wie- derum wäre dann nicht eine Stärkung der adulten Stammzellforschung, sondern würde vermutlich eher eine Ausweitung der embryonalen Stammzellforschung andeuten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/3618, den Antrag der Frak- tion der SPD auf Drucksache 17/908 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen - Drucksache 17/5759 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbot der Einfuhr, des Handels und der Verwendung von Steinprodukten, die durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden - Drucksache 17/5803 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In drei Tagen - am 12. Juni 2011 - begehen wir den Internationalen Tag gegen Kinderarbeit. Er markiert den Jahrestag der Verabschiedung der ILO-Konvention 182, in der weitreichende Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarbeit beschlossen wurden. Die Bundesrepublik Deutschland gehört seit Jahren zu den Vorreitern im internationalen Kampf gegen Kinderarbeit. Wir haben die UN-Kinderrechtskonvention am 26. Januar 1990 unterzeichnet, ebenso die bereits erwähnten ILO-Konventionen 138 und 182. Innerhalb der Bundesrepublik haben wir schon lange vor der Unterzeichnung dieser Dokumente erforderliche Maßnahmen beschlossen, um Kinderarbeit in unserem Land zu verhindern. Dazu zählen die Ratifizierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes und der Kinderarbeitsschutzverordnung. Nach Angaben der ILO ist die Zahl der arbeitenden Kinder weltweit in den Jahren 2004 bis 2008 um 3 Prozent zurückgegangen. Dies gilt aber leider nicht für alle Regionen. In Asien und Südamerika geht die Kinderarbeit zwar zurück. In Afrika, insbesondere südlich der Sahara, nimmt sie hingegen weiter zu. Weltweit sind noch immer 215 Millionen Minderjährige in Kinderarbeit gefangen, 115 Millionen davon setzen regelmäßig ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel. 69 Prozent der Kinder sind in der Landwirtschaft beschäftigt, 22 Prozent im Dienstleistungsgewerbe und 9 Prozent in der Industrie. Besonders skandalös sind die Ergebnisse einer Untersuchung von UNICEF, wonach vier von fünf Kindern für ihre Arbeit keinerlei Lohn erhalten. 193 Staaten haben die UN-Menschenrechtskonvention gezeichnet, mehr als jede andere UN-Konvention bislang. In Art. 32 definiert sie Kinderarbeit als Tätigkeiten, die - ich zitiere - „Gefahren mit sich bringen, die die Erziehung des Kindes behindern, die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen.“ Die bereits erwähnte ILO-Konvention 182 verbietet die schlimmsten Formen von Kinderarbeit und mahnt unverzügliche Maßnahmen zu deren Beseitigung an. Dazu zählen gemäß Art. 3 Satz 4 der Konvention zunächst - Zitat - „alle Formen von Arbeit, die ihrer Natur nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie verrichtet werden, voraussichtlich für die Gesundheit, die Sicherheit oder die Sittlichkeit von Kindern schädlich sind.“ Zu diesen schlimmsten Formen der Kinderarbeit zählen unter anderem Sklaverei, Schuldknechtschaft, Leibeigenschaft, die Zwangs- und Pflichtrekrutierung von Kindern für den Einsatz in bewaffneten Konflikten, der Einsatz von Kindern im Drogenhandel sowie das Heranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zur Prostitution. Art. 2 definiert Kinder als Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Ich denke, wir sind uns - über alle Fraktionsgrenzen hinweg - einig, dass die Hauptursache für Kinderarbeit in der bitteren Armut der Eltern zu finden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kinder von ihren Eltern zur Arbeit geschickt würden, wenn nicht äußerste materielle Not sie dazu zwingen würde. Die Regierungen der ärmsten Staaten der Erde stehen vor kaum überwindbaren Problemen. Beispiel Bangladesch: Das bitterarme Land hat zwar bereits vor zehn Jahren die ILO-Konvention 182 unterzeichnet, für wirksame Kontrollen fehlt jedoch schlicht das Geld. Die langfristige Lösung des Problems - auch da sind wir uns einig - kann deshalb nur in nachhaltigem Wirtschaftswachstum liegen, das zu sozialem Fortschritt, zu universeller Bildung und somit letztlich auch zur Linderung von Armut führt. Wir haben uns mit dem Thema Kinderarbeit in dieser Legislaturperiode bereits mehrfach beschäftigt. Es war diese Bundesregierung, die mit ihrem Kabinettsbeschluss vom 6. März 2011 die Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention eingeleitet hat. Diese schließt neben vielen anderen Kinderrechten auch das Verbot von Kinderarbeit mit ein. Wenige Monate zuvor, am 9. Juli 2010, hat der Bundesrat einen „Entschließungsantrag zur Verhinderung des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit“ beschlossen. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme verdeutlicht, dass sie das politische Ziel, durch Kinderarbeit hergestellte Produkte nicht zu vertreiben und nicht zu nutzen, ausdrücklich unterstützt. Obwohl wir uns seit Jahren auf allen politischen Ebenen für dieses Ziel einsetzen, gibt es derzeit noch keine rechtliche Handhabe, die den Import von Waren aus ausbeuterischer Kinderarbeit unterbinden könnte. Dies liegt - und diese Erkenntnis gehört zur Ehrlichkeit dieser Debatte mit dazu - in allererster Linie an den Entwicklungsländern selbst. Sie sperren sich seit Jahren vehement - zum Beispiel gegen Änderungen der WTOVorschriften -, wohlwissend, dass diese nur im Konsens umgesetzt werden können. Der Antrag, mit dem wir uns heute befassen, setzt sich umfassender als der erwähnte Entschließungsantrag des Bundesrates mit dem Thema Kinderarbeit auseinander. Jedoch ist die christlich-liberale Koalition bei der Bekämpfung der Kinderarbeit - entgegen den Aussagen des hier zu behandelnden Antrags - auf einem guten Weg. Wir haben uns im Koalitionsvertrag nicht nur ausdrücklich zur Stärkung der Kinderrechte bekannt, sondern uns auch verpflichtet, weltweit für die Abschaffung unmenschlicher Behandlungen einzutreten. Dazu gehört explizit auch Kinderarbeit und der Einsatz von Kindersoldaten. In der Globalisierung sehen wir insgesamt eine Chance, Menschenrechten weltweit zur Durchsetzung zu verhelfen. Unsere auswärtige Kultur- und Bildungspolitik begreifen wir als Beitrag zum Menschenrechtsschutz. Ich sage es noch einmal: Diesen selbst auferlegten Verpflichtungen ist die Bundesregierung bislang in vollem Umfang nachgekommen. Lassen Sie mich einige Beispiele des deutschen Engagements in Erinnerung rufen: Zunächst unterstützt die Bundesregierung aktiv das Ziel, Produkte, die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, nicht länger zu verkaufen oder zu nutzen. Deshalb fördert Deutschland das sogenannte International Programme on the Elimination of Child Labour der ILO, Zu Protokoll gegebene Reden das sich diesem Ziel verschrieben hat. Seit den 1990er Jahren sind rund 54 Millionen Euro geflossen. