Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Ganz besonders herzlich begrüße ich die Kollegin
Ulla Jelpke, die heute ihren 60. Geburtstag feiert und
der ich dazu im Namen des ganzen Hauses gratulieren
möchte.
({0})
Ich möchte Ihnen mitteilen, dass der Kollege
Winfried Hermann am 6. Juni 2011 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Für ihn
ist der Kollege Till Seiler nachgerückt. Für die gestern
ausgeschiedene Kollegin Ulrike Höfken hat der Kollege
Tobias Lindner die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im Namen des Hauses begrüße ich die
beiden neuen Kollegen herzlich.
({1})
Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit.
Die Fraktion der FDP schlägt vor, den Kollegen
Rainer Brüderle anstelle der Kollegin Birgit
Homburger zum ordentlichen Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss und zum stellvertretenden Mitglied im
Vermittlungsausschuss zu wählen. Die Kollegin
Homburger soll wiederum den Kollegen Joachim Spatz
als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss ablösen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die
beiden Kollegen hiermit gewählt.
Eine weitere Wahl betrifft den Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Beauftragte für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das
vom Bundesministerium des Innern benannte stellvertretende Mitglied Stéphane Beemelmans ausgeschieden ist
und Herr Dr. Jörg Bentmann als dessen Nachfolger
vorgeschlagen wird. In § 19 des entsprechenden Gesetzes ist vorgesehen, dass auch die von anderen Stellen
vorgeschlagenen Mitglieder des Stiftungsrates vom
Deutschen Bundestag bestätigt werden. Ich möchte Sie
deswegen fragen, ob Sie mit diesem Vorschlag einverstanden sind. - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist
Herr Dr. Bentmann als stellvertretendes Mitglied in das
Gremium gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Haftung der Kreditanstalt für Wiederaufbau
und der Bundesrepublik Deutschland für Fehler beim Börsengang der Deutschen Telekom
im Jahre 2000 ({2})
({3})
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
- Drucksache 17/6071 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6072 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung
des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/6073 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden
- Drucksache 17/6074 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und
Klimafonds“ ({8})
- Drucksache 17/6075 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden
- Drucksache 17/6076 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6077 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Energiewende gelingt nur mit KWK
- Drucksache 17/6084 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rückstellungen der Atomwirtschaft in Ökowandel-Fonds überführen - Sicherheit, Transparenz und ökologischen Nutzen schaffen,
statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfallrisiko festzuhalten
- Drucksache 17/6119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Versorgungssicherheit transparent machen Keine Experimente mit atomarer „Kaltreserve“
- Drucksache 17/6109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 12 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 34
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({16}), Kerstin Griese,
Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Die Integration der Sinti und Roma in Europa
verbessern
- Drucksache 17/6090 Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({17})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klare Regelungen für Intensivtierhaltung
- Drucksache 17/6089 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten
- Drucksache 17/6088 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang
Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen - Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern
- Drucksache 17/6108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen
- Drucksache 17/6107 ZP 13 Weitere Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 35
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers
Group verhindern - Keine weitere Erosion des
nuklearen Nichtverbreitungsregimes
- Drucksachen 17/5374, 17/6139 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Bijan Djir-Sarai
Kerstin Müller ({21})
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die
Aufkündigung des Maritimen Bündnisses
durch die Bundesregierung
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unterstützung für Opfer der Heimerziehung Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen
- Drucksache 17/6093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({22})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 16 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Belarus nach den Wahlen - Repressionen beenden
- Drucksache 17/6174 ZP 17 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen
Stabilität der Euro-Zone
ZP 18 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums
gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 17/6132 ZP 19 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Kritik am Krisenmanagement des Bundesgesundheitsministers und der Bundesministerin
für Verbraucherschutz beim Umgang mit dem
Ehec-Erreger
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 16, 28, 34 o sowie 35 c
und d werden abgesetzt. Darüber hinaus gibt es zwei Änderungen im Ablauf: Der Tagesordnungspunkt 23 wird
bereits nach Tagesordnungspunkt 15 aufgerufen und der
Tagesordnungspunkt 27 nach Tagesordnungspunkt 22.
Schließlich mache ich noch auf eine Reihe von nachträglichen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der am 16. Dezember 2010 überwiesene nachfolgende
Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer,
Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern
- Drucksache 17/4030 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({24})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss ({25})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzisieren und die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung reformieren
- Drucksache 17/5056 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({26})
Sportausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuss ({27})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva
Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kein Personalabbau bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung - Aufgaben an ökologischer Flusspolitik ausrichten
- Drucksache 17/5548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({28})
Sportausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und b, Zu-
satzpunkte 2 bis 8, Tagesordnungspunkte 3 c und d so-
wie die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf:
3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
Der Weg zur Energie der Zukunft
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes
- Drucksache 17/6070 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({29})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien
- Drucksache 17/6071 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({30})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6072 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({31})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung
des Netzausbaus Elektrizitätsnetze
- Drucksache 17/6073 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({32})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden
- Drucksache 17/6074 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({33})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und
Klimafonds“ ({34})
- Drucksache 17/6075 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({35})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden
- Drucksache 17/6076 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({36})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/6077 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({37})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
3 c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes ({38})
- Drucksache 17/5931 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Atomausstieg bis 2014 - Für eine erneuerbare
und demokratische Energieversorgung
- Drucksache 17/6092 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({39})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil
({40}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Energiewende gelingt nur mit KWK
- Drucksache 17/6084 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({41})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rückstellungen der Atomwirtschaft in Ökowandel-Fonds überführen - Sicherheit, Transparenz und ökologischen Nutzen schaffen,
statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfallrisiko festzuhalten
- Drucksache 17/6119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({42})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Versorgungssicherheit transparent machen Keine Experimente mit atomarer „Kaltreserve“
- Drucksache 17/6109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({43})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Frau Bundeskanzlerin, bevor ich Ihnen das Wort erteile, möchte ich Ihnen persönlich, aber auch im Namen
des ganzen Hauses herzlich zur Verleihung der Freiheitsmedaille durch den amerikanischen Präsidenten gratulieren.
({44})
Wir freuen uns über die hohe Wertschätzung, die mit
dieser Auszeichnung für die Person, für Ihr Amt, aber sicher auch für unser Land zum Ausdruck kommt.
Sie haben das Wort. Bitte schön.
({45})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 90 Tagen
wurde der Nordosten Japans vom schwersten Erdbeben
in der Geschichte des Landes heimgesucht. Anschließend traf eine bis zu 10 Meter hohe Flutwelle seine Ostküste. Danach fiel in einem Reaktor des Kernkraftwerkes Fukushima I die Kühlung aus. Die japanische
Regierung rief den atomaren Notstand aus.
Heute, 90 Tage nach jenem furchtbaren 11. März,
wissen wir: In drei Reaktorblöcken des Kernkraftwerkes
sind die Kerne geschmolzen. Noch immer steigt radioaktiver Dampf in die Atmosphäre. Die weiträumige Evakuierungszone wird noch lange bestehen bleiben, und an
ein Ende der Schreckensmeldungen ist noch nicht zu
denken. Erst letzte Woche herrschte in Block 1 die
bisher höchste Strahlenbelastung. Die Internationale
Atomenergie-Organisation bewertet die Situation in
Fukushima als weiterhin sehr ernst.
Meine Damen und Herren, wir werden heute weitreichende Vorhaben für eine neue Architektur der Energieversorgung in Deutschland beraten. Aber bevor wir das
tun, wünsche ich mir, dass wir zuerst an die Menschen in
Japan denken. Wir trauern um die Opfer, wir fühlen mit
denen, die ihre Lieben, ihr Hab und Gut, ihr Zuhause unwiederbringlich verloren haben. Ich habe beim G-8-Gipfel vor wenigen Tagen in Deauville meinem japanischen
Amtskollegen gesagt: Deutschland steht weiter an der
Seite Japans.
({0})
Ohne Zweifel, die dramatischen Ereignisse in Japan
sind ein Einschnitt für die Welt. Sie waren ein Einschnitt
auch für mich ganz persönlich. Wer auch nur einmal die
Schilderungen an sich heran lässt, wie in Fukushima verzweifelt versucht wurde, mit Meerwasser die Reaktoren
zu kühlen, um inmitten des Schreckens noch Schrecklicheres zu verhindern, der erkennt: In Fukushima haben
wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem
Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können.
Wer das erkennt, muss die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wer das erkennt, muss eine neue Bewertung
vornehmen. Deshalb sage ich für mich: Ich habe eine
neue Bewertung vorgenommen; denn das Restrisiko der
Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist,
dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt.
Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in
räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen. Das Restrisiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert,
weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Jetzt ist es eingetreten.
Genau darum geht es also - nicht darum, ob es in
Deutschland jemals ein genauso verheerendes Erdbeben,
einen solch katastrophalen Tsunami wie in Japan geben
wird. Jeder weiß, dass das genau so nicht passieren wird.
Nein, nach Fukushima geht es um etwas anderes. Es geht
um die Verlässlichkeit von Risikoannahmen und um die
Verlässlichkeit von Wahrscheinlichkeitsanalysen.
({1})
Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die
Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für
eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also
sichere Energieversorgung in Deutschland. Deshalb füge
ich heute ausdrücklich hinzu: Sosehr ich mich im Herbst
letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der
deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die
Reaktor-Sicherheitskommission beauftragt, in den vergangenen drei Monaten alle deutschen Kernkraftwerke
einer umfassenden Sicherheitsprüfung zu unterziehen.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung eine EthikKommission zur sicheren Energieversorgung ins Leben
gerufen. Beide Kommissionen haben inzwischen die Ergebnisse ihrer Arbeit vorgelegt, und beiden Kommissionen gilt für ihre Arbeit mein ausdrücklicher Dank.
({2})
Auf der Grundlage dieser Arbeiten hat die Bundesregierung am Montag acht Gesetzentwürfe und Verordnungen
beschlossen. Sie hat damit die notwendigen Entscheidungen für den Betrieb der Kernkraftwerke in Deutschland und die zukünftige Architektur unserer Energieversorgung auf den Weg gebracht.
Erstens. Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird
bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in Deutschland
beendet.
({3})
Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschalteten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das
seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden
nicht wieder ans Netz gehen.
({4})
Für die Stilllegung der weiteren Kernkraftwerke haben wir einen Stufenplan beschlossen. Danach wird
2015, 2017 und 2019 jeweils ein Kraftwerk vom Netz
gehen. Dann folgen bis 2021 drei weitere Kraftwerke.
Die drei neuesten Anlagen können noch ein Jahr länger
laufen: bis Ende 2022.
Reststrommengen bleiben innerhalb der festgelegten
Zeiträume auf andere Kernkraftwerke übertragbar. Dies
gilt auch für die Strommengen von Krümmel, MülheimKärlich und die der sieben ältesten Kernkraftwerke.
Zweitens. Bis Ende dieses Jahres werden wir einen
gesetzlichen Vorschlag für die Regelung der Endlagerung vorlegen. Das schließt die ergebnisoffene Weitererkundung Gorlebens ebenso ein wie ein Verfahren zur
Ermittlung allgemeiner geologischer Eignungskriterien
und möglicher alternativer Entsorgungsoptionen.
Drittens. Damit die Versorgungssicherheit, insbesondere die Stabilität der Stromnetze, in der jetzt anstehenden Zeit unmittelbar nach der Stilllegung von acht Kernkraftwerken zu jeder Minute und zu jeder Sekunde
gewährleistet ist, müssen wir ausreichend fossile Reservekapazitäten unseres Kraftwerkparks vorhalten.
Zusätzlich schaffen wir die Möglichkeit, dass die
Bundesnetzagentur, falls sie es für notwendig erachtet,
eines der stillgelegten Kernkraftwerke in den beiden
Winterhalbjahren bis zum Frühjahr 2013 als Reserve bestimmen kann. Auch hier, meine Damen und Herren,
ziehen wir eine Lehre aus Wahrscheinlichkeitsanalysen
nach Fukushima, und zwar ein für alle Mal. Wir werden
uns - und ich auch ganz persönlich - nicht dafür hergeben, dass wir uns auf etwas stützen, das das Restrisiko
beinhaltet, dass es einen sogenannten Blackout in
Deutschland geben kann.
({5})
Auch wenn das nach menschlichem Ermessen äußerst
unwahrscheinlich ist, dürfen wir dies nicht zulassen,
weil wir gerade im Zusammenhang mit Fukushima
erlebt haben, dass auch äußerst unwahrscheinliche
Ereignisse eintreten können. Deshalb müssen wir hier
Vorsorge treffen, wenn die Bundesnetzagentur das für
geboten hält. Es ist nach derzeitiger Einschätzung der
Bundesnetzagentur notwendig, eine Reserve bis zum
Frühjahr 2013 vorzuhalten.
Viertens. Zentrale Säule der zukünftigen Energieversorgung sollen die erneuerbaren Energien werden. Wir
wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Mit dem Energiekonzept vom Herbst 2010 hat die
Bundesregierung dazu die Richtung festgelegt
({6})
und ehrgeizige Ziele formuliert. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch soll bis 2050 auf
60 Prozent, ihr Anteil am Stromverbrauch auf 80 Prozent anwachsen. 2020 sollen mindestens 35 Prozent unseres Stroms aus Wind, Sonne, Wasser und anderen regenerativen Energiequellen erzeugt werden.
Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent und bis 2050 um mindestens 80 Prozent gegenüber
1990 reduziert werden. Bis 2050 soll unser Primärenergieverbrauch um 50 Prozent gegenüber 2008 sinken.
Das heißt, wir müssen ihn halbieren. Die energetische
Gebäudesanierung soll im Vergleich zur bisherigen Rate
verdoppelt, der Stromverbrauch bis 2020 um 10 Prozent
gesenkt werden.
Das sind genau die Ziele unseres Energiekonzepts,
das wir im Herbst 2010 beschlossen haben. Dieses Konzept bleibt gültig, genauso wie die Umsetzung dieses
Konzepts. Aber erreichen können wir diese Ziele nur
durch einen tiefgreifenden Umbau unserer Energieversorgung, durch neue Strukturen und den Einsatz modernster Technologie; denn die Leistungsfähigkeit unserer Industrie in Deutschland ist ein hohes Gut. Sie muss
bewahrt, sie muss ausgebaut werden; denn ihr verdanken
wir unseren Wohlstand.
({7})
Deshalb steigen wir nicht einfach aus der Kernkraft aus,
sondern wir schaffen die Voraussetzungen für die Energieversorgung von morgen. Genau das hat es bislang so
in Deutschland nicht gegeben.
({8})
Weil wir wissen: „Wer A sagt, muss auch B sagen“,
wissen wir auch, dass das eine, nämlich der Ausstieg,
ohne das andere, nämlich den Umstieg, nicht zu haben
ist. Das ist es, worum es geht.
({9})
Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Stromnetze in
ganz Deutschland zu modernisieren und auszubauen.
({10})
Der erforderliche Leitungsausbau bei den Stromübertragungsnetzen in Deutschland liegt bei weit mehr als
800 Kilometern. Fertiggestellt sind bislang aber nur weniger als 100 Kilometer, weil geplante Stromleitungen
noch immer auf Widerstände vor Ort stoßen. Planungsverfahren dauern - das ist eigentlich die Regel - häufig
länger als zehn Jahre. Das ist nicht akzeptabel.
({11})
Hier müssen wir eine erhebliche Beschleunigung und
gleichzeitig mehr Akzeptanz erreichen. Es kann nicht
angehen, auf der einen Seite den Ausstieg aus der Kernenergie gar nicht schnell genug bekommen zu wollen,
auf der anderen Seite aber eine Protestaktion nach der
anderen gegen den Netzausbau zu starten,
({12})
ohne den der Umstieg in die erneuerbaren Energien aber
schlichtweg nicht funktionieren wird.
({13})
Genau dieser Kreislauf - hier dagegen und dort dagegen muss durchbrochen werden.
({14})
Dazu hat die Bundesregierung den Entwurf eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes beschlossen, das unter
anderem eine bundeseinheitliche Planung für Höchstspannungsleitungen von überregionaler und europäischer Bedeutung vorsieht. Darüber hinaus enthält das
NABEG auch Regelungen zur Sammelanbindung von
Offshorewindparks sowie zur Erstellung eines Offshorenetzplans. Dabei wollen wir auch weiterhin eine möglichst frühzeitige und umfassende Bürgerbeteiligung sicherstellen.
Auch die von uns beschlossene umfassende Novelle
des Energiewirtschaftsgesetzes enthält Regelungen zum
beschleunigten Netzausbau. Weiterhin wird im novellierten Energiewirtschaftsgesetz der Einbau von intelligenten Zählern als Ausgangspunkt kommender intelligenter Netze geregelt. Hinzu kommen zahlreiche
Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs auf den
Energiemärkten sowie die Förderung von Speichern. Im
Rahmen des neuen Energieforschungsprogramms werden wir die Entwicklung und Anwendung neuer Speichertechnologien unterstützen, die wir brauchen, um die
fluktuierende Energieversorgung aus erneuerbaren Energien zu verstetigen.
Ich sagte es: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das eine
ist ohne das andere nicht zu haben. Das gilt für den Ausbau der Netze, und das gilt gleichermaßen für die erforderlichen neuen Stromerzeugungskapazitäten, insbesondere bei Wind, Sonne und Biomasse. Leitlinie dabei sind
Kosteneffizienz und zunehmende Marktorientierung.
({15})
Diesem Ziel dient die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Die Grundpfeiler der bisher so erfolgreichen Förderung der erneuerbaren Energien bleiben bestehen. Die gesetzliche Vergütung, der Einspeisevorrang
und die Verpflichtung zum Netzanschluss haben unverändert Bestand.
({16})
Damit sichern wir die notwendigen Investitionen für den
weiteren Ausbau.
Schwerpunkt des zukünftigen Ausbaus soll die Windenergie an Land und auf See sein. So werden die Finanzierungsbedingungen für Offshoreanlagen verbessert,
und mit der Novellierung des Bauplanungsrechts, etwa
mit der erleichterten Flächenausweisung für erneuerbare
Energien, leisten wir einen Beitrag zum Ausbau und zu
einer schnelleren Modernisierung von Windkraftanlagen
an Land.
({17})
Aber - das ist neu -: Wenn die erneuerbaren Energien
zukünftig noch schneller einen Großteil der Energieversorgung übernehmen sollen - 35 Prozent sind immerhin
mehr als ein Drittel des zukünftigen Stromverbrauchs -,
dann müssen wir konsequent auf Kosteneffizienz und
Marktintegration achten. Ein Schritt auf diesem Weg ist
die Einführung der sogenannten optionalen Marktprämie, die die erneuerbaren Energien an das Marktgeschehen heranführt. Das ist ein qualitativ neuer Zugang, den
wir aber brauchen, wenn erneuerbare Energien einen
größeren Anteil an der Stromversorgung übernehmen
sollen.
({18})
Im Bereich der Photovoltaik und der Biomasse wollen wir bestehende Potenziale für Kostensenkungen ausschöpfen. Darüber hinaus ist die Vereinfachung der Regelungen ein Leitgedanke des Erneuerbare-EnergienGesetzes. Wo immer möglich, sind Sonderregelungen
oder spezielle Boni abgeschafft oder vereinfacht worden.
Damit wird die Förderpraxis vereinfacht und mehr
Transparenz geschaffen.
Meine Damen und Herren, unsere Wirtschaft und vor
allem die energieintensive Industrie sind in besonderer
Weise darauf angewiesen, Strom zuverlässig und zu
wettbewerbsfähigen Preisen beziehen zu können.
({19})
Die rund 1 Million Beschäftigten in der energieintensiven Industrie leisten einen zentralen Beitrag für die
Wertschöpfung in unserem Land.
({20})
Unsere Devise heißt: Die Unternehmen genauso wie
die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland müssen
auch in Zukunft mit bezahlbarem Strom versorgt werden. Deshalb wollen wir die erneuerbaren Energien
schneller zur Marktreife führen und effizienter gestalten.
Die EEG-Umlage soll nicht über ihre heutige Größenordnung hinaus steigen; heute liegt sie bei etwa 3,5 Cent
pro Kilowattstunde.
({21})
Langfristig wollen wir die Kosten für die Vergütung des
Stroms aus erneuerbaren Energien deutlich senken.
Mit Blick auf die stromintensiven Unternehmen wollen wir Zuschüsse zum Ausgleich für emissionshandelsbedingte Strompreiserhöhungen vorsehen. Die Bundesregierung wird sich - das sage ich hier zu - mit aller
Kraft in Brüssel dafür einsetzen, dass unsere Unternehmen faire Wettbewerbsbedingungen in Europa erhalten.
({22})
Darüber hinaus wird ab 2012 die Härtefallregelung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes ausgeweitet.
Meine Damen und Herren, wenn wir schneller aus der
Kernenergie aussteigen und in die erneuerbaren Energien einsteigen, dann brauchen wir für die Zeit des Übergangs fossile Kraftwerke. Auch daran führt kein Weg
vorbei. Dazu werden wir den Rahmen für hocheffiziente
Kohle- und Gaskraftwerke fortentwickeln. Mit dem Entwurf einer Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetzes leisten wir einen Beitrag zur Versorgungssicherheit
und Effizienz der Stromerzeugung. In einem ersten
Schritt wollen wir die Frist für förderberechtigte KWKAnlagen bis ins Jahr 2020 verlängern und die Voraussetzungen für die Förderung flexibler gestalten. Noch im
Laufe dieses Jahres werden wir über weitergehende
Schritte entscheiden.
Die schnelle Fertigstellung der in Bau befindlichen
fossilen Kraftwerke mit einer Leistung von rund
10 Gigawatt bis 2013 ist aus Gründen der Versorgungssicherheit und der Netzstabilität unabdingbar. Mindestens 10, eher 20 weitere Gigawatt müssen in den nächsten zehn Jahren hinzugebaut werden. Durch ein
Planungsbeschleunigungsgesetz wollen wir zudem den
weiteren zügigen Ausbau von Kraftwerkskapazitäten sicherstellen. Insbesondere mit Blick auf kleine und mittelständische Energieversorger werden wir zudem ein
neues Kraftwerksförderprogramm auflegen. Auch dies
ist ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit.
Aber machen wir uns nichts vor: Alle noch so ehrgeizigen Maßnahmen für den Ausbau der erneuerbaren
Energien und der dafür erforderlichen Netze werden
nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, die Energieeffizienz in unserem Land zu steigern. Im Zentrum steht dabei der Gebäudebereich. Auf ihn allein entfallen rund
40 Prozent des deutschen Energieverbrauchs, etwa ein
Drittel aller CO2-Emissionen. Genau hier müssen wir
ansetzen. Ziel bleibt es - so haben wir es schon im
Herbst beschlossen -, bis 2050 einen nahezu klimaneutralen Gebäudebestand zu erreichen. Auch im Bereich
der energieeffizienten Geräte und Prozesse wollen wir
mehr tun, um den Stromverbrauch schon bis 2020 um
10 Prozent zu senken.
Wir werden deshalb die Mittel für das KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf 1,5 Milliarden Euro jährlich aufstocken. Hinzu kommen neue steuerliche Anreize für die Gebäudesanierung, die auf weitere rund
1,5 Milliarden Euro an gezielter Förderung anwachsen
werden.
({23})
In einer Novelle der Energieeinsparverordnung wollen wir festlegen, dass Gebäude nach 2020 und öffentliche Gebäude schon nach 2018 nur noch als Niedrigstenergiehäuser errichtet werden sollen.
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wird die Energieeffizienz als wichtigstes Kriterium rechtlich verankert. Hierzu haben wir die Vergabeverordnung entsprechend geändert. Zudem wollen wir einen Fahrplan für
die energetische Sanierung von öffentlichen Gebäuden
des Bundes erarbeiten mit dem Ziel, den Wärmebedarf
der Bundesgebäude bis 2020 um 20 Prozent gegenüber
2010 zu senken.
Auf europäischer Ebene werden wir uns für anspruchsvolle Produktstandards im Rahmen eines sogenannten Top-Runner-Ansatzes einsetzen. Energieeffizienz soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Europa ein neues Markenzeichen werden.
Die Finanzierung der Maßnahmen des Energiekonzepts beruht dabei auf einem soliden Fundament. Ab
2012 sollen die Erlöse aus der Versteigerung der Emissionszertifikate unmittelbar in den von uns im vergangenen Herbst eingerichteten Energie- und Klimafonds fließen. Schon ab 2012 werden die Mittel des Fonds
verstärkt.
Meine Damen und Herren, diese vier Punkte - erstens
die Novelle des Atomgesetzes, zweitens die Arbeit für
ein Entsorgungskonzept, drittens die Versorgungssicherheit bis 2013, viertens das Energiekonzept der Zukunft zeigen schon die Größe der Aufgabe, die vor uns steht.
Ich sage ganz deutlich: Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe - ohne Wenn und Aber. Alle, die zweifeln, wie
wir als großes Industrieland in zehn Jahren ohne Kernenergie auskommen wollen, ohne gleichzeitig die Klimaschutzziele zu riskieren, ohne Arbeitsplätze in der
energieintensiven Industrie zu gefährden, ohne das Steigen der Strompreise in das sozial nicht mehr Erträgliche
in Kauf zu nehmen, ohne gefährliche Stromausfälle zu
provozieren, ohne dass andere Länder um uns herum
denselben Weg einschlagen, alle, die solche Fragen stellen, sind keine Ideologen, keine Ewiggestrigen, keine
Spinner, denn sie stellen wichtige Fragen.
({24})
Sie sind anzuhören, sie sind ernst zu nehmen, und wir
haben Antworten darauf zu finden.
({25})
Es ist ja wahr: Es scheint einer Quadratur des Kreises
nahezukommen, all das schaffen zu wollen, was wir uns
vorgenommen haben. Deshalb ist ein fünfter Punkt
zwingend und unerlässlich: die Einrichtung eines lückenlosen Monitoringprozesses. Nur so können wir prüfen, ob wir unsere Ziele auf dem Weg zur Energie der
Zukunft tatsächlich erreichen oder was wir zusätzlich
tun müssen, wenn wir sie zu verfehlen drohen. Dabei
geht es nicht um den schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie - der steht fest -; nein, es geht um die regelmäßige Überprüfung der Umsetzung des Maßnahmenprogramms, auf die ein Land wie Deutschland in seinem
eigenen Interesse nicht verzichten darf. Dieses Monitoring muss im Sinne eines richtigen Projektmanagements
durchgeführt werden.
({26})
Deshalb wird die Bundesregierung diese Überprüfung
jährlich vornehmen und dem Deutschen Bundestag das
Ergebnis zur Debatte vorlegen. Sie wird auf der Grundlage von Berichten von Institutionen wie dem Statistischen Bundesamt, der Bundesnetzagentur oder des Umweltbundesamtes erfolgen. Über die Ergebnisse wird die
Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrichten, und gegebenenfalls wird sie Empfehlungen zum
weiteren Vorgehen aussprechen.
Meine Damen und Herren, wenn wir den Weg zur
Energie der Zukunft so einschlagen, dann werden die
Chancen viel größer sein als die Risiken. Welches Land,
wenn nicht unser Land, sollte dazu die Kraft haben?
Deutschland hat schon so manches Mal gezeigt, was es
kann, was in ihm steckt, und hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt: die Einführung der sozialen
Marktwirtschaft, weltweit in dieser Form einmalig; die
Vollendung der deutschen Einheit, historisch ohne Vorbild; aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise
stärker herausgekommen, als wir in sie hineingegangen
sind, und - ja, auch das - besser als die meisten anderen.
({27})
Deshalb sind wir überzeugt: Deutschland hat das Potenzial und die Kraft für eine neue Architektur unserer
Energieversorgung. Die Energie der Zukunft soll sicherer sein und zugleich verlässlich, wirtschaftlich und bezahlbar. Wir können als erstes Industrieland der Welt die
Wende zum Zukunftsstrom schaffen. Wir sind das Land,
das für neue Technik, Pioniergeist und höchste Ingenieurkunst steht. Wir sind das Land der Ideen, das
Zukunftsvisionen mit Ernsthaftigkeit, Genauigkeit und
Verantwortung für zukünftige Generationen Wirklichkeit
werden lässt.
({28})
Wir alle, Regierung und Opposition, Bund, Länder
und Kommunen, die Gesellschaft als Ganzes, jeder Einzelne, wir alle gemeinsam können, wenn wir es richtig
anpacken, bei diesem Zukunftsprojekt ethische Verantwortung mit wirtschaftlichem Erfolg verbinden.
({29})
Dies ist unsere gemeinsame Verantwortung. Für dieses
gemeinsame Projekt werbe ich mit aller Kraft und mit aller Überzeugung.
Herzlichen Dank.
({30})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, ich würde niemandem, den die
Realität zu neuen Einsichten zwingt, einen Vorwurf machen. Was ich Ihnen vorwerfe, ist das falsche Pathos,
auch die Unaufrichtigkeit, mit der Sie hier auftreten.
({0})
Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet Sie sich hier
als die Erfinderin der Energiewende in Deutschland hinstellen. Das zieht einem doch die Schuhe aus.
({1})
Nur damit es hier in diesem Hohen Hause noch einmal gesagt ist: Der Atomausstieg stand im Gesetz. Die
Energiewende war eingeleitet, gegen Ihren Widerstand.
Und sie fand statt: täglich, seit zehn Jahren. Meine Damen und Herren, so war das.
({2})
Ich erinnere mich noch genau an die Debatte, die wir
in ähnlicher Aufregung in diesem Haus vor einem halben Jahr, im September und Oktober vergangenen Jahres, geführt haben. Auch damals - das ist ja noch gar
nicht lange her - war Ihnen kein Wort zu groß. Auch
damals wurde nicht mit Pathos gespart. Sie, Frau
Merkel - ich darf das einmal zitieren -, haben von einer
„Revolution im Bereich der Energieversorgung“ gesprochen, die bis zum Jahr 2050 trägt.
({3})
Herr Röttgen hat das Ganze als „weltweit unübertroffen“
bezeichnet.
({4})
Herr Westerwelle hat diesem Beschluss „epochale Bedeutung“ für den Klimaschutz beigemessen.
({5})
Meine Damen und Herren, so schnell können Epochen
vorbeigehen. Aber das spürt Schwarz-Gelb ja nicht nur
in der Energiepolitik.
({6})
Frau Bundeskanzlerin, ganz ehrlich: Bei Ihrem Auftritt hier heute Morgen hätte ich mir von Ihnen ein Wort
des Bedauerns gewünscht,
({7})
statt Wortgirlanden über die Lehren aus Fukushima, die
eben zu spät gezogen worden sind. Plötzlich ist alles anders bei Ihnen; wir wundern uns. Jetzt wird das KonradAdenauer-Haus außen und innen grün angestrichen.
({8})
Horst Seehofer macht auf Baldur Springmann der Grünen. Er zahlt die Mitgliedsbeiträge für die letzten Jahrzehnte und tut so, als sei er Gründungsmitglied gewesen.
({9})
Bei alldem hoffen Sie tatsächlich darauf, dass Sie in der
Zukunft in Bezug auf die Sicherheitspolitik ernst genommen werden.
Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass auch Sie jetzt für
den Atomausstieg sind, und noch weniger, dass Sie nach
zwei Kehrtwenden um 180 Grad und nach den Pirouetten in der letzten Woche nun genau dort angekommen
sind, wo Rot-Grün die Dinge schon gestaltet.
({10})
Das werde ich Ihnen nicht vorwerfen. Aber vor allen
Dingen werde ich eines nicht vergessen - das sage ich
mit großem Ernst -: mit welchen Hetzreden Sie uns vor
zehn Jahren durch die Landschaft getrieben haben.
({11})
Landauf, landab konnten Sie sich vor zehn Jahren gar
nicht einkriegen vor Spott, Häme und angeblicher Empörung über die Politik, die wir damals eingeleitet haben. „Totengräber der Wirtschaft“ haben Sie uns überall
im Land nachgerufen.
({12})
Und jetzt klatscht sogar Herr Fuchs bei der Regierungserklärung von Frau Merkel, auch wenn es ihm schwerfällt.
({13})
Die Atomkatastrophe in Tschernobyl - auch daran
darf ich erinnern - wurde damals nicht etwa als gefährlicher Reaktorunfall angesehen, der uns zum Umdenken
zwingt, sondern als Betriebsunfall eines verlotterten
Sowjetkommunismus. Ihre Haltung damals war: Wir
machen einfach weiter, als wäre nichts geschehen, an allen Mehrheiten und Sicherheitsbedenken vorbei. Das
war ein Jahrzehnt lang die Hybris Ihrer Energiepolitik.
Sie waren schlicht und einfach auf dem falschen Dampfer. Dicker und länger konnte der Holzweg gar nicht
sein, den Sie sich da selbst zurechtgezimmert haben.
({14})
Jetzt müssen Sie herunter von diesem Holzweg. Jetzt
müssen Sie alles korrigieren. Das ist gut so. Aber hören
Sie doch bitte auf, uns das Ausräumen Ihrer Positionen
aus der Vergangenheit als nationale Gestaltungsaufgabe
zu erklären! Die Gesellschaft war immer schon weiter
als Sie.
({15})
Was Sie dem Bundestag vorlegen, ist eben nicht ein Gesetz zur Energiewende, sondern es ist Ihr Irrtumsbereinigungsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg bringen müssen.
({16})
Was das letzte halbe Jahr und die doppelte Kehrtwende in der Energiepolitik hinterlassen, ist noch nicht
abzusehen. Ich rede nicht nur von den Irritationen in der
Wirtschaft, ausgelöst durch Ihr „Rein in die Kartoffeln“
mit der Verlängerung der Laufzeiten und „Raus aus den
Kartoffeln“ mit der Rückkehr zu den Beschlüssen von
Rot-Grün. Was das an Verunsicherung hinterlässt, kann
im Moment noch niemand ermessen. Ich sage nur: So
viel Unsicherheit gab es noch nie.
Aber vielleicht einmal ein anderer Gedanke: Was bedeutet es eigentlich für die politische Kultur in diesem
Lande, wenn Sie heute mit derselben Euphorie und
Überzeugungskraft genau das Gegenteil von dem vertreten, was Sie vor einem halben Jahr gesagt haben? Das
muss doch den einen oder anderen nachdenklich machen.
({17})
Nun wäre angesichts dessen für die Opposition nichts
einfacher, als die vorliegenden Gesetzentwürfe abzulehnen. Nichts wäre leichter für eine Opposition, als zuzuschauen, wie Sie, Frau Merkel, Irritation in den eigenen
Reihen säen und den Koalitionspartner ein ums andere
Mal düpieren. Ob man sich das alles gefallen lassen
muss, Herr Rösler, ist eine andere Frage; das müssen Sie
entscheiden.
({18})
Ginge es um Unterstützung dieser Regierung, dann
würde ich in jedem Fall zu jedem einzelnen Gesetz Nein
sagen.
Aber es geht eben nicht um diese Regierung, es geht
um mehr. Es geht um die Wiederherstellung von Vertrauen - auch in der Energiepolitik. Es geht um die Wiederherstellung eines energiepolitischen Grundkonsenses,
den diese Regierung in der Vergangenheit ohne jede Not
zerstört hat.
({19})
Wenn Sie jetzt nach Ihrer energiepolitischen Irrfahrt
an den Ausgangspunkt zurückkehren, muss etwas zustande kommen, was länger hält als nur sechs Monate.
Wir können in diesem Land, in der größten Volkswirtschaft Europas, nicht eine Energiepolitik aufsetzen, die
wir alle sechs Monate oder alle zwei Jahre oder nach je12966
der Bundestagswahl korrigieren. Das geht nicht, das
kann sich keine Regierung erlauben.
({20})
Und weil das so ist, sage ich: Erstens. Wenn Sie
glaubwürdig, rechtlich und tatsächlich unumkehrbar auf
den Atomausstieg zugehen, wenn Sie diesen phasenweise gestalten, so wie wir das in unserem Modell auch
vorgesehen hatten, dann werde ich jedenfalls nicht aus
taktischen Gründen krampfhaft nach Gründen suchen,
um meiner Partei die Ablehnung des Atomausstieges zu
empfehlen. Das kann ich Ihnen sagen.
Zweitens. Das Gesetzespaket besteht nicht nur aus
dem Atomgesetz. Wir werden uns die 700 Seiten, die Sie
uns übermittelt haben, natürlich sehr genau angucken.
Ich kann auch verstehen, dass Sie die Unterstützung
durch die Breite des Hohen Hauses suchen. Aber nach
einem Blick in Ihr Gesetzespaket kann ich Ihnen jetzt
schon sagen: Wenn Sie durch die Gestaltung des Gesetzes die wirklichen Potenziale der erneuerbaren Energien,
des Repowering, der Onshoreanlagen, nicht schöpfen
und nicht schöpfen wollen, können wir doch nicht zustimmen! Das ist die falsche Richtung!
({21})
Mit anderen Worten: Da müssen Sie sich in den nächsten
Tagen entscheidend bewegen. Die Beratungen in den
Ausschüssen stehen dafür zur Verfügung.
Das Dritte ist: Glaubwürdig werden Sie - jenseits von
Abstimmungen hier im Deutschen Bundestag - am Ende
doch nur dann sein, wenn Sie bei einer entscheidenden
Frage bezüglich der Zukunft der Kernenergie in diesem
Land ebenfalls glaubwürdig sind. Es geht nicht nur um
einen phasenweisen Atomausstieg, nicht nur um eine Fixierung des Enddatums - Sie müssen sich auch endlich
entschließen, in der Endlagerfrage Ihre Position zu
wechseln. Wir brauchen eine ergebnisoffene Endlagersuche.
({22})
Mit einem haben Sie recht: Der Umbau der Energielandschaft, der uns da bevorsteht, ist gewaltig. Und in
den nächsten Jahren wird es nicht nur einen Umbau der
Energielandschaft, sondern einen Umbau der gesamten
Wirtschaft geben.
Ich habe gestern beim ZVEI geredet. Die Elektroindustrie ist natürlich begeistert darüber, was in den nächsten Jahren stattfindet. Darin stecken viele Potenziale.
Hier bieten sich Chancen. Ich schaue auch auf die energieintensiven Betriebe. Ich schaue auf die Werthaltigkeit
der deutschen Volkswirtschaft. Die Werthaltigkeit der
deutschen Volkswirtschaft ergibt sich aus der ununterbrochenen Innovationskette, beginnend bei den Grundstoffindustrien, die in der Regel energieintensiv sind, bis
hin zu der kleinen Hightechschmiede. Wenn wir jetzt einen solch gewaltigen Umbau auf den Weg bringen, dürfen wir die ersten Kettenglieder nicht vergessen oder gar
aus dem Lande treiben. Das ist auch für diejenigen wichtig, die einen Umbau der Energielandschaft wollen.
({23})
Deshalb darf es nicht nur ein Monitoring des Umbauprozesses geben, sondern es muss auch ein Monitoring
innerhalb der Wirtschaftsprozesse geben, wie der Umbau der Energielandschaft auf diesen Teil der Wirtschaft
wirkt, der besonders wertvoll und im Hinblick auf den
internationalen Wettbewerb besonders gefährdet ist. Es
gibt da Vorschläge, Frau Merkel. Da reicht es nicht aus,
bestehende Regelungen wie etwa die Ausnahmen bei der
Ökosteuer zu festigen und dass Sie sich in Brüssel dafür
einsetzen wollen, dass die Sonderbedingungen beim europäischen Emissionshandel weiter gelten. Vielmehr
müssen Sie da ein bisschen kreativer werden. Es gibt
dazu Vorschläge, und wir werden die hier im Deutschen
Bundestag auch einbringen.
Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat zum Abschluss ihrer Rede gesagt, dass es sich beim Ausstieg
und Umstieg „um eine Herkulesaufgabe“ handele. Wem
sagen Sie das! Wir haben uns dieser Herkulesaufgabe
beginnend vor zehn Jahren mit einer Aufrichtigkeit und
Offenheit gewidmet,
({24})
indem wir nicht geleugnet haben, was auf die Wirtschaft
und die Menschen zukommt, sondern vor zehn Jahren
gesagt haben: „Der Umbau der Energielandschaft wird
stattfinden; die Zukunft wird ohne Atom sein; der Umbauprozess wird mehr als 20 Jahre dauern.“ Sie haben
sich nicht entschließen können, diese Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern zu wahren. Das ist der Unterschied.
({25})
Ich schließe mit einem Zitat aus einer Rede, die hier
im Hohen Hause gehalten wurde:
Es ist … ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik,
insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bundesrepublik … von Grund auf neu zu überdenken.
… Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke
ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantworten.
Das ist ein Zitat aus der Rede von Hans-Jochen Vogel
vom 14. Mai 1986, drei Wochen nach der Katastrophe
von Tschernobyl. Meine Damen und Herren, es hat
25 Jahre, genau ein Vierteljahrhundert, gedauert, bis die
heutige Regierung und die Regierungsparteien an diesem Punkt angekommen sind. Das ist eine bemerkenswerte Lernkurve, Frau Merkel. Dazu gratuliere ich.
({26})
Das Wort hat nun der Bundeswirtschaftsminister
Dr. Philipp Rösler.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Zu einer guten Energiepolitik gehören immer drei Dinge: Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der
Energie. Insofern stelle ich hier fest: Das vorliegende
Energiekonzept findet hinsichtlich dieser drei wesentlichen Säulen genau die richtige Balance;
({0})
es ist ein gutes, vernünftiges Energiekonzept für Deutschland.
({1})
Die Frage der Umweltverträglichkeit war in der Tat
die Begründung für die nun anstehenden wesentlichen
Entscheidungen. Denn anders als die bisherigen Katastrophen - Sie haben Tschernobyl angesprochen - war
die Katastrophe von Fukushima die erste, die nicht auf
menschliches Versagen, sondern auf technisches Versagen zurückzuführen ist.
({2})
Es wäre verantwortungslos gewesen, wenn eine Regierung darauf nicht reagiert hätte. Insofern ist es richtig,
gemeinsam in einem gesellschaftlichen Konsens, mit der
Ethik-Kommission und allen beteiligten gesellschaftlichen Gruppen, den Beschluss zu fassen, nach 2022 auf
die Kernenergie zu verzichten.
({3})
Wenn aber hier im Hause jemand unaufrichtig ist,
dann sind es doch die Kollegen von Rot und Grün.
({4})
Denn Sie haben bei Ihrem Ausstiegsbeschluss einfach
nur Ihre Ideologie befriedigt.
({5})
Sie sind den Menschen die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie die Energieversorgung in Deutschland nach dem beschlossenen Ausstieg tatsächlich gesichert werden soll.
({6})
Deswegen ist es richtig, dass diese Regierungskoalition auf das wichtige Thema Versorgungssicherheit setzt.
In der Tat: Wir steigen deutlich schneller aus, als Sie es
jemals geplant haben. Sieben Kraftwerke sind vom Netz
gegangen.
({7})
Aber man darf die Versorgungssicherheit im Sinne von
Netzstabilität niemals außer Acht lassen. Deswegen ist
es natürlich klug, insbesondere bei Berücksichtigung
schwieriger Witterungsbedingungen, ein Reservekraftwerk vorzuhalten.
({8})
Denn eines können wir uns in Deutschland nicht leisten:
einen Blackout. Das wäre volkswirtschaftlich aus unserer Sicht nicht zu verantworten. Sie wären leichtfertig
bereit, dieses Risiko einzugehen. Mit uns ist so etwas
nicht zu machen.
({9})
- Zu Ihnen komme ich noch, Herr Trittin.
Zum Thema Versorgungssicherheit gehört auch die
Beantwortung der Frage, wie wir möglichst schnell zu
neuen Kraftwerken kommen. Deswegen brauchen wir
({10})
andere Gesetze, um die Planung und den Bau von Kraftwerken und Netzen insgesamt zu beschleunigen;
({11})
denn das einzig Limitierende beim Ausbau des Bereichs
der erneuerbaren Energien ist der Ausbau unserer Netze.
({12})
Deswegen ist es klug, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, mit dem erstmals die Planung von den Ländern auf
den Bund übertragen wird. So machen wir Schluss mit
dem Flickenteppich und kommen dazu, unsere Netze
bundeseinheitlich neu zu planen, ähnlich wie das beim
Bundesverkehrswegeplan der Fall ist.
Wir haben das ehrgeizige Ziel, die Planung und den
Bau von Netzen deutlich zu beschleunigen. Bisher haben
wir dafür teilweise über zehn Jahre gebraucht; das wollen wir auf vier Jahre reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges,
aber richtiges Ziel, wenn es darum geht, die erneuerbaren Energien besser nutzen zu können.
({13})
Es geht auch um den Neubau von Kraftwerken. Ich
sage das ganz bewusst: Es geht auch um den Neubau
von konventionellen Kraftwerken. Auch hier müssen wir
schneller werden. Ich finde es geradezu absurd, dass es
beispielsweise nicht möglich ist, an derselben Stelle, an
der in Stade ein Kernkraftwerk vorhanden war, das nun
zurückgebaut wurde, ein konventionelles Kraftwerk zu
bauen. Wir müssen gerade solche Standorte nutzen, weil
dort die Infrastruktur vorhanden ist. Deswegen brauchen
wir zusätzlich zum Netzausbau auch ein Planungsbeschleunigungsgesetz in Deutschland.
({14})
Wir gehen fest davon aus, dass die Grünen künftig bei
jeder Demonstration an unserer Seite stehen werden und
jedem Gegner von neuen Kraftwerken und neuen Trassen zurufen werden: Wer Nein sagt zur Kernenergie,
muss Ja sagen zum Netzausbau und zum Kraftwerksneubau. Ich bin sehr gespannt, ob Sie am Ende den Mut
dazu aufbringen werden.
({15})
Auch die Frage der Bezahlbarkeit ist wichtig. Es ist
richtig, dass wir in das Erneuerbare-Energien-Gesetz
erstmalig Marktmechanismen einbringen;
({16})
denn wir wollen, dass die bisherige EEG-Umlage bei
3,5 Cent pro Kilowattstunde stabil bleibt und durch die
Marktprämie vielleicht erstmalig die Chance gegeben
wird, Spielräume für Senkungen zu schaffen.
({17})
- Herr Kelber, es kann nicht sein, dass wir eine Energiewende haben, aber Sie sich nicht trauen, den Menschen zu sagen: Jawohl, wer eine solche Energiewende
will, der muss auch bereit sein, mit moderaten Kostensteigerungen umzugehen. Diese Ehrlichkeit haben wir.
Sie scheinen sie nicht zu haben.
({18})
Es ist richtig, dass wir alles versuchen, um die Belastungen für die Menschen und gleichzeitig für die Wirtschaft und gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen in unserem Land moderat zu halten. Deswegen ist es gut, dass wir erstmalig die Fördermöglichkeiten bzw. die Entlastungen umstellen. Künftig können
auch kleinere Unternehmen von der EEG-Umlagebefreiung profitieren und nicht mehr nur die großen. Das fördert Handwerk, Mittelstand und Gewerbe. Es ist klug,
dabei auf bürokratische Verfahren wie verpflichtend vorgeschriebene Energiemanagementsysteme, zu verzichten. Wir wollen einen automatischen Ausgleich zur Stärkung der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland.
({19})
Deswegen ist es richtig, energieintensive Unternehmen durch Strompreissenkungen zu entlasten, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen zu können. Darum setzen wir uns gemeinsam auf europäischer
Ebene für diese Unternehmen ein.
Wir dürfen - das ist entscheidend - nicht glauben,
dass sich aus der Umstellung der Energiepolitik allein
durch Strompreissenkungen neue Chancen ergeben. Es
eröffnen sich vielmehr auch völlig neue Chancen bei
dem wichtigen Thema Effizienz und bei der Herstellung
neuer Produkte. Deutschland wird künftig federführend
sein und voranschreiten, wenn es darum geht, energieeffiziente Produkte auf den Markt zu bringen.
Ich sage Ihnen voraus: Eines Tages werden auch andere Staaten - in Europa und weltweit - auf die Idee kommen, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Kernenergie auszusteigen. Diese Staaten werden nach wie vor
Produkte, Instrumente und Ideen für die Nutzung erneuerbarer Energien benötigen. Genau an dieser Stelle wird
Deutschland dann federführend sein. Das bedeutet für
unsere deutsche Wirtschaft kein Risiko, sondern eine
Chance.
({20})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie haben damit die Chance, den Fehler, den
Sie Anfang 2000 gemacht haben, endlich zu korrigieren.
({21})
Sie können endlich dafür sorgen, zu zeigen, dass Sie
nicht nur aussteigen wollen, sondern auch die Frage beantworten können, wie Sie in die erneuerbaren Energien
einsteigen wollen.
({22})
Das gilt insbesondere für die Grünen. Ich habe mich
gewundert, Herr Steinmeier, dass Sie so betont haben,
Sie hätten eine Antwort auf die Frage der Endlagerung
gefunden. Da bin ich jetzt wirklich überrascht. Das einzige, was Sie in Ihrer Zeit gemacht haben, war doch, ein
Moratorium festzulegen. Sie haben sich gerade nicht um
die Endlagerung gekümmert. Das war zum Schaden der
nachfolgenden Generationen.
({23})
Die vorliegenden Gesetze bieten auch Ihnen eine
Chance, Ihre Fehler zu korrigieren. Sie können gerne dabei mitmachen.
({24})
Oder haben Sie etwa Angst, weil vielleicht wieder ein
bisschen die kleine, traurige Dagegen-Partei durchschimmert? Wir jedenfalls reichen Ihnen auch zu dieser
Energiepolitik die Hand.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({25})
Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere sehr, Herr Präsident, dass Sie nicht das Recht haben, den Bundestag zu fragen, wer eigentlich die 700 Seiten, die uns Anfang der Woche erreicht haben, schon
gelesen hat, und eine ehrliche Antwort darauf zu verlangen. Ich sage Ihnen: Diese Art von Tempo zerstört die
parlamentarische Demokratie.
({0})
Keiner glaubt, dass die Abgeordneten diese 700 Seiten
vor der Debatte gelesen haben.
Herr Rösler, ich habe Ihrer Rede zugehört. Manchmal
imponiert mir Dreistigkeit. Ich finde aber, Sie haben die
Grenze überschritten.
({1})
Heute geht es darum, dass Sie und nicht andere Ihre Fehler korrigieren. Das hätten Sie wenigstens einmal deutlich sagen müssen.
({2})
Immerhin scheinen wir heute fast ein Wunder zu erleben. Binnen eines halben Jahres wurden aus den Atomparteien Union und FDP Atomausstiegsparteien, zumindest halbe. Die Reaktion auf die Atomkatastrophe in
Fukushima ist eindeutig: Atomtechnologie und deren Risiken sind letztlich nicht beherrschbar; also müssen wir
aussteigen, und zwar so schnell wie möglich.
({3})
Warum - das ist doch eine spannende Frage - gelingt
das zuerst in Deutschland und nicht in Frankreich oder
Polen? Ich kann Ihnen sagen, warum: Weil es in Deutschland eine ungeheuer starke Antiatombewegung gibt, die
jetzt einen Erfolg feiert, für den sie jahrzehntelang gekämpft hat.
({4})
Das muss einmal klar gesagt werden.
Ich sagte es schon: Die Bundesregierung will die
Energiewende, aber halbherzig. Zunächst geht es doch
um nichts anderes als um die Rücknahme der im Dezember letzten Jahres beschlossenen Verlängerung. Das
heißt, Sie korrigieren sich. Im Kern gehen Sie auf das
zurück, was SPD und Grüne mit der Atomlobby schon
ausgehandelt und wir schon immer als halbherzig bezeichnet hatten. Das heißt, das, was Sie jetzt vorlegen, ist
eine Korrektur der von Ihnen beschlossenen falschen
Gesetze. Das könnten Sie doch einfach einmal klar sagen.
({5})
Ich verstehe es nicht: Warum wollen Sie den Atomausstieg erst Ende 2022? Das sind elf weitere Jahre Fukushima-Risiko; das können wir uns überhaupt nicht
leisten. Die Bundesregierung behauptet, ein früherer
Atomausstieg sei nicht möglich. Frau Bundeskanzlerin,
die Fachleute sagen etwas anderes: Der BUND sagt
2013. Professor Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung,
sagt 2014. Greenpeace sagt 2015. Das Öko-Institut Freiburg sagt 2015. Selbst das Umweltbundesamt, eine Behörde des Bundesumweltministeriums, spricht von 2017.
Der Branchenverband der Energiewirtschaft sagt 2020.
Sie kommen auf 2022. Ich sage Ihnen: Dahinter steckt
nichts anderes als der Wunsch, den vier Konzernen Eon,
EnBW, RWE und Vattenfall noch elf Jahre lang hohe
Profite mit dem Atomstrom zu ermöglichen. Nichts anderes steckt dahinter!
({6})
Wir haben uns mit den Fachleuten beraten und sind auf
das Jahr 2014 gekommen. Bei einem Atomausstieg im
Jahr 2014 müsste kein einziger Haushalt, kein einziges
Unternehmen ohne Licht leben. Das ist realisierbar.
({7})
Nun signalisiert die SPD der Bundesregierung Zustimmung zu den Gesetzentwürfen; das hat auch Herr
Steinmeier gesagt. Die Spitze der Grünen liebäugelt mit
der Zustimmung. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Wenn
es wahr ist, dass die jetzige Regierungskoalition - zumindest im Kern - zu dem zurückkehrt, was Sie im Jahre
2000 verabschiedet haben, und Sie dem jetzt zustimmen
wollen, dann sagen Sie damit, dass sich an Ihrem Kompromiss aus dem Jahre 2000 nach Fukushima nichts
hätte ändern müssen. Das geht nicht.
({8})
Auch Sie müssen Konsequenzen aus Fukushima ziehen.
Deshalb brauchen wir zweifellos weiter gehende Rege12970
lungen. Die Antiatombewegung sieht das übrigens ganz
genauso. Die vielen Fotos von Herrn Gabriel und von
Herrn Trittin bei den Demos der Antiatombewegung tragen angesichts ihrer Haltung jetzt nicht zu ihrer Glaubwürdigkeit bei.
({9})
Es geht wieder einmal um das Verhältnis zur Atomlobby, um eine Machtfrage. Das ist der zweite Punkt;
dieser ist spannend. Sie alle sagen jetzt: Wir wollen den
Ausstieg aus der Atomenergie unumkehrbar und für immer. Frau Bundeskanzlerin, wenn wir das wirklich wollen - dass Sie mir zustimmen, nehme ich dankend zur
Kenntnis -, dann habe ich eine Frage: Warum verankern
wir - dies haben wir im April 2011 beantragt - das Verbot der Nutzung der Atomenergie und das Verbot von
Atomwaffen nicht im Grundgesetz?
({10})
Wir sind doch hier eine klare Mehrheit. Alle Fraktionen
wollen das. Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, Sie wollen, dass die Unumkehrbarkeit im Gesetz steht. Ich muss
Ihnen sagen: Das ist wirklich albern; denn ein Gesetz
kann durch jede Mehrheit im Bundestag aufgehoben
werden und damit auch dessen Unumkehrbarkeit.
({11})
Herr Steinmeier, das ist so, als ob Sie ins Gesetz schreiben: Dieses Gesetz gilt. Das stimmt, aber das brauchen
Sie nicht ins Gesetz zu schreiben. Unumkehrbar wird es
nur durch eine Verankerung im Grundgesetz; denn dann
müsste es, um zur Atomenergie zurückzukehren, eine
Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat geben. Diese wird sich niemals finden. Deshalb wäre es
dann unumkehrbar.
({12})
Nun hat Bundesumweltminister Röttgen gesagt
- Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken -, dass er die Aufnahme in das
Grundgesetz nicht möchte, und zwar deshalb nicht, weil
künftige Mehrheiten dann gebunden wären. Ja, ich
möchte künftige Mehrheiten gerne binden. Wir müssen
der Bevölkerung sagen, dass das Gesetz nicht mehr
leicht zu ändern ist, sondern dass dies höchst kompliziert
wäre und dass es dafür keine Mehrheiten mehr geben
wird. Das scheint mir das Entscheidende zu sein.
({13})
Wenn Sie dazu Nein sagen, dann heißt das: Die Regierungskoalition will einen Atomausstieg mit Rückfahrkarte. Das ist nicht hinnehmbar.
({14})
Kommen wir zum dritten Punkt. Der Atomausstieg
muss untrennbar mit einer Energiewende verbunden
werden. Dies hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die
Frage der erneuerbaren Energien. In Ihren Gesetzentwürfen, liebe Regierungskoalition, steht zu den erneuerbaren Energien nichts Neues. Es gibt nicht eine einzige
zusätzliche Fördermaßnahme. Das ist falsch; denn wir
müssen die Erzeugung erneuerbarer Energien viel stärker fördern, um aus der Atomenergie so schnell wie
möglich aussteigen zu können.
Die andere Seite ist die Macht der vier Konzerne. Die
vier Konzerne, die ich genannt habe, haben in den letzten Jahren einen Profit von 100 Milliarden Euro gemacht. Die werden überhaupt nicht zur Kasse gebeten.
Im Gegenteil: Sie sorgen dafür, dass es dabei bleibt.
Wieso haben diese Konzerne einen solchen Profit gemacht? Weil sie die Bürgerinnen und Bürger und auch
die Unternehmen abgezockt haben, ohne dass Sie irgendetwas dagegen unternommen haben. Ich sage: Es ist eine
Kernfrage, dass die Politik wieder für Wasser, für Bildung, für Gesundheit und auch für Energie zuständig
wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen: Das
Parlament, das sie wählen, wird darüber entscheiden.
Die Vorstände der vier Konzerne dürfen sie nämlich
nicht wählen.
({15})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das deutlich
macht, was für ein Unsinn dabei herauskommt. Ein Alleinstehender, der in einer kleinen Mietwohnung lebt
und wenig Strom verbraucht, zahlt pro Kilowattstunde
mehr als jemand, der in einer Villa mit Swimmingpool
wohnt. Diese Person verbraucht nämlich mehr. Wer
mehr verbraucht, bekommt billigeren Strom. Das ist so
was von antiökologisch und dämlich! Wenn die Politik
zuständig wäre, gäbe es solche Schwachsinnsregelungen
nicht, und wenn doch, würden sie nicht halten. Das ist
das Entscheidende.
({16})
Die Zuständigkeit der Politik ist also eine Frage der Demokratie und der Demokratisierung. Die Stromnetze gehören in die öffentliche Hand; denn sie sind ein Machtinstrument.
({17})
Zum Vierten. Die Energiewende soll sozial gestaltet
werden. Was heißt das? Darauf gibt es von der Regierung nicht eine einzige Antwort. Wer soll eigentlich die
Kosten der Energiewende tragen? Kostet erneuerbare
Energie nichts? Wie stellen Sie sich die Verteilung vor?
Das Erste, was Sie geregelt haben, ist: Die energieintensiven Industrien müssen die Kosten auf jeden Fall nicht
tragen. Sie bekommen eine Entlastung von
1,2 Milliarden Euro. Das heißt mit anderen Worten: Die
Bürgerinnen und Bürger und die kleinen Unternehmen
müssen die Kosten tragen. Genau das akzeptieren wir
nicht. Den Riesenprofit der Energiekonzerne habe ich
bereits erwähnt. Auch dieser muss, zumindest zum Teil,
herangezogen werden.
Heute haben wir die Situation, dass ein Hartz-IVEmpfänger 44 Euro im Monat für Strom ausgibt. Angerechnet werden aber nur 30,42 Euro. Auf diesen Betrag
wurde der Regelsatz festgelegt. Finden Sie das in Ordnung? Ich finde das nicht in Ordnung. Hartz-IV-Empfänger wissen nämlich nicht mehr, wie sie das Ganze bezahlen sollen.
({18})
Jedes Jahr werden 800 000 Strom- und Gasversorgungssperrungen vorgenommen. Haben Sie sich damit
einmal beschäftigt? Ich habe eine alleinerziehende Frau
mit drei Kindern besucht, bei der eine Stromsperre vorgenommen wurde. Ich sage Ihnen: Ich war wirklich entsetzt. Das verletzt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist so nicht zu garantieren.
({19})
Ich sage Ihnen: Stromsperren und Gassperren sind zu
verbieten. Dafür brauchen wir - jetzt werden Sie sich
wieder furchtbar aufregen - eine staatliche Strompreiskontrolle,
({20})
wie es sie übrigens unter allen Unionsregierungen bis
zur Großen Koalition gab. SPD und Union haben sie
dann abgeschafft mit der Begründung, es gebe genug
Wettbewerb. Das war ein schlechter Scherz; denn die
vier Konzerne telefonieren miteinander und verabreden,
wie sie uns abzocken. Hier gibt es keinen wirklichen
Wettbewerb.
({21})
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zum sogenannten
Strahlenproletariat, das entstanden ist. Ich finde, das ist
ein einzigartiger Skandal.
({22})
- Ja. Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. - Meine Fraktion
hat eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Dabei stellte sich heraus, dass es bei den AKW-Betreibern
weniger als 6 000 Festangestellte, aber über 24 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter und Beschäftigte von
Fremdfirmen gibt. Die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter verdienen im Schnitt nur zwei Drittel dessen, was
Festangestellte verdienen - das muss man wissen -, und
- das ist der größte Skandal - sie sind einer doppelt so
hohen Strahlenbelastung ausgesetzt wie die Festangestellten, weil sie immer wieder in die entsprechenden
Bereiche geschickt werden. Ich sage Ihnen: Das ist eine
Unverschämtheit der Konzerne!
({23})
Ich will auch begründen, warum. Es stecken drei
Dinge dahinter.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. - Die Konzerne
machen einen Profit von 100 Milliarden Euro, zahlen
Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern aber schlechte
Löhne. Außerdem gefährden sie ihre Gesundheit. Sie
verachten sie. Das ist nicht zu dulden.
({0})
Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht nur eine
Energiewende, sondern auch eine Kulturwende und eine
soziale Wende in unserem Land.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute eines der wohl ehrgeizigsten Projekte in dieser Legislaturperiode.
({0})
Dass es bei diesem kontrovers diskutierten Thema gelungen ist, den Sachverstand von Wissenschaft, Wirtschaft und Technik und den Sachverstand der breiten
Gesellschaft und der Politik zu bündeln und in konkretes
politisches Handeln umzusetzen, ist eine großartige
Leistung der Bundeskanzlerin und dieser Bundesregierung. Das verdient Anerkennung und Respekt. Ich danke
dafür.
({1})
Herr Steinmeier, der größte Teil Ihrer Rede war
({2})
von einem Blick in die Vergangenheit geprägt.
({3})
Um die Energiepolitik künftig für dieses Land zu gestalten, ist es erforderlich, dass wir den Blick in die Zukunft
richten. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um das,
was wir gemeinsam wollen, nämlich einen schnelleren
Ausstieg aus der Kernenergie und einen schnelleren
Ausbau der erneuerbaren Energien, in gemeinsamer Verantwortung richtig zu gestalten.
({4})
Wir dürfen nicht in einer hämischen Art und Weise besserwisserisch den Blick einfach in die Vergangenheit
richten. Wir brauchen den Blick in die Zukunft.
({5})
Ich will nur an zwei Punkten den Unterschied zwischen dem, was damals von Ihnen beschlossen wurde,
und dem heutigen Weg deutlich machen.
Damals stand die Reststrommenge im Vordergrund,
und die Entscheidung über das Enddatum der einzelnen
Kraftwerke haben Sie in die Hände der Betreiber gelegt.
Heute wird gesetzlich ein Enddatum festgelegt. Dadurch
schaffen wir Planungssicherheit für alle Beteiligten: für
die Betreiber, für die Investoren und vor allem auch für
diejenigen, die in die erneuerbaren Energien investieren
wollen und müssen.
({6})
Der zweite Unterschied ist, dass damals kein Wort
über die Fragen verloren wurde, wie wir den Umstieg
schaffen, was notwendig ist, um die Energieversorgung
tatsächlich zu sichern, was an Ersatzkraftwerken notwendig ist, was an Netzausbau notwendig ist, wie der
notwendige Netzausbau beschleunigt wird, wie es mit
der Netzintegration der erneuerbaren Energien ausschaut
und was mit den notwendigen Speicherkapazitäten ist.
Zu all diesen notwendigen Themen haben Sie nicht nur
nichts gesagt, sondern Sie haben in Ihrer ganzen Regierungszeit auch überhaupt nichts in die Wege geleitet, um
dies zu realisieren.
({7})
Verantwortliche Energiepolitik schaut anders aus, als
nur Überschriften zu setzen.
({8})
Wir haben uns die Diskussion in den letzten Wochen
wirklich nicht leicht gemacht - auch in den eigenen Reihen nicht -, und wir haben gerade in meiner Landesgruppe und in meiner Fraktion auch immer dafür Sorge
getragen, die Diskussion über das Enddatum nicht an
den Anfang zu stellen, sondern zuerst den Weg zum
Ausstieg und Umstieg zu definieren, um dann mit Fachleuten darüber zu diskutieren, was technisch, was wirtschaftlich und was auch aufgrund der Eigentumsrechte
rechtlich möglich und richtig ist. Dann erst sind wir zu
der Entscheidung für 2022 als Enddatum gekommen.
({9})
- Wir haben kontrovers diskutiert; das habe ich erwähnt.
({10})
- Entscheidend ist das, was im Gesetzentwurf steht. Das ist ein rechtlich sauberer und technisch und wirtschaftlich realisierbarer Weg. Damit ist das ein seriöser
Weg.
({11})
Wer die Leute glauben machen will, es ginge noch
schneller, wie Sie das gerade gesagt haben, der streut
den Leuten Sand in die Augen und gaukelt ihnen etwas
nicht Realisierbares vor.
({12})
Auch ich weiß, dass das, was wir hier vor uns haben,
einer ganz großen Kraftanstrengung bedarf. Energieversorgung betrifft die Grundbedürfnisse eines jeden Bürgers. Sie ist die Lebensader für unsere Volkswirtschaft
und für unsere Beschäftigten. Da lohnt es sich schon,
sich über den richtigen Weg auseinanderzusetzen. Es
lohnt sich meines Erachtens auch, zu streiten, und zwar
in dem Sinn, dass wir darum ringen, wie wir das beste
Ergebnis erreichen können. Wir dürfen aber nicht besserwisserisch streiten, nur um recht zu haben. Wir müssen vielmehr um die besten Argumente ringen.
({13})
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was uns verbindet.
Der Minister hat vorhin die drei Kernelemente angesprochen, die auch im Energiewirtschaftsgesetz verankert sind und an die wir uns bei jeder energiepolitischen
Diskussion erinnern sollten, nämlich Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit. Darin
sind wir uns doch einig; das hoffe ich zumindest.
({14})
Der Strom darf nicht ausfallen,
({15})
und zwar weder in den Betrieben und Krankenhäusern
noch im Bereich der Datenverarbeitung oder in den
Haushalten.
Wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, müssen wir
gemeinsam für den entsprechenden Ersatz sorgen. Es
geht nicht ohne fossile Ersatzkraftwerke. Deshalb darf es
nicht sein, dass man konkrete Projekte blockiert. Das
wäre unglaubwürdig. Zu einem verantwortungsvollen
Handeln gehört auch, dass wir die Äußerungen der Bundesnetzagentur in Bezug auf die nächsten zwei Jahre
ernst nehmen. Wir können uns in diesem Lande keinen
Blackout leisten. Das wäre völlig verantwortungslos.
({16})
Wenn wir uns darin einig sind, dass der Strom nicht
ausfallen darf, dann müssen wir uns auch darin einig
sein, dass wir beim Umstieg in die erneuerbaren Energien alles tun müssen, um den Netzausbau nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu befördern. Wir müssen die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass er
zügig erfolgen kann, und zwar nicht nur in Bezug auf die
überregionalen Netze, sondern auch in Bezug auf die
Verteilernetze. Damit die Netzintegration der erneuerbaren Energien funktioniert, müssen wir dafür sorgen, dass
die entsprechenden Speicherkapazitäten vorhanden sind.
All das gehört dazu, wenn wir es mit der Versorgungssicherheit und mit dem Ziel, dass der Strom in diesem
Land nicht ausfallen darf, ernst meinen.
({17})
Ein zweiter Punkt. Wir haben mit diesem Konzept
auch die Strompreise im Auge. Das gilt für die privaten
Verbraucher genauso wie für die Unternehmen. Es ist
deshalb wichtig, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz darauf zu achten, dass die Einspeisevergütungen den
Zweck der Anschubfinanzierung und der Innovationsfinanzierung erfüllen. Sie sollen aber keine Dauersubventionierung sein.
({18})
Ich weiß sehr wohl, dass es an dieser Stelle immer wieder Diskussionen gibt. Diese sind auch berechtigt. Wir
dürfen aber auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik
diesen Zweck nie aus den Augen verlieren.
Zur Behandlung der Strompreisproblematik gehört
auch, das Augenmerk auf die energieintensiven Betriebe
zu richten. Hunderttausende von Arbeitsplätzen in diesen Unternehmen sind davon unmittelbar betroffen. Es
sind aber auch Hunderttausende von Menschen in den
vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Es wäre
also zutiefst fahrlässig, wenn wir diese Problematik
nicht beachten würden. Deshalb wird es auch hier eine
zusätzliche Entlastung geben.
({19})
Ich will noch einen dritten Punkt ansprechen; da sind
wir uns eigentlich einig. Es geht um die Verantwortung
für die Natur und unsere Umwelt, also für das, was uns
der Herrgott mitgegeben hat. Deshalb muss uns die Reduzierung der CO2-Belastung ein Anliegen sein. Deshalb müssen wir in diesem Konzept ein starkes Augenmerk auf die Energieeffizienz sowohl der Kraftwerke als
auch aller Geräte, die wir benutzen, und auf die Einsparmöglichkeiten richten. Wir legen ebenfalls großen Wert
auf die Maßnahmen, die wir zum Beispiel in der Gebäudesanierung vorgesehen haben, und auf die Frage der intelligenten Netzinfrastruktur und Ähnliches.
Ich will dabei zum Ausdruck bringen, dass ich gerade
mit diesem Energiekonzept Chancen sehe, dass wir den
Schwerpunkt ein bisschen mehr, als wir das bisher tun,
auf dezentrale Energieversorgung legen. Hier bieten sich
sowohl im Bereich der erneuerbaren Energien als auch
im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung große Chancen.
Was uns, insbesondere in unserer Fraktion, ausgehend
von meiner eigenen Landesgruppe, noch wichtig ist, ist
der jährliche Fortschrittsbericht. Er ist uns deshalb wichtig, weil jeder, der den Ausstieg aus der Kernenergie
ernsthaft will, den Umstieg mitmachen muss und die
notwendigen Schritte auf diesem Weg nicht blockieren
darf. Da wir in der Vergangenheit erstens nicht dieses
genaue Konzept mit den Verbesserungsmöglichkeiten,
den Planungsbeschleunigungen und dergleichen, was
jetzt in den Gesetzentwürfen verankert ist, beschrieben
haben und zweitens auch kein Monitoring vorgesehen
hatten, ist vieles nicht geschehen, was auf dem Weg zum
weiteren notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien notwendig gewesen wäre.
({20})
Deshalb wollen wir diesen jährlichen Fortschrittsbericht. Wir wollen ihn, um dann nachjustieren zu können,
und zwar nicht beim Enddatum des Ausstiegs, sondern
bei dem, was auf diesem Weg noch notwendig ist und
wo blockiert wird. Das war uns ein ganz wichtiger Aspekt. Ich bin dankbar dafür, dass dieser nun in den Gesetzentwürfen verankert ist.
Nun wissen wir bei der riesigen Aufgabe, die vor uns
liegt, um den breiten gesellschaftlichen Konsens. Das
Ergebnis der Ethik-Kommission hat deutlich gemacht,
dass das vorgelegte Energiekonzept von einer breiten
Basis in der Gesellschaft und auch in der Ethik-Kommission voll mitgetragen wird. Wir alle wissen, dass das nur
mit einer Kraftanstrengung aller Beteiligten vor Ort
möglich ist: des Bundes, der Länder, der Kommunen,
aber auch der Investoren und der Bürger, ja jedes Einzelnen für sich. Da wird es noch viele Diskussionen in den
Regionen bei konkreten Kraftwerksbauten, Netzausbauten und Ähnlichem geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ein gutes
Signal, wenn dieser Konsens nicht nur in der Gesellschaft, nicht nur in der Ethik-Kommission spürbar wäre,
sondern wenn dieser Konsens auch von diesem Hohen
Hause ausginge. Darum möchte ich Sie herzlich bitten.
Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen über die Gesetzentwürfe in den Ausschüssen ein und bitte Sie bei
der zweiten und dritten Lesung herzlich um Ihre Zustimmung.
({21})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Rösler, nachdem ich Ihrer Rede zugehört habe,
({0})
habe ich Verständnis für die Kanzlerin, die Sie bei diesen
Entscheidungen einfach übergangen und ignoriert hat,
weil Sie wirklich nichts zum Thema zu sagen haben.
({1})
Durch Fukushima ist uns eines deutlich geworden: Es
gibt kein vernachlässigbares Restrisiko. In Fukushima
ist dieses Restrisiko dreimal höchst real geworden. Nun,
nach diesem Zwischenfall, 25 Jahre nach Tschernobyl,
zieht auch die CDU aus diesen Erfahrungen Konsequenzen. Das ist spät, aber es ist richtig.
({2})
Sie, Frau Merkel, beenden damit auch einen persönlichen Kampf. Zehn Jahre lang haben Sie gegen die Energiewende in Deutschland, gegen Energieeffizienz, Energiesparsamkeit und erneuerbare Energien gekämpft. Sie
haben noch in der Bundestagswahl - ich zitiere - erklärt:
Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke weltweit
gebaut werden, wäre es jammerschade, wenn
Deutschland aussteigen würde.
Das war Ihre Position.
Dieser Tage lobte der US-Präsident die deutsche
Energiepolitik, weil sie mit neuer Technologie Klimaschutz, Wachstum und Arbeitsplätze verbunden hat.
Meine Damen und Herren, das war ein scharfer Tadel an
Sie, Frau Merkel; denn Sie haben in der Energiepolitik
der letzten zehn Jahre eine ganz einfache Rolle eingenommen. Sie waren die Dagegen-Partei.
({3})
Sie haben nicht nur versucht, uns im letzten Jahr die
Laufzeitverlängerung als Revolution - oder Ihr Umwelt12974
minister als Meilenstein - zu verkaufen. Die CDU veranstaltete in Nordrhein-Westfalen Fackelzüge gegen die
Einführung des Emissionshandels. Sie waren gegen die
Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Da, wo
die Union regiert hat - in Hessen, Bayern und BadenWürttemberg -, haben Sie den Ausbau der Windenergie
bürokratisch so schikaniert und blockiert, dass es heute
nicht einmal lächerliche 1 Prozent an Windstrom in diesen Bundesländern gibt.
({4})
Sie haben das schrittweise korrigiert: erst beim Emissionshandel, dann beim Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Heute rollen Sie auch die Fahne beim Ausstieg aus der
Atomenergie ein. Da kann ich nur sagen: Willkommen,
gnädige Frau, im 21. Jahrhundert.
({5})
Dies ist ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung und der
Umweltverbände. Es ist ein Erfolg der Hunderttausende
von Menschen, die auf Mahnwachen, bei Demonstrationen und Sitzblockaden für einen Ausstieg gestritten haben. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich bei denen
schon nicht entschuldigen wollen - dafür hätte ich ja
Verständnis -, so finde ich, dass Sie sich heute bei diesen
Menschen für die Nachhilfe hätten bedanken sollen, die
sie Ihnen erteilt haben.
({6})
Heute übernehmen Sie die Laufzeitbegrenzung von
Rot-Grün. Sie packen einen Deckel drauf, damit die von
Ihnen selbst verursachte und angestiftete Zockerei mit
den Reststrommengen ein Ende hat. Sie üben tätige
Reue und schalten die sieben ältesten Atomkraftwerke
plus Krümmel ab, die aufgrund eben dieser Zockerei
noch am Netz sind. Ohne diese Zockerei wären sie nicht
am Netz. Sie schalten damit die Kraftwerke ab, die gegen einen Flugzeugabsturz überhaupt keinen Schutz haben.
({7})
Für all das haben Sie unsere Unterstützung.
Aber warum nehmen Sie eigentlich Ihre Novelle vom
letzten Jahr nicht vollständig zurück? Warum bleibt es
bei der Absenkung der Sicherheitsstandards? Warum
wird § 7 d des Atomgesetzes nicht gestrichen?
({8})
Warum müssen wir - wenn Sie einen Konsens wollen das nach wie vor vor dem Bundesverfassungsgericht beklagen? Sie haben den Ministerpräsidenten zugesagt, Sie
wollten - ich zitiere - „eine ergebnisoffene Standortsuche auf einer gesetzlichen Grundlage“.
Ich frage Sie: Was ist daran ergebnisoffen, wenn man
parallel dazu in Gorleben weiterbaut? Wenn es ergebnisoffen sein soll, warum wollen Sie dann weiterhin in Gorleben den Grafen Bernstorff enteignen? Warum streichen
Sie nicht die Ermächtigung zur Enteignung im Atomgesetz? Das frage ich Sie, wenn Sie Konsens wollen.
({9})
Heute wandeln Sie beim Ausstieg zögerlich auf grünen Pfaden. Damit kann man bekanntlich nichts verkehrt
machen. Aber beim Einstieg in die energiepolitische Zukunft halten Sie an den Fehlentscheidungen fest, die Sie
im letzten Jahr getroffen haben. Mit der Laufzeitverlängerung bis 2040 wollten Sie bis 2020 den Ausbau erneuerbarer Energien auf 35 Prozent deckeln. Das ist weniger, als Sie selbst in Brüssel bei der EU-Kommission
für Deutschland gemeldet haben. Jetzt, wo Sie bis 2022
aus der Atomenergie ausgestiegen sein wollen, bleibt es
bei den 35 Prozent.
({10})
Da wundert es Sie, dass die Wende, die Sie vollzogen
haben, von den Menschen in diesem Lande nicht als
glaubwürdig angesehen wird?
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Sie haben sich mit
den Ministerpräsidenten darauf verständigt, dass Onshorewindenergie, also Windenergie an Land, nicht benachteiligt werden soll. Sie mindern zwar die Benachteiligung, die Sie ursprünglich vorgesehen haben, aber Sie
verschlechtern die Bedingungen für das Repowering. Erklären Sie uns doch einmal, wie Sie bei einer zusätzlichen Hürde, die Sie mit der EEG-Umlage daraufpacken,
({11})
zu einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien
zu verträglichen Preisen an Land kommen wollen, wenn
Sie weiterhin Repowering und Onshorewindenergie in
dieser Weise schlechter behandeln, als es notwendig gewesen wäre!
({12})
Dafür gäbe es eine Erklärung. Die Erklärung ist: Sie
haben das Wesen der Energiewende immer noch nicht
verstanden.
({13})
Es geht hierbei um den Ausbau erneuerbarer Energien,
Energieeinsparung und Energieeffizienz. Aber dies setzt
eine andere Struktur unserer Energieversorgung voraus,
nämlich eine flexiblere und dezentralere Struktur.
({14})
Worauf Sie hinauswollen, ist der Ersatz der Grundlast
Atom durch die Grundlast Kohle. Da treffen Sie sich mit
der Linken von Gregor Gysi.
({15})
Energiewende geht, gerade im Einstiegsprozess, anders. Ob Erneuerbare-Energien-Gesetz oder NetzausbauJürgen Trittin
gesetz: Bei all diesen Gesetzen gibt es massiven Änderungsbedarf. Ich habe Ihre Botschaft durchaus gehört,
Frau Hasselfeldt - Ihr Minister hat das auch gesagt -,
dass Sie bereit seien, tatsächlich zu konkreten Veränderungen zu kommen. Wir werden in dem Gesetzgebungsprozess darauf achten, dass diesen Ankündigungen auch
Taten folgen.
Seit Montag steht Frau Merkel der Energiewende
nicht mehr im Weg. Aber eines scheint immer noch zu
gelten: Merkel bleibt Merkel. Sie glauben immer noch,
man käme vorwärts, wenn man gleichzeitig bremst und
Gas gibt. Gnädige Frau, damit kommt man nur ins
Schleudern und ist zu abrupten Kehrtwendungen gezwungen.
Vielen Dank.
({16})
Michael Kauch ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Trittin, Hochmut kommt vor dem Fall.
({0})
Die Grünen sollten sich fragen, ob sie, wenn sie regieren
würden, ihre Energiepolitik nicht auch hätten ändern
müssen. Denn das von uns vorgelegte Konzept sieht eine
deutlich frühere Abschaltung der alten Kernkraftwerke
vor, als sie es vorgesehen haben. Sie haben es mit dem
Reststrommengenkonzept doch gerade den Unternehmen ermöglicht, das Datum immer weiter nach hinten zu
verschieben.
({1})
Das war doch ein rot-grünes Gesetz, von Ihnen als Umweltminister verantwortet, Herr Trittin.
({2})
Warum haben Sie denn die ältesten Kraftwerke nicht
abgeschaltet? Warum haben Sie denn keine zusätzliche
Sicherheit eingefordert? Weil Sie, Herr Trittin, einen
Deal mit den vier großen Stromkonzernen gemacht haben. Die Hybris, die die Grünen hier an den Tag legen,
besteht darin, einen Deal gemacht zu haben, nichts für
die Sicherheit getan zu haben und uns vorzuwerfen, dass
wir den Paragrafen, mit dem wir mehr Sicherheit schaffen,
({3})
jetzt nicht abschaffen. Das ist absurd, meine Damen und
Herren von den Grünen.
({4})
Die FDP will den schnelleren Umstieg in der Energieversorgung, wir wollen den schnelleren Ausstieg aus der
Kernkraft. Deswegen haben wir gemeinsam mit der
Union ein Gesetzespaket vorgelegt.
({5})
Die Koalition hat gemeinsam ein klares Signal gesetzt.
Wir Liberale haben insbesondere an drei Punkten dieses
Gesetzes einen wesentlichen Anteil.
Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass die Brennelementesteuer nicht abgeschafft wird. Diese Brennelementesteuer wurde eingeführt, weil sich die Stromkonzerne
in vergangenen Jahren ihrer Abfälle sehr günstig in der
Asse entledigt haben. Deshalb müssen sie auch an den
Kosten beteiligt werden. Wir haben vereinbart, dass die
Konzerne einen Beitrag zur Haushaltssanierung leisten.
Daran hat sich nichts geändert. Wir wollen die Bürger
entlasten, wir wollen die Spielräume nicht einengen und
das Geld nicht dadurch verpulvern, dass wir vier Konzernen ein Geschenk machen. Dafür hat die FDP gesorgt.
({6})
Zweitens. Die FDP hat dafür gesorgt, dass wir neben
der Erkundung von Gorleben auch andere Entsorgungsoptionen entwickeln. Da bin ich schon sehr erstaunt über
das, was Herr Steinmeier gesagt hat, nämlich dass man
das jetzt endlich machen müsse. Wir haben vereinbart,
dass wir das machen. Ich möchte festhalten: Wer das
nicht gemacht hat, das waren Herr Trittin und Herr
Gabriel. Rote und grüne Umweltminister haben elf Jahre
davon geredet, aber sie haben es nicht durchgesetzt. Wir
werden es jetzt durchsetzen.
({7})
Drittens. Wir sorgen für Netzstabilität in diesem
Land. Frau Hasselfeldt hat es sehr deutlich gesagt: Man
kann den Bürgerinnen und Bürgern, den Menschen in
den Betrieben, den Arbeitenden in den Krankhäusern
und in den EDV-Zentralen nicht zumuten, dass wir das
Risiko eingehen, dass der Strom ausgeht, auch nicht in
Bayern, auch nicht in Baden-Württemberg.
({8})
Deshalb ist es notwendig, ein Stand-by-Kraftwerk für
die nächsten beiden Winter vorzuhalten. Das ist unsere
Versicherung für die Stromversorgung der Bürgerinnen
und Bürger.
({9})
Wir kümmern uns nicht nur um den Ausstieg, wir
kümmern uns auch um den Einstieg; denn der Einstieg
ist eine Chance für unser Land, eine Chance für Innovation, für neue Technologien und für die Modernisierung
unserer Wirtschaft. Dieser Einstieg wird in erheblichem
Maße anlagesuchendes Kapital nach Deutschland ziehen. Das ist ein neues Konjunkturprogramm, und zwar
ein marktwirtschaftliches. Aber es ist auch eine Herausforderung an uns alle. Das funktioniert nicht von alleine.
Das bedeutet, dass auch der ländliche Raum Funktionen für die Energieversorgung übernehmen muss, die
bisher zu großen Teilen die Städte übernommen haben.
Nicht überall wird es so bleiben, und nicht alles wird so
bleiben, wie es war. Das müssen die Menschen wissen,
wenn wir aus der Kernkraft aussteigen. Wir werden
Netze brauchen, und wir werden Masten brauchen. Die
wird man in der Landschaft sehen, ebenso Windräder,
die Schlagschatten werfen, Solarkraftwerke, die dem einen oder anderen nicht gefallen werden, und große Biogasanlagen, die gegebenenfalls zu mehr Verkehr in den
Dörfern führen. All das ist unvermeidbar. Wir sind bereit, das zu tragen. Wir sind gespannt, ob auch die Grünen bereit sind, Verantwortung für den Umstieg bei der
Energieversorgung zu tragen.
({10})
Rot-Grün hat das EEG immer so gestrickt, dass möglichst viele neue Anlagen errichtet wurden.
({11})
Das haben Sie gemacht, ohne dass Sie die Netze entsprechend angepasst haben; denn Sie haben immer nur auf
die Anlagen geschaut, nie auf das Gesamtsystem. Das
Ergebnis können Sie heute sehen: Nachdem die sieben
ältesten Kraftwerke und Krümmel abgeschaltet worden
sind, exportieren wir im Norden den Windstrom und importieren im Süden den Kernkraftstrom und den Braunkohlestrom aus Frankreich und aus Tschechien. Das ist
das Ergebnis von elf Jahren mit rot-grünen Umweltministern in diesem Land.
({12})
Die FDP will mit der Erneuerung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes drei Ziele erreichen: Wir wollen weiter und schneller einen dynamischen Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir wollen mehr Effizienz. Ich
freue mich, dass es uns in der Koalition gelungen ist, uns
darauf zu verständigen, dass wir die Umlage bei
3,5 Cent stabilisieren. Das bedeutet: kein fester Deckel.
Aber das bedeutet auch: Es gibt eine politische Verpflichtung, dass wir die Kosten ernst nehmen, die wir
den Bürgerinnen und Bürgern über ihre Stromrechnung
auferlegen, und dass wir nicht nur daran denken, den Betreibern eine möglichst fette Rendite zu garantieren, wie
es uns Herr Trittin heute hier wieder vorgeworfen hat.
({13})
Meine Damen und Herren, wir wollen Anreize setzen
für eine möglichst gute Integration der erneuerbaren
Energien in den Markt und in das Netz. Deswegen setzen wir auf die Direktvermarktung. Wir geben den Anlagenbetreibern bei ihrer Vergütung sozusagen einen
Airbag. Mit der Marktprämie stehen sie sich vergütungsmäßig nie schlechter als bei der Festvergütung; aber erstmals müssen sie sich darüber Gedanken machen, sich einen Kunden zu suchen. Das ist das Mindeste, was man
in einer Marktwirtschaft erwarten muss: dass sich zum
Beispiel große Anbieter von Biogasanlagen für den
Strom einen Kunden suchen müssen und dass sie den
Strom dem Netzbetreiber nicht nur vor die Füße werfen
nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“.
({14})
Zum Abschluss möchte ich sehr deutlich machen: Wir
wollen Onshore- und Offshorewindkraft. Es geht auch
um das Planungsrecht. Es nützt nichts, einem Windparkbetreiber oder einem Anlagenbetreiber eine möglichst
fette Rendite zu garantieren, wenn man keine Flächen
geben kann, weil sie in der Planung nicht ausgewiesen
werden. Es nützt eben auch nichts - da müssen wir noch
eine Änderung am Erneuerbare-Energien-Gesetz vornehmen -, dass man sagt: „Solarparks, Solarkraftwerke
in der Freifläche sind für den Verbraucher am günstigsten“, aber nur Flächen zur Verfügung stellt, die in Ostdeutschland oder Nordrhein-Westfalen liegen, während
dort, wo wir wegen des Kernkraftausstiegs jetzt Kapazitäten brauchen - in Bayern, in Baden-Württemberg -,
gesagt wird: Wir haben leider keine Flächen für die Solarenergieerzeugung. - Zum Umstieg gehört, dass man
sagt: Wir schaffen auch Flächen für Anlagen und sorgen
nicht nur für Vergütungen.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein herzliches Dankeschön an die Hunderttausenden und Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit
Jahrzehnten gegen die Atomenergie in unserem Land engagiert haben,
({0})
die aushalten mussten, dass sie aus den Reihen von CDU
und CSU und FDP ignoriert, ausgelacht, verleumdet und
beleidigt worden sind, auch noch in den letzten Wochen,
sogar noch in den ersten Tagen nach Fukushima. Noch
einmal ein herzliches Danke! Ohne ihren Widerstand
hätten CDU/CSU und FDP auch nach Fukushima einfach weitergemacht.
({1})
Jetzt gilt aber: Sie haben gewonnen; Schwarz-Gelb
hat verloren. Die wollten die Energiewende im letzten
Jahr vernichten, wurden zum Einlenken gezwungen und
beschimpfen jetzt immer noch in Parlamentsreden, in
Flugblättern und auf den Webseiten die, die schon lange
auf dem richtigen Weg waren.
Herr Rösler, bei allem Respekt: Ihre Rede war die Bewerbung als Kaltreserve der Koalition.
({2})
Diese Rede werden wir eins zu eins in der heute-show
wiederfinden. Sie erinnert mich an das Verhalten eines
Kleinkindes, das über seine eigenen Füße gestolpert ist
und am Boden liegend nach allen um sich herum haut,
weil irgendjemand anderes an seinem Unglück ja schuld
gewesen sein muss.
({3})
Frau Bundeskanzlerin, ein einziges Wort des Einsehens, eine einzige kleine Entschuldigung bei den Bürgerinnen und Bürgern, einmal der Verzicht auf das Überhöhen des eigenen Handelns, wäre das so schwierig
gewesen?
({4})
Seit Mitte März wurden jetzt fast drei Monate Fachberatungszeit für gute Gesetze durch Grabenkämpfe in
der Koalition vergeudet. Selbst Koalitionsabgeordnete
haben sich gestern in den Ausschussanhörungen, vorgestern beim Deutschen Bauernverband über die mangelnde
Sorgfalt in den Gesetzentwürfen und über die mangelnde
Beratungszeit beschwert. Aber da gilt eines, werte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Beschweren Sie sich doch nicht, ändern Sie es doch gemeinsam mit uns! Sie hätten nicht akzeptieren müssen,
dass selbst die Sachverständigen nur 24 Stunden Vorbereitungszeit für die Fachanhörungen bekommen haben.
Aber jetzt sind wir mitten in der Debatte. Die EthikKommission hat ihr Ergebnis vorgelegt,
({5})
und dieses Ergebnis lautet: Die bisher von CDU/CSU
und FDP gemachte Energiepolitik ist unethisch gewesen; Sie sollen zurück zu dem, was SPD und Grüne vorgelegt haben.
({6})
Schwarz-Gelb will nun den mit voller Absicht - mit
voller Absicht! - gemachten Fehler einer Laufzeitverlängerung weitgehend zurücknehmen. CDU und CSU haben in der letzten Woche auch bei der Brennelementesteuer und dem schrittweisen Ausstieg eingelenkt, verbal
übrigens ebenso bei der bundesweiten ergebnisoffenen
Endlagersuche. Ob die FDP das in allen Punkten unterstützt, ist mir auch nach den Reden von heute Morgen
unklar, ich glaube, den meisten innerhalb der FDP auch.
Sie müssen hier schon für Klarheit sorgen. Sind Sie Teil
der Koalition, legen Sie uns also einen Entwurf vor, über
den wir mit Ihnen diskutieren können, oder sind Sie bei
dem Versuch, die CSU von früher zu imitieren, gleichzeitig Regierung und Opposition zu sein? Das müssen
Sie unter sich klären.
Wir begrüßen das Einlenken von Schwarz-Gelb in der
Frage der Atomkraftlaufzeiten - trotz der Zeitverzögerungen und Kosten, die durch die Extrarunde im Oktober
entstanden sind, als wir an der gleichen Stelle geredet
haben, als wir mit dem gleichen Pathos erklärt bekommen haben, warum Atomkraftwerke in diesem Land länger laufen müssen, bis in die 40er-Jahre unseres Jahrhunderts hinein.
Eines gilt auch: Wir könnten noch schneller aussteigen, wir könnten noch sicherer aussteigen, Herr Fuchs,
wir könnten auch preisgünstiger aussteigen,
({7})
wir könnten die Erneuerbaren noch schneller ausbauen,
wir könnten die Energieeffizienz noch stärker voranbringen.
({8})
Wir bitten Sie, wir fordern Sie auf: Nutzen Sie wenigstens die kurzen Beratungszeiten auch dafür, das
ernst zu nehmen, was Ihnen die Ethik-Kommission aufgeschrieben hat, und das ernst zu nehmen, was die Sachverständigen gestern in den Anhörungen gesagt haben!
Selbst Ihre eigenen Sachverständigen haben massive
Kritik an den Gesetzentwürfen geübt.
Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz.
({9})
Ohne dieses Gesetz wäre ein schneller Atomausstieg gar
nicht möglich. Es ist eine deutsche Erfolgsgeschichte,
übrigens beschlossen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP, auch die erste Novelle beschlossen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP. Daran muss man
manchmal erinnern.
({10})
Frau Merkel hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz zweimal abgelehnt, Herr Röttgen - er wird ja gleich noch reden - hat es abgelehnt; aber der Atomausstieg, Milliardeninvestitionen und 400 000 Jobs in Deutschland
hängen am Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung jetzt mit
diesem Gesetz vor?
({11})
Das Ausbauziel bleibt unverändert - trotz Atomausstiegs. Das muss man mal erklären! Wir schalten also
20 Prozent der Leistung ab, aber die Erneuerbaren wol12978
len Sie nicht mehr ausbauen, als bisher geplant. Es ist
eine dreiste Bevorzugung der großen Energiekonzerne,
quasi als Entschädigung für die Rücknahme der Laufzeitverlängerung.
({12})
Bei den preisgünstigen dezentralen Erneuerbaren wie
dem Onshorewind wird gekürzt und ausgebremst. Schon
heute brechen die Anmeldezahlen zusammen. Die teureren zentralen Anlagen allerdings, wie die Energiekonzerne sie lieben, werden bei der Vergütung vergoldet.
Das Konzept, das hinter dieser Novelle des ErneuerbareEnergien-Gesetzes durch Schwarz-Gelb steht, heißt: weniger neue Kilowattstunden bei höheren Kosten, die die
Verbraucherinnen und Verbraucher zu tragen haben.
Dies ist ein unsinniger Entwurf; den müssen Sie ändern.
({13})
Zum Atomgesetz. Zunächst die gute Nachricht: Sie
nehmen die Laufzeitverlängerung tatsächlich weitgehend zurück. Ich fand den Begriff von Frank-Walter
Steinmeier, dass das ein Irrtumsbereinigungsgesetz ist,
die treffendste Beschreibung für ein Gesetz, die ich seit
Jahren gehört habe.
({14})
Wir gehen auch davon aus, Frau Bundeskanzlerin,
dass Ihre Ankündigung einer ergebnisoffenen und, Frau
Hasselfeldt, bundesweiten Endlagersuche so gemeint ist,
wie Sie es gesagt haben, und dass dem auch Taten folgen. Man muss übrigens nicht bis zum Ende des Jahres
warten. Man könnte mit einem einzigen Satz im Atomgesetz eine solche bundesweite Suche als Voraussetzung
für die Genehmigung eines Endlagers festschreiben und
dann am Ende des Jahres in einem weiteren Gesetz die
Details regeln. Auch auf diese Weise könnten Sie beweisen, dass Sie es wirklich ernst meinen.
Wir als SPD behalten uns vor, mit eigener Mehrheit,
spätestens ab 2013, weitere schwarz-gelbe Irrtümer und
Unterlassungen im Atomrecht zu revidieren. Wir werden
die längst fertiggestellten höheren Sicherheitsstandards
in Kraft setzen. Herr Dr. Röttgen weigert sich ja, unter
diese seine Unterschrift zu setzen. Wir werden den Enteignungsparagrafen wieder streichen und die vollen Anwohnerrechte wiederherstellen. Wir werden auch den
Vorschlag der Ethik-Kommission für einen parlamentarisch kontrollierten Überwachungsprozess für den Atomausstieg durchsetzen. Dieser sieht ja als Kernforderung
auch die Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung
des Atomausstiegs vor, wenn wir bei unseren Zielen des
Ausbaus und der Netzmodernisierung schneller vorankommen als heute erwartet.
({15})
Die Mitglieder der Ethik-Kommission sind durch die
Bundeskanzlerin handverlesen worden. Durch keinen
parlamentarischen Prozess sind die Teilnehmer bestimmt
worden. Wenn es sich so verhält, muss aber auch die
obengenannte Kernforderung der Ethik-Kommission erfüllt werden. Man darf sich nicht nur die genehmen Vorschläge heraussuchen, Frau Merkel. Das ist nicht in Ordnung.