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auch zu einem verstärkten Engagement auf europäischer Ebene auf. Sie verkennen dabei, dass wir dort bereits seit Jahren handelspolitische Anreize für von Kinderarbeit besonders betroffene Länder setzen. Das allgemeine Präferenzsystem APS+ gewährt Handelspartnern besonders attraktive Zollvergünstigungen, wenn 27 internationale Übereinkommen, darunter die ILO-Übereinkommen 138 und 182, ratifiziert und auch umgesetzt werden. Weiter setzen wir die Entwicklungszusammenarbeit als wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Kinderarbeit ein. Wir haben die Einhaltung der Kernarbeitsnormen zu einem wichtigen Parameter für die Entscheidung über die Förderung von Entwicklungsprojekten im Ausland gemacht. Auch fördert die Bundesrepublik direkt Projekte, die notwendige wirtschaftliche Alternativen für die in Kinderarbeit gefangenen Minderjährigen und ihre Familien schaffen. Schließlich setzt sich die Bundesregierung im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit seit Jahren mit Nachdruck für eine Verankerung der Kernarbeitsnormen - etwa auch in der Arbeit der WTO - ein. Dazu zählen insbesondere die für die Bekämpfung der Kinderarbeit relevanten Übereinkommen 138 und 182. Auch haben viele Länder und Kommunen hierzulande bereits Initiativen ergriffen, um den Vertrieb von Produkten, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu verhindern. Seit der Änderung des Vergaberechts am 24. April 2009 können Länder und Gemeinden in ihren Ausschreibungen einfordern, dass die Maßgaben der ILO-Kernarbeitsnormen bei der Herstellung von Produkten, die für den Export nach Deutschland bestimmt sind, eingehalten werden müssen. Zurück zum Antrag der Fraktion Die Linke. Sie fordern, die Bewilligung öffentlicher Kredite und weiterer Fördermittel für deutsche Unternehmen an die Auflage zu knüpfen, dass die ILO-Konvention 182 in der gesamten Lieferkette verbindlich eingehalten wird. Ich bin da sehr skeptisch. Zwar stimme ich Ihnen zu, dass auch die deutsche Wirtschaft beim Thema Kinderarbeit nicht aus der Verantwortung entlassen werden darf. Wahr ist aber auch, dass deutsche Unternehmen gerade in den letzten Jahren ein sehr viel stärkeres Problem- und Verantwortungsbewusstsein entwickelt haben. Nicht nur ich bin dieser Auffassung, sie findet sich auch in der Entschließung des Bundesrates vom 9. Juli 2010, die Sie in Ihrem Antrag ja ausdrücklich unterstützen. Es gibt zahlreiche Beispiele für freiwillige Selbstverpflichtungen der deutschen Wirtschaft, die die Bekämpfung von Kinderarbeit zum Inhalt haben. Mir ist wichtig, das gestiegene Verantwortungsbewusstsein der deutschen Öffentlichkeit im Umgang mit dem Thema Kinderarbeit zu betonen. So beobachten wir in den vergangenen Jahren verstärkt, dass sich Bürger vor dem Einkauf zunehmend über die Art und Weise der Herstellung von Produkten informieren und somit ihrer Verantwortung als mündige Verbraucher gerecht werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Bekämpfung von Kinderarbeit auf einem guten Weg befindet. Die Bundesregierung setzt sich auf bilateraler, europäischer und internationaler Ebene für eine stärkere Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention und der Übereinkommen 138 und 182 ein. Innerhalb der Bundesrepublik ergreifen Länder und Kommunen sowie Unternehmen und Bürger vermehrt Maßnahmen, um Produkte, die auch durch Kinderarbeit entstanden sind, zu ächten. Auf diesem Weg machen wir weiter.

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am Sonntag ist der Internationale Tag gegen Kinderarbeit. Wie wichtig und dringend nötig es ist, die internationale Aufmerksamkeit auf das Problem der weltweiten Kinderarbeit zu richten, machen die Zahlen in erschreckender Art und Weise deutlich: Rund 215 Millionen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren müssen nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation arbeiten, mehr als die Hälfte von ihnen unter Bedingungen, die ihrer Gesundheit und weiteren Entwicklung schaden. Sie werden ausgebeutet, ihrer Rechte und ihrer Kindheit beraubt. Millionen Kinder auf der ganzen Welt müssen unter extremen Bedingungen den ganzen Tag schwer schuften, viele von ihnen können keine Schule besuchen, und die, die eine besuchen, sind häufig zu ausgelaugt von der Arbeit, um dem Unterricht folgen zu können. Ohne Schulbildung haben sie aber auch in ihrem späteren Leben wenig Chancen auf eine Beschäftigung, die es ihnen ermöglicht, aus der Armut auszubrechen. Damit sind und bleiben sie gefangen im Teufelskreislauf der Armut. Die Frage ist, was wir nun tun können, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen und Kinder vor ausbeuterischer Kinderarbeit zu bewahren. Eine Antwort wäre vielleicht, wir verbieten einfach die Einfuhr von Produkten, die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, oder boykottieren diese und damit wird dann alles gut. Das hört sich gut an, und bestimmt würden dem auch die meisten, die man so spontan auf der Straße zu dem Thema befragt, ohne Weiteres zustimmen. Aber leider ist es so einfach nicht. Es gibt nun mal für die komplexen Problemstellungen auf dieser Welt in der Regel keine so simplen Lösungen. Denn was passiert dann mit den Kindern? Wovon leben sie und ihre Familien? Die meisten dieser Kinder müssen arbeiten, weil das Einkommen der Eltern nicht ausreicht, die Familie zu ernähren. Die Kinder sind gezwungen, ihren Beitrag am Familieneinkommen heranzuschaffen. Allein die Einbringung eines Gesetzentwurfes in Amerika in den 90er-Jahren, der die