Ein letzter Punkt: Die Expertenanhörung hat aufgezeigt, dass Zweifel berechtigt sind, ob die Novelle des
Atomgesetzes auch juristisch wasserdicht konstruiert ist.
Im Kern geht es um die nicht begründete Ungleichbehandlung bei den Laufzeiten. Alle Antworten der Bundesregierung gegenüber verschiedenen, bei der Anhörung anwesenden Rechtsexperten waren unbefriedigend.
Wir können aber von der schwarz-gelben Bundesregierung erwarten, dass sie ein ordentlich gemachtes Gesetz
vorlegt, das alle Kriterien erfüllt. Wir lassen nicht zu,
dass Sie eine juristische Hintertür in die Laufzeitverkürzung, in den Atomausstieg einbauen. Das geht nicht.
({16})
Wir sind erschrocken über die mangelnde handwerkliche Qualität der Gesetzentwürfe. Eines können wir
aber erwarten: Tun Sie dem Land einen Gefallen, indem
Sie wenigstens bei der Beseitigung Ihrer Irrtümer etwas
Sorgfalt an den Tag legen! Das wäre ein letzter Dienst an
diesem Land.
({17})
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael Fuchs
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Trittin
ist leider schon weg, ich sage es aber trotzdem: Herr
Kollege Trittin, Sie waren, wenn ich mich nicht sehr irre,
von 1998 bis 2005 Umweltminister in diesem Lande. In
diesen sieben Jahren hätten Sie zusammen mit Ihren
Kollegen von der SPD das Flugzeugabsturzproblem lösen können, wenn Sie es denn gewollt hätten. Es gibt ja
Stimmen, die behaupten, dass Sie persönlich es gewollt
haben. Aber Sie waren während dieser Zeit eben Kellner
und nie Koch. Sie werden wahrscheinlich auch nie Koch
werden.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, ich habe Ihre rückwärts gewandte Rede sehr wohl gehört. Ich kann mir
auch durchaus denken, warum sie rückwärts gewandt
war: Weil Sie damals noch bessere Umfragewerte als
heute hatten, erinnern Sie sich lieber an diese Zeit.
({0})
Das ist verständlich. Zu Ihnen fällt mir ein Zitat von
John F. Kennedy ein:
Einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo
die anderen erst einmal reden.
({1})
Sie haben 25 Jahre nur geredet, aber nie angepackt; und
das macht diese Koalition jetzt.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
- dafür müssen wir alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenführen - jetzt anpacken. Wir müssen dafür sorgen,
dass die Dinge, die wir uns vorgenommen haben, gemeinsam umgesetzt werden. Das wird alles andere als
einfach. Der Neubau von effizienten Gas- und Kohlekraftwerken wird nötig sein. Der Neubau von Pumpspeicherkraftwerken wird nötig sein. Der Ausbau der Stromleitungsnetze wird nötig sein. All das wird viel Kraft
kosten. Das wird häufig gerade von Politikern der Grünen sehr kritisch betrachtet.
({3})
Ich frage mich, woher diese fast überall in Deutschland zu spürende grundsätzliche Angst vor neuen Technologien, vor neuen Infrastrukturprojekten kommt.
({4})
Was müssen wir dagegen tun? Ausländer sprechen ja sogar schon von „German Angst“.
({5})
Ich habe vor kurzem an einer Podiumsdiskussion in
den USA zum Thema „Energiepolitik nach Fukushima“
teilgenommen. Da fragte mich ein Japaner, mit dem ich
dort saß: Michael, where was the nuclear accident, in
Germany or in Japan?
({6})
Diese Frage ist durchaus berechtigt: Warum ist die
Hysterie in Deutschland so groß, und haben Sie von den
Grünen nicht einen großen Anteil an dem Schüren dieser
Hysterie?
({7})
Mit Hysterie und Ablehnung von Infrastrukturprojekten
werden wir in Deutschland keine Probleme lösen.
({8})
Im Gegenteil: Wir müssen gemeinsam daran arbeiten,
die Probleme in den Griff zu bekommen.
({9})
Richtig ist, dass wir den Ausbau der erneuerbaren
Energien fördern müssen, dass wir so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien umsteigen müssen. Das ist
aber nicht neu, Herr Oppermann. Das haben wir bereits
mit dem Gesetz vom letzten Jahr beschlossen.
({10})
Wir hatten nur Skepsis - ich habe sie immer noch -, ob
die Brücke von zehn Jahren, die wir jetzt bauen, ausreicht. Ich hoffe, dass das der Fall ist. Sie alle sind gefordert, daran mitzuarbeiten. Dass das Ganze nicht einfach
ist, weiß, glaube ich, jeder in diesem Hohen Hause. Wir
müssen gemeinsam daran arbeiten; denn es sind eine
Menge Punkte zu berücksichtigen.
({11})
Versorgungssicherheit ist einer der zentralen Punkte.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, das TAB, hat festgestellt, dass ein einstündiger Ausfall, ein einstündiger Blackout in Deutschland 1,3 Milliarden Euro kostet. Pro Tag wären das fast
30 Milliarden Euro. Wenn das passiert, dann werden wir
alle hier anders diskutieren. Wir werden darüber nachdenken müssen, wie wir das verhindern können. Es ist
notwendig, dass wir uns darum in Zukunft stärker kümmern.
({12})
Die Bundesnetzagentur mahnt uns schon die ganze
Zeit, dass wir vorsichtig sein sollen, falls der geplante
schnelle Ausbau nicht funktionieren wird. Seit Fukushima sind wir zum Stromimporteur geworden. Wir
haben vor Fukushima 98 Gigawattstunden pro Tag exportiert - ich zitiere die Bundesnetzagentur - und importieren seitdem pro Tag 23 Gigawattstunden. Das kann
nicht die Zielrichtung sein. Die Bundeskanzlerin hat völlig zu Recht gesagt, dass wir das nicht wollen. Wir müssen Selbstversorger bleiben. Aus diesem Grunde müssen
wir so schnell wie möglich auch mehr auf fossile Kraftwerke setzen und Verträge mit Gasproduzenten abschließen, um in Zukunft genügend Gas zu haben.
Einen Punkt möchte ich in dem Zusammenhang erwähnen, der mir Sorge macht: Wir werden natürlich in
eine noch größere Abhängigkeit von Russland geraten.
Machen wir uns nichts vor: Bis jetzt kommen bereits
38 Prozent unseres Gases aus russischen Quellen. Ich
gehe davon aus - und das sagen auch die Energieversorger -, dass der Anteil auf eine Größenordnung von über
40 Prozent wachsen wird, wenn wir zukünftig acht bis
zehn zusätzliche Gaskraftwerke brauchen. In dem Zusammenhang sollten wir uns noch einmal sehr intensiv
mit dem Thema LNG-Terminal, vielleicht in Wilhelmshaven, beschäftigen.
({13})
Das muss dann als Alternative aufgebaut werden. Auch
das ist etwas, was von vielen von Ihnen abgelehnt
wurde.
Beim Netzausbau haben wir mit dem NABEG die
richtigen Weichen gestellt.
({14})
Der Netzausbau ist dringend notwendig. Denn der Strom
von der Nordsee oder von der Ostsee nützt uns gar
nichts, wenn er nicht dahin transportiert werden kann,
wo er gebraucht wird.
({15})
Sie wissen genau, dass es um einen Netzausbau von
4 400 Kilometern geht. Diese 4 400 Kilometer müssen
in kürzester Zeit gebaut werden. Bundesminister Rösler
hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass sie innerhalb
von vier Jahren gebaut werden müssen. Das heißt, dass
eine gewaltige Beschleunigung erforderlich ist. Wir
müssen circa 500, 600, 700 Kilometer pro Jahr bauen.
Auch dabei sind Sie alle gefordert. Das funktioniert nur,
wenn alle Parteien das wollen. Da kann nicht einer vor
Ort sagen: Das geht mich nichts an; die sollen die Leitungen irgendwo anders hinbauen.
({16})
So machen Sie von den Grünen das ja sonst sehr gerne.
Sie verbünden sich mit Ihren Freunden von Attac,
BUND etc., den üblichen Verdächtigen,
({17})
und verhindern den Leitungsausbau. So kann es nicht
weitergehen. Wenn wir da nicht gemeinsam vorgehen,
werden wir die Energiewende nicht schaffen.
({18})
Notwendig ist auch, dass wir beim EEG aufpassen.
Ich bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar für Ihre eben
gemachte Äußerung, dass die EEG-Umlage nicht über
3,5 Cent pro Kilowattstunde steigen soll. Das muss unsere Richtschnur sein, auch bei den jetzt anstehenden
Verhandlungen. Denn wenn dieser Preis steigt, zahlen
das gerade die kleinen Leute, Herr Gysi. Dann zahlen
nämlich gerade diejenigen, die sich keine Solaranlage
leisten können, die sie nicht auf dem Dach haben. Das ist
eine Umverteilung von unten nach oben. Herr Kelber
profitiert; er ist der Cheflobbyist der Solarwirtschaft.
Das war schon immer so.
({19})
Unsere Aufgabe ist es aber nicht, dafür zu sorgen, dass
die Solarindustrie noch mehr Geld verdient.
({20})
Es gibt keine Zeitung, die in den letzten Tagen nicht
großformatige Anzeigen vom BSW enthalten hätte. Das
zeigt, dass man anscheinend doch verdammt viel Geld
haben muss; sonst könnte man sich solche Anzeigen in
der FAZ und anderswo nicht leisten. In Prospekten von
SolarWorld - das ist im Wahlkreis von Herrn Kelber,
glaube ich - werden 10 Prozent Rendite über 20 Jahre
versprochen. - Donnerwetter, das ist wesentlich mehr,
als man bei Griechenland bekommen kann, und in diesem Fall ist es sicher. - Das kann nicht funktionieren.
Das muss geändert werden. Solche Renditen sind unsittlich; denn sie müssen von den kleinen Leuten bezahlt
werden.
({21})
Das heißt, wir werden an das EEG herangehen; denn die
Solarwirtschaft ist in der Förderung die teuerste. Wir haben heute pro Jahr insgesamt eine EEG-Förderung von
13,5 Milliarden Euro; davon entfallen 6,7 Milliarden
Euro allein auf die Solarwirtschaft. Das kann nicht richtig sein; denn nur 2 Prozent des gesamten Stroms der erneuerbaren Energien kommen aus Solarpaneelen. Das
zeigt, dass es hier ein totales Missverhältnis gibt. Das
werden wir beim EEG korrigieren. Da müssen wir alle
gemeinsam ran; es müssen vernünftige Lösungen gefunden werden. Wir müssen bei Solarenergie eine Deckelung im EEG einführen, ansonsten wird es nicht funktionieren. Sonst wird zu viel aufgebaut. Das ist nicht meine
Vorstellung.
({22})
Das Wichtigste, was wir in diesem Hohen Hause zu
beachten haben, ist, dass Deutschland ein guter Arbeitsplatzstandort bleibt. Auch die energieintensive Industrie
muss in Deutschland bleiben. Wenn die abwandert, gehen Wertschöpfungsketten verloren und wird das Folgen
haben, die wir so nicht wollen. Mein Deutschland ist und
bleibt ein Industrieland. Daher werde ich dafür kämpfen,
dass die Industrie überall in Deutschland preisgünstigen
Strom erhält.
Das darf nicht durch verrückte Preissteigerungen kaputtgemacht werden. Das können wir uns nicht leisten.
Denn wir können gerade jetzt mit Freude feststellen,
dass sich die Arbeitsmarktsituation endlich entspannt
hat. Ich darf daran erinnern: Am Ende Ihrer Regierungszeit hatten Sie 5 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen,
Frau Künast. Wir werden dieses Jahr unter 2,3 Millionen
Arbeitslose haben; das ist eine Erfolgsstory. Das darf
nicht durch eine falsche Energiepolitik kaputtgemacht
werden.
({23})
Lassen Sie mich zum Schluss den Vater des Industrielandes Deutschland, Ludwig Erhard, zitieren.
({24})
Er hat gesagt:
Unser Tun dient nicht nur der Stunde, dem Tag oder
diesem Jahr. Wir haben die Pflicht, in Generationen
zu denken und unseren Kindern und Kindeskindern
ein festes Fundament für eine glückliche Zukunft
zu bauen.
Das werden wir mit unseren Gesetzen tun. Bitte helfen Sie dabei mit, dass es funktioniert!
({25})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Ulrich Kelber.
({0})
Der Kollege Fuchs muss es einfach aushalten, dass
ich mich jedes Mal, wenn er seine Lügen verbreitet, zu
Wort melde.
({0})
Außerhalb des Deutschen Bundestages ist das, was
Sie machen, natürlich längst strafbewehrt. Sie haben
wieder mit einer Formulierung versucht, den Eindruck
zu erwecken, ich hätte irgendeinen wirtschaftlichen Vorteil von meinem Engagement für erneuerbare Energien,
für die ich mich seit 30 Jahren einsetze.
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Fuchs, veröffentliche ich meine Steuererklärung auf meiner Website. Dort
kann man sehen, dass ich keinen Cent daran verdiene.
Im Gegensatz zu Ihrem Kreisverband veröffentlicht
meine Partei übrigens auch sämtliche Spenden. Aber immerhin gibt es ja eine durch die SPD initiierte Verpflichtung zur Veröffentlichung von entgeltlichen Tätigkeiten
neben dem Mandat. Bei mir finden Sie da übrigens - mit
Ausnahme des kommunalen Aufsichtsrates - null. Bei
Ihnen finde ich: Vortrag Stufe 2, Vortrag Stufe 2, Vortrag 1 Stufe 2, Vortrag 2 Stufe 2, Vortrag 3 Stufe 3, Aufsichtsrat Stufe 3, Beirat Stufe 3, usw.
Zwei kleine Vorschläge:
Erstens. Lesen Sie meine Steuererklärung, die 0 Cent
Einnahmen neben dem Mandat ausweist!
Zweitens. Schaffen Sie einfach einmal so viel Transparenz wie ich! Danach können Sie den Mund hier vorne
wieder aufmachen.
({1})
Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Verehrter Herr Kollege Kelber, erstens habe ich fast
alle Ämter in Aufsichtsräten und Beiräten schon vor
meiner Tätigkeit als Abgeordneter des Hohen Hauses innegehabt.
({0})
Zweitens steht es mir frei, diese Tätigkeiten weiter
auszuüben. Ich erhalte dadurch erhebliche Erkenntnisse,
die Ihnen in vieler Hinsicht fehlen.
({1})
Drittens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass
Sie hier vielleicht auch den Rechenschaftsbericht Ihrer
Kreispartei zitieren sollten, die erheblich von SolarWorld unterstützt wird; das verschweigen Sie immer
gerne.
({2})
Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
Beitrag des Kollegen Fuchs hat eben deutlich gemacht,
womit wir es hier seit Tagen und Wochen zu tun haben:
mit einer Panikmache bei den Menschen, die vor vermeintlichen Strompreissteigerungen, Stromausfällen und
unbezahlbaren Stromrechnungen gewarnt werden. Dabei
sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Ein
Umbau der Energieversorgung hin zur Nutzung erneuerbarer Energien wird Mehrkosten von durchschnittlich
0,2 bis 0,5 Cent je Kilowattstunde nach sich ziehen. Wir
sagen nicht: Das kostet nichts. Aber es geht um einen
sehr überschaubaren Betrag.
Ich habe mir einmal herausgesucht, wie sich die
Stromkosten eines Dreipersonenhaushalts mit einem
Verbrauch von 3 500 Kilowattstunden in den letzten Jahren entwickelt haben. 2001 kostete die Kilowattstunde
im Durchschnitt 14,3 Cent, zehn Jahre später 24,9 Cent.
Wir hatten also in den letzten Jahren einen viel stärkeren
Anstieg, der vielen Menschen Probleme macht. Kollege
Gysi hat vorhin angesprochen, dass viele Menschen inzwischen längst Probleme haben, ihre Rechnungen zu
zahlen. Das hat nichts mit einem Umbau des Energiesektors zu tun, sondern mit Abzocke, fehlender Strompreis12982
aufsicht und fehlenden sozialen Tarifen, wie es sie in
Ländern wie Belgien und Frankreich längst gibt.
({0})
Und es hat etwas damit zu tun, dass die großen vier
Energiekonzerne entsprechende Gewinne gemacht haben. Wir haben uns die Daten zu den drei großen deutschen Energiekonzernen Eon, RWE und EnBW vom
Wissenschaftlichen Dienst geben lassen: Sie haben ihre
Gewinne in den letzten Jahren von circa 10 Milliarden
Euro im Jahr auf 23 Milliarden Euro im Jahr gesteigert.
Das zahlen die Kundinnen und Kunden. Worüber? Über
die Stromrechnung; ich habe es eben erläutert.
({1})
Jetzt erleben wir, dass es nicht zum schnellstmöglichen Ausstieg kommt, sondern zu einem Ausstieg erst
im Jahr 2022, einem Jahr, das keiner der Wissenschaftler
und Sachverständigen vorgeschlagen hat. Die Begründung dafür, dass der Ausstieg erst 2022 erfolgen soll,
findet sich in Ihren Texten: Da sagen Sie, dass nicht nur
die Abschreibung, sondern auch die Möglichkeit, angemessene Gewinne zu erzielen, zu berücksichtigen ist.
Deswegen kommen Sie auf das Jahr 2022.
Man muss sich das wirklich einmal auf der Zunge
zergehen lassen: Seit Wochen und Monaten - nicht erst
seit Fukushima, sondern auch schon anlässlich der Laufzeitverlängerung - demonstrieren Hunderttausende von
Menschen, die eine sehr legitime Forderung erheben: die
Forderung nach dem sofortigen Ausstieg. Sie wissen
nämlich, dass jeder Tag des Betriebs von Kernkraftwerken ein weiterer Tag der Gefahr ist. Sie wissen, dass der
Block 1 in Fukushima Ende März hätte vom Netz gehen
können. Das ist einer der Blöcke, die heute mit einer
Kernschmelze zu kämpfen haben und bei denen wir bis
heute nicht wissen, wie umfänglich die Gefahren und
wie groß die Folgen sind, wie viele Tausende von Toten
und Hunderttausende von Krebskranken das nach sich
ziehen wird. Die Menschen stellen also die sehr berechtigte Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg.
({2})
Wenn wir hier über Daten und Jahreszahlen diskutieren, dann geht es um eine Abwägung zwischen dieser
sehr berechtigten Forderung und anderen Interessen,
nämlich dem Interesse an einer sicheren Stromversorgung und dem an bezahlbaren Strompreisen; dabei ist zu
berücksichtigen, in welchem Zeitraum der Umbau vollzogen werden kann. Die Gutachten nennen Jahreszahlen
zwischen 2013 und 2017; Sie aber nennen das Jahr 2022
und feiern das als große Errungenschaft. Ich erinnere daran: Da waren wir vor einem halben Jahr schon einmal.
({3})
An dieser Stelle möchte ich auch nicht verschweigen,
dass mit mir damals viele den Zeitraum für den rot-grünen sogenannten Atomausstieg für zu lang hielten und
als Laufzeitgarantie empfunden haben, die mit den Konzernen ausgehandelt worden war.
({4})
Nun nennen Sie 2022 in der Hoffnung, dass deswegen
keine Klagen eingereicht werden. Gestern haben wir
aber gehört, dass es Klagen geben wird.
({5})
Wir haben es als Drohung empfunden, dass der Eon-Vertreter in der gestrigen Anhörung sagte: Wir werden die
Vermögensschäden konkret beziffern und mit der Bundesregierung erörtern und auf Gespräche setzen, um juristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. - Sie
wollen also weiterkungeln, und sie wollen Entschädigungen. Dabei wissen Koalition und Konzerne, dass
nach einem Verfassungsgerichtsurteil von 1991 eine entschädigungslose Enteignung aus Gründen des Gemeinwohls sehr wohl möglich ist.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe von meiner Japan-Reise, die ich im Mai unternommen habe und die mich auch in die Präfektur Fukushima geführt hat, die Einsicht mitgenommen, dass aus
dem GAU eine weitere Lehre zu ziehen ist. Aus vielen
Gesprächen mit Flüchtlingen, aber auch mit Verantwortlichen, zum Beispiel mit Bürgermeistern und dem Gouverneur, habe ich die Lehre gezogen, dass jedes Land der
Welt und jede Regierung mit der Bewältigung der Auswirkungen eines GAUs überfordert wäre. Das gibt uns
den Auftrag, den schnellstmöglichen Ausstieg ernsthaft
anzugehen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
befinden sich in einem Lernprozess. Das ist erfreulich.
Um die Rückfallgefährdung Ihrer eigenen Parteien in
Grenzen zu halten, brauchen Sie aber einen Konsens mit
denen, die das, was Sie jetzt lernen, schon immer so gesehen haben, und mit denen - teilweise sind sie in Ihrer
eigenen Partei -, die das immer noch nicht so sehen wollen. Wir Grüne sind uns unserer Verantwortung durchaus
bewusst. Wir wollen unsere Verantwortung gerne dafür
übernehmen, dass es in dieser Gesellschaft über die Parteien hinaus einen breiten Konsens gibt; denn wir wissen
so gut wie Sie, dass Sie einen gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage ohne die Grünen nicht bekommen
werden.
({0})
Wir sind uns aber auch der Verantwortung bewusst, dass
gerade wir ganz genau darauf achten müssen, dass Ihre
Vorlage zum Atomausstieg und das, was wir hinterher
beschließen sollen, die Lehren aus Fukushima tatsächlich berücksichtigt. Da haben wir noch Beratungsbedarf.
Nehmen wir das Thema Sicherheit. Wo findet man
das Thema Sicherheit in Ihrem Gesetzentwurf? Um Sicherheit zu gewährleisten, bedarf es gar nicht viel: NehSylvia Kotting-Uhl
men Sie § 7 d Atomgesetz zurück, der die Sicherheitsanforderungen relativiert.
({1})
Dann würde wieder der Stand von Wissenschaft und
Technik gelten, den bekanntermaßen nichts toppen kann.
Auf dem Stand von Wissenschaft und Technik führen
wir dann Sicherheitsanalysen durch, für die mehr Zeit
zur Verfügung steht, als Sie der RSK gegönnt haben, und
stellen anschließend Nachrüstanforderungen. Dann haben wir für die Sicherheit etwas getan.
({2})
Zu dem von Ihnen angestrebten Ziel der Unumkehrbarkeit. Wir wissen: Gesetze kann man ändern, auch
Meinungen können sich ändern. Wir erleben das gerade
sehr häufig, in regelmäßigem Turnus.
({3})
- Ja, man kann alles ändern. - Wenn es Ihnen aber ernst
damit ist, so nah wie möglich an das Ziel der Unumkehrbarkeit heranzukommen, frage ich Sie: Warum schieben
Sie das Ende des Atomausstieges, von heute aus gesehen, in eine dritte Legislatur? Das ist ja eine längere
Frist, als in der Empfehlung der Ethik-Kommission vorgesehen. In dieser dritten Legislatur, nach der dritten
Bundestagswahl, stehen theoretisch noch sechs Kraftwerke zur Abschaltung an. In diesem Zusammenhang
möchte ich Herrn Töpfer zitieren, der auf meine Frage
hin gestern sagte: Wir wollten nicht, dass der Ausstieg
2021 beginnt, sondern dass er 2021 endet.
({4})
Was aber vor allem fehlt, ist eine Konkretisierung Ihrer angekündigten Bereitschaft, sich auf eine ergebnisoffene Endlagersuche zu begeben. Wenn Sie sagen, Sie
wollen andere Gesteinsformationen prüfen, so ist das ein
bisschen dünn.
Die neueste Vorschrift im Gesetz dazu ist die Enteignungsklausel für Gorleben, die Lex Gorleben. Ich sage
Ihnen: Das überzeugt niemanden. Wer eine Endlagersuche ernst meint, damit beginnen und ein Gesetz dazu
erlassen will, der kommt ohne einen Baustopp in Gorleben nicht aus. Niemand wird Ihnen abnehmen, dass Sie
es wirklich ernst meinen.
Darüber hinaus sage ich Ihnen: Ohne den Brandherd
dort zu befrieden, werden Sie keinen gesellschaftlichen
Konsens herstellen können. Voraussetzung für einen solchen Konsens ist ein Baustopp in Gorleben.
({5})
Ihre Vorlage ist Ausdruck eines Lernprozesses. Ich
hoffe, dass wir in den Beratungen der nächsten Wochen
- die Zeit ist kurz genug, aber wenn man sich anstrengt,
ist es möglich - das, was Ausdruck Ihres Lernprozesses
ist, gemeinsam so verbessern, dass es den Lehren aus
Fukushima entspricht.
({6})
Das Wort hat nun Bundesminister Norbert Röttgen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Alois Glück, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, hat heute erklärt,
die Energiewende sei die größte Herausforderung für
Deutschland und die deutsche Gesellschaft seit der Wiedervereinigung.
Ich füge hinzu, dass nach meiner Auffassung mit diesem Projekt auch die größten Chancen für unser Land
verbunden sind, die es seit langem gegeben hat. Dabei ist
die Lage nicht so, wie sie vor zehn Jahren war. Frau
Kotting-Uhl, Sie haben gerade auf Fukushima hingewiesen. Das war am 11. März dieses Jahres. Fukushima war
und ist - das haben wir übereinstimmend festgestellt eine Zäsur. Fukushima ist eine neue Menschheitserfahrung: die Erfahrung der Nichtbeherrschbarkeit der Kernenergie in einem Hochtechnologieland. Eine Gesellschaft darf das aufnehmen, eine Gesellschaft sollte das
aufnehmen. Die Politik ist ebenfalls gut beraten, wenn
sie aus den weltweiten Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gemacht worden sind, lernt.
Darum ist die Situation heute nicht die gleiche wie
vor zehn Jahren. Vor zehn Jahren hat es keine Einladung
an die Opposition gegeben, zu einem parteiübergreifenden, fraktionsübergreifenden gesellschaftlichen Konsens
zu kommen, wie sie heute zum Beispiel Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion ausgesprochen
hat.
({0})
Es hat auch keine Einladung an die Ministerpräsidenten
gegeben, in dieser Frage zu einem Konsens zu kommen.
({1})
Heute befinden wir uns in der Konsensbildung an einer
ganz anderen Stelle als vor zehn Jahren.
({2})
Das ist eine positive Entwicklung in Deutschland.
({3})
Vor zehn Jahren gab es auch noch nicht 17 Prozent
Anteil der erneuerbaren Energien am Strom. Dieser Prozentsatz hat sich erheblich gesteigert.
({4})
Die technologisch-industriellen und ökonomischen
Möglichkeiten, die wir heute haben, bedeuten eine große
Chance. Wir sollten sie gemeinsam ergreifen. Die Botschaft an die Bevölkerung muss heute sein,
({5})
Gemeinschaft, Gemeinsinn und damit eine große
Chance für Deutschland zu realisieren. Das muss unsere
Debatte bestimmen.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass es um Gemeinsamkeit
und Gemeinschaft geht.
({7})
- Das möchte ich jetzt gern ausführen, Herr Kollege
Fell. - Das Wesen der Demokratie ist nicht Harmonie
und auch nicht, dass wir alle einer Meinung sind und immer das Gleiche wollen. Zum Wesen der Demokratie gehören vielmehr Kontroverse und Auseinandersetzung als
ein Funktionselement oder ein Lebenselement von Demokratie. Einer Demokratie tut es gut, ja es ist geradezu
notwendig für eine gute Entwicklung, dass eine Gesellschaft auch in der Lage ist, über Grundfragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung einen
Konsens zu erreichen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell?
Nein. Ich habe ja gesagt, dass ich gleich gerne darauf
zurückkomme.
Ich finde es positiv - es gehört doch zu unserer gemeinsamen Erfahrung -, dass wir in der Kontroverse, in
dem Kampf zwischen Kapital und Arbeit, in der sozialen
Marktwirtschaft einen Ausgleich gefunden haben. Es gehört zu unseren positiven Erfahrungen, dass wir in dem
Konflikt zwischen Friedensziel und der Bereitschaft zu
militärischen Einsätzen einen Ausgleich gefunden haben. Es ist für manche sehr schmerzhaft, diesen Weg zu
gehen, aber es ist doch Ausdruck von demokratischer
Entwicklung und Reife, dass man sich selber korrigiert
und zu neuen gemeinschaftlichen Positionen kommt. In
diesen Kontext stelle ich, dass wir in Deutschland zu der
Überzeugung kommen, dass es keinen Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie gibt, sondern dass es ein
großes Ziel ist, die Bewahrung der Lebensgrundlagen,
die Bewahrung der Schöpfung in unsere Vorstellung und
Konzeption von Wachstum, Industrie und Wirtschaft zu
integrieren. Damit erreichen wir in Deutschland ein großes Ziel und einen wichtigen Ausgleich.
({0})
Wir sollten den Blick nicht zurückwenden, sondern
die Chancen für unser Land ergreifen, indem wir fragen:
Welche Möglichkeiten bietet die Situation jetzt für die
Zukunft?
({1})
Diese Regierung ist entschlossen, diesen Weg zu gehen.
Wir sind entschlossen, den gesellschaftlichen Konsens,
den es in Deutschland gibt, in Politik und Gesetzgebung
zu realisieren.
({2})
Frau Kotting-Uhl, das, was Sie gerade gesagt haben,
war, glaube ich, falsch. Sie haben eben gesagt: Die Grünen entscheiden darüber, ob es Konsens in der Gesellschaft gibt.
({3})
- Wir können es ja im Protokoll nachlesen. Ich habe Ihrer Rede zugehört.
({4})
Ich glaube, niemand - keine Person, kein Mitglied
des Bundestages, keine Fraktion - sollte sich zu wichtig
nehmen. Die Gesellschaft möchte diesen Konsens, und
wir als Parteien disponieren nicht darüber, ob die Gesellschaft Frieden, Konsens und Fortentwicklung will. Dieses Recht hat keine Fraktion und keine Partei. Wir jedenfalls wollen diesem Bedürfnis entsprechen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage
der Kollegin Kotting-Uhl?
Bitte. Ich habe sie ja angesprochen.
Herr Dr. Röttgen, wir neigen nicht zu Überheblichkeit, auch wenn dies hier oft behauptet wird.
({0})
Ich erlaube mir, zu zitieren - ich glaube, das kann ich
ziemlich genau -, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt,
dass wir - so gut wie wohl auch Sie - wissen, dass es in
dieser Frage ohne die Grünen keinen gesellschaftlichen
Konsens geben wird. Stimmen Sie mir da zu?
({1})
Genau so hatte ich Sie verstanden und wollte ich Sie
zitieren. In dieser Selbsteinschätzung stimme ich Ihnen
ausdrücklich nicht zu. Die Grünen entscheiden nicht darüber, ob es in Deutschland einen gesellschaftlichen
Konsens gibt. Vielmehr ist der gesellschaftliche Konsens
da,
({0})
und Sie müssen sich entscheiden, ob Sie Teil des gesellschaftlichen Konsenses sind oder ob Sie außen vor bleiben.
({1})
Das ist die Frage, die Ihnen Schmerzen bereitet. Darum
habe ich Verständnis für manche Rede, die Sie halten.
Für die Zerrissenheit bei Ihnen habe ich Verständnis,
über die mache ich mich auch nicht lustig, sondern die
nehme ich sehr ernst.
({2})
Für Sie stellt sich die Frage, ob Sie jetzt Gesetzentwürfen, die von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden
sind und in denen der Ausstieg aus der Kernenergie und
der Einstieg in die erneuerbaren Energien zeitlich definiert werden, zustimmen.
({3})
Die Gesetzentwürfe wurden von den Koalitionsfraktionen und nicht von Ihnen eingebracht. Das ist der Punkt,
mit dem Sie sich auseinandersetzen müssen.
({4})
Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sich nicht so wichtig,
sondern stellen auch Sie sich in den Dienst der Fortentwicklung der Gesellschaft! Das ist Ihre Aufgabe und
Verantwortung. Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht, und verfolgen Sie nicht parteipolitische Interessen!
({5})
Wir haben viel erreicht. Sie müssen sich jetzt entscheiden, ob Sie zustimmen oder außen vor bleiben. Wir
haben eine ethische Haltung zur Kernenergie und zur
Bewertung des Risikos der Kernenergie erreicht. Die
Bundeskanzlerin hat das ausgeführt. Sie hat die ethischen Aspekte genannt, die uns zu der Entscheidung
zum Ausstieg führen, nämlich dass wir im Hochtechnologieland Japan erneut die Erfahrung der Nichtperfektion des Menschen, der Nichtbeherrschbarkeit der Natur
und der Nichteingrenzbarkeit der Schäden gemacht haben.
({6})
Das ist eine Erfahrung, die die Menschheit gemacht
hat. Daraus ziehen wir die ethische Konsequenz, dass es
geboten ist, die wirtschaftliche Nutzung dieser Technologie zu beenden. Schon allein deshalb, weil wir eine
bessere Alternative haben, ist die Beendigung richtig
und ethisch fundiert. In dieser Frage besteht ein ethischer Konsens.
({7})
Wir haben daraus allerdings auch eine Konsequenz in
anderer Richtung gezogen - auch dies ist ein Unterschied zur Situation vor zehn Jahren -: Die rot-grüne
Ausstiegskonstruktion sah eine nicht befristete, eine
zeitlich nicht bestimmte Übertragung von Strommengen
vor. Nach dem Gesetz von 2002, dem Ausstiegsgesetz
von damals, wäre es ganz sicher nicht zur Beendigung
der Nutzung der Kernenergie bis zum Jahre 2022 gekommen. Vielmehr wäre die Kernenergie bis weit in die
Mitte des nächsten Jahrzehnts genutzt worden.
Der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, bietet
durch die vorgesehene zeitliche Staffelung die Chance,
Klarheit zu schaffen. Für die Gesellschaft, aber auch für
die Investoren wird Klarheit bestehen, wohin die Investitionen jetzt fließen müssen, wenn man eine Rendite erzielen will. Das ist ein wesentlicher Vorzug dieses Gesetzentwurfes und eine wesentliche Veränderung im
Vergleich zu der Gesetzeslage, die Sie hier beschlossen
haben. Nehmen Sie das zur Kenntnis.
({8})
Das ist auch nicht Hysterie und nicht Panik, sondern eine
rationale, eine ethische Bewertung, die auch von der großen Mehrheit der Gesellschaft so vorgenommen wird.
({9})
Dass Gesetzgebung, Politik und Parlament dies aufnehmen, ist positiv.
Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage
der Kollegin Hendricks?
Nein.
({0})
Ich möchte den zweiten Konsens, den wir erreicht haben, darstellen. Die Energiefrage betraf in Deutschland
immer den Kern von Industrie. Darum ist die Frage einer
neuen Energiepolitik auch eine Frage der wirtschaftlichen Modernisierung unseres Landes. Wir wollen nämlich Industrieland bleiben, und wir werden Industrieland
bleiben.
({1})
Wir wollen wirtschaftliches Wachstum, und wir werden
es erzielen. Durch die neue Energiepolitik wollen wir
das wirtschaftliche Wachstum nicht begrenzen und die
Industrie nicht einschränken. Vielmehr geht es um wirtschaftliche Modernisierung und technologische Innovation, die unserem Land guttun werden, auch bei der Entwicklung der Industrie.
({2})
Manche sagen: Ihr müsst investieren; das kostet doch
Geld. - Ja, klar. Glauben wir denn, dass wir als führendes Industrieland in einem Billigwettbewerb bestehen
könnten? Glauben wir denn, dass wir unsere Technologieführerschaft und unsere wirtschaftliche Spitzenstellung dadurch behalten, dass wir nicht in Infrastruktur,
Energieerzeugung und Industrie investieren? Nein, diese
neue Energiepolitik ist ein Investitionsprogramm, sie ist
ein Modernisierungsprogramm, und sie ist ein Innovationsprogramm. Sie leistet einen Beitrag dazu, dass wir
ein führendes Industrieland bleiben werden. Darum ist
die Frage „Kostet der Strom dann 0,3 Cent oder 0,8 Cent
pro Kilowattstunde mehr?“ falsch.
({3})
Die Kosten werden beherrschbar sein. Das sind Investitionskosten zum Nutzen unseres Landes. - Das ist der
Konsens, den wir erreicht haben.
({4})
Wir müssen dafür eine weitere Veränderung vornehmen, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz betrifft. Seinen Ursprung hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz übrigens im Stromeinspeisungsgesetz, das 1991 in Kraft
getreten ist; bei diesem Thema sollte man also etwas
weiter in die Vergangenheit blicken. Das Stromeinspeisungsgesetz wie auch jetzt das Erneuerbare-EnergienGesetz sind im Wesentlichen - bislang war das auch
richtig - ein Fördergesetz bzw. ein Subventionsgesetz,
um Technologien, die noch nicht wettbewerbsfähig sind,
in den Markt zu bringen.
Wir haben es geschafft, den Anteil erneuerbarer Energien an der gesamten Stromproduktion auf 17 Prozent
im Jahr 2010 zu erhöhen. Im Laufe von gut zehn Jahren
kam es zu einer Vervielfachung des Anteils erneuerbarer
Energien. Jetzt wollen wir eine weitere Verdopplung
oder sogar eine Verdreifachung erreichen. Der Anteil der
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung soll sich
bis 2050 auf 80 Prozent erhöhen. Die Grundversorgung
mit Strom soll dann durch den Einsatz erneuerbarer
Energien gewährleistet werden. Das kann man aber nicht
mehr auf der Basis eines Subventionsgesetzes leisten.
Daher muss sich der Charakter des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verändern: von einem Subventionsgesetz
zu einem Marktordnungsgesetz. Wir wollen diese Technologien in den Markt führen. Dort sollen und werden
sie sich bewähren.
({5})
Auch dies ist ein Unterschied zu früher: Wir setzen
nicht auf planwirtschaftliche Steuerung, sondern auf
marktwirtschaftliche Instrumente und Ordnung. Wir
glauben, beides miteinander verbinden zu können: eine
ökologische Ausrichtung in der sozialen Marktwirtschaft. Das ist jedenfalls unsere konkrete Vision. Ich
glaube, dies wird auch von der Bevölkerung gewollt.
Dritter Punkt. Was bedeutet das im Hinblick auf
Wachstum? Es wird gesagt: Das ist ein Sonderweg; unsere Nachbarn sind irritiert. - Selbstverständlich beobachten unsere Nachbarn, was in Deutschland passiert.
Sie fragen sich: Ist das richtig? Muss uns das besorgen?
Inwiefern sind wir davon betroffen?
Ich glaube, zum Konsens in unserer Gesellschaft gehört, dass wir Wachstum anders verstehen müssen. Zwei
Missverständnisse, zwei historische Fehlverständnisse
von Wachstum dürfen wir nicht beibehalten.
Das eine ist aus meiner Sicht der postmaterialistische
Irrtum, wir könnten und sollten auf Wachstum verzichten, um die Natur zu schützen. Wir werden ohne Wachstum keine erfolgreiche solidarische Gesellschaft sein
und bleiben. Darum gehört das Wachstumsbekenntnis in
diese Debatte. Wir sind eine Gesellschaft, die nur aufrechtzuerhalten ist, wenn es Wachstum gibt.
({6})
Zum anderen geht es darum, die Grenzen der Natur in
unsere Vorstellung und unsere Konzeption von Wachstum zu integrieren. Wachstum darf nicht mehr, wie es
seit der Industriealisierung der Fall war, durch den Verbrauch und die Zerstörung von Natur, durch Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen entstehen.
({7})
Die neue Vorstellung von Wachstum besteht darin, dass
wir die technologische Entwicklung, wie es sie beispielhaft in der Energieversorgung gibt, in unsere Industrieund Wachstumspolitik integrieren. Es ist nicht mehr derjenige der Gewinner, der am meisten Ressourcen verbraucht. Wir gewinnen den Wettbewerb um mehr Wohlstand und mehr Gerechtigkeit in unserer Zeit nur dann,
wenn wir mit immer weniger Verbrauch von Natur und
Ressourcen immer mehr produzieren. Das ist unser Ziel.
Darin besteht der Wettbewerb unserer Zeit, und wir wollen diesen Wettbewerb gewinnen.
({8})
Neu ist schließlich die Chance auf einen Konsens.
Wir brauchen diesen Konsens, weil es eine nationale
Pioniertat ist, für die wir alle brauchen: die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Mittelständler, die großen Unternehmen, die Kommunen, die Länder, den Bund und
auch die Bürger, die mitmachen, die sich in Energiegenossenschaften zusammenschließen und Energieerzeuger werden, die nicht nur passive Verbraucher sind, sondern über intelligente Systeme und Zähler selber
bestimmen können, wann sie welchen Strom verbrauchen.
Ein Teil dieses Konsenses ist der Konsens über die sichere dauerhafte Lagerung von hochradioaktiven Abfällen. Auch hier gibt es eine Veränderung hinsichtlich der
Wahrnehmung nationaler Verantwortung, und ich
glaube, das sollten wir sehr positiv würdigen. Aber auch
an dieser Stelle muss Klarheit herrschen. Die Augen zu
verschließen und nicht zu untersuchen, führt nicht zum
Ziel. Wir haben diese radioaktiven Abfälle. Es ist in unserer Verantwortung, sie dauerhaft sicher zu lagern. Darum ist es falsch, zu sagen: Wir machen ein Moratorium
und beschäftigen uns nicht mit dieser Frage. - Natürlich
muss die Eignung des Standorts Gorleben unter Beteiligung der Öffentlichkeit ergebnisoffen - ich betone und
unterstreiche das: ergebnisoffen - geprüft werden.
({9})
Es müssen aber - über Gorleben hinaus - auch andere
Optionen der Endlagerung, andere geologische Formationen untersucht werden. Auch das ist eine neue Entwicklung hin zum Konsens in dieser Gesellschaft.
Ich sage darum heute auch an die Bevölkerung gerichtet: Das ist eine veränderte Situation. Hier entsteht
ein gemeinschaftlicher Wille, und ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass das zum Nutzen unseres Landes ist. Der
Erfolg, den wir haben werden, wird über unser Land hinausstrahlen, ein positiver Beitrag sein und ein Beispiel
dafür geben, dass es in einem Hochtechnologieland, im
Industrieland Deutschland möglich ist, die Bewahrung
der Lebensgrundlage und der Schöpfung mit einer klaren
Wachstums- und Industriepolitik zu verbinden. Das ist
eine große Chance. Wir sollten sie gemeinschaftlich ergreifen.
({10})
Das Wort zu zwei Kurzinterventionen erteile ich zunächst Hans-Josef Fell und dann Bärbel Höhn.
Herr Minister Röttgen, Sie haben gerade gesagt, die
erfolgreiche Entwicklung der erneuerbaren Energien
müssten wir gemeinsam weiterführen. Sinngemäß haben
Sie gesagt, es gebe dafür in der Bevölkerung eine große
Akzeptanz und auch Innovations- und Investitionsbereitschaft. Ich kann diese Worte nur unterstreichen; ich halte
das für richtig. Ich frage Sie aber: Warum haben Sie einen Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG vorgelegt,
mit dem exakt das Gegenteil bewirkt wird?
Wir hatten gestern im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages eine vierstündige Anhörung zur geplanten Reform des EEG. Die Verbändevertreter haben
diesen Gesetzentwurf aufgrund vieler Details schlichtweg zerrissen und ihn als klare Bremse für den Ausbau
der erneuerbaren Energien bezeichnet.
Der Bundesverband WindEnergie hat beispielsweise
gesagt, dass es wegen der von Ihnen angekündigten Verschlechterungen bei der Onshorewindvergütung schon
jetzt eine Investitionszurückhaltung in den südlichen
Bundesländern gibt. Der Vorsitzende des Bundesverbandes BioEnergie, Herr Lamp, ein ehemaliger CDU-Kollege dieses Hohen Hauses, hat gesagt: Wenn das, was an
Vorstellungen zur Bioenergie in diesem Gesetzentwurf
enthalten ist, Realität wird, werden wir die Bioenergie in
wenigen Jahren nicht mehr wiedererkennen. Er hat Details genannt und kopfschüttelnd gefragt, warum die Vergütung für Bioöle völlig abgeschafft wird. Zu einem
Zeitpunkt, wo wir eine Nachhaltigkeitsverordnung auf
den Weg gebracht haben, kann das doch nicht der Weg
zu einem Ausbau der erneuerbaren Energien sein.
Die Solarenergiebranche hat gesagt, sie verstehe die
Welt nicht mehr. Sie will große Investitionen beispielsweise in Freiflächenanlagen tätigen, um mehr Netzstabilität, Netzintegration und Speicherfähigkeit zu erreichen.
Sie hat aber angesichts des Gesetzentwurfs, in dem die
Ackerflächen nicht mehr berücksichtigt werden, keine
Chance, in diese Bereiche zu investieren.
Das alles ist eine Folge der Rahmenbedingungen, die
Sie schaffen wollen. Die Deckelung des Anteils erneuerbarer Energie auf 35 Prozent bis zum Jahr 2020 stellt
keinen beschleunigten Ausbau dar. Frau Merkel hat es in
ihrer Rede noch einmal betont: Sie wollen über die Deckelung der EEG-Umlage auf 3,5 Cent eine Gesamtdeckelung für den Ausbau erneuerbarer Energien erreichen. Herr Fuchs hat hier mit ganz klaren Worten gesagt,
die Solarenergie solle gedeckelt werden. Wie soll denn
ein Ausbau erneuerbarer Energie noch möglich sein,
wenn Sie im Detail solche Hemmnisse einbauen?
({0})
Es wird keinen Ausbau geben, wenn erfolgen wird, was
Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen.
Ich fordere Sie daher auf: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück, und treten Sie in Verhandlungen mit der
Branche ein! So haben wir eine Chance, den Ausbau der
erneuerbaren Energien, der gesamtgesellschaftlich gewünscht wird, auch wirklich voranzutreiben.
({1})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Die
drei Minuten für die Kurzintervention sind abgelaufen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({0})
- Dann hat jetzt Kollegin Bärbel Höhn das Wort und anschließend Barbara Hendricks, die sich ebenfalls zu einer Kurzintervention gemeldet hat. Danach gibt es keine
weiteren Kurzinterventionen zu dieser Rede.
Herr Präsident, ich brauche keine Redezeit von drei
Minuten. - Herr Minister Röttgen, Sie haben eben darauf
hingewiesen, dass es jetzt an der Zeit ist, miteinander zu
verhandeln, und dass Sie einen gesellschaftlichen Konsens wollen. Wir wollen mit Ihnen verhandeln. Ich
möchte darum bitten - dazu werde ich Ihr Büro anrufen -,
dass wir einen Termin vereinbaren. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne wissen: Wer hat Prokura?
Sollen wir mit Herrn Kauder, mit Ihnen oder mit der
Kanzlerin reden?
Wir haben eben gefragt, ob es in Gorleben einen Baustopp gibt. Wir sind der Meinung, dass es keine ergebnisoffene Suche geben kann, wenn Sie Fakten schaffen. Wir
wollen auch gerne wissen, was Sie zur Sicherheit sagen.
Vor einem halben Jahr haben Sie gesagt, Sie seien der
Minister für Sicherheit. Nach Fukushima sehen wir aber
keinerlei zusätzliche Sicherheitsanstrengungen bei den
Atomkraftwerken. Ich werde also mit einem Terminwunsch auf Sie zukommen. Ich erwarte, dass wir einen
Termin vereinbaren und dass wir Grüne mit Ihnen über
die uns wichtigen Punkte des Gesetzentwurfs reden.
({0})
Nun hat Barbara Hendricks das Wort zu einer letzten
Kurzintervention.
Herr Minister, Sie haben durchaus versucht, Ihre inhaltliche Neupositionierung argumentativ zu überhöhen.
In dem Zusammenhang haben Sie zum Beispiel gesagt,
es sei eine neue ethische Erkenntnis, dass der Mensch
nicht unfehlbar und die Technik deswegen nicht immer
beherrschbar sei. Ich habe einmal nachgeschaut und herausgefunden, dass Sie derselben christlichen Kirche angehören wie ich. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, dass es für einen Christen eine neue ethische
Erkenntnis ist, dass der Mensch nicht unfehlbar sei und
dass die vom Menschen erschaffene Technik nicht immer beherrschbar sei.
({0})
Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Herr Kollege Fell, es ist ja der erste Versuch, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. Sie stellen aber Behauptungen auf, die sachlich falsch sind.
({0})
- Ich rede von dem Gesetzentwurf, den Sie kritisiert haben, und zwar im Tonfall der Empörung. Ich frage mich
immer, was die wahren Gründe dafür sind.
Sie haben gesagt, es gebe beim Ausbau der erneuerbaren Energien eine Deckelung auf 35 Prozent. Das ist
Unsinn; das steht nicht im Gesetzentwurf, das schlagen
wir nicht vor. An dieser Stelle können Sie Ihre Empörung ein Stück zurückschrauben. Es gibt keine 35-Prozent-Deckelung, sondern diese 35 Prozent sind eine
Mindestgröße. Wir glauben, dass wir vielleicht sogar
noch mehr erreichen können. Aber unsere Aufgabe ist
es, innerhalb von neun Jahren mehr als eine Verdoppelung des bisherigen Anteils auf mindestens 35 Prozent
zu erreichen. Das ist ein anspruchsvolles Ziel. Wenn wir
von 40 Prozent gesprochen hätten, hätten Sie wahrscheinlich erklärt, 40 Prozent seien zu wenig, es müssten
mindestens 45 Prozent sein. Insofern müssen Sie sich
selber einmal fragen, ob Sie noch realistische Ziele verfolgen und realistische Oppositionspolitik machen. Es ist
ein Mindestziel, keine Deckelung.
Genauso gibt es bei der EEG-Umlage keine Deckelung auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde. Allerdings wollen
wir das EEG so ausgestalten, dass wir diese Größenordnung halten und langfristig absenken können; denn diese
bezahlen die Verbraucher. Es klingt schön, wenn in den
Reden immer mehr gefordert wird, aber diese Rechnung
wird ohne den Wirt gemacht. Der Wirt ist der ganz normale Bürger und die ganz normale Bürgerin in Deutschland.
({1})
Damit bin ich bei Ihrer Anhörung. Ich rede mit den
Verbänden und respektiere sie, weil sie die Vertreter der
Interessen von Unternehmen sind. Sie sind keine Träger
von Allgemeinwohlbelangen, sondern sie sind Vertreter
wirtschaftlicher Interessen,
({2})
die sich dafür einsetzen, dass die Subventionen für ihre
Unternehmen möglichst hoch sind, um das einmal klar
zu sagen. Sie sollten zu diesen Vertretern wirtschaftlicher Interessen die gleiche Distanz haben, die Sie zu anderen Vertretern wirtschaftlicher Interessen haben, nicht
weil sie etwas Illegitimes tun, sondern weil sie legitim
ihre ureigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen,
und je höher die Subventionen sind, desto erfolgreicher
war der Verband. Auf diese Verbände haben Sie sich gerade bezogen. Ein bisschen Distanz zu ihnen ist schon
angemessen.
({3})
Ich kenne das. Subventionen zu senken, ist schmerzhaft. Stellen Sie sich ein Gesetz mit garantierten Subventionen vor, die immer höher werden sollen, und in diesem Gesetz soll festgeschrieben werden, dass die
Kilowattstunde bezahlt wird, unabhängig davon, ob dieBundesminister Dr. Norbert Röttgen
sen Strom irgendein Mensch braucht. So kann es nicht
bleiben. Wir müssen diese Subventionsabhängigkeit zu
einer Marktintegration dieser Branchen umlenken. Auch
diese Branchen müssen sich daran orientieren, ob man
das Produkt, das sie herstellen, braucht.
({4})
Ansonsten werden wir das nicht schaffen. Das ist doch
kein böser Wille. Wie soll denn eine Versorgung von
50 oder 80 Prozent mit erneuerbaren Energien gelingen,
wenn Strom unabhängig davon produziert wird, ob ihn
irgendein Mensch braucht? Wir müssen auch in diesen
Bereich ein bisschen Nachfrageorientierung und Markt
hineinbringen, sonst werden wir scheitern. Mit gutem
Willen allein kann man keine Energieversorgung erreichen, Herr Kollege.
({5})
Das war das, worauf ich kurz hinweisen wollte. Wenn
man all das einmal nüchtern und sachlich betrachtet,
dann stellt man fest, was da an positiven Veränderungen
stattfindet. Ich wollte die Erfahrungen, die wir gemacht
haben, gerne noch mitteilen. Ihre Reden habe ich persönlich nicht alle nachgelesen. Ich habe vorher nicht historisch recherchiert, sondern habe heute in meiner Rede
nach vorne gesehen. Aber vielleicht lesen Sie einmal
Ihre Reden nach, als es um die erste Reduzierung der
Photovoltaikvergütung ging, die wir eingebracht und beschlossen haben. Sie haben damals den Tod der Branche
vorausgesagt. Sie sagten, ich sei der Totengräber, die Reduzierung sei so falsch, wie sie nicht falscher sein könne,
und auch die Branche sei dagegen. Was haben wir erlebt? Ein munteres und lebendiges Wachstum dieser
Branche, sodass wir im zweiten Anlauf eine nochmalige
Senkung der Vergütung vorgenommen haben, und zwar
im Konsens mit der Branche. Diese Branche hat gelernt,
dass es auf Dauer auch für sie keine Perspektive ist, nur
mit immer höheren Subventionen zu wirtschaften. Sie
hat gelernt, alleine erfolgreich zu sein. Ich empfehle dieses Lernbeispiel auch allen anderen.
({6})
Frau Höhn, wir können gerne einen Termin vereinbaren. Herr Brüderle hat sich schon gemeldet; er möchte
zum Gespräch hinzukommen.
({7})
- Gut, wer auch immer. - Es geht aber nicht darum, dass
wir jetzt verhandeln. Wir befinden uns in einer parlamentarischen Beratung. Es hat eine Anhörung stattgefunden. Es gibt selbstverständlich die Offenheit, auf
vernünftige Anregungen einzugehen, miteinander zu
diskutieren, um zu einem gemeinschaftlich guten Ergebnis zu kommen. Wir sind aber doch keine Verhandlungsparteien, die sich gegenüberstehen. Vielleicht versuchen
Sie einmal, sich dem Gedanken zu öffnen, dass es hier
darum geht, ein nationales Werk zu schaffen, von dem
alle profitieren. Wir sollten uns in den Dienst der nationalen Sache stellen. Das wäre doch einmal ein Ansatz,
an ein solches Thema heranzugehen.
({8})
Frau Hendricks, es ging doch nicht um die neue anthropologische Erkenntnis der Beherrschbarkeit bzw.
Nichtbeherrschbarkeit der Natur und der Begrenztheit
auch des Menschen. Ich habe die Positionierung des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
Kardinal Höffner, aus dem Jahr 1980 nachverfolgt. Er
hat aus dem Spannungsfeld zwischen einerseits dem minimalen bzw. klitzekleinen Risiko der Eintrittswahrscheinlichkeit und andererseits der Nichtbegrenzbarkeit
der Schäden heraus für sich damals die Position bezogen: Weil die Schäden so immens und nicht begrenzbar
sind und weil sie sich über Generationen fortsetzen, verlange ich absolute Sicherheit. Die gibt es - naturwissenschaftlich und anthropologisch - nicht. Darum gab es
vor 30 Jahren die ethische Positionierung von Kardinal
Höffner und übrigens - auch damals schon - der Deutschen Bischofskonferenz gegen die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie. Aber Kardinal Höffner hat niemals gesagt: Das kann man gar nicht anders sehen.
Vielmehr geht es darum, wie eine Gesellschaft mit Risiken umgeht, welche sie bereit ist hinzunehmen und in
Bezug auf welche sie sich zutraut, zu sagen: Das können
wir beherrschen. Weil wir alles tun, sind wir in der Lage,
mit dieser Technologie umzugehen. - Das ist übrigens
eine der Grundfragen moderner Gesellschaften bzw. Risikogesellschaften. Dabei geht es um eine der ernstesten
Diskussionen unserer Zeit. Darum sind Sie, glaube ich,
etwas oberflächlich mit dieser Frage umgegangen, Frau
Kollegin.
Ich glaube, dass die Frage der ethischen Verantwortung in der Risikogesellschaft eine der Grundfragen auch
zukünftiger technologischer Entwicklung sein wird. Übrigens sind auch die erneuerbaren Energien nicht nur
gut; auch sie führen zu Eingriffen und Belastungen, auch
da gibt es Konflikte. Das wird eine uns immer begleitende Frage sein, nämlich die ganz konkrete Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfung.
Diese ganz konkrete Bestimmung haben wir hier an einer Stelle vorgenommen. Ich glaube, dass sie richtig ist
und auch in der Gesellschaft mit vollzogen wird.
Danke sehr.
({9})
Das Wort in der Debatte hat nun Rolf Hempelmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In der Debatte, die jetzt für einige Zeit unterbrochen war,
haben Sie - da muss man, glaube ich, den Rednern der
Regierungskoalition ein Kompliment machen - ein unglaubliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Wenn man
bedenkt, dass Sie heute, zum Beispiel Herr Röttgen, den
Atomausstieg teilweise mit den gleichen Worten begründet haben wie vor einem halben Jahr die Laufzeitverlängerung - also das komplette Gegenteil -, kann man nur
sagen: bewundernswert, ganz toll. Nachdem Sie den
Karren sozusagen vor die Wand gefahren haben, begehen Sie außerdem Fahrerflucht und zeigen auf alle anderen, die es gewesen sein sollen.
({0})
Sie sind diejenigen, die meinen, uns jetzt daran erinnern
zu müssen, dass zum Ausstieg aus der Kernenergie auch
der Einstieg in etwas Neues gehört. Meine Damen und
Herren, das ist Chuzpe.
Ich will Sie daran erinnern, dass wir es mit unserer
Gesetzgebung waren, die dafür gesorgt haben, dass aus
5 Prozent erneuerbare Energien im Strombereich
17 Prozent geworden sind.
({1})
Das ist nicht von allein geschehen. Wir haben mit dem
Atomausstieg und durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz die Rahmenbedingungen gesetzt, die diese Investitionen überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir waren es, die das, was Sie jetzt als Forderungsliste
aufgestellt haben, schon längst begonnen hatten. Ihre
Forderungsliste - damit spreche ich beispielsweise Frau
Hasselfeldt an - ist im Grunde genommen Ihre Blockadeliste. Ich kann das im Einzelnen aufführen.
Sie sagen, Sie sorgen jetzt dafür, dass endlich auch in
Effizienz investiert wird. Sie haben Fortschritte bei der
effizientesten Form der Energieumwandlung, der KraftWärme-Kopplung, verhindert.
({2})
Sie haben in Ihrer jüngsten Regierungszeit die KraftWärme-Kopplung sogar noch mit zusätzlichen Auflagen
erschwert.
Sie haben auf der Nachfrageseite, also da, wo Energieeffizienz sozusagen beim Kunden beginnen soll,
schon in der schwarz-roten Koalition alle unsere Ansätze
blockiert, die - das propagieren Sie heute - etwa über einen Energieeffizienzfonds Haushalte beim effizienteren
Umgang mit Energie unterstützt hätten.
Sie haben die Industrie in den letzten anderthalb Jahren nicht etwa unterstützt, wie Sie das heute gefordert
haben, sondern ihr zusätzliche Kosten auferlegt. Sie haben für die Industrie die Ökosteuer erhöht, wenn auch
nicht in dem Umfang, wie es die Regierung zunächst
vorgeschlagen hatte. Jetzt tun Sie so, als seien Sie der
Erfinder einer industriefreundlichen Politik, in der Erkenntnis, dass wir nur durch das Vorhandensein einer
vernetzten Industrie besser aus der Krise herausgekommen sind als viele andere.
Sie haben, um beim Thema Energieeffizienz zu bleiben, das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm
zusammengestrichen.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in Sachen Energiewende Nachhilfeunterricht nötig und müssten nicht
nur lernen, wie man aussteigt, sondern auch umsteigt,
dann sagen wir Ihnen: Wir waren schon lange auf dem
Weg und hätten schon sehr viel weiter sein können. Sie
haben das auch schon in Zeiten unserer schwarz-roten
Koalition blockiert.
({3})
Ich könnte die Aufzählung fortsetzen, wie Sie beispielsweise beim Netzausbau neue Technologien blockiert und beim Speicherausbau notwendige Anreize
verhindert haben oder wie Sie - das haben Sie heute als
besondere Errungenschaft propagiert - in der letzten
Legislaturperiode verhindert haben, dass wir mit der Systemintegration der erneuerbaren Energien vorankommen. Dazu hatten wir schon Vorschläge vorgelegt. Jetzt
bewegen Sie sich. Aber die Marktprämie greift zu kurz;
das hat die Anhörung gestern gezeigt. Wir brauchen andere Instrumente. Ich hoffe, dass wir mit Ihnen gemeinsam zu Lösungen kommen.
Heute war viel von Konsens die Rede. Bei den meisten Rednern hat aber der Stil der Rede nicht wirklich in
Richtung Konsens gezeigt. Ich will eines klarstellen:
Eben wurde gesagt, die Opposition sei im Jahr 2000
nicht eingeladen gewesen, sich an einem Energiekonsens
zu beteiligen. Die Opposition hat sich damals Gesprächen verweigert. Sie war nicht an einem Konsens interessiert, der auf dem Atomausstieg aufbaut.
({4})
Jetzt haben wir eine völlig andere Situation. Für eine
Regierung ist es leicht, der Opposition Konsensgespräche anzubieten. Aber die Lage hat sich doch völlig umgekehrt. Erstens sind wir, die Opposition, zuerst auf Sie
zugegangen und haben Ihnen angeboten, Konsensgespräche zu führen. Zweitens sind Sie doch darauf angewiesen, mit uns zusammenzukommen. Denn - es ist
richtig, was hier gesagt worden ist, aber man darf es
nicht auf eine Fraktion beschränken - es ist wichtig, dass
wir als Politiker in dieser Frage mit einer Stimme sprechen. Ohne einen politischen Konsens wird ein gesellschaftlicher Konsens unglaublich schwierig.
({5})
Dabei geht es nicht nur um die Ausstiegsfrage und das
Tempo des Ausstiegs, sondern auch um die Frage, wie
wir Versorgungssicherheit schaffen wollen. Wie halten
wir es beispielsweise mit dem konventionellen Kraftwerkspark? Wie wollen wir es mit der Industrie halten?
Was sind wir bereit für sie zu tun?
Frank-Walter Steinmeier hat heute einiges zu diesem
Thema gesagt, und ich glaube, es ist ein zentrales
Thema. Wenn wir die Wertschöpfungskette in Deutschland verlieren, dann verlieren wir die Basis für unsere
Volkswirtschaft, und dann können wir uns alle hehren
Ziele auch im sonstigen energiepolitischen Bereich in
die Haare schmieren. Deswegen müssen wir sehr genau
darauf achten, was wir für die energieintensiven Unternehmen tun können. Dazu liegen Vorschläge vor, einige
davon seit langem. Bisher ist aber nichts passiert.
Nehmen wir das Thema „abschaltbare Lasten“. Viele
dieser Unternehmen können abgeschaltet werden. Das
ist ein hoher Wert, gerade wenn volatile Einspeisung zunimmt und wenn der Netzausbau noch nicht vollendet
ist. Das muss ausreichend honoriert werden. Die Kompensation der CO2-Lasten ist genannt worden. Ich sage
noch ein Weiteres: Diese Unternehmen sind Grundlaststromabnehmer. Sie bekommen ihren Strom aus Grundlastkraftwerken, bezahlen aber nach der Merit Order
praktisch einen Gas-Strompreis. Das ist nicht in Ordnung. Das muss man angehen, und auch dazu liegen Vorschläge auf dem Tisch.
Ich bitte Sie herzlich, mit diesen Vorschlägen konstruktiv umzugehen. Wir brauchen Lösungen. Wir sind
daran interessiert, mit Ihnen gemeinsam Lösungen zu
finden, die über Wahldaten hinaus halten. Das muss unser gemeinsames Ziel sein, allein schon deshalb, weil Sie
nur so die Akzeptanz für Infrastrukturinvestitionen in
diesem Land bekommen. Wenn wir das nicht schaffen
und am Ende weiter über Energiepolitik streiten, dann
wird sich der Streit in der Bevölkerung fortsetzen, und
dann werden Sie niemanden überzeugen können, vor Ort
Investitionen zuzulassen, die er eigentlich nicht haben
möchte. Also: Bitte keine Worthülsen, sondern ehrliches
Bemühen um einen parteiübergreifenden Konsens! Nehmen Sie die Angebote zu Gesprächen an! Ob Sie diese
Gespräche dann Verhandlungen oder Beratungen nennen, ist egal; aber sorgen Sie dafür, dass es möglich ist,
ausreichend und intensiv genug über einen möglichen
Konsens zu reden. Dann wird man am Ende vielleicht an
der einen oder anderen Stelle ein Auge zudrücken. Das
wird wahrscheinlich jeder müssen. Aber Sie sind es, die
ein vernünftiges Angebot machen müssen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wenn es auf dieser Seite des Hauses
auch nur annähernd so viel Sinn für Klamauk und theatralische Auftritte gäbe wie auf jener Seite des Hauses,
hätte ich eigentlich barfuß ans Rednerpult treten müssen;
denn nach der Rede von Herrn Steinmeier hat es mir
nicht nur die Schuhe, sondern auch die Socken ausgezogen.
({0})
Ich will auch gerne sagen, warum. Wer mit so viel falschem Pathos und Unaufrichtigkeit seine vergangene,
übrigens inzwischen abgewählte, Politik im Nachhinein
zu verklären versucht, der lebt nicht im Hier und Heute
und im Morgen, sondern in der Vergangenheit. Das ist,
glaube ich, das Grundproblem der Sozialdemokraten in
diesen Tagen, nicht nur bei diesem Thema. Sie leben in
der Vergangenheit. Kommen Sie mit! Machen Sie mit
bei der Gestaltung der Zukunft!
({1})
Wie schrieb doch die Stuttgarter Zeitung dieser Tage
so schön in einem Kommentar? Während Rot-Grün sich
aus der Kernenergie herausschleichen wollte, legt diese
Bundesregierung ein klares Konzept zum Umstieg vor.
({2})
Dem ist nichts hinzuzufügen; denn im Gegensatz zu Ihrer früheren Politik belassen wir es nicht bei einem Ausstiegsbeschluss, sondern wir legen feste Ausstiegsdaten
fest, wir beschäftigen uns mit allen Fragen rund um den
Ausstieg aus der Kernenergie, wir beschäftigen uns mit
dem Ausbau aller erneuerbaren Energien, und wir beschäftigen uns auch mit Endlagerfragen, Netzausbau und
Speicherkapazitäten.
An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich für die umfassende, auch ethisch unterfütterte Position der EthikKommission danken. Auf der Tribüne sitzt Herr Professor Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich möchte den Dank an Sie stellvertretend
für die Ethik-Kommission weitergeben. Herzlichen
Dank!
({3})
Lassen Sie mich als Haushälter etwas zu den haushalterischen Auswirkungen unserer Konzeption sagen;
denn das ist meine Aufgabe. Der beschleunigte Umstieg
in die erneuerbaren Energien wird nicht spurlos an Haushalt und Verbrauchern vorübergehen. Darauf wurde
schon hingewiesen. Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass auch der Haushalt davon betroffen ist;
denn es handelt sich um eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Entscheidung von großer Tragweite,
sowohl in technischer als auch in volkswirtschaftlicher
und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Diese Herausforderung ist nicht nur für uns auf nationaler Ebene von
weitreichender Bedeutung; wir werden auch international sehr aufmerksam beobachtet. Ich finde es schon bemerkenswert, dass wir uns an die Spitze der Bewegung
in diesem Bereich setzen. Wir werden sicherlich noch
große Erfahrungen sammeln können, wie international
darauf reagiert wird.
Was heißt das aber für den Bundeshaushalt? Für die
Jahre 2011 bis 2015 rechnen wir mit ansteigenden Belastungen von 0,2 Milliarden Euro bis 2 Milliarden Euro
jährlich. Diese Belastungen resultieren aus folgenden
Maßnahmen:
Erstens, die steuerliche Förderung von Maßnahmen
der energetischen Gebäudesanierung ab 2013. Das wird
uns nach dem Finanztableau des Gesetzentwurfs im Entstehungsjahr zunächst einmal mit etwa 100 Millionen
Euro belasten. In den Folgejahren steigt diese Belastung
kontinuierlich auf circa 1,5 Milliarden Euro in der vollen
Jahreswirkung an.
Zweitens. Wir haben Mindereinnahmen bei der Kernbrennstoffsteuer. Es ist vollkommen klar, dass dadurch,
dass die sieben älteren Kernkraftwerke plus Krümmel
nicht mehr ans Netz gehen, entsprechend weniger Einnahmen aus dieser Steuer fließen. Wir rechnen damit,
dass uns an dieser Stelle etwa 1 Milliarde Euro fehlen
wird. Ich will hier nur anmerken, dass die Grünen darauf
immer mit großem Beifall reagieren, obwohl sie ansonsten stets für Steuererhöhungen sind. Ich bin froh, dass
die Kernbrennstoffsteuer erhalten bleibt. Dafür zu sorgen, das war, sehr geehrter Herr Kauch, auch unser Bemühen; ich kann das zumindest für mich persönlich sagen.
Was kommt hinzu? Risiken sind sicherlich damit verbunden, dass die Energieversorgungsunternehmen angekündigt haben, gegen das Erheben der Kernbrennstoffsteuer zu klagen. Unbestritten ist es das Recht jedes
Steuerpflichtigen, sich gegen Besteuerung zu wehren. Es
erschließt sich mir aber nicht, wie sich aus der Gesetzesbegründung ein Grund zur Klage gegen das Erheben dieser
Steuer ableiten lässt. Einen rechtlichen Zusammenhang
zwischen der Laufzeitverlängerung und der Einführung
der Kernbrennstoffsteuer gab es nicht und gibt es nämlich
nicht; darauf hat der Kollege Kauch schon hingewiesen.
Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich eindeutig, dass
die Steuereinnahmen zur Haushaltskonsolidierung verwendet werden und als Beteiligung an der Deckung der
Kosten der Asse zu verstehen sind. Nebenbei bemerkt: Im
Hinterkopf hatte man immer den Gedanken, dass die
Kernkraftbetreiber durch die Strompreissteigerung nach
der Einführung des CO2-Emissionshandels nicht belastet
werden, sondern von ihr profitieren. Es geht um den Effekt der sogenannten Windfall Profits, der sich aus der
Nichtbeteiligung am Emissionshandel und gleichzeitig
steigenden Strompreisen ergibt; diesen Effekt gibt es
auch in Zukunft.
Eine weitere Belastung für den Bundeshaushalt resultiert aus der kompletten Umschichtung der Einnahmen
aus der Versteigerung der CO2-Zertifikate vom Haushalt
in den neu zu schaffenden Energie- und Klimafonds. Ich
will kurz darstellen, wie dieser Fonds ausgerichtet sein
wird - da gibt es einige Änderungen -:
Erstens. Eingerichtet ist er, um zusätzliche Ausgaben
zur Förderung einer umweltschonenden, zuverlässigen
und bezahlbaren Energieversorgung zu ermöglichen. Es
handelt sich um ein Sondervermögen. Zunächst einmal
ist anzumerken, dass die freiwilligen Zahlungen der
EVUs in diesen Fonds wegfallen. Bisher sind mehr als
70 Millionen Euro eingezahlt worden. In den folgenden
Jahren werden 1,4 Milliarden Euro fehlen. Wir sehen,
dass wir zumindest 2011 einen Ausgleich aus dem Haushalt in diesen Fonds in der Größenordnung von etwa bis
zu 225 Millionen Euro leisten müssen. Ich sage bewusst
„bis zu“; denn die Höhe dieses Ausgleichs hängt von den
Ausgaben dieses Fonds ab.
Zweitens. Die Einnahmen aus der Versteigerung der
Emissionszertifikate fallen dauerhaft weg. Ab 2012 werden diese Einnahmen nämlich in diesen Fonds fließen;
bisher war vorgesehen, dass dem Bundeshaushalt 2012
knapp 850 Millionen Euro und ab 2013 jährlich gut
900 Millionen Euro zugute kommen. Damit werden die
Einnahmen dieses Fonds gefestigt. Sie werden in den
kommenden Jahren auf einen jährlichen Betrag von über
3 Milliarden Euro ansteigen. Damit ist dieser Fonds mit
Sicherheit gut ausgestattet.
Drittens. Gleichzeitig werden in diesem Fonds die
Ausgaben für Elektromobilität gebündelt. Damit wird
dieser Bereich übersichtlicher, transparenter gestaltet.
Bisher sind die Ausgaben über die Ministerien Verkehr,
Wirtschaft, Umwelt und Forschung verteilt. Das bedeutet aus meiner Sicht einerseits eine Entlastung des Haushalts, andererseits mehr Transparenz.
Viertens. Außerdem statten wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm künftig besser aus. Seine Mittel werden von derzeit gut 900 Millionen Euro auf über
1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Das wird entsprechend
gegenfinanziert.
Fünftens. Darüber hinaus erfolgt aus diesem Fonds
ein Ausgleich emissionshandelsbedingter Strompreiserhöhungen für stromintensive Unternehmen in Höhe von
jährlich bis zu 500 Millionen Euro. Warum machen wir
das, meine Damen und Herren? - Wir sind der Auffassung, dass wir, wenn die Europäische Kommission dem
zustimmt, etwas dafür tun müssen, dass Arbeitsplätze in
diesem Bereich in Deutschland erhalten bleiben. Es geht
um den Arbeitsplatzstandort Deutschland. Wir dürfen
Arbeitsplätze nicht gefährden.
({4})
Schließlich gibt es noch eine Kreditermächtigung für
den Fonds, die aber nicht dauerhaft sein soll, sondern nur
in Ausnahmefällen greifen soll. Wir müssen noch genau
darüber reden, wie wir dies ausgestalten.
({5})
Aber da werden wir uns, glaube ich, schnell einig.
Wenn ich zusammenfasse, komme ich zu dem Ergebnis, dass wir angesichts der Größenordnung des Vorhabens überschaubare Belastungen haben. Allerdings darf
daraus nicht der Schluss gezogen werden, es bestünden
noch Spielräume für neue Wünsche. Denn eines muss
man immer wieder festhalten: Zentrales Ziel der Koalition von CDU/CSU und FDP ist die Konsolidierung des
Haushalts. Das steht über allen politischen Vorhaben in
der gesamten Legislaturperiode. Das ist schon allein deshalb so, weil wir besser mit Geld umgehen können als
alle anderen Fraktionen in diesem Haus. Das wird auch
so bleiben.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6070 bis 17/6077, 17/5931, 17/6092,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
17/6084, 17/6119 und 17/6109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Da ich keinen Widerspruch höre,
ist das offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten
Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine BätzingLichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Finanztransaktionsteuer in Europa einführen - Gesetzesinitiative jetzt vorlegen
- Drucksache 17/6086 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag zur Finanztransaktionsteuer, den wir hier heute
im Deutschen Bundestag debattieren, ist eine besondere
parlamentarische Initiative. Zeitgleich wird der gleiche
Antrag in der französischen Assemblée nationale beraten. Es handelt sich also - das passiert ja nicht jeden Tag
oder jede Woche hier im deutschen Parlament - um eine
grenzüberschreitende, deutsch-französische Parlamentarierinitiative in einer äußerst wichtigen Frage.
({0})
Diese Initiative ist es wert, dass sie in beiden Parlamenten breite Unterstützung findet. Ich bitte daher die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen um eine breite Unterstützung dieser Initiative,
({1})
nicht nur wegen der Sache selbst, sondern weil sich hier
ganz konkret zeigt, dass Deutsche und Franzosen an einem Strang ziehen und zusammen ein gemeinsames Interesse verfolgen. Ich finde, so sollte europäische Demokratie ablaufen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Warum aber ist eine solche Initiative bitter nötig? Wir
als Initiatoren wollen uns mit den vielen Sonntagsreden
der Regierenden in Deutschland und Frankreich zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer nicht mehr zufriedengeben.
({2})
Das gilt auch für die vielen gesellschaftlichen Gruppen
und Initiativen im Land. Immer mehr Menschen in ganz
Europa wollen eine derartige Steuer und werden zu
Recht immer unruhiger, weil es auf der Ebene der Regierungen nicht weitergeht.
Es stimmt, dass Frau Merkel und Herr Schäuble immer wieder die Einführung einer Finanztransaktionsteuer einfordern, genauso auch Herr Sarkozy und Frau
Lagarde. Aber außer dass hin und wieder Briefe geschrieben wurden, hat sich in der Sache in den letzten
zwölf Monaten nichts bewegt. Dabei bringt es auch niemanden mehr weiter, auf die bösen internationalen Partnerstaaten zu verweisen, die partout nicht mitmachen
wollen. Natürlich wäre es sehr wünschenswert, wenn
alle relevanten Finanzzentren der Welt bei einer Finanztransaktionsteuer mitmachen würden. Aber darf man
sich hinter einer solchen Bedingung verstecken? Dann
passiert und bewegt sich nämlich gar nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der fünf
größten EU-Länder will die Einführung einer Finanztransaktionsteuer.
({4})
Herr Schäuble, Frau Merkel, das sollte doch für Sie eine
ausreichende Basis sein, sich gegen die Ideologen und
Finanzlobbyisten in Ihren eigenen Reihen und in der
FDP durchzusetzen. Dieser Rückhalt müsste auch groß
genug sein, um es wagen zu können, sich mit der Finanzindustrie anzulegen. Seien Sie endlich so mutig, ein
Gesetz vorzulegen, durch das eine Finanztransaktionsteuer in einem ersten Schritt schon einmal in Deutschland, Frankreich und anderen dazu bereiten Staaten eingeführt wird. Das würde eine Entwicklung in Gang
setzen, die nicht mehr zu stoppen wäre.
({5})
Wenn meine Informationen stimmen, denken auch die
französischen Konservativen in eine ähnliche Richtung.
Nur, es muss gehandelt werden. Oder ist diese Koalition
auch in dieser Frage wie üblich handlungsunfähig? Vor
diesem Problem stehen wir derzeit ja leider des Öfteren.
({6})
Wir brauchen die Lenkungswirkung einer Finanztransaktionsteuer, um unerwünschte Aktivitäten und Geschäfte zurückzudrängen und so einen weiteren Beitrag
zur Stabilisierung der Finanzmärkte zu leisten. Machen
wir uns doch nichts vor: Auch wenn die ökonomische
Entwicklung aktuell erfreulich ist, sind die Finanzmärkte
nach wie vor sehr labil. Die Lösung der GriechenlandProbleme ist doch auch deshalb so schwierig, weil nicht
nur Banken und Finanzinstitute in Griechenland auf
wackligen Füßen stehen.
Wir sind bei der Finanzmarktregulierung noch lange
nicht da, wo wir sein müssten. Das Kasino ist wieder eröffnet. Die Finanzindustrie macht wieder munter auf
Risiko. Da trifft leider auch die deutsche Regierung ein
gerüttelt Maß an Schuld. Wegen der großen Meinungsunterschiede in der Koalition gerade in Finanzmarktfragen war die Regierung gelähmt und ist auf G-20-Ebene
und europäischer Ebene oftmals nur schwankend und
unklar aufgetreten. Auch hier zeigt sich, was es bedeutet,
wenn Führung fehlt. Deutschland muss als sehr starke
Macht in Europa die Führung mitprägen. Wir sind aber
auf europäischem Parkett derzeit nicht meinungsbildend,
und das kann nicht gut gehen.
({7})
Was die Meinungsunterschiede angeht, will ich nur an
die schmerzhaften Debatten im letzten Jahr erinnern, als
sich der damalige FDP-Vorsitzende an dieser Stelle für
alle sichtbar und erkennbar gewunden hat, nur um das
Wort „Finanztransaktionsteuer“ nicht in den Mund nehmen zu müssen. Wir brauchen aber diese Steuer, auch als
Finanzierungsinstrument. Dass wir darauf nicht verzichten können, weiß auch der Bundesfinanzminister, der in
seinem Finanzkonzept ab 2012 daraus jährlich Einnahmen in Höhe von 2 Milliarden Euro vorgesehen hatte.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssten Herr Schäuble
bzw. sein Haus aber auch anfangen, um dieses Geld zu
kämpfen, und dürften es nicht einfach streichen.
Es stimmt ja sowieso vieles nicht mehr von dem, was
vor einem Jahr in dieses sogenannte Sparpaket eingestellt wurde. Ich erinnere mich aber, was hierzu vor fast
genau einem Jahr in Fernsehbeiträgen gesagt wurde.
Frau Merkel und andere haben da gesagt: Wir stellen die
soziale Ausgeglichenheit dieses Pakets dadurch her, dass
die Wirtschaft in Form einer Finanztransaktionsteuer sowie anderer Maßnahmen wie einer Brennelementesteuer
beteiligt wird. - Wie sieht denn inzwischen das Ergebnis
aus? Mittlerweile wird der Haushalt nur noch dadurch
stabilisiert, dass man bei den sozial Schwachen und den
Arbeitslosen spart - das ist aber die falsche Stelle, jawohl -, während andere Maßnahmen erst einmal nicht
umgesetzt wurden. Auch das ist ein Beleg für Ihre unsoziale Politik.
({8})
Das ist so ähnlich wie in der Atomenergiefrage. Sie
wissen gar nicht mehr, was Sie vor drei Tagen, geschweige denn vor einem Jahr öffentlich gesagt haben.
Sie setzen auf die Vergesslichkeit des Publikums - leider
oft zu Recht. Das muss sich ändern in der deutschen
Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Diejenigen, die von den Rettungsmaßnahmen des
Staates in der Finanzkrise profitiert haben, müssen also
auch an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt
werden. Sie dürfen nicht außen vor bleiben. Auch die aktuell sprudelnden Steuerquellen können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das richtig und wichtig ist. Wir
müssen darüber eine ehrliche Debatte führen. Für die
Wahrnehmung wichtiger gesellschaftspolitischer Aufgaben ist dieser Staat auf allen Ebenen strukturell unterfinanziert. Das gilt unabhängig von der aktuellen Entwicklung bei den Steuereinnahmen. Darüber müssen wir
eine ehrliche Debatte in diesem Haus führen.
({10})
Dabei geht es dann nicht nur um eine Finanztransaktionsteuer, sondern in meinen Augen zum Beispiel auch um
eine modernisierte private Vermögensteuer
({11})
und andere Finanzierungsmaßnahmen, um Geld für die
Erfüllung gesellschaftspolitisch wichtiger Aufgaben - Befriedung der Gesellschaft, Forschung und Entwicklung,
Bildung und andere Zwecke - zur Verfügung zu haben
und verwenden zu können.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion ist grundsätzlich gegen eine exzessive Erhöhung der Steuerbelastung und
gegen Doppelbesteuerungen, die eine Überforderung für
den Steuerzahler bedeuten. Das heißt aber nicht, dass wir
uns gegen einen Umbau der europäischen Steuersysteme
wenden oder gegen eine gerechtere Besteuerung des Finanzmarktes sind. Man muss das aber natürlich im Gesamtkontext sehen. Umschuldungen, Basel III, neue Einlagensicherungssysteme, die deutsche Bankenabgabe all das muss wohl bedacht sein und darf nicht in einer
Scharfmacherrede angeprangert werden.
({0})
Eine bessere Lenkungswirkung durch Finanzmarktsteuern und ein Beitrag des Finanzsektors sind unter bestimmten Voraussetzungen mit uns durchaus denkbar
und machbar. Das muss intensiv geprüft und international zielführend gestaltet sein. Die Vorwürfe der SPD gegenüber der Bundesregierung wegen des angeblich fehlenden Handlungsnachweises weisen wir zurück. Die
Dinge müssen fachlich beurteilt werden.
Die Besteuerung des Finanzmarktes muss wettbewerbsneutral, wirksam, unbürokratisch, umsetzbar und
wachstumsfreundlich erreicht werden.
({1})
Den Beweis dafür lieferte der EU-Kommissar für Steuern, Herr Semeta, in dieser Woche im Finanzausschuss.
Leider waren Sie nicht anwesend, Herr Poß. Ich zitiere
ihn für Sie noch einmal wörtlich.
({2})
Er sagt:
Es ist unverantwortlich, eine Bewertung vorzunehmen, wenn keine unvoreingenommene Prüfung einer positiven Lenkungsfunktion durch die EUKommission vorliegt.
So weit der Kommissar.
({3})
Das ist eine klare Aussage. Er sagt, die Prüfung liege
noch nicht vor. Er hat uns eine Folgenabschätzung zur
Finanztransaktionsteuer oder einer Finanzaktivitätsteuer,
wie sie diskutiert wird, zugesagt.
Es ist nun einmal so, dass das Initiativrecht dafür die
Kommission hat und nicht die Parlamente, auch nicht in
Frankreich oder Deutschland. Deswegen, Herr Poß, ist
der SPD-Antrag ein reiner Schaufensterantrag.
({4})
Da bringt uns auch die Begleitmusik, die Sie gemeinsam
mit Frankreich bestellt haben, nicht weiter. Wir weisen
diesen Schaufensterantrag zurück; wir werden ihm in
dieser Form nicht zustimmen.
({5})
Es geht um eine fachgerechte Entscheidung. Dabei
muss verhindert werden, dass Steuersubstrat in Drittstaaten verlagert und unsere Wettbewerbsfähigkeit am
Finanzplatz Deutschland erheblich beschädigt wird. Es
gilt, eine gemeinsame Lösung zumindest in Europa zu
erreichen. Wir setzen uns mit den Chancen und den Fakten ohne ideologische Scheuklappen auseinander und
vertreten dabei folgenden Standpunkt: Um einen finanziellen Beitrag des Finanzsektors zu erhalten, unterstützen wir die möglichst weltweite, aber zumindest auf europäischer Ebene oder wenigstens innerhalb der EuroZone abgestimmte Einführung einer Finanztransaktionsteuer.
({6})
Diese ist nach unserer Auffassung zur zusätzlichen Generierung von Einnahmen aus dem Finanzsektor sehr gut
geeignet. Diese Auffassung teilt auch das Europäische
Parlament. Ich glaube, das ist die beste Grundlage.
Es sollte uns bewusst sein, dass zum Erreichen dieses
Ziels so viele Länder wie möglich von der Einführung
einer Finanztransaktionsteuer überzeugt werden müssen.
Bisher sind nur Österreich, Frankreich und Deutschland
dafür, wobei Frankreich auch eine andere Lösung bevorzugen würde.
({7})
Wir brauchen aber möglichst alle.
Wir müssen über die Ausgestaltung dieser Steuer nachdenken. Hinsichtlich der Ausgestaltung einer Finanztransaktionsteuer sollte, um einen Konsens auf europäischer
Ebene zu erreichen, den Diskussionen nicht - auch nicht
durch Deutschland - vorgegriffen werden. Wir sind der
Auffassung, dass die Finanztransaktionsteuer möglichst
alle Finanzinstrumente, die gehandelt werden, erfassen
soll. So sollten Finanzinstrumente, die börslich und außerbörslich gehandelt werden, in die Besteuerung einbezogen werden. Damit könnte der Finanztransaktionsteuer eine breite Bemessungsgrundlage zugrunde gelegt
werden. Insbesondere bei einer Ausklammerung bestimmter Finanzinstrumente wäre eine Verschiebung des
Geschäfts in diese Bereiche zu erwarten. Dies muss unbedingt vermieden werden. Deshalb sprechen wir uns
für eine möglichst alle Finanzinstrumente umfassende
Finanztransaktionsteuer aus.
Die Anknüpfung an die Erwerbsgeschäfte über Finanzinstrumente hat den großen Vorteil, dass es bei jedem auf Finanzinstrumente bezogenen Handelsgeschäft
bzw. Transaktionsgeschäft zu einer Steuerentstehung
kommen wird. Eine Unterscheidung in gute und
schlechte Geschäfte, wie sie die SPD immer wieder versucht vorzunehmen, wird damit nicht vorgenommen.
Das wäre auch nicht sinnvoll. Vorrangig bei der Einführung einer Finanztransaktionsteuer ist die Erzielung von
Einnahmen. Natürlich sollte die Steuer auch Lenkungswirkung entfalten. Wenn wir uns für die Finanztransaktionsteuer eine breite Bemessungsgrundlage mit einem niedrigen Steuersatz vorstellen, dann dürfen wir
nicht vergessen, die Lenkungswirkung zu prüfen. Wir
sind auf die Prüfung der EU-Kommission angewiesen.
Ich glaube, wenn Sie wie in Ihrem Antrag von einem
Steuersatz in Höhe von 0,05 Prozent - letzten Endes eine
aus der Luft gegriffene Zahl - ausgehen, dann sind Sie
gewissermaßen nicht verhandlungsfähig. Das ist sicher
die oberste Grenze, die sich andere Länder vorstellen
können. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie einfach eine
Zahl ohne Prüfung der Lenkungswirkung und ohne Substanz in die Welt setzen, ist dies inkompetent. Dann können Sie keine Kompetenz in der Finanzwirtschaft nachweisen. Sie erweisen damit Ihrer Sache, der Sache der
Finanztransaktionsteuer, wirklich keinen Dienst.
({8})
Ganz besonders schlimm wird es, wenn man sieht,
dass die SPD in ihrem Antrag das Geld schon weltweit
verteilt hat.
({9})
Das ist nicht seriös. Dieses Geld gehört in den Bundeshaushalt; denn der Bundeshaushalt hat in der Finanzmarktkrise die Banken gerettet. Das Geld wurde nicht
weltweit an die Armen verteilt. Für die Bekämpfung der
Armut ist die Entwicklungshilfe zuständig. Sie machen
einfach ein Fass auf und sagen: Das Geld aus dieser
Steuer können wir in die Welt transferieren.
({10})
Das sieht Ihr Antrag vor. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe schon viele Anträge der SPD gelesen, aber
der nun vorliegende Antrag stellt keine gute Vorbereitung dieses Hohen Hauses dar. Das Budgetrecht wird
von diesem Hohen Haus und insbesondere vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages wahrgenommen und darf nicht für eine solche Verteilungsaktion,
wie sie im SPD-Antrag gefordert wird, genutzt werden.
Deswegen können wir diesem Antrag nicht zustimmen.
({11})
Das Wort hat nun Richard Pitterle für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Seit 2009 höre ich im Bundestag von der
Bundesregierung, man wolle die Finanzbranche zur Bewältigung der Krisenkosten heranziehen. Und? Es passiert nichts. Die Linke sagt: Wir brauchen endlich die Finanztransaktionsteuer.
({0})
Mit dieser Steuer soll jeder und jede, der oder die an
der Börse und außerbörslich mit Wertpapieren, Derivaten und Devisen spekuliert und dabei fette Gewinne
macht, mindestens 0,05 Prozent davon abgeben. Da sind
wir uns mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Initiativen ganz einig, die auch die Einführung
der Steuer fordern.
Blicken wir zurück. Am Anfang hat die Regierungskoalition die Finanztransaktionsteuer abgelehnt; mit den
Argumenten, sie verzerre den Wettbewerb, sei nicht effektiv, nur global machbar und leicht zu umgehen, haben
Sie all unsere Vorschläge abgeschmettert. Diese Argumente haben Sie sich dann auch noch von Ihren Sachverständigen bestätigen lassen.
({1})
Dann wurde die Finanzkrise zur Euro-Krise, und die Regierung wandelte sich vom Saulus zum Paulus. Vor gut
einem Jahr, am 17. Mai 2010, berichtete zum Beispiel
Die Zeit:
Auch der CSU-Vorsitzende … Horst Seehofer erneuerte die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer, „ohne Wenn und Aber“. Die Regierung
müsse „diese Branche, die Finanzbranche insgesamt,
der wir ja zum großen Teil diese Wirtschafts- und
Finanzkrise leider zu verdanken haben, bei der Bewältigung der Kosten auch heranziehen“, sagte er.
Das ist Originalton Seehofer. Diese Regierung ist, wie
man auch in der Energiepolitik sieht, für manche Wende
gut. Wenn es in die richtige Richtung geht, werden wir
sie deswegen nicht kritisieren. Aber hier reicht es nicht,
den Mund nur zu spitzen; man muss auch pfeifen.
({2})
Denn inzwischen wissen alle, dass die Finanzmärkte einerseits enorme Handelsvolumina haben und rasant gewachsen sind und dass sie andererseits nach wie vor
kaum Steuern zahlen. Alle Unternehmen, die ein Produkt verkaufen, müssen auf das Produkt Umsatzsteuer
erheben und sie beim Staat abliefern; nur Finanztransaktionen sind davon ausgenommen. Allein an der
Frankfurter Derivatenbörse Eurex werden Umsätze gemacht, die 60-mal so hoch sind wie das gesamte deutsche Bruttoinlandsprodukt, ohne dass ein einziger Cent
Steuern gezahlt wird. Das ist doch ein Skandal.
({3})
Fakt ist, dass die Finanztransaktionsteuer nicht nur
Staatseinnahmen bringen, sondern auch eine wichtige
Lenkungswirkung entfalten kann. Das heißt, dass es unattraktiver wird, mit hoher Geschwindigkeit an den Finanzmärkten zu spekulieren; für alle Zocker wird es weniger profitabel, weil bei jeder Spekulation ein Teil des
Profits abgezogen wird. Die maßlosen Spekulationen
nämlich führten zur Finanzkrise und später zur EuroKrise. Seither bedrohen sie die Stabilität zahlreicher
Volkswirtschaften, siehe Griechenland.
Frau Merkel und Herr Schäuble sind leider nicht da.
Gerne würde ich ihnen glauben, dass es ihnen mit dem
Versprechen ernst ist, das sie mit dem französischen
Staatspräsidenten Sarkozy abgegeben haben. Gerne
würde ich ihnen auch glauben, dass sie die Mehrheit ihrer Fraktionen hinter sich haben. Wenn wir heute gleichzeitig mit dem französischen Parlament eine Entscheidung zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer zu
treffen haben, dann können wir unseren Freundinnen
und Freunden in Frankreich nur zurufen: „Oui, Madame!
Oui, Monsieur!“ Sorgen Sie dafür, dass die Finanztransaktionsteuer jetzt beschlossen wird. Wir brauchen in
Europa wirtschaftliche Stabilität; wir brauchen Steuergerechtigkeit. Deshalb brauchen wir Gesetze, die verhindern, dass die Geringverdienerinnen und Geringverdiener, die Rentnerinnen und Rentner die Lasten der Krise
tragen müssen und die Vermögenden uneingeschränkt
und fröhlich weiterzocken können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man von falschen Prämissen ausgeht, kommt man
nicht zum richtigen Ergebnis. Das belegt die SPD mit ihrem heute vorgelegten Antrag wieder einmal eindrucksvoll. Ihre Feststellung, dass der Finanzsektor „keinen …
Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens“ leistet,
({0})
ist in der Sache grundfalsch; das wissen Sie auch. Wenn
Sie sich einmal darüber informieren wollen, sollten Sie
einmal mit der Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt
sprechen und sie fragen, ob sie den Eindruck hat, dass
der Finanzsektor einen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens dieser Stadt leistet; danach sind Sie vielleicht klüger, als Sie es mit Ihrem Antrag zum Ausdruck
bringen.
({1})
Meine Damen und Herren, man kann dem Finanzsektor
viele Dinge vorwerfen und vieles kritisieren; in den letzten Jahren ist auch unter Ihrer Regierungsverantwortung
vieles nicht richtig gelaufen. Es schadet aber auch nicht,
wenn man sich vorher zumindest ansatzweise informiert.
Dieser Grundsatz gilt auch, wenn man Frank-Walter
Steinmeier heißt und einen Antrag in den Deutschen
Bundestag einbringt.
({2})
Ihr Antrag zeigt einmal mehr, dass die SPD über keinen Kompass mehr verfügt. Wohin wollen Sie eigentlich? Wollen Sie zurück in die Zeiten des Klassenkampfes, oder wollen Sie nach vorne? Vertreten Sie heute
eigentlich die Finanzpolitik Ihres früheren Finanzministers Oskar Lafontaine, oder vertreten Sie die Finanzpolitik Ihres früheren Ministers Peer Steinbrück?
({3})
Beide haben übrigens keine Finanztransaktionsteuer eingeführt. Es gehört zu dem wenigen Guten, was man über
die sozialdemokratische Finanzpolitik sagen kann, dass
die SPD in der Regierung ganz schnell vergisst, was sie
in der Opposition gefordert hat.
({4})
Vermögensteuer? Fehlanzeige. Finanztransaktionsteuer? O-Ton Steinbrück: Der Welt ist es egal, was der
SPD-Ortsverband Kessenich will. Nicht nur der Welt
war und ist es egal, was die SPD wollte. Ihrem selbsternannten Kanzlerkandidaten war es in seiner Zeit als Finanzminister erst recht schnurz. Deshalb darf es auch der
christlich-liberalen Koalition egal sein, was die SPD
heute mit diesem Antrag fordert.
({5})
Eine Partei, die in ihrer gesamten Regierungszeit,
gleich ob sie mit der grünen Partei oder der CDU/CSU
regiert hat, nicht einmal einen ernsthaften Versuch unternommen hat, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen,
sollte sich auch jetzt mit Anträgen zurückhalten.
({6})
Sie sind in dieser Frage nämlich schlicht unglaubwürdig.
({7})
Sie haben die Finanztransaktionsteuer nicht eingeführt,
weil Sie diese, als Sie die Regierungsverantwortung trugen, für falsch hielten und nicht wollten. Wir führen die
Finanztransaktionsteuer ebenfalls nicht ein, weil wir sie
für falsch halten und sie deshalb nicht wollen.
({8})
Es besteht zwischen uns im Grunde Konsens. Der Unterschied ist nur, dass Sie in der Opposition etwas fordern,
was Sie während Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt
haben.
Wenn man Argumente gegen die Finanztransaktionsteuer benötigt, findet man in Ihrem Antrag eine geeignete Arbeitsgrundlage. Er enthält viele Allgemeinplätze
und keine Fakten. Man könnte sagen: viel Sigmar
Gabriel, kaum Helmut Schmidt.
({9})
Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Steinbrück?
({0})
Ja, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Wissing, würden Sie bestätigen, dass sich die Bundeskanzlerin und der seinerzeitige Bundesfinanzminister auf den Finanzgipfeln im
April 2009 in London und im September 2009 in Pittsburgh massiv für die Einführung einer Finanzmarkttransaktionsteuer eingesetzt haben und - mehr noch die Aufnahme einer entsprechenden Empfehlung in das
Kommuniqué des Gipfels im September 2009 sowie einen konkreten Prüfauftrag an den Internationalen Währungsfonds durchgesetzt haben? Wenn Sie dies zugeben,
würden Sie dann auch Ihre bisherigen Ausführungen
freundlicherweise korrigieren wollen?
Herr Steinbrück, es stimmt, dass man sich auf internationaler Ebene dafür eingesetzt hat. Übrigens hat auch
diese Bundesregierung auf internationaler Ebene gesagt,
dass sie eine Besteuerung des Finanzsektors erreichen
möchte. Auf internationaler Ebene hat es aber keinen
Konsens gegeben. Deshalb hat diese Regierung genauso
vernünftig gehandelt wie Sie damals und den Unfug gelassen, diese Steuer auf nationaler Ebene einzuführen.
Diesen Unfug sollte die SPD weiterhin unterlassen.
({0})
Es macht keinen Unterschied, ob man in der Regierung oder in der Opposition ist. Eine nationale oder re12998
gionale Transaktionsteuer bringt nichts. Das wissen Sie
sehr gut, Herr Steinbrück.
({1})
In dieser Position kann ich Sie nur unterstützen; damit
lagen Sie immer richtig. Ihre Fraktion liegt jetzt aber
falsch, wenn sie dem Bundestag vorschlägt, das Gegenteil zu machen, nämlich diese Steuer national einzuführen. Deswegen bleibe ich bei meiner Position.
({2})
Kollege, gestatten Sie eine Nachfrage des Kollegen
Steinbrück?
Ja.
Würden Sie bestätigen, Herr Kollege Wissing, dass
die Diskussion inzwischen weitergegangen ist und auch
der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank die Einführung einer solchen Finanzmarkttransaktionsteuer
dann für richtig hielte, wenn mindestens die wichtigsten
kontinentaleuropäischen Finanzplätze einbezogen würden? Das heißt, wenn die Bundesrepublik Deutschland
sich mit ihrem Gewicht in Brüssel dafür einsetzen
würde, dass im Benelux-Bereich, in Frankreich, möglicherweise auch in Italien eine solche Finanzmarkttransaktionsteuer eingeführt würde, dann gäbe es sogar Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft, die sich darüber
nicht grämen würden. Insofern kommt es darauf an - das
ist meine Frage -, ob Sie als FDP-Vertreter bereit wären,
auf die Bundesregierung stärker einzuwirken, dass zusammen mit diesen Ländern, die sich teilweise bereits
für die Einführung einer solchen Finanzmarkttransaktionsteuer ausgesprochen haben, die Chance auf Realisierung genutzt wird.
({0})
Sie kennen die Beschlussfassung des Deutschen Bundestages. Sie kennen auch die gemeinsamen Anträge
von CDU/CSU und FDP.
({0})
Deshalb lohnt es sich für Ihre Fraktion, nicht immer so
zu tun, als würden wir diesen Weg ausschließlich blockieren.
({1})
- Ganz ruhig. - Wir haben gesagt: Wir sehen nicht ein,
dass wir den deutschen Finanzplatz beschädigen
({2})
und Ausweichbewegungen beispielsweise nach London
eröffnen; denn - da bin ich ganz bei Ihnen - 10 Prozent
von nichts bringt noch lange keine höheren Steuereinnahmen.
({3})
Deshalb haben Sie einen nationalen Weg abgelehnt. Den
lehnen auch wir ab. Wir als FDP-Fraktion sagen: Eine
Finanztransaktionsteuer ausschließlich in der Euro-Zone
ist nicht vertretbar, weil sie den deutschen Finanzplatz
nachhaltig schädigt.
({4})
Ohne Großbritannien kommt eine solche Steuer nicht in
Betracht. Das ist die Position der Bundesregierung. In
der Opposition vertreten Sie jetzt die Auffassung, dass
es, wenn sie in Deutschland und in Frankreich eingeführt
würde, automatisch zu einer flächendeckenden Einführung der Finanztransaktionsteuer kommen würde. Diese
Position haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie vertreten,
weil Sie wissen, dass sie falsch ist.
({5})
Deswegen sei es Ihr Recht als Oppositionsfraktion, jetzt
all die Dinge zu fordern, die Sie in der Regierung für
falsch gehalten haben. Wir bleiben bei einem klaren
Kurs.
({6})
Wir können uns gerne inhaltlich mit der Finanztransaktionsteuer auseinandersetzen. Sie schreiben, die Steuer
würde unerwünschte Effekte zurückdrängen. Sie müssten schon näher erklären, wie die Finanztransaktionsteuer unerwünschte Effekte erkennt und zurückdrängt.
Diese Steuer ist nämlich nicht selektiv; sie unterscheidet
nicht zwischen guter und spekulativer Anlage, sondern
sie belastest alle, und zwar alle gleich. Sie belastet die
Riester-Rentner und Besitzer von Lebensversicherungen
({7})
genauso wie Hedgefonds, nur dass es für Letztere ein
Leichtes ist, sich einen anderen Finanzplatz auszusuchen
und der Finanztransaktionsteuer zu entgehen. Ich erkenne daher nicht, welche unerwünschten Nebeneffekte
die Steuer zurückdrängen soll.
Wenn Sie schreiben, dass die Finanztransaktionsteuer
einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte leistet, so ist auch das mehr als gewagt. Sie glauben doch
nicht allen Ernstes, dass die Anleger, nur weil Sie in
Deutschland und Frankreich eine Finanztransaktionsteuer einführen, verlustbringende Investments länger
halten werden, und dass dies auch noch den Finanzmarkt
stabilisiert. Ich glaube, die Finanztransaktionsteuer wird
eher das Gegenteil bewirken.
({8})
Dort, wo sie nicht umgangen wird, wird sie zu stärkeren
Reaktionen der Märkte führen, weil die Märkte die
Steuer in ihre Kalkulation einbeziehen. Während bisher
die schnelle Reaktion der Märkte dazu beiträgt, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen,
({9})
würde die Finanztransaktionsteuer dafür sorgen, dass die
Reaktionen später erfolgen und dafür umso heftiger ausfallen.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck,
dass Ihr Antrag vor allem autosuggestiven Charakter hat.
Sie glauben selber nicht mehr an diese Steuer und wollen
sich mit dem Antrag immer wieder selbst überzeugen.
({10})
Ich habe auch Verständnis für die Widersprüchlichkeiten
in Ihrem Antrag. Ebenso habe ich Verständnis dafür,
dass Sie in der Opposition glauben, Punkte mit einer
Politik machen zu können, die Sie in der Regierung niemals ernsthaft verfolgt haben. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Machen Sie es wie Herr Steinbrück und schicken Sie Ihren Finanztransaktionsteuer-Antrag dorthin,
woher er gekommen ist, nämlich an den Ortsverband
Kessenich. - Ich glaube, das habe ich richtig zitiert, Herr
Steinbrück.
Wie Sie richtig schreiben, gibt es bisher keinen Konsens, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, weder
auf europäischer noch auf internationaler Ebene. Es ist
mehrfach versucht worden, ist aber ganz klar gescheitert.
Das liegt aber nicht daran, dass die anderen Regierungen
so viel dümmer wären als die SPD im Deutschen Bundestag; sie haben sich vielmehr mit der Finanztransaktionsteuer auseinandergesetzt, deren Schwächen erkannt
und suchen nun eine bessere Lösung zur Besteuerung
des Finanzsektors. Das geschieht aber nicht aus Gründen
der Regulierung, sondern zur Lösung der Haushaltsprobleme.
Nur die SPD tut in der Opposition immer so, als habe
sie einen finanzpolitischen Erkenntnisrausch, der ihr in
Regierungszeiten abhanden gekommen ist.
({11})
Sie präsentieren der Öffentlichkeit in altbekannter Manier ein Sammelsurium sozialdemokratischer Wiedergänger wie die Vermögen- oder die Finanztransaktionsteuer.
({12})
Hiervon wollten Sie zu Regierungszeiten nichts wissen.
Deswegen sollten Sie den Deutschen Bundestag damit
nicht länger behelligen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
der Frage, wer als Opposition bei bestimmten Themen
die Klappe aufgerissen hat und nachher in der Regierungszeit nichts zu liefern hat, wäre ich als FDP ganz
leise.
({0})
Zu dem Vorwurf, man bringe hier nur Allgemeinplätze,
sage ich, Herr Wissing, dass die Gegenargumente, die
Sie heute gebracht haben, viel schlimmer als Allgemeinplätze waren. Es waren längst widerlegte Behauptungen.
({1})
In der Anhörung des Finanzausschusses ist ganz klar gesagt worden: Die Belastung des Kleinanlegers ist minimal und von Personen aufgebauscht worden, die die Finanztransaktionsteuer mit fadenscheinigen Argumenten
ins Aus katapultieren wollten, weil sie das tut, was notwendig ist, nämlich den Finanzsektor zu belasten.
({2})
Gestern im Finanzausschuss sah man ganz klar, wie
die Positionen in dieser Debatte verteilt sind. Alle Fraktionen haben dem anwesenden EU-Kommissar Semeta
ganz eindeutig die deutsche Position mit auf den Weg
gegeben: Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer. Wir
haben gesagt, dass das jetzt auf europäischer Ebene vorangebracht werden muss und dass nicht nur rumgeeiert
werden darf, wie es auch hier die Koalition macht. Eine
Fraktion war die große Ausnahme. Man sieht, warum
diese Bundesregierung nicht vorankommt: Die Unterstützung der FDP für diese Position fehlt. Hören Sie auf,
zu blockieren! Wir brauchen keinen parlamentarischen
Arm der Finanzbranche, sondern eine Unterstützung für
das, was von einer breiten Mehrheit dieses Hauses getragen wird: eine Finanztransaktionsteuer.
({3})
Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wissing?
Gerne.
({0})
Würden Sie, Herr Kollege Schick, weil Sie sich immer gerne mit der Vergangenheit beschäftigen, dem
Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit
erklären, wer unter Rot-Grün verhindert hat, dass eine
Finanztransaktionsteuer von der Bundesregierung auf
den Weg gebracht worden ist? War das damals die SPD
oder Bündnis 90/Die Grünen?
Es gab unter Rot-Grün Initiativen für eine TobinSteuer. Ich erinnere an eine Studie aus dem Hause
Wieczorek-Zeul. Man fragt sich, ob ein Ministerium der
aktuellen Bundesregierung auch nur mit einer Studie
versucht hat, die Debatte voranzutreiben. Das könnte
man ja tun. Das gab es damals, und das ist von beiden
Parteien unterstützt worden.
({0})
Ich frage Sie umgekehrt - das könnte vielleicht jemand aus den Koalitionsfraktionen klären -: Wenn ich
eine Idee voranbringen will, dann versuche ich, dazu
eine Konferenz zu organisieren, eine Studie in Auftrag
zu geben. Warum gibt es bisher nur von einem österreichischen Institut eine Studie dazu und nicht einmal
von einem deutschen?
({1})
Die Bundesregierung könnte ja eine Studie in Auftrag
geben. Hören Sie auf, nur zu reden! Handeln Sie endlich,
und bringen Sie diesen Gedanken voran!
({2})
Ich will noch kurz auf das eingehen, was Herr
Michelbach gesagt hat. Wissen Sie, Herr Michelbach,
wir haben hier heute etwas, was es nicht häufig gibt: eine
parallel organisierte Debatte der französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages und einen
abgestimmten Antrag. Wenn wir bei allen Delegationsgesprächen mit den französischen Kollegen immer die
Zusammenarbeit der nationalen Parlamente hochhalten
und dafür kämpfen - das ist richtig -, dann können wir
hier in der Debatte nicht sagen, das sei Begleitmusik. Ich
finde, eine solche Haltung haben Europa und auch der
Bundestag nicht verdient.
({3})
Zur konkreten Frage: Warum brauchen wir unbedingt
eine Finanztransaktionsteuer? Wir stellen fest, dass der
Finanzmarkt an vielen Stellen zu groß ist. Das sagen
nicht nur einige Oppositionsleute, sondern inzwischen
ist das als Ursache dieser Finanzkrise deutlich geworden. So schreibt ein Forscherteam des Internationalen
Währungsfonds und der UN-Konferenz für Handel und
Entwicklung, UNCTAD: Zu viel Finanzwirtschaft ist
schlecht. Es schadet der Wirtschaft eines Landes, wenn
es einen aufgeblähten Finanzsektor hat. - Genau aus diesem Grunde brauchen wir eine Schuldenbremse für Banken - Leverage-Ratio -, die Sie in harter Form aber nicht
wollen und auf internationaler Ebene verhindern.
({4})
Wir brauchen auch eine Besteuerung von Finanzumsätzen. Denn es ist für die wirtschaftliche Entwicklung
nicht gut, wenn Umsätze an den Finanzmärkten privilegiert werden. Es ist falsch, wenn auf jedes Brötchen und
jeden Stuhl Umsatzsteuer erhoben wird, aber nicht auf
Finanzprodukte. Das muss korrigiert werden.
({5})
Es gibt einen zweiten wichtigen Punkt: die soziale
Balance und die Verteilungsfrage. Ja, es ist zu Recht gesagt worden, dass eine Finanztransaktionsteuer ein Teil
eines Ausgleiches sein kann, wenn wir jetzt die Haushaltssanierung angehen und es um die Frage geht: Wer
trägt die Finanzierung künftiger Ausgaben? So hat auch
die Bundeskanzlerin im Juni 2010, also vor einem Jahr,
gesagt: Die Tatsache, dass wir eine Finanztransaktionsteuer einplanen, ist ein Beitrag zur Gerechtigkeit. - Das
war Ihre Aussage, als es damals um das Sparpaket ging.
Damit wurde begründet, dass es Kürzungen gibt: beim
Heizkostenzuschuss, bei der Rente und bei den Arbeitsmarktmaßnahmen. Sie haben damals gesagt: Dieses Paket ist ausgewogen, weil es auch zu einer Belastung der
Industrie bzw. der Wirtschaft kommt, zum Beispiel
durch die Brennelementesteuer und die Finanztransaktionsteuer.
Wo stehen wir heute? Ursprünglich ging man von
Einnahmen aus der Brennelementesteuer in Höhe von
2,3 Milliarden Euro aus. Mittlerweile ist bekannt, dass
die Einnahmen deutlich geringer ausfallen - man rechnet
jetzt mit 1,3 Milliarden Euro -, und die Finanztransaktionsteuer ist aus dem Finanztableau für den Haushalt
2012 hinausgeflogen. Das heißt, wenn Sie Ihren eigenen
Maßstab der sozialen Balance der Haushaltspolitik von
vor einem Jahr anlegen würden, müssten Sie heute zugeben, dass von einem fairen Ausgleich keine Rede mehr
sein kann, weil die Maßnahmen, die zur Belastung der
Wirtschaft eingeplant waren, so nicht realisiert werden.
Bei der sozialen Balance Ihrer Politik besteht ganz dringender Korrekturbedarf.
({6})
Es hat einen tieferen Grund, warum wir diese soziale
Balance brauchen. Es ist so - das müssen Sie zur Kenntnis nehmen -, dass die Schieflage bei der Einkommensverteilung eine der Ursachen der Finanzkrise war.
({7})
In diesem Punkt besteht in der Forschung inzwischen ein
ziemlich breiter Konsens; Joseph Stiglitz hat das schon
vor zwei Jahren deutlich gemacht. Studien des Internationalen Währungsfonds kamen zu dem Ergebnis, dass
der Zusammenhang zwischen der Konzentration hoher
Einkommen bei wenigen Haushalten und der hohen
Verschuldung ärmerer Haushalte in dieser Krise eine
wichtige Rolle gespielt hat. Wenn man aus der Krise herauskommen und versuchen will, die Wirtschaft zu stabilisieren, sodass die Wahrscheinlichkeit einer neuen Krise
sinkt, dann muss man dafür sorgen, dass auch die Einkommen der Unter- und Mittelschicht wieder stabilisiert
werden.
({8})
Das heißt nichts anderes, als dass wir uns mit der
Frage beschäftigen müssen: Wie wird die Steuerlast verteilt? Schauen Sie sich die Situation in Europa an. Die
EU-Kommission fordert von Spanien, die Mehrwertsteuer auf Grundgüter, also auf Güter, die jede Bürgerin
und jeder Bürger braucht, zu erheben. Es ist wichtig,
dass sich die deutsche Bundesregierung jetzt aktiv dafür
einsetzt, dass nicht Steuern auf Grundgüter erhoben werden, die jeder Bürger und jede Bürgerin zahlen muss
- auch die Menschen, die schon in der Finanzkrise viel
verloren haben -, sondern dass endlich die Privilegierung von Finanzumsätzen abgeschafft und durch die
Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer die Finanzierung europäischer Ausgaben gewährleistet wird.
({9})
- Für das Stichwort „Klassenkampf“ bin ich Ihnen sehr
dankbar, Herr Volk.
({10})
- „Klassenkampf“ hat er gesagt.
({11})
Nein! Machen Sie sich einmal wieder den Gedanken
einer sozialen Marktwirtschaft klar. Schon am Beginn
der Bundesrepublik Deutschland ist ein breiter Konsens
entstanden - übrigens von Ordoliberalen formuliert und
vorgeschlagen -: Eine Marktwirtschaft kann nur stabil
sein, wenn es einen sozialen Ausgleich gibt. Wer heute
daran erinnert, mitten in der Krise, die dadurch verschärft wurde, dass die Verteilungssituation nicht
stimmt, der macht keinen Klassenkampf, sondern der
sorgt dafür, dass eine solche Krise in Zukunft nicht mehr
stattfinden kann. Dass die FDP dabei nicht mitzieht, ist
ihr schwächster Punkt. Deswegen nähern sich Ihre Umfrageergebnisse langsam den Steuersätzen, die wir für
die Finanztransaktionsteuer vorschlagen.
({12})
Haben Sie eigentlich wahrgenommen, dass in der
Wissenschaft inzwischen klar ist, dass der Markt für
Collateralized Debt Obligations - CDOs -, der Markt für
die problematischen Hypothekenpapiere, nur entstehen
konnte, weil es eine Konzentration von Reichtum bei
wenigen Individuen gab? Nehmen Sie es eigentlich zur
Kenntnis, dass die Schieflage auch eine Ursache dieser
Krise ist und dass wir aus dieser Krise nur herauskommen, wenn wir diese Schieflage korrigieren? Das hat
überhaupt nichts mit Klassenkampf zu tun, sondern das
ist das Wiederherstellen der Bedingungen für eine soziale Marktwirtschaft. Erinnern Sie sich einmal: Das
führen Sie ständig im Mund. Tun Sie es auch!
({13})
Ich muss zum Schluss kommen. - Ich glaube, eine
Sache ist wichtig: Wir müssen dieses Anliegen in diesem
Haus wirklich gemeinsam vertreten. Deswegen ist die
Kooperation mit der französischen Nationalversammlung gut. Wir müssen uns klarmachen: Wenn wir die Debatte in Europa gewinnen wollen und das sicherstellen
wollen, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land will, nämlich eine wirkliche Veränderung
an den Finanzmärkten, dann müssen wir gemeinsam dafür kämpfen. Es kann dann nicht sein, dass Vertreter der
Regierungskoalition hier Larifari von sich geben und
ausweichende Bedingungen formulieren, sondern dann
ist an dieser Stelle ein wirkliches Handeln von Regierung und Fraktionen notwendig. Wir haben heute bei den
Koalitionsfraktionen erlebt, dass das nicht der Fall ist.
Korrigieren Sie das, damit hinter den Ankündigungen
der Minister und der Kanzlerin etwas mehr als nur laue
Konzepte steht. Wir brauchen jetzt eine wirkliche Strategie, die dieses Haus hier gemeinsam entwickeln muss.
Hören Sie auf, das zu blockieren!
({14})
Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Poß, nachdem sich die Sozialdemokraten bei
vielen bedeutenden europäischen Abstimmungen in den
letzten Monaten etwas schwergetan haben, begrüßen wir
es natürlich außerordentlich, dass uns deutsche Sozialdemokraten und französische Sozialisten nun gemeinsame,
wortgleiche Anträge zeitgleich diskutieren lassen. Dadurch wird aber der Inhalt natürlich nicht viel aktueller.
Zum einen wissen Sie - mein Kollege Michelbach hat
darauf hingewiesen -, dass wir in wenigen Tagen oder
Wochen hoffentlich den Prüfbericht der Europäischen
Kommission zu eben diesem Thema Finanztransaktionsteuer erwarten und dann gemeinsam prüfen müssen, ob
unsere deutschen Interessen und unsere deutsche Position dort hinreichend wiedergefunden werden.
Zum anderen wollen Sie mit diesem Antrag wahrscheinlich den Eindruck erwecken, dass, wenn wir auf
europäischer Ebene zu einer Finanztransaktionsteuer
kommen, es an Ihrem heutigen Antrag liegt. Wir wissen
beide, dass das am Ende wahrscheinlich nicht der Wahrheit entspricht.
({0})
Deswegen versuche ich, einige sachliche Anmerkungen aus meiner Sicht in dieser Debatte zu machen.
Deutschland ist - das würde ich am Beginn gerne bewusst festhalten - bei der Einführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer gemeinsam mit Frankreich
und Österreich momentan Motor in Europa.
({1})
Um das sehr klar zu sagen, weil es hinsichtlich der nationalen Einführung, Herr Wissing, und der internationalen
Einführung hier offensichtlich eine unterschiedliche Debattenlage gibt: Das Präsidium der CDU hat vor der
Euro-Krise, am 14. Januar 2010, einstimmig beschlossen, dass wir eine internationale Finanztransaktionsteuer
einführen wollen.
({2})
Wir haben genauso klar gesagt: „Wir sind gegen einen
nationalen Alleingang“, weil wir fest davon überzeugt
sind, dass bei solchen Fragen sowohl die Zeit der Ideologien als auch die Zeit nationaler Alleingänge vorbei ist.
Auch das ist eine Lehre aus der Krise.
({3})
Die Einheit des Euro-Raums - was aus meiner Sicht
das Minimum sein müsste -, besser noch die Einheit
Europas, sollte in dieser Frage unser Maßstab und Ziel
sein. Es sind schon viele Zahlen genannt worden; ich
greife nur eine heraus: Zwei Drittel des Handelsumsatzes der europäischen Börsen - da bin ich noch nicht in
New York, Schanghai oder Hongkong - entfallen auf die
Börsen in London und Madrid. Das heißt, wenn Großbritannien und Spanien nicht mitmachen, bleibt dieser
europäische Tiger, den wir zu schaffen versuchen, zahnlos. Wir wissen auch, dass die Deutsche Börse in
Frankfurt nicht einmal einen Anteil von 10 Prozent am
europäischen Börsenumsatz macht. Wir sind also gut beraten, die Bundesregierung dabei zu unterstützen, internationale Lösungen - zumindest im Euro-Raum, besser
noch in ganz Europa - herbeizuführen.
({4})
Weil ich den Eindruck habe, dass wir Deutsche hier
unsere Position offensiv vertreten müssen, will ich sehr
deutlich machen: Wir von der CDU/CSU sind nicht bereit, zu akzeptieren, dass auf der einen Seite Triple-ALänder wie Frankreich, Österreich und Deutschland, die
momentan Motor des Aufschwungs sind, und auch Finnland und Luxemburg dringend benötigt werden, um mit
ihrer herausragend guten Bonität Europa und den Euro
zu stabilisieren, sich Europa auf der anderen Seite weigert, von diesen Ländern vorgeschlagene Regelungen zu
internationalen europäischen Spielregeln zu akzeptieren.
Wir erwarten deshalb, dass die EU - in diesem Punkt
teile ich Ihre Kritik, Herr Kollege Schick - jetzt zügig zu
Ergebnissen kommt. Deutschland hat sich aufgrund guter Politik, aber auch wegen der vielen fleißigen Arbeitnehmer und insbesondere des deutschen Mittelstandes,
der momentan in Europa ein stabilisierender Faktor ist
- auch das muss man an dieser Stelle einmal wohlwollend und lobend erwähnen -, als stabil erwiesen und
sollte zusammen mit den vorhin von mir erwähnten Ländern Vorschläge für die Ausgestaltung von europäischen
Spielregeln machen.
Unser Finanzminister Wolfgang Schäuble hat völlig
recht, wenn er sagt: Eines darf keinesfalls passieren,
nämlich dass wir drei Jahre diskutieren und dann nichts
hinbekommen. - Das wäre in der Tat ernüchternd für
Europa, ernüchternd für das Thema, aber auch ernüchternd für die Bevölkerung, weil sie dann den Eindruck
bekommen würde, dass wir weder Lehren aus der Krise
gezogen haben noch international in der Lage sind, den
Finanzsektor zu regulieren und so zu gestalten, wie wir
es mit Blick auf unsere Verantwortung für richtig halten.
({5})
Ich will jetzt sehr bewusst das aufgreifen, was Sie,
Herr Wissing, gesagt haben und was Gegenstand einer
kritischen Debatte war: Europa - das ist zumindest mein
Eindruck - benötigt Deutschland. Wenn ich an die
nächsten 48 Stunden denke, liegt mir auf der Zunge, zu
sagen: offenkundig mehr denn je. Europa benötigt insofern auch unsere soziale Marktwirtschaft, die nicht zuletzt der Grund dafür ist, dass Deutschland so stark ist.
Zu dieser sozialen Marktwirtschaft - ich sage das sehr
deutlich - gehören neben Freiheit auch Spielregeln und
soziale Gerechtigkeit.
({6})
Wer von uns also erwartet, dass wir in einer schwierigen Situation zu Europa stehen - ich vermute, die Mehrheit dieses Hauses wird dies in den nächsten Stunden
tun - und dass wir für unsere Währung Euro einstehen,
der muss auch akzeptieren, dass wir bei den Regeln für
die Finanz- und Wirtschaftsordnung in Europa ein kräftiges Wörtchen mitreden möchten. Die Menschen in
Deutschland erwarten von uns zu Recht, dass wir, wenn
wir aus Überzeugung für Europa werben, auch in anderen Bereichen unsere Positionen durchsetzen, die zur
Vermeidung einer neuen Krise notwendig sind.
Wir erwarten hier von unseren europäischen Partnern
und Freunden - ich sage das sehr klar und glaube, dass
dies auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in
Deutschland, völlig unabhängig von der Parteiorientierung, so sieht -, dass sie die berechtigte Interessenlage
Deutschlands respektieren und sich in der Frage einer inDr. Frank Steffel
ternationalen europäischen Finanztransaktionsteuer dem
Vorschlag von Frankreich, Österreich und Deutschland
anschließen. Nach einer europäischen Lösung - auch das
sollte heute betont werden - muss es unser Ziel sein,
eine internationale Regelung in Nordamerika und in vielen anderen Ländern dieser Erde durchzusetzen. Denn
nur internationale Regeln schützen uns vor einer erneuten Finanzkrise.
Der Grund für den Dissens in der Debatte, Herr Kollege Wissing, war - das war zumindest mein Eindruck -,
dass einige Ihnen unterstellt haben, Sie würden nicht für
internationale Regeln einstehen. Natürlich sind wir in
der Koalition gemeinsam der Auffassung, dass auf internationaler Ebene Lehren aus dieser Finanzkrise gezogen
werden müssen. Da schaden nationale Alleingänge.
Denn bei aller Bedeutung der Finanztransaktionsteuer:
Sie wird nicht alle Probleme, die im Rahmen der Finanzkrise aufgetreten sind, lösen können. Sie wäre aber ein
ergänzender Baustein neben vielen anderen Dingen, die
wir gemeinsam in den letzten Jahren angegangen sind,
und insofern ein weiterer Schutz vor einer möglichen
nächsten Krise. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in ihrer Position, europäische Regelungen zu
erreichen und dann daran zu arbeiten, sie international
durchzusetzen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte hat uns in ihrem Verlauf leider gezeigt
- das wissen wir eigentlich schon -, wie der Zustand dieser Regierungskoalition ist und in welch unterschiedlichen Tonarten dort gesprochen wird. Ich will das aber
gar nicht weiter vertiefen, weil ich dann meine wertvolle
Redezeit auf die FDP verwenden müsste. Meine Redezeit beträgt sieben Minuten. Diese Zahl ist Gott sei Dank
höher als die Prozentzahl, die die FDP bei einer Wahl
bekäme.
Ich möchte gerne aufgreifen, was mein Vorredner,
Herr Steffel, deutlich gemacht hat, und an seine Rede anknüpfen. Wir als Sozialdemokraten haben den vorliegenden Antrag nicht eingebracht, um dieses Thema zu vereinnahmen. Dafür sind dieses Thema und die damit in
Verbindung stehende Aufgabe zu wichtig. Wir haben das
Ganze im Zusammenhang mit der Bewältigung der europäischen Krise und der Beteiligung des Finanzsektors an
den Kosten dieser Krise zu sehen. Das müssen wir erreichen. Das wollen wir über eine Finanztransaktionsteuer
hinbekommen. Daher ist es richtig, wenn hier eine solche Tonart angeschlagen wird.
({0})
Ich möchte noch auf etwas anderes eingehen. Es ist
erfreulich, zu hören, dass der Bundesfinanzminister, der
sich hierzu unterschiedlich deutlich ausgesprochen hat,
von Teilen der Koalition unterstützt wird. Auch bei der
Bundeskanzlerin gab es ein Hin und Her;
({1})
auch sie hat sich in diese Richtung geäußert. Hier bedarf
es weiterer Unterstützung. Wir sind auch deshalb noch
nicht weiter, weil aus der Regierungskoalition keine einheitliche Unterstützung kommt. Da wollen wir gemeinsam nachhelfen. Wir hoffen - diese Hoffnung gebe ich
noch nicht auf; denn die Debatte ist noch nicht zu
Ende -, dass wir hier einen Schritt weiterkommen.
Ich will einige Punkte ansprechen, die missverstanden
worden sind. Herr Michelbach hat sich dahin gehend geäußert - das ist der erste Aspekt -, wir als SPD wollten
diese Steuer national einführen. In unserem Antrag wird
klar, dass eine internationale Einführung richtig wäre.
Ich muss an dieser Stelle aus unserem Antrag zitieren
- denn er ist offensichtlich nicht gelesen worden -:
Die Gesetzesinitiative soll so ausgestaltet sein, dass
sie sich in der Europäischen Union …, notfalls aber
vorerst allein in der Euro-Zone oder in einem Zusammenschluss von mehreren Einzelstaaten einführen lässt …
Darum geht es uns; das ist der Weg.
Dazu sage ich: Mit den Worten „mehrere Einzelstaaten“ sind nicht nur Deutschland, Frankreich und Österreich gemeint, sondern es sollte auch bekannt sein, dass
Belgien, Luxemburg, Finnland und außerhalb des EURaums auch Norwegen diesen Weg mitgehen würden.
Von daher gibt es hierfür eine breite Basis. Diese Chance
muss ergriffen werden. Das ist der Kern des Antrags.
Darum geht es.
({2})
Der zweite Aspekt ist der Prüfbericht. Es war gestern
im Finanzausschuss toll, Herrn Wissing und Kommissar
Semeta nebeneinander sitzen zu sehen. Ich bewundere
Herrn Wissing dafür, dass er gestern die Nerven behalten
hat.
({3})
Eigentlich hätte er aus dem Hemd springen müssen;
denn der Kommissar der Europäischen Union hat gestern deutlich gemacht, dass die EU-Kommission nicht
mehr an der Finanzaktivitätsteuer festhält, die die Bundesregierung dankenswerterweise ablehnt und für die es
hoffentlich keine Mehrheit gibt, sondern jetzt vorurteilsfrei die Finanztransaktionsteuer prüfen will.
Er hat zu dem wichtigen Thema der Gefahr der Abwanderung erklärt, dass wir uns nicht damit aufhalten
sollten, darüber zu jammern und es als Gegenargument
zu strapazieren, sondern dass die Kommission versucht,
Wege zu finden, wie man diese Abwanderung einhegen
kann, wie man dafür sorgen kann, dass die Transaktionen besteuert werden, ohne dass es zu Abwanderungen
kommt. Einen solchen Weg muss man gehen. Das ist ein
konstruktiver Umgang damit.
Herr Wissing, statt hier Ihre Märchenstunde über die
Vergangenheit abzuhalten, die offensichtlich nur Sie selber und ein paar FDPler erlebt haben, wäre es besser gewesen, dies zu sagen und deutlich zu machen; denn das
hätte auch Ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Ich erwarte, dass
Sie als Vorsitzender des Finanzausschusses - das sind Sie
noch - die Debatten kennen. Sie haben uns an einer Stelle
Unglaubwürdigkeit vorgeworfen: Wir würden sagen,
dass der Finanzsektor nicht vernünftig besteuert wird,
und das sei falsch. Die EU-Kommission befasst sich aber
deshalb mit diesem Thema, weil festgestellt worden ist
- Kollege Schick hat dies dargestellt -, dass der Finanzsektor im Bereich der Umsatzbesteuerung ausgespart
werde, dass dies - so steht es in Vorlagen der EU-Kommission - eine Unterbesteuerung des Finanzsektors bedeute und dass man das korrigieren wolle. Ich erwarte,
Herr Wissing, dass Sie als Vorsitzender des Finanzausschusses das wissen und uns hier nichts vorwerfen, sondern endlich klar die Wahrheit sagen und sich dazu bekennen, dass Sie - und nicht wir mit unserem Antrag - auf
dem Holzweg sind.
({4})
Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren, sich
wirklich zu überlegen, wie Sie sich in dieser Sache verhalten und damit umgehen wollen. In dieser Minute
- das ist wahrscheinlich einmalig - führt die französische Nationalversammlung auf der Grundlage eines
gleichlautenden Antrages die gleiche Debatte wie wir.
Ich finde, das ist ein großer Schritt. Ich hoffe, dass wir
einen solchen Gleichschritt, wie wir ihn jetzt mit unseren
Parteien hinbekommen haben, auch zwischen Deutschland und Frankreich erreichen.
Richtig überraschend und positiv ist aber, dass sich
vorgestern die UMP, die konservative Partei Frankreichs, die Partei des Präsidenten Sarkozy, dem Antrag
der Sozialisten in Frankreich, der dem Antrag der Sozialdemokraten in Deutschland entspricht, angeschlossen hat.
({5})
- Herr Brinkhaus, ich bedanke mich für die Detailkorrektur, die aber im Kern nichts ändert. Es wurde ein eigener Antrag eingebracht, so wie man das parlamentarisch macht; aber er ist im Kern wortgleich.
Er sieht übrigens einen Steuersatz von 0,05 Prozent
- Herr Michelbach hat dies hier noch bekrittelt - und
eine breite Bemessungsgrundlage vor. Es gibt aber eine
Differenz: Die Einnahmen sollen nicht unbedingt in den
nationalen Haushalt eingestellt werden, wofür wir hier
sind, sondern die UMP schreibt, dass dieses Geld insbesondere für Entwicklungshilfe und den Kampf für Klimaschutz eingesetzt werden soll.
({6})
Ich teile das von der inhaltlichen Seite her. Das könnte
eine Verwendungsmöglichkeit sein. Wir sagen aber
trotzdem, dass es eine Vereinnahmung in den nationalen
Haushalt geben soll. Ich sage nur: Die UMP, Ihre
Schwesterpartei in Frankreich, geht da einen Schritt weiter. Sie lehnen dies hier vehement ab. Auch das sollte Sie
zum Nachdenken bringen.
Ich hätte mich gefreut, wenn Sie diesen Schritt gemacht hätten. Sie können das hier nachholen, indem Sie
heute unserem Antrag zustimmen. Wenn Sie hier und
heute einen eigenen Antrag - wortgleich mit unserem eingebracht hätten, dann hätten wir auch Ihrem Antrag
zugestimmt, und wir hätten die Situation, dass nicht nur
die Franzosen in ihrer Nationalversammlung,
Herr Kollege.
- sondern hoffentlich auch wir hier die Finanztransaktionsteuer auf den Weg bringen könnten. Das braucht
Deutschland dringend, das braucht Europa dringend, und
das brauchen auch die Menschen in unseren Ländern.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das deutsch-französische Verhältnis ist natürlich wichtig und verdient eine besondere Pflege. Es ist
auch begrüßenswert, wenn solche Initiativen in beiden
Parlamenten zeitgleich beraten werden. Das bedeutet
aber natürlich nicht, dass man die Dinge hier unkritisch
durchwinkt, sondern man sollte schon einen kritischen
Blick auf das werfen, was hier vorgelegt wurde.
Sie schreiben in Ihrem Antrag als erste These, dass
der Finanzsektor keinen seiner Bedeutung entsprechenden Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leistet.
Das steht auf der ersten Seite. Da habe ich mich gefragt,
wie es eigentlich um die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer und auch die Einkommensteuer bei den Managern jener Unternehmen steht; denn hier wird ja nach
Leistungsfähigkeit besteuert. Dass da keiner einen seiner
Bedeutung entsprechenden Beitrag zur Finanzierung des
Gemeinwesens leistet, kann man sicherlich nicht sagen.
Die Lösung aus Ihrer Sicht ist eine Finanztransaktionsteuer, die - das haben Sie ja selber im Laufe der Debatte
mehrfach gesagt - wie eine Umsatzsteuer wirkt. Sie soll
aber die Verursacher treffen. Wenn man eine solche
Steuer einführen möchte, dann muss man Pro und Kontra abwägen. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob sie das
geeignete Instrument ist, um dieses Ziel zu erreichen.
Wen wollen Sie denn damit treffen? Angesichts der Immobilienblase in den Vereinigten Staaten, die man siBjörn Sänger
cherlich als krisenursächlich ansehen kann, frage ich
mich, ob Sie die Clinton-Administration treffen wollen,
({0})
die hinsichtlich der Hypothekenkredite in den Vereinigten Staaten einen Fehler gemacht hat. Oder wollen Sie
vielleicht die Landesbanken treffen, die die Krise nach
Deutschland importiert haben, oder am Ende gar die
Sparkassenvorstände, die in den Aufsichtsräten der Landesbanken agiert haben?
Das alles werden Sie mit der Finanztransaktionsteuer
nicht schaffen. Im Gegenteil: Sie werden wie bei jeder
Umsatzsteuer erreichen, dass die Belastung letzten Endes an den Anleger durchgereicht wird. Dabei entsteht
auch - das schreiben Sie sogar in Ihrem Antrag, und es
blieb im Übrigen damals in der Anhörung unwidersprochen - ein gewisser Effekt für die Arbeitnehmer, zum
Beispiel auf ihre Pensionskassen, und für die RiesterSparer.
({1})
Denn wenn die Vermögen entsprechend umgeschlagen
werden, fällt auch diese Steuer an. Das kann das Endvermögen um 6 bis 9 Prozent mindern.
Die Frage ist, ob man damit wirklich die Finanzmärkte erreicht. Werden diese an der Krise beteiligt?
Reichen die Maßnahmen, die die Bundesregierung zum
Beispiel mit der Bankenabgabe eingeleitet hat, nicht aus,
um den Sektor entsprechend an der Krise zu beteiligen?
Des Weiteren möchten Sie die Finanztransaktionsteuer zur Bekämpfung der Armut heranziehen. Das ist
ein hehres, richtiges und gutes Ziel. Die Frage ist aber,
was Sie mit dem Geld machen wollen. Wollen Sie damit
die Krisenkosten bezahlen oder die Armut bekämpfen?
Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben; es sei denn,
Sie beherrschen die Kunst der wundersamen Geldvermehrung.
Das Ziel, das Sie mit dieser Steuer verfolgen, entspricht dem Ziel, das Sie eigentlich immer verfolgen,
nämlich Abkassiererei. Sie stellen damit Ihr Ziel in eine
Linie mit Ihren bisherigen Vorhaben: Trinken für die
Truppe, Rauchen für die Rente und jetzt Spekulieren gegen Hunger.
({2})
Die nächste Frage, die sich mir stellt, ist, ob die Lenkungswirkung, die Sie dieser Steuer unterstellen, überhaupt eintreten wird. Manche Ökonomen sagen, dass Sie
damit Liquidität aus dem Markt herausziehen und die
schnelle Informationsweitergabe bei Fehlbewertungen
am Markt beseitigen.
({3})
Am Ende würde eine derartige Steuer möglicherweise
mehr schaden als nutzen.
Damit komme ich zur Frage der Abwanderung. Das
ist aus meiner Sicht als jemand, der aus Hessen kommt
- Frankfurt liegt schließlich in Hessen -,
({4})
das größte Problem. Wenn Sie eine solche Steuer nur in
der Euro-Zone einführen wollen, dann ist der Finanzplatz
London davon nicht betroffen. In den Millisekunden, in
denen diese Geschäfte stattfinden, Herr Dr. Troost, kann
man auch den Handelsplatz ändern.
({5})
Das ist ein einfacher Klick im Programm, und schon findet die Transaktion in London statt. Damit haben Sie
letztlich keines Ihrer Ziele erreicht, weil die Spekulation
und der Handel mit Finanzprodukten dort weiterlaufen.
Wir unterstützen selbstverständlich eine Prüfung und
gründliche Aufarbeitung aller Punkte, die ich eben genannt habe, um zu einer vernünftigen Datenbasis zu kommen und zu erkennen, ob das Instrument sinnvoll ist. Wir
wollen aber keine Einführung einer solchen Steuer unterhalb der Europäischen Union. Wenn überhaupt, dann
wäre die Ebene der G 20 sinnvoll. Ich glaube aber, das ist
ausgeschlossen, wobei man auch da sagen kann, dass
dann möglicherweise der 21. kommt, der Regulierungsarbitrage schafft.
Unterhalb der Europäischen Union bzw. ohne den
Finanzplatz London werden wir die Steuer nicht einführen können, und wir werden dies auch nicht wollen.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Axel Troost hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir begrüßen ausdrücklich diese zeitgleiche Debatte
hier und im französischen Parlament. Die Forderung
nach einer Finanztransaktionsteuer, für die wir schon vor
der Finanzkrise eingetreten sind, ist inzwischen breit in
der Bevölkerung und auch in diesem Haus verankert.
Dem ist eine lange Vorarbeit vorausgegangen. Zunächst
wurde die Forderung vor allem von Attac erhoben, inzwischen unterstützt sie ein breites Bündnis von 82 Organisationen in der Kampagne „Steuer gegen Armut“.
Dieses Engagement will ich hier ausdrücklich würdigen.
({0})
Auch international ist die Stimmung gut: Neben
Frankreich sind inzwischen auch viele andere Länder zu
der Einführung bereit. Das Europäische Parlament - das
ist heute noch nicht erwähnt worden - hat am 8. März
mit der deutlichen Mehrheit von 78 Prozent für die Einführung dieser Steuer gestimmt. Die traditionell eher
links angesiedelte Forderung wird inzwischen also auch
breit von Konservativen in Europa befürwortet. Vorgestern, am Dienstag, hat Kommissionspräsident Barroso
gesagt:
Ich bin für eine Finanzmarkttransaktionsteuer und
werde dazu in sehr naher Zukunft einige Ideen einbringen.
Nun haben wir gehört, dass uns der zuständige EUKommissar, Herr Semeta, der gestern bei uns war, zugesichert hat, dass eine unvoreingenommene, ergebnisoffene Prüfung vorgenommen wird. Ich selbst bin Volkswirt und kenne die Kolleginnen und Kollegen und die
Mehrheiten. Wenn die Mehrheit derjenigen, die prüfen,
aus Personen besteht, die seit 20 Jahren sagen, die Finanzmärkte seien das Effektivste und Finanzkrisen
könnten nicht vorkommen, dann ist zumindest nicht sicher, ob diese Personen ihre Meinung wirklich so schnell
ändern. Oder - um es an einem einfachen Beispiel deutlich zu machen -: Wenn Sie dem sehr berühmten Professor „Un-Sinn“
({1})
den Auftrag geben, unvoreingenommen und ergebnisoffen eine Prüfung durchzuführen, dann wissen Sie, was
das Ergebnis ist: Unsinn!
({2})
Wir Bundestagsabgeordnete sind nicht dazu gewählt
worden, Unsinn zu machen, sondern wir sind gefordert,
Politik zu machen. In diesem Zusammenhang möchte
ich ausdrücklich die Rede von Herrn Steffel begrüßen
und sagen, dass nahezu Einmütigkeit herrscht, dass
Druck ausgeübt werden muss und wir deutlich machen
müssen, dass wir als deutsches Parlament der Ansicht
sind, dass diese Steuer auf europäischer Ebene breit eingeführt werden muss.
({3})
Die Bundesregierung bemüht sich in der Tat, bei dieser Einigung voranzukommen, und dafür loben wir sie.
Aber mein Eindruck ist bisher, dass es zwei große Probleme gibt. Das erste Problem ist die FDP.
({4})
Das ist heute sehr deutlich geworden. Ich will auf die
Beiträge gar nicht eingehen. Es war nur peinlich, was
Herr Sänger hier vorgetragen hat.
({5})
Es ist wirklich so: Die FDP steht auf völlig verlorenem
Posten und sollte nicht nur ihre Führungsmannschaft,
sondern auch ihre unhaltbaren Positionen ausrangieren,
damit wir weiterkommen.
({6})
Ich habe schon einmal in einer Debatte zu diesem Thema
gesagt: Es kann nicht sein, dass der Schwanz FDP in dieser Frage mit dem Hund, dem gesamten Parlament, wackelt.
({7})
Wenn es stimmt, dass die FDP und die CDU/CSU eine
gemeinsame Fraktionsklausur abhalten wollen, dann
kann ich die CDU/CSU nur bitten, die FDP in dieser
Frage wieder an die Leine zu nehmen, damit man mit gemeinsamen Positionen vorangehen kann.
Das zweite Problem ist die Frage, auf welcher Ebene
die Steuer eingeführt werden soll und wie groß die Zustimmung zu der Einführung der Steuer sein muss. Wenn
man die Zustimmung aller 27 EU-Staaten fordert, dann
ist das aus unserer Sicht eher unrealistisch. Es muss darum gehen, mit dem Kern, Frankreich, Österreich und
anderen, zu schauen, insbesondere noch Großbritannien
ins Boot zu bekommen, um dann die Steuer einzuführen.
Es muss darum gehen, eine Koalition williger Staaten
hinzubekommen, die dann entsprechend handelt. Was
wir wirklich brauchen, ist ein Vorratsbeschluss des Deutschen Bundestages, der dokumentieren würde, dass die
Bundesrepublik wie Frankreich, Belgien und Österreich
sofort eine solche Steuer einführen würde.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zu den Einnahmen aus
dieser Steuer sagen. Eine Finanztransaktionsteuer - das
wissen alle, die sich damit beschäftigt haben - bringt
weit mehr Einnahmen als die von Schäuble veranschlagten 2 Milliarden Euro. Insofern ging es nie um so etwas
wie ein Instrument zur Finanzierung von Steuersenkungen für Hoteliers; die Finanztransaktionsteuer ist vielmehr traditionell eine Steuer zur Finanzierung globaler
Angelegenheiten wie Entwicklungshilfe oder Umweltund Klimaschutz.
({9})
Und das ist auch richtig so.
Seit 40 Jahren haben alle Bundesregierungen das Versprechen gebrochen, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe zu verwenden. Eine
Mehrheit von 353 Bundestagsabgeordneten, darunter
also auch Mitglieder der Regierungskoalition, unterstützt inzwischen einen Aufruf zur Erfüllung dieses Versprechens. Mit einer Finanztransaktionsteuer wäre dies
problemlos finanzierbar. Es ist schon wichtig, das hier
noch einmal zu betonen. Das heißt nicht, dass diese
Steuereinnahmen nicht in den Haushalt fließen. Das
heißt auch nicht, dass darüber hinausgehende Einnahmen aus dieser Steuer nicht für eine nachhaltige Politik
in der Bundesrepublik selbst genutzt werden können.
Die Bundesregierung sollte in enger Abstimmung mit
der französischen Regierung und koordiniert mit anderen Regierungen noch in diesem Jahr eine Gesetzesinitiative für eine europäische Finanztransaktionsteuer vorlegen und dann in der Tat - ich stimme Herrn Steffel
völlig zu - auch international, etwa im G-20-Rahmen,
versuchen, andere davon zu überzeugen, dass das Erheben dieser Steuer eine sinnvolle Maßnahme ist. Wir sollten versuchen, noch vor der Sommerpause einen entsprechenden Vorratsbeschluss hier im Bundestag zu
fassen.
Danke schön.
({10})
Der Kollege Ralph Brinkhaus spricht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zwei Vorbemerkungen machen:
Erstens. Ich glaube, dass eine gut organisierte, international möglichst breit angelegte Finanztransaktionsteuer nicht dazu führen wird, dass der Finanzplatz
Deutschland ernsthafte Probleme bekommt. Ich bin deswegen der Meinung, dass die eine oder andere Aufregung an dieser Stelle übertrieben ist.
Zweitens. Ich bin der Meinung, dass das Konstrukt
Finanztransaktionsteuer völlig überschätzt wird. Man
konnte hier hören, welche Einnahmen damit erzielt werden sollen, was damit gemacht werden soll: Der Hunger
und die Armut in der Welt sollen damit bekämpft werden; die Umwelt soll gerettet werden.
({0})
Ich glaube, das ist illusorisch. Es ist auch illusorisch, zu
glauben, dass wir mit einer lokal begrenzten Finanztransaktionsteuer eine Lenkungswirkung in der Form erzielen, dass unerwünschte Geschäfte von den internationalen Finanzmärkten verschwinden. Ich finde es
befremdlich, mit welcher teilweise geradezu religiösen
Inbrunst dieses Thema vorangetragen wird. Ich erkenne
den guten Willen, insbesondere bei einigen Nichtregierungsorganisationen; aber ich sehe auch sehr viel Naivität.
({1})
Zu Ihrem Antrag.
Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf, sich zusammen mit den europäischen Partnern für eine Initiative zur Finanztransaktionsteuer einzusetzen. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie wissen: Die
Bundesregierung macht das bereits. Sie wissen auch:
Die Bundesregierung findet nicht schrecklich viele Partner für dieses Projekt. Sie wissen darüber hinaus, dass
wichtige europäische Länder gegen dieses Projekt sind.
Insofern ist Ihr Antrag an dieser Stelle fehlgeleitet. Was
Sie formulieren, ist nicht richtig.
Zweitens. Sie fordern eine Finanztransaktionsteuer in
Höhe von 0,05 Prozent. Sie müssen uns jetzt auch einmal begründen, wie Sie auf diese Zahl kommen. Herr
Troost ist hier einmal durch die Gegend gelaufen und hat
0,01 Prozent gefordert.
({2})
Es gibt NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die
0,1 Prozent fordern. Dieser Steuersatz ist durchaus erheblich. Wenn nämlich ein zu niedriger Steuersatz gewählt wird, dann werden wir kein Steuersubstrat erzielen. Wenn ein zu hoher Steuersatz gewählt wird, dann
werden wir die Geschäfte, die wir besteuern wollen, im
Zweifel in andere Länder vertreiben, und zwar in solche,
in denen diese Steuer nicht erhoben wird. Das gilt es zu
bedenken. Das konnten Sie nicht ausräumen.
({3})
Sie fordern in Ihrem Antrag, dass diese Steuer auf
Wertpapiergeschäfte, auf Derivate, auf Devisentransaktionen erhoben wird. Das kann man machen. Ich hätte
mir gewünscht, dass Sie erklären - schließlich wollten
Sie mit diesem Antrag etwas Neues einbringen -, warum
Sie genau diese Abgrenzung vornehmen. Sie sagen: Wir
wollen börsliche und nichtbörsliche Geschäfte besteuern. Auch da müssen Sie mir noch erklären, wie das administrierbar sein soll. Wie soll zum Beispiel die Verwaltung von nichtbörslichen Geschäften aussehen? Das
ist durchaus eine große Herausforderung.
Sie sagen, meine Damen und Herren von der SPD,
dass diese Steuer im ersten Schritt dazu genutzt werden
soll, die nationalen Haushalte zu stärken. Das kann man
machen. Damit befinden Sie sich im Widerspruch zu den
Nichtregierungsorganisationen, auch zu einzelnen Parteien, die dezidiert fordern, dass dieses Geld zur Rettung
der Umwelt und des Klimas, zur Bekämpfung des Hungers und für die Dinge, die ich eben benannt habe, verwandt wird. Sie müssen auch beantworten, warum Sie zu
dieser Schlussfolgerung gekommen sind.
Sie sagen: Wir bauen eine Kaskade auf. Die Steuer
soll möglichst in der Europäischen Union gelten, wenn
das nicht klappt, im Euro-Raum und sonst in einer Koalition der Willigen. Herr Sieling von der SPD hat gerade aufgeführt, wer zu dieser Koalition der Willigen,
die das einführen wollen, gehören könnte. Aber Sie müssen die Frage beantworten: Was ist, wenn Großbritannien, der Finanzplatz London, nicht mitmacht? Dann bekommen wir ein erhebliches Problem. Was machen wir,
wenn die Schweiz nicht mitmacht, wovon auszugehen
ist? Diese Fragen sind unbeantwortet geblieben.
Zum Schluss - ich weiß nicht, warum Sie das vorgesehen haben - fordern Sie, dass das Parlament über den
Prozess der Entscheidungsfindung zeitnah und umfassend zu informieren ist. Das ist ein selbstverständliches
parlamentarisches Recht. Aber vielleicht war einfach
noch ein bisschen Platz auf dem Papier, sodass Sie das
hinzugefügt haben.
Wenn ich das alles einmal zusammenfasse, dann muss
ich sagen: Ich halte es - das ist sehr ernst gemeint - für
eine sehr gute Idee, etwas zusammen mit den französischen Parlamentariern zu machen. Ich glaube, das sollten wir an der einen oder anderen Stelle öfter machen,
und zwar deswegen, um einen Gegenpol zum Europäischen Parlament zu bilden und um die Bedeutung der nationalen Parlamente herauszustellen. Ich glaube, das ist
wichtig und gut.
Dieser Antrag eignet sich nur bedingt dafür, weil Sie
mit Ihrem Antrag nichts wirklich Neues liefern,
({4})
weil Sie Dinge bekräftigen, die schon geschehen, weil
Sie viele Fragen unbeantwortet lassen und weil dieser
Antrag, bei allem Respekt, handwerklich noch eine
Menge Potenzial nach oben hat. Insofern habe ich mir
schon die Frage gestellt: Warum wurde dieser Antrag
eingebracht?
Im Übrigen - Sie haben es gestern im Finanzausschuss gehört -, das Timing ist sehr schlecht, die Europäische Kommission erwartet die Ergebnisse wichtiger
Studien in den nächsten Wochen, die uns dann sicherlich
auch weiterbringen.
({5})
Ich habe mir also die Frage gestellt: Was ist der Anlass dafür, dass die SPD diesen Antrag eingebracht hat?
Erste Vermutung: Sie wollten als Opposition der Regierung einfach einmal zeigen: Ihr müsst mehr tun. Ich
glaube, die Regierung tut eine Menge, und es ist schon
erstaunlich, dass es eine christlich-liberale Regierung ist,
die das Projekt Finanztransaktionsteuer mit einer derartigen Vehemenz vorantreibt, und nicht eine sozialistische
Regierung.
({6})
Das kann es also nicht sein.
Der zweite Punkt ist: Sie wollten vielleicht dezent darauf hinweisen, dass unser Koalitionspartner dieses Projekt nicht mit der gleichen Begeisterung verfolgt, wie
wir das tun.
({7})
Dazu muss ich sagen: Das ist Ihnen, wenn ich mir die
heutige Debatte anschaue, graduell auch durchaus gelungen.
({8})
Aber wir befinden uns in einer Koalition. Ich glaube, es
ist auch ganz gut und richtig, dass die FDP nicht immer
einer Meinung mit uns ist und andere Akzente setzt. Das
war übrigens in der Großen Koalition mit Ihnen, Herr
Poß, genauso der Fall.
({9})
In einer Koalition muss man sich einfach einigen und
Kompromisse finden. Ich glaube, die Regierung hat einen guten Kompromiss gefunden und vertritt diese Linie
eigentlich ganz gut.
({10})
Das kann es also auch nicht sein.
Meine dritte These ist - das ist die These, die am
schlagendsten ist -, dass die SPD einfach mal ein finanzpolitisches Lebenszeichen von sich geben wollte.
({11})
Denn während diese Bundesregierung und diese Regierungskoalition in den letzten 14 Monaten acht Gesetze
auf den Weg gebracht haben, darunter sehr umfangreiche, innovative Pakete - ob das nun das Verbot der Leerverkäufe war oder zum Beispiel das Bankenrestrukturierungsgesetz -, wurde in den Diskussionen von Ihrer
Seite, subjektiv gefühlt, immer nur geäußert: Eigentlich
brauchen wir eine Finanztransaktionsteuer. Mehr ist
nicht gekommen. Das war, subjektiv gefühlt, Ihr Beitrag.
({12})
Jetzt ist es nicht meine Aufgabe, die Oppositionspolitik
zu bewerten. Aber, ehrlich gesagt, konstruktive Vorschläge, auch wenn sie nicht gut waren und wir sie nicht
teilen, sind leider nicht von der größten Oppositionspartei gekommen, sondern von den Grünen. Das ist ein
peinliches Beispiel dafür, wie die finanzpolitische Qualität und die Situation der SPD momentan sind. Außer Finanztransaktionsteuer fällt Ihnen nichts, aber auch gar
nichts ein.
({13})
Das Schlimme an der Sache ist, dass Sie den Menschen damit suggerieren, dass die Regulierung der Finanzmärkte und das Erzielen von Steuersubstrat aus dem
finanzwirtschaftlichen Sektor mal so eben per Federstrich durch diese Steuer erreicht werden können. Nein,
das ist eine mühsame Kärrnerarbeit, das ist ein Kampf
um jede Regulierung, und das ist ein Kampf um jede
gute Entscheidung. An diesem Kampf haben Sie sich
nicht beteiligt. Das werfe ich Ihnen vor.
({14})
Sie haben immer nur die Finanztransaktionsteuer gefordert. Das ist der einzige Beitrag, den Sie hier leisten,
und das ist schlichtweg zu wenig.
({15})
Wie geht es jetzt weiter? Das ist ja die entscheidende
Frage. Es geht jetzt so weiter, wie es die Bundesregierung, unser Bundesfinanzminister und unsere Bundeskanzlerin angekündigt haben: Wir werden auf europäischer Ebene weiterhin vehement darum kämpfen, dass
wir eine vernünftig ausjustierte Finanztransaktionsteuer
bekommen. Wir werden daran arbeiten.
({16})
Aber wir werden auch darauf achten, dass eine solche
Finanztransaktionsteuer, wenn sie denn eingeführt wird,
so organisiert wird, dass danach der Finanzplatz
Deutschland und der Finanzplatz Europa noch Bestand
haben und nicht das passiert, was den Schweden Ende
der 90er-Jahre passiert ist, als mit viel gutem Willen eine
ähnliche Steuer eingeführt worden ist, was jedoch zur
Folge hatte, dass daraufhin der Finanzplatz nachhaltig
verwüstet worden ist. Das ist nicht der richtige Weg.
({17})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der Weg, den diese
Regierung geht, ist nicht spektakulär, weil Verhandlungen, die im demokratischen Umfeld stattfinden, nie
spektakulär sind. Dieser Weg ist lang, aber wir werden
ihn gehen. Ihr Antrag dazu war nett, aber nicht unbedingt hilfreich.
Danke schön.
({18})
Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ihre Rede, Kollege Brinkhaus, stand wohl offenbar unter dem Obersatz, wie man acht Minuten Redezeit
füllt, wenn man unschlüssig ist. Ich glaube, das war Ihr
Problem.
({0})
Es ist in der Tat bemerkenswert, wie sich die Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion bisher verhalten haben;
Sie, Herr Flosbach, werden ja gleich noch sprechen. Der
Kollege Dr. Steffel ist sehr deutlich geworden und hat,
wie ich finde, eine vollkommen klare Linie vertreten.
Diese hat ja die Koalition in der Bundesregierung eigentlich schon beschlossen. Insofern müsste eigentlich auch
die FDP sagen: Das ist schon beschlossen. Wir müssen
das mittragen, weil wir in dieser Koalition sind und als
eine der Koalitionsfraktionen die Regierung tragen. Kollege Michelbach war ein wenig offen in seinen Formulierungen; nun gut.
({1})
Und Kollege Brinkhaus war ein wenig unschlüssig.
({2})
- Nein, ich war gerade hier. Sie waren ein wenig unschlüssig. Sie haben sich nicht so recht geäußert, in welche Richtung Sie denn nun wirklich etwas vorantreiben
wollen. Es war Ihnen irgendwie nicht so ganz klar, wie
Sie mit dieser Frage umgehen sollen.
({3})
Deswegen haben Sie versucht, sich an der SPD abzuarbeiten, die selbstverständlich im Finanzausschuss an allen mit der Finanzmarktregulierung zusammenhängenden Themen genauso verantwortungsvoll arbeitet wie
Sie.
({4})
- Ich bin stellvertretendes Mitglied des Finanzausschusses. Ich komme gewöhnlich nicht,
({5})
aber ich habe Zugang zu den Protokollen. Herzlichen
Dank.
Vor ungefähr zwei Monaten hat die Frühjahrstagung
von IWF und Weltbank stattgefunden. Im Vorfeld haben
1 000 Ökonomen aus 53 Ländern, darunter Jeffrey Sachs,
Dani Rodrik und Christian Fauliau, einen Aufruf unterzeichnet, in dem ein Appell an das G-20-Finanzministertreffen zur Einführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer enthalten war. Das hat bedauerlicherweise
die dort Zusammengekommenen nicht weiter interessiert. In der Unterrichtung des Bundesministeriums der
Finanzen an den Finanzausschuss über die Frühjahrstagung vom 14. bis 16. April in Washington heißt es unter
„Sonstiges“ - man merke: „Sonstiges“ -: Das Thema
Entwicklung inklusive Financial Transaction Tax spielte
bei dem Treffen keine größere Rolle.
Bedauerlicherweise muss man das feststellen. Genau
hier knüpft der Antrag der SPD an. Wenn wir auf der
Ebene der G 20 zurzeit nicht vorankommen, dann ist es
nötig, über ein abgestuftes Verfahren, wie wir es im Antrag dargestellt haben, wie es auch von meinen Vorrednern dargestellt worden ist und wie es übrigens auch
Kollege Steffel als möglich und zielführend - in dieser
Reihenfolge natürlich - dargestellt hat, das Thema
Finanztransaktionsteuer voranzutreiben.
Selbstverständlich verfolgen wir immer noch das
große Ziel, möglichst alle mit ins Boot zu holen. Aber
wenn das nicht geht, sollten zumindest wir damit anfangen. Eigentlich müssten wir doch davon überzeugt sein,
dass dieses Vorhaben, wenn es denn gut ist und ein höheres Finanzaufkommen ermöglicht, eine Strahlkraft entwickeln wird. Es macht dann auch nichts, wenn der Londoner Finanzplatz nicht von Anfang an dabei ist. Man
sollte sich nämlich nur einmal vor Augen führen, dass
Großbritannien bei der Relation der Neuverschuldung
seines Haushaltes zum Bruttoinlandsprodukt auch nicht
besser dasteht als Griechenland. Großbritannien könnte
also durchaus auch ein bisschen Geld gebrauchen, um
eigene Probleme besser zu lösen.
({6})
Ich will nur, vorsichtig und ohne den Briten zu nahe treten zu wollen, die Daten vor diesem Hause einmal deutlich machen. Wenn Aufkommen auf vernünftige Art und
Weise erzielbar ist, wird das seine Strahlkraft entwickeln.
Selbstverständlich wird das Aufkommen - da muss
ich Ihnen widersprechen, Kollege Brinkhaus - dem
deutschen Bundeshaushalt zugeführt, und die Verwendungszwecke werden dann in diesem Parlament festgelegt, auch zugunsten von Entwicklung und Klimaschutz,
und zwar in den jeweiligen Haushalten. Uns liegt daran,
dass es ein nationales Aufkommen ist, selbstverständlich
auch mit internationalen Verwendungszwecken, die
durch dieses Parlament, durch diesen Haushaltsgesetzgeber zu bestimmen sind. Es soll keine europäische
Steuer mit europäischem Aufkommen definiert werden.
So ist das zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir den
NGOs widersprechen würden; im Gegenteil.
({7})
Ich möchte mich noch kurz mit der heutigen Debatte
auseinandersetzen. Der Kollege Volker Wissing hat wie
immer nach dem Motto agiert: Frechheit siegt. Damit hat
er zu verbergen versucht, dass er die Finanztransaktionsteuer eigentlich nicht will. Er sagt das nur nicht deutlich, weil er sich nicht offen gegen die Koalitionsräson
stellen kann. Aber es kommt klar genug zum Ausdruck.
Da war es doch gut, dass der Kollege Dr. Steffel seinem
Koalitionspartner Wissing einen Grundkurs in sozialer
Marktwirtschaft gegeben hat. Das hat mich gefreut, Kollege Steffel. Es hat aber leider nicht geholfen. Denn
schon der FDP-Kollege Sänger war, ebenso wie einige
Zwischenrufer aus der FDP, nicht bereit, die in diesem
Grundkurs enthaltene Botschaft zu akzeptieren.
({8})
In diesem Zusammenhang möchte ich den Mitgliedern der FDP - ich meine nicht die Fraktion - zurufen:
Die Abgeordneten, die entsendet werden, sollten über
eine Grundausstattung an historisch-politischem Wissen
und an ökonomischem Wissen verfügen.
Herzlichen Dank.
({9})
Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist sehr interessant. Aber an dieser Stelle sollte der Bundesregierung
- unserer Bundeskanzlerin, unserem Finanzminister
Schäuble -, auch vonseiten der Opposition, dafür gedankt werden, dass sie bei jeder internationalen Tagung
deutlich macht, dass die große Mehrheit der Deutschen
für eine Finanztransaktionsteuer ist, und dass sie diese
Steuer weltweit, unter den G 20, in Europa oder wo auch
immer einführen will. Das ist unser gemeinsames Anliegen, auch in diesem Parlament. Insbesondere die Regierungskoalition hat dies deutlich gemacht, indem sie
2,3 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt hat.
({0})
Damit haben wir ein Ziel formuliert, auch wenn uns bewusst ist, dass es weltweit große Widerstände und
Schwierigkeiten, die Steuer durchzusetzen, gibt.
({1})
Ich finde es auch gut, dass beispielsweise die Parlamente in Frankreich und in Deutschland - wir haben ja
einen relativ engen Kontakt zu den Franzosen - sowie
Präsident Sarkozy sich dieses Themas angenommen haben und dass wir dieses Thema in der Europäischen
Union federführend vorantreiben. Der heute vorliegende
Antrag der SPD ist im Grunde eine Bestätigung der Regierungspolitik.
({2})
Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, über dieses
Thema zu diskutieren; deswegen haben wir dazu keinen
eigenen Antrag eingebracht.
Ihre Worte, Herr Sieling, waren natürlich viel schärfer
als der Inhalt Ihres Antrages. Es ist ein relativ ruhiger
Antrag. Sie sagen: Setzen Sie die Finanztransaktionsteuer global durch. Wenn das nicht klappt, machen Sie
es wenigstens in Europa oder, wenn auch das nicht funktioniert, zumindest in der Euro-Zone oder auch nur mit
Gleichgesinnten. - Das ist natürlich ein bisschen wenig.
Die Einführung beinhaltet ein höheres Risiko, wenn nur
wenige dahinterstehen. Der Kollege Brinkhaus hat gerade am Beispiel Schwedens deutlich gemacht, wie innerhalb kürzester Zeit 85 Prozent des Marktes eingebrochen sind. Das passiert, wenn man es isoliert einführt
und nicht mit den anderen abstimmt. Das ist ein großes
Risiko, dessen wir uns bewusst sind.
Ich glaube jedoch, dass insgesamt die Chance, dieses
Thema voranzubringen, recht groß ist, und zwar nicht
nur in Europa, sondern auch global. Wir sollten uns einmal die Länder China, Hongkong, Brasilien, Indien und
Südafrika auf der G-20-Ebene ansehen, die bereits heute
eine Besteuerung ihrer Transaktionen durchführen. Übrigens hat auch Großbritannien eine Steuer, eine Stempelsteuer, die allerdings auf ansässige oder registrierte Unternehmen beschränkt ist.
({3})
Aber sie haben einen Weg gefunden, eine Besteuerung
einzuführen, deren Aufkommen immerhin 3,5 Milliarden Pfund ausmacht.
Warum sind wir im Grunde für eine Besteuerung des
Finanzsektors? Wir haben nicht nur mehrere Krisen erlebt, sondern stecken teilweise noch mittendrin. Wir haben mehrfach überlegt, wie wir den Finanzmarkt durch
eine Besteuerung an den Kosten beteiligen können. Hier
wird über die Finanzaktivitätsteuer, das heißt die Besteuerung von Gewinnen und Vergütungen, diskutiert. Oder
soll man den Handel von Papieren im Bereich der Banken, aber auch der Privatleute besteuern? Wir haben am
Finanzmarkt bisher keine Mehrwertsteuer, die wir in allen anderen Bereichen selbstverständlich erheben.
Der erste Gedanke ist natürlich: Die Banken waren
die Hauptverursacher der Krise, also müssen wir sie heranziehen. Nun wissen Sie alle, dass etwa zehn Banken
mit recht großen Beträgen gerettet werden mussten.
Aber es ging auch um die anderen Banken, die durch die
Rettung dieser zehn Banken gesichert werden mussten.
Jetzt kann man natürlich sagen, dass diese Banken
mehr Steuern zahlen sollten, zum Beispiel über die Aktivitätsteuer. Das würde heißen, die Gewinne und Vergütungen würden noch einmal zusätzlich besteuert. Das
kann ein Weg sein. Aber mit dieser Besteuerung und
dem damit verbundenen Kumulativeffekt, durch den die
Banken mehrfach belastet würden, würden viele Dinge
nicht umgesetzt werden, die wir mit Blick auf die Regulierung des Finanzmarktes für wichtig halten. Wir wollen, dass die Banken stabiler werden. Es ist ein Markenzeichen dieser Bundesregierung und dieser Koalition,
dass wir in erster Linie darauf abstellen, wie wir den
Finanzmarkt wieder stabil machen können. Da sagen
wir: Wir brauchen mehr Eigenkapital in den Unternehmen. Das ist einer der absolut wichtigsten Punkte, damit
eine solche Krise nicht noch einmal passieren kann. Stabilität - das ist das Wort dieser Regierung.
({4})
Daran anknüpfend haben wir - Herr Kollege
Brinkhaus hat mehrere Gesetze aufgezählt - durch das
sogenannte Restrukturierungsgesetz einen Weg gefunden, wie wir Banken auch in der Insolvenz übertragen
können, wenn sie systemrelevant sind. Oder wir können
sie pleitegehen lassen, ohne dass das System gefährdet
wird. Dafür haben wir eine zusätzliche Bankenabgabe
eingeführt. Dies ist zwar noch einmal eine Belastung des
Finanzsektors, aber notwendig, um in Zukunft für weitere Krisen gewappnet zu sein.
Das Wichtigste im deutschen Markt ist die Versorgung unserer mittelständischen Wirtschaft mit Krediten.
Dazu brauchen wir stabile Banken. Deswegen müssen
wir ganz genau festlegen, wo angesetzt werden soll, wo
Banken belastet werden sollen, wo wir aber auch Banken stärken können, damit sie unseren Mittelstand finanzieren können. Wir haben im Gegensatz zu England
einen starken Mittelstand. Diese Wirtschaft ist stabil.
Diese Wirtschaft schafft es, 40 Prozent aller Leistungen
ins Ausland zu transportieren. Das ist die Stärke. Deswegen müssen wir darauf achten, dass die Banken hier in
Deutschland besonders stabil sind.
Die Finanztransaktionsteuer soll auf Umsätze beispielsweise durch Aktien, Renten, Derivate, Devisen erhoben werden. Das ist hier vorgeschlagen worden. Die
Europäische Kommission hat gesagt: Das kriegen wir
derzeit nur global hin. Herr Semeta hat gestern bei uns
im Finanzausschuss deutlich gemacht, dass hier noch
keine Entscheidung gefallen ist, ob besser die Aktivitätsteuer oder die Transaktionsteuer eingeführt werden soll.
Warum gibt es hier noch Unterschiede? Viele gehen
davon aus, dass man mit einer Finanztransaktionsteuer
auch seinen eigenen Heimatmarkt beschädigen kann,
wenn das passiert, was heute in der Finanzwirtschaft
vielfach passiert: Im Grunde wird auf den Knopf gedrückt, und der Handel findet nicht in Frankfurt, sondern
in London, New York, Hongkong oder anderswo statt.
({5})
Das ist eine Problematik, der wir uns stellen müssen.
Deswegen ist es auch so wichtig, Herr Staatssekretär, internationale Verhandlungen zu führen, um die anderen
mit auf diesen Weg zu nehmen. Es kann nicht sein, dass
wir unseren Finanzmarkt durch diese Abwanderung
schwächen und die anderen dadurch gestärkt werden,
wie beispielsweise damals in Schweden.
Bei jeder Besteuerung und jeder Regulierung stellt
sich aber die Frage: Sind sie eigentlich für den eigenen
Finanzmarkt richtig? Die Krise hat gezeigt, dass wir gute
Regulierung brauchen, wenn wir einen stabilen Finanzmarkt haben wollen. Jede Regulierung und jede Besteuerung bedeutet immer ein gewisses Stück Wettbewerbsbehinderung für den eigenen Markt. Wenn wir dadurch
aber einen stabilen Markt erreichen können, kann es nur
der richtige Weg sein, recht scharfe Bedingungen für den
Finanzmarkt zu schaffen, gleichzeitig aber auch die
Möglichkeit, dass sich der Finanzmarkt zukünftig an den
Kosten der Finanzkrise und an unserem Gemeinwesen
beteiligt.
Meine Damen und Herren, die Finanztransaktionsteuer hätte die Krise nicht verhindert; das wissen wir.
({6})
Oftmals wird so getan, als ob wir mit der Steuer unseren
ganzen Haushalt sanieren könnten. Wir haben Einnahmen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro in den Haushalt
eingestellt, weil wir das für einen realistischen Wert halten, der in naher Zukunft erreicht werden kann. Die
Finanztransaktionsteuer hätte die Krise nicht verhindert;
denn sie ist durch günstige Kreditzinsen in den USA entstanden. Die entsprechenden Kredite sind nach Europa
verkauft worden, auch an unsere Landesbanken. Das
wäre durch eine solche Steuer nicht verhindert worden.
Finanzmarktregulierungen hingegen können in Zukunft Krisen verhindern. Wir haben in dieser Koalition
innerhalb eines Jahres acht große Gesetze auf den Weg
gebracht, um zukünftige Krisen zu verhindern. Das hat
es bisher noch nicht gegeben. Sie haben heute einen Antrag zur Finanztransaktionsteuer vorgelegt, die in unse13012
rem Paket bereits enthalten ist. Sie haben einen solchen
Antrag aber in den elf Jahren Ihrer Regierungsführung
nicht eingebracht; Sie haben nicht versucht, das Ganze
umzusetzen, auch nicht in der rot-grünen Koalition.
({7})
Wir stellen uns als Koalition hinter unsere Regierung.
Wir unterstützen unsere Bundeskanzlerin und unseren
Finanzminister. Wir kämpfen für ein stabiles System.
Wir sind keine schwache Gesellschaft im europäischen
Konzert; wir Deutsche sind derzeit der große, stabile
Anker, im Gegensatz zu den Jahren am Anfang des Jahrtausends, als wir in allen Tabellen Letzter waren. Damals
hielten wir die rote Laterne, jetzt sind wir vorne: Wir
sind die Lokomotive in Europa; wir sind diejenigen, die
derzeit den Zug insgesamt ziehen. Diese Stärke haben
wir mit dieser Regierung erreicht. Wir haben dafür gesorgt, dass wir am Finanzmarkt deutlich stabiler aufgestellt sind als in den Zeiten Ihrer Regierungsführung.
Darauf können wir stolz sein.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor-
lage auf Drucksache 17/6086 an die Ausschüsse zu über-
weisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis n und
34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis e auf:
34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex
- Drucksache 17/6053 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({1}) Nr. 1272/2008
und zur Anpassung des Chemikaliengesetzes
und anderer Gesetze im Hinblick auf den Ver-
trag von Lissabon
- Drucksache 17/6054 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Interna-
tionalen Organisation für erneuerbare Ener-
gien über den Sitz des IRENA-Innovations-
und Technologiezentrums
- Drucksache 17/6039 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie
und zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes
- Drucksache 17/6055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 9. März 2010 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
- Drucksache 17/6056 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 4. Juni 2010 zwischen der Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Turks- und Caicosinseln
über den steuerlichen Informationsaustausch
- Drucksache 17/6057 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
San Marino über die Unterstützung in Steuerund Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/6058 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Britischen Jungferninseln
über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/6059 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Februar 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/6060 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vierten,
Fünften und Sechsten Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über
die Arbeit des im internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals ({6})
- Drucksache 17/6061 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Übereinkommens vom 4. August 1963 zur Errichtung der Afrikanischen
Entwicklungsbank
- Drucksache 17/6062 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 29. November
1972 über die Errichtung des Afrikanischen
Entwicklungsfonds
- Drucksache 17/6063 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Rechtsausschuss
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Mit Essen spielt man nicht - Spekulation mit
Agrarrohstoffen eindämmen
- Drucksache 17/5934 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aussagekräftigen Abschlussbericht zur beendeten Beteiligung deutscher Streitkräfte an
der Operation Enduring Freedom vorlegen
- Drucksache 17/6123 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
p) Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin
Organlebendspende
- Drucksache 15/5050 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 12a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({12}), Kerstin Griese,
Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Die Integration der Sinti und Roma in Europa
verbessern
- Drucksache 17/6090 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klare Regelungen für Intensivtierhaltung
- Drucksache 17/6089 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten
- Drucksache 17/6088 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang
Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen - Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern
- Drucksache 17/6108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen
- Drucksache 17/6107 Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zuerst zu den unstrittigen Überweisungen. Hier geht es um die Tagesordnungspunkte 34 a bis n
und 34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis d. Interfraktionell wird vorgeschlagen, diese Vorlagen an die Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.
Jetzt kommen wir zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6107 mit dem Titel „Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittelkrisen vorlegen“. Hier wünscht die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen
der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie mitberatend an den Gesundheitsausschuss. Die Abstimmung
über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach
ständiger Übung vor. Deshalb frage ich: Wer stimmt für
die Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Überweisung so beschlossen, bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Damit gibt es
heute keine Abstimmung zu diesem Punkt.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 35 a und b,
35 e bis m sowie Zusatzpunkt 13 auf. Hier handelt es
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
wir keine Aussprache vorgesehen haben.
Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzteordnung
- Drucksache 17/5804 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16})
- Drucksache 17/6106 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6106, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/5804 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf wurde
einstimmig in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dafür stimmt, möge sich
bitte erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? In dritter Beratung wurde der Gesetzentwurf ebenfalls
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg,
Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Torsten Staffeldt, Dr. Martin Lindner ({18}),
Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft als nationale Aufgabe
- Drucksachen 17/5770, 17/6028 Buchstabe a Berichterstattung:
Abgeordneter Eckhardt Rehberg
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6028, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5770 anzunehmen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die
Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 269 zu Petitionen
- Drucksache 17/5919 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 270 zu Petitionen
- Drucksache 17/5920 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht wurde ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 271 zu Petitionen
- Drucksache 17/5921 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Dagegen
hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Bündnisgrünen haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 272 zu Petitionen
- Drucksache 17/5922 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 35 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 273 zu Petitionen
- Drucksache 17/5923 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrüne angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 36 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 274 zu Petitionen
- Drucksache 17/5924 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und FDP. Dagegen haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke gestimmt.
Tagesordnungspunkt 35 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 275 zu Petitionen
- Drucksache 17/5925 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. SPD und Linke haben dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 35 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 276 zu Petitionen
- Drucksache 17/5926 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen
gestimmt haben SPD und Bündnisgrüne. Die Linke hat
sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 35 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 277 zu Petitionen
- Drucksache 17/5927 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({28}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers
Group verhindern - Keine weitere Erosion des
nuklearen Nichtverbreitungsregimes
- Drucksachen 17/5374, 17/6139 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Bijan Djir-Sarai
Kerstin Müller ({29})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6139, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5374 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen ha13016
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
ben zugestimmt. Die Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD:
Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die
Aufkündigung des Maritimen Bündnisses
durch die Bundesregierung
({30})
- Zu einem gewaltfreien Redebeitrag gebe ich jetzt das
Wort dem Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
({31})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil
es aus unserer Sicht dringend notwendig ist, dieses
Thema nach der Nationalen Maritimen Konferenz in
Wilhelmshaven und der im Vorfeld geführten Debatte
noch einmal aufzugreifen.
Bei der Debatte, die wir nur wenige Tage vor der letzten Nationalen Maritimen Konferenz in diesem Hause
geführt haben, waren sich alle einig, wohin die Reise gehen sollte. Wenn man sich aber die Ergebnisse der Nationalen Maritimen Konferenz anschaut, dann ist von diesen Absichtserklärungen, die insbesondere von der
Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen abgegeben worden sind, nichts übrig geblieben.
Wir lesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die
Überschrift: „Eine maritime Enttäuschung“, in der
Financial Times Deutschland: „Reeder meutern gegen
Regierung“ und im Handelsblatt: „Reeder holen die
deutsche Flagge ein“. Was die Bundesregierung bei der
Nationalen Maritimen Konferenz an Nichtzusagen hinterlassen und was sie mit ihrem Agieren dort verursacht
hat, bedeutet einen schweren Schaden für die maritime
Wirtschaft in Deutschland.
({0})
Ich kann für mich behaupten, bei internationalen
Konferenzen dabei gewesen zu sein, ob in Emden,
Rostock, Hamburg oder anderenorts.
({1})
- Das sind internationale Maritime Konferenzen, Herr
Kollege. - Es hat regelmäßig Erwartungen gegeben, die
nicht immer zu 100 Prozent erfüllt werden konnten. Das
ist völlig klar. Diesmal aber ist keine einzige Erwartung
erfüllt worden. Überhaupt nichts ist passiert.
({2})
Gehen wir die einzelnen Punkte einmal durch: Wir
haben die Rede von Herrn Rösler gehört. Die war - darauf hat der Staatssekretär in der Abmoderation Wert gelegt - frei gehalten, das war wunderbar. Sie hatte eine
gewisse Struktur, das war auch wunderbar. Konkrete Zusagen aber, wie der maritimen Wirtschaft in den einzelnen Sektoren geholfen werden kann, gab es keine. Auch
denjenigen, die vielleicht von dem Stil der Rede in den
ersten Minuten noch begeistert waren, ist spätestens
beim Mittagessen aufgegangen, dass nichts Substanzielles hinter diesen Aussagen steckte.
Die Bundeskanzlerin hat, als sie über die Werften gesprochen hat, gesagt: „Die Sorge ist im Raum.“ Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. Wir brauchen
aber keine sich sorgende Mutti, sondern wir brauchen
eine handelnde Kanzlerin, die den Werften in Deutschland hilft und Unterstützung anbietet.
({3})
Der Kollege Ramsauer hat überhaupt noch nicht begriffen, was für eine Unruhe er mit seinen Entwürfen für
eine neue Wasserstraßenpolitik in diesen Bereich hineingetragen hat. Anstatt auf der Maritimen Konferenz klar
und deutlich zu sagen: „Das war eine Fehlentwicklung,
ich stehe unter Druck von einzelnen Abgeordneten in der
Koalition, das korrigieren wir“, will er diesen Weg
- bislang jedenfalls - nicht korrigieren oder verlassen.
In allen Reden seitens der Bundesregierung kam deutlich zum Ausdruck, dass es Handlungsdruck gebe, die
Haushaltslage schwierig sei und man ordnungspolitisch
sauber sein wolle. Das hat Herr Rösler, glaube ich, in jedem dritten Satz gesagt, das sagt auch der Maritime Koordinator alle naselang. Es geht aber nicht an, dabei zuzusehen, wie diese Branche immer wieder in große
Schwierigkeiten gerät, und sich trotzdem auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Dafür sind wir aber ordnungspolitisch sauber.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Otto, ich will Ihnen
sagen: Sie sind der Maritime Koordinator dieser Bundesregierung. Diese Funktion ist damals parallel zu den Maritimen Konferenzen eingeführt worden, um in der Bundesregierung jemanden zu haben, der die Interessen für
diesen Sektor wahrnimmt und der gerade nicht die Abwehrhaltungen aus den einzelnen Ressorts noch verteidigt. Sie sagen: Im Verteidigungshaushalt ist nicht mehr
Geld vorhanden, deshalb kann die Marine keine Schiffe
bestellen; in anderen Bereichen sieht es ähnlich aus. Sie
sind nicht der Verteidiger der einzelnen Ressorts, sondern Sie sollten sich als Interessenvertreter der maritimen Wirtschaft gegen das aufbäumen, was auf der Ministerialebene überall vorgetragen wird. Das wäre Ihr
Job.
Ich möchte Ihnen, sehr geehrter Herr Otto, zum Abschluss eines sagen - das kann ich Ihnen nicht ersparen -:
Als Frau Wöhrl diese Position zur Regierungszeit der
Großen Koalition übernahm, war die gesamte maritime
Szene skeptisch. Die heutige SPD-Opposition hatte
diese Skepsis gegenüber Frau Wöhrl zu Beginn ihrer
Amtszeit geteilt. Frau Wöhrl ist es gelungen, sich im
Laufe ihrer Arbeit bei allen Beteiligten einen hohen Respekt zu erarbeiten.
({4})
Davon sind Sie, Herr Otto, noch weit entfernt.
({5})
Vielen Dank.
({6})
Ingbert Liebing hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Genauso wie der Kollege Duin habe auch ich die Chance
gehabt, an der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven
teilzunehmen. Ich habe dort die beiden Workshops zu
den Themen „Seeschifffahrt“ und „Offshorewindenergie“ besucht. Ich habe die strittigen Diskussionen im
Workshop „Seeschifffahrt“ erlebt, aber auch den Optimismus und die Aufbruchsstimmung, als es um Offshorewindenergie ging. Deshalb, Herr Kollege Duin, habe ich
für die Kritik, die Sie hier vorgetragen haben, überhaupt
kein Verständnis; denn damit werden Sie den Verhältnissen nicht gerecht.
({0})
Offensichtlich scheint Ihrer Fraktion das Thema nicht
so wichtig zu sein, sonst wären bei der Aktuellen Stunde,
die Sie beantragt haben, mehr Kollegen anwesend.
({1})
Allein die Lokalität dieser Veranstaltung in Wilhelmshaven auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports hat deutlich gemacht, welche Aufbruchsstimmung an der Küste
vorherrscht. Die Baustelle des Jade-Weser-Ports ist ein
Symbol für Dynamik in der maritimen Wirtschaft, nicht
zuletzt deshalb, weil die Bundesregierung mit Tatkraft
- insbesondere auch durch die zusätzliche Verkehrsanbindung - dafür sorgt, dass die maritime Wirtschaft erfolgreich ist. Wir tun das, was für die maritime Wirtschaft notwendig, richtig und sinnvoll ist.
({2})
Dennoch möchte und muss ich eine kritische Anmerkung an die Adresse des Maritimen Koordinators richten. Eine Bemerkung von ihm in seiner Abschlussansprache konnte ich nicht nachvollziehen. Sie haben dort
zum Thema CCS mit Blick auf eine CO2-Speicherung
im Meer angekündigt: Seien Sie sicher, wir werden das
machen. - Dazu sage ich ausdrücklich: Seien Sie da
nicht so sicher. Wir arbeiten an einem Gesetzentwurf bezüglich Demonstrations- und Forschungsvorhaben. Bei
solchen Vorhaben beginnt man nicht mit der teuersten
Lösung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone. Mit
dieser Äußerung haben Sie Verunsicherung und Widerstand hervorgerufen sowie neue Gründungen von Bürgerinitiativen gegen CCS provoziert. Sie sollten jetzt erst
einmal das erledigen, was in diesem Bereich auf der Tagesordnung steht. Deswegen sage ich ausdrücklich: Das
war nicht gerade hilfreich.
Die kritischen Diskussionen im Workshop „Seeschifffahrt“ habe ich kurz angesprochen. Dazu wird mein Kollege Rehberg noch einiges sagen. Ja, es gibt dort Konflikte, die uns sicherlich noch weiter beschäftigen
werden. Das wird noch Thema hier im Parlament sein.
Ich möchte ausdrücklich die Aufbruchsstimmung und
den Optimismus im Workshop zur Offshorewindenergie
würdigen. Lange genug ist in diesem Bereich zu wenig
passiert. Umweltminister Trittin hat seinerzeit in rot-grüner Verantwortung die Seeanlagenverordnung mit zwei
Sätzen geändert; das war es dann. Danach ist jahrelang
nichts passiert. Der erste Offshorewindpark, die erste
Demonstrationsanlage, Alpha Ventus, ist von CDU-Umweltminister Röttgen mit eingeweiht worden.
Jetzt, nach vielen Jahren, müssen wir uns an die Aufgaben machen, die in Ihrer Verantwortung viel zu lange
liegen geblieben sind. Wir haben jetzt ein großartiges
Paket auf den Weg gebracht. Es ist in dem Workshop gelobt worden und wird von der Branche angenommen.
Wir werden in der nächsten Sitzungswoche im Zusammenhang mit dem EEG hier im Plenum darüber abstimmen. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen werden und
ob Sie zustimmen werden. In dem Gesetzentwurf werden eine Verbesserung der Vergütung von Offshorewindenergie, eine Einbeziehung der Sprinterprämie in die
Anfangsvergütung und die Verschiebung des Degressionsbeginns von 2015 auf 2018 vorgesehen. Wir führen
ein optionales Stauchungsmodell ein; das sichert mehr
Liquidität in der schwierigen Anfangsphase. Wir verpflichten die Netzbetreiber, dauerhaft für die Netzanbindung zu sorgen. Das BSH wird einen Masterplan Offshorenetzanbindung erarbeiten. Wir werden eine neue
Genehmigungsstruktur schaffen, mit Konzentrationswirkung in der Verantwortung des BSH; das macht die Genehmigungsverfahren schneller, schlanker und einfacher.
Ich nenne auch das KfW-Programm mit einem Volumen
von 5 Milliarden Euro, das die finanzielle Absicherung
zehn weiterer Windparks ermöglicht.
Von dieser Entwicklung wird eine breite maritime
Wertschöpfungskette profitieren. Davon wird auch der
Schiffbau profitieren, wenn es um Errichter- und Versorgungsschiffe geht. Auch die Hafenwirtschaft blickt mit
Spannung und Optimismus auf diese Entwicklung, weil
es dort um eine vielfältige Versorgungs- und Dienstleistungsstruktur geht, die sich jetzt im Aufbruch befindet.
Die Länder und die Kommunen engagieren sich bei
diesem Thema. Der runde Tisch „Maritime Offshoreinfrastruktur“ bündelt diese Engagements, um dies so
schnell wie möglich und so geordnet wie möglich über
die Bühne zu bringen, damit wir alle davon profitieren
können. Das Ziel ist, bis 2030 eine Leistung von
25 000 Megawatt zu erreichen. Dann würden wir off13018
shore etwa 15 Prozent des gesamten Strombedarfs decken. Das allein ist eine gute Entwicklung und eine gute
Perspektive mit gewaltigen Chancen für die maritime
Wirtschaft. Ich habe das Signal, das von der Maritimen
Konferenz in Wilhelmshaven ausging, so verstanden,
dass die Branche Gewehr bei Fuß steht.
Herr Kollege.
Sie möchte diese Maßnahmen umsetzen und wird es
auch tun. Hierin liegt eine gewaltige Chance, gerade vor
dem Hintergrund der Ergebnisse, die die Maritime Konferenz in Wilhelmshaven gebracht hat.
Vielen Dank.
({0})
Herbert Behrens hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Maritime Konferenz in Wilhelmshaven sollte so etwas wie eine Leistungsschau der Bundesregierung sein;
zumindest war sie so angekündigt. Das hat dieser Konferenz enormen Wind verliehen. Hätte man diesen Wind
genutzt, um damit Energie zu erzeugen, dann wären wir
bei der Energiewende, über die wir heute Morgen diskutiert haben, wie ich glaube, schon ein Stück weiter.
({0})
Sehen wir uns die Wirklichkeit an. Die Werften stecken trotz des Spezialschiffbaus immer noch in einer tiefen Krise; das wurde auch in Wilhelmshaven von den
einzelnen Akteuren so gesagt. Trotzdem wird die Förderung der Schiffbaufinanzierung zurückgeschraubt.
({1})
Die Bürgschaftsquote muss bei 90 Prozent bleiben; das
wurde von Ihnen infrage gestellt. Wenn das nicht passiert, wird den Werften in Mecklenburg-Vorpommern
die Luft ausgehen. Dann werden wir in MecklenburgVorpommern nicht nur in sozialer, sondern auch in technologischer Hinsicht ein Fiasko erleben. Das müssen wir
auf jeden Fall verhindern.
({2})
Bis zum Jahr 2020 sollen in der Nord- und Ostsee
Windparks mit einer Leistung von 10 000 Megawatt installiert werden. Doch das neue Offshoresonderprogramm der staatlichen KfW steht den Werften, die beispielsweise in den Bau von Offshoreversorgungsschiffen
investieren wollen, offenbar nicht zur Verfügung. Diese
Forderung von Werften, der Zulieferindustrie und der
IG Metall wird nicht erfüllt. Massive Kritik erntete die
Bundesregierung in Wilhelmshaven auch für ihren völlig
verkorksten Reformvorschlag im Hinblick auf die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung; wir haben in den Workshops davon gehört. Beschäftigte und Unternehmen der
Binnenschifffahrtsbranche machten auf der Maritimen
Konferenz ihrem Unmut Luft.
Wir haben in Wilhelmshaven kein Bekenntnis zur
Verbesserung der ökologischen Bilanz des Schiffsverkehrs zu hören bekommen.
({3})
Statt sich eindeutig für die Einhaltung der Grenzwerte
für Schwefelemissionen in Nord- und Ostsee stark zu
machen, philosophierten Mitglieder der Regierungskoalition über Moratorien und Stichtagsverschiebungen.
Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie wissen wollen,
wer an der Maritimen Konferenz teilgenommen hat,
sollten Sie nicht nur in das Veranstalterverzeichnis sehen. Sie sollten auch nach links und rechts schauen.
Dann würden Sie möglicherweise feststellen, dass auch
Menschen, die nicht im Teilnehmerverzeichnis stehen,
sehr wohl an dieser Konferenz teilgenommen haben.
Ich habe bereits einige Ausführungen zur Bilanz der
Maritimen Konferenz gemacht. Sie ist in gewisser Weise
desaströs. Dort, wo es zu wirklich zukunftsweisenden
Initiativen hätte kommen können, ist nichts geschehen.
An dieser Stelle stimme ich der Kritik der Kolleginnen
und Kollegen von der SPD zu.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Gegenstand der Maritimen Konferenz gewesen ist: die Aufkündigung des Maritimen Bündnisses.
({4})
Lassen Sie mich dazu noch ein paar Worte sagen.
3 700 Schiffe von deutschen Eignern fahren auf den
Weltmeeren - 445 davon unter deutsche Flagge. Das
heißt, über 3 000 Belegschaften arbeiten teils unter
schlimmen Bedingungen. Niedrige Heuern und geringe
Sicherheitsstandards sind an der Tagesordnung. Oft haben die Beschäftigten keine Chance, mit den Gewerkschaften Kontakt aufzunehmen und Unterstützung zu bekommen.
({5})
Aus diesen schlechten Bedingungen ziehen die Reeder
im Moment ihren Extraprofit. Wettbewerb auf Kosten
der Menschen und der ökologischen und sozialen Standards ist ein schmutziger Wettbewerb. Dagegen kämpft
die Linke.