Einfuhr von Waren, die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, verbieten sollte, hat in Bangladesch dazu geführt, dass circa 50 000 Kinder entlassen wurden und damit mehr oder weniger über Nacht auf der Straße standen. Die meisten von ihnen mussten dann so schnell wie möglich eine neue Arbeit finden, und nicht wenige von ihnen landeten in der Prostitution. Sicherlich haben solche Gesetze soZu Protokoll gegebene Reden Sabine Weiss ({0}) wie die Berichterstattung darüber dazu beigetragen, die Öffentlichkeit in den Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern für die Problematik zu sensibilisieren und auch das eine oder andere Umdenken anzustoßen. Die unmittelbaren Konsequenzen für die Kinder und ihre Familien waren aber erst einmal dramatisch; denn sie wurden in noch größeres Elend gestürzt. Die gesetzlichen Einfuhrverbote in den USA zeigen zudem auch kaum praktische Wirkungen, sodass allein durch Sanktionen Kinderarbeit nicht wirksam bekämpft wird. Es gibt für die Bekämpfung der Kinderarbeit keine einfachen Lösungen. Wer die weltweite ausbeuterische Kinderarbeit beenden will, der muss Alternativen zur Kinderarbeit für die Familien schaffen. Sanktionen - wie Boykotte oder Einfuhrverbote - beseitigen nicht die sozialen Ursachen der Kinderarbeit. Allein mit einem Einfuhrverbot ist es nicht getan. Schlimmer noch: Es kann tendenziell die Lage der Kinder sogar verschlechtern, weil sie dann im schlimmsten Fall gezwungen sind, noch ausbeuterischere Arbeiten zu verrichten, oder weil sie und ihre Familien Hunger leiden müssen. Auch Hilfsorganisationen wie beispielsweise UNICEF vertreten den Standpunkt, dass Einfuhrverbote allein zu kurz greifen. Dauerhaft kann die ausbeuterische Kinderarbeit nur besiegt werden, wenn wir die sozialen Ursachen dafür in den Griff bekommen, sprich: Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Denn nur wenn sich die wirtschaftliche Situation der Familien so nachhaltig verbessert, dass die Familien auch ohne den Beitrag der Kinder über die Runden kommen können, werden die Kinder nicht mehr arbeiten müssen. Deswegen ist die nachhaltige Bekämpfung der Armut in all ihren furchtbaren Ausprägungen und mit all ihren Konsequenzen für mich das zentrale Mittel, um ausbeuterische Kinderarbeit dauerhaft zu beenden. Einfuhrverbote und Boykotte mögen sich zwar gut anhören und unser Gewissen hier erleichtern, werden aber die entsetzliche Ausbeutung von Kindern in Entwicklungs- und Schwellenländern nicht stoppen können. Kinderarbeit lässt sich leider nicht so einfach und quasi über Nacht beenden. Nur durch ein Bündel von Maßnahmen wie konsequente Armutsbekämpfung, Bildung, Aufbau von Sozialsystemen usw. wird die ausbeuterische Kinderarbeit in den Griff zu bekommen sein. Ich bin froh, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sich nicht nur intensiv und konsequent dafür einsetzt, die weltweite ausbeuterische Kinderarbeit zurückzudrängen, sondern auch den sozialen Ursachen, die zur Ausbeutung von Millionen von Kindern führen, den Kampf angesagt hat. Das Ministerium packt damit das Problem von der Wurzel her an, wohingegen die Forderungen in Ihren Anträgen nach einem generellen Einfuhrverbot lediglich dazu dienen können, den Konsumenten ein vermeintlich gutes Gewissen zu suggerieren, ohne dass sich die Situation der Kinder verbessert.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein „entscheidender Wettbewerbsvorteil“ sei Kinderarbeit wegen der günstigen Löhne. Kinderarbeit sei zwar nicht schön, aber günstig. Und: Eine Kommune müsse sparen, außerdem komme es der Kommune nicht zugute, wenn sie auf Produkte aus Kinderarbeit verzichte - Zynismus pur. Man mag es kaum glauben, dass so im letzten Jahr in einem deutschen Kreistag von einem Landrat argumentiert wurde. Die öffentliche Empörung war groß - zu Recht. Viele Zeitungen berichteten. Wen es interessiert, der kann es nachlesen. Als der Druck zu groß wurde, lenkte der Kreistag ein. Ich gehe davon aus, dass niemand unter uns - fraktionsübergreifend - sich dieser Argumentation angeschlossen hätte. Aber es zeigt doch, dass noch ein gutes Stück Arbeit an Bewusstseinsschärfung nötig ist, damit so in Zukunft weder in Politik noch Gesellschaft argumentiert wird. Heute findet der 14. Kinder- und Jugendhilfetag in Stuttgart statt. Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert zu Recht, dass die Menschenrechte von Kindern - auch in Deutschland - umfassend beachtet werden. In wenigen Tagen am 12. Juni jährt sich wieder der Internationale Tag gegen Kinderarbeit. Er markiert den Jahrestag der Verabschiedung des ILO-Abkommens Nr. 182 gegen Kinderarbeit. Deshalb ist es richtig, dass wir heute hier nicht nur an die kinderunwürdigen Verhältnisse in vielen Teilen der Welt erinnern, sondern auch neue Wege suchen, wie wir selbst daran mitwirken können, dass Kinderarbeit nicht nur nicht gefördert, sondern auch bekämpft werden kann. UNICEF schätzt, dass weltweit über 150 Millionen Kinder unter 15 Jahren hart arbeiten müssen - zum Teil unter schwierigsten, sklavischen und gesundheitsschädlichen Bedingungen. Die Bestrebungen, die Kinderarbeit einzudämmen, haben sich verschiedene internationale Konventionen und Richtlinien zum Ziel gesetzt. Dazu zählen insbesondere die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation - ILO - und deren Konvention 138 zum Verbot der Erwerbstätigkeit unter einem bestimmten Mindestalter und Konvention 182, die die schlimmsten Formen der Kinderarbeit unterbinden soll. Daneben hat Deutschland unter anderem die OECDLeitsätze für multinationale Unternehmen unterzeichnet. Sie stellen für multinationale Unternehmen einen Verhaltenskodex dar. Im Rahmen der Leitsätze haben die Unternehmen zur Beseitigung der Kinderarbeit beizutragen. In diesen Tagen wird die Revision der Leitsätze beraten und abgeschlossen. Die Leitsätze sind wichtig, leider sind sie zu unverbindlich, überwiegt das Soft Law mit zu vielen Soll-Vorschriften. Auch die ILO war an der Überarbeitung der Leitsätze beteiligt, um die Kernarbeitsnormen zu implementieren, zu denen eben auch der Verzicht auf Kinderarbeit zählt. Zum Kampf gegen Kinderarbeit bedarf es auf allen politischen Ebenen