Wir fordern ein Maritimes Bündnis zwischen Politik,
Reedern und Gewerkschaften, das maßgeblich den Beschäftigten dient. Wenn die Reeder Zuschüsse zu den
Lohnkosten bekommen, wenn Ausbildungskosten für
den Seeleutenachwuchs bezuschusst werden, dann ist
das in Ordnung, wenn wieder mehr Schiffe unter deutscher Flagge fahren und wenn wieder tarifliche Heuern
und soziale Standards gelten. Allerdings darf es Subventionen nur so lange geben, bis ein vereinbartes Ziel erreicht worden ist. Darum kann es durchaus richtig sein,
dass die Bundesregierung ihre Lohnkostenzuschüsse
auslaufen lässt. Eine Subvention muss auf jeden Fall infrage gestellt werden, wenn sich eine Seite gar nicht
mehr an die Vereinbarung hält und einen Konsens auflöst.
600 Schiffe - das hatten die Reeder zugesagt - sollten
im internationalen Seehandel wieder unter deutscher
Flagge fahren. Dass die Reeder diese Zusage nicht einhalten, sondern heute nur 445 Schiffe unter deutscher
Flagge fahren,
({6})
ist angeblich - das wurde gesagt - der Krise geschuldet.
Die Reeder sagen: Wir sind auf jeden Fall nicht damit
einverstanden, dass diese Subvention infrage gestellt
wird. Sie drohen damit, dass weitere Schiffe nicht mehr
unter der deutschen Flagge fahren werden. Das ist nicht
einmal mehr nur eine Drohung, sondern schon Wirklichkeit. Die Zahl der ausgeflaggten Schiffe steigt an; die
Gesamttonnage der ausgeflaggten Schiffe hat sich in den
letzten zehn Jahren mehr als verzehnfacht.
Jetzt damit zu drohen, aus dem Maritimen Bündnis
auszusteigen, weil die Zuschüsse zu den Lohn- und Ausbildungskosten halbiert werden sollen, ist nicht akzeptabel und nicht aufrichtig. Wir brauchen eine vernünftige
Förderung, mit der den Beschäftigten geholfen wird.
Dies dürfen nicht nur Subventionen sein, und es darf
auch nicht nur zu Steuerentlastungen über die Tonnagesteuer kommen, sondern wir brauchen eine sozial-ökologisch orientierte Wende in der maritimen Wirtschaft.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich durchaus, dass wir
heute im Rahmen einer Aktuellen Stunde noch einmal
Gelegenheit haben, die maritime Wirtschaft in den Fokus der parlamentarischen Aufmerksamkeit rücken zu
können. Verbunden mit der Debatte, die wir vor knapp
vier Wochen hier im Hause geführt haben, und der gerade erfolgreich beendeten Siebten Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven können wir damit erneut die strategische, unverzichtbare Bedeutung und die
große Perspektive für diese Zukunftsbranche in den
Blick nehmen.
({0})
Die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven mit fast tausend Teilnehmern hat zum wiederholten Male gezeigt: Das Konzept der maritimen Koordinierung und auch des partei- und branchenübergreifenden Zusammenhalts ist ein Erfolgsmodell.
({1})
Viele von Ihnen, Herr Kollege Duin, seien es Mitglieder der Koalitions- oder der Oppositionsfraktionen, haben die Konferenz mitgestaltet und an ihr mitgewirkt.
Dafür möchte ich mich namens der Bundesregierung bei
allen bedanken, auch wenn sie hier kritische Töne finden.
Der Dank gilt darüber hinaus aber auch dem Land
Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven, die in einer unglaublichen logistischen Kraftanstrengung diese
Konferenz auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports möglich gemacht haben. Auch das sollte an dieser Stelle im
Deutschen Bundestag lobend hervorgehoben werden.
Nicht zuletzt gelten mein Dank und meine Glückwünsche den vielen Tausend Beschäftigten und den Unternehmern der Branche. Diesen ist nicht nur zu verdanken,
dass die Konferenz dank ihrer Mitwirkung so erfolgreich
abgelaufen ist, sondern vor allem, dass sich die Branche
heute so überraschend gut präsentieren kann. Die Zahlen
und die Wachstumsraten sprechen für sich. Ob das Anziehen des Welthandels, der Ausbau der Offshorewindenergie oder das Entstehen bzw. Wachsen neuer
Geschäftsfelder für maritime Technologien: Seefahrt
und Häfen, Schiffbau und Zulieferer, Logistik und Meerestechnik werden in jedem Fall davon profitieren. Wenn
wir jetzt alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und
zwar in dieselbe Richtung, dann stehen wir vor einer
lang anhaltenden Phase des Aufschwungs für die gesamte Branche.
Ich warne aus den genannten Gründen vorsorglich davor, die Lage und die Perspektiven der maritimen Wirtschaft schlechtzureden. Diese Warnung gilt auch außerhalb dieses Parlaments, nämlich für die Verbände; denn
damit würden sie der Branche einen Bärendienst erweisen und im schlimmsten Fall sogar schaden. Sie rücken
die maritime Wirtschaft damit in ein Licht, in dem sie
sich, gerade außerhalb der Küstenregionen - ich weiß,
wovon ich rede -, nicht so darstellen kann, wie sie es an13020
gesichts der Erfolge, die sie hat, verdient hätte. Das gilt
auch - Herr Kollege Behrens hat es angesprochen - für
das Maritime Bündnis.
Das Maritime Bündnis wurde übrigens nicht gekündigt. Ich habe keine Kündigungserklärung bekommen.
Selbstverständlich ist es ein prioritäres Anliegen der
Bundesregierung und insbesondere von mir persönlich,
das Bündnis aufrechtzuerhalten und zu stärken. Herr
Kollege Duin, Herr Kollege Behrens, verständlicherweise ist es der Bundesregierung keine Freude, kleinere
- das betone ich: kleinere - Anpassungen am Haushalt
vornehmen zu müssen. Herr Kollege Duin, der Maritime
Koordinator ist, wie der Name sagt, ein Koordinator, er
ist leider kein Imperator. Das hätte ich zwar manchmal
gerne, aber ich darf nur koordinieren.
Wir alle kennen die Zwänge, die uns die Haushaltslage auferlegt. Das gilt auch für die Länder, und zwar
auch für die, die nicht von CDU/CSU und FDP regiert
werden. Daher waren nach Meinung des Bundesfinanzministers Kürzungen an dem durchaus erfolgreichen
- darüber sind wir uns einig - Instrument der Lohnkostenzuschüsse unumgänglich. Umso mehr ist ein Ergebnis der Konferenz zu begrüßen: Der Bundesminister für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Herr Ramsauer,
wird sich in den nächsten Tagen mit der Branche erneut
zusammensetzen. Er wird mit der Branche nach Alternativen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der
Seeverkehrswirtschaft suchen, übrigens auch nach solchen, die den Haushalt und damit die Steuerzahler nicht
belasten.
Herr Kollege Duin, natürlich sind die Kürzungen um
rund 27 Millionen Euro schmerzhaft. Wir sollten allerdings nicht die vielen anderen erfolgreichen Instrumente
zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der maritimen
Wirtschaft im Rahmen des Maritimen Bündnisses und
des Programms „LeaderSHIP Deutschland“ aus den Augen verlieren. Herr Kollege Behrens, nur zur Klarstellung: Die Mittel für den Schiffbau sind immer erhöht
worden. Das liegt übrigens in der Verantwortung des
Bundeswirtschaftsministeriums. Was Sie beklagen, betrifft nicht die Mittel für Schiffbau, sondern die Mittel
für Reeder. Allein die Entlastungswirkung der Tonnagesteuer - ich bitte Sie, sich das vor Augen zu halten wird auf mindestens 500 Millionen Euro, wahrscheinlich
auf bis zu 1 Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Ich kann
Ihnen versichern, die Bundesregierung hält daran fest.
Das gilt auch für die Ausbildungsbeihilfen für die Seefahrt.
Die Titel für Innovationsbeihilfen und FuE-Mittel im
Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie wurden erhöht. Mit dem Masterplan „Maritime
Technologien“, dem KfW-Sonderprogramm für Offshorewindenergie und dem fortschreitenden „LeaderSHIP“-Prozess im Schiffbau stellen wir die Weichen für
ein langfristiges Wachstum auf den Zukunftsmärkten.
Deswegen, Herr Kollege Duin, lieber VDR - Verband
Deutscher Reeder -, halten Sie sich bitte vor Augen: Die
schmerzlichen Kürzungen im Bereich der Lohnkostenzuschüsse betreffen nur rund 2 bis 3 Prozent der gesamten Fördermittel für die Teilbranche Schifffahrt. Wenn
Sie die gesamten Fördermittel heranziehen, die der Bund
für die maritime Wirtschaft bereitstellt, dann stellen Sie
fest, dass die Kürzungen im Promillebereich liegen. Das
alles ist kein Anlass, um das Maritime Bündnis infrage
zu stellen.
Ich lade Sie alle ein, Kollegen von Koalition und Opposition, Vertreter der Teilbranchen der maritimen Wirtschaft, Unternehmer und Vertreter der Beschäftigten:
Lassen Sie uns den bewährten, gemeinsamen Weg erfolgreich fortsetzen.
({2})
Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunftsfähigkeit der
maritimen Wirtschaft im Blick behalten. Nur so können
wir den bereits eingeleiteten Wachstumskurs fortsetzen
und - darum geht es uns gemeinsam - den maritimen
Standort Deutschland dauerhaft stärken. Die Bundesregierung wird im Rahmen der maritimen Koordinierung
weiterhin ihren Teil dazu beitragen. Seien Sie versichert,
Herr Kollege Duin, auch ich persönlich werde meinen
Beitrag wirksam, nicht immer laut nach außen, aber immer sehr nachdrücklich innerhalb der Bundesregierung
leisten. Versprochen!
({3})
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde
steht nicht nur unter dem Titel „Ergebnisse der Maritimen Konferenz“, sondern Sie haben angekündigt, auch
zur Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die
Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde zu sprechen.
({0})
- Genau, es ist immer das Problem, alles unterzubringen.
Bündnisse sind dazu da, Konflikte beizulegen. Mit ihnen legt man gemeinsame Ziele und Interessen fest.
Bündnisse brauchen Verlässlichkeit, sonst funktionieren
sie nicht. Das Maritime Bündnis scheint nach dem, was
wir eben hier und auch schon in Wilhelmshaven gehört
haben, offensichtlich nicht mehr so ganz zu funktionieren.
Die Bundesregierung trifft in dieser Debatte nur die
halbe Schuld.
({1})
Denn wir müssen ehrlich sein: Auch die Reeder haben
ihren Teil des Bündnisses nicht eingehalten. Es fahren
heute kaum mehr Schiffe unter deutscher Flagge,
obwohl es eigentlich vereinbart war. Wir wollten auf
600 Schiffe unter deutscher Flagge kommen. Dorthin
sind wir nie gekommen. Prozentual ist es sogar weniger
geworden: Fuhren vor zehn Jahren noch 15 Prozent der
deutschen Schiffe unter deutscher Flagge, sind es heute
insgesamt lediglich 12 Prozent.
Jetzt hat die Bundesregierung ohne Vorankündigung
die Beiträge für die Seeschifffahrt gekürzt und hält sich
damit nicht an ihren Teil der Vereinbarung. Das Maritime Bündnis wurde also von beiden Seiten aufgekündigt. Reeder und Bundesregierung schieben sich jetzt gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Wer wird verlieren?
Am Ende werden die Seeleute verlieren; Kollege
Behrens hat es schon angedeutet. Da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zu diesem gemeinsamen
Versagen!
Aber auch die Reeder haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Selbst die Jahre großer Gewinne haben kaum
etwas geändert. Die 600 Schiffe unter deutscher Flagge
hat es nie gegeben. Die Beihilfen wurden dankbar mitgenommen und dazu weitere Subventionen eingestrichen, allen voran die Vorteile aus der Tonnagebesteuerung. Sie haben es schon gesagt: Das sind locker über
500 Millionen Euro.
Die Subventionen an die Reeder werden regelmäßig
unter den größten Posten im Subventionsbericht der
Bundesregierung gelistet. Hierzu gehören die Tonnagebesteuerung mit etwa 500 Millionen Euro, der Lohnsteuereinbehalt mit etwa 18 Millionen Euro, die Ausbildungsförderung mit 2 Millionen Euro und der jetzt
gekürzte Finanzbeitrag an die Reeder für das Führen der
deutschen Flagge, der zuvor mit jährlich 57 Millionen
Euro zu Buche schlug. Alles in allem kommen hier pro
Jahr etwa 580 Millionen Euro an Subventionen zusammen. Die Seeschifffahrt bleibt damit eine stark subventionierte Branche, obwohl sie in den Jahren vor der Krise
satte Gewinne geschrieben hat.
({2})
Natürlich ist die Kürzung von 30 Millionen Euro ein
großer Brocken, doch muss sie im Verhältnis der gesamten Förderung und der fehlenden Gegenleistung durch
die Reeder gesehen werden. Die 30 Millionen Euro machen nur 5 Prozent der gesamten Fördersumme aus.
({3})
Es ist deswegen schon etwas vermessen, wenn man jetzt
von der Reederseite knallhart ankündigt - Herr Duin hat
das schon aus der Financial Times Deutschland zitiert -:
Wir werden ausflaggen und weniger deutsche Seeleute beschäftigen …
So geht das auch nicht. Gleichzeitig ist es genauso
falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
hier einfach nur den Geldhahn aufdrehen zu wollen.
({4})
Denn auch als das Geld geflossen ist, wurden die Vereinbarungen nicht eingehalten.
Im Maritimen Bündnis muss jeder seinen Beitrag leisten. Deswegen muss das Bündnis jetzt erneuert werden.
Die Bundesregierung muss sich mit den Reedern an einen Tisch setzen, und zwar sofort. An die Reeder geht
meine klare Aufforderung: Drohen Sie nicht mit Ausflaggung; denn auch Sie brauchen die Unterstützung
durch die Politik in diesem Hause.
({5})
Die Reeder fordern wie selbstverständlich bei der
Piraterieproblematik die Hilfe des Staates. Wir haben im
Verkehrsausschuss schon einmal begonnen, die Debatte
darüber zu führen. Das ist auch richtig; denn das Risiko
der Reeder und vor allem der Besatzungsmitglieder,
wenn sie durch die entsprechenden Seegebiete fahren, ist
enorm. Die Reeder sollen hier nicht alleingelassen werden, ihnen soll geholfen werden. Sie müssen aber auch
auf dem Teppich bleiben und beim Maritimen Bündnis
kompromissbereit sein. Deshalb muss das Maritime
Bündnis auf neue Beine gestellt werden. Herr Otto, Sie
hatten ja schon angedeutet, dass Sie es stärken wollen.
Dabei müssen wir auch insgesamt seine Machbarkeit
überprüfen. Utopische Versprechen helfen da niemandem weiter.
Gleichzeitig muss man darüber reden, was bei Nichteinhaltung passiert; denn sonst steht das Bündnis wie
bisher nur auf dem Papier. Das neue Bündnis sollte aber
auch aktuelle Fragen aufgreifen. Es sollte über die
Einführung einer ökologischen Komponente in die Tonnagesteuer nachgedacht werden, es sollte strikte Regelungen bei der Ausflaggungsgenehmigung durch die
Bundesregierung geben, und wir müssen auf mehr Ausbildung von Bordpersonal setzen, um weitere Schiffe
auch mit Personal aus Deutschland besetzen zu können.
Viertens sollte das neue Bündnis auch die Probleme
Piraterie, Emissionshandel und Meeresschutz mit einbeziehen.
Greifen Sie, Herr Otto und meine Damen und Herren
von der Regierung, die Probleme umfassend auf und sorgen Sie gemeinsam für Verlässlichkeit.
Frau Kollegin, könnten Sie jetzt verlässlich zum
Schluss kommen?
Ja, ich bin so gut wie dabei.
Na ja.
Gehen Sie aufeinander zu und machen Sie das maritime Bündnis fit für die Zukunft. Der Fortbestand der
maritimen Wirtschaft, dieser durchaus wichtigen Branche mit mehr als 380 000 Beschäftigten, hängt davon ab.
Herzlichen Dank.
({0})
Eckardt Rehberg hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD! Ich
glaube, Sie haben die falsche Überschrift gewählt. Es
wäre in Ordnung gewesen, die Überschrift „Ergebnisse
der Maritimen Konferenz“ zu wählen. Aber die Formulierung „Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch
die Bundesregierung“ in der Überschrift ist aus meiner
Sicht vollkommen falsch.
Herr Kollege Duin, ich meine, Sie können - bei aller
persönlichen Wertschätzung - nicht sagen: Da ist nichts
rausgekommen. Gucken Sie sich erst einmal die Handlungsempfehlung aus dem Workshop „Schiffbauindustrie“ an. Ich finde, es ist wichtig und gut, dass eine
Arbeitsgruppe zum Thema Schiffbaufinanzierung eingesetzt wird, damit die Thematik „Was können wir noch
mehr für den deutschen Schiffbau bzw. die deutsche
Werftindustrie tun“ wirklich noch einmal auf den Prüfstand kommt.
Wir wollen keine höheren Bürgschaften. Herr Kollege
Behrens, 90 Prozent Verbürgung bedeuten über 10 Prozent Kapitalkosten. Ich möchte, dass wir wieder zu ganz
normalen Bauzeitenfinanzierungen zurückkommen:
80 Prozent Landesbürgschaft und 20 Prozent Fremdkapital mit Kapitalkosten zwischen 3 und 4 Prozent. Das
macht die deutschen Werften wettbewerbsfähig.
({0})
Der Bereich maritimer Technologien ist ein Zukunftsfeld. Hier gibt es ganz konkrete Vereinbarungen im nationalen Masterplan „Maritime Technologien“. Dazu
wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die kleinteilige mittelständische Industrie bzw. das kleinteilige Forschungsnetz noch stärker miteinander verzahnen bzw.
verbinden soll. Denn bei uns fehlt im Bereich Offshore,
Öl und Gas der große Player. Eine ganz konkrete Maßnahme ist, dass man im nächsten Jahr zum ersten Mal
auf die Leitmesse nach Houston geht. Aus meiner Sicht
sind das Zukunftsfelder, die von der Bundesregierung
ins Visier genommen werden.
Sie haben hier den Eindruck erweckt, Wilhelmshaven
sei ein Fehlschlag gewesen. Dazu sage ich: Ganz im Gegenteil, Wilhelmshaven war eine kontinuierliche Fortentwicklung bzw. eine Fortsetzung der sechs vorangegangenen Nationalen Maritimen Konferenzen. Gerade
wir aus dem Norden, Herr Kollege Duin, sollten ein essenzielles Interesse daran haben, dass diese Konferenzen
weitergeführt werden; denn diese branchenübergreifende
Konferenz ist einmalig in Deutschland. Wir sollten sie
nicht schlechtreden, sondern sie positiv nach vorne tragen, hinein in die gesellschaftliche Mitte der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Es gab ein Konfliktthema, und zwar die Zuschüsse für
die deutsche Seeschifffahrt. Frau Kollegin Wilms, für
mich sind das keine Subventionen. Die Tonnagesteuer
ist für mich Standortpolitik. Das ist erfolgreiche Standortpolitik, die dazu geführt hat, dass Deutschland der
führende Schifffahrtsstandort in der Welt ist.
Für mich sind auch Lohnsteuereinbehalt und Lohnkostenzuschüsse Standortpolitik. Denn die Europäische
Kommission hat 1997 und 2004 gesagt: Wir müssen die
europäischen Flotten stärken. Herr Kollege Duin, damals
waren Sie noch nicht im Parlament, aber Rot-Grün hat
regiert. Man muss fragen, warum man damals nicht die
gleichen Rahmenbedingungen geschaffen hat wie Italien, Frankreich, die skandinavischen Länder und Holland. Jetzt haben wir das Ergebnis, dass bei gleicher
Tonnage ein holländisches Schiff rund 400 000 bis
500 000 Euro günstiger fährt als ein deutsches Schiff.
Unter liberianischer Flagge ist es fast 1 Million Euro
Unterschied.
Wir müssen uns, glaube ich, an diesem Punkt damit
befassen, wie wir der Kritik begegnen. Der Vorstandsvorsitzende von Hamburg Süd, Herr Gast, beklagt in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember
2010, dass nur 440 Frachter unter deutscher Flagge fahren. Er sagte - ich zitiere -:
Es gibt aber leider diverse Unternehmen, die das
nicht tun.
Er ist nämlich der Meinung, dass 20 Prozent der Linienreeder unter deutscher Flagge fahren könnten. Weiter
sagte er:
Sie haben dies aber auch nicht getan, als sie im
Boom viel Geld verdienten.
Wenn wir über das Fahren unter deutscher Flagge reden, dann treffen wir immer die Falschen. Wir müssen
eigentlich die treffen, die die Tonnagesteuer in Anspruch
nehmen, aber nicht unter deutscher Flagge fahren.
({2})
Deswegen glaube ich, dass wir die Tonnagesteuer mit
dem Thema Lohnsteuereinbehalt verbinden müssen.
Gleichzeitig müssen wir aber über die Schiffsbesetzungsverordnung dafür Sorge tragen, dass deutsche Seeleute auch weiterhin auf Schiffen von deutschen Reedereien eine Chance haben.
({3})
Ich glaube, an der Stelle sind wir alle miteinander gefordert. Denn die Reeder - Frau Wilms ist darauf eingegangen - haben auch bei der Zahl der Ausbildungsplätze die
Zusage nicht eingehalten. Heute bilden weniger Reedereien aus als vor sieben oder acht Jahren.
Ich mache mich weder zum Fürsprecher von Verdi,
Herr Kollege Duin, noch zum Fürsprecher der Reeder;
ich habe das Allgemeinwohl des maritimen Standorts
Deutschland im Blick. Deswegen sollten wir weiter über
die Ergebnisse der Maritimen Konferenz diskutieren.
Aber Ihr zweiter Punkt, die Aufkündigung des MaritiEckhardt Rehberg
men Bündnisses, ist sachlich nicht gerechtfertigt und
einseitig.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die maritime Wirtschaft hat große Bedeutung für den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Als Abgeordnete für
die Stadt Wilhelmshaven habe ich mich auch persönlich
sehr über die Entscheidung gefreut, die Siebte Nationale
Maritime Konferenz 2011 in der Jadestadt zu veranstalten. Das war ein sehr wichtiges Zeichen für die Region,
für den Tiefwasserhafen, für die maritime Wirtschaft in
Deutschland und Europa und auch ein wichtiges Zeichen
für den größten Marinestandort in unserem Land.
Ergebnisse der Konferenz vermissen wir leider bis
heute. In Wilhelmshaven ist klar geworden, dass Ihnen
in der maritimen Wirtschaftspolitik eine Idee fehlt. Es
fehlt Ihnen an Leidenschaft.
({0})
Es fehlt an einer Linie, an einem Konzept für die Zukunft des maritimen Standortes Deutschland.
Sie haben die Maritime Konferenz nicht nur zur
Selbstdarstellung missbraucht - das allein wäre schlimm
genug -, sondern Sie haben auch noch Schaden angerichtet, den andere jetzt richten müssen. Man muss sich
das einmal klarmachen: Die größte und wichtigste Konferenz zur maritimen Wirtschaft in Deutschland findet
am größten Bundeswehr- und Marinestandort Deutschlands statt, und einige für die maritime Wirtschaft weltweit wichtige Themen kommen schlichtweg gar nicht
vor. Ich spreche zum Beispiel von der Hafen- und Seesicherheit, für die unsere Soldatinnen und Soldaten derzeit vor der somalischen Küste und anderswo erfolgreich
arbeiten.
Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass dieses
Thema - denken Sie an die Piraterie am Horn von
Afrika! -, das wichtig ist für die maritime Wirtschaft in
der Welt, in dem sich Deutschland ein Profil erarbeitet
hat und in das sich deutsche Sicherheitsfirmen mit innovativen Ideen einbringen können, völlig ignoriert wird?
80 Prozent des weltweiten Handels - das sagen auch
Sie immer - werden über See abgewickelt. Wir alle, die
deutsche Exportnation insbesondere, sind auf sichere
Häfen und verlässliche Handelswege auf See angewiesen. Wilhelmshaven als größter Marinestandort wäre die
ideale Kulisse gewesen, sich diesem Thema ernsthaft
und intensiv zu widmen und vor allem ein deutsches
Profil zu schärfen. Ein eigener Bereich der Marine zu
diesem Thema auf der Maritimen Konferenz wäre die
richtige Antwort auf die Herausforderung der Hafenund Seesicherheit gewesen. Sie haben diese Chance leider verpasst.
Verehrter Herr Staatssekretär Otto, Sie schreiben mir
zu diesem Thema, dass ausreichend Marineangehörige
im Auditorium vertreten gewesen seien; ich hoffe zu Ihren Gunsten, dass es sich bei der Antwort um ein Büroversehen gehandelt hat. Oder wollen Sie mir ernsthaft
erklären, dass der Maritime Koordinator der Bundesregierung das Thema Seesicherheit ausreichend behandelt
sieht, wenn ein paar Marineangehörige als Gäste auf der
Konferenz umherwandeln?
({1})
Kollege Otto, das ist ein bisschen unter Ihrem Niveau.
({2})
Bei der deutschen Marine - das kann ich Ihnen heute
hier sagen - haben Sie sich damit nicht viele neue
Freunde gemacht.
In Deutschland gibt es neben der Marine eine Reihe
von Unternehmen, die im Bereich der Hafen- und Seesicherheit tätig sind. Deutschland hat hier ein Profil, mit
dem sich weltweit etwas für die Sicherheit auf See erreichen lässt. Das sollten wir unterstützen, und wir sollten
die Chancen, die darin liegen, nutzen. Ich hoffe sehr,
dass dieser Appell heute Gehör findet.
Wenn wir schon dabei sind: Mein zweiter Appell gilt
dem Thema Marineschiffbau, das auf der Konferenz
zwar eine Rolle spielen durfte, aber auch das war - mit
Verlaub - keine angemessene Rolle. Das passte ebenfalls
in das Bild einer verschenkten Konferenz. Im Verteidigungsausschuss habe ich dazu die Auskunft bekommen,
dass die Bundesregierung bei der Branche keine falschen
Erwartungen wecken wollte. Ich frage mich, ob das der
richtige Ansatz für eine Maritime Konferenz ist; denn
die Idee dieser Konferenz ist doch, die gesamte Palette
an maritimen Themen zu diskutieren und nicht nur das,
was der Regierung gerade besonders aussichtsreich und
angenehm erscheint. Oder werden hier Themen abgesetzt, die die schönen Bilder - Bundeskanzlerin Merkel,
Wirtschaftsminister Rösler und Verkehrsminister Ramsauer
mit goldenem Maschinentelegrafen - stören könnten?
Gerade beim Marineschiffbau wären eine ehrliche Bestandsaufnahme und eine offene Diskussion über die
Perspektiven und Anforderungen gut gewesen. Aber
auch diese Chance wurde vertan. Den nächsten Telegrafen müssen Sie sich noch verdienen.
Die SPD-Fraktion und ich als Abgeordnete von der
Küste ohnehin sind immer bereit, mitzuhelfen, die maritime Wirtschaft in Deutschland zu stärken und neue
Betätigungsfelder zu erschließen. Die Maritime Konferenz 2011 ist jedenfalls hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben. Für die Bundesregierung gilt dies nach
meiner Einschätzung nicht. Sie haben Ihre derzeitigen
Fähigkeiten ausgeschöpft, und wir haben festgestellt,
dass diese bei weitem nicht reichen.
Vielen Dank.
({3})
Torsten Staffeldt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute
einen Brückentag. Heute Morgen ging es um Brücken zu
erneuerbaren Energien, und jetzt geht es um eine Brücke, die man das Maritime Bündnis nennen kann. Das ist
eine Brücke zum Ufer der globalen Konkurrenzfähigkeit. Diejenigen, die die Brücke gebaut haben, sind die
Reeder, die Schiffbauer, die Hafenbetriebe, die Sozialpartner und die Politik. Die SPD behauptet nun, dass das
Bündnis aufgekündigt sei. Die SPD stellt sich vor die
Brücke und sagt: Da ist gar keine Brücke. Wir haben sie
damals mitgebaut. Darum wissen wir das. - Nur weil die
SPD etwas nicht sehen will, heißt das noch lange nicht,
dass dies nicht da ist.
({0})
Darum ist der Titel dieser Aktuellen Stunde mehr als
absurd. Von einer Aufkündigung des Maritimen Bündnisses kann auf gar keinen Fall die Rede sein. Die SPD,
wie üblich, verunsichert wieder einmal die Partner des
Maritimen Bündnisses und scheint das Ende des Bündnisses herbeizusehnen. Anders ist das nicht zu interpretieren. Das ist demagogisch, führt zu Verunsicherung
und befördert genau die falschen Reaktionen: Ausflaggung und Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland
im schlimmsten Falle. Meine Damen und Herren von der
SPD, Sie reißen diese Brücke ein, unnötigerweise und
fahrlässig. Um Ihre Worte, Herr Duin, zu verwenden: Sie
sind die nationale Enttäuschung.
({1})
Diese Brücke wird nicht nur von den Reedern getragen, sondern auch von den Schiffbauern, der Meerestechnik, den Offshoreunternehmen, den Hafenbetrieben
und nicht zuletzt den Sozialpartnern. Um beim Bild der
Brücke zu bleiben: Auf der Brücke hat jeder seine eigene
Fahrspur. Und das funktioniert auch. Wenn Sie die Ergebnisse der Nationalen Maritimen Konferenz ansehen,
stellen Sie fest, dass die große Mehrheit der Teilnehmer
die Ergebnisse positiv bewertet. Herr Behrens, auch
wenn ich nur in zwei Workshops war, habe ich feststellen können, dass die Mehrheit der Workshops sehr konstruktiv und sehr positiv verlaufen ist.
Alle Partner müssen bei dieser Brücke ihren Teil zum
Erfolg beitragen. Vor allen Dingen mit den Reedern haben wir Probleme. Man muss ganz klar sagen: Die Reeder, die unter deutscher Flagge fahren, sind ein Teil des
Fundaments dieser Brücke.
({2})
- Danke, danke. - Gerade die wenigen, die seit Jahren
unter deutscher Flagge fahren, sind ein wesentliches
Fundament. Dieses Fundament ist aber auch in diesem
Jahr nicht so stark, wie vereinbart worden war. Wir sind
von der Zielgröße der 600 Schiffe nach wie vor entfernt.
Das ist ein Problem.
({3})
- Nein. Das mache ich vielleicht beim nächsten Mal
wieder.
Um dieses Problem zu lösen, haben wir den Maritimen Koordinator, Herrn Hans-Joachim Otto.
({4})
Um beim Bild der Brücke zu bleiben: Er inspiziert die
Brücke und macht Vorschläge zur Verbesserung der
Tragfähigkeit und der Verkehrsleistung; aber er baut sie
nicht. Er ist insofern, wenn Sie so wollen, ein Brückeninspektor.
({5})
Das macht er gut, und daran besteht eigentlich auch kein
Zweifel. Das sagen alle.
Wir machen natürlich noch andere Sachen. Eine
breite Straße auf der Brücke ist für die deutschen Reeder
die Tonnagesteuer. Es gibt Vorfahrtspuren auf der Brücke für schnellere Fahrzeuge, die besondere Kriterien erfüllen, zum Beispiel Ausbilden, unter deutscher Flagge
Fahren. Diese Vorfahrtspuren nennen sich „Schifffahrtsbeihilfe“, „Lohnsteuereinbehalt“ oder „Lohnnebenkostensubvention“.
Meine Damen und Herren, auch ich sehe das Problem, dass die Kürzungen der Mittel für den maritimen
Standort Deutschland mit Schwierigkeiten verbunden
sind. Darum gibt es im Moment auf den Vorfahrtspuren
auf der Brücke Sperrungen und Baustellen. Daher begrüße ich ausdrücklich das Gesprächsangebot von Verkehrsminister Ramsauer an die Reeder und an Verdi. Es
soll ergebnisoffen an einer Problemlösung gearbeitet
werden. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die Brücke wieder besser befahrbar wird, dass die Baustellen
verschwinden und dass die Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgehoben werden. Das sollte schnell geschehen. Meines Wissens ist schon nächste Woche der erste
Gesprächstermin.
({6})
Meine Damen und Herren von den Unternehmen, den
Verbänden und den Sozialpartnern, die jetzt zuhören, wir
als Politik können Ihnen keine goldenen Brücken bauen;
dem steht die Schuldenbremse des Grundgesetzes entgegen. Wir können Ihnen aber versichern, dass wir dafür
arbeiten, die breite Brücke des Maritimen Bündnisses
befahrbar zu halten.
Vielen Dank.
({7})
Ingo Egloff redet jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Staffeldt, zu sagen, die SPD gefährde das Maritime Bündnis, weil sie auf die Gefahren
hinweise, die vonseiten der Bundesregierung ausgingen,
ist ein bisschen - wenn wir schon von Spuren auf Brücken usw. reden - neben der Spur. Fakt ist doch, dass in
einem Moment, wo hier allgemein festgestellt wird, dass
sich die Reeder nicht an die getroffenen Verabredungen
gehalten haben, diese Bundesregierung den Reedern zusätzliche Munition dafür gibt, dieses Bündnis aufzukündigen, indem die Lohnnebenkostenhilfen halbiert werden.
({0})
Herr Staatssekretär Ferlemann sagte laut Frankfurter
Allgemeine Zeitung: Die Anträge für 2010 hatten zur
Folge, dass bereits 2011 das ganze Geld ausgegeben ist.
Was will Herr Ramsauer den Reedern in dem Gespräch
denn sagen? Diese Frage stellt sich doch an dieser Stelle.
Ich glaube, dass das das falsche Signal für die maritime
Wirtschaft ist.
Da die maritime Wirtschaft 12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in diesem Land erwirtschaftet und über
400 000 Arbeitsplätze bis weit in den Süden der Republik hinein geschaffen hat, hat die SPD unter Bundeskanzler Schröder dafür gesorgt, dass im Rahmen dieser
Maritimen Konferenz versucht wurde, alle Player an einen Tisch zu bringen. Das war acht oder neun Jahre lang
erfolgreich, auch unter der Großen Koalition.
({1})
Sie haben mit den von Ihnen angekündigten Kürzungsmaßnahmen erreicht, dass ein Teil der Mitglieder
dieses Maritimen Bündnisses sagt: Wir können uns vorstellen, auszusteigen. Sie sind diejenigen, die mit dieser
Politik denen auch noch Argumente für diesen Ausstieg
liefern. Deswegen ist es falsch, meine Damen und Herren, an dieser Stelle so zu handeln. Richtig wäre es, bei
den Zuschüssen zu bleiben und gleichzeitig die Reeder
zu verpflichten, sich an die Vereinbarungen zu halten,
die wir mit ihnen getroffen haben, meine Damen und
Herren.
({2})
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede dazu lapidar
gesagt - ich habe das nachgelesen -: „Ich frage mich, ob
die Zuschüsse zu den Lohnnebenkosten unbedingt notwendig sind“, ohne das weiter auszuführen. Weiter
wurde gesagt, der Bundesverkehrsminister stehe für weitere Gespräche bereit. Das ist, glaube ich, schlicht und
ergreifend zu wenig, wenn man das Maritime Bündnis
am Leben erhalten will.
Natürlich muss der Bundesverkehrsminister für derartige Gespräche bereitstehen. Das ist sein Job. Sein Job ist
es im Übrigen auch, dafür zu sorgen, dass das Maritime
Bündnis weiter existiert, genauso wie es der Job der
Bundeskanzlerin wäre, das zu tun, wenn sie denn die Bedeutung der maritimen Wirtschaft in der Bundesrepublik
Deutschland endlich erkennen würde, meine Damen und
Herren.
(Beifall bei der SPD
Wir kommen jedenfalls mit Fensterreden nicht weiter.
Fensterreden werden nicht dafür sorgen, dass Arbeitsplätze auf deutschen Schiffen geschaffen werden. Wenn
weiterhin Schiffe ausgeflaggt werden, dann können ja
Herr Otto und Herr Ramsauer am Kai stehen und den
Schiffen hinterherwinken, wenn sie unter der Flagge
Maltas, Zyperns oder Liberias fahren. Aber welche
junge deutsche Frau oder welcher junge deutsche Mann
soll denn eine nautische Ausbildung anstreben, wenn
klar ist, dass sie hinterher unter der Flagge Liberias fahren müssen? Das ist doch unrealistisch.
({3})
Der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi in Hamburg
hat dazu gesagt - Gewerkschafter haben ja immer eine
etwas drastische Ausdrucksweise -: Es reicht nicht aus,
„La Paloma“ durch das Bullauge zu pfeifen. Wer das tut,
der hat noch lange keinen Beitrag zur deutschen Seeschifffahrt geleistet. - Recht hat er, der Mann.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Matthias Heider spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion zu uns.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Egloff,
lapidar ist das natürlich nicht, wenn eine Branche eine
Sonderveranstaltung im Rahmen des Regierungsalltags
bekommt. Das wird nicht jeder Branche zuteil. Die Resonanz auf die Siebte Nationale Maritime Konferenz in
Wilhelmshaven hat einmal mehr die herausragende Bedeutung der Exportnation Deutschland belegt. Sie ist
mehrfach angesprochen worden: 95 Prozent des interkontinentalen Warenaustauschs werden über den Seeweg abgewickelt, 90 Prozent des europäischen Außenhandels und 60 Prozent des deutschen Exports, über den
wir uns übrigens neulich im Wirtschaftsausschuss unterhalten haben.
Diese Zahlen veranschaulichen, dass die Hafenwirtschaft und die Seeschifffahrt nicht nur für die Küstenregion eine sehr große Bedeutung haben, sondern für
ganz Deutschland und den Europäischen Wirtschaftsraum spielen sie eine bedeutende Rolle.
Häfen sind die Brückenköpfe der Wirtschaft, und die
Logistikkette entfaltet ihre Tiefenwirkung bis weit in das
deutsche Hinterland, aus dem übrigens ein Großteil der
Waren kommt, die exportiert werden.
Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung
haben die Bedeutung der maritimen Wirtschaft immer
wieder betont und entsprechend gehandelt. In dem Bericht über die maritime Wirtschaft wird dies ebenso
deutlich wie im Antrag der Union und der FDP zur Zukunftsfähigkeit. Dass neben Häfen, Schiffbau und maritimen Technologien auch die leistungsfähige deutsche
Seeschifffahrt von hoher Bedeutung ist, versteht sich
von selbst.
({0})
Der Zweck, den maritimen Standort Deutschland zu
stärken, Wertschöpfung und Ausbildung auch unter
wettbewerblich schwierigen Bedingungen zu erhalten,
ist eine Herausforderung. Wir wollten es den deutschen
Reedern mit dem Maritimen Bündnis ja erleichtern, unter deutscher Flagge zu fahren. Die Bundeskanzlerin hat
in Wilhelmshaven betont, dass sie die Erfolgsgeschichte
des Bündnisses fortschreiben will.
({1})
Von einer Aufkündigung kann da überhaupt keine Rede
sein, Herr Kollege Egloff.
({2})
Die Gewerkschaften hingegen klagen in der Onlineausgabe der Welt am 31. Mai über den angeblichen Teilausstieg aus dem Maritimen Bündnis. Von dem in dem
Artikel zitierten Hamburger Verdi-Landeschef Rose
hätte ich mir eine solch sorgenvolle Betrachtung auch
einmal gewünscht, als der DGB im Herbst letzten Jahres
aus dem Ausbildungspakt ausgestiegen ist, meine Damen und Herren.
({3})
Gewerkschaften und SPD erheben hier den Vorwurf,
dass die Zuschüsse zur Senkung der Lohnkosten in der
Seeschifffahrt von 56 Millionen auf 28 Millionen Euro
in 2011 reduziert wurden und in 2012 ganz auslaufen.
Aber über welche Dimensionen reden wir hier eigentlich, Herr Kollege Duin? Durchschnittlich entfielen von
den 56 Millionen Euro auf jedes der 566 im Jahr 2010
unter deutscher Flagge fahrenden Handelsschiffe genau
98 936 Euro pro Jahr. Das entspricht den Brennstoffkosten eines 8 000-TEU-Containerschiffes pro Tag auf Basis des aktuellen Energiepreisniveaus.
({4})
Zum Fahren der derzeit größten Containerschiffe der
Emma-Mærsk-Klasse mit 14 700 TEU werden gerade
einmal 13 Mann Besatzung benötigt. Die Bedeutung der
Personalkosten in der Seeschifffahrt nimmt ab. Diese betriebswirtschaftlichen Eckpunkte nenne ich nur, damit
einmal klar ist, wovon wir hier überhaupt reden.
Die Bundeskanzlerin hat den Reedern auf der Maritimen Konferenz ein klares Bekenntnis zur Ausbildungsplatzförderung in Höhe von 7,5 Millionen Euro und zu
den Regelungen zur Tonnagesteuer überbracht. Laut
Subventionsbericht der Bundesregierung belaufen sich
die steuerlichen Ausfälle bei dieser Pauschalsteuer auf
500 Millionen Euro. Die nun in Rede stehenden 56 Millionen Euro machen nur ein Zehntel der bisherigen Subventionen in Höhe von 556 Millionen Euro in Form von
Tonnagesteuervorteilen plus Lohnkostenzuschüssen aus.
Nimmt man das Ziel der Haushaltskonsolidierung
ernst - das tun Sie, liebe Kollegen von der SPD, offenbar
nicht -, kann man der deutschen Seeschifffahrt durchaus
zumuten, einen solchen Beitrag zu erbringen, zumal die
Prognosen für den internationalen Handel hervorragend
sind. Dass darüber hinaus in Zeiten wirtschaftlichen
Aufschwungs deutsche Kapitäne und Offiziere gefragt
sind und zu guten Konditionen auch unter anderen Flaggen fahren, zeigt, dass wir uns um das maritime Fachwissen keine Sorgen zu machen brauchen.
({5})
Ich komme zum Schluss: Ihre Vorhaltungen, meine
Damen und Herren von der SPD, sind reiner Alarmismus. Es bleibt also die Frage zu klären, warum Sie diese
Aktuelle Stunde überhaupt auf die Tagesordnung gebracht haben. Die Substanzlosigkeit Ihrer Vorwürfe lässt
eigentlich nur eine Erklärung zu: Die Idee kam Ihnen in
dieser Woche, als Sie auf der Spargelfahrt des Seeheimer
Kreises auf Havel und Spree unterwegs waren,
({6})
sich im Überschwang für Ihre Oppositionsarbeit auf die
Schultern geklopft haben und die Wellen an der Reling
des Schiffes „La Paloma“ - so hieß es übrigens - richtig
hochgeschlagen haben. Da haben Sie sich überlegt: Dieses Thema gehört eigentlich auf die Tagesordnung dieses
Hauses.
({7})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Aktuell
haben wir hier einige SPD-Beiträge zu diesem Thema
gehört. Auf alle Fälle hatten sie nichts mit Haushaltskonsolidierung zu tun und stellten auch keinen Beitrag zur
Verbesserung des Maritimen Bündnisses dar.
Vielen Dank.
({0})
Hans-Joachim Hacker hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Heider, mit der Kenntnis der Terminplanung des Deutschen Bundestages scheint es bei
Ihnen ja ein bisschen zu hapern; denn wenn erst auf der
Spargelfahrt der Beschluss zur Beantragung dieser Aktuellen Stunde gefasst worden wäre, dann wäre dieses
Thema erst in der nächsten Sitzungswoche auf die Tagesordnung gekommen. Aber sei’s drum. Das sollte ja
ein Gag von Ihnen sein; er ist nicht ganz so angekommen.
({0})
Ich denke, die heutige Debatte hat deutlich gemacht,
dass die Siebte Maritime Konferenz nicht die Erwartungen erfüllt hat, die an sie gestellt worden sind. Wir wollten nicht, Herr Staffeldt, dass hier heute darüber diskutiert wird, was die maritime Wirtschaft leistet, sondern
wir wollten heute über die Politik der Bundesregierung
und ihre Konzepte diskutieren. Ich sage es Ihnen in einem Satz: Diese Bundesregierung fährt in der maritimen
Politik ohne Kompass und ohne Ziel, und das darf nicht
so bleiben.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Maritimen Konferenzen der letzten Jahre, die ja auf Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückgehen, waren Treffen,
bei denen maritime Bündnisse geschmiedet wurden, bei
denen konkrete Verabredungen getroffen wurden und bei
denen auf aktuelle Fragen ganz konkrete Antworten gegeben wurden.
({2})
- Das ist richtig, Herr Kahrs. - Die Siebte Maritime
Konferenz war aber nun wirklich keine Erfolgsgeschichte. Herr Staatssekretär, Sie haben Selbstlob verteilt. Aber das, womit Sie sich geschmückt haben, waren
Leistungen der maritimen Wirtschaft, nicht Leistungen
der Bundesregierung. Das können wir so nicht stehen
lassen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie ein Konzept
dazu vorlegen, wie es mit der maritimen Wirtschaft in
Deutschland weitergehen soll.
({3})
- Nein, das hat gefehlt.
({4})
Bei der Maritimen Konferenz machen Sie das Gleiche
wie im Bereich der Städtebauförderung: Sie wickeln erfolgreiche Projekte ab. Das ist keine gute Politik für
Deutschland und im konkreten Fall nicht für die maritime Wirtschaft.
({5})
Ich hätte gedacht, dass die maritime Politik, gerade
weil die Kanzlerin einen Wahlkreis an der Küste hat, dieser Koalition eine Herzensangelegenheit wäre,
({6})
dass sie mit Engagement und Empathie betrieben würde.
Aber Zukunftsfragen der maritimen Wirtschaft werden
in der Bundesregierung nicht beantwortet,
({7})
weder in der Maritimen Konferenz noch in anderen Gesprächen mit Ihnen, Herr Staatssekretär. Das darf so
nicht bleiben; denn das ist nicht gut für den Norden.
Ebenso wenig gut ist es für Süd- und Südwestdeutschland, wo wichtige Zulieferbetriebe ihren Sitz haben und
wo bedeutsame Warenströme ihren Ursprung haben, die
über die Häfen abgewickelt werden.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle auch Herrn Ferlemann
einmal ansprechen. Herr Ferlemann, Sie schreiben gerade fleißig. Ich hätte mir gewünscht, dass auf der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven endlich einmal eine
konkrete Aussage zur Elbe getroffen worden wäre.
({9})
An den Binnenhäfen an der Elbe, zum Beispiel in Wittenberge, wird investiert. Wir warten dringend auf eine
Positionierung des Bundesverkehrsministeriums in der
Frage, wie es mit der Nutzung der Elbe weitergehen soll
und wie wir unsere Vereinbarung mit Tschechien erfüllen können. Da haben Sie eine Bringschuld. Sie können
das nicht weiter auf die lange Bank schieben. Sie müssen
jetzt einen konkreten Vorschlag machen - wenn möglich, noch in diesem Jahr, am besten noch vor der Sommerpause, Herr Ferlemann.
({10})
- Herzlichen Dank.
({11})
Heute ist viel über Offshore gesprochen worden. Die
Kanzlerin hat einen Förderrahmen von 5 Milliarden
Euro angeboten. Aber sie hat nicht gesagt, wie das umgesetzt werden soll.
({12})
Es muss weiterhin darum gehen, dass die Offshoregebiete an das deutsche Netz angebunden werden. Herr
Rehberg, da haben Sie in der Vergangenheit auf das falsche Pferd gesetzt. Sie haben Offshore vernachlässigt,
({13})
und zwar zugunsten der Atomindustrie.
({14})
Sie haben jetzt die Wende geschafft und schalten nun
um. In der Vergangenheit haben Sie ganz andere Prioritäten gesetzt.
Im Zusammenhang mit Offshore stelle ich die Frage:
Wo sind Ihre Angebote zur Finanzierung des Baus von
Spezialschiffen im Rahmen des KfW-Sonderprogramms
„Offshore-Windenergie“? Darauf wartet die Wirtschaft.
Es gibt kein Angebot.
Wenn wir über Offshore diskutieren, stellt sich für die
SPD auch die Frage nach der Lebens- und Rechtssituation der Arbeitnehmer in diesem Bereich. Wann wollen
Sie Regelungen treffen im Hinblick auf Arbeitsschutz,
Tarifverträge und Mindestlöhne?
({15})
Was sich in diesem Bereich abspielt, ist nicht in Ordnung. Da brauchen wir Regelungen. Wir können das mit
auf den Weg bringen. Für den Gesundheitsschutz ist
auch die Bundesregierung verantwortlich.
({16})
Auf all diese Fragen haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, keine Antwort gegeben.
Herr Kollege?
Ich werfe noch einen Blick in Richtung Verkehrsministerium. Der Fokus muss viel stärker auf die Hinterlandanbindung gerichtet werden, Herr Ferlemann.
Wenn ich dann ein letztes Wort sagen darf, Frau Präsidentin,
Ein letztes Wort, ein letzter Blick.
({0})
- dann geht dieses an die Kollegen von der Union, die
sich mit diesem Thema beschäftigen. Ich vermisse Ihr
Engagement
({0})
für den Hafen Mukran im Wahlkreis der Bundeskanzlerin.
({1})
Herr Kollege!
Dort ist ein riesiges Areal mit Loks der Deutschen
Bahn AG vollgestellt. Dieser Hafen muss dringend entwickelt werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Patrick Döring hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wieder einmal wird in dieser Debatte versucht, mithilfe
eines völlig an der Realität vorbeigehenden Zerrbildes,
das hier insbesondere durch die Sozialdemokraten in ihren Reden gezeichnet wird, die Situation in Deutschland - in diesem Fall der maritimen Wirtschaft - völlig
falsch darzustellen.
Geschätzter Herr Kollege Hacker, die Lebensbeichte
über die schönsten Projekte des Wahlkreises kann man
zu Hause vortragen, aber sie hat in dieser Rede nun
wirklich nichts zu suchen. Diese Bundesregierung und
diese Koalition investieren mehr als alle Vorgängerregierungen und -koalitionen in Hafenhinterlandanbindungen,
({0})
in das Schienennetz vor Wilhelmshaven, in die Ertüchtigung des Eisenbahnknotens Bremen, in die Anbindung
des Hamburger Hafens durch das dritte und vierte Gleis,
({1})
durch die Ertüchtigung der Strecke Uelzen-Stendal und
durch die Planfeststellung für die Y-Trasse.
({2})
Wir sorgen dafür, dass unsere Seehäfen auf leistungsfähigen Strecken angebunden werden - mehr als alle anderen Regierungen vor uns.
({3})
Das gehört eben auch zur Leistung dieses Staates.
Dazu kommen 580 Millionen Euro unmittelbare Hilfen für diese Branche. Es ist ein großes Verdienst der
Haushälterinnen und Haushälter dieser Koalition und der
Fachpolitiker, dass in dieser gewaltigen Unterstützung
weitestgehend keine Kürzungen vorgenommen wurden,
einer Unterstützung, die wir zu Recht erbringen, weil wir
mit der Tonnagesteuer 1998 ein europäisches Besteuerungsregime geschaffen haben.
Aber ich sage auch: Man macht einen Fehler, wenn
man wegen der Kürzung von 27 Millionen Euro im Bundeshaushalt aus der florierenden maritimen Wirtschaft
eine Elendsbranche macht, indem man sie herbeiredet.
Damit tut man der Branche keinen Gefallen.
({4})
Lassen Sie mich auf das kommen, was der Kollege
Hacker eben zum Thema Offshore gesagt hat. Wir werden in den auf der Konferenz zuständigen Arbeitskreisen
und überall, wo wir zurzeit reden, für das, was wir in
diesem Bereich tun, gelobt.
({5})
Wir realisieren schnell und zügig eines der größten industriellen Förderprojekte - über 5 Milliarden Euro
KfW-Mittel -, die es jemals gab. Wer uns vorwirft, wir
hätten an dieser Stelle aufs falsche Pferd gesetzt, hat
nicht begriffen, welche gewaltige Anstrengung wir mit
der Hilfe der KfW geleistet haben und was wir dort insgesamt auf den Weg bringen.
({6})
Aber wir müssen auch sehen: Wahrscheinlich hat die
Kürzung im Bundeshaushalt Auswirkungen auf die Beschäftigung und Ausbildung von deutschen Seeleuten.
Diese müssen wir in den Gesprächen, die das Ministerium führt und die wir als Berichterstatter führen, noch
einmal genau analysieren; vielleicht müssen wir auch zu
anderen Lösungen kommen. Da geht es nicht darum,
dass der eine den anderen bestraft oder der eine dem anderen Wortbruch vorwirft oder gar eine Fraktion im
Deutschen Bundestag einseitig ein Bündnis, das die Regierung und die Branche geschlossen haben, aufkündigt.
Es geht vielmehr darum, richtige und solide Lösungen
jenseits von Haushaltsbelastungen zu finden, zum Beispiel über Entschlackung und Entbürokratisierung, über
andere Verfahren oder Anrechnungsmöglichkeiten oder
über Veränderungen bei der Tonnagesteuer.
({7})
All das ist möglich. Das kann man besprechen. Jedenfalls wollen wir nicht, dass maritime Kompetenz in
Deutschland verloren geht. Das gilt es zu verhindern.
({8})
Wir reden hier über 580 Millionen Euro Hilfe und
weit darüber hinausgehende zusätzliche Anstrengungen
der öffentlichen Hand. Da muss ich sagen - die Kollegin
Evers-Meyer musste schon gehen -: Man kann darüber
streiten, ob es richtig oder falsch war, dass das Thema
Pirateriebekämpfung auf der maritimen Konferenz nicht
diskutiert wurde. Aber ich hätte mir schon gewünscht,
dass man auch anerkennt, dass dieser Staat bzw. der
Deutsche Bundestag weit über die Fraktionsgrenzen der
Koalition hinaus mit gewaltigen Anstrengungen, auch finanzieller Art, die Sicherheit der Seewege garantiert und
den militärischen Einsatz finanziert. Auch das gehört
hinzugerechnet, wenn man über die Hilfe für die Seewirtschaft und unsere Wirtschaft spricht. Das ist ein Verdienst des gesamten Deutschen Bundestages. Das kann
man auch als Oppositionsredner erwähnen.
({9})
Kommen wir zu den Herausforderungen an die Investitionen für die Infrastruktur unserer Seehäfen. Auch in
der Rede von Herrn Duin ist wieder das leidige Thema
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung angesprochen worden.
({10})
- Sehr geschätzter Herr Kollege Duin, das Einzige, was
in diesem Fall zur Verunsicherung beiträgt, sind die
Wortmeldungen von Ihnen und dem geschätzten Kollegen Beckmeyer;
({11})
denn niemand sonst verbreitet Verunsicherung zu diesem
Thema. Im Koalitionsvertrag haben wir angekündigt,
dass wir leistungsfähige Verwaltungsstrukturen schaffen
wollen.
({12})
Diese leistungsfähigen Verwaltungsstrukturen werden
wir nach den Beschlüssen des Haushaltsausschusses mit
dem Ministerium ganz in Ruhe aufbauen. Parallel dazu
werden wir schauen, wo wir die Investitionen konzentrieren können.
({13})
Es ist ein Verdienst des Hauses, dass wir über die Investitionsnotwendigkeiten in diesem Bereich offensiv sprechen.
Abschließend will ich auf Folgendes hinweisen: In
Dresden hat die frühere Ratspräsidentin der EKD, Frau
Käßmann, gesagt:
({14})
Nichts ist gut in unserem Land …
So ähnlich haben sich auch die Debattenbeiträge der
Sozialdemokraten angehört. Ich glaube, wir sind als deutsche Parlamentarier aufgerufen, in diese Mentalität nicht
einzustimmen. In Deutschland ist viel mehr gut, als viele,
viele Menschen, offenbar auch in der SPD, glauben.
({15})
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Wir werden sicherstellen, dass dies auch bei denen
ankommt, die betroffen sind.
Vielen Dank.
({0})
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich
Kollegen Hans-Werner Kammer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir werden es sicherlich unterschiedlich beurteilen, ob
die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven ein großer Erfolg war oder nicht. Für mich jedenfalls ist klar: Diese Maritime Konferenz war ein großer
Erfolg.
({0})
Ich möchte das anhand von zwei Punkten herausstellen.
Zum einen war die Veranstaltung auf dem Baugelände des ersten deutschen Tiefwasserhafens ein einzigartiges Symbol für den Aufbruch der deutschen maritimen Wirtschaft in eine neue Zeit.
Zum anderen ging von ihr die klare Botschaft an die
Wirtschaft in der ganzen Welt aus: Die maritime Wirtschaft in Deutschland bleibt international führend und
hat weiterhin gewaltige Wachstumspotenziale.
Die Sozialdemokraten haben nach Ergebnissen gefragt.
({1})
Das ist absolut verständlich. Denn es waren nur wenige
SPD-Bundestagsabgeordnete auf der Konferenz bzw. sie
waren nur für kurze Zeit da. Vor allem waren sie nicht
dabei, als die Präsentation der Ergebnisse der Gespräche
in den Foren anstand; da fehlten etliche.
({2})
Deshalb will ich Ihnen gern etwas Nachhilfe geben.
Vorher möchte ich einen Satz zu Herrn Behrens sagen. Herr Behrens, ich bin von Ihrem Beitrag für die
Linke mehr als entsetzt. Ich nehme an, dass Sie zu einer
alternativen maritimen Konferenz vorgetragen haben.
Ich sage nur etwas zu Ihren Aussagen zur Vertiefung von
Elbe und Weser, die ich der Presse entnommen habe: Mit
einem Kanuboot werden wir niemals Container in die
Häfen bekommen; aber das fordern Sie im Grunde.
({3})
Ich hätte allerdings auch gern meine Wahlkreiskollegin Evers-Meyer angesprochen, nur ist sie leider nicht
mehr da. Sie hat sich in der lokalen Presse darüber beschwert, dass die Marine nicht entsprechend beteiligt ist,
dass die Piraterie nicht auf der Tagesordnung stand. Ich
hätte mir von der SPD-Fraktion gewünscht, dass dieses
Thema in ihrem Antrag zur Maritimen Konferenz breiter
behandelt worden wäre. Bei uns wurde es breit behandelt. Wäre Frau Evers-Meyer damals bei der Debatte dabei gewesen, hätte sie es mitbekommen. Aber leider war
es so: Eröffnung, Abendessen und dann wieder weg. Das
genügt nicht, wenn man diese Themen ernsthaft besprechen will.
({4})
Ich sage ausdrücklich: Ich nehme es nicht hin, dass
meine Kollegin sagt, die Fähigkeiten der Regierung
reichten nicht aus. Wir waren in einer Großen Koalition.
Da war ein Minister ({5})
- Herr Duin, nun hören Sie doch einmal zu - Tiefensee
gemeinsam mit uns in Wilhelmshaven.
({6})
Als er wieder in Berlin war, hatte er nur vergessen, dass
es in Deutschland überhaupt eine Küste gibt; das muss
man dazusagen.
({7})
Wir haben in mehreren Arbeitsgruppen die verschiedenen Themen besprochen. Ich war in der Arbeitsgruppe
„Hafenwirtschaft & Logistik“. Da ging es um die Zukunft der deutschen Häfen. Ich habe dort Perspektiven
und Strategien für die Hinterlandanbindung, die Y-Trasse
und die Vertiefungen von Weser, Elbe und Ems angesprochen. Das war aber für einen ehemaligen SPD-Bürgermeister offensichtlich zu anspruchsvoll; es ging ihm
nur um die Klassifizierung der Fließgewässer. So sehen
intellektuelle Tiefpunkte aus; auch das muss man dazu
sagen.
({8})
Unbestrittener Höhepunkt der Maritimen Konferenz
war aber das persönliche Bekenntnis unserer Kanzlerin
zur Küste, zu ihren Menschen und ihrer Wirtschaft.
({9})
Allen Anwesenden - aber nur denen, Herr Duin - wurde
wieder einmal bewusst: Diese Bundesregierung setzt die
Rahmenbedingungen für die Zukunft.
Sie haben von einer Kündigung des maritimen Pakts
gesprochen. Was Sie dazu gesagt haben, ist schlichtweg
die Unwahrheit. Wenn Sie nicht schon Rote wären, dann
müssten Sie von der Sozialdemokratie jetzt rot werden.
Da haben Sie uns wirklich die Unwahrheit gesagt.
Ich glaube, es ist klar, dass wir vor dem Hintergrund
der wirtschaftlichen Erholung auch unseren Subventionskurs korrigieren müssen. Mein Kollege Dr. Heider
hat bereits gesagt, dass wir einige Dinge zurücknehmen
müssen. Diese Korrektur fällt aber sehr moderat aus, sodass es wirklich keinen sachlichen Grund zur Panikmache gibt. Wir steigen nicht aus dem Maritimen Bündnis
aus, ganz im Gegenteil: Wir sichern insbesondere die
Ausbildung qualifizierter Nachwuchskräfte für den maritimen Standort Deutschland. Das war so, und das wird
auch so bleiben.
Als Abgeordneter des Wahlkreises Wilhelmshaven
freue ich mich besonders über das Ergebnis der Siebten
Nationalen Maritimen Konferenz. Wenn wir auf diesen
Ergebnissen aufbauen, werden wir weitere Erfolge für
unser Maritimes Bündnis erzielen, und das ist gut so.
Dieses Signal ist von der Konferenz in Wilhelmshaven
ausgegangen. Darüber freue ich mich besonders.
Danke.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011
- Drucksachen 17/5125, 17/5196 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 17/6105, 17/6146 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding ({1})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6121 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({3})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Antje
Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
verabschieden heute mit dem Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes einen Gesetzentwurf, den Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, als lächerlich bezeichnet haben. Deshalb beginne ich mit ein
paar Zitaten aus dem Protokoll der Anhörung, die wir
dazu durchgeführt haben. Professor Dr. Loritz sagte:
„Ich beurteile das Ziel des Gesetzes uneingeschränkt positiv.“ Weiter meinte er: Es ist „die einzige realistische
Chance, dass man sich einzelne Gesetzesänderungen
vornimmt, um insgesamt eine Vereinfachung zu erreichen“.
({0})
- Nein, der Neue Verband der Lohnsteuerhilfevereine
sagt:
Wir begrüßen insbesondere, dass man sich bemüht,
im Gesetz zu bleiben, also nicht einen riesengroßen
Wurf zu machen, der dann viele neue Unwägbarkeiten nach sich zieht, sondern sich einzelne Regelungen vornimmt.
Auch der Familienbund der Katholiken sagt zu den
Familienmaßnahmen im Gesetzentwurf:
Die … Maßnahmen im Bereich der Familienbesteuerung … werden von uns sehr begrüßt.
Sie sehen, liebe Kollegen, Sie sind allein mit Ihrer
Kritik.
({1})
Ich weiß auch, warum.
({2})
Sie haben an dem Gesetzentwurf außer Kleinigkeiten gar
nichts auszusetzen, und um ein Argument zu finden,
nicht zustimmen zu müssen, versuchen Sie hier, diesen
Gesetzentwurf kleinzureden, indem Sie ihn als lächerlich bezeichnen.
Nun aber zu den Einzelheiten. Dieser Gesetzentwurf
ist ganz wesentlich einer für Familien, für Bürokratieabbau, für Entlastungen und für Vereinfachungen für Eltern mit Kindern und für Eltern in ihrem Verhältnis zu
ihren Eltern.
Fangen wir mit dem Kinderfreibetrag an, der den Familien allein eine Entlastung in Höhe von 260 Millionen
Euro bringt. Das ist aber nur der finanzielle Teil. Die
Vereinfachung, die damit verbunden ist, ist für die Familien noch viel wertvoller. Bisher war es so, dass Kinder
in Berufsausbildung, die über 18 Jahre alt waren und
durch Ferienjobs oder durch ihre Ausbildungsvergütung
mehr als 8 004 Euro verdient haben, kein Kindergeld
mehr beziehen konnten. Die Finanzämter mussten
100 Prozent der Fälle prüfen, obwohl in 99 Prozent der
Fälle die Einkommensgrenze nicht überschritten wurde.
Dieser Verwaltungsaufwand ist unnötig. Noch viel
schlimmer ist aber, dass bei 1 Prozent der Fälle durch die
Finanzverwaltung festgestellt wurde, dass die Grenze für
das eigene Einkommen der Kinder überschritten wurde.
Grund dafür konnte sein, dass die Kinder eine Stunde zu
viel gearbeitet und deshalb die Lohngrenze überschritten
haben. Ein anderer Grund, der noch schlimmer ist,
konnte das Verbummeln einer Monatskarte sein. Dies
konnte dazu führen, dass über 1 000 Euro weniger Kindergeld bezogen wurden. Das finden wir nicht richtig.
({3})
Nun können Sie einwenden, dass in einem bürokratischen Staat auch die Erziehung der Kinder zum Aufbewahren von Belegen zum Erziehungsauftrag gehört.
Wenn dieser Erziehungsauftrag aber 1 000 Euro kostet,
ist das, glaube ich, ein teures Vergnügen.
({4})
Wir werden diese Einkommensgrenzen wegfallen lassen und nur, um Missbrauch zu vermeiden, bei einer
Zweitausbildung eine 20-Stunden-Begrenzung vorsehen.
Ansonsten glauben wir, dass es gut ist, wenn junge Menschen sich anstrengen und versuchen, möglichst viele eigene Einkünfte zu haben. Das wollen wir nicht durch bürokratische Hemmnisse verhindern.
({5})
Zweiter Bereich: Kinderbetreuungskosten. Hier
herrschte bisher ein ziemliches Durcheinander. Zum
Beispiel musste der Steuerpflichtige, der Kinderbetreuungskosten absetzen wollte, nachweisen, dass er entweder einer Berufstätigkeit nachgeht, sich in Ausbildung
befindet oder krank ist. Bei einer Berufstätigkeit liegt
eine gewisse Regelmäßigkeit vor; bei Krankheit handelt
es sich dagegen eher um eine Frage von Wochen. Innerhalb eines Jahres musste man der Finanzbehörde unter
Umständen mehrfach den aktuellen Status mitteilen, um
überhaupt Kinderbetreuungskosten geltend machen zu
können.
Das halten wir für falsch. Deshalb haben wir diese
Regelung geändert. Künftig sind bei Familien die Kinderbetreuungskosten - egal in welcher Situation - als
Sonderausgaben abzugsfähig. Die Behauptung, dass Eltern deswegen höhere Kindergartengebühren zahlen
müssten, ist unwahr. Kinderbetreuungskosten mindern
stets die Bemessungsgrundlage.
Dritter Bereich: Kinderfreibeträge. Auch dieser Bereich war sehr ungerecht geregelt. Bislang war es so,
dass Elternteile, die zwar rechtlich zu Unterhaltszahlungen verpflichtet sind, die Zahlung aber verweigern, den
Kinderfreibetrag nicht bekommen können. Elternteile
aber, bei denen festgestellt ist, dass sie keinen Unterhalt
zahlen müssen - zum Beispiel wegen Vermögenslosigkeit -, konnten den Kinderfreibetrag behalten. Derjenige
- meistens handelt es sich um die Mütter -, der die Kosten für das Kind alleine trägt, konnte somit nur einen
halben Kinderfreibetrag geltend machen. Das ist ungerecht, und das werden wir mit dem neuen Gesetz ändern.
Immer mehr Eltern entscheiden sich Gott sei Dank
nach einer Scheidung dazu, die Kinder gemeinsam zu
betreuen. Die Kinder leben in der einen Hälfte des Jahres
beim Vater, in der anderen Hälfte bei der Mutter. Bisher
war es so, dass nur derjenige Kinderbetreuungskosten
über den Betreuungsfreibetrag geltend machen konnte,
bei dem das Kind mit Hauptwohnsitz gemeldet war. Das
ist ungerecht, und auch das werden wir ändern.
({6})
Vierter Bereich: die Ehegattenbesteuerung. Das ist ein
Dauerthema; wir haben uns schon sehr lange damit befasst. Wir haben immer wieder versucht, Möglichkeiten
der Ehegattenbesteuerung zu schaffen, die verhindern,
dass Eheleute schlechter gestellt werden als Ledige.
Auch in diesem Bereich haben wir Vereinfachungen
durchgeführt. Wir haben aufgrund der Ergebnisse der
Anhörung sichergestellt, dass Eheleute, auch nachdem
sie sich für eine Veranlagung entschieden haben, das
Recht haben, eine andere Veranlagung zu wählen, die für
sie günstiger ist.
Ein weiterer Punkt. Familien sind nicht nur Eltern und
Kinder, sondern auch Kinder und Großeltern oder Eltern
und deren Eltern. Wir wollen, dass Familien füreinander
einstehen. Zum Beispiel soll Rentnern mit einer geringen Rente Wohnraum von ihren Kindern zu einem günstigen Preis zur Verfügung gestellt werden können. Bisher war die Berechnung dieser Mieten sehr schwierig,
vor allem im Hinblick darauf, wie man das Ganze steuerlich absetzen konnte. Das war jedes Mal ein Fall für
den Steuerberater.
Es gab zwei Grenzen, nämlich 56 und 75 Prozent der
ortsüblichen Miete. In diesem Bereich musste die Miete
mindestens liegen, um die Kosten für die Wohnung überhaupt steuerlich abziehen zu können. Das haben wir vereinfacht, was mit Sicherheit dazu führt, dass es weniger
Diskussionen zwischen Familienangehörigen gibt. Das
wird die Bereitschaft von Kindern, ihren Eltern günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sicherlich erhöhen.
Wir haben die Abzugsfähigkeit von Spenden verbessert; denn es ist ärgerlich, wenn man etwas Gutes tut und
hinterher feststellt, dass man leider an den Falschen
überwiesen hat und deshalb keine Spendenquittung bekommt.
Bei der Pendlerpauschale haben wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Wahlrechte gegeben, die
tatsächlich zu einer Vereinfachung führen. Auch hier haAntje Tillmann
ben wir für einen erheblichen Abbau von Bürokratie gesorgt.
Wir schenken den Menschen in großen Bereichen
mehr Zeit. Das ist zugleich weniger Zeit, die sie für
Steuererklärungen aufbringen müssen. Weil ich die familienpolitischen Maßnahmen in den Vordergrund stelle,
sage ich: Das ist hoffentlich mehr Zeit, die sie mit ihren
Familien verbringen.
({7})
Wir sind uns einig, dass wir über Steuervereinfachungen sprechen, nicht über Steuersenkungen. Wir versuchen, dort zu entlasten, wo es den Staatshaushalt nicht
belastet. Das gelingt am besten bei den Bürokratiekosten. Mit diesem Gesetz werden wir den Unternehmen
Bürokratiekosten in Höhe von 4 Milliarden Euro ersparen. Zum Beispiel lassen wir bei der Umsatzsteuer zu,
dass demnächst Rechnungen nicht mehr nur auf Papier,
sondern auch per E-Mail übersandt werden können.
Rechnungen als einfache E-Mails, Computerfaxe oder
mittels Datenträgeraustausch - wenn der Empfänger zustimmt - werden künftig von der Finanzbehörde anerkannt.
Natürlich tragen wir den Bedenken der Innenpolitiker
Rechnung, die sagen, dass eine einfache E-Mail auch
Gefahren bergen könne. Deshalb haben wir im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass neben der elektronischen Signatur und dem EDIVerfahren auch die neue De-Mail ein sicheres Verfahren
im Sinne des Gesetzes ist.
Wenn man also vor Hackern sicher sein möchte, ist
De-Mail ein einfaches Verfahren im Sinne des § 14 Umsatzsteuergesetz, mit dem man auch erheblich Kosten
und Bürokratie einsparen kann. Der Normenkontrollrat
sagt dazu: Die elektronische Rechnungsstellung stellt
insbesondere wegen später folgender Vereinfachungsmöglichkeiten eine zentrale Maßnahme zur Vereinfachung dar. Diesem Bereich kommt eine Schlüsselstellung zu, ähnlich wie anderen Projekten, wie zum
Beispiel ELENA. - Es gibt also noch einen Sachverständigen, der ausdrücklich sagt: Dieses Gesetz ist richtig
und gut für die Unternehmen.
Wir haben die Pauschalen für Waldbesitzer geändert.
Wir haben uns im Rahmen der Anhörung davon überzeugen lassen, dass bestimmte Betriebskostenpauschalen erhöht werden müssen. Wir werden die Betriebskostenpauschale bei eingeschlagenem Holz von 65 auf 55 Prozent
senken; bei auf dem Stamm verkauftem Holz gehen wir
auf 20 Prozent. Auch das ist ein Ergebnis der Anhörung.
Wir haben ernst genommen, was uns Sachverständige ins
Stammbuch geschrieben haben. Dann macht eine Anhörung wirklich Sinn, weil Bürgerinnen und Bürger und
Sachverständige mit Gesetzgebung machen und uns helfen, Fehler bei der Gesetzgebung zu vermeiden.
All diese Maßnahmen werden heute nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfes und nach Zustimmung
des Bundesrates dazu führen, dass das Verhältnis zwischen Staat und Bürger einfacher wird. Aber wir wissen
natürlich auch, dass das nur ein erster Schritt ist. Wir haben jetzt im Wesentlichen Familien und Privatleute entlastet. Wir werden ab Dienstag - Montag ist ja Pfingsten
- nahtlos mit der Erarbeitung von Vereinfachungen bei
der Unternehmensteuer weitermachen. Wir brauchen die
Verlängerung der Regelung bei der Umsatzgrenze im
Rahmen der Istbesteuerung. Wir brauchen den Gleichklang von Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht.
Wir brauchen eine Verkürzung von Aufbewahrungs- und
Prüffristen, und wir brauchen einheitliche IT-Schnittstellen von Steuer, Rente und Betriebsprüfung. Das alles
sind Maßnahmen, die wir völlig umsonst bekommen
können; diese werden wir angehen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie den ersten Schritt
mitgehen. Wir gehen diesen Weg aber auch ohne Sie.
Wir werden auch bei der Unternehmensteuerreform im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger und im Sinne von Bürokratieabbau und Haushaltskonsolidierung weitermachen.
Danke.
({8})
Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einige
Vorbemerkungen zu einigen Sätzen machen, die ich vorhin aufgeschnappt habe. Herr Brinkhaus hat gesagt: Die
Regierung tut eine Menge. - Das finde auch ich. Herr
Döring sagte, wir hätten etwas nicht begriffen. Es ist ja
ein beliebtes Spiel, dass man den anderen unterstellt,
dass sie etwas nicht verstehen und es deshalb schief
läuft.
({0})
Ich möchte einiges in Erinnerung rufen. Es gab eine
Phase eins. Sie erinnern sich: Holperstart, Gurkentruppe,
spätrömische Dekadenz, Westerwelle. Heute haben wir
gelernt, dass Rösler es schafft, dieses Niveau weiter abzusenken.
({1})
Die Phase zwei war eine Phase der Ruhe und des europäischen Abtauchens.
({2})
Die Phase drei war der Herbst der Entscheidungen. Sie
erinnern sich: Die Laufzeiten der AKW wurden verlängert usw. Jetzt erleben wir die Phase vier. Das ist sozusagen die Phase der Kehrtwende. Das haben wir heute am
Beispiel AKW gesehen. Atomkraftwerke sind jetzt
plötzlich des Teufels. Ganz aktuell sehen wir das auch
am heutigen Desaster mit der Gewerbesteuer. Wir merken: Die Regierung tut eine Menge. Aber wer eine
Menge tut, tut nicht unbedingt das Richtige.
Lothar Binding ({3})
({4})
Ich möchte das, was Frau Tillmann gesagt hat, sowohl
als falsch bezeichnen als auch als richtig bestätigen. Sie
haben gesagt, dass wir diesen Gesetzentwurf lächerlich
finden.
({5})
- Ich habe das gesagt. - Diese Aussage ist, bezogen auf
einzelne Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf, nicht zutreffend. Aber bezogen auf Ihre eigenen Maßstäbe ist
diese Aussage richtig. Denn das, was Sie uns Bürgern
über viele Jahre hinweg versprochen haben, nämlich die
Steuern einfach, niedrig und gerecht zu gestalten - zwei
Jahre Ihrer Regierungszeit sind bereits um -, wird auch
mit diesem Gesetzentwurf erneut verfehlt.
({6})
Deshalb ist die Aussage, der Gesetzentwurf sei lächerlich, gemessen an Ihren eigenen Maßstäben richtig. Ihr
Gesetz muss sich ja an Ihren Maßstäben messen lassen.
Hinweise auf E-Mail usw. finde ich im Jahr 2011
nicht besonders gelungen. Es gibt das EHUG, BilMoG
und ELENA; darüber müssen wir übrigens noch einmal
reden. Über ELENA werden die Unternehmen verpflichtet, einen Datenfriedhof anzulegen, der überhaupt nicht
genutzt wird. Die Unternehmen werden ohne jeglichen
Sinn über ein Jahr lang belastet.
Man muss sagen, dass der Gesetzentwurf insgesamt
positive Elemente enthält. Aber er erreicht trotz eines
großen Aufwands und hoher Kosten von fast 600 Millionen Euro nur einen kleinen Effekt. Vielleicht sollte man
noch erwähnen - das macht viele gute Elemente aus -,
dass der Gesetzentwurf auf einvernehmlich vorgebrachte
Vorschläge der Länder zurückgreift. Insgesamt positiv
finde ich allerdings, dass man sagt: In den Ländern gibt
es gute Initiativen, die wir übernehmen.
Jetzt zu einigen konkreten Punkten. Es klingt nicht
schlecht, zu sagen: Die Einkommensüberprüfung bei
volljährigen Kindern, die sich in der Schul- oder Berufsausbildung befinden, soll wegfallen. - Besonders gut gefällt mir, dass der Fallbeileffekt - auch Sie haben ihn erwähnt - beseitigt werden soll. Die Regelung, dass
jemand, der 1 Euro zu viel verdient, den Anspruch auf
Kindergeld verliert, war sehr schlecht. Man muss allerdings beachten, dass auch Ihre Regelung im Hinblick auf
den Bezug von Kindergeld zu Schieflagen führt. Denn
die Missbrauchsregelung für die Zeit nach der Erstausbildung bevorzugt jene, die Einkünfte aus Kapitalvermögen
erzielen, und benachteiligt jene, die einer Erwerbstätigkeit im Umfang von größer/gleich 20 Stunden nachgehen. Diese Asymmetrie halten wir für problematisch. Wir
wollen nicht ausgerechnet diejenigen belohnen, die Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung erzielen, sondern eher diejenigen, die selbst arbeiten
gehen. Diese Regelung macht diesen Gesetzentwurf,
glaube ich, sehr schlecht.
({7})
Was uns ohne Einschränkung gefällt, ist die Verbesserung bei der Entfernungspauschale. Bisher musste man
auf sehr komplizierte Weise nachweisen, welche Strecke
man mit dem öffentlichen Personennahverkehr und welche Strecke man mit dem privaten Pkw zurückgelegt hat,
und man musste umfangreiche Aufzeichnungen führen.
Dass dies wegfällt, ist sicherlich eine sehr gute Sache.
Die Ausführungen, die Sie in Ihrer Rede zum Thema
Kinderbetreuungskosten gemacht haben, habe ich nicht
richtig verstanden. Bisher konnte man durch Berufstätigkeit veranlasste Kosten als Werbungskosten absetzen,
private und andere Ausgaben waren Sonderausgaben.
Ich habe Sie so verstanden, dass künftig all diese Ausgaben zu Sonderausgaben werden sollen. Das würde bedeuten, dass diese Kosten nicht mehr abzugsfähig wären.
({8})
Sie haben aber gerade ausgeführt, diese Kosten seien in
Zukunft genauso abzugsfähig wie bisher. Ich glaube, wir
müssen noch genauer darüber diskutieren, wie das gedacht ist.
Nicht eingegangen sind Sie auf den Antrag, den die
SPD eingebracht hat. In diesem Antrag, der auf einem
großen Konsens in den Ländern basiert, fordern wir, die
Pauschbeträge für behinderte Menschen, die seit 1975
festgeschrieben sind, anzuheben. Hier haben in der Vergangenheit viele Leute nichts getan, weil dies in der
scharfen Form wie heute auch nicht nötig war.
({9})
- Sie haben recht; das ist völlig klar. Vielen Dank für Ihren einmaligen Einwand. - Inzwischen bilden die
Pauschbeträge für behinderte Menschen, auch aufgrund
der Inflationsrate, die tatsächlichen Aufwendungen nicht
mehr angemessen ab. Wir wollten unseren Fehler, hier
zehn Jahre nichts getan zu haben, jetzt korrigieren.
({10})
Aber die Regierung verhindert unseren ernsthaften Versuch, dies zu korrigieren. Das halten wir für eine traurige
Entwicklung im Umgang mit guten Vorschlägen der Opposition.
Jetzt komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der besonders gut klingt, bei dem man aber besonders merkwürdig vorgegangen ist - auf dem Bundessteuerberaterkongress, an dem 1 300 Steuerberater teilgenommen
Lothar Binding ({11})
haben, hat man allenthalben gehört, dass man die geplante Regelung in ihrer jetzigen Form überhaupt nicht
versteht -: Es geht um die zweijährige Steuererklärung.
Wer „zweijährige Steuererklärung“ hört, denkt zunächst
einmal, damit ist gemeint, dass man für zwei Jahre eine
Steuererklärung abgibt. Aber so ist das nicht gedacht.
Gemeint ist nur die Möglichkeit der gleichzeitigen Abgabe von zwei einzeljährigen Steuererklärungen zum
gleichen Zeitpunkt. Das ist natürlich keine besonders
gute Sache. Denn die Bürger haben nur die Möglichkeit,
auf diese Erstattung entweder zwei Jahre zu warten oder
aber Geld und Liquidität zu verlieren. Das ist, wie gesagt, keine gute Sache.
({12})
Es kommt aber noch schlimmer. Auf dem Steuerberaterkongress hieß es zu diesem Thema: Es gibt mehr offene Fragen als positive Antworten. - Sie hatten gerade
die einmalige Chance, uns das zu erklären.
({13})
Da das etwas ganz Neues ist, hätten Sie die Chance gehabt, eine Formulierung zu finden, die für jeden Bürger
verständlich, einfach und transparent ist. Ich zitiere den
neuen § 25 a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes:
Werden die Einkommensteuererklärungen unter
den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 und 2
oder des Absatzes 2 für zwei aufeinander folgende
Veranlagungszeiträume zusammen abgegeben, beginnt der Zinslauf für Zinsen nach § 233 a der Abgabenordnung für den ersten Veranlagungszeitraum
des Zweijahreszeitraums erst 15 Monate nach Ablauf des zweiten Veranlagungszeitraums.
Jetzt werden Sie sagen: So etwas muss in jedem Gesetz
stehen. Da der Abs. 1 nicht vorgetragen wurde, konnte
man das gar nicht verstehen.
Sie hatten aber auch die Chance, den Abs. 1 ganz neu
und für jeden Bürger - hier sitzen ja viele Bürger - transparent und verständlich zu formulieren. Ich möchte Ihnen § 25 a Abs. 1 Ihres Gesetzentwurfes vortragen:
Die steuerpflichtige Person kann die Einkommensteuererklärungen für zwei aufeinander folgende
Veranlagungszeiträume ({14}) auf
Antrag abweichend von § 25 Absatz 3 innerhalb
von fünf Monaten nach Ablauf des zweiten Veranlagungszeitraums zusammen abgeben,
({15})
wenn sie in beiden Veranlagungszeiträumen voraussichtlich
- damit wird schon angedeutet, was da passiert ausschließlich Einkünfte im Sinne des § 2 Absatz 1
Nummer 4 bis 7 erzielt. Die Summe der nicht einem inländischen Steuerabzug unterliegenden jährlichen Einnahmen nach den §§ 20, 21 und 22
Nummer 1 Satz 1 und 2 und Nummer 2 und 3 darf
13 000 Euro nicht übersteigen. Erzielt die steuerpflichtige Person im Verlauf des ersten Veranlagungszeitraums des Zweijahreszeitraums andere als
die in Satz 1 genannten Einkünfte oder übersteigt die
Summe der Einnahmen nach Satz 2 13 000 Euro, ist
eine gleichzeitige Abgabe von Steuererklärungen
im Zweijahreszeitraum nicht möglich.
Ich denke, die Bürger gehen jetzt nach Hause und können ihre zweijährige Steuerklärung abgeben.
({16})
Insofern wird deutlich, warum wir sagen: Mit dieser
Schimäre, mit dieser Begriffsbildung kann man dem
Bürger doch keine aus sich selbst generierte, einfache,
verständliche, transparente Steuergesetzgebung vorgaukeln. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
({17})
- Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil diese
Art der Irrtumsverbreitung in der Bevölkerung keinen
guten Eindruck macht.
({18})
Es gibt auch Steuersenkungen. Schauen wir einmal
nach, wo es Steuersenkungen gibt: Der Arbeitnehmerpauschbetrag wird von 920 Euro auf 1 000 Euro angehoben. Gut, „1 000 Euro“ klingt einfacher als „920 Euro“;
das stimmt. In Wahrheit spart dadurch jeder Arbeitnehmer 3 Euro, aber nicht pro Tag - nicht, dass das jemand
falsch versteht. Das ist in Richtung Steuersenkung ja
doch ein erster Schritt.
({19})
Insofern ist es richtig: Die CDU/CSU-FDP-Koalition tut
viel. Wenn Sie weiterhin in 3-Euro-Schritten vorgeht,
dann gibt es noch viel zu tun.
({20})
Ich zitiere hierzu die Bundessteuerberaterkammer, die
sagt: Das ist nicht effektiv. Außerdem betrifft das nur
Bürger, die Werbungskosten zwischen 920 Euro und
1 000 Euro haben.
Eine Sache ärgert uns besonders: Begünstigt werden
diejenigen, die keine berufsbedingten Aufwendungen
haben. Alle anderen müssen im Veranlagungszeitraum
nämlich ohnehin die Belege sammeln; denn es bleibt so
komplex wie bisher: Am Ende des Veranlagungszeitraums muss man schauen, ob man die Pauschale in Anspruch nehmen kann oder ob man die Werbungskosten
einzeln abrechnen muss, sodass der Gesetzentwurf im
Ergebnis viel weniger hält, als er verspricht. Wir wollen
uns an diesem Fehlversprechen nicht beteiligen.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Binding, Ihre elfminütigen Ausführungen
({0})
haben gezeigt, dass Sie krampfhaft danach gesucht haben,
({1})
irgendwie einen Grund zu finden,
({2})
diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
({3})
Der Höhepunkt wurde erreicht, als Sie hier einen Gesetzestext vorgelesen haben, ohne inhaltlich etwas dazu
zu sagen.
({4})
Sie haben leider Gottes auch verschwiegen, dass wir hier
ein Angebot an die Steuerpflichtigen machen. Niemand
wird gezwungen,
({5})
von diesem Angebot Gebrauch zu machen, sondern jeder einzelne Steuerpflichtige kann sich überlegen, ob er
einmal alle zwei Jahre seine Steuererklärung abgeben
will.
({6})
Ich möchte ganz kurz aus der Anhörung zitieren; denn
wir haben uns im Gegensatz zu Ihnen von den Sachverständigen beraten lassen. Sie haben nämlich gesagt - zumindest Professor Loritz und Dr. Hechtner -, dass es zumindest ein richtiger Schritt ist, dies auszuprobieren, den
Steuerpflichtigen also dieses Angebot zu machen.
Sie haben von der Stimmung auf dem Deutschen
Steuerberaterkongress gesprochen. Ich sage eines ganz
deutlich: Das Angebot, die Steuererklärung alle zwei
Jahre abzugeben, richtet sich an jene Steuerpflichtigen,
die ihre Steuererklärung selber abgeben,
({7})
und nicht an die Steuerberater, weil die Steuerberater
weiterhin dabei bleiben, die Steuererklärung für ihre
Klienten jährlich abzugeben. Das ist auch in Ordnung;
denn es ist ein Angebot. Ich gehe davon aus, dass die
Finanzämter die Steuerpflichtigen entsprechend beraten
werden, ob sie ihre Steuererklärung alle zwei Jahre abgeben können.
Ich möchte auf das eingehen, was Sie zum Thema Arbeitnehmerpauschbetrag gesagt haben. Die Diskussion
zeigt, dass Sie den Begriff Steuervereinfachung schlichtweg nicht verinnerlicht haben.
({8})
Vielmehr sprechen Sie im Rahmen der Anhebung des
Arbeitnehmerpauschbetrages von Steuersenkungen. Für
uns ist das eine Maßnahme der Steuervereinfachung.
({9})
Jeder Pauschbetrag muss immer wieder, schon allein inflationsbedingt, angepasst werden. Es ist für uns ein Beitrag zur Steuervereinfachung, dass der Arbeitnehmer einen höheren Pauschbetrag in Anspruch nehmen kann.
({10})
Einer Mär möchte ich deutlich widersprechen. Es
wird immer wieder behauptet, es seien in dieser Legislaturperiode auf Betreiben der FDP- und der Unionsfraktion keine Steuerentlastungen vorgenommen worden.
({11})
Zum 1. Januar 2010 haben wir Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und Familien in einer Größenordnung von
24 Milliarden Euro entlastet.
({12})
Das war eine deutliche Entlastung. Jetzt geht es um
Steuervereinfachung.
Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass der Arbeitnehmerpauschbetrag unter der Ägide eines SPDFinanzministers gekürzt wurde. Ich bin mir nicht ganz
sicher, ob auf den Oppositionsbänken tatsächlich die Arbeitnehmerpartei sitzt. Ich habe daran große Zweifel;
denn wir machen Steuerpolitik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({13})
Weitere Punkte des vorliegenden Entwurfs eines
Steuervereinfachungsgesetzes führen in vielen anderen
Bereichen zu einem deutlichen Bürokratieabbau. Allein
durch die elektronische Rechnungsstellung rechnen wir
bei den Bürokratiekosten mit einem Entlastungsbetrag in
einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro. Das ist
keine Entlastung, die zulasten der Staatskasse geht, sondern es handelt sich um den Abbau übertriebener Bürokratie, die Sie als SPD-Finanzminister zehn Jahre lang in
finanzpolitischer Verantwortung schlichtweg haben bestehen lassen. Sie hatten zehn Jahre lang nicht die Kraft,
Sie hatten nicht die Vision und den Willen, das Steuerrecht zu vereinfachen. Im Zweifel haben Sie das Steuerrecht verkompliziert. Das ist die Wahrheit.
({14})
Zu den Bereichen, die wir unterhalb der gesetzlichen
Regelung angehen. Ich spreche von einer stärkeren
Kommunikation in elektronischer Form zwischen
Steuerpflichtigen und Finanzamt. Ich spreche von dem
Projekt der vorausgefüllten Steuererklärung. Ich spreche
von dem Projekt der zeitnahen Betriebsprüfung. Dies
sind alles Punkte, die den Steuerpflichtigen, der seiner
Steuererklärungspflicht nachkommt, von Bürokratie entlasten. Das macht die Steuererklärungspflicht einfacher.
Ich bin der Überzeugung: Wenn der Steuerpflichtige in
Deutschland schon Steuern zahlen muss, dann soll er es
wenigstens einfach haben; er soll Freude daran haben,
seine Steuererklärung auszufüllen. Dafür sorgen wir mit
dem vorliegenden Steuervereinfachungsgesetz.
({15})
Erlauben Sie mir abschließend, darauf hinzuweisen,
dass der vorliegende Gesetzentwurf nicht umsonst den Titel „Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011“
trägt. Er trägt diesen Titel deswegen,
({16})
weil dies das erste in einer Reihe weiterer Steuervereinfachungsgesetze sein wird.
({17})
Wir werden auch ein Steuervereinfachungsgesetz 2012
auf den Weg bringen, in dem wir weitere Vereinfachungen im Steuerrecht gesetzlich formulieren werden, und
zwar Vereinfachungen, die die Steuerpflichtigen von Bürokratie entlasten, ohne dass es in großem Umfang zulasten der Staatskasse geht.
({18})
Ich lade Sie ganz herzlich ein, an der weiteren kontinuierlichen Arbeit an der Steuervereinfachung teilzunehmen. Ich lade Sie, den Bundesrat und die Opposition,
übrigens auch ein, dieses Steuervereinfachungsgesetz
2011 so schnell wie möglich in Kraft zu setzen, weil es
wirklich höchste Zeit wird, den Steuerpflichtigen klarzumachen: Wir kümmern uns tatsächlich um die mittlerweile zu komplizierte Steuergesetzgebung. Wir wollen
es für die Steuerpflichtigen einfacher machen. Das ist
Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Ich lade Sie
herzlich ein, hieran mitzuwirken.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollegin Tillmann und Herr Flosbach von der
CDU haben den Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes unmittelbar nach der Anhörung gelobt und gesagt:
Die heutige Sachverständigenanhörung hat in einhelliger Weise die mit dem Steuervereinfachungsgesetz 2011 vorgesehenen Maßnahmen begrüßt.
({0})
Dem Protokoll der Anhörung entnehme ich etwas anderes.
({1})
Alle haben gesagt, das Ziel des Gesetzentwurfs sei uneingeschränkt positiv. Aber das besagt bei weitem nicht,
dass Ihre Maßnahmen dafür geeignet sind. Da kann ich
nur sagen, Herr Volk: Sie haben schlicht und ergreifend
Ihr Ziel verfehlt.
({2})
Der Vertreter der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
Dieter Ondracek, - ich zitiere noch einmal - meinte in
der Anhörung:
Was kommt raus: keine Erleichterung, eher das Gegenteil.
Praktiker hauen Ihnen den Gesetzentwurf um die Ohren.
Von einer einhelligen Begrüßung ist dieser Gesetzentwurf meilenweit entfernt. Vielleicht haben Sie davon geträumt, das hat aber mit der Realität nichts zu tun.
({3})
Fakt ist: Die Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf
werden im Großen und Ganzen zu keiner, in wenigen
Bereichen zu einer geringen Vereinfachung, in manchen
Bereichen sogar zu einer Verkomplizierung führen. Einiges hat mein Kollege Binding schon ausgeführt; ich ergänze noch einige andere Punkte.
Ich begrüße ausdrücklich, dass Sie der Forderung der
Linken nachgekommen sind und auf die von Ihnen geplante Anhebung der Bagatellgrenzen für Vermögensverwahrer und -verwalter bei der Erbschaftsteuer verzichtet haben. Das begrüßen wir uneingeschränkt.
({4})
Ebenfalls begrüße ich die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages um 80 Euro auf 1 000 Euro. Es
wurde aber schon gesagt: Im Jahr 2003 lag der Betrag
bei 1 044 Euro. Wenn es Ihnen bei der Anhebung um
eine Inflationsanpassung gegangen wäre, hätten Sie vonseiten der CDU schon Jahre Zeit gehabt, hier tätig zu
werden.
({5})
Sie sind weit von dem Stand entfernt, den wir vor acht
Jahren hatten.
Allein diese Maßnahme macht mit 330 Millionen
Euro etwa die Hälfte des konkreten Entlastungsbetrages
aus. Wer ungefähr 30 000 Euro brutto im Jahr verdient,
wird monatlich um 2 bis 3 Euro entlastet. Auf diese Peanuts sind Sie auch noch stolz. Dabei ziehen Sie den
Menschen mit den gestiegenen Krankenversicherungsbeiträgen ein Vielfaches aus der Tasche. Das ist die Realität.
({6})
Zudem muss man sagen: Diese Vereinfachung kommt
gerade einmal 1,6 Prozent der Steuerpflichtigen zugute.
Damit kann man sich einfach nicht schmücken.
({7})
Als zweite große Vereinfachung verkaufen Sie die
zweijährige Steuererklärung. Das heftet sich die FDP
groß an die Brust. An dieser Stelle möchte ich dem langjährigen Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Dieter Ondracek, zum einen für sein Wirken danken. Zum anderen möchte ich aus seiner gestrigen
Abschiedsrede zitieren: Gott verschone uns vor der
Zweijahreserklärung. - Recht hat der Mann, sage ich.
({8})
Es handelt sich lediglich um eine Fristverlängerung.
Sollten Sie hier diesen Gesetzentwurf beschließen, so
hoffe ich - hier zitiere ich noch einmal Dieter Ondracek -:
Mit Gottes Hilfe wird niemand die Zweijahreserklärung
in Anspruch nehmen.
Sie wissen so gut wie ich, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Steuererklärung abgeben, meistens zu Recht auf eine Erstattung hoffen. Nennen Sie mir nur einen Grund, warum sie darauf noch ein
weiteres Jahr warten sollten. Dies sieht im Übrigen auch
die Bundessteuerberaterkammer so - ich zitiere -:
Da wird es … mehr Probleme geben, als es Vereinfachungen geben wird …
Das hat auch der Kollege Binding schön belegt.
Das heißt, sowohl die Deutsche Steuer-Gewerkschaft
als auch die Bundessteuerberaterkammer wie auch zahlreiche Fachleute lehnen die zweijährige Steuererklärung
ab, und Sie stehen hier immer noch völlig ungerührt und
sagen: Es ist prächtig, was wir hier als Angebot unterbreiten. - Das ist Ihnen wirklich prächtigst gelungen.
({9})
Prächtigst gelungen ist Ihnen auch die Vereinfachung
der Veranlagungsarten für Eheleute. Erst streichen Sie
drei Veranlagungsarten, um dann festzustellen, dass das
verwaltungstechnisch nicht geht, und anschließend führen Sie mit Ihrem Änderungsantrag drei neue Tatbestände ein. Prima Vereinfachung! Das ist doch Etikettenschwindel.
({10})
Schauen wir uns noch einmal an, wie es - von wegen
Senkung oder nicht - konkret abgelaufen ist. Sie haben
überlegt, ob Sie bei den Behindertenpauschbeträgen etwas machen. Durch die Anhebung des Mindestbehinderungsgrades wollten Sie eine Verschärfung einführen.