Maßnahmen zur Verwirklichung der ILO-Konvention Nr. 182. Deshalb ist ein Individualbeschwerdeverfahren auch so wichtig. Recht haben reicht eben alleine nicht aus. Rechte müssen auch durchsetzbar sein. Hier ist der Menschenrechtsrat weiter gefordert. Zu Protokoll gegebene Reden Viele Kinder arbeiten in Wirtschaftsbereichen, die Produkte für den Export herstellen. Trotz ansteigenden Verantwortungsbewusstseins bei den Verbrauchern ist eine Kontrolle bzw. Identifizierung von aus Kinderarbeit hergestellten Produkten nur eingeschränkt möglich. Vielfach muss man sich an - einigen wenigen - privaten Initiativen orientieren, die entsprechende Informationen oder Zertifizierungen zur Verfügung stellen. Das ist nicht ausreichend. Deshalb hat der Bundesrat auf Initiative der SPD-geführten Länder Rheinland-Pfalz, Bremen, später hinzutretend auch Berlin und Brandenburg zu Recht eine Initiative zur Verhinderung des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit gestartet. Insofern ist auch das Anliegen der Anträge, über die wir heute debattieren, berechtigt, übernehmen sie doch wichtige Passagen aus der Entschließung des Bundesrates. Die wichtigste Ursache von Kinderarbeit ist Armut. Das wichtigste Instrument ist deshalb die Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig gehört dazu die Förderung der Schul- und Berufsausbildung. In diesem Zusammenhang gibt es in einigen Ländern, wie zum Beispiel Mexiko und Brasilien, Sozialprogramme, die Familien Sozialleistungen gewähren, wenn Kinder Schulen besuchen. Die Programme sind erfolgreich und sollten auf weitere Länder übertragen werden. Gleichzeitig muss die Bewusstseinsbildung und Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft der Industrieländer verstärkt werden. Wir begrüßen privatwirtschaftliche Initiativen fair gehandelter Produkte. Verbraucher sollten in die Lage versetzt werden, bewusste Kaufentscheidungen treffen zu können. Das erfordert verstärkt die Kennzeichnung gehandelter Waren durch die Wirtschaft. In einigen Bereichen wie im Kaffee-, Kakao- und Textilsektor gibt es bereits einige Verhaltenskodizes, die sukzessive ausgebaut werden müssen. Komplementär kann man über Importverbote nachdenken. Gleich vorweg sollte man aber wissen, dass nach bisherigen Erfahrungen Importverbote alleine nicht dazu beigetragen haben, Kinderarbeit zu verringern. Entsprechende Gesetze in den USA haben wenig Wirkung gezeigt. Es ist dabei zu bedenken, dass ein Boykott auch dazu führen kann, dass die betroffenen Familien noch ärmer werden, die Kinder entweder in der Landwirtschaft oder in Produktionsbereichen, die keine Waren für den Export herstellen, weiter arbeiten müssen. Deshalb sollten Importverbote immer durch Sozialprogramme begleitet werden. Das Problem darf nicht nur verlagert werden. Gleichwohl hat die EU bisher keine Importverbote gegenüber Drittstaaten, die Produkte aus Kinderarbeit exportieren, erwogen. Die Niederlande hatten 2008 einen Vorstoß unternommen, der abgelehnt wurde. WTOrechtliche Bedenken spielen dabei eine große Rolle. Ein solches Verbot könnte gegen das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen - GATT - verstoßen. Eine Änderung des WTO-Regelwerks ist wohl nicht sonderlich aussichtsreich, da die entsprechenden Exportländer dem nicht zustimmen würden. Gleichwohl sollte die Bundesregierung ergebnisoffen prüfen, ob und wie Marktzugangssperren zur Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit möglich wären. Insofern wollen wir auch ergebnisoffen über die beiden Anträge im Ausschuss diskutieren. Gleichwohl möchte ich vorab schon einmal anmerken, dass die Anträge - wie so oft - überziehen und nicht die Bemühungen und Erfolge deutscher Menschenrechts- und Entwicklungspolitik aufzeigen. Die Bundesregierung arbeitet seit 1972 mit der ILO im Rahmen der technischen Hilfe zusammen. Das BMZ hat mit 55 Millionen Euro seit Anfang der 90er-Jahre Programme zur Abschaffung der Kinderarbeit unterstützt und gehört zu den größten Gebern. Die Bundesregierung setzt sich für die Verankerung der Kernarbeitsnormen auch in anderen Übereinkommen ein. In informellen Arbeitskreisen zwischen WTO und ILO wird die Möglichkeit einer Einbeziehung von Sozialstandards besprochen. Aber auch auf kommunaler Ebene gibt es immer häufiger Bestrebungen, Produkte aus Kinderarbeit zu meiden. Mit der Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung 2009 können öffentliche Auftraggeber an Auftragnehmer und bei Ausschreibungen zusätzliche Anforderungen stellen, die nicht nur die Wirtschaftlichkeit des Angebots, sondern auch ethische und soziale Aspekte betreffen. Der öffentliche Auftraggeber kann die Vorgaben der Einhaltung der ILO-Normen auf die gesamte Lieferkette bis ins Ursprungsland erstrecken. Trotz berechtigter kritischer Betrachtung der Situation beleuchtet der Antrag „Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen“ all diese Bemühungen nicht. Darauf wird in den Ausschussberatungen noch einzugehen sein.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am 12. Juni 2011 ist der Internationale Tag gegen Kinderarbeit. Deshalb ist es richtig, dass wir heute über dieses Thema im Deutschen Bundestag diskutieren. Um es deutlich zu sagen: Kinderarbeit ist ein Verbrechen und nichts anderes als eine besonders subtile Form von Gewalt gegen Kinder. Mit den ILO-Konventionen 138 und 182 wird Kinderarbeit deshalb weltweit geächtet. Auch Deutschland hat diese Konventionen ratifiziert und damit nicht nur nationale Verantwortung übernommen, sondern ist damit auch die Verpflichtung eingegangen, sich weltweit für die Bekämpfung von Kinderarbeit einzusetzen. Dennoch arbeiten nach aktuellen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, weltweit 215 Millionen Kinder Tag für Tag - davon rund 115 Millionen unter gefährlichen und ausbeuterischen Bedingungen. 