Gleichzeitig wollten Sie eine Erhöhung der Pauschbeträge vornehmen. Dies haben Sie wieder zurückgezogen
mit der Begründung des Staatssekretärs: Wir hatten uns
zwischen einer Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages und einer Anhebung des Behindertenpauschbetrages zu entscheiden. - Das darf doch wohl nicht wahr
sein. Wenn es eine Vereinfachung geben soll, kann man
doch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen.
({11})
Bei den Kinderbetreuungskosten müssen wir erst einmal prüfen, was die von Ihnen gewählte Rechtskonstruktion tatsächlich bedeutet und ob sie überhaupt so möglich ist.
Ich frage Sie: Warum vereinfachen Sie nicht, indem
Sie die Abgeltungsteuer abschaffen, anstatt sie zunehmend weiter zu verkomplizieren? Warum nehmen Sie
keine Vereinfachung vor, indem Sie das Ehegattensplitting abschaffen? Wie den Zeitungen zu entnehmen ist,
wird das selbst aus Brüssel vorgeschlagen bzw. direkt
gefordert. Warum gestalten Sie nicht den Einkommensteuertarif gerecht, indem Sie den sogenannten Mittelstandsbauch abschaffen und eine linear-progressive Besteuerung wählen?
({12})
Da herrscht bei Ihnen Schweigen im Walde. Dabei
bräuchten Sie nur unsere Vorschläge aufzugreifen. Wir
brauchen dazu gar keine Einladung von Ihnen. Die VorDr. Barbara Höll
schläge liegen auf dem Tisch. Greifen Sie zu! Verwirklichen Sie sie, und wir haben eine tatsächliche Steuervereinfachung!
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
hier über das Steuervereinfachungsgesetz.
({0})
Als es im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht
wurde, hat Christian Lindner am 11. Dezember 2010 erklärt - das habe ich noch im Ohr -, dieses Steuervereinfachungsgesetz werde ein Meilenstein.
({1})
Heute, bei der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetzentwurfs, müssen wir allesamt feststellen: Das ist mehr
eine Mischung aus
({2})
- gut - Stolperstein und Placebo.
Die Zweijahressteuererklärung zum Beispiel ist ein
Placebo; denn sie ist nun einmal nichts anderes als eine
Fristverlängerung. Wir alle wissen, dass diejenigen, von
denen Sie sagen, sie sollten die Möglichkeit bekommen,
diese längere Frist in Anspruch zu nehmen, wahrscheinlich eher diejenigen sind, die ein bisschen laxer damit
umgehen und Probleme haben, Fristen einzuhalten. Genau denjenigen werden Sie am Ende aber damit, dass sie
nicht mehr zum Steuerberater gehen können, ein zusätzliches Problem aufbürden. Dann haben sie das nämlich
verschlampt, stellen fest, dass sie das jetzt ganz schnell
machen müssen, das aber gar nicht mehr können, und
können sich schließlich noch nicht einmal vom Steuerberater helfen lassen.
({3})
Die sogenannte Zweijahressteuererklärung ist tatsächlich ein wichtiger Punkt Ihres sogenannten Steuervereinfachungsgesetzes.
({4})
Ansonsten enthält Ihr Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes lächerliche Regelungen. Die Erhöhung
des Pauschbetrages um 80 Euro ist hier schon genug
durch den Kakao gezogen worden. Das brauche ich jetzt
nicht noch intensiver zu begründen. Die Ungerechtigkeit
gegenüber den Behinderten ist ebenfalls dokumentiert
worden. Dieser Kritik schließen wir uns uneingeschränkt
an.
Andere Punkte kritisieren wir gar nicht; diese Maßnahmen sind allerdings längst überfällig. Sie hätten außerdem durchaus in ein anderes Gesetz gepasst. Dafür
hätte das Jahressteuergesetz ausgereicht. Dass Rechnungen jetzt auch elektronisch archiviert werden können
und nicht mehr in Papierform aufbewahrt werden müssen, ist zwar okay, hätte aber nicht unbedingt des Steuervereinfachungsgesetzes bedurft.
Mit 97 Vorschlägen haben Sie angefangen. Das Ergebnis ist schlicht halbherzig. Sie haben auch schon das
nächste Gesetz angekündigt; ansonsten wäre das auch
noch peinlicher gewesen.
({5})
Ich möchte mich auf zwei negative Beispiele beschränken, die noch nicht so im Fokus gestanden haben.
Beim Ehegattensplitting wollen Sie eine Reduzierung
der Veranlagungsmöglichkeiten von sieben auf vier vornehmen. Eine echte Steuervereinfachung wäre es gewesen, wenn Sie das Ehegattensplitting ganz abgeschafft
hätten und das System auf eine Individualbesteuerung
plus übertragbaren Grundfreibetrag umgestellt hätten.
({6})
Eine solche Änderung ist im Übrigen überfällig; denn
das Ehegattensplitting fördert weder Kinder noch die
Ehe, sondern wirkt sich schlichtweg positiv aus bei besonders großen Einkommensunterschieden zwischen
Eheleuten.
Dabei geht es um eine relevante Geldsumme, nämlich
um 18,9 Milliarden Euro. Wenn man den Grundfreibetrag einführte, stünde zwar nicht die komplette Summe
zur Verfügung, aber grundsätzlich wäre es eine gute
Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen zugunsten der Familienförderung durchzuführen. Auch das lehnen Sie ab.
({7})
Dabei wurde Ihnen das noch einmal ins Stammbuch
geschrieben. Zum Beispiel werden Sie im Gutachten Ihrer Sachverständigenkommission zum ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung im Januar 2011 aufgefordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Das ist eine
wichtige Maßnahme zur Gleichstellung in Deutschland.
Auch von außen gibt es Kritik. Die EU-Kommission beispielsweise hat vor zwei Tagen betont, dass das Ehegattensplitting in Deutschland ein wirtschaftspolitisches
Hemmnis und ein wettbewerbspolitisches Problem ist.
Machen Sie also endlich das, was zwar schon allgemein
bekannt ist, was Ihnen aber jetzt auch noch einmal offiziell von EU-Seite und von Ihren eigenen Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben wird!
({8})
Ein anderes Beispiel ist die Steuergestaltung. Der
Steuerexperte der OECD beispielsweise sagt dazu, Steuergestaltung sei selbstverständlich legitim, zumal bei einem so komplizierten Steuerrecht wie in Deutschland,
aber das Versteckspiel koste alle Beteiligten unglaublich
viel Zeit und Geld.
Was ist Steuergestaltung? Unter Steuergestaltung versteht man den Versuch, möglichst wenig Steuern zu zahlen. Da das deutsche Steuerrecht kompliziert ist, können
sich das nur diejenigen leisten,
({9})
die Steuern zahlen, aber vor allem auch Fachleute beauftragen können, nach Steuerschlupflöchern im deutschen
Gesetz zu suchen, die die Gesetzgeber, also wir, in der
Form nicht erkannt haben. Große Heere von Beratern
werden dafür bezahlt, diese Steuerschlupflöcher zu finden.
({10})
Spätestens dann, wenn ein Steuerschlupfloch besonders
groß ist, befassen wir uns wieder im Bundestag damit.
Dann müssen wir dem als Deutscher Bundestag mit viel
Mühe hinterherregulieren.
Das muss nicht sein; das kann man anders machen.
Das wissen Sie auch. Wir haben das Thema nicht neu
aufgebracht. Dazu gibt es bereits eine lange Diskussion.
Wir als grüne Fraktion beispielsweise haben schon 2007
einen Antrag dazu eingebracht. Auch der Bundesrat hat
fertige Gesetzesformulierungen vorgelegt. Aber dieses
Haus beschäftigt sich nicht damit. Wir haben dazu einen
Änderungsantrag eingebracht, den Sie gestern abgelehnt
haben.
({11})
Darin schlagen wir eine Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle vor. Sie würde Vereinfachung und Steuergerechtigkeit miteinander verbinden. In den USA, in
Großbritannien und Kanada beispielsweise gibt es das
schon. Sie wirkt wie ein Frühwarnsystem für Behörden
und Firmen, schafft Rechtssicherheit für Unternehmen
und vermeidet Steuerausfälle. Das wäre ein echter Vereinfachungseffekt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss.
Fazit: Sie haben uns einen großen Wurf versprochen.
Angekommen ist stattdessen ein großer Papierberg.
Mehr Steuervereinfachung wäre möglich gewesen; sie
wäre auch tatsächlich nötig.
Frau Kollegin!
Eine letzte Bemerkung: Wir wollen aber nicht mehr
Steuervereinfachung auf Kosten von Steuergerechtigkeit. Man muss beides miteinander verbinden. Wir haben entsprechende Änderungsanträge eingebracht. Denen sind Sie nicht gefolgt. Deswegen können wir den
Gesetzentwurf nur ablehnen.
({0})
Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Frau Paus, Sie haben gerade selber
gesagt, das deutsche Steuerrecht sei kompliziert. Wir
leisten einen Beitrag dazu, es ein bisschen zu vereinfachen und Bürokratie abzubauen. Ein Schritt wird heute
getan. Viele weitere Schritte müssen folgen. Das ist ein
Ziel, das sich die christlich-liberale Koalition gesetzt hat.
Es wäre schön, wenn Sie diese Arbeit unterstützen würden.
({0})
Sehr viele konstruktive Vorschläge kamen in den Beratungen aber nicht.
({1})
Herr Binding, es ist schön, dass Sie unser Motto „Einfach und gerecht“ übernommen haben,
({2})
das ein sehr wertvoller und wichtiger Beitrag zur Gestaltung des Steuerrechts in Deutschland ist.
({3})
Sie haben allerdings von einer grünen Wiese gesprochen, die es leider nicht gibt.
({4})
Wir haben die Steuergesetzgebung im Einkommensteuerrecht und in allen anderen steuerlichen Bereichen. Daraus müssen wir das Beste machen und die besten Lehren ziehen. Deswegen ist es fast schon lächerlich, wenn
Sie Paragrafen zitieren; denn die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler werden das Einkommensteuergesetz sicherlich nicht in Gänze lesen.
({5})
- Das hätten Sie vielleicht machen können; aber wegen
der Kürze der Redezeit war das nicht möglich.
Die Reduzierung der Erklärungs-, Prüfungs- und Veranlagungsaufwendungen ist das erklärte Ziel, das wir
mit dem Steuervereinfachungsgesetz erreichen wollen.
Ich glaube, es gelingt uns, das Steuerrecht zu vereinfachen und Bürokratie abzubauen. Das ist die große Aufgabe, die wir uns gestellt haben. Ich glaube, wir leisten
einen Beitrag dazu, diese Aufgabe zu erfüllen.
Man muss auch schauen, welche finanziellen Auswirkungen das Ganze hat. Sie reden immer von 3 oder
4 Euro. Wir stehen vor der großen Herausforderung der
Einhaltung der Schuldenbremse, die ab 2016 gilt, und
der Konsolidierung der Haushalte. Davon haben Sie
nicht gesprochen. Unser Gesetz trägt zur Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem der Familien mit Kindern, bei. Es handelt sich um 590 Millionen Euro, was eine schöne Summe ist. Der geringere Bürokratieaufwand für Unternehmen schlägt sich in einer
Kostenersparnis von ungefähr 4 Milliarden Euro pro
Jahr nieder. Das ist etwas, was sich sehen lassen kann.
Das sollte man in einer solchen Debatte nicht verschweigen.
({6})
Es gibt viele Maßnahmen, die sicherlich sinnvoll
sind. Ich nenne zum Beispiel die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages. Frau Kollegin Dr. Höll, 60 Prozent aller steuerpflichtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ersparen sich durch die Anhebung des
Pauschbetrages einen bürokratischen Aufwand.
({7})
- Durch die Änderung nicht. - Durch die Änderung sind
in der Summe 550 000 Arbeitnehmer mehr betroffen,
insgesamt über 22 Millionen. Auch das ist etwas, was
sich sehen lassen kann.
({8})
Es gibt viele weitere positive Punkte. Durch die verbesserte Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten
werden die Steuerzahler um 60 Millionen Euro entlastet,
200 Millionen Euro Entlastung ergeben sich aus dem
Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze bei der Beantragung von Kindergeld und bei dem Kinderfreibetrag.
Von der Vereinfachung bei der Berechnung der Entfernungspauschale profitieren hauptsächlich die Menschen
in den ländlichen Räumen. Auch für die Unternehmen
- das ist in der Debatte verschwiegen worden - sind
Erleichterungen im Gesetz vorgesehen, die sich auf
4 Milliarden Euro belaufen. Diese Einsparung für die
Unternehmen resultiert unter anderem aus Erleichterungen bei der elektronischen Rechnungslegung. Man sollte
nicht immer nur die negativen Dinge sehen. Es ist auch
die Aufgabe der Opposition, das Positive herauszuarbeiten. Man sollte nicht nur Dinge miesmachen, sondern
auch schauen, an welcher Stelle man konstruktive Vorschläge machen kann. Ich habe bis auf kleine Ansätze
von Frau Paus in dieser Hinsicht nicht sehr viel gesehen.
({9})
Es müssen weitere wichtige Maßnahmen auf den Weg
gebracht werden. Das Steuervereinfachungsgesetz ist ein
Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen eine bessere Harmonisierung der steuerlichen und sozialrechtlichen Vorschriften, die bisher die Unternehmen stark belasten. Dieser Aufgabe müssen wir uns gemeinsam in
diesem Haus stellen. Es gibt noch viele Dinge, die im
Bereich des Unternehmensteuerrechts zu tun sind.
Das Steuervereinfachungsgesetz ist kein Steuerentlastungsgesetz. Ich glaube, meine Damen und Herren von
der Opposition, Sie haben da etwas falsch verstanden. Es
gehen sicherlich steuerliche Erleichterungen mit diesem
Gesetz einher, aber diese sind nicht das Ziel des Gesetzes. Wir wollen Bürokratie abbauen und Steuererleichterungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erreichen. Es ist ein kleiner Schritt - das habe ich gesagt -,
aber es ist ein Schritt. Wir haben diesen Schritt getan.
Sie - Herr Binding, Sie haben es angesprochen - haben
lange Zeit einen Bundesfinanzminister gestellt; aber in
dieser Zeit sind keine positiven Effekte für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erzielt worden. Das aber ist
in dieser Zeit wichtig.
Unser Ziel muss es sein, vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Beschäftigten in
unserem Land am Aufschwung teilhaben zu lassen. Es
müssen in der Steuergesetzgebung Maßnahmen ergriffen
werden, um die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen zu entlasten. Das hat der finanzpolitische Sprecher
unserer Fraktion in die Diskussion eingebracht. Wir
müssen neue Regelungen bei der Steuerprogression auf
den Weg bringen; wir müssen aber auch schauen, welche
Spielräume wir haben. Die Schuldenbremse, die Haushaltskonsolidierung und die Nachhaltigkeit sind angesprochen worden. Frau Kollegin Paus, wir haben uns
über dieses Thema im Rahmen der Debatte schon einmal
unterhalten.
Eines unserer Ziele bei der Weiterentwicklung der
Steuergesetzgebung muss sein, dass wir die Auswirkungen auf die kommenden Generationen immer mit beachten. Wir müssen die Nachhaltigkeitsprüfung als einen
wesentlichen Bestandteil der Gesetzgebung ansehen.
Wir müssen in diesem Hause verstärkt Wert darauf legen, dass die arbeitenden Menschen in diesem Land unter keiner zu hohen Steuerlast leiden. Vom Bund der
Steuerzahler stammt die Feststellung, dass aufgrund der
kalten Progression eine Lohnerhöhung um 1 Prozent
eine um 2 Prozent höhere steuerliche Belastung nach
sich zieht. Unsere Aufgabe ist es, hieran etwas zu ändern. Dabei müssen wir den Haushalt natürlich im Blick
haben; die Konsolidierung unserer Staatsfinanzen ist die
große Aufgabe.
Stimmen Sie unserem ersten Schritt in Richtung Steuererleichterungen zu. Bisher sind wichtige Maßnahmen
ergriffen worden. In Zukunft können Sie sie mittragen,
gerade im Hinblick auf die Familien mit Kindern, die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Lassen Sie
uns weiter daran arbeiten, das deutsche Steuerrecht zu
vereinfachen.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Steuerverein-
fachungsgesetzes 2011. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/6105
und 17/6146, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/5125 und 17/5196 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge-
gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthal-
tung der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie
zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6122. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
Stimmenthaltung von SPD und Linken abgelehnt.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis r auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Ägypten endgültig stoppen
- Drucksache 17/5935 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Libyen endgültig stoppen
- Drucksache 17/5936 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien endgültig stoppen
- Drucksache 17/5937 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Tunesien endgültig stoppen
- Drucksache 17/5938 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Oman stoppen
- Drucksache 17/5939 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Jemen stoppen
- Drucksache 17/5940 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in die Vereinigten Arabischen
Emirate stoppen
- Drucksache 17/5941 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien stoppen
- Drucksache 17/5942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Israel stoppen
- Drucksache 17/5943 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Marokko stoppen
- Drucksache 17/5944 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Libanon stoppen
- Drucksache 17/5945 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Kuwait stoppen
- Drucksache 17/5946 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Jordanien stoppen
- Drucksache 17/5947 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Bahrain stoppen
- Drucksache 17/5948 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Katar stoppen
- Drucksache 17/5949 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Algerien stoppen
- Drucksache 17/5950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
q) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens
einstellen - Militärische Zusammenarbeit be-
enden - Atomwaffenfreie Zone befördern
- Drucksachen 17/2481, 17/4508 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt
r) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor
Gysi, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul,
Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen
- Drucksachen 17/5054, 17/5039, 17/5204,
17/5823 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jan
van Aken für die Linke das Wort.
({18})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine
Legende, dass deutsche Rüstungsexporte besonders
scharf kontrolliert werden. Im Gegenteil: Man kann
praktisch jede deutsche Waffe fast überall in die Welt liefern. Nur ein Beispiel: Im Jahr 2009 hat die Regierung
Rüstungsexportgenehmigungen für 135 Länder weltweit erteilt, darunter für Kriegsgebiete, auch für Diktaturen, etwa im Nahen Osten und in Nordafrika.
Ein besonders schwerer Fall ist Saudi-Arabien. Die
Bundesregierung selbst schreibt in ihrem Menschenrechtsbericht von schwersten Menschenrechtsverletzungen, von Folterungen, von Todesstrafen. Sie beschreibt
in ihrem eigenen Menschenrechtsbericht, dass Frauen
dort Menschenrechte vorenthalten werden, Dissidenten
inhaftiert werden, Geständnisse erzwungen werden; außer der muslimischen dürfe keine andere Religion ausgeübt werden. Trotzdem hat Deutschland in den letzten
zehn Jahren Rüstungsexporte im Wert von sage und
schreibe 675 Millionen Euro nach Saudi-Arabien genehmigt. Das muss doch irgendwann einmal ein Ende haben.
({0})
Das sind übrigens Waffen, mit denen die Saudis nicht
nur ihr eigenes Volk unterdrücken; damit führen sie auch
praktisch Krieg. Wir haben Fotos, die zeigen, wie saudische Soldaten mit deutschen G-36-Sturmgewehren vor
zwei Jahren an der jemenitischen Grenze Krieg geführt
haben. Selbst solche Vorfälle halten die Bundesregierung
nicht davon ab, eine Waffenfabrik in Saudi-Arabien aufzubauen. Das muss man sich vorstellen: Dort wird eine
Fabrik zur Produktion des deutschen G-36-Sturmgewehrs aufgebaut. Diese Fabrik wird über Jahrzehnte
Waffen produzieren, und diese Waffen werden über Jahrzehnte eingesetzt werden. Noch in 100 Jahren werden
überall auf der Welt Menschen mit deutsch-saudischen
G-36-Gewehren erschossen werden, weil Sie jetzt eine
falsche Entscheidung getroffen haben. Die sollten Sie
sofort zurücknehmen.
({1})
Jetzt wird es ganz pikant - das hat uns die Bundesregierung diese Woche schriftlich gegeben -: Der deutsche
Rüstungskonzern EADS wollte einen Milliardendeal mit
den Saudis machen. Die Saudis haben zur Bedingung
gemacht: Dann müssen aber saudische Grenzpolizisten
durch deutsche Polizisten ausgebildet werden. - Und Sie
tun das! Sie schicken über 70 deutsche Polizisten nach
Saudi-Arabien, damit EADS einen Rüstungsdeal machen kann.
({2})
Die Reisekosten der deutschen Polizisten werden von
EADS bezahlt, ihr Gehalt vom deutschen Steuerzahler.
Sie finanzieren mit deutschen Steuergeldern einen riesigen Rüstungsdeal von EADS, und zwar mit einem Land,
von dem Sie selber sagen, dass es große Menschenrechtsverletzungen begeht. Diesen Deal müssen Sie sofort aufkündigen!
({3})
Saudi-Arabien ist aber nur ein Beispiel. Das Gleiche
gilt für viele andere Länder in dieser Region. Die Linke
hat jetzt 16 Anträge eingebracht, damit der Rüstungsexport in 16 Länder des Nahen und Mittleren Ostens und
Nordafrikas verboten wird. Wir wollen, dass über alle
16 Anträge namentlich abgestimmt wird; denn ich finde,
Sie sollten auch ganz persönlich eine Entscheidung treffen, ob in Zukunft noch Waffen nach Saudi-Arabien oder
an andere Diktatoren geliefert werden oder nicht, und
dann die Verantwortung dafür übernehmen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich weiß, dass
wir darüber nicht so schnell einig werden. Aber Sie können hier einen kleinen Anfang machen. Sie können nun
entscheiden, dass an einzelne Diktatoren keine Waffen
mehr geliefert werden.
({4})
Da möchte ich die Damen und Herren der FDP direkt ansprechen. Es ist doch ein geradezu liberales Prinzip, die
individuelle Freiheit hochzuhalten. Wie können Sie verantworten, dass diese Freiheit in Saudi-Arabien mit
deutschen Waffen niedergehalten wird? Meine Damen
und Herren von CDU und CSU, ich verstehe bis heute
nicht, wie Sie Waffenexporte mit Ihrem christlichen
Glauben vereinbaren können. Nur zur Erinnerung: In
Saudi-Arabien darf das Christentum nicht praktiziert
werden.
In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie sich jeden Antrag
genau anschauen und zumindest bei dem einen oder anderen Land sagen werden: In diese Diktatur, in diese
Kriegsregion darf keine deutsche Waffe mehr exportiert
werden. - Sie sollten nicht den gleichen Fehler wie bei
Ägypten, Libyen und Tunesien machen. Überall dorthin
haben Sie bis vor kurzem Waffen geliefert. Selbst Herr
Kauder hat öffentlich gesagt: Das war ein Fehler. - Machen Sie den Fehler nicht noch einmal! Stoppen Sie die
Waffenexporte in die infrage stehenden 16 Länder!
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Erich G. Fritz für die CDU/CSUFraktion.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Herr van Aken, bevor ich sage, was zu sagen ist: Ihre
pauschale Darstellung der Polizeiausbildung ist zu
schlicht. Der Zusammenhang - das kann ich jetzt nicht
nachprüfen - mag diskussionswürdig sein. Aber wir haben nun einmal überall auf der Welt die Erfahrung gemacht: Dort, wo wir Polizisten und Führungskräfte ausbilden, gibt es anschließend eine größere demokratische
Substanz, gibt es in Krisensituationen Menschen, die andere Qualitäten aufweisen als den puren Gehorsam gegenüber Diktaturen. Deshalb ist es zumindest gefährlich,
auf diese Art und Weise zu argumentieren.
({0})
Meine Damen und Herren, bei diesem Thema lassen
sich nach Max Weber interessengeleitete Positionen auf
der einen und wertgebundene Positionen auf der anderen
Seite wunderbar gegeneinander in Stellung bringen. Das
hilft aber nicht wirklich weiter. Wenn der an Werte Gebundene nur an seine Werte denkt, ist er politisch handlungsunfähig. Wer nur interessengeleitet ist, bewegt sich
am Rand der moralischen Unfähigkeit. Es geht also darum, die beiden Prinzipien vernünftig und möglichst verantwortungsvoll miteinander zu verbinden.
In Ihren 16 Anträgen zum Verbot von Exporten von
Kriegswaffen und Rüstungsgütern unterscheiden Sie
überhaupt nicht. Sie verstehen auch gesicherte Autos für
Botschaften als Waffen. Das ist zumindest oberflächlich
und zeigt, dass Sie mit diesen Anträgen bestimmte Intentionen verfolgen.
({1})
Alle Ihre Anträge sind fast inhaltsgleich. In den Ausschussberatungen haben Sie einen Antrag für die gesamte Region gestellt. Das war durchaus sinnvoll. Jetzt
zeigen Sie, dass Sie etwas ganz anderes im Sinn haben,
als wirklich darüber zu diskutieren. Ihnen geht es nämlich in Wirklichkeit um einen propagandistischen Erfolg.
Sie hatten auch eine Reihe von Anfragen gestellt, mit
deren Hilfe Sie belegen wollten, dass die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierungen der letzten zehn Jahre
das Schlimmste darstelle, was man sich überhaupt vorstellen könne. Das ist Ihnen ja nicht gelungen; das lässt
sich weder den Summen noch den Zielländerlisten entnehmen. Weil Ihnen das nicht gelungen ist, haben Sie
nun erneut eine ganze Reihe von Anträgen gestellt, die
wir heute zu beraten haben. Sie verschweigen dabei
aber, dass etwa gegen Libyen und Syrien jeweils ein
Waffenembargo besteht; daran halten wir uns natürlich.
So gibt es eigentlich gar keinen Grund, entsprechende
Anträge vorzulegen. Sie wollen vergessen machen, dass
die Bundesregierung selbstverständlich das Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, unverzüglich angewiesen hat, ihr alle Anträge, die diese Region
betreffen, vorzulegen. Diese werden damit separat behandelt und gehen nicht den routinemäßigen Weg.
In einer der Anfragen, die Sie gestellt hatten,
schildern Sie - das hat mich besonders beeindruckt - das
ägyptische System. Sie tun so, als ob Sie schon seit
20 Jahren zu den intensivsten Kritikern dieser Diktatur
gehört hätten. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit haben Sie genauso auf die stabilisierende Wirkung Ägyptens gehofft und gesetzt wie alle anderen.
({2})
- Ja. Wir gehen jetzt seit einem Jahr anders an die Sache
heran. Hier sind wir einer Meinung. Hier gibt es ja nun
auch keine Genehmigungen mehr.
({3})
- Sagen Sie hier doch einmal, was denn geliefert worden
ist. Sie verschweigen einfach zu viel.
({4})
Wir halten uns an alle Maßnahmen, die die Bundesregierungen in den letzten 20 Jahren seit Rabta, seit dem
illegalen Export nach Libyen, getroffen haben. Ob Aus13046
bau des Zollkriminalinstituts, Entwicklung neuer Instrumentarien, verbesserte Eingriffsmöglichkeiten bei Fahndungen oder erhöhte Strafandrohungen, wir versuchen
alles, um illegale Ausfuhren zu verhindern. Wir tun das
alles in einem insgesamt transparenten Verfahren. Damit
glauben wir die Genehmigungen verantworten zu können, die die Bundesregierung bisher erteilt hat.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Heidemarie Wieczorek-Zeul für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute unter anderem über den SPD-Antrag zur
Reduzierung von Waffenexporten und zu einer stärkeren
parlamentarischen Beteiligung des Deutschen Bundestages an Entscheidungen, die ansonsten in geheimer Sitzung im Bundessicherheitsrat allein von den Ressortvertretern der Bundesregierung getroffen werden. Ich
appelliere an CDU/CSU und FDP, unseren Antrag entgegen Ihrem Verhalten in den Ausschüssen anzunehmen.
Damit würden Sie auch die Forderungen der katholischen und der evangelischen Kirche, die wir aufgenommen haben, umsetzen.
({0})
Die Einwände, die wir in den Beratungen von Ihnen
gehört haben - das waren bisher die einzigen -, lassen
sich leicht widerlegen; denn sie sind lediglich vorgeschoben. Da wurde gesagt, es gehe um die Trennung von
Exekutive und Legislative. Schweden und Großbritannien haben natürlich auch eine entsprechende Trennung
zwischen Exekutive und Legislative; trotzdem gibt es
dort solche Regelungen, wie wir sie vorschlagen. Es geht
also, wenn man will. Mein Verdacht ist jedoch, dass die
Regierungsparteien bei Waffen- und Rüstungsexporten
keine wirkliche Transparenz schaffen wollen.
Des Weiteren wird gesagt, das bringe zu viel Verwaltungsaufwand mit sich. Es wäre, ehrlich gesagt, wohl ein
bisschen Verwaltungsaufwand wert gewesen, wenn man
damit verhindert hätte, dass dem Gaddafi-Regime Abschussrampen für Panzerabwehrraketen, Kommunikationstechnik und Störsender geliefert wurden, die dieser
nun gegen die eigene Bevölkerung einsetzen kann.
({1})
Ich habe elf Jahre dem Bundessicherheitsrat angehört
und darf mich aus Gründen der Geheimhaltung natürlich
nicht zu Einzelentscheidungen und auch nicht zu meinem eigenen Stimmverhalten äußern. Ich bitte Sie ausdrücklich, mich auch nicht dazu zu zwingen. Aber so
viel kann ich aufgrund meiner Erfahrung sagen: Diese
Geheimhaltung hat in den letzten Jahren dazu geführt,
dass die richtigen politischen Grundsätze zu den Waffenund Rüstungsexporten, die die rot-grüne Regierung 1999
und 2000 beschlossen hat, einerseits und die realen Entscheidungen im Bundessicherheitsrat zu den Rüstungsexporten andererseits immer weiter auseinanderklaffen.
Da hilft nur parlamentarische Offenheit. Das ist die
Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss.
({2})
Diese Erfahrungen im Bundessicherheitsrat sind - neben meiner grundsätzlichen restriktiven Haltung gegenüber Waffen- und Rüstungsexporten - ein Grund, warum
ich diese Initiative verfolge. Ich werde sie weiter verfolgen, und sie wird zum Erfolg führen.
Warum muss der Bundestag über Waffen- und Rüstungsexporte parlamentarisch mit entscheiden, und warum muss dieses Thema auf der Tagesordnung bleiben?
Dafür gibt es mindestens sechs gute Gründe:
Erstens. Waffen- und Rüstungsexportlieferungen an
nordafrikanische Länder müssen ein Ende haben. Was
brauchen die Menschen in der Region jetzt wirklich? In
Tunesien oder Ägypten braucht man Hunderttausende
Arbeitsplätze für junge Menschen, die gut ausgebildet
sind und Hoffnungen auf den demokratischen Wandel
setzen. Darauf müssen diese Länder ihre Finanzmittel
konzentrieren, statt sie für Rüstungsimporte zu verschwenden.
({3})
Wenn ich das ergänzen darf: Die nordafrikanischen Länder brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, die auf
Demokratisierung nicht mit Frontex antwortet, sondern
die den europäischen Werten der Menschlichkeit und
Solidarität entspricht.
({4})
Wir fordern die Regierung auf, hier zu erklären, dass
der Stopp von Waffenexporten in nordafrikanische Länder, den sie Anfang des Jahres beschlossen hat, jetzt fortgesetzt wird. Ich würde gerne wissen: Wie ist der Stand
in Bezug auf diese Länder?
Zweitens. Unsere Befürchtung ist, dass die anstehende Umstrukturierung der Bundeswehr dazu führen
wird, dass ausgemusterte Waffen und Rüstungsgüter
weltweit exportiert und dadurch die nächsten Konflikte
angeheizt werden. Gerade bei dem Export solcher Güter,
die bereits vom deutschen Steuerzahler bezahlt worden
sind, ist eine parlamentarische Mitentscheidung wichtig.
Drittens. Besonders schädlich finde ich das Verhalten
der Bundesregierung beim Export von Kampfflugzeugen
nach Indien. Nach den damaligen Ministern Brüderle
und zu Guttenberg haben Minister Westerwelle und nun
noch die Bundeskanzlerin in Indien antichambriert. Hier
wird leichtfertig mit den restriktiv formulierten deutschen Rüstungsexportrichtlinien umgegangen;
({5})
denn diese Richtlinien besagen, dass Lieferungen in
Spannungsgebiete nicht genehmigungsfähig sind. An die
Adresse Indiens gerichtet sage ich: Statt 126 Kampfflugzeuge im Milliardenwert zu kaufen, sollte die indische
Politik auf die Bekämpfung der Armut im Land setzen.
({6})
Etwa ein Drittel der 1,2 Milliarden Menschen in Indien
lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Viertens. Die Bundesregierung versucht, die restriktiven Regelungen der Rüstungsexportrichtlinien auszuhöhlen, indem sie auf strategische Partnerschaften verweist. Unter diesem Deckmantel wird dann auch in
Länder geliefert, die vom Waffenexport eigentlich ausgeschlossen sind.
Fünftens. Wichtig für die Transparenz gegenüber dem
Deutschen Bundestag ist auch, dass die Bundesregierung
durch die Vorlage des Rüstungsexportberichtes verstärkt
ihrer Informationspflicht nachkommt. Das hätten wir - das
sage ich selbstkritisch und gestehe es freimütig zu - bereits früher veranlassen können. Schön und richtig wäre,
wenn er in drei- oder sechsmonatigen Abständen erfolgt.
Ich fordere alle Fraktionen des Deutschen Bundestags
auf, sich über eine neue Struktur dieses Rüstungsexportberichts Gedanken zu machen; denn - vielleicht hat es
noch nicht jeder festgestellt - die Verteidigungsgüterrichtlinie, die in diesem Jahr in Kraft tritt, wird zukünftig
bewirken, dass Waffenlieferungen innerhalb europäischer Länder nicht mehr in der Statistik des Rüstungsexportberichtes auftauchen. Wir weisen frühzeitig auf
diesen Sachverhalt hin und fordern, das in dem Bericht
auch deutlich zu machen. Sonst wird uns die Bundesregierung noch erzählen, in ihrer Regierungszeit seien
die Waffen- und Rüstungsexporte zurückgegangen.
({7})
- Ja, genau.
Sechster und letzter Punkt. Viele europäische Staaten
- Frankreich, Österreich, Großbritannien, Italien, Niederlande - haben neben Deutschland Waffen und Rüstungsgüter nach Nordafrika geliefert. Außerdem gibt es
europäische Rüstungsfirmen. Es ist an der Zeit, dass
endlich die acht gemeinsamen Regeln, die Ausdruck des
gemeinsamen europäischen Standpunkts sind und die
sehr wichtig und richtig sind, in den europäischen Ländern gesetzlich fixiert werden.
Eines ist klar - darauf wird vielleicht auch in der morgigen Debatte Bezug genommen -: Die exzessive Verschuldung europäischer Partnerländer wie Griechenland
und im Übrigen auch Portugal hängt auch damit zusammen, dass sie teure, unnötige Waffenimporte unter anderem aus Deutschland und Frankreich zu bezahlen hatten.
({8})
SIPRI weist darauf hin, dass der Anteil deutscher Waffenexporte nach Griechenland bei 13 Prozent und der Anteil
französischer Waffenexporte bei 12 Prozent liegt.
({9})
Es ist wirklich eine Schizophrenie, sich von Ländern wie
Griechenland und Portugal Waffen abkaufen zu lassen
und ihnen gleichzeitig Geld zu liefern, damit sie finanziell stabilisiert werden können. Dieser Schizophrenie
muss ein Ende gemacht werden. Ich fordere Sie auf:
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Sie
alle kennen diesen wunderbaren Film Und täglich grüßt
das Murmeltier mit Bill Murray. Ein bisschen erinnert
mich die heutige Debatte daran. Wir haben bereits am
18. März, am 24. März und am 12. Mai über dieselben
Anträge geredet. Die Szenarien sind gleich. Ich glaube,
der einzige Unterschied ist, dass heute Staatsministerin
Pieper anstelle des damaligen Staatsministers Hoyer anwesend ist. Ansonsten haben wir komplett die gleiche
Aufstellung. Der große Unterschied ist: Bei Und täglich
grüßt das Murmeltier handelt es sich um eine 120-minütige, witzige, intelligente Unterhaltung. Das, was Sie uns
vorlegen, ist weder witzig noch intelligent. Es sind dieselben langweiligen Schaufensteranträge, die Sie für
Ihre Klientel brauchen.
({0})
Damit betreiben Sie Klientelpflege und wenden sich an
die S-Bahn-Brandstifter, die unter dem Deckmantel, gegen Waffenexporte zu sein, gehandelt haben.
({1})
Seriös ist das natürlich nicht, was Sie vorlegen.
Seriös wäre es, darauf hinzuweisen, dass eine militärische Mittelmacht wie Deutschland selbstverständlich
eine Sicherheits- und Verteidigungsindustrie braucht und
dass Sicherheit durch diese Industrie exportiert wird,
zum Beispiel auch nach Saudi-Arabien.
Dr. Martin Lindner ({2})
({3})
Der Export nach Saudi-Arabien bestand im Wesentlichen in einem Auftrag an EADS zum Küstenschutz.
Dieser Milliardenauftrag ist übrigens unter Frau
Wieczorek-Zeul genehmigt worden, die elf Jahre im
Bundessicherheitsrat saß.
({4})
Frau Kollegin, in diesen elf Jahren sind Sie nicht auf die
Idee gekommen, einen solch wunderbaren Antrag wie
den heutigen zu stellen. Deswegen wiederhole ich meinen Zuruf von vorhin: Ein Vegetarier, der T-Bone-Steaks
verzehrt, ist glaubwürdig im Vergleich zu Ihnen; das
kann ich Ihnen sagen, Frau Wieczorek-Zeul.
({5})
Alles, was Sie sagen, ist Kokolores. Es ist nicht glaubwürdig, wenn man so lange wie Sie in der Verantwortung stand und sich in dieser Zeit nichts getan hat.
({6})
Ich erinnere Sie daran: Im Jahr 2005 - da waren Sie
schon geraume Zeit im Amt - sind die Rüstungsexporte
um 1,2 Milliarden Euro gestiegen. Ich habe nachgeschaut: Lag das vielleicht an einem Großauftrag? Nein,
Exporte im Umfang von 900 Millionen Euro gingen in
die Dritte Welt,
({7})
in die Länder, für die Sie verantwortlich und zuständig
waren. Wenn Sie uns Schizophrenie vorwerfen, muss ich
mich fragen, worum es sich bei dem handelt, was Sie
heute hier vorgetragen haben.
({8})
Meine Damen und Herren, eine Thematisierung der
Anträge der Linken ist nicht lohnenswert; sie sind ein relativ naives und perfides Manöver zur Klientelpflege.
({9})
Aber was Sie als eigentlich ernst zu nehmende Fraktion
beantragen, meine Damen und Herren von der SPD, ist
nicht minder problematisch. Ihre Anträge sind natürlich
nicht so populistisch wie die der Linken. Aber erzählen
Sie uns einmal, wie Sie sich die praktische Exekution
der Anträge vorstellen. Wie sollen die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages 16 000 Anfragen betreffend
Rüstungsexporte seriös bearbeiten? Das können sie
nicht.
({10})
Das ist klassisches exekutives Handeln. Der Deutsche
Bundestag setzt den gesetzgeberischen Rahmen unter
anderem für die Exportwirtschaft; die Verwaltung vollzieht diese Gesetze. Die Bearbeitung einzelner Anträge
und darauf erfolgender Genehmigungen gehören selbstverständlich zum exekutiven Handeln. Wie soll es, bitte
schön, anders gehen? Wie soll denn ein Ausschuss oder
gar ein einzelner Abgeordneter einen Rüstungsexportantrag in seiner ganzen Tiefe bearbeiten?
({11})
- Sie schaffen das? Sie schaffen es doch nicht einmal,
anständige Anträge zu formulieren. Wie können Sie
glauben, dass Sie in der Lage wären, solche Anträge seriös zu bescheiden? Das ist schlichtweg lächerlich.
({12})
Wenn wir über das Thema Rüstungsexporte sprechen,
müssen wir natürlich eine Diskussion darüber führen,
wie die Länder der NATO und der Europäischen Union
ihre Rüstungsanstrengungen bei Hightechprodukten koordinieren können. Darin scheint mir ein Hauptproblem
zu bestehen. Wir bilden zwar mit der NATO eine Verteidigungsgemeinschaft und mit der EU eine Wirtschaftsgemeinschaft; aber wir haben, was die Rüstungsindustrie
angeht, noch immer nationale Verteidigungsstrategien.
Da liegt das Problem: Die Stückkosten sind gigantisch
hoch; damit steigt der Druck, zu exportieren. Es gibt
zwei Möglichkeiten: Entweder wir zahlen die hohen
Stückkosten und belasten damit die nationalen Verteidigungsetats überproportional, oder wir koordinieren zukünftig unsere Rüstungsprojekte auf intelligentere
Weise; dann wäre bei gemeinsamen Unternehmen wie
EADS der Druck geringer, zu Exporten in größerem
Umfang zu kommen. Das wäre ein seriöser Beitrag, den
Export von Hightechprodukten zu verringern.
Wir reden hier nicht über G 36. Sie glauben doch
nicht im Ernst, dass sich die Sicherheitslage der Menschen im Nahen oder Mittleren Osten dadurch geändert
hat, dass dort Waffenfabriken unter deutscher Beteiligung gebaut wurden; anderenfalls hätten China und
Russland dort Fabriken gebaut. Darum geht es nicht; das
ist doch nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist - da besteht ein berechtigtes Interesse -,
dass wir beim Export von Hightechprodukten zu einer
restriktiven Handhabung kommen; denn es tangiert natürlich unsere Sicherheitslage, wenn Produkte - keine
Stangenware - in nennenswertem Umfang unkontrolliert
exportiert werden, die tatsächlich zu einer Gefährdung
unserer Sicherheit führen können. Hier stehen die FDP,
die Koalition und die Bundesregierung für eine weiterhin vernünftige, restriktive Handhabung, natürlich in
dem Bewusstsein, dass Deutschland eine bedeutende
Exportmacht ist und es bleiben will.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst dem Kollegen Fritz. Diese Kurzintervention beVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
zieht sich auf die Rede von Heidemarie Wieczorek-Zeul,
die anschließend eine Kurzintervention angemeldet hat.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, vielleicht können Sie
gleich darauf erwidern und dann Ihre Intervention formulieren.
Verehrte Frau Kollegin, ich bin auf den SPD-Antrag,
der sich qualitativ von den übrigen Anträgen unterscheidet, nicht eingegangen, weil ich nach der Beratung im
Wirtschaftsausschuss den Eindruck gewonnen hatte,
dass es Ihnen nicht um den Inhalt Ihres Antrags geht,
sondern nur um die Darstellung Ihres Antrags im Plenum. Im Rahmen der ersten Lesung habe ich ausdrücklich angeboten, über diese Themen ausführlich zu reden.
Im federführenden Ausschuss war eine Diskussion darüber nicht möglich, weil dieser Antrag ohne Diskussion
wieder an das Plenum überwiesen worden ist. Insofern
hatte ich den Eindruck, dass er Ihnen nicht so wichtig ist,
und habe ihn unter die anderen subsumiert.
Ansonsten haben wir die Zwischenzeit genutzt und
uns die verschiedenen Praktiken noch einmal genau angesehen. Ich glaube nicht, dass Sie das britische Modell
wirklich wollen. Dort liegen Beschaffung für die Armee
und Genehmigung der Exporte nämlich in einer Hand.
Das möchten Sie bestimmt nicht. Das einzige Modell,
über das man reden kann - es gibt sehr gute Gründe dafür, aber auch dagegen -, ist das schwedische Modell.
Sie werden allerdings feststellen, dass die beiden Länder
nicht vergleichbar sind, weder in bündnispolitischer
Hinsicht noch hinsichtlich der industriellen Basis noch
hinsichtlich aller anderen Aspekte, die die Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheitspolitik und die Kooperationsfähigkeit betreffen. Die Schweden haben das
Genehmigungsverfahren in ein unabhängiges Institut
ausgelagert. Weil dieses Institut völlig außerhalb der
Exekutive steht, haben sie logischerweise ein zusätzliches parlamentarisches Kontrollgremium, das innerhalb
eines ganzen Jahres etwa 1 600 Anträge bearbeitet. Insofern ist ein Vergleich schwierig. Man müsste auf der Basis eines solchen Antrages einen längeren Disput darüber
führen, was sinnvoll ist und was nicht und wie man die
Gewalten auch in dieser Frage ordentlich teilt.
Dass es in diesem Haus Kontrolle gibt, zeigen nicht zuletzt die vorliegenden Anfragen. Ich habe noch von keinem Kollegen gehört, dass ihm in irgendeinem Ministerium die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, wenn er
über ein bestimmtes Projekt etwas erfahren wollte.
Von daher sollten wir die Sache adäquat und zielführend behandeln. Wir sollten uns möglichst nicht gegenseitig Versagen und moralische Unfähigkeit vorwerfen.
({0})
Kollegin Wieczorek-Zeul.
Vielen Dank, Herr Kollege Fritz. Ihr Beitrag hat sich
positiv von dem - ich persönlich würde sagen: herabsetzenden - Ton Ihres Kollegen Lindner unterschieden.
({0})
Ich muss sagen: Vielleicht wäre es an der Zeit, dass innerhalb der FDP einmal über die Frage des Umgangs gesprochen wird, insbesondere unter dem Gesichtspunkt,
welche subkutanen Beleidigungen über den Tisch gereicht werden.
Zu dem Punkt, den Sie angesprochen haben, Herr
Fritz. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Vorsitzenden des
Auswärtigen Ausschusses - ich nenne jetzt keinen Namen - gesprochen.
({1})
- Also: Herr Polenz. - Ich habe mit Herrn Polenz und
Herrn Mißfelder - da ist er - zusammengesessen und gesagt: Überlegt, ob wir in der Richtung weiterarbeiten
können. - Es gab keine positive Reaktion. Das ist die
Wahrheit.
Ich nehme aber zur Kenntnis - deshalb sage ich das
jetzt auch -, dass der Rüstungsexportbericht wegen der
nicht mehr auftauchenden innereuropäischen Waffenund Rüstungsexporte sowieso geändert werden muss.
Deshalb sollten sich - erstens - alle zusammensetzen
und überlegen, wie er künftig aussehen soll. Zweitens
- wir haben diesen Vorschlag gemacht - sollten wir den
Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses in diesem
Sinne einsetzen; denn jedes Parlament nutzt seine Möglichkeiten. Das Angebot steht. Wir werden die Anträge
voranbringen. Insofern wird es dazu Gelegenheit geben.
Ich komme zu meinem zweiten Punkt, zu dem, was
Herr Lindner bereits in der ersten Debatte gesagt hat. Ich
weise darauf hin, dass es sich hierbei um einen Ablenkungsversuch handelt. In der Zeit von Rot-Grün ist der
Anteil von Genehmigungen von Rüstungsexporten in die
ärmsten Entwicklungsländer drastisch reduziert worden.
Sie haben eine Zahl aus dem Jahr 2005 genannt. Der Anteil der Lieferungen an die ärmsten Entwicklungsländer
ist hier gering. Im Übrigen weisen der Rüstungsexportbericht der GKKE - also der Kirchen - sowie der deutsche Rüstungsexportbericht darauf hin, dass der Anteil
der armen Entwicklungsländer bei den Rüstungsexporten verschwindend gering ist. Im Jahr 2005 gab es mit
Südafrika einen spezifischen Fall. Dieser Punkt war sehr
umstritten. Er war auch für mich umstritten, ohne dass
ich jetzt ins Detail gehen kann.
Lenken Sie also bitte nicht ab. Beteiligen Sie sich im
Sinne von Herrn Fritz konstruktiv und ohne Ihren hämischen Ton an der Sachdebatte. Das wäre dem Ernst dieses Themas angemessen.
({2})
Kollege Lindner, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Frau Kollegin, mir ist Häme wirklich fern.
({0})
- Mir ist Häme wirklich fern, grundsätzlich. - Wenn
man, einen Tag bevor man Sie hört, den Rüstungsexportbericht in die Hand bekommt und dort liest, dass in dem
von Ihnen genannten Jahr die Rüstungsexporte um
900 Millionen Euro in die Höhe gegangen sind, und
weiß, dass Sie wie kein anderes Mitglied des Hauses
lange in Regierungsverantwortung waren, von 1998 bis
zum Jahr 2009, und ununterbrochen dem Bundessicherheitsrat angehört haben, Sie aber genau in dem Moment
aufwachen, in dem Sie die exekutive Verantwortung verlassen und damit die Chance verloren haben, auf eigenen
Mehrheiten beruhende Vorschläge zum vernünftigen
Umgang mit dem Thema Rüstungsexport einzubringen,
und glauben, uns im Monatsrhythmus Vorschläge unterbreiten zu können, wie nunmehr die Legislative einzelne
Rüstungsentscheidungen zu handhaben hat, dann erlauben Sie uns bitte, dass wir das nicht so vollständig ernst
nehmen können, wie es der Sache vielleicht - wie Sie es
zu recht angemerkt haben - angemessen wäre.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Lindner, Inhaftierung von
Dissidenten, unter Folter erzwungene Geständnisse, öffentliche Hinrichtungen, Sie würden wahrscheinlich an
dieser Stelle sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier.
Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung
führt die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien
akribisch auf. Dennoch genehmigt dieselbe Regierung
nicht nur Rüstungs-, sondern auch Kriegswaffenexporte
in dieses Land und entsendet zudem noch deutsche Polizisten zur Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte. Dabei
sind nach der Rüstungsexportrichtlinie und dem Verhaltenskodex der EU die menschenrechtliche Lage und friedenspolitische Kriterien zwingend zu berücksichtigen.
Wir müssen feststellen, dass in der Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung Anspruch und Wirklichkeit weit
auseinanderklaffen.
Die Linke hat in 16 Anträgen die kritische Menschenrechtslage in arabischen Ländern dargelegt und fordert
für jedes einzelne ein umfassendes Embargo für Rüstungsgüter. Wo bereits ein Embargo besteht, fordert sie
eine Art Ewigkeitsgarantie, unabhängig von der zukünftigen Entwicklung des Landes. Wenn man diese Forderung logisch übersetzt, heißt das eigentlich, sämtliche
Rüstungsexporte für alle Zeit zu verbieten.
({0})
So steht es auch in Ihrem anderen Antrag, der heute zur
Abstimmung steht und den wir ablehnen werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lindner?
Ja.
Frau Kollegin Keul, bei Saudi-Arabien muss man differenzieren. Es geht im Wesentlichen - ich sagte das vorhin schon - um einen Küstenschutzauftrag für SaudiArabien durch EADS. Das ist öffentlich bekannt.
({0})
Das sind im Wesentlichen Radargeräte, Küstenschutzgeräte und Elektronik. Das hat doch mit Menschenrechtsverletzungen wirklich nichts zu tun. Wir helfen dort,
eine Radarüberwachung zum Schutz gegen Piraterie aufzubauen.
({1})
Sie können den Küstenschutz doch nicht zur Bekämpfung von missliebigen Bürgern einsetzen; das gilt auch
für U-Boote und anderes. Bei der Betrachtung dessen,
was exportiert wird, muss man differenzieren.
Das andere sind Konzessionen, die gehandelt werden.
Im eigenen Land werden Fabriken aufgebaut. Auch das
hat mit Exporten von Deutschland in diese Länder nichts
zu tun.
({2})
Ich glaube, es lohnt sich für eine seriöse Partei, der
Sie angehören, die Dinge, über die wir reden, anders als
die Populisten auf der linken Seite des Hauses sauber
auseinanderzuhalten.
Herr Lindner, ich habe gedacht, Sie seien zynisch,
aber es ist noch viel schlimmer. Sie haben sich gar nicht
mit dem befasst, was in Saudi-Arabien passiert.
({0})
Bei dem Auftrag der Firma Cassidian geht es nicht um
Küstenschutz, sondern um die Sicherung der Tausende
Kilometer langen Grenze quer durch die Wüste. Diese
wird überwacht. Es geht auch um innere Repressionen.
Man darf sich dieser Grenze vonseiten Saudi-Arabiens
gar nicht nähern; wenn man es tut, setzt man sich den
Repressalien des Regimes aus. Beschäftigen Sie sich
also erst einmal damit. Polizisten werden dazu ausgebildet, nach innen repressiv zu unterdrücken. Es geht hier
nicht um Boote oder Fregatten für den Küstenschutz.
Das ist etwas völlig anderes.
({1})
Das Anliegen, das wir teilen, ist: weniger Handel mit
todbringenden Waffen. Da sind wir uns einig. Auch
meine Fraktion setzt sich für eine restriktivere Rüstungsexportpolitik ein. Aber ob es nun zielführend ist, für alle
genannten Staaten ein umfassendes Embargo zu fordern,
bezweifele ich sehr. Denn diese Forderung dürfte in ihrer
Radikalität nicht nur auf politische, sondern auch auf
verfassungsrechtliche Hürden stoßen, besonders wenn es
um Rüstungsgüter geht, die keine Kriegswaffen sind.
Sie von der Linken machen es sich einmal wieder
sehr einfach. Wer ohnehin keine Regierungsverantwortung übernehmen will, kann erst einmal das Blaue vom
Himmel fordern.
({2})
Es gibt aber durchaus einige diskussionswürdige Punkte,
auf die wir an dieser Stelle hinweisen müssen. Nach unserem geltenden Recht sind Exporte von Kriegswaffen
in Drittländer außerhalb von NATO und EU generell untersagt und dürfen nur ausnahmsweise genehmigt werden, wenn deutsche Sicherheitsinteressen es erfordern.
Diese Einschränkung des freien Handels hat bei uns sogar Verfassungsrang.
({3})
Warum aber beispielsweise Waffenfabriken und Polizeitraining in Saudi-Arabien in einem besonderen deutschen Sicherheitsinteresse liegen sollen, hat die Bundesregierung bislang nicht begründen wollen und wohl auch
nicht begründen können. Auf Nachfrage werden wir Parlamentarier immer wieder auf die allgemeinen Rechtsgrundlagen und auf das Prinzip der Einzelfallentscheidung verwiesen.
({4})
Ich bin allerdings durchaus der Meinung, dass einige
der hier genannten Länder sich für den Export von
Kriegswaffen deutlich disqualifiziert haben. Das ist doch
ein Punkt, über den wir als Parlamentarier einmal reden
sollten. Wollen wir nicht eine Rechtsgrundlage für den
Erlass von einer Liste von Ländern, an die aufgrund der
Menschenrechtslage und der Repressionen im Inneren
keine Kriegswaffen geliefert werden dürfen, schaffen?
Für eine solche Rechtsverordnung ließe sich im Außenwirtschaftsgesetz leicht eine Grundlage schaffen. So,
wie es in der Außenwirtschaftsverordnung Listen von
Waffengattungen gibt, gäbe es dann auch eine Liste von
Ländern, bei denen das Ermessen der Genehmigungsbehörde auf Null sinkt. Über die Rechtsverordnung verbliebe die Entscheidung in der Sache selbst bei der
Exekutive. Ein großer Vorteil wäre die Transparenz. Die
Liste der Länder wäre Gegenstand öffentlicher Debatte
und parlamentarischer Kontrolle. Wegen der Sensibilität
und friedenspolitischen Bedeutung des Themas sind
mehr Öffentlichkeit und weniger Geheimniskrämerei
ohnehin dringend erforderlich.
({5})
Vor diesem Hintergrund werden wir dem entsprechenden Antrag der SPD zustimmen. Im Zusammenhang mit der Verbesserung des Außenwirtschaftsgesetzes würde ich auch vorschlagen, den Wortlaut der
Rüstungsexportrichtlinien gleich ins Außenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um dem Menschenrechtskriterium
klaren Gesetzesrang zu verschaffen.
({6})
Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag
„Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen“ eingehen. Er enthält viele richtige Forderungen, insbesondere was die atomwaffenfreie Zone und die Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Standards
betrifft. Die Einstellung jeglicher Zusammenarbeit mit
Israel ist jedoch für uns keine tragbare Forderung, sodass
Sie hier ohne unsere Zustimmung auskommen müssen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Wolfgang Götzer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In ihren Anträgen fordert die Linke die Bundesregierung
auf, den Export sämtlicher Rüstungsgüter in alle Länder
des Nahen und Mittleren Ostens einzustellen bzw. keine
weiteren Exporte zu genehmigen.
({0})
Außerdem soll die Ausbildungskooperation zwischen
der Bundeswehr und der israelischen Armee beendet
werden.
({1})
Dies soll wohl zu einer Verminderung der politischen
Spannungen im Nahen Osten beitragen.
({2})
Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist das Ziel aller
Fraktionen im Deutschen Bundestag,
({3})
eine nachhaltige politische Entspannung im Nahen und
Mittleren Osten und in Nordafrika herbeizuführen.
({4})
Die uns heute vorliegenden Anträge der Linken sind
hierzu ganz sicher nicht geeignet.
({5})
Es handelt sich hierbei - das möchte ich unterstreichen um scheinheilige Schaufensteranträge.
({6})
Ein Wort zu Ihnen, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul.
Sie haben zwar sachlich geredet, aber natürlich Kritik an
der Praxis dieser Bundesregierung in den letzten Jahren
geübt.
({7})
Auch Sie müssen sich einige Zahlen vorhalten lassen;
zum Teil sind sie schon genannt worden.
({8})
- Die Zahlen sind nicht falsch.
({9})
Unter Rot-Grün wurden die meisten Rüstungsexporte
genehmigt. Es geht um den Zeitpunkt der Genehmigung,
nicht um den Zeitpunkt der Lieferung; das ist ein großer
Unterschied.
({10})
Bei Paul Holtom vom SIPRI-Institut stößt die Kritik
beispielsweise der Grünen-Chefin Claudia Roth am Anstieg der deutschen Rüstungsexporte auf Unverständnis.
Jetzt kommt ein wörtliches Zitat:
Die meisten Verträge, die diese Verdoppelung bewirkt haben, wurden ja während der rot-grünen Regierungszeit abgeschlossen.
Das sagt der Vertreter des SIPRI-Instituts.
({11})
Es gibt eine weitere interessante Zahl, Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul. Im Jahr 1998 - damals noch unter der
Regierung Kohl - wurden nach offiziellen Angaben Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter im Umfang von
1,338 Milliarden DM erteilt, im Jahr 2000 - unter RotGrün - waren es 5,9 Milliarden DM, sprich: etwa
3 Milliarden Euro. Diese Zahlen müssen Sie sich vorhalten lassen.
({12})
Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches zum
deutschen Rüstungsexport sagen. Alle Anträge auf Ausfuhrgenehmigungen werden im jeweiligen Einzelfall
nach sorgfältiger Abwägung vor allem der außen-, der
sicherheits- und der menschenrechtspolitischen Argumente entschieden. Wichtige Kriterien jeder Entscheidung sind dabei auch die Konfliktprävention und natürlich die Beachtung der Menschenrechte im Empfangsland. Ebendiesem Verfahren unterliegen auch Entscheidungen über Rüstungsexporte in die Regionen, die Gegenstand der Anträge der Linkspartei sind.
({13})
Die Tatsache, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie im Februar dieses Jahres in Anbetracht der aktuellen Ereignisse in Ägypten das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle angewiesen
hat, ihm sämtliche Anträge auf Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen von Rüstungsgütern nach Ägypten
vorzulegen, und dass die Bearbeitung dieser Anträge
ausgesetzt wurde, zeigt, dass das derzeitige System
funktioniert.
({14})
Ich darf noch einmal Paul Holtom vom SIPRI-Institut
zitieren, der dazu sagt - das ist ein wörtliches Zitat -:
Es ist nun mal so, dass die Deutschen bei Ausfuhren in Spannungsgebiete deutlich restriktiver sind
als ihre Konkurrenten.
Hört! Hört!
({15})
Da Israel in mehreren Ihrer Anträge erwähnt wird,
möchte ich aus gegebenem Anlass darauf hinweisen,
dass Deutschland aufgrund seiner Historie eine besondere Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit
des Staates Israel hat. Deutschland hat sich bislang immer offen zu dieser Verantwortung bekannt und wird
dies auch zukünftig tun. Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung umfasst auch eine enge Zusammenarbeit
Deutschlands mit Israel im Verteidigungsbereich. Die
Anträge der Linken berücksichtigen in keiner Weise die
besondere deutsche Beziehung zu Israel. Diesen Aspekt
zu unterschlagen, ist unverantwortlich. Freilich ist das
einmal mehr bezeichnend für das Verhältnis der Linken
zu Israel.
({16})
Über dieses Thema haben wir vor nicht allzu langer
Zeit im Rahmen einer Aktuellen Stunde diskutiert. Wer
heute die Tageszeitung Die Welt liest, erfährt, dass Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
sich offensichtlich schon selber mit der Abgrenzung zum
Antisemitismus in Ihren eigenen Reihen beschäftigen
mussten.
({17})
Offensichtlich haben Sie dies nötig. Die Forderungen
bezogen auf Israel gehen im Übrigen gänzlich an den
politischen und militärischen Realitäten im Nahen Osten
vorbei. Deutschland muss und wird an seiner Verantwortung für die Sicherheit Israels festhalten und in diesem
Zusammenhang auch die verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit Israel fortsetzen.
Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel ist zudem darauf hinzuweisen, dass auch Deutschland von
dieser Kooperation profitiert. Die in Israel hergestellten
Drohnen, die die Bundeswehr nutzt, tragen wesentlich
zur Verbesserung des Lagebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zur Erhöhung der Sicherheit unserer
Soldaten im Einsatzgebiet bei. Hierauf können und dürfen wir nicht verzichten.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Deutschland eine äußerst verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungspolitik betreibt.
({18})
Dies gilt ganz besonders für die Regionen, die in den
Anträgen der Linkspartei genannt sind.
Ich bedanke mich.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen
Ostens einstellen - Militärische Zusammenarbeit beenden - Atomwaffenfreie Zone befördern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4508, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2481 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des
übrigen Hauses angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5823.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5054 mit dem Titel
„Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5039 mit dem Titel „Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5204 mit dem Titel „Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 15 auf:
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Elisabeth
Winkelmeier-Becker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Marlene Rupprecht, Petra
Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Christian
Ahrendt, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Opfern von Unrecht und Misshandlungen in
der Heimerziehung wirksam helfen
- Drucksache 17/6143 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unterstützung für Opfer der Heimerziehung Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen
- Drucksache 17/6093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
darf zu dieser heutigen Debatte auch einige ehemalige
Heimkinder sehr herzlich begrüßen, weil ich von einigen
aus Briefen weiß, dass sie heute extra nach Berlin gereist
sind, um diese Debatte hier vor Ort zu verfolgen, und
viele haben mir geschrieben, dass sie sich unsere Debatte heute live zu Hause vor dem Fernseher ansehen
wollen.
Wenn wir heute über diesen Antrag sprechen - ich bin
sehr froh, dass dieser Antrag in einem fraktionsübergreifenden Konsens geschrieben wurde -, dann wissen wir
bei der Verarbeitung der zum Teil erschütternden Geschehnisse in den Erziehungsheimen der alten Bundesrepublik und der DDR um die große Aufmerksamkeit der
Betroffenen.
Ich weiß nicht, warum von der linken Seite höhnisches Gelächter kommt; denn es ist ein sehr ernstes
Thema.
({0})
Ich kann mich nicht erinnern, im Bundestag in den
letzten Jahren zu einem solch schwierigen Thema am
Rednerpult gestanden zu haben. Für diejenigen, die das
Ganze persönlich miterleben mussten, ist das Erlebte
keine Geschichte, sondern es ist eine nachwirkende Realität. Das Leid - wenn man nicht selbst davon betroffen
war - kann man sich nicht einmal im Ansatz vorstellen.
Selbst wenn man es täte, könnte man sicher nicht nachempfinden, was den Opfern in ihrer Kindheit passiert ist.
Als ungefähr vor acht Jahren die ersten Berichte über
das Unrecht und das Leid in Heimen der jungen Bundesrepublik erschienen sind und drei Jahre später die ersten
Petitionen beim Deutschen Bundestag eingegangen sind,
habe ich - wie sicherlich viele von uns - gehofft, dass es
sich einfach nur um schreckliche Einzelfälle handelt.
Aber wir haben längst erfahren, dass es in Wahrheit keineswegs so war: Es waren keine Einzelfälle, sondern es
war für sehr viele Menschen bittere Realität.
Die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen
war in der Praxis sehr unterschiedlich. Es gab sicherlich
Heime mit einer sehr fürsorglichen Unterbringung, aber
es gab auch Heime, in denen Kindern und Jugendlichen
systematisch Leid und Unrecht zugefügt wurden. Wir
mussten erfahren, dass das Ganze in katholischen Heimen, in evangelischen Heimen und auch in staatlichen
Einrichtungen geschehen ist und dass tagtäglich, stündlich, minütlich gegen bestehendes Recht und elementare
Grundsätze unserer Verfassung verstoßen wurde.
Wenn man mit ehemaligen Heimkindern spricht, dann
erfährt man von körperlicher Gewalt, aber auch von starker psychischer Gewalt, von Schlägen, Beschimpfungen
und Beleidigungen, von dem immerwährenden Druck
und der immerwährenden Furcht, die den betroffenen
Kindern in einer der wichtigsten Entwicklungsphasen
tagtäglich zuteil wurde. Es gab Essensentzug, Schlafentzug, Arrest und Isolation. Es gab - schon allein das Wort
ist unglaublicher Hohn - sogenannte Besinnungszimmer. Betroffene berichten, dass sie sich jeden Tag alleine, verloren, ängstlich, hilflos und traurig gefühlt haben. Das Allerschlimmste in einer solchen Situation ist,
wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat, sich jemandem anzuvertrauen.
Die älteren Heimkinder wurden im Heim und für das
Heim zur Arbeit geschickt, aber auch für externe Betriebe verpflichtet. Selbstverständlich gab es für ihre Arbeit keinen Beitrag für die Rentenkasse. Kein einziges
Heimkind sah für sich die Möglichkeit, jemanden um
Hilfe zu bitten oder sich über die Institution beschweren
zu können. In der Bundesrepublik schied es faktisch aus,
in der DDR gab es noch nicht einmal die theoretische
Möglichkeit, Hilfe zu suchen.
Die Folgen dieser Heimerziehung reichen bis in die
Gegenwart. Viele ehemalige Heimkinder leiden noch
immer unter Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Das sind Erlebnisse, die immer wieder hochkommen und die man ein ganzes Leben lang
nicht mehr los wird.
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages
hat sich zwei Jahre lang intensiv mit der Thematik beschäftigt und festgestellt, dass mögliche Schadensersatzoder Entschädigungstatbestände in vielen Fällen mittlerweile verjährt sind. Deshalb wurde ein Runder Tisch eingerichtet. Knapp zwei Jahre hat der Runde Tisch beraten. Als Rehabilitierung wurde ein ganzes Maßnahmenbündel vorgeschlagen. Es ist uns wichtig, dieses Maßnahmenbündel fraktionsübergreifend nicht einfach nur
zur Kenntnis zu nehmen, sondern es konkret umsetzen
zu können. Dazu gehören materielle Hilfen, das ist wichtig, aber selbstverständlich auch immaterielle Hilfen, zu
denen meine Kolleginnen und Kollegen noch näher Stellung nehmen werden.
Auch die Kinder und Jugendlichen in den Heimen der
DDR haben Leid und Unrecht erlitten. Deswegen haben
wir gesagt, wir halten es für notwendig, auch für die ehemaligen Heimkinder in der DDR Hilfsangebote vorzusehen und diese an den Empfehlungen des Runden Tisches
Heimerziehung zu orientieren.
({1})
Wir sind einen wichtigen Schritt weitergekommen,
um für die ehemaligen Heimkinder wenigstens im Ansatz zu versuchen, Wiedergutmachung herzustellen.
Selbstverständlich wird Leid - egal welche Summe bezahlt wird - nicht ausreichend bzw. angemessen ausgeglichen werden können. Aber es war wichtig, diese Arbeit zu leisten, auch die Arbeit des Runden Tisches, der
stattgefunden hat. Ich möchte mich noch einmal im Namen aller bei denjenigen bedanken, die sich diese Jahre
Zeit genommen haben, an diesem Runden Tisch mitzuwirken, die es versucht und vielleicht auch geschafft haben, all das etwas menschlicher erscheinen zu lassen.
Wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass
unser aufrichtiges Bedauern, unser aufrichtiges Mitgefühl im Hinblick auf dieses düstere Kapitel unserer Geschichte nicht nur in Worten zum Ausdruck kommt. Als
Deutscher Bundestag wollen wir auch darangehen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und eine finanzielle Rehabilitierung der Opfer zu ermöglichen.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Rupprecht hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
2003 wurde in Deutschland der Film mit dem deutschen
Titel Die unbarmherzigen Schwestern gezeigt. Er handelte von der Heimerziehung in Irland. Viele von uns
werden ihn nicht gesehen haben, aber einige ehemalige
Heimkinder haben ihn gesehen. Das löste bei ihnen Folgendes aus: All das, was sie glaubten ganz tief in sich
vergraben zu haben - sie meinten, so mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen zu haben -, brach wie bei einem
Vulkan aus ihnen heraus. Alle Verletzungen, alle Hilflosigkeit waren auf einmal wieder da.
Diese betroffenen Menschen haben sich an Journalisten und auch an das Parlament gewandt, und zwar an
eine Kollegin, die heute gar nicht mehr im Bundestag ist,
und haben gesagt: Wir wollen darüber reden. - Denn
Menschen, die Traumatisierungen, die schreckliche
Dinge erleben, ob Misshandlung oder Missbrauch oder
seelische Zerstörung, müssen ja weiterleben. Was tun
sie? Sie müssen all das ganz tief vergraben, damit sie
überleben können. Wenn aber das, was tief vergraben ist,
wieder hervorkommt, brauchen sie Hilfe. Dieser Schrei
nach Hilfe ging an die Öffentlichkeit.
Meine Kollegin sprach mich damals an und sagte: Du
bist doch für Heimerziehung in der Bundesrepublik zuständig. Ich antwortete: Ja, ich bin Kinderbeauftragte
und bin auch für Jugendhilfe zuständig. Ich wusste damals nicht, dass es um erwachsene Menschen in meinem
Alter ging.
Ich habe mich damit auseinandergesetzt. Im Spiegel
erschien immer wieder einmal ein Artikel des Journalisten Peter Wensierski über Heimerziehung und über
Filme zu diesem Thema. Die erste Reaktion war eher
eine Ablehnung dessen, was man gelesen hat, weil man
einfach nicht wahrhaben wollte, dass so etwas nach dem
Krieg in der Bundesrepublik passiert ist: Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung von Menschen, von Persönlichkeiten.
Ich bin heute Mittag ins Internet gegangen, weil ich
mir noch einmal vergegenwärtigen wollte, warum ich
damals gekämpft habe. Ich habe mir das Buch des genannten Spiegel-Journalisten, Schläge im Namen des
Herrn, noch einmal angesehen. Ich habe mir noch einmal eines der Schicksale von Menschen, die ich zum
Teil kenne, vor Augen geführt. Immer wieder bin ich davon betroffen. Ich habe dann noch einmal die Berichte
der Menschen anlässlich des Treffens in Torgau aufgerufen und über Strafen und Belobigungen nachgelesen. Ich
habe gedacht: Egal worauf die Kinder und Jugendlichen
getrimmt werden sollten, sie sind in beiden Systemen
misshandelt worden. In beiden Systemen sind sie kaputtgemacht worden.
({0})
Ich habe damals mit dem Spiegel-Journalisten und
auch mit Betroffenen Kontakt aufgenommen. Ein erster
Verein wurde gegründet. Ich war zusammen mit
Gabriele Lösekrug-Möller, Josef Winkler und Herrn
Schiewerling Mitglied im Petitionsausschuss. Daher hatten wir Erfahrung mit Petitionsarbeit. Ich habe gesagt:
Da wir nicht auf Grundlage eines Gesetzes helfen können - alles ist verjährt -, ist das Einzige, was wir tun
können, das in Anspruch zu nehmen, was unser Grundgesetz in einem solchen Fall für Bürger bereithält, nämlich das Recht der Beschwerde und der Eingabe über den
Petitionsausschuss. So kamen die ersten beiden Petitionen, die Herr Wensierski vom Spiegel und Herr
Schiltsky vom Verein ehemaliger Heimkinder geschrieben haben, in den Petitionsausschuss.
Ich kann mich noch gut an die Sitzung erinnern, zu
der wir die ersten Betroffenen eingeladen haben. Noch
nie habe ich Kollegen so erschüttert und mit Tränen in
den Augen erlebt wie damals, als sie hörten, was mit
Kindern gemacht wurde - die heute noch nicht wissen,
warum das mit ihnen gemacht wurde. Für manche war es
das erste Mal, dass sie darüber gesprochen haben.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Ein junges
Mädchen ist schwanger und bekommt ein Kind. Sie ist
nicht volljährig; damals lag das Volljährigkeitsalter noch
bei 21 Jahren. Nach der Entbindung nimmt man ihr das
Kind weg. Dieses Kind weiß nicht, warum es weggenommen wird. Es kommt in ein Säuglingsheim. Von da
gerät es in die Erziehungsmaschinerie und erfährt nie,
warum es eigentlich dort ist. Schon im Säuglingsheim
erlebt es aber nur eines: Es ist niemand da, der ihm Hilfe
gibt und es unterstützt. Es hat keine Tante, keinen Onkel,
keine Oma oder Opa, zu der oder dem es flüchten kann,
sondern ist gnadenlos ausgeliefert. - Das muss man sich
einmal vor Augen führen.
Deshalb hat sich der Petitionsausschuss sehr ernsthaft
und intensiv zwei Jahre lang damit beschäftigt. Nach
diesen zwei Jahren wussten wir zwar vieles mehr. Wir
wussten aber nicht, wie wir es regeln können. Der Petitionsausschuss hat nicht so viele Instrumente zur Verfügung. Wir haben dann ein neues Instrument erdacht,
Marlene Rupprecht ({1})
nämlich einen Runden Tisch, mit allen, die beteiligt waren und sind, und Nachfolgenden.
Man kann wirklich viel über diesen Bundestag und
über Politiker schimpfen. Wir haben es aber dort und
auch weiterhin geschafft - darüber freue ich mich, so
schlimm der Anlass ist, aus dem heraus wir heute debattieren müssen -, gemeinsam etwas auf den Weg zu bringen, indem wir sagen: Wir stellen uns der Verantwortung. Wir übernehmen diese Verantwortung. Wir werden
das Leid nicht ungeschehen machen. Wir wollen, dass
Menschen Zugang zu dem haben, was ihnen passiert ist,
und dass sie darüber reden können. Wir wollen, dass Akten nicht mehr vernichtet werden, sondern dass das
Ganze auch für die Nachwelt dokumentiert wird. Viele
Betroffene leben heute in Not und Armut. Sie sollen jetzt
Unterstützung bekommen, angesetzt am heutigen Leid.
Es ist gut, Menschen dafür zu gewinnen und sie zu
überzeugen. Wir hatten nämlich keine Rechtsgrundlage,
sondern mussten mit gutem Willen alle an den Runden
Tisch bitten. An diesem Runden Tisch mussten wir erst
manche Hürden überwinden, die von außen kamen, um
dann gemeinsam sagen zu können: Wir wollen diesen
Menschen konkrete Hilfe geben, über Beratungsstellen,
also über das Angebot von Beratung, und finanziell.
Wir hatten von Anfang an die Kinder aus den Heimen
im Osten nicht mit einbezogen, und zwar deshalb, weil
der Petitionsausschuss kein Selbstbefassungsrecht hat.
Wir durften sie nicht mit aufnehmen. Wir haben aber immer mit an sie gedacht. Mit Blick auf sie haben wir immer überlegt, was wir für sie tun können. Wir können
nicht zweierlei Recht schaffen. Wir können weder nur
für Heimkinder im Westen noch nur für Heimkinder im
Osten oder nur für Kinder in der Psychiatrie oder nur für
Kinder in Behinderteneinrichtungen Recht schaffen. Wir
brauchen ein Recht für alle Menschen, die in Deutschland als Kinder und Jugendliche Menschenrechtsverletzungen erlitten haben.
Deshalb bringen wir heute gemeinsam einen Antrag
ein. Ich danke Ihnen allen für Ihre Bereitschaft dazu und
für die konstruktive Zusammenarbeit.
Es wird noch manches zur Überwindung notwendig
sein. Die Jugend- und Familienministerkonferenz - und
damit der Bundesrat - hat bereits für sich entschieden,
für die Westeinrichtungen die Dinge auf den Weg zu
bringen. Für die Heimkinder im Osten wurde jetzt aus
Sachsen ein Antrag eingebracht.
Ich hoffe, dass wir das Ganze schnell auf den Weg
bringen können und eine gemeinsame Lösung hinbekommen. Es darf nicht passieren, dass sie im Parteigeharke untergeht. Das wäre fatal, weil wir den betroffenen
Menschen damit nicht helfen. Zwar können wir ihnen
die Last nicht abnehmen; aber wir können ihnen zumindest sagen: Wir unterstützen euch, damit ihr aus dem
Elend herauskommt, in das ihr, was wir als Gesellschaft
zugelassen haben, hineingestoßen wurdet. Die Betroffenen sollen wieder aufrecht gehen können, das erste Mal
durchatmen und ihren Familien und Kindern darüber berichten können.
Ich hoffe, dass wir das ganz zügig schaffen, sodass
wir bereits am 1. Januar 2012 die große Stelle in Angriff
nehmen können und die ersten Auszahlungen vornehmen können.
Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die all die Jahre ganz nah an den betroffenen Menschen gearbeitet haben, statt über Pressemitteilungen
und Ähnliches Öffentlichkeit zu suchen. Das ist ein
Lichtblick für den Bundestag.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Laurischk das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
Antrag „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der
Heimerziehung wirksam helfen“ richten wir den Blick
auf die deutsche Geschichte. Im Frühjahr 2006 kamen
die ersten Petitionen im Petitionsausschuss an, die sich
mit dem Thema Heimerziehung in den 50er- und 60erJahren in der damaligen Bundesrepublik befassten.
Ziel der Petenten war, das erzieherische Unrecht, welches ihnen als Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung zugefügt wurde, öffentlich zu machen und
eine finanzielle Wiedergutmachung zu erlangen. Ich
möchte mich an dieser Stelle gerade auch bei diesen Petenten für ihren Mut bedanken, dieses Thema zum
Thema zu machen und nicht still zu leiden, sondern es
dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich in den
Bundestag.
({0})
2008 kam der Petitionsausschuss zu dem Ergebnis
- der Kollege Jens Ackermann, der damals Mitglied dieses Ausschusses war, hat mich gerade darauf hingewiesen -, dass das Thema nicht mit einer Beschlussfassung
abschließend behandelt werden kann, sondern dass die
verjährten Ansprüche eine weitere Behandlung erfordern.
Es kam seinerzeit durch einen gemeinsamen Beschluss des Bundestages zur Gründung eines Runden Tisches, der sich ausführlich mit der Heimerziehung befasst hat. Das hat zwei Jahre gedauert. Anfang dieses
Jahres wurde uns als Ergebnis der Bericht des Runden
Tisches überreicht. Wir haben uns als Mitglieder des Familienausschusses und des Rechtsausschusses mit dem
Bericht befasst, der für uns auch Leitfaden für die weitere Beratung und Beschlussfassung war.
Es war für uns eine wichtige Erfahrung, fraktionsübergreifend zu arbeiten. In den Beratungen waren immer alle Fraktionen vertreten, und wir haben uns sehr
sachlich und im Bewusstsein der Problematik ausgetauscht.
Wir haben insbesondere erkannt, dass das erlittene
Unrecht Anerkennung finden muss. Wir stellen uns diesem Unrecht und der Problematik der Menschen, die es
erlitten haben, und wir bedauern es ausdrücklich.
Wir sind auch der Meinung, dass eine finanzielle Entschädigung notwendig ist. Wir haben Vorschläge gemacht, wie eine solche Entschädigung auszusehen hat.
Die verschiedenen Träger sind daran zu beteiligen.
Wir sind im Übrigen über das Ergebnis des Runden
Tisches hinausgehend zu dem Ergebnis gekommen, dass
das Schicksal der Heimkinder im Osten aufgegriffen
werden muss. Auch das Leid von Kindern und Jugendlichen in Heimen in der DDR ist ernst zu nehmen. Es darf
keinesfalls bagatellisiert oder vergessen werden.
({1})
Dazu bedarf es aber einer weiteren Aufarbeitung und
Aufklärung der Vorgänge in der DDR. Das wird eine
Aufgabe sein, der wir uns im Weiteren zu stellen haben.
Die Heimkinder in den 50er- und 60er-Jahren, bis in
die 70er-Jahre hinein, wurden in Deutschland drangsaliert, gedemütigt, oftmals verprügelt und vernachlässigt.
Die Opfer haben schweres Leid und Unrecht erlebt. Sie
waren körperlicher, seelischer und auch sexueller Gewalt hilflos ausgesetzt. Dabei waren die Kinder und auch
die betroffenen Familien dem unmenschlichen System
zum Teil schutzlos ausgeliefert.
Es gab weder eine Aufsichts- noch eine Eingriffsebene. Verantwortlich für das erlebte Leid waren sowohl
staatliche Organe als auch Träger der Einrichtungen,
Heimleitungen und -personal, auch Eltern, Vormünder
und Pfleger.
Wir sind auch zu dem Ergebnis gekommen, dass es
nicht nur Halbwüchsige und Jugendliche waren, die betroffen waren, sondern teilweise auch - das wurde schon
angeschnitten - ganz kleine Kinder und Säuglinge. Ich
erinnere mich gut an die Aussage einer betroffenen Frau,
die nur relativ kurz in einem solchen Säuglingsheim war,
aber zu mir sagte: Ich bin damals in diesem Heim seelisch gestorben.
Viele ehemalige Heimkinder haben noch heute mit
den Folgen der physischen und psychischen Misshandlungen zu kämpfen. Die Betroffenen leiden unter der lebenslangen Traumatisierung mit erheblichen Konsequenzen für sich selbst und auch für ihre Umgebung.
Alle Beteiligten der Arbeitsgruppe im Bundestag waren
sich deshalb einig, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht durch die Übergabe des Abschlussberichts erledigt sein kann und die Arbeit des Runden Tisches nicht folgenlos bleiben darf. Die FDP-Fraktion
hält es insbesondere für wichtig, im Anschluss an die Einigung des Runden Tisches auch eine Einigung im Bundestag zu erzielen. Wir begrüßen es daher, dass alle
Fraktionen bis zum Schluss zusammengearbeitet haben.
Die gute Zusammenarbeit über alle Fraktionsgrenzen
hinweg zeigt, dass sich jeder Einzelne der Notwendigkeit der Aufarbeitung des erlittenen Unrechts bewusst
war.
Die Auseinandersetzung mit der Situation der Heimkinder dient allerdings nicht nur der Vergangenheitsbewältigung. Ich halte es auch für wichtig, dass eine gesellschaftliche Aufarbeitung mit Blick in die Zukunft
stattfindet. Die Eingriffe in die Freiheitsrechte der Kinder und Jugendlichen und die Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit müssen uns zu der Erkenntnis führen, dass nur ein funktionierender Rechtsstaat vor einer
Wiederholung schützt. Nur ein funktionierender Rechtsstaat garantiert, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die
Opfer der damaligen Heimerziehung haben ein Anrecht
darauf, dass sich Politik und Gesellschaft mit den Geschehnissen auseinandersetzen. Die Frage der Wiedergutmachung und der Hilfestellung muss für die Betroffenen abschließend und zufriedenstellend geklärt werden.
Der vorgelegte Antrag ist ein eindeutiger Auftrag an die
Bundesregierung, eine umfassende Lösung bis zum Jahresende vorzulegen.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sehr geehrte ehemalige Heimkinder! Die
ehemaligen Heimkinder, die Gewalt und Misshandlungen in der Heimerziehung der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben, wurden so stark diskriminiert, dass sie
oft 30 Jahre benötigten, um über ihr Schicksal zu sprechen. In der Bundesrepublik waren nach der Gründung
1949 bis 1975 in 3 000 Heimen fast 800 000 Kinder und
Jugendliche betroffen.
Aber die Opfer sind an die Öffentlichkeit gegangen,
und zwar nicht mit Hilferufen, sondern mit Forderungen.
Sie haben Demonstrationen organisiert und Petitionen
im Bundestag eingereicht. Sie haben es geschafft, dass
heute über ihre Forderung nach einer monatlichen Entschädigung im Bundestag gesprochen wird. Es ist erstaunlich, dass alle anderen Fraktionen in ihrem gemeinsamen Antrag nichts zu den Möglichkeiten der Wiedergutmachung und dem finanziellen Teil gesagt haben. Für
die entgangenen Lebenschancen und die Verletzungen
der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit sind Entschädigungsforderungen der ehemaligen
Heimkinder in Höhe von einer monatlichen Zahlung von
300 Euro oder - hochgerechnet auf 15 Jahre - von
54 000 Euro wohl das Mindeste, was als Versuch der
Wiedergutmachung gezahlt werden sollte.
({0})
Daher haben wir als Linke uns dem Antrag der anderen Fraktionen nicht angeschlossen;
({1})
wir haben vielmehr einen eigenen Antrag eingebracht,
der einen Anspruch der Opfer auf Entschädigung nach
einem Gesetz für die Opfer ehemaliger Heimerziehung
vorsieht. Sie, meine Damen und Herren der anderen Fraktionen, entscheiden nach Kassenlage. Sie erklären, dass
die Möglichkeit einer Klage nicht besteht, weil die Ansprüche verjährt sind. Ein Opferverband hat 1 000 Betroffene gefragt, was sie möchten. Von diesen 1 000 haben
nur 9 Prozent gesagt: Wir nehmen die Empfehlung des
Runden Tisches an. 88 Prozent haben gesagt: Dieser
Spatz in der Hand ist uns zu klein.
({2})
Jetzt komme ich zu den Empfehlungen des Runden
Tisches. Mit 18 Vertretern der evangelischen Kirche, der
katholischen Kirche, der staatlichen Heimträger, der
Vertreter der Landesjugendämter, der Bundesländer und
mit nur drei betroffenen Heimkindern haben Sie getagt.
Die Zustimmung zu Ihrem Vorschlag einer freiwilligen
Fondsregelung anstelle eines gesetzlichen Anspruchs haben Sie von den Heimkindern mit dem Ausspruch erpresst: Sonst gibt es gar nichts.
({3})
Das allein ist schon ein Skandal.
({4})
Sie sind erneut würdelos mit den betroffenen Opfern
umgegangen.
({5})
- Ich habe die entsprechenden Briefe dabei. Ich kann sie
ja vorlesen.
Von den sechs abstimmungsberechtigten Betroffenen,
die an der letzten Sitzung teilgenommen haben, zogen
fünf ihre Zustimmung zurück.
({6})
Das heißt, Sie beschließen an den Opfern vorbei.
Kollegin Dittrich, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Rupprecht?
Sie, meine Damen und Herren, wollen hiermit Unrecht relativieren. Sie schreiben auf Seite 2 Ihres Antrags, dass es auch fürsorgliche Heime gab.
Kollegin Dittrich, noch einmal: Gestatten Sie eine
Frage der Kollegin Rupprecht?
Ja.
Ich möchte keine Frage stellen, Frau Präsidentin.
Natürlich können Sie auch eine Feststellung treffen.
Wenn Sie keine Frage stellen, dann können wir später
darüber sprechen.
Die Kollegin Dittrich behauptet, dass die ehemaligen
Heimkinder am Runden Tisch - sechs waren es - unter
Druck gesetzt und erpresst wurden. Ich war für den Petitionsausschuss Mitglied des Runden Tisches. Ich möchte
hier feststellen, dass ich es nie zugelassen hätte, dass irgendjemand erpresst oder unter Druck gesetzt wird.
({0})
Meine Aufgabe am Runden Tisch war, darauf zu achten, dass die Vorgaben des Petitionsausschusses umgesetzt werden. Egal wer was im Nachhinein behauptet: Es
stimmt so nicht.
({1})
Dann muss ich mich wohl auf das Brieflein vom Landessprecher der ehemaligen Heimkinder Niedersachsens
beziehen, in dem auch Sie angesprochen werden, Frau
Marlene Rupprecht. Er beschreibt eindeutig, dass die
Zustimmung erpresst wurde. Diese Aussage liegt hier
schriftlich vor. Das Ganze ging auch an die SPD und an
Sie.
({0})
Es gibt auch noch andere, die geschrieben haben.
({1})
Von den sechs, die berechtigt waren, an der Abschlussabstimmung teilzunehmen, haben bereits fünf ihre Zustimmung wieder zurückgezogen. Das bedeutet: Sie beschließen an den Opfern vorbei.
({2})
In einem echten Täter-Opfer-Ausgleich wird zunächst
die Schuld anerkannt. Man geht auf die Opfer zu und
bietet eine Wiedergutmachung, meist finanzieller Art,
an.
({3})
Diese Opfer mussten sich aber durchkämpfen.
Sie schreiben, dass es fürsorgliche Heime gab. Heime
mit Schutz, Geborgenheit und Schulausbildung ohne Arbeitszwang? Nennen Sie diese Heime jetzt. Wo sind die
Generationen von Heimkindern, die diese Heime erlebt
haben?
({4})
Welche Bedingungen gab es dort, die es woanders nicht
gab?
Sie selbst zählen auf den Seiten 3 und 4 Ihres Antrags
alle Verantwortlichen für die Heimerziehung auf: die
Vormünder, die Pfleger, die Jugendämter, die Landesjugendämter, die Heimträger, die Gerichte und weitere.
Wer fehlte eigentlich? Die gesamte staatliche Gewalt
war beteiligt. Kinder und Jugendliche waren - dem stimmen auch Sie zu - rechtlich ausgeliefert; sie befanden
sich in einer Situation der Ohnmacht. Sie behaupten, den
Opfern werde geglaubt; aber die Entschädigung weisen
Sie zurück.
Frau Kollegin Dittrich, kommen Sie bitte zum
Schluss und beachten Sie das Signal.
Dennoch weinen Sie hier fast Krokodilstränen und
wollen nicht entschädigen. Wir fordern dagegen eine gesetzliche Entschädigung. Der von Ihnen vorgeschlagene
Fonds mit 120 Millionen Euro bedeutet, dass für Rehabilitationen, die eigentlich Krankenkassenleistungen sind,
der Krankenkasse 100 Millionen Euro zur Verfügung
stehen und dass nur die restlichen 20 Millionen Euro direkt ausgezahlt würden. Für nur 30 000 Antragsteller bedeutete das eine Einmalzahlung von 666 Euro.
({0})
Kollegin Dittrich, ich bitte Sie jetzt wirklich, zum
Schluss zu kommen.
Mit der Umsetzung Ihres Vorschlags kämen die Kirchen, der Staat und die Betriebe, die wir ebenfalls heranziehen wollen, sehr billig davon. Schaffen Sie als Gesetzgeber Recht! Schaffen Sie ein Entschädigungsgesetz!
({0})
- Peinlich bei Ihnen.
({1})
- Sie lügen sogar hier im Parlament.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dörner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Dittrich, ich finde es
sehr traurig und auch sehr unangemessen, wie durch Ihren Redebeitrag die sehr gute und immens wichtige Arbeit des Runden Tisches Heimkinder hier diffamiert
wird.
({0})
Das hätte bei solch einem interfraktionellen Antrag und
einer so großen Einigkeit hier im Parlament wirklich
nicht sein dürfen.
Ich möchte mit einigen Sätzen eines ehemaligen
Heimkindes beginnen, die so in dem Materialband des
Runden Tisches Heimkinder dokumentiert sind:
Wärme, Zuneigung und Geborgenheit gab es nicht.
Dafür gab es aber Demütigungen, Schläge und Erniedrigungen im Überfluss. Als ich einmal nachts
ins Bett nässte, musste ich am nächsten Morgen vor
der versammelten Gruppe den gestreiften ‚Bettnässer-Schlafanzug‘ anziehen. … Alle Kinder sollten
einen ihrer Schuhe/Hausschuhe ausziehen, mir damit auf den Po schlagen und mich dabei laut als
Bettnässer beschimpfen.
Diese Sätze sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt dessen, was der Runde Tisch Heimkinder in den letzten Jahren aufgearbeitet und dokumentiert hat. Aber ich denke,
er gibt uns einen kleinen Einblick in die damalige Lebensrealität in vielen Heimen und lässt uns vielleicht
auch die Gefühlswelt der Kinder und Jugendlichen, die
dem ausgesetzt waren, ein bisschen verstehen.
Klar ist: Nichts, was der Deutsche Bundestag beschließt, kann dem Unrecht und dem Leid, das viele Kinder in Heimen erfahren haben, irgendwie gerecht werden. Viele Leben wurden in ganz jungen Jahren auf sehr
schwierige Gleise gesetzt, oft - wir wissen das aus den
Gesprächen mit den Heimkindern - mit schwerwiegenden Folgen bis heute. Das kann nicht wiedergutgemacht
werden.
Was aber geschehen kann, ist, die heutige Lebenssituation der ehemaligen Heimkinder zu verbessern. Das
ist es, was wir tun wollen.
Hier kann die Arbeit des Runden Tisches Heimkinder
aus meiner Sicht gar nicht oft genug hervorgehoben werden, der hierzu sehr konkrete Empfehlungen unterbreitet
hat. Ich möchte an dieser Stelle der Vorsitzenden des
Rundes Tisches, Frau Dr. Antje Vollmer, und gerade den
involvierten Heimkindern im Namen aller Fraktionen,
die den interfraktionellen Antrag eingebracht haben,
ausdrücklich danken.
({1})
Als Deutscher Bundestag wollen wir die Empfehlungen des Runden Tisches Heimkinder sehr schnell umsetzen. Schon zum kommenden Jahr soll ein Fonds bzw.
eine Stiftung arbeitsfähig sein, die, konkret mit
120 Millionen Euro ausgestattet, Rentenansprüche ausgleicht und Entschädigungen an die ehemaligen westdeutschen Heimkinder zahlt.
Es ist mir wichtig, an dieser Stelle noch einmal auf
die Anlauf- und Beratungsstellen hinzuweisen, die nun
von den Ländern eingerichtet werden; denn die materielle Frage ist ja immer nur eine Frage. Sie ist zwar eine
sehr wichtige Frage; aber mit ihrer Lotsenfunktion nehmen diese Anlaufstellen eine sehr wichtige Aufgabe
wahr.
Mit der Würdigung der Leistungen des Runden Tisches wird aber auch deutlich, wie viele Schicksale tatsächlich noch aufzuarbeiten sind. Für die Aufarbeitung
des Unrechts gegenüber den Heimkindern in der DDR
ist ein Anfang gemacht. Uns allen ist auch klar, dass es
keine Opfer erster und zweiter Klasse geben darf.
({2})
Nicht unterschieden werden darf zwischen Ost und
West, aber auch nicht entlang der Frage, in welcher Einrichtung den Kindern und Jugendlichen Unrecht angetan
wurde, ob in einem Säuglingsheim, ob im Fürsorgeheim
oder in Einrichtungen der Kinderpsychiatrie oder der
Behindertenhilfe. Ich bin sehr froh, dass wir in unserem
Antrag auch einen Prüfauftrag verankern konnten.
Ich möchte abschließend einen kurzen Blick in die
Zukunft werfen. Viel Unrecht war in den Heimen ja auch
deshalb möglich, weil es Strukturen gab, die kein Korrektiv hatten, und weil Kinder und Jugendliche selber
nicht beteiligt waren und sich nicht selber einbringen
konnten. Hier hat sich in den letzten Jahren zum Glück
sehr viel getan. Aber ich würde mir wünschen, dass wir
gemeinsam auch in die Zukunft blicken und schauen,
wie man den Rechten von Kindern und Jugendlichen
auch in der Kinder- und Jugendhilfe selbst stärkeres Gewicht verleihen kann. Beispielsweise den Bereich der
Ombudschaft, der auch in den Empfehlungen des Runden Tisches vorkommt, halte ich für sehr zukunftsweisend.
({3})
In den Gesprächen mit den Heimkindern und auch im
Bericht des Runden Tisches wird ja deutlich, dass es den
ehemaligen Heimkindern gerade auch darum geht, dass
es den Kindern und Jugendlichen, die heute in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind, gut geht.
Das hat mich immer sehr berührt, wenn dieser Aspekt in
den Gesprächen genannt wurde. Ich finde, dass wir uns
bemühen sollten, dieses Signal aufzugreifen und dieses
Ziel in unsere zukünftige Arbeit im Bereich der Kinderund Jugendhilfe mitaufzunehmen.
Vielen Dank.
({4})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
Winkelmeier-Becker.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben heute mehrfach auch Einzelheiten darüber gehört, was Heimkindern widerfahren ist.
Diese Geschichten machen uns immer sehr betroffen.
Viele Menschen haben darunter viele Jahrzehnte gelitten, nicht nur in den Zeiten, die sie in Heimen verbracht
haben, sondern das hat vielfach ihr ganzes Leben geprägt. Sie konnten lange Zeit nicht darüber sprechen,
weil es zu schwer war, weil es geradezu unaussprechlich
war, aber auch, weil es keiner hören und glauben wollte.
Diese Lebensgeschichten müssen jetzt erzählt werden,
sie müssen jetzt gehört werden. Dazu haben der Petitionsausschuss und dann der „Runde Tisch Heimerziehung“ das Forum gegeben. Es wurde daraufhin in der öffentlichen Diskussion aufgegriffen. Jetzt ist es an uns,
am Parlament, daraus die Konsequenzen zu ziehen.
Schon die bisherige Diskussion ist nicht ohne Wirkung geblieben. Sie verändert auch unseren Blick retrospektiv auf die Zeit, in der das alles geschehen ist. Wir
müssen daraus aber auch Lehren ziehen für das, was
heute in der Jugendhilfe geschehen muss. Ich finde es
toll, dass die Heimkinder nicht nur ihre eigene Situation
in den Mittelpunkt stellen, sondern auch dafür eintreten,
dass sich das, was sie erfahren haben, oder Ähnliches nie
wieder ereignet.
({0})
Ich weiß natürlich, dass Heimerziehung heute ganz
anders läuft als damals, dass das nicht vergleichbar ist.
Es kommt aber in Einzelfällen immer noch vor, dass
Kinder wehrlos bzw. ausgeliefert sind. Wir müssen alle
dafür sensibilisieren, dass sie schutzbedürftig sind und
nicht verletzt werden dürfen.
Der jetzt vorliegende fraktionsübergreifende Antrag
knüpft an die Ergebnisse des „Runden Tisches Heimerziehung“ an. Als ich zum ersten Mal gelesen habe, was
der Bericht empfiehlt, habe ich mir gedacht, dass das
wirklich nicht üppig ist. Der Umfang der finanziellen
Leistungen in Höhe von 120 Millionen Euro ist sehr
überschaubar. Auch die Tatbestände, bei deren Vorliegen
Hilfe geleistet werden soll, sind nicht sehr weit gefasst.
Im Wesentlichen beschränkt man sich auf den Ersatz für
verpasste Rentenanwartschaften - für den entsprechenElisabeth Winkelmeier-Becker
den Rentenersatzfonds sind 20 Millionen Euro vorgesehen - sowie auf die Bewältigung gesundheitlicher oder
traumatischer Folgen, die nicht über die Krankenversicherung abgedeckt sind, und auf Hilfen bei der Aufklärung, was ja auch sehr wichtig ist. Dafür sollen 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.
Ehe wir das bewerten, sollten wir die Ausgangslage
berücksichtigen. Da gibt es zum einen schlichtweg den
Befund, dass hier Sachverhalte zur Bewertung anstehen,
die nur sehr schwer aufgeklärt werden können. Dann
muss man sicherlich auch sehen, dass Heimerziehung
nicht per se und grundsätzlich immer nur als schädlich
angesehen werden darf. Wir haben ja zum Glück auch
Aussagen von Heimkindern gehört, in denen sie von liebevoller Erziehung und Zuwendung berichtet haben oder
Problemlagen aufgezeigt haben, bei denen die Heimerziehung die bessere Alternative darstellte. Vor allem
ist es aber so, dass alle Schadensersatzansprüche verjährt
sind. Man kann die Haftung zulasten der Täter oder Träger auch nicht wiederbeleben. Deshalb gibt es an dieser
Stelle keine zwingende Grundlage und auch keinen Anlass für den Bund, hier komplett für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen und umfänglichen Schadensersatz
zu leisten.
Vor diesem Hintergrund ist das, was nun herausgekommen ist, kein schlechtes Ergebnis. Man muss auch
sehen, dass Länder und Kirchen, in deren Verantwortungsbereich die Missstände bestanden haben, gemeinsam mit dem Bund diese Lösung gefunden haben und
der Bund in diesem Rahmen auch seinen Beitrag leistet.
Ich möchte mich auch dafür einsetzen, dass die Ausgaben des Bundes dafür nicht komplett im Einzelplan 17
untergebracht werden; denn das würde bedeuten, dass
die Aufarbeitung des damaligen Leides auf Kosten der
Kinder und Jugendlichen von heute erfolgt. Das wäre so
ziemlich das Letzte, was im Sinne der Heimkinder von
damals wäre.
({1})
Der Antrag bezieht auch die Heimkinder in der DDR
mit ein, obwohl diese nicht Gegenstand des Runden Tisches waren. Aber die Diskussion am Runden Tisch hat
auch das Bewusstsein für das Unrecht, das den Heimkindern in der DDR widerfahren ist, geschärft. Auch sie haben Petitionen eingereicht. Ein bisschen schade ist, dass
wir die Aufarbeitung nicht parallel betrieben haben. Es
gibt aber bereits Vorarbeiten, zum Beispiel der Initiative
Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Ich habe gehört,
dass sich unter den Besuchergruppen eine Abordnung
der Initiative des Jugendwerkhofs Torgau befindet.
Wenn das stimmt, dann seien Sie herzlich gegrüßt.
({2})
Bei der weiteren Aufarbeitung werden wir sowohl
Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den
Situationen im Osten und im Westen feststellen. Eine
Gemeinsamkeit ist eine aus heutiger Sicht teilweise moralisch verstaubte und autoritäre Pädagogik, die allzu
schnell von Verwahrlosung ausging, die alleinerziehenden Müttern die Erziehungsfähigkeit generell absprach
und die auch ein anderes Verhältnis zu Strafen hatte. Auf
beiden Seiten werden wir Strafmethoden finden, die
auch über das damalige Maß hinausgingen.
Es war aber eine Spezialität der DDR, den Hilfebedarf selbst herbeizuführen. Zum Beispiel wenn die Entscheidung einer Familie, das Land zu verlassen und anderswo zu leben, oder wenn allein Kritik am politischen
System so kriminalisiert wurde, dass die Eltern in die
Haft gesteckt wurden und die Kinder ins Heim mussten,
dann ist das eine Besonderheit dieses Staates.
Es ist eine Spezialität der DDR, dass der Staat mithilfe der Heime sein Menschen- und Gesellschaftsbild
durchsetzen und den Familien aufoktroyieren wollte.
Deshalb ist das Unrecht an dieser Stelle nicht vergleichbar.
({3})
Der Aspekt der politischen Verfolgung ist im Wesentlichen bereits durch die Rehabilitationsgesetze aufgegriffen. In dem vorliegenden Antrag geht es mehr um
den Aspekt, dass pädagogische Gründe dazu geführt haben, Kinder in Heime zu stecken. Das von den Opfern
empfundene Leid ist gleich. Deshalb ist das der entscheidende Blickwinkel des Staates und unser Grund dafür,
bei dem Engagement für die Opfer auf beiden Seiten den
gleichen Maßstab anzulegen. Deshalb soll sich der Bund
mit einem Drittel an den Kosten für die entsprechenden
Maßnahmen zugunsten der Opfer in der DDR beteiligen.
({4})
Dass das nicht auf Kosten der Heimkinder im Westen
geschehen darf, ist klar. Neben dem Drittel, das der
Bund zahlen wird, werden auch die neuen Länder in die
Pflicht genommen werden müssen. Des Weiteren ist
über den Vorschlag nachzudenken, ob hier ein Rückgriff
auf noch vorhandenes Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR möglich ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6143 und 17/6093 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren
Vizepräsidentin Petra Pau
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Strafrechtsänderungsgesetzes - Bestechung
und Bestechlichkeit von Abgeordneten
- Drucksache 17/5933 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Tom Koenigs, Marieluise Beck ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der
Vereinten Nationen gegen Korruption
- Drucksache 17/5932 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ein international tätiges Hochbauunternehmen
zwischen Deutschland und Dänemark ein Bauwerk errichten will und der Vorstand dieses Unternehmens vor
diesem Hintergrund beschließt, dass sich ein Mitglied
des Vorstands mit dänischen Abgeordneten trifft und ein
anderes Mitglied mit deutschen, und dann beide Vorstände den Abgeordneten bei dieser Zusammenkunft erklären: „Wenn ihr euch für unser Bauanliegen zwischen
Deutschland und Dänemark starkmacht und euch dafür
in den Parlamenten einsetzt, dann werdet ihr von uns
100 000 Euro bekommen, oder die Ausbildung eurer
Kinder im Ausland wird finanziert“, und die dänischen
Abgeordneten darauf eingehen, dann ist das in Deutschland seit September 1998 eine Straftat. Aber wenn die
deutschen Abgeordneten auf dasselbe Angebot eingehen, dann ist das in Deutschland bis zum heutigen Tag
keine Straftat.
Diesen gesetzgeberischen Irrsinn haben wir der letzten schwarz-gelben Koalition zu verdanken, die im September 1998 genau diese Rechtslage herbeigeführt hat.
Seit dieser Zeit geraten wir international immer mehr in
eine völlig vertrackte Situation, weil Sie - Schwarz und
Gelb - sich weigern, diesen Rechtszustand zu beenden.
({0})
1999 hat der Europarat gefordert, dass Abgeordnetenbestechung für strafbar erklärt wird.
({1})
Und die Bundesregierung hat dieses Abkommen unterschrieben.
({2})
Bis zum heutigen Tag haben 43 Staaten Europas dieses
Abkommen ratifiziert. Wir gehören zu denjenigen, die
die rote Laterne tragen und die es bisher immer noch
nicht geschafft haben, zu ratifizieren.
Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Aber gerne, deswegen ist er ja gekommen.
Herr Montag, vielleicht sollten Sie eher sagen: eine
rot-grüne Laterne. Denn ich frage Sie, ob Sie die Gründe
nennen können, weshalb die Koalition von Rot und
Grün, warum Ihre damalige Regierung dieses Gesetz,
nachdem das 1998 von Schwarz und Gelb so eingeführt
worden ist, nicht geändert oder ergänzt hat.
Ich kann Ihnen die Antwort darauf sehr gerne geben,
betreffend die Zeit ab dem Jahr 2002, seit ich diesem
Hohen Hause angehöre. Wir haben ab Oktober 2002 den
Versuch unternommen, ein solches Gesetz zustande zu
bringen.
({0})
Nachdem das Bundesjustizministerium einen Vorschlag
gemacht hat, der von allen Fraktionen abgelehnt worden
ist, haben wir uns darauf geeinigt, dass ein entsprechender Gesetzentwurf aus der Mitte des Deutschen Bundestages entwickelt wird. Daran mitzuarbeiten, haben sich
Schwarz und Gelb verweigert.
({1})
Und als wir - Rot-Grün - so gut wie fertig damit waren,
ist es leider zum Ende der Legislaturperiode gekommen.
({2})
- Sie können gerne lachen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ich weiß nicht, was daran eigentlich so lustig
ist. Seit 2005 sind Sie am Ruder, und Sie kämpfen nicht
einmal um eine Lösung.
({3})
Sie bemühen sich ja überhaupt nicht darum.
({4})
Sie diskutieren mit uns nicht über diese Frage, sondern Sie erklären uns - wie im April dieses Jahres in einer Bundestagsdebatte durch den Kollegen van Essen
geschehen -: Für alle Bürger dieses Landes sei es
schrecklich, wenn sie eine Straftat begehen und dafür
bestraft würden. Nur für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gebe es eine schlimmere Strafe, nämlich nicht bestraft zu werden. - Das war Ihre Argumentation, Herr van Essen.
({5})
Sie können das im Protokoll nachlesen.
Der Kollege Kauder hat im April in dieser Diskussion
gesagt:
Sie sagen: Alle
- er meint die 152 Staaten, die die Völkerrechtsvereinbarung zur Bekämpfung der Korruption unterschrieben haben machen es. - Wenn alle ins Meer springen, springen
wir dann hinterher?
Das war seine Argumentation, auch nachzulesen im Protokoll. So beschäftigen Sie sich mit dieser Angelegenheit.
({6})
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt wieder einen Gesetzentwurf vorgelegt, der zeigt, wie man dieses
Thema auf eine vernünftige, rationale, klare und rechtsstaatliche Weise behandeln kann. Wir haben jetzt auch
ein Ratifizierungsgesetz vorgelegt; wir sind neugierig,
wie Sie sich dazu verhalten werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP, die uns hier im April gesagt haben, dass
sie sich nicht an der Arbeit an einem solchen Gesetz beteiligen, ich will zum Schluss sagen: Der Präsident des
Deutschen Bundestags, Kollege Dr. Lammert, hat mich,
weil er nicht hier sein kann, heute Vormittag ausdrücklich gebeten, in seinem Namen zu erklären, dass er ein
solches Gesetz für den Parlamentarismus für dringend
notwendig hält und deswegen das Haus bittet, sich damit
zu beschäftigen.
({7})
Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen, meine
Damen und Herren.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Heveling.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema ist ganz offenkundig entschieden komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.
({0})
Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die neben offensichtlichen Unterschieden auch
erkennbare Übereinstimmungen in der Beurteilung
dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Weil hier zweifellos ein Zusammenhang
mit dem Immunitätsrecht besteht, könnte die Betrachtung dieses Zusammenhangs ein Bestandteil
der gemeinsamen Bemühungen in diesem Themenumfeld sein.
So sprach vor acht Wochen der Präsident des Deutschen Bundestages, Kollege Norbert Lammert, zum
Schluss der Debatte zum Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke zum Thema Abgeordnetenbestechung.
({1})
Herr Kollege Ströbele ist ob dieser Äußerungen in verzücktes Jubilieren geraten,
({2})
und das Protokoll der Sitzung vermerkt Zwischenrufe
der SPD und eine darauf bezogene Dankesbekundung
des Präsidenten.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Worte
indessen kein bisschen ernst genommen.
({3})
Im Gegenteil: Sie haben sich keinen Deut um das geschert, was der Bundestagspräsident gesagt hat.
({4})
Anders ist das, was wir heute von Ihnen geboten bekommen haben, jedenfalls nicht zu erklären. Denn heute bekommen wir, wie schon vor acht Wochen von der Fraktion Die Linke, einfach nur den Aufguss eines Antrags
aus der letzten Wahlperiode als Wiedergänger präsentiert:
({5})
Sie haben 2008 exakt den gleichen Gesetzentwurf schon
einmal eingebracht. Offenkundiger lässt sich wohl kaum
deutlich machen, dass man gar nicht so viel Interesse an
einer zielführenden und ernsthaften Debatte hat.
({6})
- Lieber Herr Kollege Montag, ich werde gleich darauf
eingehen. Dazu gibt es nämlich einiges Interessante zu
sagen, auch in Bezug auf das, was der Herr Bundestagspräsident gesagt hat.
({7})
Offensichtlich geht es darum, hier den Oberlehrer zu
spielen und sich wieder einmal nicht die Gelegenheit
entgehen zu lassen, den Finger in eine vermeintliche
Wunde zu legen. Dann werden scharfe und große Worte
gewählt: Vor acht Wochen war von „peinlich“ und
„oberpeinlich“ die Rede.
({8})
Als das Thema 2008 schon einmal diskutiert wurde, war
von einem „Makel“ die Rede. Heute ist es auch nicht anders. Auch die Kritik am Gesetzentwurf ist die gleiche
wie 2008. Insofern machen Sie vom Bündnis 90/Die
Grünen es einem wirklich nicht leicht.
({9})
Ich habe bei der Vorbereitung der heutigen Rede
lange überlegt, wie ich heute mit dem Gesetzentwurf
umgehen soll. In Zeiten von VroniPlag und Co hielt ich
es nicht für angemessen, die Beiträge der Kollegen aus
der letzten Wahlperiode einfach zu plagiieren.
({10})
Auch wollte ich meine vor acht Wochen gehaltene Rede
nicht noch einmal halten. Andererseits gibt es einfach
keine neuen Argumente.
({11})
Da Sie damals offensichtlich nicht bereit waren, sich mit
den sachlichen Argumenten auseinanderzusetzen, geschweige denn heute dazu bereit sind - Sie haben am
Entwurf kein Jota verändert -, ist es vielleicht doch angebracht, die Argumente von damals noch einmal aufzurufen.
Lassen Sie mich das ganz korrekt mit der Methode
des Zitierens machen. Herr Kollege Kauder hat in der
Debatte am 25. September 2008 zu Recht auf das größte
Problem Ihres Gesetzentwurfs hingewiesen, auf die
Übertragung der Verwerflichkeitsklausel. Ich darf zitieren:
Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor
Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung
ausgeführt hat. Wenn der Gesetzgeber einen
Straftatbestand mit normativen Elementen - also
mit wertausfüllenden Elementen - schmückt, sagt
er eigentlich nichts. Das ist das Problem und die
Krux des Gesetzentwurfs … Dieser Gesetzentwurf
lässt mehr Fragen offen, als er klärt. …
Regina Michalke hat sich in der Festschrift für
Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflichkeitsklausel befasst. … Nimmt ein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deutschen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel- und
Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln
verwerflich sind.
({12})
Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in
der Rechtssprache wird er durch einen anderen, genauso unverständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durch ein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung definiert. … Es stimmt, was
Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn ein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dann sagt
er letztendlich gar nichts.
({13})
Nun werden Sie einwenden, dass das bei § 240 des
Strafgesetzbuches, dem Nötigungsstraftatbestand,
auch möglich ist.
({14})
Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke
in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr
2008: Der § 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders
strukturiert als der Straftatbestand des § 108 e des
Strafgesetzbuches, sprich Abgeordnetenbestechung.
In § 240 Abs. 2 - dem Nötigungsstraftatbestand sind die Nötigungsmittel genau definiert. Das können Sie hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung
nicht eins zu eins übernehmen.
Zitat Ende.
Dieses Argument war 2008 genauso richtig, wie es
heute richtig ist. Man kann an den Formulierungen, die
Sie damals wie heute zur Gesetzesbegründung bemüht
haben, ablesen, wie bewusst Sie sich dieses Problems
sind.
({15})
Diese Unbestimmtheit und das Ungeklärte des Tatbestandes führen zu einem zweiten bedeutenden Problemkreis, der sich von 2008 bis heute ebenfalls nicht verändert hat. Hierauf hat der damalige Kollege Stünker von
der SPD-Fraktion am 25. September 2008 richtigerweise
hingewiesen - ich darf auch ihn zitieren -:
({16})
Wo liegt das Problem? Das Problem liegt - das ist
hier schon häufig angesprochen worden - im Tatbestandsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbegriff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu
schwammig gefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden im Ergebnis in die
Hände der dritten Gewalt, in die Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat aus Art. 38 des
Grundgesetzes sicherlich nicht in Übereinstimmung
zu bringen ist.
Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundgesetzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter
sein. Er muss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darf parteilich sein. Das alles ist richtig. …
Wir sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der
Tatbestand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung
für eine Strafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung der Volksvertretung notwendig ist, ob
wir also das Strafrecht mit dem Recht der Immunität verbinden müssen.
Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja:
Bereits eine entsprechende Überschrift in der BildZeitung, dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsverfahren geraten ist - das kann ja völlig
im Sande verlaufen -, führt zum politischen Tod.
Das muss man mit bedenken.
Kollege Heveling, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?
Nein, ich würde das jetzt gerne weiter ausführen.
({0})
Sieh mal einer an, selbst das, was der Bundestagspräsident vor acht Wochen gesagt hat, ist schon in der Debatte 2008 angeführt worden. Kein Erkenntnisgewinn
bei den Grünen von 2008 bis heute. Stur wird wieder
eingebracht, was schon 2008 Murks gewesen ist.
({1})
In der damaligen Debatte, im September 2008, ist
vom damaligen Kollegen Stünker auch das Thema angesprochen worden, bei dem sich Kollege Montag eben auf
die Frage des Kollegen Geis hin ein bisschen gewunden
hat. Auch das möchte ich gerne zitieren. Da ging es um
die Frage, warum das von Rot-Grün nicht geändert worden ist. Der damalige Kollege Stünker hat laut Protokoll
dazu in Richtung des Kollegen Ströbele ausgeführt:
Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke
schon lange schließen können. Sie und ich, wir
beide wissen das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in
einer Kommission … eine Regelung erarbeitet. …
- Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. - Ich meine, es war eine sehr gute Regelung,
die wir damals erarbeitet hatten - …
- Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir
durften sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns
die Grünen blockiert haben. Man höre und staune. …
Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu
weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug
ging. …
Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals gegenseitig blockiert.
So weit das Zitat des Herrn Kollegen Stünker.
({2})
So sehr Sie uns den Mangel an Bereitschaft vorwerfen, das Thema überhaupt anzugehen, so sehr muss man
Ihnen den Vorwurf machen, dass es Ihnen an der Bereitschaft mangelt, überzeugende Lösungen auf den Tisch
des Hauses zu legen. Dadurch entlarvt sich der Gesetzentwurf als das, was er ist: als reine Show.
({3})
Ich selbst habe vor acht Wochen zum Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke ausgeführt:
Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben
sollte …, dann ist es mit einem gesetzgeberischen
Schnellschuss, bei dem im Übrigen auch fraglich
ist, ob er überhaupt den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots Genüge tut, sicherlich nicht getan.
({4})
Das ist der Sache … nicht angemessen, und der
Schaden wäre hinterher weitaus größer als der Nutzen.
Das aber gilt auch für Ihren Gesetzentwurf aus dem
Jahr 2008. Er offenbart keinen tauglichen Lösungsansatz. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie wirklich sorgfältig
und ernsthaft - jedenfalls 2008 - nach einer tragfähigen
Lösung gesucht haben. Dann hätten Sie aber schon damals aufgrund der gewichtigen Kritikpunkte einsehen
müssen: Das Thema ist ganz offenkundig entschieden
komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.
({5})
Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die
neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare
Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Mit Ihrem
Gesetzentwurf wird eine Lösung aber nicht gelingen.
Wir lehnen ihn ab.
Vielen Dank.
({6})
Die Kollegin Dr. Högl hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen
alle, dass jedes Thema eine Geschichte hat und dass es
gut ist, diese zu kennen. Man braucht sie für den Hintergrund. Ich darf aber an uns alle appellieren: Wir haben
heute einen Vorschlag vorliegen und führen eine weitere
Debatte, nachdem es bereits eine am 8. April gegeben
hat. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam über die Zukunft
diskutieren und darüber, dass es im Deutschen Bundestag Handlungsbedarf gibt.
({0})
Im Gegensatz zu meinem Vorredner, Herrn Heveling,
habe ich unserem Bundestagspräsidenten Lammert am
8. April sehr gut zugehört. Wer nicht zugehört hat, kann
es noch einmal nachlesen. Unser Bundestagspräsident
hat am Ende der Debatte davon gesprochen, dass wir in
dieser Frage einen erheblichen Handlungsbedarf haben
und dass es trotz offensichtlicher Unterschiede in der
Bewertung der Detailregelungen - darüber können und
werden wir im weiteren Verlauf gerne streiten - erkennbare Übereinstimmungen gibt.
Der Bundestagspräsident hat an uns appelliert, dieses
Thema gemeinsam anzugehen. Diesen Appell möchte
auch ich gerne - Herr Kollege Montag hat es bereits getan - aufgreifen. Diese Bemerkung unseres Bundestagspräsidenten fand ich sehr hilfreich. Wir sollten sie sehr
ernst nehmen; denn so etwas macht ein Bundestagspräsident am Ende einer Debatte nicht jeden Tag.
({1})
Wir als SPD-Fraktion sind Bündnis 90/Die Grünen
für die Vorlage der beiden Gesetzentwürfe dankbar. Am
8. April haben wir bereits über eine Vorlage von der
Fraktion Die Linke diskutiert. Selbstverständlich werden
wir auch mit eigenen Vorschlägen in die Debatte einsteigen. Wir waren in der Vergangenheit auch initiativ; deswegen kündige ich an, dass wir uns engagiert an der weiteren Beratung der vorliegenden Papiere sowie mit
eigenen Vorschlägen beteiligen werden.
Ich möchte voranschicken - das ist mir wichtig -,
dass Deutschland kein Land ist, in dem Korruption
herrscht. Wir sollten bei dieser Debatte auch nicht davon
ausgehen, dass wir es mit Verwerfungen zu tun haben.
Frau Kollegin Högl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
({0})
Aber sicher. Bitte sehr. Jetzt dürfen Sie eine Zwischenfrage stellen.
Danke, Frau Kollegin. Ich frage Sie natürlich etwas
ganz anderes als das, was ich den Kollegen von der CDU
gefragt hätte;
({0})
er hat meinen Namen hier wieder ins Spiel gebracht.
Seinerzeit hat die Justizministerin Frau Zypries
({1})
von den Sozialdemokraten - ich sage das lobend - den
Mut aufgebracht, die UNO-Konvention für die Bundesrepublik Deutschland zu unterschreiben. Sie wurde von
der Regierung damals unterschrieben, aber leider hat der
Deutsche Bundestag es bis heute nicht geschafft, diese
Urkunde zu ratifizieren. Deshalb fordern wir dies.
Meine Frage an Sie lautet: Wir hatten in der Tat viele
Wochen und Monate lang sehr intensive Verhandlungen
über sehr viele unterschiedliche Vorschläge geführt und
hatten, wie das in einer Koalition ist, auch unterschiedliche Auffassungen. Der Kollege Stünker hat damals einen Vorschlag vorgelegt, dem ich sehr viel abgewinnen
konnte.
Wir auch.
Seitdem sind ja viele Jahre vergangen, und ich frage
mich: Warum ist die sozialdemokratische Fraktion nicht
in der Lage, diesen fertigen Entwurf des Kollegen
Stünker als Antrag oder Gesetzentwurf hier in die Debatte einzubringen?
({0})
Dann wären wir schon sehr viel weiter. Dann hätten wir
uns, zumindest die SPD und Bündnis 90/Die Grünen,
vielleicht schon darauf verständigen können. Dann hätte
auch die CDU/CSU noch die Möglichkeit - anders als
Kollege van Essen, der das vollständig ablehnt -, sich
einzubringen und mitzumachen.
Es ist doch wirklich ein Unding - Kollege Montag hat
das zu Beginn seiner Rede gesagt -, dass wir Abgeordnete anderer Länder unter Strafe stellen für einen Tatbestand, der in Deutschland für deutsche Abgeordnete
nicht strafbar ist. Geben Sie mir recht, dass das ein unhaltbarer Zustand ist und dass Sie sich möglichst schnell
an die Arbeit machen sollten, den Vorschlag des Kollegen Stünker in den Deutschen Bundestag einzubringen?
Lieber Herr Kollege Ströbele, ganz herzlichen Dank
für Ihre Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung. Ich
darf Sie beruhigen - das hatte ich eben auch schon angekündigt -: Die SPD wird die Debatte mit Vorschlägen
bereichern; sie wird Vorschläge vorlegen. Wir werden sicherlich auch an die umfangreichen Vorarbeiten anknüpfen. Sie wissen auch, dass es die SPD war, die sehr initiativ und drängend war und nach der Unterzeichnung
der UN-Konvention sehr schnell Vorschläge vorgelegt
hat.
Uns ist, wie Sie wissen, 2005 die Neuwahl dazwischengekommen.
({0})
Sie fragen sich, warum wir seitdem den Vorschlag des
Kollegen Stünker nicht vorgelegt haben.
({1})
- Ja, das will ich Ihnen ganz genau sagen: Wir haben regiert, aber, wie Sie sich vielleicht erinnern können, in anderer Konstellation. Wir waren in einer Großen Koalition
({2})
- das dürfen Sie gerne so sagen; die Bewertung muss jeder für sich treffen -, und die Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion der CDU/CSU haben verhindert, dass
wir zu einer gemeinsamen Vorlage zum Thema Abgeordnetenbestechung kamen. Deswegen werden wir jetzt
einen neuen Vorschlag machen. Wir werden uns an der
Debatte beteiligen. Seien Sie gespannt und gewiss, dass
wir auf bestimmte Vorschläge zurückkommen werden.
Ich hoffe natürlich, dass Ihnen unser Vorschlag dann
auch gefallen wird.
({3})
- Ja, wir werden im Herbst etwas vorlegen.
Ich möchte noch ganz kurz etwas erwähnen, das bei
der grundsätzlichen Frage, wie wir mit dem Thema Abgeordnetenbestechung umgehen, sehr wichtig ist. Wir
müssen eine sehr sorgfältige Trennung zwischen legitimer, sinnvoller und richtiger Interessenvertretung auf
der einen Seite und Korruption, Bestechung und Bestechlichkeit auf der anderen Seite vornehmen. Es ist
sehr wichtig - das haben wir bei unseren Debatten über
ein verbindliches Lobbyistenregister oder die Beschäftigung von Externen in der Bundesverwaltung schon angesprochen -, die Interessenvertretung, die wir in einer
Demokratie brauchen, von den Verwerfungen, von Vorteilsnahme, von Korruption, von Bestechung und Bestechlichkeit zu trennen.
Deswegen appelliere ich hier an uns alle, vor allen
Dingen an die Koalitionsfraktionen, von einem grundsätzlichen Nein abzurücken. Das Signal gegen Korruption, Bestechung und Bestechlichkeit muss von uns hier
im Deutschen Bundestag ausgehen.
({4})
Das ist wichtig. Wir haben es mit sehr vielen Vorurteilen
zu tun. Deswegen müssen wir jedem Eindruck von Korruption selbstbewusst entgegentreten und ihn zurückweisen.
Ich möchte ganz kurz eine Bemerkung zur UN-Konvention machen. Es ist schon gesagt worden, dass es uns
in Deutschland schadet, dass wir die Konvention nicht
ratifiziert haben. Wir müssen uns mit dem Thema Abgeordnetenbestechung befassen und endlich gesetzliche
Regelungen vornehmen. Ich will in diesem Zusammenhang auch etwas zum internationalen Ansehen Deutschlands sagen; das halte ich für nicht unwesentlich.
Kollegin Högl, gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?
Gerne. Bitte, Herr Kauder.
Liebe Frau Kollegin Högl, Sie haben zu Recht den
Bundestagspräsidenten Lammert erwähnt. Er sprach
aber nicht von einem Straftatbestand. Wir reden hier
über Bestechung und Bestechlichkeit von Amtsträgern.
Verstehen Sie sich als Amtsträger? Das sind wir nicht.
Wir sind freie Abgeordnete.
Die Österreicher haben versucht, dies über den Begriff des Amtsträgers zu regeln,
({0})
und gesagt: Der Abgeordnete ist ein Amtsträger. Das gilt
aber nur, wenn er sich wie folgt verhält. - Damit haben
sie den Amtsträgerbegriff wieder ausgehebelt. Sie haben
also einen Klimmzug gemacht, der letztendlich nichts
gebracht hat. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis:
Darüber sollten wir nachdenken. Fangen wir mit der
Diskussion noch einmal bei null an.
({1})
Reden wir nicht über Bestechung, Bestechlichkeit und
Korruption, sondern über Verhaltensmaßregeln. Das ist
ein ganz anderer Ansatz, den der Bundestagspräsident
meinte.
({2})
Das ist vielleicht ein besserer Weg als der, Abgeordnete
mit einem Amtsträger zu vergleichen.
Wir können den Herrn Bundestagspräsidenten bei Gelegenheit vielleicht fragen, was genau er mit seinen hinweisenden Bemerkungen gemeint hat.
({0})
Ich habe sie in dieser Richtung verstanden.
({1})
Lieber Herr Kollege Kauder, wir reden über Abgeordnetenbestechung. Da ist nicht die Rede von Amtsträgerinnen und Amtsträgern. Wir unterscheiden hier sehr
sorgfältig.
({2})
Ich möchte mich selbstverständlich nicht als Amtsträgerin, sondern als Abgeordnete verstanden wissen. Natürlich gehören dazu auch - das habe ich eben betont - das
freie Mandat und die Möglichkeit, Interessen aufzugreifen und zu vertreten. Deswegen müssen wir bei der Formulierung der Regelungen zur Abgeordnetenbestechung
sehr sorgfältig darauf achten, wie wir sie im Konkreten
ausgestalten. Wenn ich Ihre Hinweise zur konkreten
Ausgestaltung so verstehen darf, dass auch Sie grundsätzlich dafür sind, Regelungen zum Thema Abgeordnetenbestechung zu treffen, dann freue ich mich natürlich
sehr.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte eine Bemerkung zum internationalen Ansehen Deutschlands
machen. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, wie wir in
der Welt dastehen. Wir diskutieren zurzeit über den
Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien und
über den Beitritt von Kroatien zur Europäischen Union.
Welches Thema steht da ganz oben an? Das Thema Korruptionsbekämpfung.
({4})
Wir geben zur Korruptionsbekämpfung sehr wichtige
und sinnvolle Hinweise, auch bei unserem Einsatz in
Afghanistan. Ich finde es mehr als peinlich und sehr beschämend, dass Deutschland neben Syrien, Saudi-Arabien, Myanmar und dem Sudan eines der wenigen Länder der Welt ist, das die UN-Konvention gegen
Korruption noch nicht ratifiziert hat. Das sollten wir
schnellstmöglich ändern.
({5})
Ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, wie die
Positionen der Koalitionsfraktionen sind. Sie haben sich
dazu sehr im Detail geäußert. Vielleicht sind Sie, lieber
Herr Heveling, wenn Sie sich schon mit den Detailregelungen auseinandersetzen, im Grundsatz doch dafür zu
gewinnen, hier etwas zu tun.
Ich möchte zitieren, was die Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, Frau Dr. Grundmann, am 30. Juni
2010 - das ist noch gar nicht so lange her - auf die Frage
des Kollegen Movassat von den Linken geantwortet hat:
Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass
Deutschland das Übereinkommen der Vereinten
Nationen gegen Korruption so schnell wie möglich
ratifizieren kann.
Hört! Hört! Außerdem führte sie aus:
Den Entwurf für ein Vertragsgesetz … wird die
Bundesregierung unverzüglich vorlegen …
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
sind Sie der gleichen Auffassung wie die geschätzte
Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, oder sind
Sie anderer Auffassung?
({6})
Mich würde sehr interessieren, was Sie dazu sagen. Ich
würde mich freuen, wenn Sie sich der Auffassung Ihrer
eigenen Staatssekretärin anschließen würden; denn hier
besteht wirklich Handlungsbedarf. Wir müssen diesen
peinlichen Zustand schnellstmöglich beenden.
({7})
Ich will noch einige Bemerkungen zu der konkreten
Formulierung machen. Es ist in der Tat - auch Sie, Herr
Heveling, haben das gesagt - kein leichtes Thema.
({8})
Wir müssen bei der Formulierung der Norm sehr sorgfältig vorgehen.
({9})
- Ich glaube, Sie bekommen gleich nach meiner Rede
das Wort. Dann können Sie sich auch dazu äußern.
({10})
Wir brauchen eine klare Definition des strafbaren
Verhaltens. Wir müssen die Verwendung unbestimmter
Rechtsbegriffe vermeiden. Wir dürfen die Interpretation
dessen, was wir in den Straftatbestand einbeziehen, nicht
Dritten überlassen; das halte ich für ganz entscheidend.
Wir dürfen vor allen Dingen keinen Anlass für grundlose
Verdächtigungen und für einen Generalverdacht gegenüber Politikerinnen und Politikern geben. Ich glaube,
auch Sie, Herr Kauder, haben darauf angespielt, dass wir
dies auf jeden Fall vermeiden müssen.
Deswegen bin ich noch skeptisch, ob der Ansatz der
Grünen, den Vorteil mit dem Adjektiv „rechtswidrig“
einzugrenzen und dann auf ein verwerfliches Verhalten
abzustellen, richtig ist. Ich denke, dass wir eine andere,
bessere Definition des Vorteils benötigen, den Vorteil anders einschränken und vor allen Dingen das Verhältnis
Leistung und Gegenleistung im Rahmen der Abgeordnetentätigkeit ganz sorgfältig definieren müssen.
Lassen Sie uns doch gemeinsam allen Sachverstand,
der hier im Deutschen Bundestag versammelt ist, zusamDr. Eva Högl
mennehmen und auf der Basis der vorliegenden Vorschläge und der noch kommenden Vorschläge - unter
anderem von uns - gemeinsam eine bestmögliche Formulierung des Gesetzentwurfs erarbeiten. Das wäre
doch der richtige Weg, und das wäre ein gutes Signal
hier aus dem Deutschen Bundestag.
({11})
- Das hört sich gut an.
Ich möchte noch eine Bemerkung zum Thema Immunitätsrecht machen. Es ist noch ein wichtiger Zusammenhang zwischen einem Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und dem Immunitätsrecht, das wir hier
im Deutschen Bundestag haben, herzustellen. Deswegen
ist es wichtig, sich in diesem Zusammenhang auch über
die Ausgestaltung des Immunitätsrechts Gedanken zu
machen. Das möchte ich gerne in einem Zusammenhang
sehen.
Wir müssen uns darüber unterhalten, ob wir sagen,
der Vorteil, der entgegengenommen bzw. gewährt wird,
ist vorher zu genehmigen - das wäre eine Variante -,
oder ob wir sagen - man kann auch beide Varianten
gleichzeitig diskutieren -, dass die Verfolgung der Tat
der vorherigen Zustimmung durch den Deutschen Bundestag bedarf. Diese Variante favorisiere ich persönlich,
aber darüber müssen wir uns im Folgenden noch unterhalten.
Ich darf mich bedanken und schließe mit einem Appell insbesondere an die Koalitionsfraktionen: Überlegen Sie noch einmal, ob Ihre Staatssekretärin im Bundesjustizministerium vielleicht doch nicht ganz falsch
liegt, dass es sich nämlich lohnt, die UN-Konvention zu
ratifizieren und gemeinsam mit uns an einer guten Regelung zur Abgeordnetenbestechung zu arbeiten, die überfällig ist.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege van Essen für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß nicht, zum wievielten Male ich jetzt hier stehe
und etwas zur Abgeordnetenbestechung sage.
({0})
- Ja, es ist ganz schwierig. Das ist die gleiche Problematik, die auch der Kollege Heveling schon aufgezeigt hat.
Es sind eigentlich alle Argumente ausgetauscht.
Was noch nicht ausgetauscht wurde - deshalb bin ich
dem Kollegen Heveling ganz dankbar -, ist, dass von der
linken Seite des Hauses der Eindruck erweckt wird: Da
ist die böse CDU/CSU, da ist die böse FDP.
({1})
Der Kollege Montag hat mir sogar unterstellt, ich
hätte es gut gefunden, dass ein Abgeordneter nicht bestraft wird.
({2})
- Herr Kollege, ich schätze Sie außerordentlich. Dass
Sie zu einem solchen Argument greifen müssen, zeigt
aber, wie schlecht Ihre Argumente sind.
({3})
- Er hat mich natürlich nicht zitiert, sondern er hat hier
schlichten Unsinn vorgetragen.
Es gehört natürlich zur Geschichte, dass die hier gelobte Bundesjustizministerin eine UN-Konvention, die
heute auch auf Vorschlag der Grünen zur Diskussion
steht, unterzeichnet hat.
({4})
Sie hat das damals gegen den ausdrücklichen Widerstand der damals größten Fraktion, der SPD, getan. Sie
hat das auch gegen den ausdrücklichen Widerstand des
damaligen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers
der Grünen, des Kollegen Beck, getan, der heute wahrscheinlich nicht ohne Grund nicht hier ist.
({5})
- Ja, das können Sie gerne ausrichten. - Der Kollege
Beck hat das in gleicher Weise getan, wie das CDU/CSU
und FDP auch getan haben.
Der Grund ist unverändert gleich und richtig: In der
UN-Konvention wird ganz allgemein von Amtsträgern
gesprochen, und es ist klar, dass es Unterschiede zwischen Abgeordneten und Beamten gibt.
({6})
Der Beamte hat seinen Pflichten neutral nachzukommen. Ein Abgeordneter hat nach dem Grundgesetz ein
freies Mandat und kann auch völlig einseitige Interessen
vertreten, was ein Beamter zu Recht nicht darf. Das ist
ein ganz wesentlicher Unterschied. Deshalb ist es auch
schwierig, das rechtlich zu fassen. In der Debatte hier,
die wir erlebt haben, wurde das ja auch deutlich. Die rotgrüne Koalition hat damals sehr lange Zeit zusammengesessen, weil sie die Probleme offensichtlich gesehen und
sehr lange gebraucht hat, bis überhaupt irgendetwas zur
Abstimmung kam.
Das Ganze ist nicht eingebracht worden, und wir haben hier auch gehört, dass es bei den Grünen dann ganz
offensichtlich Widerstand gegen die Formulierung gegeben hat - wieder vom Kollegen Beck, der der Bundesjustizministerin ja vorher auch schon deutlich gemacht
hatte, dass er der Auffassung ist, dass die Bundesrepublik Deutschland das Abkommen der Vereinten Nationen nicht unterzeichnen sollte. Das ist bis heute unverändert meine Auffassung, weil ich großen Wert darauf
lege, dass es keine Verbeamtung des Deutschen Bundestages gibt.
({7})
Ich komme zu einem zweiten Punkt, der mir wichtig
ist. Kollege Stünker hat in einer früheren Debatte exzellent aufgezeigt, dass es schwierig ist, mit bestimmten
Begriffen zu arbeiten. In der Diskussion ging es um
Geldbündel, die übergeben werden; das könnte man
rechtlich noch fassen. Aber wenn eine Schulausbildung
ermöglicht wird - Sie haben ein Beispiel genannt; es
gibt viele unterschiedliche Fälle, die man sich vorstellen
kann -, dann ist das strafrechtlich schwer zu fassen.
Zu den Prinzipien des Rechtsstaates gehören Normenklarheit und Normenwahrheit. Das ist das Problem.
Frau Kollegin Högl hat in einem Nebensatz darauf hingewiesen, dass es viele rechtliche Probleme gibt. Ja, sie
sind unbestreitbar vorhanden. Ich bin Ihnen dankbar,
dass Sie das angesprochen haben. Von daher ist unser
Vorgehen nicht Unwillen. Vielmehr haben wir Probleme,
die wir nicht vernünftig lösen können. Dazu gehört zum
Beispiel auch, dass es einen Unterschied zwischen den
Abgeordneten des Bundestages und der Landtage auf der
einen Seite und denen der kommunalen Vertretungen auf
der anderen Seite gibt.
({8})
Auch das ist rechtlich schwierig. Ich weiß, dass das in
der Öffentlichkeit nicht immer ankommt. Wenn ich die
Zuschauer oben auf der Tribüne fragen würde: „Muss
das sein?“, dann würde mit Sicherheit jeder sagen: Klar
muss das so sein!
({9})
Trotzdem bitte ich um Verständnis, dass wir darauf achten müssen, dass auch die Abgeordneten Rechtsvorschriften vorfinden, die den Ansprüchen eines Rechtsstaates genügen.
({10})
Ein weiterer Punkt, der für mich wichtig ist, ist das
Immunitätsrecht. Frau Kollegin Högl, Sie haben es angesprochen, wofür ich sehr dankbar bin. Wir haben in
Deutschland die Tradition, dass wir eine Aufhebung der
Immunität in aller Regel durchwinken, und das ist auch
gut so. Ich finde, dass sich jeder Abgeordnete, wenn ein
strafrechtlicher Vorwurf gegen ihn erhoben wird, den
Gerichten zu stellen hat. Die Staatsanwaltschaften müssen ermitteln können. Weil wir das so großzügig tun, ist
die Versuchung, Vorwürfe gegen jemanden zu erheben
und damit staatsanwaltschaftliche Ermittlungen loszutreten, bei uns besonders hoch. Wir alle kennen Fälle - ich
bin seit 1994 im Immunitätsausschuss -, in denen aus
politischen Gründen bestimmte Vorwürfe erhoben worden sind. Ein Kollege fand sich mit solchen Vorwürfen
konfrontiert in den großen Zeitungen wieder. Als sich
hinterher herausgestellt hatte, dass alle diese Vorwürfe
aus der Luft gegriffen waren, haben die Zeitungen leider
vergessen, das der Öffentlichkeit mitzuteilen.
({11})
Deshalb haben wir die Verantwortung gegenüber den
Kollegen, die sich einem strafrechtlichen Vorwurf ausgesetzt sehen, dass wir klare und eindeutige Vorschriften
anwenden, wenn wir Vorwürfe gegen sie erheben.
({12})
Mein Wunsch ist deshalb - in den Beratungen werden
wir das tun -, dass wir uns zusammensetzen. Vielleicht
fällt dem einen oder anderen, trotz der Schwierigkeiten,
die ich aufgezeigt habe, etwas Neues ein.
({13})
Bisher habe ich leider nichts Neues gehört. Ihr schlechter Vorschlag von 2008 ist durch das Liegenbleiben nicht
besser geworden.
({14})
Trotzdem bin ich der Auffassung, dass wir über dieses
Thema reden sollen und müssen. Frau Högl, insofern
nehme ich Ihr Angebot an.
Vielen Dank.
({15})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Montag
das Wort.
({0})
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege van Essen,
Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte Sie nicht richtig zitiert, es sei Unsinn gewesen, was ich erzählt habe.
({0})
Sie haben Recht: Die rechtsstaatliche Abfassung von
Strafnormen unter der Berücksichtigung des Grundsatzes der Normenklarheit ist schwierig. Aber ich habe
noch nie gehört, dass dies dazu geführt hätte, dass dieses
Parlament bei Strafvorschriften, die es für notwendig
hält und die die Menschen draußen betreffen, gesagt
hätte: Weil es so schwierig ist, machen wir es lieber
nicht.
({1})
Nur hier in diesem Falle wollen Sie ein Sonderrecht haben.
({2})
Das ist das, was ich kritisiere, nicht, dass die Sache
schwierig ist.
Nun, Herr Kollege van Essen, komme ich zu dem Zitat. Am 8. April 2011 haben wir hier im Plenum diskutiert. Frau Kollegin Wawzyniak hat geschildert, wie ein
Europaabgeordneter gefilmt worden ist, als er sich - ich
kürze das einmal ab - hat bestechen lassen. Dazu sagen
Sie ausweislich des Protokolls Folgendes:
Sie
- damit ist Frau Wawzyniak gemeint hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vorgang,
der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parlament abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich
- das sind Sie, Herr van Essen habe die Bilder gesehen, die zeigten, wie ein Abgeordneter aus Österreich die Verhandlungen führte
und sich für bestimmte Dinge bezahlen lassen
wollte … Das sehe ich genauso wie Sie, Herr
Hartmann. Das ist eine Schande. Auf der anderen
Seite hat sich gezeigt: Kontrolle funktioniert …
Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete
hat eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten
bekommen, als es jede strafrechtliche Verurteilung
sein könnte. Er musste sein Mandat aufgeben und
ist gesellschaftlich geächtet. Das ist, finde ich, eine
Strafe, die durch keinen Strafrichter höher ausgesprochen werden könnte.
Lieber Herr Kollege van Essen, dies habe ich sinngemäß zitiert, als ich Ihnen gesagt habe, Sie seien der Meinung, für alle Bürger dieses Landes sei es richtig, bei einer Straftat von einem Strafrichter bestraft zu werden,
aber bei uns Abgeordneten sei es besser, wir würden
nicht bestraft; denn die höhere Strafe sei, dass wir in der
Öffentlichkeit geächtet wären. Ich glaube, Sie sollten
den Vorwurf gegen mich, dass ich falsch zitiert habe, zurücknehmen.
({3})
Der Kollege van Essen hat das Wort.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mich wörtlich zitiert haben. Ich glaube, jeder, der mein wörtliches Zitat
gehört hat, hat gemerkt, dass der Vorwurf, den Sie in Ihrer Rede gegen mich erhoben haben, völlig falsch ist.
Es ist richtig, dass ich gesagt habe - das bleibt auch
meine Meinung -: Der Kollege aus Österreich, der gefilmt worden ist, hätte möglicherweise eine Geldstrafe
bekommen. Das, was jetzt passiert ist, dass nämlich
seine politische Karriere zu Ende ist, dass er öffentlich
geächtet ist, dass er all das verloren hat, was er sich aufgebaut hat, ist natürlich eine höhere Strafe, als sie jeder
Strafrichter verhängen könnte. Dass uns das aber nicht
davon entbindet, das, was wir dort an Fehlverhalten gesehen haben, strafrechtlich zu fassen zu versuchen, habe
ich in meiner Rede deutlich gemacht. Deshalb weise ich
erneut den Vorwurf, den Sie mir gegenüber erhoben haben, mit Nachdruck zurück.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben über dieses Thema bereits am
8. April diskutiert. Die Debatte hier zeigt: Seitdem hat
keiner von uns neue Erkenntnisse gesammelt oder seine
Position grundlegend geändert. Neue Argumente sind
hier nicht genannt worden. Aber immerhin treten Grüne
und die Linksfraktion in den Wettbewerb um die beste
juristische Formulierung im Detail.
({0})
Sinnvoll ist das nur bedingt. Sinnvoll wäre es, gemeinsam an einer Vorlage zu arbeiten.
({1})
Zumindest die Oppositionsfraktionen könnten dabei
schnell eine Einigung erzielen. Natürlich ist dafür noch
ein bisschen Feinarbeit nötig, aber das wäre sehr lohnenswert; denn am Ende stünde ein breiter Konsens, zumindest in der Opposition. Das wäre gut.
Besser wäre es, wenn sich auch die Regierungsfraktionen an der Arbeit, einen Konsens zu erzielen, beteiligen würden. Aber ich habe Herrn van Essen so verstanden, dass er das in Angriff nimmt. Ein Konsens wäre
gut, weil dieses Thema uns alle betrifft. Wir täten gut daran, ein klares Signal an die Öffentlichkeit zu senden,
wie wir als Parlament uns diesem Thema stellen.
({2})
Worum geht es? Wir sind gefordert, einen Missstand
zu beseitigen. Deutschland hat die UN-Konvention gegen Korruption aus dem Jahr 2003 nicht ratifiziert. Bislang ist hierzulande nur der Stimmenkauf verboten. Es
geht um den Kampf gegen Korruption und darum, dass
Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten
strafbar sein sollen. Niemand soll und darf sich - auf
keiner Ebene - mit Geld politisches Handeln kaufen.
Darauf muss jede Bürgerin und jeder Bürger vertrauen
können. Dafür müssen wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen bzw. sie verbessern.
({3})
Ich frage Sie: Warum sollten wir uns auf andere - und
sei es die notwendige vierte Gewalt im Staate, also die
Medien - verlassen, wenn wir selbst etwas tun können,
um Bestechlichkeit und Bestechung zu unterbinden? Es
ist unsere Aufgabe, und dieser Aufgabe sollten wir uns
stellen.
({4})
Im Gegensatz zu den Regierungsfraktionen sind
Linke und Grüne der Meinung, dass es not- und der Demokratie guttut, Regelungslücken zu schließen, und dass
es nicht ausreicht, die Aufdeckung von Korruption den
Medien zu überlassen. Deshalb haben sowohl Grüne als
auch wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, nein, leider keinen gemeinsamen, sondern jeweils einen eigenen.
Ich habe mir die Mühe gemacht, beide Gesetzentwürfe zu vergleichen, um zu sehen, wo die Unterschiede
sind. Sie sind marginal. In den meisten und wichtigsten
Punkten stimmen die beiden Gesetzentwürfe überein. Es
gibt einen wirklich essenziellen Unterschied zwischen
den Anträgen in zwei Punkten. Das eine ist die Versuchsstrafbarkeit. Die wollen wir, die wollen Sie nicht.
Den Vorschlag der Grünen, auch Wahlbewerber und
Wahlbewerberinnen in die Regelung aufzunehmen, finden wir gut. Da, finde ich, kann man doch zusammenkommen.
({5})
Seitens der Regierungsfraktionen sind leider keine
Fortschritte in der Diskussion zu erwarten. Immerhin hat
Herr van Essen heute darauf verzichtet, uns im Hinblick
auf die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korruption durch inzwischen 75 Staaten, zu denen unter anderem Großbritannien, Frankreich und die USA gehören,
vorzuhalten, dass wir auch den Unterzeichnerstaat China
aufgeführt haben. Ansonsten war wenig Neues zu hören.
Die Koalitionsfraktionen haben auch heute darauf
verzichtet - im Nachgang zur letzten Debatte muss man
das allerdings noch einmal sagen -, darauf hinzuweisen,
dass sie finden, dass die Einbeziehung auch von Mitgliedern von Gemeindevertretungen nicht eingeführt werden
sollte. Das Motto war damals: Völkerrechtliche Vereinbarungen gelten für uns nur, wenn sie uns passen.
Ich glaube, dass wir uns selbst und der Sache keinen
großen Gefallen tun, wenn wir jetzt bis in die letzte Detailfrage weiter einen Wettstreit führen. Es ist, glaube
ich, nötig, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen. Ich würde mich freuen, wenn wir alle gemeinsam
dafür sorgen, dass es endlich eine gesetzliche Regelung
gibt.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksache 17/5933 und 17/5932 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({1}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
1937 ({3}) vom 30. August 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/5864, 17/6133 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6134 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Stinner für die FDP-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als wir vor einem Jahr über dieses Mandat gesprochen
haben, hätte wohl niemand von uns im Traum daran gedacht, unter welch regionalpolitischem Kontext wir uns
heute mit diesem Mandat beschäftigen müssen. Die Welt
in der Region hat sich dramatisch verändert, verändert
sich täglich aufs Neue. Natürlich müssen wir uns heute
bei der Debatte über das Mandat überlegen, ob denn
diese regionale Veränderung Auswirkungen auf die
Ziele, den Inhalt und die Durchführung dieses Mandates
hat. Das haben wir sehr genau geprüft, und ich möchte
dazu einiges sagen.
Erstens ist klar, dass das UNIFIL-Mandat der Stabilisierung in der Region dient. Das wird von allen Anrainern so gesehen. Alle Anrainer bitten uns inständig - ich
darf das hier so nachdrücklich sagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen -, diese Aufgabe auch in Zukunft fortzusetzen, weil natürlich alle Anrainer verstehen, dass auch
im gegenwärtigen Kontext eine solch stabilisierende
Funktion notwendig ist.
Wir haben im letzten Jahr eine Umorientierung und
Neufokussierung des Mandates vorgenommen, weil wir
der Meinung waren, dass die Überwachung auf See nicht
Daueraufgabe der deutschen Marine sein kann. Nein, es
muss auch hier darum gehen, dass wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Wir haben bei der Neuorientierung des
Mandates im letzten Jahr den Schwerpunkt auf die Ausbildung der libanesischen Marine gelegt, damit wir die
Marine im Libanon schrittweise ermächtigen, die Aufgaben selbst wahrzunehmen, und wir dem Ziel nahekommen, auch dieses Mandat richtig gut abschließen zu
können.
({0})
Diese Aufgabe ist noch nicht erfüllt, wie wir alle wissen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich durch
Besuche vor Ort ein Bild gemacht. Wir wissen, dass die
libanesische Marine noch nicht so weit ist, aber daran
wollen wir weiter arbeiten.
Zweitens haben wir uns - auch das ist wichtig - sehr
nachhaltig für den Aufbau von zivilen Kapazitäten eingesetzt. Ich nenne den Aufbau von Radarstationen. Auch
das ist wichtig und richtig. Ich bin sehr dankbar, dass die
Bundesregierung die Mittel hierfür bereitgestellt hat.
Wir wollen das auch in Zukunft tun.
UNIFIL ist ohne jeden Zweifel ein stabilisierendes
Instrument, und zwar sowohl an Land als Puffer zwischen Israel und den Hisbollah-Kräften als auch auf See.
Ich möchte noch einmal unseren Soldatinnen und Soldaten ausdrücklich dafür danken - ich hoffe, auch in Ihrer
aller Namen, meine Damen und Herren -, dass sie diese
Aufgabe für die Stabilität in der Region nachhaltig wahrnehmen.
({1})
Es hat sich nicht nur in der Region vieles geändert.
Auch im Libanon hat sich in den letzten zwölf Monaten
einiges verändert. Mit Bedauern müssen wir feststellen,
dass bis zum heutigen Tage immer noch keine neue libanesische Regierung steht.
({2})
Den alten Premierminister kannten wir. Herr Hariri
war kalkulierbar. Er war auch in Berlin zu Gast. Herr
Miqati ist in der Warteschleife. Ich weiß nicht, was die
gestrigen Gespräche ergeben haben. Es hat gestern
Abend wohl ein Gespräch zwischen Miqati, Berri und
Aoun gegeben. Ich weiß nicht, was dabei herausgekommen ist. Wir können nur hoffen, dass es im Libanon bald
eine neue, möglichst stabile Regierung geben wird. Aber
ich verhehle nicht, dass wir in den nächsten Monaten
sehr genau beobachten müssen, welche innenpolitischen
Auswirkungen das im Libanon haben wird. Denn es
kann Einfluss auf unser Mandat haben. Wir werden uns
spätestens in einem Jahr, vielleicht aber auch schon früher damit befassen müssen, welche Auswirkungen das
hat. Welche Rolle die Hisbollah in Zukunft in der Regierung haben wird und wie sie eventuell bestimmte Positionen durchsetzen möchte, hat sicherlich Einfluss.
Aber auch die Situation in Syrien hat großen Einfluss
auf die Situation im Libanon. Es gibt in Syrien bis zum
heutigen Tage Kräfte, die der Meinung sind, dass Libanon eigentlich ein Teil von Syrien ist. Nach wie vor besteht in Syrien der Anspruch, nachhaltig Einfluss auf Libanon auszuüben.
Wir wissen nicht, wie die Entwicklung in Syrien ausgehen wird. Ich darf aber sehr deutlich sagen: Nach meinem Dafürhalten ist auch das Regime von Herrn Assad
in Syrien am Ende. Wir sind uns sicherlich alle einig in
der Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens der syrischen Regierung gegen die eigenen Bürger.
({3})
Das heißt, auch in Zukunft werden wir die Auswirkungen der regionalen Veränderungen auf das Mandat
betrachten und diese mit einbeziehen müssen. Nachdem
wir die Schwerpunktsetzung geändert haben, möchten
wir sehr genau kontrollieren, ob auf Dauer ein solcher
deutscher Einsatz notwendig ist. Das werden wir genau
prüfen.
Aber ich stelle abschließend eindeutig fest: Zum heutigen Zeitpunkt braucht die Region nach wie vor das stabilisierende Instrument von UNIFIL. Zum heutigen Zeitpunkt ist unser Einsatz für die Ausbildung der
libanesischen Marine unabdingbar notwendig. Zum heutigen Zeitpunkt können wir uns zum Glück darauf berufen, dass alle Anrainerstaaten das genauso sehen. Deshalb darf ich Ihnen sagen, dass ich es richtig finde, dass
die Bundesregierung das Mandat vorlegt. Meine Fraktion wird deswegen heute diesem Mandat zustimmen.
Schönen Dank.
({4})
Die Kollegin Evers-Meyer hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
UNIFIL ist ein Einsatz der Bundeswehr, der regelmäßig
von den Meldungen aus Afghanistan überlagert wird.
Deswegen spreche ich hier zuallererst im Namen meiner
Fraktion allen Soldatinnen und Soldaten und den zivilen
Beschäftigten, die bei UNIFIL ihren Dienst leisten, unseren Dank und unsere Anerkennung aus.
({0})
Der Dank schließt auch die Familien ein, für die diese
langen Einsätze eine enorme Belastung sind. Wir schät13074
zen ihre Arbeit vor Ort, und wir sind von der großen Bedeutung dieser Arbeit überzeugt. Deswegen werden wir
dem vorliegenden Mandat auch in diesem Jahr zustimmen.
UNIFIL ist ein wichtiger Einsatz. Die Marine leistet
dort gute Arbeit und sendet ein wichtiges Signal für Sicherheit, Frieden und Stabilität in der Region. Die deutschen Schiffe vor der Küste Libanons helfen mit, den
zerbrechlichen Frieden zu stabilisieren. Sie sind dort
willkommen, und zwar bei allen Beteiligten. Nicht zuletzt deshalb waren wir immer davon überzeugt, dass
dieser Einsatz richtig und wichtig ist.
Die Kernaufgabe des Mandats, also Waffenschmuggel über See in den Libanon zu verhindern, bleibt aktuell. Zwar wurden im vergangenen Jahr Fortschritte gemacht - das Küstenradarsystem ist bis auf drei
Radarstationen fertig -, aber die libanesische Marine ist
trotz aller Anstrengungen gerade auch unserer Marine
vor Ort noch nicht in der Lage, ihre Aufgaben verlässlich selbst zu übernehmen. Wenn man die kleinen Schiffchen sieht, die das Meer überwachen sollen, dann muss
man schon sagen, dass wir uns ein wenig mehr anstrengen könnten.
Ein zweiter wichtiger Punkt bei diesem Einsatz ist
deshalb die Ausbildung der örtlichen Kräfte. Die Verstärkung der Anstrengungen bei der Ausbildung findet
unsere ausdrückliche Unterstützung. Eine gut ausgebildete libanesische Marine mit funktionierendem Material
ist für uns ein zentrales Ziel, ohne das UNIFIL der entscheidende Baustein für den nachhaltigen Erfolg fehlen
würde.
Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich der
Nahe Osten stabilisiert. Das gilt angesichts der Veränderungen in Nordafrika, aber auch in Syrien heute mehr
denn je. Das hätte man auch noch etwas deutlicher, so
finde ich, in den Antrag schreiben können. Deutschland
ist von allen Seiten, von Israel, vom Libanon und von
den Vereinten Nationen, aufgefordert worden, die Mission fortzusetzen. Das ist eine Bitte, die uns stolz machen sollte und die wir nicht abschlagen sollten. Sie
zeigt, dass wir, vertreten durch unsere Soldatinnen und
Soldaten vor Ort, ein sehr hohes Ansehen genießen. Ein
friedensstabilisierender Einsatz, der von allen Beteiligten ausdrücklich gewünscht wird, ist selten, und das sollten wir entsprechend würdigen.
Ungeachtet dieser eindeutigen Faktenlage kommen
andere Kolleginnen und Kollegen aber zu einem anderen
Ergebnis. Warum, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der FDP, versuchen Sie seit Beginn von UNIFIL,
diesen Einsatz zu verstecken? Sie tun das immer noch.
Warum bleibt es bei der willkürlichen Mandatsobergrenze von 300 Mann? Sie wissen doch: Das sind zu wenige. Das reicht natürlich aus, um zwei Minenjagdboote
und ein Versorgungsschiff vor der libanesischen Küste
zu stationieren, aber - das wurde mir bei meinem Besuch im Libanon im vergangenen Jahr immer wieder bestätigt - es reicht eben nicht, um eine Lead-Funktion in
diesem friedensstabilisierenden Einsatz zu übernehmen.
Dafür hätten wir nur 50 Soldatinnen und Soldaten mehr
ins Mandat schreiben müssen. Diesen Fehler haben Sie
bei der letzten Mandatsverlängerung schon gemacht. Sie
wollen ihn offensichtlich mit dieser Verlängerung nicht
beseitigen.
Das bedeutet aber, dass Deutschland bei diesem wichtigen UN-Einsatz auf der Führungsebene nicht vertreten
ist. Das muss man sich einmal vorstellen! Stattdessen
übernehmen jetzt Länder wie Brasilien die Führungsrolle. Nicht, dass wir etwas gegen Brasilien hätten,
({1})
aber Brasilien schickt keine Schiffe ins Mittelmeer, dafür 20 Führungsoffiziere, die den Einsatz leiten. Bitte erkläre mir einmal einer die deutsche Politik!
Wenn Deutschland wirklich ein Interesse an diesem
Einsatz hat und wenn es in den Vereinten Nationen eine
bedeutendere Rolle spielen will, dann hätte sich bei
UNIFIL und insbesondere bei dieser Mandatsverlängerung die Möglichkeit ergeben, unseren Anspruch konkret umzusetzen. Das haben Sie verspielt. Warum, bleibt
Ihr Geheimnis.
Ich weiß nur, dass Sie damit Deutschlands Ansehen in
der Region eher schaden, und Sie schaden vor allen Dingen der Motivation unserer Soldaten vor Ort; denn sie
haben kein Verständnis dafür, dass sich Deutschland an
UNIFIL zwar beteiligt, aber keine Führung in dieser
Mission übernehmen will. Das ist Ihr politisches Versäumnis.
({2})
Ich will hier einmal mehr sehr klar sagen, was mir
wirklich Sorge bereitet - das geht vielen anderen in meiner Fraktion genauso -: Wir werden seit 2009 außenpolitisch nicht gut vertreten.
({3})
Der Außenminister lässt auch nach knapp zwei Jahren
im Amt eine Linie vermissen. Es fehlt an Führung, es
fehlt an Entscheidungen und klaren Positionen. Schon
hier bei UNIFIL, einem wirklich wichtigen, überschaubaren und unterstützenswerten Einsatz, fehlt es dem Außenminister an jedweder Motivation. Herr Minister
Westerwelle, Sie sind doch für dieses Mandat verantwortlich. Es wäre gut, wenn Sie neben schönen Bemerkungen über die Demokratisierung in der arabischen
Welt einige handfeste Erklärungen dazu liefern könnten,
warum Deutschland bei UNIFIL so sehr hinter seinen
Möglichkeiten und Ansprüchen zurückbleibt.
Dieser Einsatz ist sinnvoll. Er wird von der internationalen Gemeinschaft getragen und vor Ort von allen
unterstützt. Dieser Einsatz verdient ein ernsthaftes Engagement der deutschen Regierung. Mit der Mandatsbegrenzung auf 300 Soldatinnen und Soldaten setzen Sie
das falsche Signal. Es bleibt der Eindruck, auch bei unseren Partnern, dass wir uns in der Region - das ist mir
persönlich gesagt worden - nicht ernsthaft und nicht an
verantwortlicher Stelle einbringen möchten. Das ist bedauerlich; denn UNIFIL würde eine gute Möglichkeit
dafür bieten. So bleibt uns nur die Hoffnung, dass in den
verbleibenden zwei Jahren etwas mehr außenpolitische
Weitsicht gezeigt wird.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Hahn für die Unionsfraktion.
({0})
Ja, so ist es, Herr Kollege. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Anfangs
hatte die UNIFIL-Mission zwei Ziele: zum einen die
Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah zu überwachen und zum anderen den Wiederaufbau im Libanon
abzusichern. Hierbei haben wir nachhaltige Erfolge erzielt. Doch wir können und sollten nicht dauerhaft in der
Region präsent sein. Das haben wir auch so im Koalitionsvertrag festgelegt; der Kollege Stinner hat zu Recht
darauf hingewiesen. Wir müssen die aktuellen Entwicklungen trotzdem weiterhin verantwortungsvoll beobachten.
Um sukzessiv die Verantwortung in die Hände der libanesischen Streitkräfte übergeben zu können, haben wir
uns im letzten Jahr entschieden, unseren Schwerpunkt
auf die Ausbildung der Marine zu setzen. Hierbei konnten wir bereits gute Fortschritte erzielen. Mein Dank gilt
an dieser Stelle allen unseren Soldatinnen und Soldaten,
die bislang dort ihren Dienst versehen haben. Die Erfolge, die wir für den Libanon und die gesamte Region
erzielen konnten, sind auch ihre Erfolge. Für ihr künftiges Wirken wünsche ich ihnen weiterhin Gottes Segen.
({0})
Ich konnte mich bei meinem letzten Besuch im vergangenen Jahr in persönlichen Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten davon überzeugen, dass erstens die nötige Motivation vorhanden ist und dass sie zweitens fest
daran glauben, dass unsere Hilfe zur Selbsthilfe ankommt und ein tragfähiges Konzept darstellt. Unser Erfolg zeigt sich auch darin, dass wir zu Beginn des Mandats eine personelle Obergrenze von 2 400 Soldaten
hatten und dass wir diesen Auftrag heute mit 300 Soldaten sehr gut wahrnehmen können.
Unser Ziel ist es, dass Libanon mittelfristig selbstständig die Seegrenzen überwachen kann. Deutschlands
bilaterale Aufbau- und Ausrüstungshilfe hat Libanon bereits befähigt, zumindest in Teilen die Überwachung der
Hoheitsgewässer selbst zu übernehmen. An dieser Stelle
appelliere ich aber auch an die Verantwortlichen im Libanon, den Willen zur Verantwortungsübernahme zu zeigen und das Ausbildungsangebot großzügig anzunehmen.
Im Rahmen des vernetzten Ansatzes wird Deutschland auch künftig verstärkt den libanesischen Fähigkeitsaufbau fördern. Hierzu gehören neben den Beteiligungen
am UNIFIL-Flottenverband auch politische, wirtschaftliche und sozioökonomische Maßnahmen. So beraten
beispielsweise Experten der Bundespolizei und des Zolls
seit September 2006 die zuständigen libanesischen Behörden in Fragen der Grenzsicherheit mit finanzieller
Unterstützung aus Mitteln des Auswärtigen Amtes. Sie
sind am Flughafen Beirut, an den Seehäfen und an der
Nordgrenze zu Syrien beratend tätig. Die Beratertätigkeit ist mit entsprechender Ausbildungs- und technischer
Ausstattungshilfe durch die Bundespolizei und den Zoll
verbunden.
Zum Wiederaufbau des im Sommer 2007 zerstörten
Flüchtlingslagers leistet die Bundesregierung aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit und der zivilen
Krisenprävention ebenfalls wesentliche Beiträge. Sie
trägt dadurch zur Verbesserung der Lebensbedingungen
der palästinensischen Flüchtlinge bei.
Dies sind nur zwei Beispiele unserer vielschichtigen
und sehr erfolgreichen Hilfe.
Auch wenn von der Seeseite Waffenlieferungen
merklich eingedämmt sind und der zivile Wiederaufbau
vorangeht, können wir leider nicht von einer entspannten
Situation vor Ort sprechen. Denn seit Monaten gibt es
keine stabile Regierung. Doch ein stabiler Libanon ist
für die Sicherheit Israels und der Gesamtregion maßgeblich und wichtig. Umso wichtiger ist es, dass Stabilität
dauerhaft hergestellt wird. Die Unruhen in den letzten
Monaten im Grenzgebiet zwischen Israel, Syrien und Libanon sind ein klares Zeichen dafür, wie angespannt die
Lage noch ist. Wir wissen leider, dass diese auch plötzlich eskalieren kann. UNIFIL hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Situation nicht weiter verschärft wurde.
Sowohl die libanesische als auch die israelische Regierung haben ausdrücklich um die Aufrechterhaltung
des deutschen Engagements gebeten. Nur UNIFIL bietet
einen von beiden Seiten anerkannten Rahmen für direkte
Kontakte zur Klärung und Beilegung von Zwischenfällen. So schätzen sowohl Israel als auch Libanon gleichermaßen die Rolle der Mission als bilateralen und regionalen Stabilitätsanker.
Auch vonseiten der für friedenserhaltende Maßnahmen zuständigen Abteilung des Sekretariats der Vereinten Nationen wurde großes Interesse an der Fortsetzung
der deutschen Beteiligung bei UNIFIL bekundet.
Daher bitte ich Sie alle um Zustimmung zur beantragten Mandatsverlängerung.
Herzlichen Dank.
({1})
Die Kollegin Buchholz hat für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
stimme Herrn Stinner zu: Der arabische Frühling bietet
Chancen für den Frieden im Nahen Osten. Allerdings
glaube ich im Unterschied zur SPD, dass wir das nicht
unterstützen, indem wir noch mehr Soldaten in die Region schicken, sondern dass wir das unterstützen, indem
wir gar keine schicken.
({0})
Die Linke lehnt den UNIFIL-Einsatz ab.
({1})
Ich möchte hier die wichtigsten Argumente dafür anführen.
Als Allererstes: Das Mandat ist nicht neutral. Mit dem
Mandat wird zwar versucht, die Waffenlieferungen in
den Libanon zu unterbinden, aber gleichzeitig werden
die ungehemmten Waffenlieferungen an Israel ignoriert.
Der Bundestag hat in den nächsten Wochen die Gelegenheit, diese Einseitigkeit zu beenden, indem er den
Anträgen der Linken gegen alle Waffenlieferungen in
den Nahen Osten zustimmt.
({2})
Auch wenn ich nach der heutigen Debatte pessimistisch bin, was die Position der anderen Parteien angeht,
denken wir, dass das der richtige Weg ist. Wenn Sie dem
nicht zustimmen, ist unsere Position wieder einmal bestätigt, dass Ihr Gerede davon, Frieden zu schaffen,
nichts anderes als geheuchelt ist.
({3})
Zweitens wurde 2006 das bisherige UNIFIL-Mandat
grundlegend erweitert, um die Einhaltung des Waffenstillstands in einer aktuell angespannten Situation nach
dem Libanon-Krieg zu überwachen. Aber nun sind die
Truppen bereits seit fünf Jahren dort, und es ist kein
Ende in Sicht. Alles sieht nach einer dauerhaften Stationierung aus. Vielleicht war das ja auch ein Grund, warum die FDP bis zu ihrem Eintritt in die Regierung eine
kritische Position zum Mandat hatte und selbst in den
Koalitionsvertrag einen schrittweisen Ausstieg aus
UNIFIL hineinverhandelt hatte. Davon ist leider heute
nicht mehr viel zu spüren.
({4})
Ob man es sinnvoll findet oder nicht - ich persönlich
finde es nicht sinnvoll -: Wenn es bei UNIFIL um einen
Beitrag zur Ausbildung der libanesischen Marine geht,
so gilt: Man kann auch bilaterale Vereinbarungen dazu
treffen; dazu braucht man kein umfassendes robustes
Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta.
({5})
Drittens. UNIFIL ist ein Einsatz, wie gesagt, nach Kapitel VII der UN-Charta. Das schließt die Möglichkeit
militärischer Zwangsmaßnahmen ein. Dadurch entsteht
das Risiko, dass die UNO-Truppen in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden und deren Rolle
als ein von allen Seiten akzeptierter neutraler Partner
nicht mehr anerkannt wird. Im schlimmsten Fall wird die
UNO zu einer Kriegspartei. Das lehnt die Linke prinzipiell ab.
({6})
Alle Erfahrungen zeigen, dass militärisches Vorgehen
keine Probleme löst. Im Gegenteil: Sobald die UNO den
Boden der Unparteilichkeit verlässt, besteht zumindest
die Gefahr, dass sie zum Teil des Problems wird, statt
dass sie zur Lösung beiträgt. Deswegen möchte ich die
Kritik wiederholen, die die Linksfraktion bereits 2006 in
der Debatte zum selben Thema formuliert hat - ich zitiere Lothar Bisky -:
Die vorherrschende Politik steckt mehr und mehr
Gedanken und materielle Ressourcen in militärische Konfliktbearbeitung. Das ist nicht der richtige
Weg.
({7})
Viertens. Die Konflikte zwischen Libanon und Israel
werden wohl nur dann nachhaltig gelöst werden können,
wenn es einen gerechten Frieden im Nahen Osten gibt.
Die Linke hat dafür Vorschläge unterbreitet. Einen Militäreinsatz hingegen lehnen wir ab. Deswegen sagen wir
auch heute Nein zum UNIFIL-Mandat.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Kerstin Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Buchholz, Sie haben hier noch einmal die
Tatsache beklagt, dass UNIFIL ein Kapitel-VII-Einsatz
ist. Ich sage es einmal so: Die Vorstellung, dass ein
Krieg zwischen Libanon und Israel, um den es im Jahr
2006 ging, ohne einen Kapitel-VII-Einsatz hätte beendet
werden können, ist derart naiv, dass ich wirklich nicht
weiß, wie Sie seriös mit dieser Argumentation hier auftreten können.
({0})
Es geht also nicht um einen Kriegseinsatz, sondern darum, dass mit diesem Einsatz ein Krieg beendet wurde
und die Region so stabilisiert wird.
Aus unserer Sicht gibt es mindestens drei Gründe,
warum UNIFIL und die deutsche Beteiligung daran
wichtig sind. Meine Fraktion wird daher mit sehr, sehr
großer Mehrheit zustimmen.
Zuallererst hat diese Mission Bedeutung für die Stabilität der Region. Die Umbrüche in der arabischen Welt
- sie wurden hier schon angesprochen - verändern die
Region tiefgreifend. Während die DemokratisierungsKerstin Müller ({1})
prozesse in Ägypten und Tunesien Fortschritte machen,
eskaliert die Lage in anderen Ländern, vor allem in Syrien, in dramatischer Weise. Man kann ja nicht über den
Libanon sprechen, ohne Syrien anzusprechen. Das Assad-Regime geht mit unverminderter Gewalt gegen die
Demonstranten vor. In den letzten Wochen wurden
1 000 Zivilisten getötet, 10 000 Menschen inhaftiert.
Viele von den Freunden, die wir dort kennen und mit denen wir zusammengearbeitet haben, sind im Gefängnis.
Wir wissen nicht einmal, wo sie sind. Zugleich sind Tausende auf der Flucht. Wir konnten heute lesen, dass viele
aus Angst vor einem drohenden Massaker der Armee in
Dschisr al-Schughur in die Türkei flüchten. Das ist eine
schreckliche Bilanz.
Meine Damen und Herren, ich finde es unerträglich,
dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis heute
diese Gewalt nicht verurteilt.
({2})
Ich möchte von dieser Stelle aus wirklich an China und
Russland appellieren: Bitte verhindern Sie zumindest
diese Resolution, die auf Initiative von Deutschland,
Frankreich und Portugal dem Sicherheitsrat noch einmal
vorgelegt wird, nicht! Es muss zu einer Verurteilung
kommen. Das Assad-Regime muss isoliert werden, damit es baldmöglichst abtritt.
({3})
Ein Wandel in Syrien wird auch die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Libanon, etwa die Rolle der Hisbollah,
und vermutlich das Gesicht der ganzen Region verändern. Auch deshalb hat der UN-Sonderkoordinator für
den Libanon, Michael Williams, noch einmal ganz deutlich gesagt: UNIFIL ist gerade in diesen außergewöhnlichen Zeiten ein Stabilitätsfaktor in der Region und muss
unbedingt fortgesetzt werden. Recht hat er mit dieser
Aussage.
({4})
Zweitens. Die Stabilität des Libanon und der Region
- Sie haben das kurz gestreift, aber meiner Meinung
nach falsch bewertet, Frau Buchholz - hängt eng mit der
Sicherheit Israels zusammen. Ich erinnere an die Unruhen am Nakba-Tag, der gerade begangen wurde. An diesem Tag wurden bei Protesten von Palästinensern an den
Grenzen 14 Menschen getötet. Es ist auch der Präsenz
von UNIFIL an der südlibanesischen Grenze zu verdanken, dass die Situation nicht weiter eskaliert ist. Das ist
auch ein Grund, weshalb der Libanon und Israel für die
Fortsetzung des Mandates und ausdrücklich für eine
deutsche Beteiligung sind. Welche besseren Gründe
könnten es geben, das Mandat zu verlängern?
({5})
Der letzte Punkt ist die angespannte Lage im Libanon
selbst; Herr Stinner hat es angesprochen. Vier Monate
nach dem Sturz Hariris gibt es immer noch keine neue
Regierung. Hier zeigt sich aber auch ein Schwachpunkt
von UNIFIL, nämlich dass die Seeseite zwar erfolgreich
abgesichert wird, aber der Waffenschmuggel an der syrisch-libanesischen Grenze nicht verhindert werden kann
und die Hisbollah massiv aufgerüstet wurde. Dadurch
fühlt sich Israel zu Recht bedroht. Wir müssen also weiter auf die Entwaffnung der Hisbollah drängen.
Aus all diesen Gründen ist klar: UNIFIL ist ein Stabilitätsanker in einer fragilen Region. Deshalb darf man
hier nicht lavieren. Wenn wir zu Frieden und Stabilität in
der Region beitragen wollen, dann braucht die Region
verlässliche Signale, und deshalb ist es vernünftig und
richtig, dieses Mandat zu verlängern.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Gädechens für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele haben nach dem libanesisch-israelischen Krieg viel versprochen; wenige haben ihre Versprechen gehalten.
Deutschland hat nicht nur Hilfe versprochen, sondern
nachhaltig Hilfe zur Selbsthilfe geleistet. Weite Teile der
libanesischen Bevölkerung nehmen das deutsche Engagement dankbar zur Kenntnis. - Mit diesen Worten
wurde in der letzen Woche eine Delegation von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, der auch ich angehörte, vom obersten libanesischen Admiral empfangen.
Die Gründe, warum sich Deutschland im UNIFILMandat engagiert, sind in diesem Hohen Hause seit 2006
mehrfach diskutiert und beraten worden und sollten somit hinlänglich bekannt sein. Gleichwohl gilt es, einmal
mehr festzustellen, dass unser Engagement nicht nur
wichtig, sondern tatsächlich auch effektiv ist und die gewünschte Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht.
Ich durfte mich davon überzeugen, dass die nahezu
lückenlose Radarüberwachung in einem Radius von
24 nautischen Meilen, also circa 45 Kilometer, vor der
libanesischen Küste funktioniert. Die von uns zur Verfügung gestellten Boote versetzen die sehr kleine, aber
hochmotivierte und gut ausgebildete libanesische Marine in die Lage, unidentifizierte Seeziele - jedenfalls
teilweise - abzufangen und zu kontrollieren.
Dabei mutierte das ehemalige deutsche Sicherungsboot „Bergen“ zum Flaggschiff der libanesischen Marine. Ich war seinerzeit bei der Übergabe des Sicherungsbootes an die libanesische Marine mit dabei
gewesen und war freudig überrascht, in welch einwandfreiem Zustand sich das Boot heute immer noch befindet
({0})
und welch hohen Ausbildungsstand die Besatzungsmitglieder haben.
({1})
Drei oder vier Boote reichen aber nicht aus, um gegenüber Israel glaubhaft zu verdeutlichen, dass zumindest die Seegrenze vor illegalem Waffenschmuggel geschützt werden kann. Deshalb ist es zu begrüßen, dass
die Bundesregierung den UNIFIL-Einsatz bis zum Juni
2012 verlängern möchte. Würden wir nämlich das Mandat zum jetzigen Zeitpunkt beenden - beenden in einer
Zeit der Unruhe in weiten Teilen der arabischen Welt -,
würde Israel morgen die Seeblockade wieder aufleben
lassen.
Die innenpolitische Situation im Libanon - wir hörten
es - scheint so zu sein, dass man sie auf den ersten Blick
als ruhig bewerten könnte. Die Lage ist allerdings weit
davon entfernt, stabil zu sein. Das kontroverse Gespräch
zwischen zwei libanesischen Abgeordneten machte die
Situation deutlich: ein Land mit Verfassung, aber leider
immer noch ohne handelnde Regierung. Schlimmer
noch: Wenn man die Skyline von Beirut sieht, blickt
man auf eine prosperierende, pulsierende Metropole. Da
fragt man sich ganz automatisch, warum dieses Land
nicht in der Lage zu sein scheint, durch eigenes Steueraufkommen eine wirkungsvolle Küstenwache aufzubauen. Die Antwort mag in der allgegenwärtigen Hisbollah liegen. Besonders nachdenklich kann man schon
werden, wenn man in den Beiruter Sportboothafen
blickt, in dem mehr und größere Motorjachteinheiten liegen als in dem daneben liegenden Marinehafen. UNIFIL
kann das innenpolitische Dilemma nicht lösen, das Problem der mächtigen Hisbollah-Einflussnahme muss der
Staat Libanon eigenständig klären.
Die deutsche Präsenz durch UNIFIL bietet uns aber
noch eine ganz andere - für mich fast noch bedeutendere diplomatische Offerte. Das gewachsene Vertrauen und
die Hochachtung zwischen Israel und Deutschland, die
Anerkennung und Hilfsbereitschaft zwischen Deutschland und dem Libanon bringen uns in die exzellente diplomatische Mittlerposition, die von allerhöchstem Stellenwert ist.
({2})
Sinnbildlich - das bekräftigten die deutsche Botschafterin und der kommandierende Kapitän der Marineeinheiten - sei die deutsche Flagge am Heck des in exponierter
Lage liegenden Tenders „Mosel“. Unsere Flagge als
Staatssymbol zeigt jedem Libanesen: Hier ist ein Land,
das nicht nur redet, sondern uns auf dem Weg in eine
hoffentlich bald bessere Zukunft unterstützt.
Dem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die
im UNIFIL-Mandat hervorragende Arbeit leisten - er ist
hier heute schon mehrfach formuliert worden -, kann ich
mich nur anschließen, wiederholen muss ich ihn nicht,
weil ich diesen Dank in der letzten Woche vielen Kameradinnen und Kameraden gegenüber auf dem Schnellboot „Zobel“ und dem Tender „Mosel“ persönlich aussprechen durfte.
({3})
Ich bitte Sie um Zustimmung zur Verlängerung des
UNIFIL-Mandats.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 17/6133 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Leba-
non.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
17/5864 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschluss-
empfehlung namentlich ab. Ich bitte nun die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein-
zunehmen.
Sind an allen Urnen die dafür vorgesehenen Schrift-
führerinnen und Schriftführer? - Das ist der Fall. Ich er-
öffne die Abstimmung und bitte, die Karten einzuwer-
fen.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten
eingeworfen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann
schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6142. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln aktiv unterstützen
- Drucksache 17/6087 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Ergebnis Seite 13080 D
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD
Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen
- Drucksachen 17/5482, 17/6078 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Marina Schuster
Tom Koenigs
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Christoph Strässer von der SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen feiert in diesen Tagen Jubiläum: Er wird fünf Jahre alt. Er ist neben
der Peacebuilding Commission eines der wenigen Ergebnisse des mit großem Eifer angestoßenen Prozesses
einer Reform der Vereinten Nationen insgesamt.
In der Resolution, die vor fünf Jahren zur Gründung
des Menschenrechtsrats geführt hat, hieß es - ich zitiere -:
Die Generalversammlung beschließt, „dass die Tätigkeit
des Rates von den Grundsätzen der Universalität, der
Unparteilichkeit, der Objektivität und der Nichtselektivität, eines konstruktiven internationalen Dialogs und der
… Zusammenarbeit“ im Hinblick auf die Förderung und
den Schutz aller Menschenrechte bestimmt wird. Ich
denke, wenn man nach fünf Jahren Bilanz zieht, inwiefern man diesem hohen Anspruch gerecht wurde, muss
man feststellen - ich sage das etwas vorsichtig -, dass sicherlich nicht alle Erwartungen erfüllt wurden.
Der Menschenrechtsrat ist die Nachfolgeorganisation
der Menschenrechtskommission. Diese Menschenrechtskommission hat in den Jahren ihrer Arbeit vielerlei
Kritik hinnehmen müssen, wie ich finde, zu Recht. Kritikpunkte waren unter anderem die Blockbildung und die
Tatsache, dass es nicht möglich war, aktuelle menschenrechtliche Konflikte ernst zu nehmen und dort zu debattieren. Die Etablierung des Menschenrechtsrats war der
Versuch, an diesen Umständen etwas zu ändern. Wenn
man nun bilanziert, muss man, glaube ich, sagen, dass es
hinsichtlich der Arbeit des Rates einige Fortschritte gegeben hat, es aber immer noch negative Punkte gibt.
Diese möchte ich vorweg bewerten. Sie zeigen auf, dass
noch viel zu tun ist.
Ich glaube, dass es ein ziemlicher Skandal ist, dass
Libyen vor anderthalb Jahren als Mitglied in den Menschenrechtsrat gewählt worden ist. Ich glaube, das kann
und darf man nicht hinnehmen.
({0})
Von uns ist daher zu begrüßen - das zeigt, dass es möglich ist, in diesem Menschenrechtsrat zu arbeiten -, dass
Libyen im März dieses Jahres mit der nötigen Zweidrittelmehrheit wieder aus dem Menschenrechtsrat entfernt
wurde. Auch dies sollte man zur Kenntnis nehmen. Das
gibt Anlass zu der Hoffnung, dass dieses Gremium vor
aktuellen Entwicklungen die Augen nicht verschließt.
Ich finde, an dieser Stelle muss man auch sehr deutlich ein Manko der ständigen Geschäftsordnung dieses
Rates ansprechen, das darin besteht, dass es nicht gelingt, aktuelle Konflikte zum Thema zu machen. Man
muss sich wirklich Mühe geben - wir wissen das durch
den einen oder anderen Besuch des Menschenrechtsausschusses vor Ort -, um Bündnisse zu bilden, damit man
bestimmte Punkte überhaupt auf die Tagesordnung bringen kann. So finde ich es nicht nur unangenehm, sondern
sogar skandalös, dass sich der Menschenrechtsrat nach
Beendigung des Krieges in Sri Lanka geweigert hat, das
Vorgehen der sri-lankischen Regierung gegen die Tamilen überhaupt auch nur auf die Tagesordnung zu setzen,
obwohl doch die ganze Welt weiß, dass dort massivste
Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen sind. Damit wird, wie ich meine, der Menschenrechtsrat seiner
Aufgabe nicht gerecht.
({1})
Genauso finden wir es nicht wirklich hilfreich - ich
glaube, auch da sind wir uns alle einig -, dass aktuelle
Probleme, die seit vielen Jahren virulent sind, zum Beispiel der Konflikt zwischen Darfur und dem Sudan,
nicht auf der Tagesordnung des Rates erscheinen. Ich
möchte daher die Aufforderung an die Bundesregierung
richten, dass sie bei den Beratungen in der Generalversammlung in den nächsten Wochen und Monaten darauf
hinwirkt, dass die ständige Geschäftsordnung derart geändert wird, dass die Behandlung dieser Konflikte auf
die Tagesordnung gesetzt werden kann. Es kann nicht
sein, dass man immer darauf achten muss, dass aufgrund
der Blockbildungen im Menschenrechtsrat Mehrheitsverhältnisse entstehen, die nicht akzeptabel sind. Ich
zitiere Manfred Nowak - keine Sorge, das ist kein
Deutscher -, den österreichischen UNO-Sonderberichterstatter für Folter, der noch vor zwei Jahren gesagt hat:
Eigentlich ist die Reform gelungen, aber wir müssen leider feststellen, dass in dem Rat die Staaten die Mehrheit
haben, in denen die Menschenrechte am intensivsten
verletzt werden. - Diese Feststellung - wie gesagt: nicht
von einem deutschen Politiker - sollte man ernst nehmen. Deshalb richte ich an dieser Stelle noch einmal die
Aufforderung aus unserem Antrag an die Bundesregierung, möglichst dafür zu sorgen und dafür zu arbeiten,
dass es zu einem anderen Wahlverfahren kommt und
diese Blockabhängigkeit bald der Vergangenheit angehört.
({2})
Das zieht auch inhaltliche Probleme nach sich. Ich
will nur ein Beispiel nennen: die Entscheidung des Rates
zur sogenannten Diffamierung von Religionen. Diese
Entscheidung ist durchgesetzt worden mit der Mehrheit
der Staaten der Islamischen Konferenz, die nur ein Ziel
hat, nämlich, die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit
in den Ländern, in denen auch der Islam kritisiert wird,
einzuschränken bzw. abzuschaffen und die Verhältnisse
in den islamischen Staaten zur menschenrechtlichen
Grundlage für das Verhalten in diesem Rat zu machen.
Das ist inakzeptabel, und auch solche Entscheidungen
dürfen in dieser Form nicht im Menschenrechtsrat getroffen werden.
({3})
Nichtsdestotrotz glaube ich, dass der Menschenrechtsrat einen qualitativen Fortschritt darstellt. Einer
der wesentlichen Punkte, die ich ansprechen möchte, ist
das sogenannte UPR-Verfahren - Universal Periodic
Review. Dies ist ein ständiges Überprüfungsverfahren,
in dem sich alle 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, also nicht nur die Mitgliedstaaten des Rates, im
Abstand von vier Jahren im Hinblick auf die menschenrechtliche Situation bei sich überprüfen lassen müssen.
Das ist ein Fortschritt; denn man bekommt vor Ort
- die Bundesregierung hat das, glaube ich, im Jahr 2009
in Genf gemacht - einen sehr intensiven Eindruck von
der Situation in den jeweiligen Ländern. Daran sollte
weiter gearbeitet werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass dieses Instrument geschärft wird und nicht nur einmal in vier Jahren ein Bericht vorgelegt wird. Wir erwarten daher, dass uns im
Jahr 2012 - zur Halbzeit des Berichtes der Bundesregierung - ein Zwischenbericht vorgelegt wird, aus dem wir
ersehen können, ob die Empfehlungen, die an die Bundesregierung gegeben wurden, befolgt werden. Wenn ja,
ist das gut; wenn nein, müssen wir schauen, warum das
nicht passiert ist.
Das alleine bringt uns weiter. Es macht unsere eigene
Glaubwürdigkeit in diesem Verfahren aus, nicht nur bei
den anderen auf die Einhaltung der Empfehlungen zu
achten, sondern auch bei uns selbst. Das wäre vorbildlich. Dass die Bundesregierung sich aus Kapazitätsgründen bislang weigert, einen Zwischenbericht für das Jahr
2012 zu erstellen, ist kein positives Beispiel für die Menschenrechtspolitik dieser Regierung und dieses Landes.
Das muss geändert werden.
({4})
Ich komme zum zweiten Antrag, den wir in den Ausschüssen beraten. Im Menschenrechtsrat steht im Juli
dieses Jahres der Bericht des Sonderbeauftragten der
Vereinten Nationen, John Ruggie, zum Thema „menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen“ an.
Der Menschenrechtsausschuss hat dieses Thema im letzten halben Jahr zu seinem Schwerpunkt gemacht. Auch
hier lautet die Aufforderung, dieses Verfahren massiv zu
unterstützen, weil es sich mit einer Frage auseinandersetzt, die viel brisanter ist, als wir das alle vermuten.
Ruggie versucht - leider unverbindlich -, eine lückenlose Kontrolle von Produkten zu erreichen, die - aus welchen Teilen der Welt auch immer - auf unsere Märkte
kommen. Damit soll nachgewiesen werden, dass Produkte sauber sind und man sie empfehlen kann. Das bedeutet auch für unsere Unternehmen einen Schutz. Diese
Form von Politik ist keine Belastung für den Standort,
sondern ein positiver Standortfaktor. Die Menschen in
unserem Land wollen wissen, woher ein Produkt kommt.
Ist das ein Produkt aus einem Bürgerkriegsland? Ist das
ein Produkt aus Usbekistan, wo, wie wir es gesehen haben, bei der Baumwollproduktion Kinderarbeit nach wie
vor eine große Rolle spielt?
Ich glaube, wir sollten diese wirtschaftlichen und sozialen bzw. kulturellen Rechte massiv in den Vordergrund
unserer Politik stellen. Deshalb geht die Aufforderung an
die Bundesregierung, diese Politik zu unterstützen und
für ein Folgemandat zu sorgen, sodass diese Prinzipien
Eingang in die alltägliche Arbeit finden.
Wir können, sollen und dürfen uns Skandale wie den
aus Usbekistan geschilderten nicht leisten. Hierbei kann
dieser Bericht von großem Nutzen sein. Deshalb bitte
ich Sie um Unterstützung und darum, auch in diesem
Hohen Hause dafür zu werben, dass eine solche Politik
in Deutschland zur realen Praxis wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der United Nations Interim Force in Lebanon“ bekannt: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben gestimmt
484, mit Nein haben gestimmt 80, Enthaltungen 7. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon
ja: 484
nein: 80
enthalten: 7
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
olms
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({23})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Günter Gloser
Angelika Graf ({24})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Hubertus Heil ({25})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({26})
Christel Humme
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({27})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({29})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({30})
Michael Roth ({31})
olms
({32})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({33})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({34})
Werner Schieder ({35})
Ulla Schmidt ({36})
Silvia Schmidt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({40})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({41})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({42})
Michael Link ({43})
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({44})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({45})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({46})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({47})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({50})
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({51})
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({52})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({53})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
SPD
Klaus Barthel
Willi Brase
Michael Groß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({54})
Hilde Mattheis
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({55})
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
olms
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({56})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Uwe Kekeritz
Monika Lazar
Till Seiler
Dr. Harald Terpe
Enthalten
FDP
Helga Daub
Joachim Günther ({57})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Anton Hofreiter
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Jetzt kommen wir zum nächsten Redner. Das ist der
Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion.
({58})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich schließe an das an, was
der Kollege Strässer am Schluss angesprochen hat, nämlich das Thema „menschenrechtliche Unternehmensverantwortung in Entwicklungsländern“. Das fällt nicht nur
in meine Zuständigkeit, sondern es ist vor allem eine
Herzensangelegenheit von mir.
Ich bin der Auffassung, dass positive Veränderungen
zu einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtssituation in den Entwicklungsländern führen können.
Das bedeutet natürlich umgekehrt auch, dass es hier viel
Nachholbedarf gibt. Wichtig bei der Unternehmensverantwortung ist, dass sowohl die Unternehmen und deren
Organisationen als auch die nationale und die internationale Politik sich dieses Themas annehmen müssen.
Aber auch der Verbraucher kann ganz aktiv mit seinen Kaufentscheidungen eingreifen. Die Medien sind
ebenfalls entscheidend, die Missstände vor Ort aufdecken und Verbraucher informieren sollten. Das gab es in
der Vergangenheit häufiger.
Sie können die Widersprüche zwischen der Selbstdarstellung der Unternehmen und der Wirklichkeit in den
Produktionsländern aufdecken. Es ist eine Konsequenz
der globalisierten Welt, dass Produkte für unseren Markt
weit entfernt produziert werden, vor allem in Staaten mit
einem niedrigen Lohnniveau; das ist völlig legitim.
Problematisch ist, dass Arbeits-, Sicherheits- und Umweltstandards in den Entwicklungsländern ein ganz anderes Niveau haben und teilweise nur in der Theorie den
Vorstellungen, die wir von ihnen haben, entsprechen.