53 Millionen dieser Kinder sind jünger als 14 Jahre. Besonders schlimme Formen der Kinderarbeit gibt es beispielsweise im Bereich der Natursteinherstellung vor allem in Indien. Die so hergestellten Steinprodukte finden sich dann in unserem Alltag wieder, sei es in den Fußgängerzonen oder als Grabsteine auf den Friedhöfen. Klar: Niemand möchte auf Pflastersteinen gehen, die in ausbeuterischer Kinderarbeit in Indien oder China zugehauen wurden. Trotzdem passiert dies Tag für Tag überall im Land. Das müsste nicht sein, wenn sich die öffentlichen Aufraggeber ihrer zentralen Markt13146 Karin Roth ({0}) position bewusst wären und diese auch entsprechend nutzen würden. Die Ursachen für Kinderarbeit gerade in Indien, Bangladesch, Nepal und vielen anderen asiatischen Ländern sind jedoch vielschichtig und beruhen wesentlich auf dem dortigen Kastenwesen und der existenziellen Armut der Familien in der untersten Kaste. Oft werden die Kinder aus Armutsfamilien zur Kinderarbeit geschickt, damit die Familie überhaupt überleben kann. Es entsteht ein Teufelskreis der Armut. Den arbeitenden Kindern wird Schulbildung vorenthalten und sie erleiden durch die schwere Arbeit körperliche und geistige Schäden, mit der Folge, dass sich ihre Chancen, ihren Lebensunterhalt später durch reguläre Arbeit zu bestreiten, drastisch verschlechtern und sie in Armut verharren. Ich erwarte vom Schwellenland Indien, dass es bereit ist, die Kinderarbeit im Land zu unterbinden, indem es die Kinder in die Schulen schickt und die Dumpinglöhne verhindert. Auch in Deutschland und in Europa können wir dazu beitragen, die Kinderarbeit zu bekämpfen. Die öffentlichen Auftraggeber von Bund, Ländern und Kommunen sind in der Pflicht, alles zu tun, um indirekt die Arbeit von Kindern zu vermeiden. Nicht nur die Anbieterseite, sondern vor allem die Nachfrage nach Gütern ist entscheidend. Jahr für Jahr gibt die öffentliche Hand in Deutschland rund 360 Milliarden Euro für die Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen aus. Das entspricht etwa 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Über die Hälfte davon entfällt auf Städte, Gemeinde und Landkreise, was diese zum bedeutendsten öffentlichen Auftraggeber macht. Sie bilden damit eine enorme Nachfragemacht. Als Großverbraucher können sie ihre Marktstellung zu einer Umorientierung nutzen, indem sie als verantwortungsvolle Akteure agieren, die soziale und ökologische Anliegen in öffentlichen Ausschreibungen integrieren. Die Reform des deutschen Vergaberechts hat größere Spielräume geschaffen, um soziale und ökologische Anforderungen in öffentliche Ausschreibungen zu integrieren - ein wichtiger Schritt für den Umwelt- und Klimaschutz und eine soziale Gestaltung der Globalisierung. Es geht darum, Rechtssicherheit für öffentliche Auftraggeber zu schaffen, die keine Gegenstände einkaufen wollen, die beispielsweise von Kindern unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellt wurden. Die Berücksichtigung sozialer, ökologischer und innovativer Kriterien ist bei der Neufassung der öffentlichen Beschaffungsordnung allerdings nur als „KannVorschrift“ in das Vergaberecht aufgenommen worden. Umso wichtiger ist es jetzt, darauf hinzuwirken, dass diese Kann-Kriterien in der Vergabepraxis auch wirklich angewandt werden. Die Praxis sieht leider anders aus: Allzu oft bleiben die sozialen und ökologischen Folgen des öffentlichen Einkaufs in den Produktionsketten außer Betracht, solange das entscheidende Kriterium das billigste Angebot ist. Deshalb sollte das Vergaberecht hier eindeutige Regelungen vorsehen, auch mit dem Hinweis, dass die ILO-Konventionen 138 und 182 dazu verpflichten. In diesem Zusammenhang möchte ich an die wichtige gemeinsame Initiative der damaligen SPD-Minister Heidemarie Wieczorek-Zeul und Olaf Scholz mit dem Deutschen Städtetag vom September 2009 erinnern. Mit einem Leitfaden für die „Berücksichtigung sozialer Belange im Vergaberecht“ wurden die Einkäufer vor Ort praxisnah unterstützt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung lässt leider die Kommunen in dieser Frage alleine. Dass es auch anders geht, zeigt der Blick in unser Nachbarland. So werden die Niederlande bis zum Jahr 2012 die gesamte öffentliche Beschaffung nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten ausrichten. Ich fordere deshalb, dass die Bundesregierung endlich Vorschläge auf den Tisch legt, damit soziale und ökologische Mindeststandards bei der Vergabe angewendet werden. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch Bund, Länder und Kommunen ist öffentlich zu machen, ob die ILO-Konventionen zur Bekämpfung von Kinderarbeit im Ursprungsland und entlang der Lieferkette eingehalten wurden. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass die ILO-Konvention 182 auch von den noch fehlenden zehn Staaten, darunter vor allem Indien, ratifiziert wird. Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung deutlich stärker als bisher dafür einsetzt, dass die ILO-Kernarbeitsnormen und damit auch die ILO-Konventionen 138 und 182 zur Bekämpfung der Kinderarbeit im Rahmen der Doha-Runde der Welthandelsorganisation, WTO, umgesetzt werden. Ich erwarte zudem, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommission in allen Verhandlungen zu internationalen Handelsabkommen - gerade aktuell mit Indien - nachdrücklich auf der Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards besteht. Dies wäre ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung der Kinderarbeit in der indischen Natursteinindustrie. Das Europäische Parlament hat bereits wichtige Vorschläge zu mehr Fairness in der künftigen EU-Handelspolitik gemacht. Dazu hatte auch die SPDBundestagsfraktion im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einen Antrag eingebracht, mit dem die Bundesregierung und die EU-Kommission dabei unterstützt werden sollten. Diesen Antrag hat die schwarz-gelbe Koalition - vermutlich aus rein parteitaktischem Kalkül - leider abgelehnt. Ich darf daran erinnern, dass die Bundesregierung vor zwei Wochen, am 25. Mai 2011, die neuen OECDLeitlinien für weltweite unternehmerische Verantwortung, bei denen es genau um diese Themen - die Sorgfaltspflicht entlang der Lieferkette, die Bekämpfung von Kinderarbeit und die Wahrung der Menschenrechte geht, mit verhandelt und unterzeichnet hat. Und ich gehe davon aus, dass die Standards, die die Bundesregierung für die Privatwirtschaft setzt, erst recht für die öffentliche Hand und deren Vergabe- und Beschaffungsverfahren gelten. Zu Protokoll gegebene Reden Karin Roth ({1}) Transparenz ist ein zentraler Schlüssel für faire Arbeitsbedingungen und Voraussetzung für die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit. Wir brauchen endlich ein einheitliches Zertifizierungssystem für die gesamte Produktions- und Lieferkette. Vorbild kann die internationale Initiative für Transparenz in der Rohstoffindustrie, EITI, sein. Dies schafft mehr Sicherheit für Unternehmen und Beschäftigte und sorgt für mehr Vertrauen bei Endabnehmern und Verbrauchern. Hier kann Deutschland weltweit eine wichtige Vorreiterrolle einnehmen. Dabei sollte die Kompetenz der Durchführungsorganisation für Entwicklungspolitik GIZ genutzt werden. Diese Investition lohnt sich allemal und könnte von deutschen Unternehmen in allen Branchen genutzt werden.