Deshalb ist es eine notwendige Folge der Globalisierung,
dass wir den auf dem deutschen Markt arbeitenden Unternehmen in die Produktionsländer folgen. Unzumutbare
Bedingungen, die diese Unternehmen dort verantworten,
dürfen wir nicht hinnehmen. Die Möglichkeiten, hier Verbesserungen zu schaffen, sind sehr vielfältig. Ich möchte
zunächst einmal die Eigenverantwortung der Unternehmen nennen. Ein geändertes gesellschaftliches Bewusstsein, aber auch eigene Erkenntnisse haben zu CorporateSocial-Responsibility-Aktivitäten vieler Unternehmen
geführt, bei manchen eher als Feigenblatt, bei anderen als
echter Bestandteil der Firmenphilosophie.
Zu denen, für die das Teil der Firmenphilosophie ist,
gehört die Otto AG mit Sitz in meinem Wahlkreis, deren
Engagement vor wenigen Tagen durch die Verleihung
des Walter-Scheel-Preises an Dr. Michael Otto gewürdigt worden ist. Das zeigt, dass sich Aktivitäten im sogenannten Social Business für Unternehmen zumindest
langfristig auszahlen. Ich glaube, dass die Firmen, die
nur auf Quartalszahlen schauen, eine gesellschaftliche
Entwicklung verschlafen, was sie in der Zukunft teuer zu
stehen kommen kann.
({0})
Gleichwohl gibt es natürlich Unternehmen, die zum
Beispiel Textilien in Bangladesch unter Bedingungen
herstellen lassen, die nicht einmal die Mindestanforderungen an Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllen.
Wir wollen hier nicht auf Einsicht warten, sondern wir
müssen aktiv für Veränderungen eintreten. Die stärkste
Waffe wäre ein Verbraucherboykott; aber das ist eigentlich nur das letzte Mittel.
Grundsätzlich setze ich mich für bessere Verbraucherinformationen ein, damit der Verbraucher ein Bewusstsein für die Herstellungsbedingungen eines Produktes
entwickeln kann. Das kann zum Beispiel bei der Textilproduktion durch ein zumindest EU-weites Label mit
dem Titel „Socially made“ geschehen. Das heißt, der
Verbraucher kann nachvollziehen: Dieses T-Shirt ist unter vernünftigen sozialen Bedingungen hergestellt worden.
({1})
Für ein solches Siegel müssen Mindeststandards von
Lohnniveau, Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllt
sein. Wir haben ja auch Beispiele für solche Siegel. Ich
denke an Bio, an MSC und Fairtrade.
Unternehmen, die in den Produktionsländern diese
höheren Standards erfüllen, können damit werben und
den Verbraucher informieren, dass er sozial verantwortungsvoll einkauft und ökologisch nachhaltig handelt,
wenn er sich für ihre Produkte entscheidet. Umgekehrt
werden Unternehmen Probleme bekommen, die teure
Markensachen in Deutschland verkaufen, aber in Bangladesch oder anderswo nicht einmal die Mindeststandards im sozialen Bereich erfüllen. Wir schließen damit
also eine wichtige Lücke. Deshalb freue ich mich, wenn
möglichst viele Kolleginnen und Kollegen auch aus den
anderen Fraktionen diese Idee aufgreifen.
Im Bereich der Unternehmensverantwortung ist es
meist so, dass nationale Alleingänge in unserer globalisierten Welt nicht weiterführen. Wir benötigen deshalb
internationale Grundlagen und Vereinbarungen, am besten unter dem Dach der Vereinten Nationen. Ich bin froh,
dass es gelungen ist, UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln als einen Global Compact zu entwickeln. Wir als Union sehen
uns in der Verantwortung, diese Leitlinien der Vereinten
Nationen zu unterstützen. Aktuell macht das auch die
OECD. Wir machen das, indem wir zum Beispiel den
Global Compact aus dem Etat des Entwicklungsministeriums mit 250 000 Euro unterstützen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Anmerkungen zu Ihrem Antrag machen, Herr Strässer. Sanktionsbewehrte Menschenrechtsklauseln in Freihandelsabkommen der EU haben Sie, als Sie noch in der
Regierung waren, immer abgelehnt.
({2})
Jetzt fordern Sie diese. Welch wundersamer Gesinnungswandel! Im Übrigen ist die Erfüllung dieser Forderung
bereits auf einem guten Wege.
Zweitens wollen Sie alle Unternehmen auf die Einhaltung der Menschenrechte in allen Tochter- und Zulieferunternehmen verpflichten. Ich halte das für ein bisschen blauäugig. Wie wollen Sie diese Forderung vor
allen Dingen in den Entwicklungsländern durchsetzen
und ganz konkret erfüllen? Ich glaube, das ist sehr
schwierig, wenn auch der Anspruch sicherlich sinnvoll
ist.
Festzuhalten ist, dass wir gemeinsam die UN-Leitlinien als zielführende Strategie zur Verbesserung der
menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen
ansehen. Ich glaube, darauf gilt es in Zukunft aufzubauen.
Danke sehr.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Annette Groth von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich schließe mich dem Herrn Kollegen Klimke an
und möchte in erster Linie über die oft menschenrechtsverletzenden Praktiken von Unternehmen sprechen; etliche Beispiele haben Sie schon benannt.
Durch die Liberalisierung des Welthandels ist die
Macht der internationalen Konzerne immer weiter angewachsen; das bestreitet niemand mehr. Viele der großen
börsennotierten transnationalen Konzerne erzielen Jahresumsätze, die das Bruttoinlandsprodukt mittelgroßer
Staaten deutlich überschreiten. Aufgrund ihrer Marktmacht diktieren Unternehmen den Zulieferbetrieben in
den verschiedenen Regionen der Welt ihre Forderungen.
Mit der Drohung, Arbeitsplätze zu verlagern, setzen sie
gegenüber den Staaten ihre Profitinteressen durch. Umwelt- und Sozialstandards sowie Menschenrechte spielen
dabei leider keine Rolle. Die reichsten 20 Prozent der
Bevölkerung verfügen heute über mehr als 70 Prozent
des globalen Reichtums. Fast 80 Prozent der Weltbevölkerung haben keinen Zugang zu elementarem sozialen
Schutz.
Juan Somavia, der Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO, betonte kürzlich, dass
das Vertrauen der Menschen in Politik und Wirtschaft einen historischen Tiefststand erreicht habe. Die Fraktion
Die Linke fordert seit vielen Jahren verbindliche und
konkrete Mindeststandards für international arbeitende
Konzerne.
({0})
Wenn das nicht gelingt, wird sich die Situation der Armen noch weiter verschlechtern.
Beispiel Kakao. Weltweit bauen rund 5,5 Millionen
Kleinbauern Kakao an; er ist ein wesentlicher Bestandteil
unserer Schokolade. Unsichere Einkommen, schlechte
Arbeitsbedingungen sowie Kinderarbeit sind in diesem
Sektor weit verbreitet. In der Elfenbeinküste arbeiteten
im Jahr 2009 rund 820 000 Kinder in der Kakaobranche ein Skandal.
({1})
In den Anbauregionen der Elfenbeinküste haben 72 Prozent der Dörfer keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung, 53 Prozent keinen Stromanschluss und lediglich 40 Prozent einen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Weltweit hungert inzwischen mehr als 1 Milliarde
Menschen. Wenn die Politik nicht umgehend handelt,
werden die Nahrungsmittelpreise weiter steigen. Von
diesen Preissteigerungen werden einige wenige Agrokonzerne wie Cargill, Bunge, ADM und Dreyfus in groAnnette Groth
ßem Maßstab profitieren. Diese vier Konzerne kontrollieren 73 Prozent des Weltgetreidehandels und haben
damit eine unglaubliche Macht über unsere Lebensmittel
und Nahrung. Auch die Förderung der Agrospritindustrie, die Milliardensubventionen bekommt, um Nahrungsmittel in Tankfüllungen zu verwandeln, trägt massiv zur Verschlechterung der Lage der Ärmsten bei.
Die Agrarkonzerne kontrollieren die Lieferketten und
beherrschen die Märkte; auch Sie haben darauf hingewiesen. Gleichzeitig zocken Finanzspekulanten mit
Nahrungsmitteln, um schnell Kasse zu machen. Auch
die Spekulationen sind für steigende Lebensmittelpreise
verantwortlich. Sie stellen damit einen Angriff auf eines
der grundlegenden Menschenrechte dar: auf das Recht,
sich selbstständig und angemessen ernähren zu können.
Diesem unerträglichen Treiben muss durch verbindliche
Regeln ein Ende gemacht werden.
({2})
Ich fürchte nur, dass die allseits bekannten und zitierten UN-Leitlinien nicht dazu beitragen werden, die menschenrechtsverletzenden Praktiken der transnationalen
Konzerne einzudämmen. In diesem Zusammenhang
möchte ich Oxfam zitieren:
Die Politik hat auf diesem Feld im Großen und
Ganzen versagt. Die meisten Regierungen sahen
untätig zu, wie die großen Agrarkonzerne immer
mehr Einfluss gewannen und die Landwirtschaftspolitik zunehmend mitgestalteten. Die Regierungen
haben Wirtschaftsinteressen Vorschub geleistet und
den Missbrauch öffentlicher Mittel für private Zwecke zugelassen. Es wurde darauf verzichtet, effektive Regeln zur Kontrolle der mächtigen Unternehmen zu beschließen.
Deshalb wollen wir verbindliche, effektive Regeln,
die in einem international gültigen völkerrechtlichen
Vertrag festgeschrieben werden müssen. Konzerne, die
diese Regeln brechen, müssen dafür zur Rechenschaft
gezogen und bestraft werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Marina Schuster von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Fraktion hat heute zwei unterschiedliche Anträge
vorgelegt. Ich würde gerne noch einmal auf den ersten
Antrag eingehen, nämlich auf den Menschenrechtsrat als
solchen.
Wir sind als Mitglieder des Menschenrechtsausschusses einmal im Jahr in Genf und führen dort Gespräche.
Bei der letzten Sitzung des Menschenrechtsrates haben
wir uns natürlich auch über den Stand der Reform des
sogenannten Review-Prozesses informiert. Insofern
müssen wir bezogen auf die bisherigen Ergebnisse auch
einmal Bilanz ziehen: Es gibt Erfolge, aber leider auch
Rückschläge. Zum einen ist es nicht gelungen, gute Vorschläge, die auch vonseiten der NGOs kamen, einzubauen; andererseits konnte verhindert werden, dass zum
Beispiel das Mandat der Sonderberichterstatter abgeschwächt wird. Insofern liegen jetzt viele Hoffnungen
auf der Generalversammlung in New York. Ich bin sehr
froh, dass sich die Bundesregierung sowohl in Genf als
auch in New York aktiv einbringt, um das Ergebnis des
Review-Prozesses zu verbessern; denn wir sind ein großer Unterstützer, und es ist wichtig, dass wir andere
Staaten finden, die sich diesem Reformprozess anschließen.
Der Reformprozess darf nicht stoppen. Es gibt noch
einiges, was an der Struktur des Menschenrechtsrates
verbessert werden kann, zum Beispiel die Glaubwürdigkeit. Sie steht und fällt damit, wie schnell und effektiv
der Menschenrechtsrat auf schwere Menschenrechtsverletzungen reagiert. Da gibt es gute Beispiele, wie im Fall
von Libyen. Der Ausschluss Libyens ist gelungen, weil
der libysche Botschafter vor Ort aktiv daran mitgewirkt
hat und es hier zu einer klaren Stellungnahme des Menschenrechtsrates kam. Es gibt aber auch schlechte Beispiele - Herr Strässer hat es erwähnt - wie Darfur und
Sri Lanka. Hier blieben die Debatten aus, und eindeutige
Resolutionen kamen nicht zustande.
({0})
Das Problem ist, dass wir feststellen müssen, dass
Blockbildungen, die regionale Zugehörigkeit, aber auch
nationale Interessen manchmal mehr zählen als die
Grundsätze der Universalität der Menschenrechte.
Oft wird verhindert, dass zu humanitären Katastrophen Stellung genommen wird. Dafür sind andere Themen ständig auf der Tagesordnung. Ich möchte nur ein
Beispiel nennen, nämlich den Nahostkonflikt. Ich
möchte nur eine Zahl zur Veranschaulichung nennen: Im
Jahr 2007 hat sich der Menschenrechtsrat 120-mal mit
der Situation in Nahost beschäftigt. Aber keine der Resolutionen beinhaltete kritische Stellungnahmen zu den
Menschenrechtsverletzungen der Palästinenser; es waren
ausschließlich israelkritische Stellungnahmen. Insofern
können wir mit dieser Bilanz des Menschenrechtsrates
nicht zufrieden sein.
({1})
Illusionen dürfen wir uns bei der Frage, wie wir dort
Verbesserungen durchsetzen können, nicht hingeben.
Herr Strässer hat Manfred Nowak zitiert. Die Mehrheitsverhältnisse im Menschenrechtsrat sind, wie sie sind.
Leider wurde durch die Wahl der Demokratischen Republik Kongo in den Menschenrechtsrat die Position verfestigt, dass die Staaten in der Mehrheit sind, die bei der
Menschenrechtsbilanz fragwürdige Ergebnisse abliefern.
Ich denke, dass wir uns bei der Problemanalyse einig
sind. Es gilt weiter konstruktiv daran zu arbeiten und in
New York viel zu erreichen.
Ein Anliegen möchte ich ganz besonders herausstellen: Wir dürfen nicht zulassen, dass der Menschenrechtsrat instrumentalisiert wird
({2})
gerade von Staaten wie China, Kuba oder Russland.
Auch die OECD ist hier genannt worden. Insofern gilt es
lange zu bohren und Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir
unterstützen die laufende Kandidatur Deutschlands für
eine Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat, damit wir
den Reformprozess vor Ort beflügeln können.
Nun zum zweiten Antrag, der sich mit der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt. Zu diesem Thema gab es eine Anhörung und eine
Reise in den Ostkongo und nach Ruanda. Man kann sicherlich sagen, dass sich John Ruggie um die Weiterentwicklung der Menschenrechtsstandards für Unternehmen verdient gemacht hat. Ich freue mich, dass die
Guiding Principles die bisherigen Regelungen, die es bei
der UN über den Global Compact, aber auch bei der
OECD gibt, gut zusammenfassen.
Gerade beim Thema OECD-Leitsätze sind zwei große
Erfolge gelungen: zum Ersten die Aufnahme eines eigenen Menschenrechtskapitels und zum Zweiten die Tatsache, dass auch die Zulieferkette einbezogen wird. Es
muss jetzt vor allem darum gehen, dass wir mehr und
mehr Staaten und Unternehmen für die OECD-Leitsätze
gewinnen. Schwellenländer sind dringend gefordert, sich
den OECD-Leitsätzen anzuschließen. In dieser Richtung
arbeiten wir konsequent. Das ist ein Anliegen der Bundesregierung, aber auch der deutschen Wirtschaft; denn
unser Ziel muss sein, dass Menschenrechtsstandards
weltweit Geltung erhalten. Diesen Weg werden wir konsequent weitergehen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu
beiden Anträgen etwas sagen. Der Menschenrechtsrat
verdient eine wahrheitsgetreue Würdigung, aber die
Wahrheit sieht leider nicht sehr gut aus. Das Problem ist
Folgendes: In Genf müssen sich Staaten, in denen es um
die Menschenrechte schlecht bestellt ist, sozusagen selber am Kragen aus dem Sumpf ziehen, weil die Mehrheit
dieser Staaten kein ehrliches Interesse an der Verbesserung der Menschenrechtslage hat. Manche haben ein Interesse daran, die Menschenrechtssituation in bestimmten Ländern in der außenpolitischen Argumentation als
Instrument zu nutzen. Das sieht man zum Beispiel am
Standing Point zu Palästina, der völlig unangemessen ist.
Dort gibt es zwar viele Menschenrechtsverletzungen;
aber wer Palästina bei jeder Sitzung auf der Agenda hat
und es gleichzeitig nicht einmal schafft, eine Sondersitzung zum Völkermord in Darfur hinzubekommen, der
zeigt, dass er einen einseitigen Fokus hat.
Das ist das Dilemma, das wir beschreiben müssen.
Das beschreibt aber auch die Aufgabe der deutschen und
der europäischen Außenpolitik. Wir müssen mehr daran
arbeiten, die Blockbildung aufzubrechen, und Ländern
politisch und in der Kooperation etwas anbieten, wenn
sie sich in Genf stärker an den Prinzipien der Menschenrechtspakte - die sie aus außenpolitischen Gründen unterschrieben haben - orientieren, statt sich im Block gegenseitig zu schützen. In Genf war interessant, zu
beobachten - Frau Schuster hat unsere Reise erwähnt -,
dass der ehemalige Büroleiter von Mubarak nach der demokratischen Revolution in Ägypten immer noch die
Politik der Unabhängigen koordinierte, die eine Politik
gegen eine echte Menschenrechtsanalyse in vielen Ländern verfolgen. Man stellt sich vor die Schurkenstaaten
und redet das Ganze schön. Das verhindert, dass etwas
passiert.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, da der Herr
Außenminister anwesend ist. Demnächst wird der Papst
an diesem Pult stehen. Ich habe nicht verstanden, was
uns der Vertreter des Vatikans bei der Menschenrechtsratssitzung zur Verurteilung der Gewalt gegen Lesben
und Schwule sagen wollte. Nachdem mühsam eine
Mehrheit dafür zustande gebracht wurde, die Gewalttaten zu verurteilen, sagte er, Schwule und Lesben würden
Leute attackieren, die eine andere moralische und ethische Auffassung haben als sie. Ich bitte, noch einmal
nachzufragen; denn das hat mich sehr irritiert. Diese
Frage hätte ich gerne geklärt, bevor der Papst hier im
Bundestag zu uns spricht.
({0})
Im Antrag der SPD für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln ist das Thema
Ruggie-Prozess ein wichtiger Ansatzpunkt. Es werden
wesentliche Forderungen unseres Antrags aus der letzten
Wahlperiode aufgegriffen. So begrenzt der zentrale Gedanke im Ruggie-Prozess ist, auf die Corporate Social
Responsibility zu setzen, obwohl sehr gut ausdefiniert
wird, was das für Unternehmen heißt, sollte man in diesem Report nicht überlesen, dass Ruggie in Kapitel 26
seines Berichtes die Mitgliedstaaten ausdrücklich auffordert, in der nationalen Gesetzgebung darauf zu achten,
Opfern von Menschenrechtsverletzungen das Recht auf
Entschädigung einzuräumen. Er überlässt es den Mitgliedstaaten, die jeweiligen Defizite aufzuarbeiten. Da
gibt es auch im deutschen Recht eine ganze Menge zu
tun.
Der Ansatz der SPD, den wir teilen, dass man auch
Mutter- oder Tochtergesellschaften einbeziehen muss, ist
richtig, weil die Firmen oft anders nicht zu fassen sind.
Wir hatten dazu im Rechtsausschuss eine Anhörung. Die
Vertreterin von Amnesty International, Katharina Spieß,
hat am Fall Bhopal gezeigt, wie wenig die bisherigen
Mechanismen greifen. Wenn ein Unternehmen auf eine
solche Katastrophe, bei der Tausende von Menschen geVolker Beck ({1})
sundheitlich geschädigt wurden, damit reagiert, dass es
diesen Unternehmensteil verkauft und sich so aus der
rechtlichen Haftung stiehlt, dann ist klar, dass wir bessere rechtliche Instrumentarien brauchen.
Wir können hier nicht nur auf das Prinzip Freiwilligkeit, CSR und OECD-Leitlinien setzen, sondern wir
brauchen ein Instrumentarium, das den Managern von
Unternehmen deutlich macht, dass sich Menschenrechtsverletzungen am Ende betriebswirtschaftlich nicht lohnen. Ansonsten ist es in dem Kalkül multinationaler
Konzerne angelegt, zur Gewinnmaximierung - das kann
man ihnen nur begrenzt vorwerfen - darauf zu setzen,
ein Auge zuzudrücken oder sich sogar aktiv an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen, weil sie dann ihre
Rohstoffe oder Halbfertigprodukte zu niedrigeren Preisen einkaufen können. Das dürfen wir nicht zulassen,
sonst benachteiligen wir die Unternehmen im Wettbewerb, die sich daran zu Recht aus ethischen Gründen
nicht beteiligen wollen.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
spreche nur zum Menschenrechtsrat, da sich der Kollege
Klimke für die Union bereits zur menschenrechtlichen
Verantwortung in den Unternehmen geäußert hat.
Die Debattenbeiträge haben gezeigt, dass wir uns bei
der Beurteilung der Arbeitsweise des Menschenrechtsrates einig sind und leider vieles zu beklagen ist. Die Debatte hier im Haus ist sicherlich sehr sinnvoll. Dies allerdings mit einem Antrag zu verbinden, in dem die
Bundesregierung aufgefordert wird, aktiv zu werden, ist
- das hat auch die Ausschussberatung gezeigt - völlig
überflüssig, weil wir uns sehr einig sind.
Die Bundesregierung ist hinsichtlich der Arbeit des
Menschenrechtsrates sehr aktiv. Unser Außenminister
war auch in diesem Jahr beim Menschenrechtsrat. Auch
der Menschenrechtsausschuss war vor Ort. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus
Löning, war in Genf. Auch viele Kollegen hier sind nicht
zum ersten Mal bei den Sitzungen dabei gewesen. Wir
können feststellen: Unser Engagement ist gut. Wir haben
das, was im Menschenrechtsrat geschieht, zu kontrollieren
und zu kritisieren. Er ist eine Neuorganisation der Menschenrechtskommission, die ausgesprochen schlecht gearbeitet hat. Das heißt nicht, dass es jetzt viel besser ist;
aber wir sind auf einem guten Weg. Das sollten wir kritisch begleiten.
Der Review-Prozess war bei unserem diesjährigen
Besuch wie auch im Jahr zuvor ein zentrales Thema. Wir
haben eine Reihe von Gesprächen im Rat, aber auch am
Rande geführt. Im letzten Jahr haben wir mit der Hochkommissarin für Menschenrechte darüber diskutiert, wie
der Review im nächsten Jahr, also in diesem Jahr, aussehen soll. Wir haben in diesem Jahr mit dem Präsidenten
des Menschenrechtsrates gesprochen. Als wir nach Genf
gefahren sind, hatten wir die große Hoffnung, dass das,
was auf der Agenda der Bundesregierung, aber auch auf
unserer Agenda gestanden hat, zumindest in wichtigen
Teilen umgesetzt wird. Leider wurden wir enttäuscht.
Die Worte des Präsidenten des Menschenrechtsrates waren - die Kollegen, die dabei waren, erinnern sich -: Der
Prozess war schwierig und mitunter auch frustrierend. Wir waren dann auch sehr frustriert, als wir gehört haben, was erreicht bzw. was nicht erreicht werden konnte.
In drei Monaten Debatte gab es keine Annäherung der
Blöcke des Westens auf der einen Seite und des politischen Südens, wenn man ihn so bezeichnen kann, auf
der anderen Seite. Es gab einige Verbesserungen auf Nebenschauplätzen. Aber die zentralen Punkte konnten
nicht durchgesetzt werden, was sicherlich auch daran
liegt, dass das Konsensprinzip gilt und die Mehrheitsverhältnisse eben so sind, wie sie hier schon beschrieben
wurden. Bei nüchterner Betrachtung kann man, glaube
ich, sagen, dass der Status quo dennoch akzeptabel ist.
Die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter, die uns
ganz wichtig war, wurde angesprochen. Wir hätten lieber
eine Stärkung gehabt. Auch hätten wir eine Stärkung der
Arbeit der Hochkommissarin für wünschenswert gehalten. Beides konnte nicht durchgesetzt werden. Andererseits konnte eine Schwächung der Position verhindern
werden. Insofern können wir zufrieden sein.
Ein Anliegen im Antrag der SPD betrifft den ReviewProzess. Es geht auch um das Staatenüberprüfungs- und
UPR-Verfahren. Im Rahmen der zweiten Runde des
UPR-Prozesses, der 2012 beginnt, muss in den Staatenberichten auch in Bezug auf folgende Fragen - darauf
wird der Fokus zu richten sein - Auskunft gegeben werden: Was ist in der ersten Runde berichtet worden? Welche Hausaufgaben sollten daraufhin gemacht werden?
Wurde das in den Staaten auch auf den Weg gebracht? Das ist, denke ich, ein ganz wichtiger Punkt. Es war
auch ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung, dass
das Verfahren auf einen guten Weg kommt. Damit könnten wir jetzt zufrieden sein.
Ein Manko ist, dass aktuelle Themen nicht so ohne
Weiteres auf die Tagesordnung gesetzt werden können;
Kollege Strässer hat als Beispiel Sri Lanka angesprochen. Der Westen wird das - bei 11 von 47 Stimmen aus eigener Kraft nicht schaffen. Wir müssen also Verbündete suchen. Es geschieht relativ selten, dass wir dabei erfolgreich sind. Wir müssen die Regionalblöcke
aufbrechen. Bei Sachthemen geht das auch. Ich denke da
an die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland
und den Philippinen beim Thema Menschenhandel. Wir
müssen versuchen, langsam und in kleinen Schritten
diese Blöcke aufzubrechen, um im Sinne der Menschenrechte zu guten Ergebnissen zu kommen. Bei Libyen hat
das geklappt; wir haben es gesehen. Ich denke, das war
nur deshalb so, weil sich auch der libysche Botschafter
auf die Seite derer gestellt hat, die die Situation in
Libyen angeprangert haben. Wir waren live dabei und
später sehr guten Mutes, dass sich das vielleicht auch im
Hinblick auf die Situation Syriens fortsetzen wird. Aber
dieser Prozess war leider nicht erfolgreich. Das einzig
Positive ist: Damals dachten wir, dass Syrien demnächst
einen Sitz im Rat haben wird. Das ist nicht geschehen.
Syrien hat Gott sei Dank zurückgezogen. Dafür ist Kuwait in den Rat eingezogen.
Im Hinblick auf die Statusfrage war Einvernehmen
erzielt worden, dass der Menschenrechtsrat ein Nebenorgan der Vereinten Nationen bleiben wird. Unser Anliegen ist aber, dass die Beziehungen zwischen dem Menschenrechtsrat und dem UN-Sicherheitsrat verstärkt
werden. Es ist ein großer Wunsch von uns, dass die Bundesregierung, die dieses Verfahren jetzt in New York
weiter begleitet, dies vielleicht noch mit auf den Weg
nimmt. Die Resolution ist in New York - mit dem kleinen Konsens, der erzielt wurde, aber auch mit allen
Punkten, die strittig waren - vorgelegt worden. Sie ist
also bekannt. Wir schauen, ob wir da vielleicht noch das
eine oder andere erreichen können. Die Bundeskanzlerin
hat auf dem Kirchentag darauf gepocht, dass eine Reform des UN-Sicherheitsrates dringend auf den Weg gebracht werden muss. Vielleicht ist das auch noch einmal
ein Anschub, über das Verfahren bzw. die Arbeitsweise
des Menschenrechtsrates nachzudenken, um bei den
Menschenrechten auf einen besseren Weg zu kommen.
Insgesamt sind wir uns in diesem Punkt, was den
Menschenrechtsrat angeht, im Ausschuss, aber auch hier
im Plenum sehr einig. Unsere Anliegen und Ziele sind
auch die der Bundesregierung. In diesem Sinne sollten
wir die Arbeit weiter begleiten. Ich denke, dass das bei
diesem Thema möglich sein wird.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6087 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6078, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5482 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen von SPD und Grünen sowie Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({1})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({2}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({3}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 17/5706, 17/6135 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6136 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion
das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
es mit einer EU-Perspektive für den gesamten Westbalkan ernst meinen, dann ist es unerlässlich, dass wir uns
weiterhin im Kosovo engagieren. Dabei sind die Erfordernisse an die Präsenz von Truppen in den letzten Jahren zurückgegangen. Wir werden auch diesmal die Obergrenze reduzieren, und zwar von 2 500 auf 1 850 Soldaten. Von den geplanten 5 500 Soldaten von KFOR insgesamt werden wir 900 Soldatinnen und Soldaten stellen.
Frau Kollegin Evers-Meyer ist nicht anwesend. Deshalb bitte ich, ihr auszurichten, dass Deutschland dort
den Kommandeur stellt und damit in dieser Mission die
Lead-Funktion hat. Auch stellen wir bis August dieses
Jahres den Leiter der EULEX-Polizeimission. Dass wir
uns, wie sie es in Bezug auf den UNIFIL-Einsatz gesagt
hat, bei diesen Einsätzen zurückhalten, was die LeadFunktion angeht, stimmt also zumindest in diesem Fall
nicht. Es ist ein sehr erfolgreicher Einsatz.
({0})
Im Übrigen darf darauf hingewiesen werden, dass
weiterhin in einigen Regionen des Kosovo - Stichwort
„Mitrovica und Umgebung“ - ein Eskalationspotenzial
vorhanden ist. Insofern sind die Forderungen unbegründet, die wahrscheinlich wieder gebetsmühlenartig von
den Linken kommen werden, das Militär an dieser Stelle
abzuziehen, weil es nicht mehr nötig ist.
({1})
- Wenn Sie sagen: „Das war es nie“, dann kann ich nur
sagen: So blind kann man in den 90er-Jahren nicht gewesen sein, um nicht zu wissen, dass dort Truppen zur
Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen
notwendig gewesen waren.
({2})
Es sei denn, man ist ideologisch verblendet. Dann war
man vielleicht so blind.
Im Übrigen ist dieser Einsatz ein Beispiel für die gelungene Verbindung von militärischen und zivilen Maßnahmen, also für den gelungenen vernetzten Ansatz. Ich
habe eben schon erwähnt, dass die Europäische Union
dort mit der EULEX-Mission präsent ist. Diese Mission
hilft, einen Rechtsstaat mit all seinen Komponenten aufzubauen, sowohl was die Polizeimission als auch den
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und der Rechtsprechung angeht. Insbesondere die Bundesrepublik
Deutschland ist mit erheblichem Potenzial vertreten.
Über 100 deutsche Experten aus dem Bereich der Justiz
sind dort tätig, ebenso wie Polizeibeamte und andere
Kräfte.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist seit
Ende der 90er-Jahre dort aktiv, und zwar mit insgesamt
370 Millionen Euro seit 1999. Sie sehen also: Hier geht
unter dem Schutz unserer Militärstreitkräfte parallel der
zivile Aufbau der Gesellschaft voran.
Ich will bei dieser Gelegenheit auf einen allgemeinen
Punkt aufmerksam machen. Gerade an dem erfolgreichen Beispiel der Mission im Kosovo zeigt sich die Notwendigkeit, dass wir bei den von mir genannten Kräften
wie Polizei, Verwaltungsbeamten und Justizbeamten
mehr Potenzial und Kapazitäten bei uns in der Bundesrepublik Deutschland aufbauen und auch innerhalb der Europäischen Union darauf hinwirken, dass die Planziele,
die dort vor Jahren vorgegeben worden sind, besser erreicht werden, als es bisher der Fall gewesen ist. Wir
werden erleben, dass wir auch in anderen Teilen der Welt
gefordert sein werden, und zwar nicht nur militärisch,
sondern vor allem auch mit zivilem Engagement beim
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen, um bei der
Umsetzung der Rule of Law entsprechend tätig zu werden. Wir sehen an allen Ecken und Enden, dass es an
entsprechend qualifiziertem Personal mangelt. Dabei ist
für die entsendenden Institutionen in Deutschland, also
die Länderjustiz und die Länderpolizei, vorzusehen, dass
die dort fehlenden Kräfte durch geeignete Kräfte ersetzt
werden.
Ich denke, wir alle haben in diesem Punkt eine gewaltige Aufgabe vor uns. Gerade das gelungene Beispiel des
Kosovo zeigt, dass es sich lohnt, diese Kapazitäten aufzubauen und zum Teil vorzuhalten.
({3})
Ich sage zum Abschluss gegen die wahrscheinlich
nachher von der Linken kommende Unterstellung der
Militarisierung der Politik: Wer nicht erkennt, dass unter
dem Schutz der Bundeswehr und der Alliierten, die dort
präsent sind, eine Aufbauarbeit für dauerhafte Stabilität
und einen dauerhaften Staatsaufbau mit der Perspektive
eines Beitritts auch dieser Region zur Europäischen
Union geleistet wird, der muss ideologisch verblendet
sein. Wir stehen zu diesem Einsatz, weil er in seiner Gesamtheit und in der Verbindung mit EULEX sinnvoll ist,
und bitten um Zustimmung zur Verlängerung dieses
Mandats.
Danke schön.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen mitteilen, dass auf der Tribüne der Außenminister des Kosovo, Enver Hoxhaj, in Begleitung des Botschafters
Dr. Vilson Mirdita Platz genommen hat. Herr Minister,
wir freuen uns, dass Sie die Gelegenheit nutzen, bei dieser Debatte hier im Deutschen Bundestag dabei zu sein.
Vielen Dank!
({0})
Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn von anfangs 55 000 NATO-Soldatinnen und
-Soldaten nunmehr nur noch rund 5 000 im Kosovo im
Einsatz sind, stellen wir fest, dass der KFOR-Einsatz
weiterhin erforderlich ist. Er bleibt deshalb erforderlich,
weil wir ein stabiles Umfeld im Kosovo brauchen, damit
dort Sicherheit erreicht wird, aber auch Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte
weiterentwickelt werden können. Das ist nicht nur für
die Freiheit und Unversehrtheit aller Bürgerinnen und
Bürger im Kosovo notwendig, sondern diese Stabilität
ist auch Voraussetzung, damit das Kosovo eine Perspektive hat und den Weg hin zu einer EU-Mitgliedschaft
weiter konstruktiv gehen kann.
Wie weit dieser Weg ist, zeigen die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission. In manchen Bereichen gibt es Fortschritte; aber gerade in den Bereichen
der Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gibt es
keine oder nur sehr geringe Fortschritte. Deshalb muss
es für uns darauf ankommen, gemeinsam Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Kräfte im Kosovo unterstüt13090
zen, die dort Reformen angehen wollen und die den Weg
in Richtung Ausbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehen. Ich sage sehr deutlich: Damit diese
Kräfte gestärkt werden, muss das Engagement der Bundesrepublik Deutschland, aber auch das Engagement der
Europäischen Union im Kosovo und in der gesamten Region ausgebaut und gestärkt werden. Es muss klar sein,
dass das Versprechen von Thessaloniki steht: Die Staaten in der Region, die den mühsamen Weg der Reformen
erfolgreich gehen, müssen sich darauf verlassen können,
dass sie am Ende dieses Weges die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union haben.
({0})
Deshalb brauchen wir deutliche Signale - wir haben die
Argumente schon in anderen Debatten miteinander ausgetauscht - aus der EU, aber auch aus wichtigen Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland, dass
nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union
nicht Schluss ist mit den Anstrengungen vonseiten der
Europäischen Union, die Beitrittsperspektive für die
Staaten offenzuhalten, die die Kriterien erfüllen.
Nach den Fortschritten, die wir in Serbien erleben
können, muss es jetzt auch ein klares Signal gegenüber
diesem Land geben, dass sich die dortigen Reformpolitiker - nicht nur Präsident Tadic - darauf verlassen können, dass die Europäische Union ihr Engagement, Serbien auf dem Weg in die EU zu begleiten, ausbaut.
Gerade nach dem Erfolg der Verhaftung des Kriegsverbrechers Mladic müssen diejenigen in Serbien, die dafür
verantwortlich sind, wissen, dass das aufseiten der Europäischen Union honoriert wird. Das, was unter dem konservativen Präsidenten Kostunica nicht möglich war, ist
jetzt unter Präsident Tadic gelungen. Ich finde, er verdient dafür unsere Anerkennung und unsere Unterstützung.
({1})
Wenn wir in dieser Region glaubwürdig bleiben wollen, ist außerdem wichtig, dass wir alle Staaten dort fair
behandeln. Das heißt, dass zum Beispiel in der Frage der
Visaliberalisierung auch für das Kosovo weiterhin gelten
muss: Wenn ein Staat die Bedingungen, die wir entwickelt haben, um die Teilnahme an einem liberaleren
Visaregime zu ermöglichen, erfüllt, dann müssen wir darauf angemessen reagieren, und es darf nicht aus politischen Gründen oder Opportunitätsgründen Möglichkeiten erster und zweiter Klasse geben, die
Visaliberalisierung zu erlangen. Das wäre kontraproduktiv, und das würde die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union aushöhlen.
Ein weiterer Punkt, den ich für sehr wichtig halte
- das ist vom Kollegen Spatz schon gesagt worden -:
Wir müssen unser Engagement in der Zivilgesellschaft
verstärken. Nur wenn es gelingt, tragfähige zivilgesellschaftliche Strukturen zu schaffen - nicht nur im Kosovo -,
können die Reformprozesse mehr Dynamik bekommen
und unumkehrbar werden. Außerdem ist aus meiner
Sicht sehr wichtig, dass wir das Monitoring ausbauen.
Trotz der Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission habe ich manchmal das Gefühl, wir müssten
noch etwas genauer schauen, ob es Fortschritte gibt, zum
Beispiel bei den Bürgerrechten.
Die Europäische Union muss sich stärker engagieren,
wenn wir feststellen, dass Konflikte in der Region zu eskalieren drohen. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass die
Europäische Union deutlichere Signale aussendet, etwa
dass die Art und Weise, wie die Regierung Berisha in
Albanien mit der Opposition umgeht, von uns nicht toleriert wird und dass wir dazu nicht schweigen.
({2})
Klar ist: Das Kosovo muss den Weg zu Reformen, zu
einer freiheitlichen Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit
selbst gehen und gehen wollen. Dazu bedarf es auch des
Vorbilds der politischen und ökonomischen Eliten.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass da noch einiges
verbesserungswürdig ist. Gerade die jungen Menschen
im Kosovo - das Kosovo hat eine der jüngsten Gesellschaften in Europa - brauchen eine Perspektive. Gesellschaften mit zahlreichen jungen Menschen, die etwas
können und etwas leisten wollen, gibt es nicht nur in
Nordafrika, sondern auch in dieser Region. Es wäre fatal, wenn mangelndes Engagement der Europäischen
Union dazu führte, dass die dortige junge Generation
desillusioniert wird und das Gefühl hat, dass sie von uns
allein gelassen wird.
Im Kosovo und anderswo in dieser Region schwindet
das Vertrauen, dass die Europäische Union es mit der
Unterstützung beim EU-Beitritt wirklich ernst meint.
Manche Menschen im Kosovo erleben KFOR durchaus
als eine Art Besatzungsmacht. Angesichts dessen muss
klar sein, dass die politischen Initiativen durch die Europäische Union, aber auch durch unsere Regierung im
Vordergrund stehen. Die SPD unterstützt die Mandatsverlängerung. Wir verbinden das wirklich mit der Erwartung, dass die Bundesregierung und die Europäische
Union ihr Engagement für das Kosovo, für die Region,
für die Zivilgesellschaft, für eine Perspektive der jungen
Menschen dort glaubhaft verstärken und ausbauen. Mit
unserem militärischen Einsatz stehen wir in der Verantwortung für das Gelingen der Demokratie in dieser Region. Aus dieser Verantwortung können wir uns nicht
wegstehlen. Wir sollten alles dafür tun, dass es durch ein
verstärktes, glaubwürdiges Engagement zu einer so positiven Entwicklung kommt, dass wir das KFOR-Mandat
möglichst bald beenden können.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Genau vor einem Jahr haben wir hier über
die Reduzierung der Mandatsobergrenze für KFOR von
damals 3 500 Soldaten auf 2 500 abstimmen können.
Der heutige Antrag sieht eine weitere Kürzung um mehr
als ein Viertel auf 1 850 Soldaten vor. Diese sukzessive
Reduzierung ist einmal mehr Beweis für den Erfolg unserer KFOR-Mission. Sie belegt, dass der Kurs von Anfang an gestimmt hat und unsere Strategie richtig war.
Knapp 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten
haben bislang in diesem Einsatz gedient. Jede und jeder
Einzelne hat so einen Beitrag zur Befriedung des Kosovo geleistet. Ich möchte ihnen daher von ganzem Herzen danken und wünsche ihnen weiterhin bei ihrem Auftrag Gottes Segen.
({0})
Alle am Einsatz Beteiligten haben dazu beigetragen,
dass das Kosovo auf dem Weg nach Europa ein gutes
Stück vorwärtsgekommen ist und mit mehr Mut und Zuversicht in die Zukunft blicken kann. Dass hier und
heute Regierungsvertreter des Kosovo unserer Plenarsitzung beiwohnen und der Debatte folgen, freut mich besonders. Es ist ein Zeichen, dass sie Interesse an einem
gemeinsamen Europa und an einer guten Entwicklung in
ihrem Land haben.
Dafür sprechen auch andere Fakten. So wurden beim
Aufbau einer funktionierenden Polizei und bei den einheimischen Sicherheitskräften im letzten Jahr nachhaltige Fortschritte erzielt, ebenso bei der Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX, an der derzeit über 100 deutsche
Experten beteiligt sind. Die Funktionsfähigkeit des Konzepts der drei Sicherheitsreihen aus Kosovo-Polizei,
EULEX-Bereitschaftspolizei und KFOR-Kräften hat
sich dabei bewährt und ist ein richtiger Schritt auf dem
Weg der sukzessiven Übergabe von Sicherheitsverantwortung. KFOR tritt mehr und mehr in den Hintergrund
und kann das Handeln zunehmend den nationalen Sicherheitskräften und EULEX überlassen. Der kosovarische Sicherheitsapparat hat wiederholt bewiesen, dass er
immer mehr dazu in der Lage ist, Verantwortung für die
Sicherheit im Land zu übernehmen. So waren im Rahmen der letzten beiden Parlamentswahlen weder KFOR
noch EULEX gefordert. Auch bei bislang fünf von neun
besonders schützenswerten serbischen Denkmälern
konnte die Sicherheitsverantwortung von KFOR an die
kosovarischen Sicherheitsapparate abgegeben werden.
Dies entlastet nicht nur KFOR, sondern es ermutigt auch
die lokalen Stellen, den Weg fortzusetzen und Verantwortung für ihr Land zu übernehmen.
Wie viel stabiler das Land heute schon ist, zeigt sich
auch daran, dass die Wechsel an der Staatsspitze und die
damit einhergehenden kurzzeitigen Phasen des Machtvakuums nicht zu einer Destabilisierung der Sicherheitslage geführt haben. Im Gegenteil: Der friedliche und gewaltfreie Ablauf unterstreicht vielmehr, dass das
staatliche und sicherheitspolitische System des Kosovo
sich zu festigen beginnt. Als wir damals die Entscheidung getroffen haben, einzugreifen und zu helfen, war
dies nicht einfach. Wenn wir uns noch einmal die Ausgangslage vor Augen führen, kann man den heutigen
Fortschritt gar nicht hoch genug bewerten. Dennoch sind
für das Kosovo noch viele Hürden auf dem Weg zur Europäischen Union zu nehmen.
Die größten Problemfelder sind das geringe Wirtschaftswachstum, die hohe Arbeitslosigkeit, der hohe
Nettoimport sowie die anhaltende Korruption. All dies
hemmt internationale Investitionen, die die Wirtschaft
ankurbeln würden. Darüber hinaus schreibt beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung zu Recht, dass ein System von Checks and Balances fehlt. Parlament und Regierung stehen der Justiz fast machtlos gegenüber. Auch
die Medien sind leicht beinflussbar. Die kosovarische
Regierung muss hier konsequent tätig werden, damit das
Land eine gute Zukunft hat. Wir helfen gern. Wir wollen
ein friedliches Kosovo, und wir wollen Frieden auf dem
Balkan; denn diese Region gehört zu Europa. Dafür stellen wir Soldaten zur Verfügung, Polizei im Zuge von
EULEX, fördern Projekte zur interethnischen Aussöhnung sowie zur Multiethnizität im Kosovo. Dass die Förderung ankommt, können wir unter anderem daran erkennen, dass mehr und mehr Serben am politischen
Leben teilnehmen. Dabei übernehmen sie demokratische
Funktionen und damit Verantwortung in der Politik des
Kosovo - ein wichtiger Schritt, um den multiethnischen
Konflikt langsam weiter abbauen und gegenseitiges Vertrauen schaffen zu können.
Um das Kosovo noch ein Stück auf dem Weg zu einem modernen und multiethnischen Staat in Europa zu
begleiten, bitte ich Sie um Ihre Zustimmung für dieses
Mandat.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erste Debatte zur Verlängerung des
KFOR-Mandats hat sehr viel über die generelle Haltung
der hier vertretenen Parteien gegenüber dem Balkan zum
Ausdruck gebracht, eine Haltung, die vor Geschichtsvergessenheit und Paternalismus geradezu trieft. Da möchte
ich gerade Sie, Herr Mißfelder von der CDU, ansprechen. Sie sagten, die Weigerung des serbischen Präsidenten Tadic, an einem Gipfeltreffen mit Obama und der
sogenannten Präsidentin des Kosovo teilzunehmen, bedürfe „keiner Geißelung, aber des Hinweises, dass wir
uns das so nicht vorstellen.“ In dieser Wendung kommt
so viel Verachtung gegenüber dem serbischen Präsidenten zum Ausdruck, dass man sich schon sehr wundern
muss, Herr Kollege.
({0})
Sevim Daðdelen
Genau diese Haltung, Herr Kollege Mißfelder, kritisieren ich und meine Fraktion. Wir wollen keine Außenpolitik der Gewalt, der Drohungen und Androhungen.
({1})
Sie haben damit bereits genug Unheil angerichtet. Damit
muss wirklich endlich einmal Schluss sein.
Meine Damen und Herren, leider gehen die Äußerungen von Herrn Außenminister Westerwelle in eine ähnliche Richtung. Wiederholt behauptet er, dass der Status
des Kosovo geklärt sei. Da frage ich mich ehrlich und
ernsthaft: In welcher Welt leben Sie eigentlich?
({2})
Das entspricht doch einfach schlicht nicht den Tatsachen. Für Sie persönlich mag das vielleicht gelten, aber
völkerrechtlich gilt das doch nicht, Herr Westerwelle.
Warum verschweigen Sie, dass das Kosovo eben kein
Mitglied der Vereinten Nationen ist? Ebenso gut könnten
Sie behaupten, der Status von Abchasien, Südossetien
oder Transnistrien sei geklärt. Die Linke fordert hier eine
radikale Kehrtwende, weg von einer Außenpolitik, die
einseitige Grenzveränderungen in Europa legitimiert und
befördert.
({3})
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Bundeswehr
hat auf dem Balkan und auch anderswo nichts zu suchen.
Sie hat dort bisher wirklich verheerend gewirkt, angefangen mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen
Bombenkrieg gegen Jugoslawien
({4})
bis hin zum Zuschauen, als ein kosovo-albanischer Mob
2004 serbische Enklaven stürmte und die Häuser von
Serben und Roma plünderte. Ich finde, ihre Erfolgsbilanz ist hier wirklich sehr schlimm. Deshalb bitte ich
Sie, einmal nur für einen kurzen Moment innezuhalten
und sich endlich diese schlimme Bilanz anzusehen.
({5})
Dazu gehört auch - das sage ich gerade meinen Kolleginnen und Kollegen von den Grünen - das absolute
Versagen gegenüber dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Hashim Thaci. Sie ignorieren schlicht die Berichte
des Europarates.
({6})
Ja, man kann bei Ihnen den Eindruck gewinnen, Sie würden diese Verbrechen auch noch beschweigen wollen.
({7})
Da Sie, Frau Beck, immer nach mir reden, möchte ich
Ihnen im Vorhinein etwas sagen: Dass Sie versuchen, jeden, der es auch nur wagt, nach den Kriegsverbrechen
der UCK zu fragen, im Stile der UCK als serbischen Nationalisten hinzustellen, ist für mich, Frau Beck, wirklich
unerträglich und abstoßend.
({8})
Vor so einer Außenpolitik graust es einem ja. Deshalb
bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, beschweigen wir hier im Hause nicht weiter die Kriegsverbrechen
der UCK.
In diesem Zusammenhang ist die aktuelle Antwort
der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage mit der
Drucksachennummer 17/5848 sehr brisant. Sie bezeichnet die Frage nach Kriegsverbrechern als eine „innere
Angelegenheit der Republik Kosovo“.
({9})
Man kann dies nur so interpretieren, dass Sie auf dem
Balkan mit zweierlei Maß messen und hier bewusst wegschauen. Geben Sie sich endlich einen Ruck, und leiten
Sie einen Richtungswechsel ein, um die fortgesetzte
Straflosigkeit unter dem Schutz der Bundeswehr zu beenden!
({10})
Die Linke stimmt gegen die Fortsetzung des Militäreinsatzes.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, es wäre schon sehr
wünschenswert, dass Ihre Kollegen einmal im Europarat
auftauchen.
({0})
Wenn sie dort gewesen wären, wüssten Sie vielleicht
- aber Sie könnten es auch nachlesen, wenn Sie wollten -,
({1})
dass bei der Plenardebatte über den Bericht des Kollegen
Dick Marty, der übrigens meiner Fraktion angehört und
der den Fragen der organisierten Kriminalität im Kosovo
nachgegangen ist, ich diejenige gewesen bin, die für eine
lückenlose und dringliche Aufklärung dieser Vorwürfe
plädiert hat, und dass ich sogar so weit gegangen bin,
vorzuschlagen, dass Ministerpräsident Thaci sich selber
anzeigen möge;
Marieluise Beck ({2})
({3})
denn mit dem Leumund, dass man an einer organisierten
Kriminalität, die sogar mit Organen gehandelt hat, beteiligt gewesen sei, kann man eigentlich nicht Ministerpräsident sein. Das alles können Sie nachlesen, und dann
wäre es vielleicht an der Zeit, hier einiges von den unglaublichen Dingen, die Sie mir vorgehalten haben, zurückzunehmen.
({4})
KFOR ist - das wissen alle, die bei Gewalt nicht wegsehen und zwischen Tätern und Opfern wirklich unterscheiden wollen - nicht denkbar ohne Srebrenica. Ich
möchte das hier noch einmal sagen, weil wir durch die
Festnahme von General Mladic noch einmal die Bilder
von Srebrenica vor Augen geführt bekommen haben.
Am 11. Juli werden sich die Geschehnisse zum 16. Mal
jähren, und wir werden an die Bilder der verzweifelten
Frauen und Mütter denken, die ihre Söhne und Männer
aus den Händen geben mussten, welche unter den Augen
der UN in die Wälder abgeführt und dort umgebracht
wurden.
Die Entscheidung für KFOR ist nur vor diesem Hintergrund zu sehen.
({5})
Sie hat mit Sicherheit allein durch ihre Anwesenheit vielen Menschen das Leben gerettet. Es ist gut, dass diese
Mission immer stärker ihren militärischen Charakter
verlieren und den polizeilichen Charakter verstärken
kann. Der Aufbau dieses kleinen Staates ist sehr schwierig, viel mühseliger, als wir uns das vorgestellt haben. Es
gibt viele Schwierigkeiten in diesem Staat. Es gibt organisierte Kriminalität, bei der auch die zivile europäische
Mission sich schwertut, sie so deutlich und durchschlagend zu bekämpfen, wie wir es uns wünschen würden.
({6})
Zudem gibt es viele Schwierigkeiten, mit denen dieses
kleine Land konfrontiert ist, weil die Statusfrage zumindest aus serbischer Sicht noch ungeklärt ist.
({7})
Es macht mich sehr unruhig, dass bei der Stadt Mitrovica, die bis heute geteilt ist, immer noch nicht ganz klar
ist, dass diese Teilung keinen Bestand haben kann. Dieses kleine Kosovo wird nicht durch Gebietsaustausch
Ruhe finden, sondern nur, wenn dieser Staat von der serbischen Bevölkerung, von Roma, von Ashkali, von
Ägyptern und von Kosovo-Albanern als gemeinsamer,
multiethischer Staat gesehen wird.
({8})
Fantasien in Bezug auf einen Gebietsaustausch können
nur von denen in die Welt gesetzt werden, die nicht
wissen, dass die größten serbischen Enklaven im Süden
des Landes liegen und insofern ein Gebietsaustausch in
Mitrovica der serbischen Bevölkerung im Land nicht
helfen würde.
Der Weg wird nach wie vor schwierig sein. Es ist gut,
dass sich Serbien bewegt. Wir müssen Herrn Tadic allen
Respekt aussprechen und hoffen, dass dieser Weg der
Aussöhnung weitergegangen wird, damit sowohl Serbien als auch das Kosovo die echte Perspektive haben,
zu uns in der Europäischen Union dazuzugehören. Das
wünschen sich vor allem die jungen Menschen in beiden
Ländern, auch die, die wir im Augenblick als Stipendiaten bei uns im Deutschen Bundestag haben. Ich habe
gestern Abend mit 13 jungen Menschen aus allen Westbalkanländern zusammengesessen. Sie wollen sich aus
dem Würgegriff der Nationalisten befreien, weil sie nach
Europa wollen und weil sie eine Zukunft haben wollen.
Diese Zukunft sollten wir ihnen wirklich geben und ihnen die Türen aufmachen.
Schönen Dank.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Peter Beyer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was geht uns
das Kosovo an? Warum müssen wir dorthin immer noch
unsere Soldaten entsenden und Präsenz zeigen? Das alles sind Fragen, die sich die Menschen hierzulande stellen. Erinnern Sie sich noch an die Flüchtlinge in den
1990er-Jahren? Deutschland erklärte sich seinerzeit bereit, sogenannte Kontingentflüchtlinge aufzunehmen,
und zwar 10 000 an der Zahl. Insgesamt sprechen
Flüchtlingsorganisationen von 100 000 Menschen, die
vor Gewalt und Terror flohen. Uns allen wurde nicht zuletzt durch die Anwesenheit dieser Kinder, Frauen und
Männer deutlich vor Augen geführt, dass vor unserer
Haustür Krieg herrscht. Es handelte sich bei diesem Krieg
aber nicht um einen historisch abgeschlossenen Prozess,
den wir in den Geschichtsbüchern nachlesen könnten. Unruhen gibt es nach wie vor. Peacekeeping - mit Betonung
auf „keeping“ - heißt die Formel für die Region, die
zweifelsohne zu den größten Herausforderungen europäischer Friedenspolitik gehört.
Das Kosovo ist nicht irgendwo, sondern gleich nebenan. Der Balkan hat uns schmerzlich daran erinnert,
dass Frieden und Demokratie auch in Europa nicht
selbstverständlich sind, dass wir als Deutsche im Schulterschluss mit unseren Partnern immer wieder für diese
höchsten Güter kämpfen müssen. Seit 1999 engagiert
sich die Bundeswehr nunmehr im Kosovo. KFOR ist damit der längste, ununterbrochene Einsatz der Bundeswehr überhaupt. Es hat - das steht außer Frage - schwierige Phasen des KFOR-Einsatzes gegeben. Das gilt nicht
nur für die Zeit der ersten Monate im Jahr 1999, sondern
zum Beispiel auch für den März 2004, als es zu schweren, gewaltsamen Ausschreitungen mit Toten und Verletzten und in der Folge zu Tausenden von Vertriebenen
kam.
Mit Ausnahme von Teilen der nördlichen Region ist
die Sicherheitslage im Kosovo heute nachhaltig stabilisiert. So konnte beispielsweise das 2004 schwer beschädigte Erzengelkloster nahe Prizren, das die Bundeswehr
viele Jahre über beschützte, im letzten Monat an die kosovarischen Sicherheitsbehörden übergeben werden. Der
schrittweise Auf- und Ausbau selbsttragender Sicherheitsstrukturen ermöglicht uns jetzt die weitere Absenkung der Personalobergrenze des Mandats von ursprünglich 8 500 auf 1 850 Soldatinnen und Soldaten. Damit
stellt Deutschland auch zukünftig das größte Truppenkontingent, von dem ein Teil als Reserve in Deutschland
verbleiben kann. Welch besseres Zeichen für eine positive Entwicklung im Kosovo kann es geben, als die kontinuierliche Reduzierung der KFOR-Präsenz? Heute
wird KFOR vor allem noch als sogenannte dritte Sicherheitslinie hinter der Kosovo Police und EUPOL benötigt.
Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière
hat die Einzelheiten und Hintergründe zu diesem Einsatz
in seinem Debattenbeitrag am 26. Mai an dieser Stelle
ausführlich erläutert. Erlauben Sie mir daher einige Anmerkungen zur Entwicklung in Serbien; denn dort liegt
ein ganz wesentlicher Schlüssel zu einer besseren Zukunft auch des Kosovo.
Die Balkanregion steht nach wie vor unter dem Eindruck der Festnahme des Menschenschlächters von Srebrenica, Ratko Mladic. Mladic wird sich, wie seinerzeit
Slobodan Milosevic und derzeit Radovan Karadzic, vor
dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in einem Prozess nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verantworten müssen; er hat seinen Opfern im Übrigen stets
die Rechtsstaatlichkeit verwehrt. Vieles ist für die Angehörigen der Opfer auch heute noch nur sehr schwer zu
ertragen. Dennoch dürfen sie hoffen, durch die Thematisierung ihres Leids und die gerichtliche Aufarbeitung
Linderung zu erfahren. Dazu leistet der Internationale
Strafgerichtshof einen wertvollen Beitrag.
({0})
Die serbische Regierung ist und bleibt aufgefordert, aufzuklären, weshalb es fast 16 Jahre gedauert hat, Mladic
festzusetzen, und welche Unterstützung er von wem,
wann und wo erfahren hat. Dennoch - das ist anzuerkennen - gibt es das Bemühen, die Kapitel der Vergangenheit aufzuarbeiten.
Meine Damen und Herren, dies ist nicht der Ort, die
denkbaren politischen Entwicklungen und Szenarien im
Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo en détail zu
diskutieren. Es ist aber klar, dass es für Kosovo und Serbien an der Zeit ist, an der Lösung der gemeinsamen
Probleme zu arbeiten. Die ersten auf Vermittlung der EU
zustande gekommenen direkten Gespräche zwischen
Belgrad und Pristina, die im März dieses Jahres begonnen haben, sind ein wichtiger erster Schritt und eröffnen
der EU im Übrigen die nicht zu unterschätzende Möglichkeit, Einfluss auf Serben und Kosovaren zu nehmen.
Bisher hat es drei Treffen in Brüssel und eines in Pristina
gegeben. Dabei ging es vor allem um die Lösung von
Alltagsfragen, beispielsweise um Pass- und Grundbuchfragen, Zollstempel, Telekommunikation und Elektrizitätsversorgung. Es ist auf ein Momentum für eine umfassende Gesprächsagenda zu hoffen, um die Beziehungen
zwischen Serben und Kosovaren auf eine solide Basis zu
stellen.
Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung und für
eine Zukunft in Europa. Für Stabilität und Sicherheit im
Kosovo braucht es die KFOR. Sie gewährleistet den
Rahmen, in den eingebettet das Land in eine europäische
Zukunft schreiten kann, und zwar so lange, bis der Auftrag der Vereinten Nationen beendet ist. Das wird dann
der Fall sein, meine Damen und Herren, wenn die Institutionen des Landes Sicherheit in allen regionalen Bereichen und allen Bevölkerungsschichten verlässlich gewährleisten können.
Lassen Sie uns mit Blick auf die Balkanregion auch
die Rolle unserer transatlantischen Partner, vor allem der
USA, im Blick behalten; denn sie übernehmen eine verantwortungsvolle Rolle in der Region. So sind sie neben
der EU aktiv an den direkten Gesprächen zwischen Serben und Kosovaren beteiligt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Wie bedeutend die verlässliche und partnerschaftliche Kooperation mit unseren amerikanischen Freunden insgesamt ist,
hat der Besuch der Kanzlerin in Washington Anfang dieser Woche eindrücklich gezeigt.
({0})
Zum Abschluss danke ich den Frauen und Männern,
die im Kosovo Dienst tun, und im Übrigen allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandsverwendungen. So aufgestellt, können die Kosovaren, kann
Europa und können wir mit angemessen nüchterner Zuversicht nach vorn schauen.
Ich danke Ihnen.
http://lexika.tanto.de/artikel.php?TANTO_SID=e9a933dde31cd16c2f3f115d0dce7cd2&TANTO_KID=bundestag&TANTO_AGR=45081&shortname=felix&artikel_id=39886
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 17/6135 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/5706 anzuneh-
men. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführer und Schriftführe-
rinnen, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind die Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? -
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte
eingeworfen? - Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch eine
größere Zahl von Abstimmungen vorzunehmen. Ich bitte
Sie, soweit Sie sich daran beteiligen wollen, die Plätze
einzunehmen, damit wir das zügig durchziehen können.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
den nun folgenden Tagesordnungspunkten sämtlich zu
Protokoll zu nehmen. - Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen. Die Namen brauche ich nicht zu verlesen; sie
erscheinen im Protokoll.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:2)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Silvia Schmidt ({0}), Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Barrierefreier Tourismus für alle
- Drucksache 17/5913 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5913 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
1) Ergebnis Seite 13114 C
2) Anlage 2
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:3)
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze
- Drucksache 17/5178 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes
und weiterer Gesetze
- Drucksache 17/5708 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Gesundheit ({2})
- Drucksache 17/6141 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Riebsamen
Bärbel Bas
Lars Lindemann
Harald Weinberg
Dr. Harald Terpe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas,
Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Besserer Schutz vor Krankenhausinfektio-
nen durch mehr Fachpersonal für Hygiene
und Prävention
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Krankenhausinfektionen vermeiden - Tödli-
che und gefährliche Keime bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Prävention gegen Krankenhausinfektionen
verbessern
- Drucksachen 17/4452, 17/4489, 17/5203,
17/6141 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Riebsamen
Bärbel Bas
Lars Lindemann
Harald Weinberg
Dr. Harald Terpe
Tagesordnungspunkt 13 a. Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
3) Anlage 3
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
empfehlung auf Drucksache 17/6141, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5178 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositions-
fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss, den wortgleichen Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/5708 für erle-
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstim-
mung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Gesundheit auf Drucksache 17/6141 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/4452 mit dem Titel „Besserer Schutz
vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal
für Hygiene und Prävention“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der SPD und Enthaltung von den Linken und
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4489 mit dem Titel „Krankenhausinfektionen
vermeiden - Tödliche und gefährliche Keime bekämp-
fen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak-
tion.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/5203 mit dem Titel „Prävention gegen Kranken-
hausinfektionen verbessern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-
men der Linken und Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der SPD.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:1)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
1) Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen
- Drucksache 17/5917 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5917 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:2)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
- Drucksache 17/6000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gem. § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf
verbessern - Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen
- Drucksache 17/1434 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bezahlte Pflegezeit einführen - Organisation
der Pflege sicherstellen
- Drucksache 17/1754 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6000, 17/1434 und 17/1754 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/6000
2) Anlage 5
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
soll außerdem an den Haushaltsausschuss gemäß § 96
der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:1)
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({8}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit ({9})
- Drucksache 17/2211 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle,
Transgender und Intersexuelle gewährleisten Transsexuellengesetz aufheben
- Drucksache 17/5916 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Rechtsausschuss
Federführung strittig
Tagesordnungspunkt 23 a. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2211 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23 b. Die Vorlage auf Drucksa-
che 17/5916 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Fe-
derführung ist hier jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen die Federführung beim
Innenausschuss, die Fraktion Die Linke wünscht die Fe-
derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den
Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Lin-
ken angenommen. Damit liegt die Federführung beim In-
nenausschuss.
1) Anlage 9
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 17 auf:2)
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
Fortentwicklung des Emissionshandels
- Drucksachen 17/5296, 17/5711 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13})
- Drucksache 17/6124 Berichterstattung:
Abg. Andreas Jung ({14})
Abg. Frank Schwabe
Abg. Michael Kauch
Abg. Eva Bulling-Schröter
Abg. Dr. Hermann Ott
- Bericht des Haushaltsausschusses ({15})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/6125 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Sören Bartol
Heinz-Peter Haustein
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6124,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/5296 und 17/5711 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke, Enthaltung SPD
und Grüne.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts
- Drucksache 17/6051 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
2) Anlage 6
Mit der heutigen Einbringung des Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts gehen wir einen weiteren wichtigen
Schritt in Richtung besserer, sicherer und fairer Finanzmärkte.
Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz zu Beginn
dieses Jahres haben wir ein wesentliches Fundament für
einen verbrauchergerechteren Finanzmarkt gelegt. Wir
haben schon damals darauf hingewiesen, dass ein Gesetz zur Regulierung des sogenannten grauen Kapitalmarktes folgen wird. Dieses Gesetz legen wir Ihnen nun
heute, wie angekündigt, vor.
Mit dem Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagengesetz stellen wir sicher, dass die Pflichten für
Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die im regulierten Finanzmarktbereich bereits Standard sind, nun auch
auf Produkte des bisher unregulierten, also des Graumarktbereichs ausgeweitet werden. Durch diese Ausweitung der Produkt- und Vertriebsregulierungsmaßnahmen - zum Beispiel auf geschlossene Fonds - werden
Anleger nun auch in diesen Bereichen besser und umfänglicher geschützt. Zu den Regelungen gehört eine
Vielzahl von Beratungs- und Dokumentationspflichten,
wie beispielsweise das aufsichtsrechtliche Gebot, anlegergerecht zu beraten, die Provisionen für entsprechende Produkte und Dienstleistungen offenzulegen sowie die Pflicht, Protokolle über Beratungsgespräche zu
führen und diese dem Anleger zur Verfügung zu stellen.
Darüber hinaus sieht der Entwurf die Einführung
strengerer Anforderungen an den Inhalt und die Prüfung
von Verkaufsprospekten für Vermögensanlagen vor. Wie
bereits für Banken im Anlegerschutzgesetz verbindlich
geregelt, werden nun auch die Anbieter von Vermögensanlagen des bisher unregulierten Marktes verpflichtet,
kurze und übersichtliche Produktinformationsblätter zu
erstellen, um den Anlegern in leicht verständlicher Art
und Weise wichtige Informationen über Chancen und Risiken der ihnen angebotenen Produkte zu liefern. Zudem
sollen für Emittenten von Vermögensanlagen zukünftig
strengere Rechnungslegungsvorschriften gelten. So ist
beispielsweise vorgesehen, dass Emittenten für jeden
Fonds einen Jahresabschluss und einen Lagebericht innerhalb von sechs Monaten nach Ende des Geschäftsjahres von einem Wirtschaftsprüfer testieren lassen und
den Anlegern zur Verfügung stellen müssen. All diese
Maßnahmen leisten einen entscheidenden Beitrag für
die Förderung der Transparenz und des Anlegerschutzes
auf den Kapital- und Finanzmärkten.
Für die Erteilung einer Erlaubnis für den gewerberechtlichen Vertrieb von Finanzanlagen und für die Finanzberatung sollen darüber hinaus künftig strengere
Zulassungs- und Beratungsvorschriften gelten. Darunter fallen auch der Nachweis der Sachkunde sowie der
Nachweis über eine Berufshaftpflichtversicherung.
Natürlich werden durch diese zusätzlichen Prüfungen
im Rahmen des Erlaubnisverfahrens sowie durch die
Prüfungen zur Einhaltung der Informations-, Beratungs- und Dokumentationspflichten zusätzliche Kosten
auf die Länder und Kommunen zukommen. Diese können aber zum einen durch Gebühren gedeckt werden.
Und zum anderen sei angemerkt, dass zukünftig die Prüfung, ob es sich bei bestimmten Produkten des Graumarktbereichs um nach der Gewerbeordnung erlaubte
Finanzanlagen handelt, wegfallen wird, was wiederum
eine Erleichterung darstellt.
Lassen Sie mich kurz eine erste Bewertung - oder
besser: Einordnung - des Gesetzentwurfes vornehmen eine Einordnung der im Gesetz vorgesehenen Produktund Vertriebsregulierung. Ein wesentlicher Teil dieses
Gesetzentwurfes befasst sich mit der Regulierung von
Produkten, insbesondere mit der Regulierung von geschlossenen Fonds. Das ist uns sehr wichtig. Es ist uns
deswegen sehr wichtig, weil wir glauben, dass gerade
im Bereich der geschlossenen Fonds Handlungsbedarf
besteht. Wir haben in den Vorgesprächen zu diesem Gesetz zur Kenntnis genommen, dass die seriösen Anbieter
dieser Produkte sehr daran interessiert sind, eine weitreichende, über alle bisherigen Vorschriften hinausgehende Regulierung für diesen Bereich zu organisieren.
Wir sehen darin einen wichtigen Beitrag dafür, dass unseriös handelnde Unternehmen aus dem Markt herausgehalten werden. Letztlich nützt diese Regulierung also
nicht nur den Verbrauchern, die qualitativ hochwertigere Produkte erhalten, sondern auch den Anbietern, die
in einem sauberen Marktumfeld arbeiten können. Die
Verlängerung von Prospekthaftungsfristen, erweiterte
Rechnungslegungsfristen und einige weitere Maßnahmen leisten ein Übriges, um eine bessere Produktqualität sicherzustellen.
Produktregulierung ist im Übrigen ein Bereich, der
von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
überwacht wird. Nun kann man kritisieren, dass eben
diese Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
nicht auch damit betraut wird, die Aufsicht über die Finanzanlagenvermittler und damit über die Vertriebswege zu führen. Denn dies soll - wie bisher - über die
Gewerbeordnung geregelt werden. Wir nehmen diese
Kritik sehr ernst und haben schon im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses intensiv über diese Frage diskutiert.
Auf der einen Seite wäre es sicherlich wünschenswert, für den gesamten Finanzdienstleistungsbereich
eine Aufsicht aus einer Hand zu organisieren. Auf der
anderen Seite muss man aber sehen, dass die BaFin
eben nicht darauf ausgerichtet ist, kleinteilige Strukturen, wie sie zum Beispiel bei den Finanzanlagevermittlern, aber auch bei Versicherungsvermittlern vorliegen,
zu überwachen. Die BaFin kann und macht Institutsaufsicht. Zu welchen Problemen „BaFin light“ führen
kann, sehen wir ganz aktuell im Bereich der Leasingunternehmen, die über die bürokratischen und formalen
Belastungen sowie über die Art und Weise, wie die
BaFin die Aufsicht durchführt, klagen.
Ich rate daher dringend dazu, die Diskussion weniger
an den aufsichtsrechtlichen Strukturen festzumachen,
sondern sich vielmehr auf die Inhalte und Standards zu
konzentrieren.
Genau das werden wir im Gesetzgebungsprozess tun.
Wir möchten erreichen, dass die Verbraucher unabhänZu Protokoll gegebene Reden
gig vom Vertriebsweg einheitliche Qualitätsstandards
vorfinden. Und gerade das ist das dezidierte Ziel dieses
Gesetzentwurfes. Wir werden im parlamentarischen
Prozess daher sorgfältig prüfen, ob und in welchem Umfang dieses Ziel erreicht wird. Unser Augenmerk liegt
dabei in erster Linie auf den Inhalten und weniger auf
den Organisationsstrukturen.
Das Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagengesetz ist im Kontext mit bereits abgeschlossenen,
aber auch mit den noch geplanten bzw. den zum Teil
schon auf den Weg gebrachten Regulierungsvorhaben zu
sehen. Zu den abgeschlossenen Maßnahmen gehören
insbesondere das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, aber auch Projekte wie OGAW IV. Bei
den geplanten Vorhaben ist zum Beispiel die AIFMRichtlinie zu nennen. Im Zusammenspiel all dieser Gesetze, Richtlinien und Verordnungen haben und werden
wir die Finanzmärkte, wie einleitend bemerkt, besser,
fairer und sicherer machen. Die christlich-liberale Koalition hat hier in den letzten zwölf Monaten ein unglaubliches Tempo vorgelegt und eine Menge auf den
Weg gebracht, darunter auch international Maßstab setzende Projekte wie das Bankenregulierungsgesetz oder
das Verbot der Leerverkäufe. Weitere wichtige Initiativen werden in den nächsten Monaten folgen.
Dies ist die erste Lesung zu dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Wir werden in den Fachausschüssen
weiter daran arbeiten und dazu noch vor der parlamentarischen Sommerpause eine Anhörung mit zahlreichen
Sachverständigen vornehmen. Wir freuen uns auf die
Stellungnahmen der Experten und die Erkenntnisse, die
wir daraus gewinnen werden. Und wir freuen uns auf die
bevorstehenden, hoffentlich fachlichen, Diskussionen.
Ich lade Sie alle recht herzlich ein, sich konstruktiv daran zu beteiligen, um das Gesetz nach der Sommerpause
zu einem guten Abschluss zu bringen.
Die Bundesregierung legt den Entwurf eines Gesetzes
zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts vor. Dieser soll alle Fragen rund
um den sogenannten grauen Kapitalmarkt neu regeln.
In diesem Zusammenhang ist zunächst mit einem weit
verbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Der graue Kapitalmarkt ist nicht unreguliert. Die Produktanbieter und
Vermittler auf dem grauen Kapitalmarkt bedürfen schon
heute einer Gewerbeerlaubnis und unterliegen den allgemeinen Anforderungen der Gewerbeordnung. Sie haften nicht nur für Betrug, was eine Selbstverständlichkeit
ist, sondern zusätzlich für jegliche Schlecht- und Falschberatung. Die zugehörige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs existiert seit nunmehr rund 20 Jahren. Sie
hat sich bewährt und hat gerade in den letzten Jahren an
Schärfe sogar noch gewonnen. So gilt beispielsweise die
Kick-back-Entscheidung des BGH zur Offenlegung von
Provisionen in Form von Rückvergütungen nicht nur für
Banken, sondern auch für die Anbieter anderer Finanzanlagen. Es mangelt daher nicht an Transparenz bei den
vertriebenen Anlagen.
Der Anlegerschutz ist gewährleistet durch eine umfassende Prospektpflicht. Es gelten die gesetzlichen Regeln über Haustürgeschäfte. Es gelten die gesetzlichen
Regeln über verbundene Darlehen. Insbesondere sind
im grauen Kapitalmarkt nicht die Ursachen für die Finanzkrise zu finden. Diese entspringt dem regulierten
Bankenmarkt. Um es ganz klar zu sagen: Die Finanzkrise ist daher ein Kind genau des Marktsegments, das
die dichteste Regulierung mit den schärfsten staatlichen
Aufsichtsmitteln überhaupt vorweist.
Trotz des Befunds eines ausgewogenen ordnungspolitischen Rahmens hat sich die Koalition entschlossen,
das Netz um die Produkte und Akteure des sogenannten
grauen Kapitalmarkts so zu knüpfen, dass seine Maschen den Anleger genauso schützen, wie es bei den
Wertpapierdienstleistern der Fall ist. Ziel ist ein vergleichbares Spielfeld für die Wettbewerber. Fehlanreize,
von dem einen auf den anderen Markt auszuweichen,
soll es nicht geben. Wir wollen daher eine konsistente
Produktregulierung sicherstellen. Dazu greifen wir in
das bestehende haftungs- und aufsichtsrechtliche Gefüge ein.
Bei den zusätzlichen Anforderungen an freie Vermittler und an die Produkte berücksichtigen wir, dass sich
Vermögensanlagen von Wertpapieren unterscheiden.
Wertpapiere sind standardisiert und liquide, Vermögensanlagen sehr verschieden und oft illiquide Finanzprodukte. Das führt zu besonderen Anforderungen insbesondere bei der Aufsicht über ihren Vertrieb. Denn der
Verkauf von Vermögensanlagen vollzieht sich auf andere
Weise als der von Wertpapieren als standardisiertem
Produkt. Die gleiche Behandlung von Ungleichem ist
hier nicht sachgerecht. Dem tragen wir Rechnung. Eine
engere Aufsicht über den Vertrieb von Wertpapieren und
Vermögensanlagen muss sich in das System der Gewerbeaufsicht einfügen. Vermittler von Finanzanlagen sind
keine Banken. Sie können nicht wie diese reguliert werden. Hier geht es um einen Zuschnitt des Formats der
Aufsicht auf die Bedürfnisse des Anlegerschutzes einerseits und der Struktur der Branche andererseits. Deshalb setzen wir im Bereich des Anlageprodukts und im
Bereich der Akteure jeweils am effektivsten Aufsichtshebel an. Unser Vorbild bei der Aufsicht sind die Regeln,
die sich bei den Versicherungsvermittlern schon bewährt
haben. Unser Vorbild bei der Produktregulierung sind
die Regeln über Wertpapiere. Abgerundet wird das Gesetz durch die Beseitigung einiger Schwachstellen in
dem Bereich der Regulierung, der am schlagkräftigsten
ist, nämlich bei der zivilrechtlichen Haftung.
Im Einzelnen nun zu den drei Kernpunkten Produktaufsicht, Vermittleraufsicht und Haftungsrecht: Im Produktbereich wird der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zukünftig eine größere und tragende
Rolle zukommen. Im Rahmen einer Kohärenzprüfung
wird sie die Verkaufsprospekte auf Verständlichkeit
überprüfen. Damit heben wir das Niveau bei den Verkaufsprospekten für Vermögensanlagen auf das Schutzniveau bei den Wertpapierverkaufsprospekten an. Die
Bundesanstalt wird zukünftig auch die innere Widerspruchsfreiheit der zwingenden Prospektangaben überprüfen. Zu dieser inhaltlichen Prüfung ist fachlich nieZu Protokoll gegebene Reden
mand besser geeignet als die Bundesanstalt. Gleichwohl
sind wir uns einig, dass die Schaffung eines weitergehenden Schutzes etwa in Form einer umfangreichen inhaltlichen Prüfung unmöglich zu leisten ist. Die Bundesanstalt ist keine Behörde des Verbraucherschutzes und
wird es auch niemals sein.
Im Vermittlerbereich werden wir präventiv tätig, indem wir den Marktzugang in ordnungspolitischer Absicht und marktverträglich einschränken. Erstens verlangen wir von den Finanzanlagenvermittlern einen
Sachkundenachweis. Dieser wird höhere Anforderungen
an die Vermittler stellen als an Mitarbeiter von Banken.
Zweitens werden die Vermittler zukünftig eine Berufshaftpflichtversicherung vorweisen müssen, mit der eventuelle Vermögensschäden abgedeckt werden können.
Das Risiko des Kunden, schlecht beraten zu werden und
dann auf dem Schaden und zusätzlich den verauslagten
Prozesskosten sitzen zu bleiben, sinkt dadurch beträchtlich. Hier sind wir nah an dem, was die Anleger als
Nachfrager von den Vermittlern ohnehin bereits verlangen; denn ein Großteil der Vermittler hat auf freiwilliger
Basis eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung
abgeschlossen.
Drittens erweitern wir das bereits für Versicherungsvermittler bei den Industrie- und Handelskammern geführte Verzeichnis um die Finanzanlagenvermittler. Wir
nutzen so vorhandene und bewährte Strukturen in kostengünstiger Weise aus. Und anders als das kürzlich eingeführte Beraterregister für Wertpapierdienstleister
wird das Register öffentlich sein. Anleger und Behörden
können daher bundesweit zugreifen und kontrollieren,
mit wem sie es zu tun haben. Mit dieser Struktur wird es
deutliche Verbesserungen beim präventiven Anlegerschutz geben. Sollte die Bundesanstalt zum Beispiel auf
ein Schneeballsystem im Bereich der Vermögensanlagen
aufmerksam werden, so kann sie nicht nur eine Warnung
vor dem Produkt aussprechen, sondern zusätzlich über
die Daten im Vermittlerregister die Vermittler ausfindig
machen und die Gewerbeaufsichtsämter darüber informieren, welche der ihrer örtlichen Zuständigkeit unterfallenden Vermittler am Vertrieb des Schneeballprodukts
beteiligt sind. Mit dem herkömmlichen und wohlbekannten Mittel der verwaltungsrechtlichen Auflage kann das
Gewerbeaufsichtsamt den Vertrieb des Produkts untersagen. Das ist nur möglich, weil auf die dezentrale
Struktur der Gewerbeaufsicht zurückgegriffen wird. Wir
vereinen so das Beste beider Welten.
Die Bundesanstalt verfügt über die Produktexpertise,
die wir mit der jahrelangen Erfahrung und dem Vor-OrtWissen der Gewerbeaufsicht - die ohnehin schon für die
Vermittler zuständig ist und diese kennt - kombinieren.
Jeder macht das, was er am besten kann. Das gilt auch
für die fortgesetzte Aufsicht über den laufenden Betrieb
der Finanzanlagenvermittler. Mit einer Rechtsverordnung werden wir die Informations-, Beratungs- und Dokumentationspflichten aus dem Wertpapierhandelsgesetz auf die Finanzanlagenvermittler ausdehnen. Die
fachliche Beurteilung, ob diese Pflichten eingehalten
worden sind, erfolgt durch das Testat eines Wirtschaftsprüfers. Die Sachkunde hierzu liegt also bei externen
Dritten. Die Gewerbeaufsicht überprüft nicht mehr als
das Vorliegen des uneingeschränkten Testats. Nichts anders würde übrigens die Bundesanstalt machen. Hielte
man hier eine Verantwortlichkeit der Bundesanstalt für
notwendig, so schösse man mit Kanonen auf Spatzen.
Denn wer hier eine Zuständigkeit der Bundesanstalt fordert, der fordert wegen der hohen Compliance-Kosten
ein faktisches Arbeitsverbot für 80 000 kleine, mittlere
und vor allem eigenverantwortlich tätige Unternehmer.
Neben einmaligen Initiierungskosten in Höhe von rund
30 000 Euro würden bei einer Regulierung nach dem
KWG laufende Kosten von jährlich mehr als 30 000
Euro anfallen. Das kann ein freier Vermittler nicht leisten.
Durch eine KWG-Regulierung verschwände der freie
Vermittler. Aber es verschwände natürlich nicht der
Markt für Vermögensanlagen. Diesen teilen sich derzeit
die Banken mit 40 Prozent und die freien Vermittler mit
60 Prozent Marktanteil. Eine Regulierung des Vertriebs
von Vermögensanlagen durch die Bundesanstalt würde
die Marktverhältnisse deutlich verschieben. Wir bekämen eine gesetzlich bewirkte Marktkonzentration. Derartige Folgen würden wir - und nicht nur wir von der
FDP - bei jeder anderen Gelegenheit bekämpfen.
Abgerundet wird das Gesetz durch eine systematisierende Angleichung bei der Prospekthaftung. Durch die
Aufhebung des Verkaufsprospektgesetzes und die Streichung der Vorschriften über die Prospekthaftung aus
dem Börsengesetz wird die bisherige künstliche Trennung aufgehoben. Inhaltlich finden sich die Vorschriften
dann in Form einer Regelung im Wertpapierprospektgesetz wieder. Endlich wird dann auch die Verjährung der
Haftung einheitlicher aussehen und vor allem verlängert.
Ich fasse zusammen: Mit dem Gesetz erleichtern wir
insbesondere die Durchsetzung von Ansprüchen. Der
präventive Sachkundenachweis siebt erstens die
schwarzen Schafe aus. Kommt es dann zu einem Haftungsfall, erleichtern wir zweitens die Identifizierung
des Anspruchsgegners über das Werkzeug des Vermittlerregisters. Bei der gerichtlichen Geltendmachung
hilft dem Anleger drittens die Verlängerung der Verjährung. Viertens sind die Titel nicht wertlos, weil es durch
die Berufshaftpflicht zukünftig eine ausreichende Haftungsmasse geben wird, aus der etwaige Schadensersatzansprüche befriedigt werden können.
Täglich ringen die Staats- und Regierungschefs mit
der europäischen Schuldenkrise und darum, die internationalen Finanzmärkte endlich zu zähmen. Abseits davon und weitgehend unbeachtet werden in Deutschland
auf dem sogenannten grauen Kapitalmarkt tausendfach
hochrisikoreiche, intransparente und schädliche Anlageprodukte an Anlegerinnen und Anleger verkauft, die
für sie immer wieder mit erheblichen Verlusten verbunden sind. Dort tummeln sich unseriöse Anbieter, oftmals
schlecht ausgebildet und teils in betrügerischer Absicht.
Spektakuläre Fälle wie die Insolvenz der Phoenix Kapitaldienst GmbH mit rund 30 000 betrogenen Anlegerinnen und Anlegern und einem Gesamtschaden von
Zu Protokoll gegebene Reden
über 200 Millionen Euro oder der Skandal um die Göttinger Gruppe Vermögens- und Finanzholding GmbH &
Co. KGaA mit geschätzten 200 000 Geschädigten sind
nur die bekanntesten Einzelfälle. Diesen Markt müssen
wir endlich ans Licht holen.
Die Regierung ist mit dem erklärten Ziel gestartet,
hier Abhilfe zu schaffen. Seit über einem Jahr warten
wir nun auf einen Gesetzesvorschlag. Jetzt liegt uns der
„Gesetzentwurf zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagenrechts“ vor. Nur: Leider wird hier nicht gut, was lange währt.
Immerhin: Die umständliche Bezeichnung des Gesetzes bringt einen Fortschritt: Die Koalition versucht
nicht - wie unlängst beim „Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz“ - mit schicken Namen zu
verschwurbeln, dass leider ganz und gar nicht das drinsteckt, was auf Seite eins des Konvoluts angekündigt ist.
Denn dass dieser Vorschlag tatsächlich dazu beiträgt,
den grauen Kapitalmarkt endgültig zu zähmen, ist mehr
als zweifelhaft.
Das lässt sich auch begründen. Ich will mich hier nur
auf einige wenige Punkte konzentrieren:
Erstens: Die Aufsicht über die freien Vermittler bleibt
bei den Gewerbebehörden.
Finanzminister Schäuble hatte in einem ersten Entwurf für das Gesetz im März 2010 eine Regelung vorgesehen, wonach - statt wie derzeit die Gewerbeämter die BaFin zukünftig die Aufsicht über die ungefähr
80 000 freien Vermittlerinnen und Vermittler bekommen
soll. Das ist nicht nur im Hinblick auf eine umfassende
Aufsicht in Deutschland logisch, sondern auch angesichts der personellen Situation der Gewerbeämter in
Deutschland mehr als notwendig. Wer soll auch Tausende Finanzvermittler kontrollieren, wenn er sich sonst
um Frittenfett und die Organisation des örtlichen Weihnachtsmarktes kümmert? Das leuchtet jedem ein, nur
nicht der Lobby der Finanzvermittler. Also wurde eine
Unterschriftenaktion gestartet, Horrorzahlen zu zusätzlichen Kosten veröffentlicht, mit dem Verlust von Tausenden Arbeitsplätzen - kurz mit dem Untergang des
Abendlandes - gedroht.
Im damaligen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle
fand sich denn auch eine Marionette, die die Argumente
der Finanzvermittlerlobby nachtrompetete und dabei sogar in Kauf nahm, dass Finanzminister Schäuble seinen
ursprünglichen Gesetzentwurf zurückziehen musste
und nun ein Vorschlag auf dem Tisch liegt, beim dem
die BaFin auch zukünftig bei der Aufsicht außen vor
bleibt. Das ist gegen jede Vernunft und widerspricht
auch dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb, wo es
heißt:
„Wir wollen ein konsistentes Finanzdienstleistungsrecht schaffen, damit Verbraucher in Zukunft besser vor
vermeidbaren Verlusten und falscher Finanzberatung
geschützt werden. Ein angemessener Anlegerschutz gegen unseriöse Produktanbieter und Falschberatung wird
prinzipiell unabhängig davon gewährleistet, welches
Produkt oder welcher Vertriebsweg vorliegt.“
Die Realität sieht anders aus: In Zukunft hängt der
Schutz der Anlegerinnen und Anleger davon ab, welches
Produkt sie kaufen: Bei einer Aktie sitzen die Profis der
BaFin dem Anbieter im Nacken, bei einem geschlossenen Fonds das Gewerbeamt Henstedt-Ulzburg.
Fußnote: Es wird vielleicht aufgefallen sein, dass
Verbraucherschutzministerin Aigner bisher noch nicht
erwähnt wurde. Noch Ende letzten Jahres hat sie großspurig gefordert, die Finanzaufsicht bei der BaFin zu
konzentrieren. In der Berliner Invalidenstraße bei
Minister Brüderle und in der Wilhelmstraße bei Minister
Schäuble hat man damals darüber wahrscheinlich nur
müde gelächelt, wenn überhaupt. Die Ministerin ist
nichts anderes als ein Totalausfall.
Stichwort „KWG-light“: Für die SPD-Fraktion ist
klar, dass nicht jeder freie Vermittler in den Entschädigungsfonds der Wertpapierhandelsunternehmen einzahlen muss, die Vorschriften zum Risikomanagement von
Finanzdienstleistungsinstituten anwenden oder alle Berichtspflichten für Großbanken erfüllen kann und soll.
Das ist unnötige Bürokratie und bringt keinen wirklichen Mehrwert. Hier müssen wir angemessene Regelungen finden, die die Spezifika des Vermittlermarktes berücksichtigen und die immer wieder unter dem Stichwort
„KWG-light“ diskutiert werden. Ich habe die große
Hoffnung, dass sich die Vertreter der Regierungskoalitionen hier durchsetzen, die schon damals der Meinung
waren, dass eine „KWG-light“-Lösung die bessere Alternative zur gewerberechtlichen Lösung ist.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme dazu einen sehr eleganten Weg vorgeschlagen: Die Aufsichtsbefugnis der BaFin über den freien Vermittlermarkt wird
dort über eine spezielle Norm in der Gewerbeordnung
verankert. Welche Anforderungen aus dem Kreditwesengesetz darüber hinaus für die freien Vermittler gelten
sollen, könnte dann im Rahmen einer „Opt-in“-Lösung
ebenfalls in der Gewerbeordnung verankert werden. So
ersparen wir uns auch die Krücke eines umfangreichen
Ausnahmenkatalogs für die freien Vermittler im KWG.
Der Vorschlag zeigt einmal mehr überdeutlich: Ein
einheitliches Schutzniveau für die Anlegerinnen und Anleger ist möglich, ohne die Branche zu überfordern. Die
SPD bietet an diesem Punkt ausdrücklich ihre Unterstützung an.
Zweitens: Neue Anforderungen an die freien Vermittler.
Den Koalitionären von CDU und CSU ist es ganz offensichtlich ein wenig peinlich, wie ihre Minister
Schäuble und Aigner vom Ex-Wirtschaftsminister beim
Thema BaFin-Aufsicht am Nasenring durch die Manege
gezogen wurden. Deshalb ist jetzt wohl die neue Sprachregelung, dass trotz Gewerbeaufsicht für die Vermittler
ganz neue, zusätzliche Anforderungen gelten sollen:
Sachkundeprüfung, Haftpflichtversicherung, Zuverlässigkeit, geordnete Vermögensverhältnisse und Berichtspflichten. Dieser Vorschlag ist richtig und unterstützenswert. Denn bis jetzt hat mir noch niemand erklären
können, warum Friseure und Kfz-Mechaniker im Nebenberuf der Verwandtschaft und dem geneigten FreundesZu Protokoll gegebene Reden
kreis beim gemeinsamen abendlichen Grillen teils hochriskante geschlossene Fonds verkaufen dürfen.
Nur: Alles das soll in einer vom Finanzministerium
gut gehüteten Verordnung geregelt werden, die der Bundestag noch nicht zu Gesicht bekommen hat und die
- Zitat Gesetzentwurf - „ein vergleichbares Anlegerschutzniveau“ wie im Wertpapierhandelsgesetz sicherstellen soll. Das macht misstrauisch; denn Staatssekretär Asmussen aus dem Finanzministerium hat in diesem
Zusammenhang von einer Eins-zu-eins-Lösung gesprochen. Die SPD wird genau darauf achten, ob das Versprechen der Eins-zu-eins-Lösung auch eingelöst wird.
Ich bleibe skeptisch.
Drittens: Das geplante Vermittlerregister.
Seit der Verabschiedung des Anlegerschutzgesetzes in
diesem Frühjahr müssen sich alle 300 000 Bankberater
und Tausende Vertriebsbeauftragte sowie ComplianceBeauftragte der Banken ausnahms- und anlasslos in ein
internes Register bei der BaFin eintragen. Treten dann
im Beratungsgeschäft Kundenbeschwerden auf, sind sie
der BaFin zu melden, die ihrerseits Sanktionen bis hin
zum Tätigkeitsverbot für die einzelnen Berater verhängen darf. Die SPD-Fraktion hat diese Registerlösung als
bürokratischen Unfug kritisiert. Wir wollten die Berater
erst beim Eingang solcher Beschwerden in dem Register
erfassen. Das wäre sinnvoll gewesen, ohne die präventive Wirkung der Datenbank zu mindern.
Das Register ist jetzt offensichtlich die Allzweckwaffe
der Koalition: Im „Copy-Paste-Modus“ sieht nun auch
dieser Gesetzentwurf vor, dass sich künftig alle 80 000
Vermittler in das bereits existierende Register für Versicherungsvermittler eintragen müssen. Nur: Bei der
Markierung des zu kopierenden Textes ist dem Ministerium offenbar ein Fehler unterlaufen. Denn sämtliche
Passagen zur Möglichkeit von Kundenbeschwerden und
Sanktionen der Aufsichtsbehörde wie im Bankensektor
fehlen im Gesetzentwurf. Wir helfen da gerne bei den
Grundfunktionen von „Windows Word“ nach.
Diese kurze Aufzählung macht schon deutlich, dass
wir uns das Gesetz genau ansehen müssen. Viele andere
Punkte wären hier noch anzusprechen und werden uns
im Rahmen der Beratungen weiter beschäftigen. Stichworte sind hier das geplante Vermögensanlageninformationsblatt - das VIB -, die neuen Prospektpflichten
oder die Vorschriften zur Wertermittlung der Anlage.
Ich habe die Hoffnung, dass die Regierungskoalition
vom Struck’schen-Gesetz - dass nämlich Gesetze den
Bundestag nie so verlassen, wie sie ihn erreichen - ausführlich Gebrauch macht. Es gibt viele Punkte, die an
diesem Gesetzentwurf noch geändert werden müssen,
damit für die Anlegerinnen und Anleger vom grauen Kapitalmarkt nicht weiter unkalkulierbare Risiken ausgehen.
Die SPD will einen integren und transparenten Kapitalmarkt, bei dem nicht die Anbieter und Vermittler sowie der kurzfristige Gewinn und die Maximalrendite im
Mittelpunkt stehen, sondern die Anlegerinnen und Anleger. Dafür kämpfen wir.
Ich möchte diesen Gesetzentwurf und seine Entstehung mit einem 100-Meter-Lauf vergleichen. Die Bundesregierung wusste seit Jahren, dass etwas getan
werden muss, um den Auswüchsen des grauen Kapitalmarktes Einhalt zu gebieten. Nun sprintet man los, etwas
holprig, aber immerhin in die richtige Richtung. Nach
50 Metern beginnen Sie jedoch schon, die Arme hochzureißen und zu jubeln, obwohl das eigentliche Ziel noch
nicht erreicht ist.
Der graue Kapitalmarkt ist der Teil des Kapitalmarktes, der nicht vollständig unter das Kreditwesen-, Investment- und Versicherungsaufsichtsgesetz fällt und somit
fast gar nicht durch Rechtsvorschriften und Behörden
kontrolliert wird. Zu ihm gehören in erster Linie geschlossene Fonds ({0}), Bauherrenmodelle, bestimmte Genussrechte, Geschäfte mit Bankgarantien sowie manche Steuersparmodelle. Das gravierende Regulierungs- und Aufsichtsgefälle zum regulierten „weißen“ Kapitalmarkt ist das
zentrale Problem.
Ich möchte geschlossene Fonds herausgreifen: Sie
sind in der Regel unternehmerische Beteiligungen ohne
Stimmrecht und zugleich schwer handel- bzw. verkaufbar.
Dem Anleger muss bewusst sein, dass er das volle Unternehmerrisiko bis hin zum Totalverlust trägt und dass
unter Umständen Nachschusspflichten bestehen. Große
Anteile der Beteiligungssummen - zum Beispiel Vertriebsprovisionen und Marketingkosten - wandern schon
vorab in die Taschen der Fonds-Emittenten und -Vermittler.
Nach wie vor gibt es eine erschreckend hohe Zahl an
unseriösen Emittenten, deren graue Finanzprodukte von
wiederum unseriösen, wenig qualifizierten und provisionsgetriebenen Produktvermittlern vertrieben werden.
Diese locken Anleger mit dem Versprechen hoher Rendite und mit geschicktem Marketing in ihre Produkte,
welche die zuvor gemachten Versprechen in der Regel
nicht einlösen. Eine anlegergerechte Beratung oder Vermittlung findet nicht statt. Da Risiko und Kosten dieser
Finanzprodukte insgesamt beträchtlich sind, beschert
der ungeregelte graue Kapitalmarkt Anlegern jährlich
finanzielle Verluste in Milliardenhöhe. Dies darf so nicht
weitergehen!
Die Linke ist deshalb der Meinung, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf zumindest einen wichtigen und
längst überfälligen Schritt gehen, um weiterem verbraucherschädlichen Verhalten Einhalt zu gebieten.
Es war an der Zeit, den Finanzinstrumentebegriff
auszuweiten. Damit werden nun einige Produkte des
grauen Kapitalmarktes als Vermögensanlage definiert,
die in der Folge dem Anwendungsbereich dieses Gesetzes unterliegen und so der Finanzaufsicht unterstellt
werden. Natürlich muss man an dieser Stelle diskutieren,
ob nicht noch andere Anlageformen wie Bankgarantien
oder Schrottimmobilien mit in den Katalog aufgenommen werden müssen.