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ohne Zweifel ist Kinderarbeit ein Problem von höchster menschenrechtlicher Brisanz. Häufig findet sie unsichtbar statt, wird also statistisch nur unzureichend erfasst. Ihr Ausmaß muss daher geschätzt werden. Wie Frau Dr. Schmieg vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Ausschuss für Menschenrechte berichtete, gibt die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, an, dass weltweit 215 Millionen Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren arbeiten. Nach Schätzungen von UNICEF sind es sogar 218 Millionen Kinder. Laut der ILO sind 115 Millionen Kinder gezwungen, einer gefährlichen oder einer ihre Entwicklung behindernden Arbeit nachzugehen. 5,7 Millionen Kinder müssen gar Zwangsarbeit leisten oder befinden sich aufgrund von Schuldknechtschaft in einer modernen Form von Sklaverei, um die Schulden ihrer Eltern abzuarbeiten. Vor allem das subsaharische Afrika ist von Kinderarbeit betroffen - dort muss jedes dritte Kind arbeiten. Bundesentwicklungsminister Niebel hat Recht, wenn er betont, dass man ein Land nicht von außen entwickeln kann. Nachhaltige Entwicklung gelingt nur, wenn sich ein Land selbst entwickelt. Natürlich wissen wir alle, dass ein gutes Bildungsniveau hierfür unabdingbar ist. Wenn wir uns vor Augen führen, wie viele Millionen Kinder tagtäglich einer Arbeit nachgehen müssen, anstatt eine Schule zu besuchen, dann werden auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen von Kinderarbeit deutlich. Denn Bildung braucht Zeit, die man während der Arbeit nicht hat. Und ohne Bildung keine Entwicklung. Das in den vorliegenden Anträgen der Linken verfolgte Anliegen, Kinderarbeit zu bekämpfen und den Handel mit Produkten, die unter solch unmenschlichen Bedingungen hergestellt worden sind, zu unterbinden, ist natürlich richtig. Selbstverständlich verfolgt auch die FDP dieses Ziel. Auf Seite 126 unseres Koalitionsvertrages verpflichten wir uns dazu, Kinderarbeit zu ächten und international zu verbieten. Der Vertrag bleibt jedoch dort nicht stehen, sondern nennt auch die Mittel, mit denen wir dieses Ziel erreichen wollen. Dazu zählen Zertifizierungsmaßnahmen und Initiativen verantwortungsvoller Unternehmensführung. Da wir uns an unseren Taten, nicht an unseren Worten messen lassen wollen, haben wir im März letzten Jahres einen eigenen Antrag mit dem Titel „Menschenrechte weltweit schützen“ verabschiedet. Unter anderem haben wir die Bundesregierung darin aufgefordert, sich für die Bekämpfung von Kinderarbeit einzusetzen. Diesem Anliegen kommt sie erfolgreich nach, indem sie die Ursachen der Kinderarbeit, die vor allen Dingen in der Armut der Eltern begründet liegen, entschieden bekämpft. In ihren Vorhaben der staatlichen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit beispielsweise bekämpft die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Kinderarbeit, indem sie wirtschaftliche Alternativen für Kinder und ihre Familien ermöglicht. Ebenfalls wichtig ist die Unterstützung multilateraler Initiativen und die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Im Rahmen des Public-Privat-Partnership-Programms fördert die deutsche Entwicklungszusammenarbeit Unternehmen bei der Erarbeitung und Umsetzung von Verhaltenskodizes, so etwa im Kaffee-, Kakao- und Textilsektor. Neben zahlreichen anderen Aspekten bezwecken diese Kodizes immer auch die Vermeidung von Kinderarbeit. Außerdem fördert die Bundesregierung aktiv den fairen Handel, denn dieser garantiert eine Herstellung ohne ausbeuterische Arbeit und eine gerechte Entlohnung der Produzenten in Entwicklungsländern. Erst ein gerechter Lohn oder wirtschaftliche Alternativen für die von Kinderarbeit betroffenen Familien ermöglicht es diesen Menschen, ihre Kinder zur Schule zu schicken und ein Leben ohne Armut zu führen. Ferner setzt sich die Bundesregierung in ihrer internationalen Zusammenarbeit für eine Verankerung der Kernarbeitsnormen, in erster Linie der Übereinkommen 138 und 182, auch in der Arbeit anderer internationaler Organisationen ein. Auf die Einhaltung dieser ILO-Kernarbeitsnormen wird auch bei Projekten der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit gepocht. So sehr ich Ihr Anliegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, unterstütze, so muss ich dennoch feststellen, dass Ihre Anträge dem bestehenden Problem der Kinderarbeit nicht gerecht werden. Denn ein Großteil der darin enthaltenen Forderungen werden, wie soeben dargelegt, seitens der Bundesregierung bereits erfüllt und sind damit obsolet. Andere Forderungen wiederum zeugen davon, dass Sie das komplexe Problem der Kinderarbeit offensichtlich noch nicht ganz erfasst haben. Daher greifen Ihre Konzepte zu kurz, wenn es darum geht, Kinderarbeit wirkungsvoll zu bekämpfen. Eine Analyse der Hintergründe von Kinderarbeit zeigt auf, dass Verbote allein nicht weiterführen. Stattdessen müssen wir die Gesamtsituation der Familien berücksichtigen und mehrere Rahmenbedingungen gleichzeitig angehen. Wie ich soeben dargelegt habe, ist die Bundesregierung vor allem in ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit bereits dabei, genau dies umzusetzen. Ich möchte Ihnen noch deutlich machen, dass es auch ohne das von Ihnen geforderte gesetzliche Verbot von Steinprodukten aus Kinderarbeit schon heute möglich ist, etwas dagegen zu tun. Die Stadt Reutlingen geht hier mit gutem Beispiel voran. Auf Beschluss des VerwalZu Protokoll gegebene Reden tungsausschusses verzichtet sie seit einigen Jahren bei öffentlichen Anschaffungen auf alle Produkte, bei deren Herstellung ausbeuterische Kinderarbeit involviert war. Das betrifft beispielsweise Sportartikel wie Fußbälle, aber auch Holzprodukte und eben auch Pflastersteine. Derzeit ist Reutlingen bestrebt, vor allem die interkommunale Kooperation bei öffentlichen Ausschreibungen und Beschaffungen zu vertiefen. Dies würde einen noch größeren Anreiz für die Anbieter darstellen, im Herstellungsprozess auf ausbeuterische Kinderarbeit zu verzichten. Anhand hoffnungsvoller Beispiele wie der Stadt Reutlingen können wir sehen, dass wir auch ohne Ihre Anträge gegen Kinderarbeit vorgehen können.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kinder sind unsere Zukunft und bedürfen des besonderen Schutzes. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, schätzt, dass weltweit zwischen 126 und 165 Millionen Kinder unter sklavenähnlichen Bedingungen schonungslos ausgebeutet werden. Die Länder des Südens sind besonders stark betroffen. Die Ursache ist meist Massenarmut, die dazu führt, dass Eltern die Arbeitskraft ihrer Kinder verkaufen müssen. Die Kinder schuften oftmals unter extrem ausbeuterischen Bedingungen zu Hungerlöhnen oder unentgeltlich in der Plantagenwirtschaft, in Steinbrüchen, in der Sexindustrie oder in reichen Privathaushalten, um die Schulden ihrer Eltern abzuarbeiten und den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Das ist nichts anderes als Sklaverei. Infolge der globalen Waren- und Handelsströme gelangen allerdings zahlreiche Produkte, die mittels ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt werden, auch in die EU und die Bundesrepublik. Allein zwei Drittel aller in Deutschland aufgestellten Grabsteine stammen aus Indien. Dort arbeiten circa 150 000 Kinder in häufig lebensgefährlichen Steinbrüchen. Importgeschäfte dieser Art sind ein Skandal, der unverzüglich beendet werden muss. Wir können unsere Toten nicht mit Grabsteinen ehren, deren Herstellung sämtlichen moralisch-ethischen Standards widerspricht und das Leben von Kindern gefährdet. Diese ausbeuterische und schwere körperliche Arbeit führt häufig zu Knochenbrüchen an Armen und Beinen, Taubheit, Blindheit, Atemwegsproblemen und Hauterkrankungen oder schlimmstenfalls zum Tod. Ebenso wenig dürfen wir verdrängen, dass auch bei uns Kinder unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten müssen. Ich denke hierbei insbesondere an Kinder, die von skrupellosen Menschenfängern als Sexsklavinnen und Sexsklaven nach Deutschland verschleppt werden. Die Bundesrepublik hat bereits im Jahr 2002 die ILOKonvention 182 über das Verbot der schlimmsten Formen von Kinderarbeit ratifiziert. Dies verlangt ein aktives Vorgehen der Bundesregierung gegen Arbeitsversklavung und Schuldknechtschaft von Kindern, gegen Kinderhandel, gegen Prostitution und Kinderpornografie und gegen Kindersoldaten. Allerdings nützt das beste internationale Abkommen zum Schutz von Kindern nichts, solange nicht effektive Maßnahmen zu seiner Umsetzung ergriffen werden. Den Worten müssen auch international wirksame Taten folgen. Kinderhandelsringe nach und in Deutschland müssen zerschlagen und die Täter müssen härter bestraft werden. Die Linke fordert, vor allem die Ursachen für ausbeuterische Kinderarbeit stärker zu bekämpfen. Dies bedeutet, deutlich mehr Mittel zur weltweiten Armutsbekämpfung zur Verfügung zu stellen. Deutschland hat die vereinbarte Zusage, 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, bis heute nicht eingehalten. Dies ist schon unter Rot-Grün und Schwarz-Rot so gewesen und hat sich unter Schwarz-Gelb nicht geändert. Deutschland muss endlich seine internationalen Verpflichtungen erfüllen. Sonntagsreden eines vermeintlich mitfühlenden Liberalismus sind dafür kein Ersatz! Die Linke unterstützt den mehrheitlichen Beschluss des Bundesrates vom 9. Juli 2010, den Marktzugang von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhindern. Die Bundesregierung muss sich in der WTO und auf EU-Ebene umgehend für ein diesbezügliches Importverbot einsetzen. Falls dies nicht gelingt, müssen zumindest künftig die Herstellungsbedingungen von importierten Gütern lückenlos dokumentiert werden. Produkte, die durch ausbeuterische Kinderarbeit gewonnen werden, müssen von den Verbraucherinnen und Verbrauchern auch klar als solche erkannt werden können. Sie sollen wissen, unter welchen Bedingungen Produkte hergestellt werden, bevor sie auf den EU-Binnenmarkt gelangen. Unseren Konsumentinnen und Konsumenten muss bewusst werden, ob die schicke Goldkette mit den kleinen Händen von Kindern gefertigt wurde. In Burkina Faso arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in Goldminen. Rund 70 Prozent sind unter 15 Jahre alt; schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwaschen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Unsere Gesellschaft stigmatisiert bislang meist die Schwächsten und betreibt gern Sündenbocksuche. Stattdessen gehören die Verursacher, profitgierige Großkonzerne und deren Zwischenhändler, an den Pranger. Sie fördern mit ihrem Preisdumping ausbeuterische Kinderarbeit in den ärmsten Ländern. Dem kann mit einer Kennzeichnungspflicht ein Riegel vorgeschoben werden. Ich bin mir sicher, dass sich das Kaufverhalten der Bevölkerung dadurch ändern wird. Wenn ausbeuterische Kinderarbeit durch die Verbraucherinnen und Verbraucher geächtet wird, ist sie für Firmen auch nicht mehr lukrativ. Erfahrungen aus anderen Bereichen wie mit Fair-Trade-Produkten oder Zertifikaten über eine ökologische Anbauweise belegen dies. Es geht aber nicht nur darum, mit effektiveren Produktions- und Handelskontrollen zu verhindern, dass künftig Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu uns gelangen. Wir müssen uns auch mit den in Deutschland bereits vorhandenen Produkten auseinandersetzen. Dies betrifft konkret indische Grabsteine auf deutschen Friedhöfen, aber auch Natursteine oder Fensterplatten aus Marmor für den Eigenheimbau, die nachweislich durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden. Friedhofssatzungen von Kommunen in Bayern und Zu Protokoll gegebene Reden Rheinland-Pfalz, die das Aufstellen betreffender Grabsteine verbieten, wurden nach erfolgreichen Klagen von Steinmetzbetrieben für unwirksam erklärt. Dies zeigt, dass das Problem auf kommunalpolitischer Ebene nicht gelöst werden kann und der nationale Gesetzgeber gefordert ist. Die Bundesregierung muss daher sofort ein gesetzliches Verbot für die Einfuhr, den Handel und die Verwendung von Steinprodukten aus ausbeuterischer Kinderarbeit erlassen. Der weltweite Schutz der Kinderrechte muss Vorrang haben vor den Profitinteressen von Unternehmen. Ich denke, hierüber sollte über Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestehen.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir begehen am 12. Juni den Internationalen Tag gegen Kinderarbeit, und ich muss erneut mit Erschrecken feststellen, dass die Zahl der arbeitenden Kinder im vergangenen Jahrzehnt, entgegen den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, gestiegen ist. Dass Kinderarbeit immer noch ein massives internationales Problem darstellt, darüber besteht offensichtlich ein breiter Konsens. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, schätzt die Zahl der arbeitenden Kinder zwischen 5 und 14 Jahren auf circa 215 Millionen weltweit. Dies ist eine Steigerung von 19 Millionen Kindern in nur einem Jahrzehnt. Das Verbot von Kinderarbeit alleine hat seine Wirkung somit verfehlt. Daher begrüße ich den Antrag der Fraktion Die Linke. Jedoch greift dieser zu kurz. Es bedarf wesentlich mehr als einem reinen Importverbot für Produkte, die nachweislich durch Kinderarbeit hergestellt wurden. Hierdurch alleine lässt sich das Problem nicht effektiv bekämpfen. Denn laut UNICEF sind nur circa 5 Prozent der arbeitenden Kinder in der Exportindustrie tätig. Heute weiß man, dass das Verbot von Kinderarbeit oder Handelsboykotte ihre Wirkung verfehlt haben. Entgegen allen Erwartungen hat sich die Zahl der ausgebeuteten Kinder nicht verringert. Eine politische Intervention ohne ein dazugehöriges Maßnahmenpaket zur Beseitigung der Ursachen von Kinderarbeit in den Ursprungsländern ist unzureichend oder gar unverantwortlich. Am Beispiel der UNICEF-Studie aus Nepal kann man erkennen, wohin eine undurchdachte politische Maßnahme führen kann. Dort führte der weltweite Handelsboykott gegen geknüpfte Teppiche dazu, dass alle Kinder, zumeist Mädchen, entlassen wurden. Viele dieser jungen Mädchen wurden in die Prostitution gedrängt. Dieses schreckliche Beispiel macht deutlich, wie wichtig ein Maßnahmenpaket mit verschiedenen Vorgehensweisen ist, um Kinderarbeit effektiv zu bekämpfen. Denn die in einem Land bestehende Armut und die dadurch ermöglichte Ausbeutung ist die eigentliche Wurzel des Problems. Zu jeder umfassenden Strategie gegen Kinderarbeit gehören daher die drei Säulen von Prävention, Entlassung aus der unwürdigen Arbeit und Rehabilitation. Das Recht auf kostenlose Bildung nach Art. 28 der Kinderrechtskonvention ist für die Prävention unabdingbar. Bildung stellt das Zentrum jeder Präventionsstrategie dar; denn nur Bildung wirkt nachhaltig. Es ist das zentrale Mittel, um den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen und Kindern Alternativen und Lebenschancen aufzuweisen. Zudem verhindert kostenlose Bildung, dass Kinder dazu genötigt werden, zu arbeiten, um ihren Schulbesuch oder den ihrer Geschwister zu finanzieren. Der Zugang zu Bildung, das möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, sollte jedem Kind, gleich welcher Nationalität, welcher sozialen Herkunft oder welchen Geschlechts, ohne Barrieren möglich sein. Als Basis für erfolgreiche Prävention gilt die Unterstützung der Familien durch Stipendien für den Schulbesuch und Kleinkredite. Auch die erfolgreiche Entlassung von Kindern aus ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen bedarf unterstützender Maßnahmen, um den Wegfall des Einkommens abzufedern. Eine erfolgreiche Prävention hilft nicht nur, Kinderarbeit auszumerzen, sondern wirkt sich laut ILO auch positiv auf die Entwicklungsperspektiven des jeweiligen Landes aus. Nationale Gesetze bilden das Rückgrat jeder Maßnahme gegen Kinderarbeit. Arbeit von Kindern unter zwölf Jahren muss generell verboten sein. Wir dürfen die vielen staatlichen Sonderregelungen, trotz Ratifizierung der ILO-Konvention 138, beim Mindestalter für Beschäftigung nicht akzeptieren. Außerdem sind wir verpflichtet, die Zivilgesellschaft bei ihrer Arbeit gegen Kinderarbeit zu unterstützen. Diese soziale Mobilisierung ist notwendig, um nicht nur die Regierungen, sondern auch die Bevölkerung für den Kampf gegen Kinderarbeit zu gewinnen. Zur Absicherung all dieser Maßnahmen bedarf es internationaler Abkommen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Prinzipien der UN- und ILO-Konventionen endlich Realität werden. Internationale CSR-Richtlinien für die Wirtschaft sind eine weitere Voraussetzung für die Eindämmung von Kinderarbeit. Es liegt an uns, die nationalen Bemühungen der Länder zu unterstützen. Ich plädiere dafür, dass wir die Länder des Nordens zur Bereitstellung von Entwicklungshilfegeldern auf Grundlage der 20/20-Initiative verpflichten, zur Sicherung der Grundbedürfnisse armer Kinder und deren Familien beizutragen. In diesem Punkt weist auch Deutschland noch ein deutliches Optimierungspotenzial auf. Darum sollten wir dafür sorgen, dass all diese Maßnahmen koordiniert durchgeführt werden, um einen Erfolg im Kampf gegen die Kinderarbeit zu garantieren. Diese geschickte Kombination aus selektiven Verboten und staatlichen Familienhilfen bewirkt, dass eine Volkswirtschaft, die auf Kinderarbeit setzt, nachhaltig verändert wird. Die Ausrottung der Kinderarbeit ist ein langfristiges internationales Ziel, welches von uns konkrete Maßnahmen erfordert, die weit über die übliche Symbolpolitik hinausreichen müssen. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, sich international für eine Verbesserung der Situation einzusetzen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5759 und 17/5803 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Juni 2011, 8.30 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.