Gut ist zudem, dass den Kreditinstituten mit dem Gesetzentwurf einige Pflichten erwachsen, die im regulierZu Protokoll gegebene Reden
ten Bereich zu den Standards gehören: Es muss anlegergerecht beraten werden, Provisionen sind offenzulegen,
und Beratungsprotokolle müssen angefertigt werden.
Gerade bei der Provisionsoffenlegung sind jedoch noch
weitergehende Regelungen notwendig. Weichkosten und
Margen sind beispielsweise ohne Ausnahmen offenzulegen. Alles in allem will die Linke aber provisionsgetriebene Beratung überwinden. Nur ohne Provisionsdruck
kann Beratung von Finanzprodukten unabhängig und
das verkaufte Produkt folglich passgenau dem tatsächlichen Anlegerinteresse entsprechen!
Eine bedeutende Ausnahmeregelung im Gesetzentwurf bereitet darüber hinaus Bauchschmerzen: Sehr
kleine Fonds bis 100 000 Euro und mit einer Stückelung
in nicht mehr als 20 Anteile und demgegenüber sehr
große Anteile von mindestens 200 000 Euro bleiben von
den Vorschriften des Gesetzes unberührt. Damit wird
unterstellt, dass sehr große Anteile nur von professionellen Anlegern gehalten werden - die aufgrund der unterstellten „Professionalität“ als weniger schutzbedürftig
gelten - und dass kleineren Investitionsvorhaben keine
bürokratischen Erschwernisse auferlegt werden sollen.
Dagegen ist theoretisch wenig einzuwenden, allerdings wird vergessen, dass bei geschlossenen Fonds für
den Anleger auch Nachschusspflichten bestehen können.
In diesem Falle wäre der Verlust pro Anteil nicht unbedingt nur auf 5 000 Euro begrenzt, sondern bedeutend
höher. Dies kann den Anleger immer weiter in Geldnot
und in eine Verschuldungsspirale treiben. Das dürfen
Sie nicht zulassen!
Man sollte an dieser Stelle die Produkt- bzw. Emittentenebene, auf der ja unter anderem Nachschusspflichten
angesiedelt sind, stärker ins Auge fassen und auch dort
mit anlegergerechten Regelungen aufwarten: Seit einigen Jahren gibt es vermehrt sogenannte Ansparfonds für
unternehmerische Beteiligungen, mit geringen Anzahlungen und kleinen Monatsraten, damit auch Kleinanleger ihren Anteil am Fonds über Jahre zusammensparen
können und eine hohe Mindesteinlage nicht sofort schultern müssen. Oft werden von den Fonds die Zielobjekte
auf Kredit erworben. Bei einer Schieflage stehen die Anleger indes im Risiko, weil das gesamte zugesagte Ansparkapital haftet und die Restzeichnungssumme auf einen Schlag einzuzahlen ist. Ansparfonds können somit
wie Nachschusspflichten ein Weg in die Privatinsolvenz
sein.
Auch sogenannte Blindpool-Konstruktionen stellen
ein Risiko für Kleinanleger, aber nicht nur für diese,
dar: Ein Blindpool ist ein Sammelbecken für Beteiligungskapital, bei dem den Anlegern zu Beginn noch unbekannt ist, in welche Art von Geldanlage mit welchem
Gesamtumfang investiert wird bzw. welche Beteiligungen erworben werden. Der Anleger ist der Geschäftsführung des Unternehmens weitgehend schutzlos ausgeliefert, denn er investiert „blind“. Das Einsammeln von
investitionswilligem Kapital durch den Emittenten darf
aus Transparenzgründen meiner Ansicht nach nur dann
infrage kommen, wenn klar und eindeutig im Voraus beschrieben und nachgewiesen wird, in welche Objekte in
welchem Umfang und mit welchem Ziel investiert wird.
Dreierlei Dinge müssen infolgedessen angepackt
werden: Nachschusspflichten sind von vornherein zu deckeln, wenn es sie denn weiterhin geben soll. Produkte
mit Nachschusspflichten dürfen ebenso wenig wie Ansparfonds aus dem Graumarktsegment aktiv an Anleger
vertrieben werden; über deren Risiken ist an „prominenter“ Stelle in Prospekten und Gesprächen umfassend
aufzuklären. Und über ein Verbot von Blindpool-Konstruktionen muss nachgedacht werden.
Kommen wir nun noch zu den Finanzanlagenvermittlern:
Künftig soll die Gewerbeerlaubnis für Vermittler an
einen Sachkundenachweis und eine Berufshaftpflichtversicherung, ersatzweise eine entsprechende Kapitalausstattung, gebunden sein. Die Linke begrüßt es, dass
die schwarzen Schafe vom Markt verschwinden. Dennoch sollte man überlegen, ob es sinnvoll ist, dass ein
einzelner, langjährig tätiger, seriöser Finanzvermittler
nun einen Qualifikationsnachweis erbringen muss, der
mit Folgekosten verbunden ist.
Wenn Sie dies schon auf diese Weise regeln wollen,
müssen Sie auch konsequent bleiben: Banken als Ganzes
fallen unter das Kreditwesengesetz. Doch dieses Gesetz
bietet nicht unbedingt ausreichende Gewähr dafür, dass
die Bankberater hinreichenden Sachverstand für eine
anlegergerechte Beratung zu geschlossenen Fonds und
Genussrechten besitzen. Diese Finanzprodukte dürfen
sie aber am Schalter verkaufen. Es ist nicht plausibel,
warum der Bankberater gegenüber dem einzelnen Vermittler eine Bevorzugung dadurch erfahren soll, dass er
keinen gesonderten Qualifikationsnachweis erbringen
muss.
Der Linken ist wie auch den Verbraucherzentralen
generell wichtig, Vermittler von Vermögensanlagen
nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, der Gewerbeaufsicht, sondern der Finanzaufsicht, der BaFin, zu unterstellen. Die Vermittleraufsicht darf nicht zersplittert
bleiben! Dafür setzen wir uns ein!
Wenn sich freie Vermittler durch die regionale Organisation der Gewerbeaufsicht dort anmelden können, wo
eine weniger strenge Aufsicht vorherrscht, ist ein Aufsichtsgefälle zu befürchten. Durch ihre permanente Aufsicht, die ein inhaltliches Prüfungsrecht ({1}) umfassen muss,
kann die BaFin präventiv wirken. Für Anleger wird
durch eine bundesweite Aufsicht zumindest ein bisschen
eher das von der Bundesregierung angestrebte „einheitliche Schutzniveau in Regulierung und Beaufsichtigung
unabhängig von Vertriebsweg und Produkt“ erreicht.
Selbst wenn der vorliegende Gesetzentwurf, wie eingangs ausgeführt, ein Fortschritt ist, muss man trotzdem
festhalten, dass das ursprüngliche Ziel, den grauen Kapitalmarkt umfassend zu regulieren oder gar verschwinden zu lassen, nicht erreicht wird. Sie beschränken sich
zu sehr auf die Vertriebsebene und lassen somit die Produktebene sowie die Emittenten von Graumarktprodukten außer Acht. Damit befördern Sie einen „grauen Kapitalmarkt light“.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke will hingegen den grauen Kapitalmarkt
derart umfänglich regulieren und am Anlegerschutz ausrichten, dass er zu einem „weißen“ Kapitalmarkt wird!
Es darf nicht mehr ein halbwegs geregelter und ein so
gut wie ungeregelter Kapitalmarkt nebeneinander existieren! Das Aufsichts- und Regulierungsgefälle muss
weg, und damit muss der graue Kapitalmarkt in seiner
Gesamtheit weg!
Jeder Teil des Kapitalmarktes muss demnach unter
das entsprechende Dach des Kreditwesen-, Investmentoder Versicherungsaufsichtsgesetzes gebracht werden.
Nicht nur der Vertrieb von Produkten des grauen Kapitalmarktes ist strengeren Vorschriften zu unterwerfen.
Intransparente, unseriöse und hochriskante Produkte
dürfen erst gar nicht auf den Markt kommen. Zwielichtige, unseriöse Anbieter bzw. Emittenten solcher Produkte dürfen erst gar nicht am Marktgeschehen teilnehmen, hier müssen Barrieren aufgebaut werden.
Deswegen fordern wir, als Zulassungs- und Kontrollstelle für Finanzinstrumente und zur Etablierung von
Mindeststandards für Vermögensanlagen einen Finanzmarkt-TÜV einzurichten.
Und man sollte noch eine weitere Seriositätsschwelle
einziehen: Emittenten von beispielsweise geschlossenen
Fonds müssen eine hohe Mindest- oder Anfangskapitalausstattung in Abhängigkeit von dem insgesamt benötigten Kapital für die Anlage aufweisen, und Gesellschaftsvertrag sowie Businessplan sind frühzeitig und
vollständig vorlegen. Dies wären sinnvolle Regelungen!
Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koalition, klopfen Sie sich jetzt noch nicht auf die Schulter,
bringen Sie nach der Anhörung Ihre Aufgabe zu Ende,
und stoppen Sie Ihren Lauf nicht auf halber Strecke! Die
Linke hilft Ihnen dabei, das Ziel nicht aus den Augen zu
verlieren: Ebnen Sie das Regulierungs- und Aufsichtsgefälle zwischen leidlich reguliertem und grauem Kapitalmarkt auf hohem Niveau vollständig ein, und sorgen Sie
somit dafür, dass der graue Kapitalmarkt endlich
„weiß“ wird.
Sowohl im Jahr 2007, als auf Anregung der Grünen
im Finanzausschuss vereinbart wurde, sich die ge-
schlossenen Fonds in diesem Bereich noch einmal ge-
nauer anzuschauen, als auch am Ende der letzten Legis-
laturperiode, als wir Grüne mit unserem Antrag
„Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches Anleger-
schutzniveau überwinden“ die drastischen Regulie-
rungsdefizite im grauen Kapitalmarkt zurück auf die
politische Agenda holten, war jeweils meine Hoffnung,
dass man zügiger diesen großen Problembereich des
deutschen Finanzmarkts in Angriff nehmen würde. Doch
kundenschädliche Regelungen sind offenbar langlebig.
Gut, dass wir jetzt endlich im konkreten Gesetzgebungs-
verfahren sind.
Doch der vorliegende Gesetzentwurf zur Novellie-
rung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanla-
genrechts ist inhaltlich leider kein Grund zum Jubeln.
Das im Koalitionsvertrag versprochene konsistente Fi-
nanzdienstleistungsrecht wird nicht erreicht.
Zwar begrüßen wir, dass der Vertrieb von Vermö-
gensanlagen wie Anteile an geschlossenen Fonds durch
Banken und Sparkassen künftig unmittelbar den anle-
gerschützenden Vorschriften des Wertpapierhandelsge-
setzes, WpHG, und der Aufsicht der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, unterfällt. Nicht
zielführend ist es jedoch, freie Finanzvermittler von In-
vestmentfonds, geschlossenen Fonds und anderen Ver-
mögensanlagen weiterhin einer allein gewerberecht-
lichen Aufsicht durch die zuständigen Landesbehörden
zu unterstellen. Es ist mehr als fraglich, wie die Landes-
behörden mit den ungeeigneten Eingriffsbefugnissen des
Gewerbeaufsichtsrechts eine effektive Überwachung der
freien Finanzanlagenvermittler hinbekommen sollen
bzw. ob die zuständigen Landesbehörden personell und
fachlich dazu überhaupt in der Lage sind.
Darüber hinaus hat die nun auch für Vermittler von
Vermögensanlagen und geschlossenen Fonds in § 2 a
WpHG eingeführte Ausnahme zur Folge, dass die anleger-
schützenden Informations-, Beratungs- und Dokumenta-
tionspflichten einschließlich der Offenlegungspflicht von
Provisionen - sogenannte Wohlverhaltenspflichten -
nicht direkt, sondern nur über eine Verordnung gelten
sollen, um ein - so wörtlich - „gleichwertiges Anleger-
schutzniveau“ herzustellen. Halten wir also fest, dass
weder klar ist, inwieweit die Wohlverhaltenspflichten in
der freien Finanzanlagenvermittlung und -beratung
künftig gelten, noch klar ist, inwieweit deren Einhaltung
überprüft wird.
Sollte am Ende des Gesetzgebungsverfahrens gleich-
wohl eine gewerberechtliche Regulierung der freien
Finanzanlagenvermittlung gesetzlich fixiert werden,
wäre darauf zu achten, dass nicht die gleichen Ausnah-
metatbestände geschaffen werden wie im Rahmen der
Regulierung der Versicherungsvermittlung. Insbeson-
dere ist darauf Acht zu geben, dass von einer „Alte-
Hasen-Regelung“ - wie sie laut Presseberichten von
den Regierungsfraktionen nunmehr angestrebt wird -
soweit wie möglich Abstand genommen wird. Eine lang-
jährige Tätigkeit ist keine Garantie für eine angemes-
sene Qualifikation und würde gesetzgeberische Ver-
säumnisse für die nächsten Jahre quasi fortbestehen
lassen.
Als einen zweiten Punkt möchte ich auf die Anbieter
von Vermögensanlagen eingehen, die der Gesetzentwurf
ebenfalls adressiert. So wird jeder Anbieter künftig ne-
ben dem Verkaufsprospekt auch ein Vermögensanlagen-
Informationsblatt zu erstellen haben. Das ist zu begrü-
ßen. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle unsere im
Rahmen des Anlegerschutz- und Funktionsverbesse-
rungsgesetzes geäußerte Forderung bekräftigen, die we-
sentlichen Vorgaben für eine Produktkurzinformation
standardisiert und konkretisiert vorzuschreiben, damit
den Verpflichteten keine Spielräume gewährt werden,
die die Vergleichbarkeit einzuschränken vermögen.
Darüber hinaus befürworten wir, dass der Gesetzent-
wurf den Prüfungsumfang der BaFin hinsichtlich der
Prospektprüfung auf Kohärenz erweitert. So werden
Prospekte von Vermögensanlagen künftig nicht nur da-
rauf kontrolliert, ob die Informationen vollständig sind,
Zu Protokoll gegebene Reden
sondern auch, ob sie schlüssig und widerspruchsfrei
sind. Bedauerlich ist jedoch, dass die Bundesregierung
sich dem Vorschlag einer Prüfung der inhaltlichen Rich-
tigkeit der im Verkaufsprospekt enthaltenen Angaben
verschließt. Eine solche materielle Inhaltsprüfung
könnte nämlich durch die verpflichtende Erstellung ei-
nes Wirtschaftsprüfergutachtens - sogenannter IDW-S4-
Standard - und dessen Hinterlegung und Offenlegung
bei der BaFin erreicht werden. Da dieses Modell sowohl
von der Branche als auch vom Bundesrat befürwortet
wird, hoffe ich, dass wir im Rahmen der anstehenden
Beratungen diesen Punkt noch korrigieren können. Ent-
scheidend wird sein, wo man bei diesem Modell die Haf-
tung verortet, da nach geltender Rechtslage weder die
BaFin noch ein Wirtschaftsprüfer dem Anleger gegen-
über für die Richtigkeit des Gutachtens haftet. Daher
bietet sich die Schaffung einer spezialgesetzlichen Haf-
tungsnorm an.
Unentschuldbar ist in meinen Augen jedoch, dass
man eine für die Steigerung des Anlegerschutzes maßge-
bende Vorschrift des Diskussionsentwurfes im Referen-
tenentwurf vergeblich sucht. Der Diskussionsentwurf
sah in § 16 Vermögensanlagengesetz-Entwurf noch die
Plicht des Anbieters zur Mitteilung des Wertes der Ver-
mögensanlage vor. Das sollte Anlegerinnen und Anle-
gern ermöglichen, einmal im Jahr einen Überblick über
den Wert ihrer Kapitalanlage zu erhalten. Bedauer-
licherweise ist die Bundesregierung hier vor der Bran-
che eingeknickt. Das muss dringend revidiert werden.
Jedenfalls kann das Abwarten auf die europäisch ein-
heitlichen Bewertungskriterien, deren Umsetzung kaum
vor Mitte 2014 zu erwarten ist, hier nicht als Argument
gelten.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6051 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:1)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Lambrecht, Petra Crone, Dr. Peter Danckert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Gleichstellung eingetragener Lebenspart-
nerschaften
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Jan Korte, Cornelia Möhring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Öffnung der Ehe
- Drucksachen 17/2113, 17/2023, 17/4516 -
1) Anlage 7
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses auf Drucksache 17/4516. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/2113. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Linken.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2023. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim-
men von der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:2)
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({1}) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Einrichtung einer Interparlamentarischen
Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik der Europäi-
schen Union
- Drucksachen 17/5903, 17/6140 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
Joachim Spatz
Dr. Diether Dehm
Viola von Cramon-Taubadel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine wirkungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäischen Außenund Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller ({3}), Marieluise Beck ({4}),
2) Anlage 8
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU
- Drucksachen 17/5389, 17/5771, 17/6137,
17/6138 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({6})
Zunächst Tagesordnungspunkt 20 a. Wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angele-
genheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Ein-
richtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6140, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5903 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der SPD-Fraktion.
Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine wir-
kungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäi-
schen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertra-
ges von Lissabon“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6137, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5389 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstim-
men der SPD und Enthaltung der Grünen angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Kriterien und Anforderungen
für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik der EU“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6138, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/5771 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Linken bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal-
tung der SPD angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({7}), Lothar Binding ({8}),
Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Undine Kurth
({9}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte indigener Völker stärken - ILO-Konvention 169 ratifizieren
- Drucksache 17/5915 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Verbot von Koka-Blättern - Für die völkerrechtliche Anerkennung als schützenswerte Kultur der indigenen Völker im AndenRaum
- Drucksache 17/6120 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Heute befassen wir uns mit zwei Anträgen, die den
Schutz und die Rechte indigener Völker zum Gegenstand
haben.
Der Aufgabe, den Schutz und die Rechte indigener
Völker auf unserer Welt zu stärken, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der SPD und der Grünen, unterstützen wir als CDU/CSU-Fraktion genauso
vehement wie Sie. Ob diese Stärkung jedoch durch die
Ratifizierung der ILO-Konvention 169 und durch den
freien Zugang zu Koka, wie Sie es in ihren Anträgen fordern, erreicht werden kann, bleibt zu diskutieren.
Deutschland stärkt in der Zusammenarbeit mit seinen
Partnerländern durch unterschiedlichste, zielgerichtete
Projekte und Programme die Rechte der Indigenen. Dabei richtet sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nach den Vorgaben der ILO-Konvention 169 und hat diese Richtlinien
im Konzept „Zusammenarbeit mit indigenen Völkern in
Lateinamerika und der Karibik“ festgeschrieben. Das
bedeutet: Bei allen entwicklungspolitischen Aktivitäten
wird geprüft, ob sie negative Auswirkungen auf indigene
Völker haben könnten. Bei Vorhaben, die Indigene direkt
betreffen, werden diese bereits frühzeitig und umfassend
in die Planung mit einbezogen. Denn wir wissen, dass
indigene Völker einen besonderen Beitrag zur weltweiten kulturellen Vielfalt leisten. Dabei gilt es, insbesondere sowohl den Erfahrungsschatz als auch das naturspezifische Wissen dieser Völker als Fundus für den
Schutz der Biodiversität zu erhalten und zu nutzen. Darin sind wir uns, so meine ich, alle einig.
Auch aus diesen Gründen hatte sich Deutschland bei
der Ausarbeitung der ILO-Konvention 169 im Jahr 1989
für diese stark gemacht und durch seine Paraphierung
gezeigt, welche Bedeutung wir dieser Konvention für
den Schutz und die Rechte indigener Völker zumessen,
zumal es das bisher einzige internationale Vertragswerk
mit völkerrechtlichem Status ist, das die Rechte indigener oder in Stammesgesellschaften lebender Bevölkerungsgruppen schützt.
Die Forderung in Ihrem Antrag‚ Deutschland solle
nun endlich auch ratifizieren, um zu zeigen, wie ernst
wir es wirklich mit dem Schutz indigener Völker meinen,
ist eine rein populistische Forderung. Sie ist schnell gefordert, klingt gut und findet leicht öffentliche Unterstützung.
Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch
Deutschland würde allerdings an der heutigen Situation
indigener Völker in ihren Ländern rein gar nichts ändern. Und das wissen Sie selbst auch. Dennoch möchte
ich gern noch einmal die Gründe dafür darlegen:
Die ILO-Konvention 169 erkennt indigene Gemeinschaften als „Völker“ an, wenngleich auch ohne staatliche Souveränität, aber als kollektive Besitzer eines
Territoriums und als Gemeinschaften mit eigenen traditionellen Selbstverwaltungsorganen. Die Konvention
hat zum Ziel, Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl von
Grundrechten für die Angehörigen indigener Gruppen
rechtsverbindlich zu regeln. Dies betrifft unter anderem
das Recht auf ihre eigene Lebensweise, Sprache und
Kultur, das Recht auf traditionelles Land sowie die Nutzung der dort vorhandenen Ressourcen, das Recht auf
Selbstverwaltung und das Recht auf spezielle Konsultations- und Partizipationsverfahren, die Einfluss auf das
Territorium oder die Lebensweise von indigenen Gruppen haben. Die ILO-Konvention richtet sich vor allem
an die Länder, zu deren Bevölkerung in Stämmen lebende Völker oder Eingeborene zählen.
Das trifft für Deutschland nicht zu. Bei uns leben nationale Minderheiten, wie die Friesen, Sorben, Sinti und
Roma oder die Dänen, die deutsche Staatsbürger sind.
Alle genießen weitreichende Rechte, die von allen Seiten
anerkannt und gefördert werden. Wir haben seit Jahren
in Zusammenarbeit mit den nationalen Minderheiten
eine sehr erfolgreiche Integrationspolitik, um die uns
viele beneiden. Die ILO-Konvention 169 verfolgt im Gegensatz dazu einen segregativen Ansatz, der für indigene
Völker in den Ländern, die bereits die Konvention ratifiziert haben, auch zielführend ist.
Diese zwei genannten Punkte sind ausreichend, um zu
verstehen, dass eine Ratifizierung nicht nur nicht nötig,
sondern für Deutschland auch nicht zweckdienlich ist.
Das wissen Sie genauso gut wie ich. Unter Rot-Grün, in
den Jahren 1999 bis 2005, haben Sie, als Sie die Möglichkeit zur Ratifikation hatten, nämlich genau aus diesen Gründen nicht ratifiziert.
Auch die Forderung‚ Deutschland solle aus Solidaritätsgründen ratifizieren, hätten Sie sich selbst erfüllen
können. Das haben Sie aber auch nicht getan. Unsere
Solidarität mit den indigenen Völkern - und das auch
schon zu Zeiten von Rot-Grün - spiegelt sich in den Projekten, Programmen und Handlungsrichtlinien der Bundesregierung wider. Diese entsprechen dem Geist der
Konvention.
Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass
diejenigen Staaten die Konvention ratifizieren, in deren
Gebiete indigene Völker leben. Nur dadurch wird die
Kraft dieser Konvention erhöht. Da unterscheiden wir
uns in unseren Politiken. Nicht die Anzahl der Unterschriften zählt, sondern wer und aus welchem Grund er
unterschreibt, ist entscheidend. Derzeit haben 22 Länder der 183 Mitgliedstaaten ratifiziert, davon 15 lateinamerikanische Länder: In Europa sind es Spanien, Norwegen, die Niederlande und Dänemark, also vier
europäische Länder mit zum Teil autonomen Gebieten,
deren Situation sich von der in Deutschland lebende nationaler Minderheiten deutlich unterscheidet.
Die Vereinten Nationen schätzen, dass weltweit circa
350 Millionen Menschen, das sind circa 4 Prozent der
Weltbevölkerung, Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen sind. Diese leben in mehr als 500 Gemeinschaften und in mehr als 70 Ländern dieser Erde.
Lateinamerika ist mit einem hohen Anteil Indigener
an der Gesamtbevölkerung - circa 10 Prozent - ein regionaler Schwerpunkt der deutschen bilateralen Zusammenarbeit zur Stärkung indigener Rechte. In Bolivien
gehören 62 Prozent der Bevölkerung indigenen Völkern
an. Die nachhaltige Entwicklung der Länder Lateinamerikas wird also wesentlich davon abhängen, ob und wie
die dort lebenden indigenen Völker mit eingebunden und
gefördert werden. Deren Rolle bei der Lösung regionaler und globaler Probleme wird meines Erachtens immer noch unterschätzt. Insbesondere beim Erhalt der
Biodiversität leisten Indigene aufgrund ihrer Lebensweise einen unschätzbaren Beitrag.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt vor allem die Bereiche Demokratieförderung,
Schutz und Management natürlicher Ressourcen, Krisenprävention und Konfliktmanagement sowie Bildung.
In Brasilien wurden zum Beispiel Indianergebiete ausgewiesen und geschützt. In Bolivien wurde die dezentrale Regierungsführung gestärkt und in Guatemala eine
interkulturelle zweisprachige Erziehung aufgebaut.
Auch auf internationaler Ebene wird die Bedeutung
indigener Völker zunehmend erkannt und anerkannt. So
gibt es im Rahmen des UN-Systems zahlreiche Gremien
und Resolutionen, die sich mit der Verbesserung der Situation von indigenen Völkern befassen. Dies geschieht
auf die unterschiedlichste Weise - beispielsweise durch
die Unterstützung regionaler Dachverbände indigener
Völker und ihrer Vertreter bei der Wahrnehmung ihrer
Interessen gegenüber Regierungen und auf internationaler Ebene. Ein Beispiel ist das regionale Netzwerk
„Indigene interkulturelle Universität“: Es bietet Postgraduiertenstudiengänge zu interkultureller, zweisprachiger Bildung und Medizin sowie zu Rechtspluralismus
an. Auch die Stärkung der Rechte indigener Frauen ist
Thema der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit
Zu Protokoll gegebene Reden
Lateinamerika. So kooperiert das BMZ auch mit der
COICA - Cordinadora de las Organizaciones Indigenas
de la Cuenca Amazonica -, die die Interessen der indigenen Amazonasvölker vertritt, oder mit dem Zentralamerikanischen Rat Indigener Völker, CICA.
In Lateinamerika haben, abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, alle Länder das ILO-Übereinkommen
ratifiziert. Die meisten Verfassungen lateinamerikanischer Länder erkennen die nationale Gesellschaft mittlerweile als multiethnisch oder multikulturell an und
sprechen den indigenen Bevölkerungsgruppen entsprechende Rechte zu. Das sind ermutigende Signale. Dennoch müssen wir die indigenen Völker und die Länder, in
denen sie leben, weiter unterstützen. Eine Ratifizierung
der ILO 169 durch Deutschland würde dahin gehend jedoch wenig bewegen.
Und nun möchte ich noch etwas zu dem Antrag bezüglich einer Legalisierung von Koka sagen: Die Blätter
der Kokapflanze gehören seit Jahrtausenden zum kulturellen und religiösen Erbe und Brauchtum der indigenen
Völker, unter anderem auch in Bolivien. Das ist unbestritten. Deshalb ist man den Kompromiss eingegangen,
dass Bolivien den Kokastrauch für traditionelle Zwecke
anbauen darf. Bis 2006 erlaubte das bolivianische Gesetz eine jährliche Anbaufläche von 12 000 Hektar in
der Yungas-Region. Die tatsächliche Anbaufläche der
Kokaplantagen lag jedoch um ein Vielfaches höher. In
diesem Zusammenhang muss man zur Kenntnis nehmen,
dass Bolivien der drittgrößte Kokainproduzent der Welt
ist.
2010 wurden 19 000 Tonnen Koka in Bolivien legal
verkauft. Dennoch will Bolivien die Fläche für den legalen Kokaanbau auf 20 000 Hektar erweitern. Die interne
Nachfrage des Kokablattes ist mit dieser Fläche mehr
als ausreichend gedeckt. Deutschland erkennt durchaus
die kulturelle Bedeutung von Koka an. Dennoch erachten wir eine Legalisierung der Kokapflanze vor dem
Hintergrund der riesigen Drogenproblematik derzeit
nicht für gangbar.
Zur Begründung der gebotenen Legalisierung wird im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 zur unterschiedlichen strafrechtlichen Behandlung des Gebrauchs
von Alkohol und Cannabis in Deutschland herangezogen. Es wurden in Anlehnung an das Bundesverfassungsgerichtsurteil Rückschlüsse dergestalt gezogen,
dass die Kokapflanze wie Alkohol eine Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hätte. Diese Parallele kann
meines Erachtens nicht gezogen werden. Zwar führt extensiver Alkoholmissbrauch zu schlimmen menschlichen
Einzelschicksalen. Aber der legale Zugang zu Alkohol
fördert nicht die organisierte Kriminalität, wie dies der
Anbau von Koka wegen der Herstellungsmöglichkeit
von Kokain zur Folge hat. Eine Folge, die Menschen,
Natur und letztendlich Staaten zerstört.
Dennoch hat sich die Bundesregierung bereit erklärt,
eine mögliche Einberufung einer Staatenkonferenz zur
umfassenden Diskussion des bolivianischen Anliegens
wohlwollend zu prüfen, sofern ein entsprechender Antrag von Bolivien gestellt würde. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt beide Anträge ab.
Ist das Kauen von Kokablättern Tradition oder eine
Droge? Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte
Antrag zeigt, dass die Grünen das Kauen von Kokablättern lediglich als Tradition sehen, losgelöst von der damit zusammenhängenden Drogenproblematik in Form
der Weiterverarbeitung von Kokablättern zu Kokain.
Es ist richtig: Das Kauen von Kokablättern wird in
weiten Teilen der indigenen Bevölkerung Boliviens und
anderer Andenstaaten praktiziert und gilt nicht nur als
Symbol für Tradition, sondern auch als Mittel gegen
Schläfrigkeit und Höhenkrankheit. Entsprechend ist der
Vorstoß der bolivianischen Regierung unter Präsident
Evo Morales vom 12. März 2009 zu sehen, eine Änderung der UN-Einheitskonvention über Betäubungsmittel
zu erreichen. Morales, selbst ehemaliger Kokabauer
und überzeugter Konsument, wollte mit seinem Antrag
auf Änderung von Art. 49 Abs. 2 e der UN-Einheitskonvention über Betäubungsmittel von 1961 eine Ausnahme
für das Kauen von Kokablättern erzielen. Die Änderung
sollte dabei nur für das Kauen des Kokablattes gelten,
während die Weiterverarbeitung zu Kokain nach wie vor
verboten bleiben sollte. Dieser Änderungsantrag ist jedoch am Widerstand von 17 UN-Mitgliedstaaten gescheitert.
Auch Deutschland hat dem Antrag Boliviens zur Änderung der Drogenkonvention nicht zugestimmt. Ausschlaggebend für die Haltung Deutschlands waren drogenpolitische Erwägungen. Deutschland sieht in dem
Änderungsvorschlag Boliviens die Gefahr, dass die über
Jahrzehnte entwickelten rechtlichen Instrumente zur Bekämpfung der weltweiten Drogenproblematik beschädigt werden könnten. Diese Sorge ist nicht unberechtigt.
Im Zuge einer Legalisierung des Anbaus von Kokablättern zum traditionellen Kauen und für den medizinischen und religiösen Einsatz würden nämlich automatisch die Rahmenbedingungen für eine lukrative
Weiterverarbeitung zu Kokain begünstigt werden. Eine
Trennung des Anbaus von Kokablättern zum Kauen einerseits und zur Weiterverarbeitung andererseits, wie im
bolivianischen Antrag vorgeschlagen, ist in der Praxis
aber nicht umsetzbar. Eine Ausnahmeregelung beim
Kokaanbau würde außerdem einer Aufweichung der
Konvention Tür und Tor öffnen und eine Grauzone beim
Kokaanbau schaffen.
Die traditionelle Bedeutung des Kokakauens für die
indigene Bevölkerung Boliviens und weiterer Andenstaaten soll nicht verkannt werden. Die ILO-Konvention
der Vereinten Nationen schützt die Rechte und Traditionen indigener Völker ausdrücklich. Die Gefahr eines
Missbrauchs ist aber nicht von der Hand zu weisen. Unter dem Deckmantel des Brauchtumschutzes nämlich
würde einer kriminellen Industrie Tür und Tor geöffnet.
Ein Beispiel ist Mexiko, das unter den fortwährenden
Kämpfen rivalisierender Drogenkartelle leidet. Seit dem
Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón sind in Mexiko bereits über 36 000 Menschen ums Leben gekomZu Protokoll gegebene Reden
men. Besonders betroffen ist der Norden des Landes,
insbesondere die Stadt Ciudad de Juárez an der Grenze
zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Juárez gilt in
dieser Hinsicht als gefährlichster Ort der Welt.
Drogenhandel ist in Bolivien zu einem wichtigen
Wirtschaftsfaktor geworden. Dies hat inzwischen die bolivianische Regierung eingeräumt. Seit 2007 ist die Anbaufläche für Kokablätter jährlich gewachsen. Laut
UNO werden auf rund 30 000 Hektar Fläche Kokablätter angebaut. Nur ein Bruchteil davon deckt den Bedarf
zum traditionellen Kauen und für religiöse Rituale. Der
Großteil der Kokablätter wird in geheimen Labors zur
Herstellung von Kokain verwendet. Bolivien ist nach
Kolumbien der weltweit größte Produzent von Kokain.
Die Verquickungen der Drogenmafia reichen dabei bis
ins Umfeld von Präsident Morales. Morales selbst tritt
für die Legalisierung des Kauens der Kokapflanzen
nicht zuletzt auch deshalb ein, weil er als Anführer der
Organisation der Kokabauern in der Provinz Chapare
aktiv ist.
Im Februar dieses Jahres wurde der ehemalige Polizeigeneral Boliviens, Rene Sanabria, in Panama wegen
Drogenhandels festgenommen und nach Miami ausgeliefert. Auch in der Vergangenheit wurden einige dem
Präsidenten nahestehende Personen wegen Drogenhandels verhaftet. Bereits 2008 hatte Morales die amerikanische Drogenbekämpfungsbehörde des Landes verwiesen mit der Begründung, sie mische sich in die inneren
Angelegenheiten Boliviens ein.
Angesichts der geschilderten Umstände halte ich die
Entscheidung Deutschlands und 16 weiterer Staaten,
den Antrag Boliviens zur Änderung der UN-Einheitskonvention abzulehnen, für richtig. Vorrangiges Ziel der
Vereinten Nationen muss die Bekämpfung der internationalen Drogenökonomie sein. Deutschland ist trotz seiner Ablehnung des bolivianischen Antrags bemüht, konstruktive Gespräche mit der bolivianischen Regierung
zu führen und gemeinsame Projekte zur Drogenbekämpfung zu intensivieren. Ich denke, dass dies der richtige
Weg ist. Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir daher nicht zustimmen.
Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, hat im
Jahr 1989 die ILO-Konvention 169 zu indigenen und in
Stämmen lebenden Völkern verabschiedet. Am 5. September 1991 trat die Konvention in Kraft. Bis heute ist
dies die einzige internationale Norm, die den Ureinwohnervölkern rechtsverbindlichen Schutz und eine Vielzahl
von Grundrechten garantiert. Und bis heute - fast
20 Jahre nach Inkrafttreten - hat die Bundesrepublik
Deutschland die Konvention 169 immer noch nicht ratifiziert. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen in allen
Bundestagsfraktionen, sollten und müssen wir gemeinsam ändern. Dies wäre Ausdruck der internationalen
Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands als
führende Nation in Europa und auch als Mitglied des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Zu dieser Verantwortung und Glaubwürdigkeit gehört nämlich, dass
internationale Abkommen und Vereinbarungen national
ratifiziert und umgesetzt werden. Der gemeinsame Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, über den wir heute beraten, bietet dafür die parlamentarische Grundlage.
Laut Vereinten Nationen zählen rund 400 Millionen
Menschen in über 70 Ländern zu den indigenen Völkern.
Das sind mehr Menschen als die Einwohner der USA
und Deutschlands zusammen. Trotzdem sind die Lebensgrundlagen und traditionellen Rechte indigener Völker
vielerorts bedroht. Hinzu kommen vielfach Menschenrechtsverletzungen vonseiten der jeweiligen Regierungen.
Es geht um das Recht auf kulturadäquate und selbstbestimmte Entwicklung. Dazu gehört unter anderem die
Anerkennung und praktische Berücksichtigung ihrer
sprachlichen und kulturellen Besonderheiten. Das gilt
auch für ein Brauchtum, das seit Jahrtausenden Bestandteil der Lebensverhältnisse von den indigenen
Völkern in den Anden ist, nämlich die Blätter der
Kokapflanzen zu konsumieren. Insofern bedarf es auch
einer Toleranz gegenüber diesem Brauchtum, damit unnötige Konflikte vermieden werden. Der Antrag der
Grünen zeigt hier Wege auf, wie auf internationaler
Ebene mit diesem Problem umzugehen ist. Eine internationale Untersuchung zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Kauens von Kokablättern sollten die Vereinten Nationen einleiten, um weitere Erkenntnisse in
dieser Frage zu erhalten. Es geht um die Verhinderung
von Diskriminierung von Menschen mit indigenem Hintergrund und um garantierte gesellschaftliche und politische Beteiligungsrechte. Es geht um das Recht auf
Aufrechterhaltung der politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Systeme indigener Völker sowie den Zugang zu
Land und Ressourcen - und deren Nutzung. Außerdem
geht es um die Bekämpfung der Armut und schlechter
Lebensbedingungen, von denen Menschen aus indigenen Völkern überproportional betroffen sind.
Gerade der letzte Punkt macht die Bedeutung der
Entwicklungszusammenarbeit mit und für indigene Völker deutlich. Denn: Die Stärkung der Rechte indigener
Völker und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen
stellen eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung dar. Vor allem in Ländern mit
hohem indigenen Bevölkerungsanteil lassen sich die
Millenniumsentwicklungsziele nur erreichen, wenn die
Potenziale indigener Völker genutzt und ihre spezifischen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden.
Außerdem ist die aktive Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen, einschließlich der indigenen, für die Entwicklung demokratischer und multiethnischer Gesellschaften unabdingbar. Dies stärkt die Zusammenarbeit
und den Dialog von Staat und Zivilgesellschaft und kann
möglichen Konflikten vorbeugen oder hilft, diese friedlich auszutragen. Schließlich leisten indigene Völker
dort, wo sie in unmittelbarer Nähe zu natürlichen Ressourcen und biologischer Vielfalt leben und wirtschaften, dank ihres über Generationen überlieferten Wissens
einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität.
Ein konkretes Beispiel dafür ist die Initiative zur Rettung des Regenwaldes im Yasuni-Nationalpark in
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
Ecuador, bei deren Umsetzung die dort lebenden indigenen Völker eine wichtige Rolle spielen. In der vergangenen Legislaturperiode hatten sich alle im Bundestag
vertretenen Parteien in einem gemeinsamen Antrag für
eine Unterstützung der Initiative eingesetzt. Bundesminister Niebel will heute davon nichts mehr wissen. Die
Folgen sind klar: Wenn Deutschland als einer der wichtigsten Geber jetzt nicht zu seinem Wort steht, steht das
Projekt vor dem Aus, wird eine einmalige Tier- und
Pflanzenwelt für immer verloren gehen. Die SPD fordert
deshalb, für das Regenwaldprojekt jährlich 40 Millionen
Euro in den Haushalt einzustellen.
Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 ist die Voraussetzung dafür, dass indigene Völker ihr Recht bekommen und ihre Rechte gegenüber dem Staat einklagen
können. Sie ist die Grundlage zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie des Gesundheitsund Bildungsstandes der indigenen Völker. Sie verbietet
jegliche Diskriminierung hinsichtlich des Arbeitsentgelts, der ärztlichen und sozialen Betreuung, der sozialen Sicherheit und der Vereinigungsfreiheit. Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und
Frauen werden ebenfalls festgeschrieben.
Ein wichtiger Fortschritt war die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker
vom September 2007, die von der VN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet
wurde. Deutschland hatte dieser Resolution nicht nur
zugestimmt, sondern war im Vorfeld auch aktiv an ihrer
Ausarbeitung beteiligt. Deshalb wäre es nur folgerichtig, wenn Deutschland die ILO-Konvention 169 ratifizieren würde.
Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht über die
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen
vom August 2010 zu Recht festgestellt, dass Personen
mit indigenem Hintergrund politische und gesellschaftliche Teilhabe ganz oder teilweise verwehrt werde. Die
Bundesregierung räumt ferner ein, dass aktive Partizipation indigener Völker unabdingbar für die Verwirklichung ihrer Menschenrechte sei und die ILO-Konvention 169 das geeignete internationale Vertragswerk sei,
einen umfassenden Schutz dieser Rechte zu gewährleisten.
Trotz dieser richtigen Erkenntnisse ist die Bundesregierung bislang nicht bereit, dem Deutschen Bundestag
die ILO-Konvention 169 zur Ratifizierung vorzulegen,
und dies, obwohl die auswärtige Politik der Bundesregierung massiven Einfluss auf die Lebensbedingungen
indigener Völker auf der ganzen Welt hat. So greifen die
wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Unternehmen und
die Außen-, Wirtschafts-, Handels-, Umwelt- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung direkt oder indirekt in die Rechte indigener Völker ein. Beteiligungen
deutscher Firmen und Banken an Staudammbau- oder
Öl-Pipeline-Projekten oder die Aktivitäten der staatlichen Durchführungsorganisationen sind Beispiele dafür.
Auch die Maßnahmen im Rahmen der neuen Rohstoffstrategie der Bundesregierung berühren in vielen
Fällen die Interessen indigener Völker. Gestern war genau dieses Thema Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Dies macht deutlich, dass der Schutz
der Rechte indigener Völker schon längst nicht mehr als
rein innerstaatliches, nationales Anliegen betrachtet
werden kann. Die Globalisierung hat Industrienationen,
Schwellen- und Entwicklungsländer und somit auch die
dort lebenden indigenen Völker näher denn je zusammengebracht. Mit der Ratifizierung der ILO-Konvention
169 würde Deutschland seines besonderen internationalen Gewichts und seiner Verantwortung für die Wahrung
der Menschenrechte Rechnung tragen. Offiziell erweckt
die Bundesregierung jedenfalls den Eindruck, dass sie
ganz im Sinne der ILO-Konvention 169 handelt. Aber es
fehlt die vertragliche Verpflichtung.
Vor wenigen Tagen hat das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein
Folgekonzept zur menschenrechtsbasierten Entwicklungspolitik vorgelegt. Dieses Konzept stellt die Achtung
der Menschenrechte in allen Bereichen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den Mittelpunkt. Dies ist nicht
neu, aber notwendig. Es baut im Wesentlichen auf dem
unter der sozialdemokratischen Entwicklungsministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul bereits im Jahr 2008 entwickelten und anschließend in die Praxis umgesetzten
„Entwicklungspolitischen Aktionsplan für Menschenrechte“ auf.
Insgesamt zwölfmal werden die Menschenrechte der
indigenen Völker und deren Einhaltung in dem Konzept
erwähnt. Es wird kritisiert, dass indigene Völker in den
meisten Staaten vom politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Leben weitgehend ausgeschlossen sind, dass
ihre fortgesetzte Ausgrenzung nicht nur ihre Entwicklungschancen beschränkt, sondern auch Konfliktpotenzial mit Auswirkungen auf die politische Stabilität
in sich birgt und dass die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 Grundvoraussetzung für die aktive Partizipation indigener Völker und die Verwirklichung ihrer Menschenrechte ist. Alles richtig. So weit, so gut. Aber was
folgt daraus? Um es mit Doktor Faust in Goethes gleichnamigem Werk zu sagen: „Die Botschaft hör’ ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube.“ Das kann die Koalition und
die Bundesregierung jetzt ändern.
Im vorliegenden Antrag fordert die SPD-Fraktion gemeinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen:
Erstens. Die Bundesregierung soll dem Deutschen
Bundestag die ILO-Konvention 169 umgehend zur Ratifizierung vorlegen. Das wäre ein wichtiges Signal an die
internationale Staatengemeinschaft und Ausdruck der
Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands in
der Welt.
Zweitens. Die Bundesregierung soll die Resolutionen
der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker
in nationales Recht umsetzen und die entsprechenden internationalen Gremien mit ausreichenden Finanzmitteln
unterstützen.
Drittens. Die Bundesregierung soll sich auf europäischer Ebene und im Rahmen der Europäischen Initiative
für Demokratie und Menschenrechte stärker für die
Rechte der indigenen Völker einsetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({1})
Viertens. Wir erwarten, dass die Bundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommission die Rechte indigener
Völker in der Welthandelsorganisation, WTO, und im
Rahmen des Übereinkommens über geistiges Eigentum,
TRIPS, durchsetzt.
Wir fordern, fünftens, dass die Bundesregierung die
Bedeutung indigener Völker für die biologische Vielfalt
anerkennt und dem Deutschen Bundestag das NagoyaProtokoll für einen gerechten Ressourcenzugang zur Ratifizierung vorlegt.
Am 5. September 2011 ist der 20. Jahrestag des Inkrafttretens der ILO-Konvention 169. Das wäre genau
der richtige Zeitpunkt, damit Deutschland als drittgrößter Beitragszahler der ILO die Rechte indigener Völker
durch die Ratifizierung der Konvention endlich vollständig anerkennt. Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen und ein internationales Zeichen - gemeinsam
über die Fraktionsgrenzen hinweg - zu setzen.
Kennen Sie Valentina Rosendo Cantú?
Valentina Rosendo Cantú wurde vor neun Jahren von
Soldaten vergewaltigt, in ihrem Dorf im Süden Mexikos.
Valentina Rosendo Cantú steht damit für eine Vielzahl
indigener Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden.
Die Täter von Valentina Rosendo Cantú wurden bis
heute nicht zur Rechenschaft gezogen. In Mexiko ist dies
trauriger Alltag. Ungewöhnlich am Fall von Valentina
Rosendo Cantú ist, dass er es bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica
schaffte - und die Richter diese und andere Vergewaltigungen im vergangenen Jahr als Folter gegen die indigene Bevölkerung beurteilten. Sie verpflichteten Mexiko, die Verfahren von der Militärjustiz an zivile
Gerichte zu übergeben und den Opfern Entschädigungen zu zahlen.
Ohne diesen Druck von außen würde Mexiko gegen
dieses Verbrechen nichts tun. Die dortigen Gerichte sehen keinen Handlungsbedarf, nicht in diesem Fall und
auch nicht in den vielen anderen Fällen. Mexiko jedoch
hat die ILO-Konvention 169 ratifiziert.
Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Außen- und
Entwicklungspolitik konsequent für die Verbesserung
der Lage indigener Bevölkerungsgruppen und die Wahrung ihrer Rechte ein. Regierungsvertreter fordern die
Einbindung der indigenen Bevölkerung in politische
Prozesse und die zügige Umsetzung entsprechender Verfassungsvorschriften. Die Bundesregierung nutzt ihre
bilateralen Beziehungen zu Ländern mit indigener Bevölkerung, um sich für deren Interessen einzusetzen.
Deutschland setzt sich bei den Vereinten Nationen für
die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen ein und unterstützt entsprechende Resolutionen und Erklärungen.
Das „Permanente Forum für Indigene Angelegenheiten“ wurde unter anderem durch das Engagement
Deutschlands eingesetzt.
Insbesondere in Ländern mit hohem indigenen Bevölkerungsanteil können die Milleniumsziele ohne die konkrete Verbesserung der Lebenssituation von Indigenen
nicht verbessert werden. Das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat
daher ein übersektorales Konzept mit dem Namen „Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern in Lateinamerika und der Karibik“ erarbeitet. Es werden integrierte Vorhaben im Bereich der Armutsbekämpfung,
der Regionalentwicklung oder Demokratieförderung unterstützt und die Rechte und Interessen indigener Bevölkerungsgruppen gefördert.
Wie wir sehen, engagiert sich die Bundesregierung
sehr für indigene Völker. Warum ratifiziert sie dann
nicht die ILO-Konvention 169?
Weil sie für Deutschland überflüssig ist und weil die
behandelte Problematik auf Deutschland nicht zutrifft.
Das Übereinkommen richtet sich ausnahmslos an frühere Kolonien, in denen heute indigene Bevölkerungsgruppen leben. In Brasilien sind das beispielsweise die
Kaingang, in Dänemark die Inuits. Deutschland ist kein
solches Land.
Mit der ILO-Konvention 169 sollen für indigene
Rechte der Gleichbehandlung und spezielle Beteiligungsrechte statuiert werden. Ihre soziale und kulturelle
Identität, ihre Bräuche und Überlieferungen und ihre
Einrichtungen sollen durch das Übereinkommen anerkannt und geschützt werden.
In Deutschland setzen wir uns - erfolgreich - seit
Jahrzehnten für die Integration von hier lebenden Minderheiten ein. Die Regelungen des Übereinkommens widersprechen dem und haben insgesamt eine trennende
Zielsetzung. Indigene Bevölkerungsgruppen erhalten separate Rechte wie eigene Schulen und geschlossene
Räume. Das ist für Staaten, in denen ein beachtlicher
Bevölkerungsteil indigener Herkunft ist, sinnvoll, für
uns in Deutschland aber nicht. Wir sind dank unseres
Grundgesetzes und unserer Entwicklung in der Gleichbehandlung von Minderheiten so weit, dass wir für sie
keine Sonderrechte brauchen. Wir leben die Gleichheit
vor Recht und Gesetz. Eine Trennung und Absonderung
würde nicht helfen, sie wäre kontraproduktiv.
Solange das Übereinkommen ILO 169 auch auf die
deutsche Bevölkerung angewendet werden könnte, muss
sich die Bundesregierung daher gegen die Ratifikation
aussprechen. In dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland leben keine Völker im Sinne des Abkommens, und eine Anwendung der Konvention würde der
hiesigen Integration von Minderheiten schaden.
Eine weitere Frage bei dem zurzeit debattierten Antrag lautet: Warum haben vorherige Regierungen die
Konvention nicht ratifiziert? Die Konvention steht schon
seit 20 Jahren zur Ratifikation bereit. Die Antragsteller
hätten dafür genug Zeit gehabt, als sie selbst in Regierungsverantwortung standen. Ich kann es Ihnen erklären: SPD und Bündnis 90/Die Grünen sahen in ihren Regierungszeiten genau die gleichen Probleme wie wir. So
ergab eine Ratifizierbarkeitsprüfung unter der rot-grünen Bundesregierung „äußerst gravierende Hemmnisse“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellte im
Juni 2006 einen Antrag zur Ratifikation der ILO-KonZu Protokoll gegebene Reden
http://www.sueddeutsche.de/thema/Mexiko
vention 169. Zu der Zeit befand sie sich in der Opposition. Der Antrag wurde abgelehnt, auch mit den Stimmen der SPD.
Hier werden also ernsthafte und wichtige Themen zur
Stimmungsmache genutzt. Es soll aussehen, als ob wir
uns nicht kümmern würden, als ob für uns Menschenrechtsverletzungen nicht von Belang wären, als ob wir
andere Interessen über die von diskriminierten Bevölkerungsgruppen stellen würden. Solche Anträge werden zu
Recht „Schaufensteranträge“ genannt. Sie taugen zu
nichts anderem, als im Schaufenster ausgestellt zu werden und gut auszusehen. Ich empfinde dies im Hinblick
auf ein solch bedeutendes und sensibles Thema als beschämend.
Valentina Rosendo Cantú ist für mich eine Heldin.
Obwohl Mexiko die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat,
hat sich der mexikanische Staat nicht für ihre Rechte
eingesetzt. Valentina Rosendo Cantú hat sich jedoch
nicht mit dem himmelschreienden Unrecht abgefunden,
das den Indigenen in Mexiko zugefügt wird. Sie hat den
Gang durch die Institutionen gewagt und gewonnen. An
uns liegt es, Druck auszuüben und Hilfestellungen zu
bieten. Die Einhaltung von Recht und Gesetz darf kein
Einzelfall bleiben; sie muss selbstverständlich werden.
Dafür arbeiten wir in der Entwicklungspolitik.
Berührt es uns wirklich, wenn Jumma-Indigene in
Bangladesch in einem Völkermordfeldzug ermordet, gefoltert, vergewaltigt und ihre Siedlungen niedergebrannt
werden? Wenn zahllose Yanomami- und Yekuana-Indigene im Amazonas-Gebiet an von illegalen Goldgräbern
eingeschleppten Krankheiten sterben? Oder wenn in
Kolumbien innerhalb von fünf Jahren mehr als tausend
Indigene ermordet und Tausende aus ihrer Heimat vertrieben werden, weil sie auf strategisch oder ökonomisch wichtigem Boden wohnen?
Die Antwort aller deutschen Regierungen seit 1989
ist: nein. Seither nämlich steht die Ratifizierung des
„Übereinkommens über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“, die ILO-Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation,
aus. Dabei ist es das bisher einzige rechtsverbindliche
Dokument der Vereinten Nationen zum Schutz und zur
Förderung indigener Gemeinschaften. Seit 22 Jahren
weigert sich Deutschland also, dieser Konvention beizutreten.
Das Europaparlament mahnte die Mitgliedstaaten
der Europäischen Union mehrfach, das Übereinkommen
zu unterzeichnen. Die deutsche Bundesregierung aber
verweigert eine Ratifizierung mit Hinweis auf die Prüfung der Rechtslage. Dass diese Begründung nur vorgeschoben ist, liegt auf der Hand. Zum einen fehlt das Interesse und der politische Wille, sich des Themas
anzunehmen, zum anderen werden wirtschaftliche Nachteile für betroffene deutsche Unternehmen vor Ort, bei
Wirtschaftskooperationen oder der Vergabe von Hermes-Bürgschaften befürchtet. Zum Schutz deutscher Unternehmen weigert man sich, endlich den Schutz für Indigene voranzutreiben. Das ist ein Skandal. Denn es
herrscht akuter politischer Handlungsbedarf.
Wenn der Bau des Belo-Monte-Staudamms in Brasilien das Leben von bis zu 40 000 Menschen konkret bedroht, dann ist dafür auch ein deutsches Unternehmen
verantwortlich. Die Voith Hydro, ein Gemeinschaftsunternehmen von Voith und Siemens, hat erst kürzlich einen Vertrag über die Ausrüstung des mit dem Staudamm
verbundenen Wasserkraftwerks in Höhe von 443 Millionen Euro unterzeichnet und somit die Zerstörung der Lebensgrundlage von Tausenden Indigenen im Gebiet des
Xingu-Flusses besiegelt.
Wenn in Kolumbien im Zuge des Kohleabbaus Indigene vertrieben oder sogar ermordet werden, wenn im
Grenzgebiet Catatumbo die Existenz der Motilon Bari
durch die mit dem Bergbau einhergehende Zerstörung des
Ökosystems und Vertreibungen bedroht ist, dann profitieren davon auch deutsche Kraftwerksbetreiber. Schließlich hat Deutschland im Jahr 2009 17,9 Prozent der
Kraftwerkskohle aus Kolumbien bezogen, die deutsche
EnBW gar 30 Prozent. In den nächsten Jahren könnte
Kolumbien nach Prognosen des Vereins der deutschen
Kohleimporteure, dem Konzerne wie RWE, ThyssenKrupp und Vattenfall angehören, sogar Spitzenreiter für
den atlantischen Steinkohlemarkt zu werden.
Auch wenn es positive Beispiele gibt wie in Botswana,
wo lokale Gerichte die Vertreibung von 5 000 Indigenen
aus der Gruppe der San aus der Kalahari als verfassungswidrig erklärt haben, sodass diese nach jahrelangem Kampf nun endlich in ihre Ursprungsgebiete zurückkehren können, steht eines fest: Bei Verhandlungen
um natürliche Ressourcen und Bodenschätze - Stichwort
Rohstoffstrategie -, beim Verkauf von Ländereien an
private Investoren - Stichwort Landgrabbing - oder bei
Handelsabkommen wie beispielsweise Assoziierungsabkommen zwischen lateinamerikanischen Ländern und
der Europäischen Union werden die Rechte der indigenen Gemeinschaften meistens übergangen.
Dabei sind die Menschenrechte ausdrücklich kein
ortsgebundenes Konzept. Die deutsche Bundesregierung
kann also auch dann Verpflichtungen nach internationalem Recht gegenüber indigenen Gemeinschaften eingehen, wenn auf deutschem Staatsgebiet keine indigenen
Gruppen leben. Denn jeder Staat, der die ILO-Konvention Nr. 169 ratifiziert, stärkt die Rechte indigener Gemeinschaften. Jeder Beitritt ist ein Beitrag, die Menschenrechte für die Indigenen durchzusetzen. Jeder
Beitritt hilft außerdem, traditionelles Wissen, Erfindungen und Praktiken indigener Gemeinschaften zu schützen, Wissen also, das beispielsweise für den Erhalt und
die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt relevant
ist, wie Art. 8 der Biodiversitätskonvention richtig feststellt. Denn die etwa 370 Millionen Menschen, die in
5 000 indigenen Gemeinschaften in über 70 Ländern auf
allen Kontinenten leben, stehen für den Erhalt kultureller und ökologischer Vielfalt. Die Anerkennung der
Rechte indigener Gemeinschaften als nichtstaatliche
Kollektive gehört daher zu den großen Herausforderungen unserer Zeit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die positiven Entwicklungen seit Inkrafttreten der
ILO-Konvention Nr. 169 sind enorm. Immer mehr indigene Organisationen schließen sich zusammen und bilden Netzwerke, um ihre Interessen zu vertreten. Ein besonders positives Beispiel ist hierbei Bolivien, wo die
Wahl des ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas,
Evo Morales, unter anderem dazu geführt hat, das indigene Konzept des „Buen Vivir“ und der Rechte der Natur in die Verfassung aufzunehmen. Die ILO-Konvention
Nr. 169 wurde inzwischen von 22 Staaten ratifiziert. Es
ist Zeit, dass die deutsche Bundesregierung den guten
Beispielen folgt und ihrer Verantwortung gegenüber den
indigenen Gemeinschaften gerecht wird.
Bereits 2002 beschloss der Bundestag einen umfangreichen Menschenrechtsantrag, der die Bundesregierung aufforderte, die Ratifizierung der ILO-Konvention
169 zu prüfen. Leider hat Deutschland die Konvention
der ILO bis heute nicht ratifiziert, obwohl sie als einzige
völkerrechtliche Norm die Rechte indigener Völker umfassend und verbindlich festlegt.
Damals scheiterte eine Ratifizierung vor allem an den
Bedenken des Wirtschafts- und des Innenministeriums.
Auch ein neuer Anlauf durch einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen in der letzten Legislaturperiode
wurde durch die Stimmen der damaligen Regierungskoalition abgeblockt. Es ist daher sehr erfreulich, dass wir
jetzt gemeinsam mit der SPD einen Antrag einbringen
können. Noch schöner wäre es, wenn daraus sogar ein
interfraktioneller Antrag gemeinsam mit der Koalition
werden könnte. Kämen Signale aus den Koalitionsfraktionen, die in diese Richtung gehen, dann würden wir
uns Gesprächen nicht verschließen und gegebenenfalls
diesen Antrag zugunsten eines gemeinsamen Antrags zurückziehen.
Als „Indigene“ werden weltweit circa 350 Millionen
Menschen bezeichnet. Sie leben in circa 70 verschiedenen Ländern - und viele von ihnen weitestgehend im
Einklang mit der Natur. Viele ihrer angestammten Gebiete sind regelrechte Biodiversitäts-Hotspots. Ihr traditionelles Wissen ist dabei unerlässlich für die Bewahrung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt
auf unserem Planeten.
Die Berichte des UN-Sonderberichterstatters für die
Rechte indigener Völker, Rodolfo Stavenhagen, belegen,
dass diese Menschen sowohl in ihren Grundrechten,
aber auch in ihren kulturellen Rechten in vielen Regionen der Welt bedroht sind. Ihrer Lebensweise wird in zunehmendem Maße durch Umweltverschmutzung und
skrupellose Ausbeutung von Rohstoffen die Grundlage
entzogen. Verantwortlich sind nicht nur die Regierungen
der einzelnen Länder, sondern auch multinationale Unternehmen. Insofern sind auch die Regierungen der
wohlhabenden Industriestaaten in der Verantwortung,
zu handeln - und nicht nur Staaten, auf deren Territorium indigene Völker leben. Wir fordern, wie in unserem
Antrag formuliert, Richtlinien für die Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung, die die
Rechte der indigenen Völker entsprechend der ILOKonvention 169 berücksichtigen.
Der entwicklungspolitische Dialog mit Repräsentanten indigener Völker muss intensiviert und ihre Partizipationsmöglichkeiten müssen auf nationaler wie auch
internationaler Ebene sowohl politisch als auch finanziell unterstützt werden. Es muss endlich eine politische
Entscheidung für den Schutz dieser Menschen sowie für
den Schutz der biologischen Vielfalt getroffen werden gerade in Zeiten des Klimawandels. Die Ausreden vonseiten des Wirtschafts- und Innenministeriums, nur Länder, in denen indigene Völker leben, könnten die Konvention ratifizieren, dürfen nicht länger gelten, ebenso
wenig die ignorante Forderung, dass es möglichst keine
Auswirkungen auf deutsche wirtschafts- und innenpolitische Belange geben darf. Die blutig niedergeschlagenen
Indigenenproteste gegen ein Freihandelsabkommen in
Peru im Jahr 2009 haben erneut deutlich gemacht, wie
bedroht ihr Lebensraum ist und dass Indigenenrechte
nicht einfach Wirtschaftsinteressen geopfert werden
dürfen.
Jede Ratifizierung der ILO-Konvention 169 stellt einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung des internationalen Menschenrechtsstandards für indigene Völker dar;
gerade auch durch Länder, die selbst keine indigene Bevölkerung auf ihrem Staatsgebiet aufweisen. Die Niederlande und Spanien haben es uns vorgemacht. Jetzt ist es
an Deutschland, die ILO-Konvention 169 endlich zu ratifizieren und damit auch seiner neuen außenpolitischen
Verantwortung im UN-Sicherheitsrat gerecht zu werden.
Ein weiterer Antrag von uns Bündnisgrünen, der aber
auch ein interfraktioneller Antrag werden könnte - wir
freuen uns da über die zustimmenden Signale der SPD -,
fordert, dass den indigenen Völkern im Andenraum auch
weiterhin die Möglichkeit gegeben wird, legal Kokablätter anzubauen. Dieser Antrag veranschaulicht beispielhaft die Problematik um die kulturellen Rechte indigener
Völker. Die Blätter der Kokapflanze gehören seit Jahrtausenden zum kulturell-religiösen Erbe und Brauchtum
dort. Auch zu medizinischen Zwecken werden die Blätter
gekaut, und Touristen, die an der Höhenkrankheit leiden, schätzen diese Pflanze ebenso. Trotzdem stehen Kokablätter seit 1961 auf der Liste der verbotenen Betäubungsmittel der Vereinten Nationen, weil sie mit
chemischen Mitteln zur gefährlichen Droge Kokain verarbeitet werden können. 2009 hatte Bolivien deshalb bei
den Vereinten Nationen beantragt, das Anbauen von
Kokablättern nicht zu unterbinden. Jedoch sollte dies
nur im Inland geschehen und die Nutzung der Kokablätter nicht für den Export gestattet werden. Die Verarbeitung von Koka zu Kokain sollte weiterhin streng verboten bleiben.
Auch in unserem Kulturkreis hat sich seit Jahrtausenden eine Droge etabliert: Alkohol. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 9. März
1994 den Alkoholkonsum in Deutschland damit gerechtfertigt, dass Alkohol als Lebens- und Genussmittel eine
Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hat; in Form
von Wein wird er auch im religiösen Kult verwendet.
Weiterhin sieht sich der Gesetzgeber auch mit der TatsaZu Protokoll gegebene Reden
che konfrontiert, dass er den Genuss von Alkohol wegen
der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden kann. Genauso geht es den Menschen im Andenraum. Daher brauchen wir die Anerkennung von
Kokablättern als schützenswerte Heilpflanze und Bestandteil der Kultur der Indigenen in den Anden.
Wir begrüßen, dass das BMZ kürzlich ein neues Menschenrechtskonzept vorgestellt hat, dass die Menschenrechte zum verbindlichen Leitprinzip der deutschen Entwicklungszusammenarbeit machen soll. Wenn es der
Bundesregierung aber wirklich ernst damit ist, müsste
sie jetzt im Kabinett beschließen, auch die Außenwirtschaftsförderung, die Agrar- und Handelspolitik und vor
allem auch die neue Rohstoffstrategie kohärent an den
Menschenrechten in ihrer vollen Bandbreite - also auch
unter Einbeziehung der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechte - auszurichten. Folgerichtig müssten die Koalitionsfraktionen auch beiden heute
von uns vorgelegten Anträgen zustimmen. Ich bin auf die
Beratungen in den Ausschüssen gespannt und hoffe,
dass wir zu einem Konsens finden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5915 und 17/6120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich gebe Ihnen zwischenzeitlich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung über den Antrag zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt: abgegebene
Stimmen 565, mit Ja haben gestimmt 489, mit Nein haben gestimmt 66, Enthaltungen 10. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 565;
davon
ja: 489
nein: 66
enthalten: 10
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
olms
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({22})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Graf ({23})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({24})
Hubertus Heil ({25})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({26})
Christel Humme
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({27})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({29})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({30})
Michael Roth ({31})
({32})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({33})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({34})
Werner Schieder ({35})
Ulla Schmidt ({36})
Silvia Schmidt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({40})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({41})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({42})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({43})
Michael Link ({44})
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({45})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({46})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({47})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({48})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({49})
Volker Beck ({50})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({51})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
olms
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({52})
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({53})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({54})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({55})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({56})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Till Seiler
Enthalten
SPD
Klaus Barthel
Petra Hinz ({57})
Waltraud Wolff
({58})
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Uwe Kekeritz
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Harald Terpe
Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:1)
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Belarus nach den Wahlen - Repressionen
beenden
- Drucksache 17/6144 -
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6144. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist einstimmig angenommen.
1) Anlage 10
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({59}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei
- Drucksachen 17/1101, 17/2025 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Dr. Rolf Mützenich
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller ({60})
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute
diskutieren, fordert die Bundesregierung auf, sich bilateral und im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen für
freie gewerkschaftliche Betätigung und Garantie von
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei
einzusetzen.
Konkret wird die Bundesregierung aufgefordert, sich
gegen die Kriminalisierung legitimer Arbeitnehmerproteste in der Türkei einzusetzen und die türkische Regierung zur Vorlage eines Beschäftigungsangebots an die
Tekel-Mitarbeiter in Übereinstimmung mit international
anerkannten Arbeits- und Vereinigungsrechten zu drängen. Die Bundesregierung wird weiter aufgefordert, gegenüber der türkischen Regierung die Polizeigewalt gegen streikende Gewerkschaftsvertreter deutlich zu
kritisieren, die Demokratisierung des türkischen Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation als Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern sowie sich auf EU-Ebene
für eine ausführliche Hervorhebung der Lage der türkischen Gewerkschaften in den Fortschrittsberichten der
EU-Kommission einzusetzen.
Der Antrag beinhaltet einige gerechtfertigte Kritikpunkte. In der Tat kam die EU-Kommission in ihrem
Fortschrittsbericht 2010 zu dem Ergebnis, dass das
Land zwar Fortschritte bei der Erfüllung der EU-Beitrittskriterien gemacht hat, im Bereich der Grundrechte
jedoch noch mehr erreicht werden muss. Das Problem
ist jedoch nicht allein auf die Frage des Gewerkschaftsrechts beschränkt. Auch Journalisten werden häufig
strafrechtlich verfolgt und verurteilt, und der Druck auf
die Medien untergräbt die Pressefreiheit. Nicht-muslimische Religionsgemeinschaften und die Aleviten werden
weiterhin unangemessenen Beschränkungen unterworfen. Die „demokratische Öffnung“, mit der insbesondere die Kurdenfrage angegangen werden soll, hat nur
zu begrenzten Ergebnissen geführt.
Gerade weil die Problematik sich nicht nur auf das
Gewerkschaftsrecht beschränkt, halten wir von der
Union es für nicht zielführend, einzelne Aspekte durch
einen Antrag herauszugreifen. Wir lehnen es ab, einem
Antrag zuzustimmen, der sich ausschließlich um Gewerkschaftsfreiheit dreht und andere Probleme wie Minderheitenschutz, die Rechte von Frauen oder den Schutz
von Christen in der Türkei nicht betrachtet. Es ist zudem
nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, sich in
diesem Maße und so detailliert, wie Sie es in Ihrem Antrag tun, liebe Kollegen von der Linken, in die inneren
Angelegenheiten eines Partnerstaats einzumischen. Davon ist unbenommen, dass deutsche Parlamentarier in
der Türkei regelmäßig Rechtsfragen stellen, Missstände
anprangern und das Problem auf bilateraler Ebene immer wieder ansprechen.
Gleichwohl halten wir von der Union es für ungemein
wichtig, dass wir die Erfüllung und Einhaltung der
Kopenhagen-Kriterien, aber auch die außenpolitische
Rolle der Türkei mit ihrer Wirkung auf Zypern/Nordzypern kritisch beleuchten und begleiten. Wir ermutigen
unsere Partner, sich im Bereich der Menschenrechte, der
Minderheitenrechte und auch der Gewerkschaftsrechte,
dem „Acquis communautaire“ der Europäischen Union
voll und ganz anzunähern. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei sich in Richtung Europa
orientiert. Wir möchten, dass die Türkei auf der Seite
Europas steht sowie eine klare und Kriterien orientierte
Beitrittsperspektive zur Europäischen Union behält.
Grundsätzlich gilt: Über die Betrachtung von Einzelaspekten dürfen wir nicht die herausragende strategische Bedeutung der Türkei als Dialogpartner zum Islam,
als Energietransitland und als aufstrebende Wirtschaftsnation aus den Augen verlieren. Ihr Antrag, verehrte
Kollegen von der Linken, greift zu kurz und wird deshalb
von uns abgelehnt.
Defizite bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaften in der Türkei können nicht geleugnet werden. Die Rechte der Gewerkschaften sind
ebenso wie die der Arbeitnehmer in nicht unerheblichem
Maße eingeschränkt. Es wurden zwar einige Rechte, wie
beispielsweise das Recht zur Aushandlung von Tarifverträgen, auch im öffentlichen Bereich, gestärkt, doch sind
die positiven Aspekte insgesamt eher bescheiden. Rechte
zur Gewerkschaftsbildung und zur Organisationsfreiheit
bleiben auch nach der letzten Verfassungsänderung
deutlich hinter internationalen Standards zurück. Die
Einschränkungen bei der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit bilden nur einen kleinen Ausschnitt bestehender Defizite. Auch Jahre nach der Aufnahme der Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU sind auf
etlichen Gebieten weiterhin spürbare Demokratiedefizite festzustellen. Dabei darf man nicht vergessen, dass
zwischen der Ratifizierung von Verträgen, der Verabschiedung EU-konformer Gesetze und der Unterzeichnung internationaler Konventionen einerseits und der
gesellschaftlichen Realität andererseits große Lücken
klaffen. Dies ist auch und gerade auf arbeitsmarktpolitischem Gebiet traurige Realität in der Türkei.
Der Antrag der Linken beschränkt sich auf die Frage
der Demokratisierung des türkischen Gewerkschaftsrechts. Betrachten wir doch einmal ein anderes sozialund arbeitsmarktpolitisches Problem, nämlich das der
Kinderarbeit, dann stellen wir eine deutliche Diskrepanz
zwischen Gesetzeslage und Realität fest. Auf dem Papier
ist die Türkei auf diesem Gebiet zwar den internationalen Verpflichtungen nachgekommen. So hat sie beispielsweise im Jahre 2001 die ILO-Konvention Nr. 182
über die schlimmste Form von Kinderarbeit ratifiziert
und ist bereits 1992 dem von der ILO entworfenen Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit IPEC beigetreten. In der Realität aber gibt es noch viele Formen
von Kinderarbeit in der Türkei, vor allem bei der landwirtschaftlichen Saisonarbeit sowie in kleinen und mittleren Familienbetrieben. Zwar haben die Gewerkschaften bei der Identifizierung von Kinderarbeit in der
Vergangenheit eine positive Rolle gespielt, ihr Organisationsgrad aber ist in den genannten Sektoren relativ
gering, wodurch ihren Einflussmöglichkeiten enge
Grenzen gesetzt sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese und ähnlich gelagerte Probleme werden in dem
Antrag außer Acht gelassen, was unweigerlich zu einer
verkürzten Sichtweise führt. Die Benennung von Mängeln bei der Presse- und Meinungsfreiheit beispielsweise findet ebenso wenig Erwähnung wie die Offenlegung von Defiziten auf der Ebene der Religionsfreiheit
oder der Frauenrechte. Gerade im Zusammenhang mit
der Presse- und Meinungsfreiheit hat es in der Türkei in
jüngster Zeit mitunter erschreckende Entwicklungen gegeben. Hier kommt auf die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu als unabhängiger Eckpfeiler der
türkischen Gesellschaft. Die Verhaftungen kritisch eingestellter Journalisten und Schriftsteller, wie sie gerade
wieder im März dieses Jahres stattfanden, sind äußerst
besorgniserregend. Hier ist zu hoffen, dass die türkischen Gewerkschaften ihrer zivilgesellschaftlichen Verpflichtung nachkommen und sich für transparente Prozesse und die Einhaltung demokratischer Spielregeln
einsetzen.
Unerwähnt im Antrag der Linken bleibt auch, dass
aus Sicht der Regierung Erdogan unbequeme Journalisten verhaftet werden oder dass die Regierung von dem
kritischen Medienkonzern Dogan Holding angebliche
Steuernachforderungen in astronomischer Höhe verlangt und andere zu dieser Holding gehörende Firmen
wegen deren kritischer Berichterstattung keine staatlichen Aufträge mehr erhalten. Dadurch sah sich die Dogan-Gruppe zum Verkauf ihrer Tankstellenkette gezwungen. Hier sind die Gewerkschaften aufgefordert, ihrer
gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen.
Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, welche Richtung die Türkei unter einer zu erwartenden weiteren Regierung Erdogan einschlägt. Einerseits gibt sich
die Türkei unter der Regierung Erdogan wirtschaftlich
als Musterknabe, andererseits sind nationalistische
Töne und Alleingänge festzustellen, die unsere besondere Wachsamkeit erfordern.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, in dessen Zusammenhang die türkischen Gewerkschaften künftig besonders gefordert sind. Dies ist die schleichende Unterwanderung der Wirtschaft und sämtlicher staatlicher
Organisationen durch die Fethullah-Gülen-Bewegung.
Diese Bedrohung, die sich vor allem auf die öffentliche
Verwaltung und das Erziehungswesen sowie die Polizei
und langsam auch auf das Militär erstreckt, wird in dem
Antrag der Linken leider nicht erwähnt. Es zeichnet sich
nämlich ab, dass die regierungstreue Fethullah-GülenBewegung beziehungsweise ihr gleichnamiger Anführer
die regierungskritische Dogan-Gruppe als größten Medienkonzern der Türkei ablösen wird. Der ehemalige
stellvertretende Direktor der nachrichtendienstlichen
Abteilung der türkischen Polizei, Hanefi Avci, schreibt
in seiner Autobiografie, ich zitiere, „dass die FethullahBewegung die türkische Polizei unter ihre Kontrolle gebracht hat“. Avci wurde kurz nach Erscheinen seines
Buches festgenommen. Ganz bewusst mache ich auch
auf den Einfluss dieser Bewegung in Deutschland aufmerksam und zitiere hier die Menschenrechtsaktivistin
Serap Cileli mit den Worten: „Die Gülen-Bewegung ist
eine Glaubensgemeinschaft mit missionarischen Absichten. Gleichgültigkeit und Unwissenheit der Deutschen
über die Gülen-Bewegung führen zu fatalen Folgen.“
Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist mit
der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Türkei
eng verbunden. Eine isolierte Betrachtung, die sich lediglich auf die EU-Konformität türkischer Gesetze bezieht, wird der Vielschichtigkeit der Probleme und Herausforderungen nicht gerecht. Wir können deshalb dem
Antrag der Linken nicht zustimmen.
Es ist schon merkwürdig, wenn wir heute, am 9. Juni
2011, über einen Antrag zur Türkei abstimmen, der mehr
als ein Jahr alt ist. Wir beschäftigen uns also einige Tage
vor einer wichtigen Wahl - der Wahl zur türkischen Nationalversammlung am 12. Juni 2011 - mit einem Antrag, der einen Miniausschnitt türkischer Politik behandelt, noch dazu einem Antrag, der an Aktualität verloren
hat. Um nicht missverstanden zu werden: Gewerkschaftsrechte, Mitbestimmung, Tarifrechte ebenso wie
Arbeitsbedingungen und soziale Rechte sind für uns Sozialdemokraten von hoher Wichtigkeit. Auch nachdem
gegenüber dem in diesem Antrag beschriebenen Zustand
leichte Verbesserungen eingetreten sind, bleibt für die
Türkei auf diesem Gebiet noch viel Reformbedarf, ehe
sie hier internationalen Standards der ILO - der Internationalen Arbeitsorganisation - entspricht. Aber bei
den bevorstehenden Wahlen steht mehr auf dem Spiel.
Die spannende Frage ist doch: Wird die Türkei nach
diesen Wahlen den Weg zur weiteren Demokratisierung
gehen? Wird, wenn die AKP von Premier Erdoğan eine
verfassungsgebende Mehrheit im Parlament erreicht,
eine Präsidialverfassung ohne Referendum - also ohne
Mitsprache des Volkssouveräns - durch das Parlament
gepeitscht? Oder wird die Türkei, nachdem sich die Oppositionspartei CHP neu formiert hat, zu einer parlamentarischen Demokratie mit Kompromissen und Ausgleich in der Gesellschaft werden? Viele Reformen
stehen noch aus. An oberster Stelle gilt es, endlich wahre
Pressefreiheit herzustellen. Wahre Meinungsfreiheit, die
auch vor den Gerichten standhält, ist noch nicht erreicht, das Vertrauen in Rechtsstaat und Justiz noch immer mangelhaft. Wie wird nach der Wahl mit dem längst
nicht gelösten Kurdenproblem umgegangen? Wer demokratische Repräsentanz aller Bevölkerungsgruppen will,
darf nicht ständig unliebsame Parteien im kurdischen
Gebiet verbieten, sondern muss im Gegenteil die hohe
Hürde von 10 Prozent für den Einzug in die Nationalversammlung senken.
Die Wahlkampagne war eine Schlammschlacht, die
einer Demokratie unwürdig ist. Es ist nur zu hoffen, dass
nach der Wahl ein zivilisierter Umgang der Parteien
einkehrt. Viele in der zivilen Gesellschaft der Türkei sind
der Machtkämpfe müde. Sie hoffen auf eine prosperierende, tolerante, demokratische Entwicklung in ihrem
Land. Das türkische Selbstbewusstsein ist gestiegen.
Viele in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders diejenigen, die beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg genießen und die bisherigen Reformen begrüßen, wollen nicht
mehr mit ihrer Politikentwicklung vom Schielen auf den
Zu Protokoll gegebene Reden
EU-Beitritt abhängig sein. „Wir machen unsere Reformen für uns, nicht für die EU“, ist ein oft gehörter Satz.
Die Kränkung durch die Haltung bestimmter EU-Länder, die nur eine „privilegierte Partnerschaft“ anbieten,
sitzt tief. Die Türken und die Türkei haben sich von Europa entfernt. Nur noch 30 Prozent der Türken sind in
Umfragen pro EU - in früheren Jahren waren es circa
70 Prozent.
Die neue türkische Außenpolitik - „Null Probleme
mit den Nachbarländern“ - führt zu einer Annäherung
an Staaten wie Iran, Irak, Syrien und andere Länder des
Mittleren Ostens, aber auch gleichzeitig zu Verwerfungen mit Israel. Dies muss die Europäer und die USA angesichts der Veränderungen und Risiken durch den arabischen Frühling alarmieren. Es muss in unserem
Interesse sein, dass die Außenpolitiken nicht zu sehr
auseinanderdriften. Die Türkei ist NATO-Mitglied und
damit relevanter Sicherheitspartner, sie ist durch ihre
geopolitische Lage von ausschlaggebender Wichtigkeit.
Dies trifft auf die arabischen Länder ebenso zu wie auf
den Kaukasus. Sie könnte hilfreich sein beim Lösen vieler Konflikte in der Region. Wir sollten die Türkei ermutigen, zur Lösung des Konfliktes um Berg-Karabach beizutragen und gleichzeitig das eigene Verhältnis zu
Armenien zu klären.
Ein „Modell für die arabische Welt“, wie manche
hoffen, wird die Türkei nur werden, wenn sie ihre inneren demokratischen Reformen weitertreibt und gleichzeitig hohe Verantwortung zeigt in einer Region im Umbruch. Gewerkschaftsrechte sind ein Minibaustein auf
dieser riesigen Baustelle. Die SPD enthält sich zum Antrag - wie in den Ausschüssen. Eine adäquate TürkeiDiskussion wird erst im Lichte der Ergebnisse der Wahlen möglich sein. Ob Europa die Türkei auf dem wichtigen Weg in die volle Demokratie begleiten kann, wird
davon abhängen, ob wir die Türkei endlich als willkommenen Partner behandeln oder ob einige Länder, wie
Deutschland, Frankreich und Österreich, mit ihrer Ausgrenzungsstrategie fortfahren.
Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, dass der vorliegende Antrag im Auswärtigen Ausschuss beraten wurde.
Jetzt kommt er wieder ins Plenum zur abschließenden
Beratung. Selbst der Zeitablauf sorgte nicht dafür, dass
er besser und unterstützenswerter geworden wäre. Die
Türkei ist ein sehr wichtiger Partner Deutschlands und
der Europäischen Union sowohl in wirtschaftlicher, kultureller als auch in militärisch-strategischer Hinsicht.
Die EU und Deutschland arbeiten deshalb schon seit
längerem mit der Türkei in den verschiedensten Bereichen eng zusammen. Wir haben deshalb ein großes Interesse daran, dass die Türkei bei der Demokratisierung
und bei Menschenrechten weiter vorankommt. Und die
Türkei muss ein eigens Interesse an diesen Fortschritten
haben. Dies wird durch die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen mit der EU verstärkt. Wir sind uns auch
alle einig, dass die Türkei nur dann eine Beitrittsperspektive hat, wenn sie die sehr hohen Standards der Kopenhagener Kriterien erfüllt. Nicht zuletzt wegen einer
solchen Beitrittsperspektive hat die Türkei bereits einen
beachtlichen Modernisierungsprozess hinter sich. Klar
ist aber auch: Es gibt noch sehr viel zu tun. Auf vielen
Feldern sind noch lange nicht die demokratischen Standards erreicht, wie wir sie fordern und wie sie für moderne Demokratien selbstverständlich sind, sei es im
Justizsystem oder bei den Menschenrechten. So werden
Misshandlungen von Personen in Polizeigewahrsam immer wieder öffentlich. Ebenso bedarf die Umsetzung von
Minderheitenrechten für Kurden und Aleviten neuer Impulse. Hinsichtlich der Durchsetzung der zivilen Kontrolle des Militärs zeigen die derzeit laufenden Gerichtsverfahren und Verhaftungen im Zusammenhang mit aus
der jüngeren Vergangenheit stammenden Putschplänen,
dass die türkische Demokratie weiterhin große Anstrengungen bei der politischen Entmachtung des Militärs zu
leisten hat. Und auch im Bereich des Gewerkschaftsrechts gibt es ohne Zweifel noch viel zu tun.
Über all das muss mit der türkischen Regierung
ernsthaft geredet werden. Und es wird geredet! Die Bundesregierung mahnt einen nicht nachlassenden Reformprozess bei jeder Gelegenheit an, und zwar auf allen Gebieten. Der vorliegende Antrag fordert also lediglich
etwas, das schon längst Usus im Verhältnis zwischen der
EU und Deutschland zur Türkei ist.
Aber bei allem müssen wir die Verhältnismäßigkeit
der Mittel wahren. Die Türkei hat in den letzten Jahren,
trotz mancher Rückschritte, insgesamt gezeigt, wie reformbereit und -fähig sie ist. Es ist der falsche Weg,
wenn jetzt der Deutsche Bundestag sich hinstellt und in
einem offiziellen Beschluss den Zeigefinger hebt und der
Türkei sagt, wie sie ihr Gewerkschaftsrecht zu gestalten
hat. Auch auf EU-Ebene steht es dem Deutschen Bundestag nicht gut zu Gesicht, der Kommission vorzuschreiben, welche Punkte bei den Beitrittsverhandlungen wie zu gewichten sind. Es ist nicht angemessen, zum
jetzigen Zeitpunkt die Beitrittsverhandlungen, die ergebnisoffen sein müssen, mit Anträgen aus einem nationalen Parlament zu beeinflussen und zu versuchen, zu steuern. Dass die Linke dies versucht, sagt übrigens einiges
über deren Europahaltung und das Europaverständnis
aus. Abgesehen davon greift der Antrag zu kurz. Wie
kommt die Linke eigentlich dazu, sich nur auf ein einziges Thema zu konzentrieren? Wie gesagt, die Türkei
muss noch viele Reformen im gesamten Sozialbereich
anstoßen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb der
Deutsche Bundestag jetzt und heute die Reform des Gewerkschaftsrechts derart hervorheben und einfordern
sollte. Der Antrag tut geradezu so, als sei die Lage der
Gewerkschaften der schlimmste Missstand und das
dringlichste Problem in der Türkei. Es ist aber eines von
vielen.
Einer der wichtigsten Gründe allerdings, den Antrag
abzulehnen, ist sein Unterton. Der Linken scheint es
vordergründig darum zu gehen, die Demokratisierung
des Gewerkschaftsrechts voranzubringen. In dem Antrag sind aber die Vorgänge um die Privatisierung des
Tabakkonzerns Tekel der Dreh- und Angelpunkt der Kritik. Es soll so, meines Erachtens durchaus bewusst, die
Privatisierung von Staatskonzernen als Quell allen
Übels und eigentlicher Grund für soziale Verwerfungen
dargestellt werden. Unterschwellig kann und soll man
Zu Protokoll gegebene Reden
Patrick Kurth ({0})
herauslesen, dass die Verstaatlichung von Unternehmen
bzw. die Nichtprivatisierung eine Lösung des Problems
wären. Erst die Übernahme durch einen kapitalistischen
Konzern - auch noch aus den USA - hätte demnach die
Konflikte hervorgerufen, so die Lesart. Worauf der Antrag aber überhaupt nicht eingeht, sind die Hintergründe der Privatisierung, ob und inwiefern diese nützlich bzw. unumgänglich waren. Dieser Duktus des
Antrags ist für uns nicht akzeptabel. Es ist keineswegs
die Privatisierung von Betrieben an sich, die ein Problem darstellt. Aber der vorliegende Antrag will genau
dies implizieren. Die Linke benutzt den Antrag also, die
Problematik vor den Karren ihrer Sozialismusfantasien
zu spannen.
Schließlich ist der Antrag hinsichtlich einer seiner
wichtigsten Forderungen überholt. Bereits seit dem letzten Jahr finden wieder Großdemonstrationen der Gewerkschaften am 1. Mai auf dem Taksim-Platz in Istanbul und auch an vielen anderen Orten des Landes statt,
friedlich und ohne Repressionen. Ein weiteres Zeichen
dafür, dass die Türkei auf einem guten Weg ist und jetzt
konstruktiv auf diesem umfassenden Reformweg weiter
begleitet werden muss. Der vorliegende Antrag jedenfalls ist überholt und nicht geeignet, die Türkei auf diesem eingeschlagenen Weg der Reformen voranzubringen.
Vom 15. Dezember 2009 bis 2. März 2010 kämpften
rund 12 000 Arbeiterinnen und Arbeiter des ehemals
staatlichen türkischen Tabak- und Alkoholmonopols
Tekel sowie deren Familien landesweit um ihre Arbeitsplätze und Zukunft. Tausende kamen in die türkische
Hauptstadt Ankara, um gegen ihre drohende Entlassung
im Zuge der Privatisierung oder Überführung in den
rechtlosen Leiharbeiterstatus 4/C. zu protestieren. Unter
Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern versuchte die Polizei, ihren Widerstand zu brechen. Die entlassenen Tekel-Arbeiter fordern eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst, wie es ihnen als
Staatsbedienstete nach türkischem Arbeitsrecht zusteht.
Dem ist die türkische Regierung bis heute nicht nachgekommen. Auch angemessene Abfindungen wurden nicht
gezahlt. Im Gegenteil. Ein Solidaritätskonto der entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ihrer Familien
im Wert von 30 000 Euro wurde auf Weisung des türkischen Innenministeriums eingefroren.
Die Forderungen unseres Antrages sind immer noch
aktuell. Denn obwohl die Türkei das Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, über das Recht
auf Vereinigung und kollektive Tarifverträge unterzeichnet hat, werden gewerkschaftliche Rechte durch Gesetze, die vielfach noch auf die Militärdiktatur zurückgehen, erheblich eingeschränkt. Die Linke. fordert deshalb
die Bundesregierung auf, darauf zu drängen, dass die
türkische Regierung ein Beschäftigungsangebot den Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeitern in Übereinstimmung
mit den bei der ILO verankerten und international anerkannten Arbeits- und Vereinigungsrechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorlegt. Eine weitere
zentrale Forderung an die Bundesregierung ist, im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit der Türkei und auf
EU-Ebene die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der ILO als Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern.
Letzte Woche, am 3. Juni 2011, fand in Ankara der
Prozess gegen 111 Gewerkschafter statt. Auf der Anklagebank sitzen aktuelle und ehemalige Vorsitzende mehrerer Branchengewerkschaften, unter ihnen der Präsident der Nahrungsmittelgewerkschaft TEKGIDA IS,
Mustafa Türkel. Sie waren an einer Aktion in Ankara zur
Unterstützung von 12 000 Arbeiterinnen und Arbeitern
am 1. April 2010 beteiligt. Ihnen drohen nun Haftstrafen
von bis zu fünf Jahren.
Das alles scheint offensichtlich kein Problem für die
CDU/CSU und FDP zu sein, wenn man sich ihre Ausführungen zu unserem Antrag aus der ersten Beratung anschaut. Bei der CDU/CSU vor allem deshalb, weil es ja
auch in anderen Bereichen gravierende Defizite gibt.
Und die würden in unserem Antrag nicht berücksichtigt.
Das war das Argument, um unsere Initiative zur Verbesserung der rechtlichen und in deren Folge auch zur verbesserten Durchsetzung sozialer Rechte abzulehnen.
Wie instrumentell CDU/CSU mit Menschenrechten umgehen, wird am Antrag zum Schutz des Klosters Mor
Gabriel von 2009 deutlich. In dem damaligen Antrag ist
ganz im Sinne des Vorwurfs des Kollegen Dr. Wolfgang
Götzer aus der ersten Beratung am 25. März 2010
- Plenarprotokoll 17/34 - gegen den heute zu beschließenden Antrag meiner Fraktion ein einzelnes Problem
aufgegriffen worden, ohne die Lage der Türkei insgesamt zu beleuchten. Da schien eine isolierte Behandlung
eines Aspektes sehr wohl völlig ausreichend. Nur hier
ging es vermeintlich um die Religionsfreiheit. Und die
liegt den Konservativen eben mehr am Herzen. Wenn es
um Religionsfreiheit geht, dann sind mit einem Mal Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die
scheinbar größten Menschenrechtsverteidiger. Geht es
um Arbeitnehmerrechte, ist von Ihnen keine Hilfe zu erwarten.
Als in der Türkei die Verhaftungswelle gegen Journalistinnen und Journalisten schwappte, gab es seitens der
Bundesregierung wenigstens noch Bekundungen von
Besorgnis. Nicht einmal so lau fällt der Protest hinsichtlich der Repression gegen Arbeiterinnen und Arbeitern
aus, die ihre gewerkschaftlichen Rechte in Anspruch
nehmen, um sich vor der Willkür der Unternehmensbosse zu schützen. Dass Sie von der FDP nicht im Geringsten daran interessiert sind, dass die türkische Regierung aufgefordert wird, internationale Standards bei
den sozial- und arbeitsrechtlichen Normen einzuführen
bzw. einzuhalten, wundert nun vermutlich niemanden.
Die Rede meines Kollegen Serkan Tören in der ersten
Beratung war geradezu eine Offenbarung in dieser Hinsicht. So wie die Kolleginnen und Kollegen von FDP in
Deutschland den Unternehmen als ihrer ureigenen
Klientel Steuergeschenke verteilt, will sie auch deutsche
Unternehmen in der Türkei nicht mit international bindenden sozialen und arbeitsrechtlichen Standards „gängeln“, die deren Profit schmälern würden. Ganz nach
dem Motto: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
aus.“ Da zeigt sich eben wieder, wes Geistes Kind die
FDP ist. Sie ist schlicht eine Klientelpartei.
Dass das Vorgehen der türkischen Regierung gegen
die Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeiter nicht nur der türkischen Gesetzgebung, sondern auch dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation widerspricht, stört offenbar weder die Regierungsfraktionen
noch die Bundesregierung. Das ist skandalös und beweist einmal mehr wie heuchlerisch sie mit den Menschenrechten umgehen. Die Durchsetzung von sozialen
und Arbeitsrechten sind bei ihnen schlecht aufgehoben.
Heuchlerisch ist die Behauptung seitens meines
FDP-Kollegen Serkan Tören, der Deutsche Bundestag
könne nicht die türkische Regierung zur Einhaltung bzw.
Anwendung sozial- und arbeitsrechtlicher Normen auffordern. Zum einen wird das in unserem Antrag nicht gefordert - wir fordern die Bundesregierung auf, sich diesbezüglich im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit
der Türkei endlich zu engagieren -, zum anderen schien
dies aber in anderen Fällen für die FDP kein Problem zu
sein. Während im Antrag zum Schutz des Klosters Mor
Gabriel darauf hingewiesen wurde, dass Vertreterinnen
und Vertreter der Bundesregierung und des Deutschen
Bundestages in den vergangenen Jahren immer wieder
auf die Probleme des Klosters aufmerksam gemacht und
diese auch in Gesprächen mit der türkischen Führung
verdeutlicht haben, wird den türkischen Arbeiterinnen
und Arbeiter dieses Privileg nicht zuteil. Umso mehr ist
es zu begrüßen, dass Vertreterinnen und Vertreter der
Gewerkschaften Verdi, IG Metall und Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, beim Prozess in
Ankara letzte Woche vor Ort waren.
Dass es hier eben nicht um ein isoliertes Problem
geht, zeigt der aktuell erwähnte Prozess und zeigt auch,
dass eine solche Verfolgung in der Türkei überhaupt
möglich ist. Von Unabhängigkeit der Justiz, die meinem
Kollegen in seiner Rede zur ersten Lesung so wichtig
war, ist doch hier offensichtlich kaum was zu spüren. Die
von 111 Angeklagten anwesenden circa 80 sind teilweise
mit unzulässigen Fragen, wie nach der Religionszugehörigkeit, konfrontiert worden. Des Weiteren wurden jedem der Angeklagten der gesetzliche Paragraf, der den
Verstoß gegen das Versammlungsrecht ahndet, verlesen.
Einige von ihnen sind mit angeblichen Beweisfotos konfrontiert worden. Die Verhandlung war nach circa
9 Stunden zu Ende und wurde auf Oktober vertagt. Gegen die nichtanwesenden Angeklagten ist zwecks Feststellung der Personalien und Vernehmung Haftbefehl erlassen worden.
Im Zuge der Verweigerung von sozial- und arbeitsrechtlichen Normen werden auch solche Demokratiedefizite offenbar wie ungerechtfertigte Gerichtsverfahren,
Einschüchterung und Polizeigewalt, wie sie gegenüber
den demonstrierenden Arbeiterinnen und Arbeitern am
1. April 2010 stattfand.
Was die derzeitige Regierung und der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von einer echten Demokratisierung halten, zeigen sie im aktuellen Wahlkampf wegen der Parlamentswahlen am kommenden Sonntag
mehr als deutlich. Mit aller Macht und allen Mitteln will
Erdogan die Zweidrittelmehrheit bei den Wahlen am
12. Juni erreichen. Damit könnte er eine neue Verfassung im Alleingang schreiben. Da verwundert es kaum,
dass auch mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen versucht wird, die Konkurrenz, ist sie schon nicht
komplett auszuschalten, so doch zumindest weitestgehend zu behindern oder kriminalisieren. So hatte die
oberste Wahlbehörde YSK im April 2011 etliche unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten des Wahlbündnisses „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“
nicht zur Wahl zugelassen. Nach Protesten im In- und
Ausland wurde diese Entscheidung zurückgenommen.
Doch die Repression geht weiter. Kritische Journalistinnen und Journalisten werden verhaftet, kriminalisiert
und strafrechtlich verfolgt. Große Bedenken hinsichtlich
der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effektivität
der Justiz bleiben weiterhin bestehen. Insbesondere mit
den neuen Kompetenzen des Präsidenten sind die Sorgen und Ängste bezüglich einer zunehmenden Islamisierung der Türkei nicht von der Hand zu weisen. Die uneingeschränkte Wahrung der Gewerkschaftsrechte, das
Streikrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen
werden nicht gewährleistet. Umso wichtiger ist es, dass
die Bundesregierung die ihr zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten nutzt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Einhaltung bzw. Einführung international
verpflichtender sozial- und arbeitsrechtlicher Normen
zu verknüpfen. Genau das fordert die Linke in dem Antrag „Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei“. Ich hoffe, dass die Linke nicht die
einzige Partei im Bundestag ist, die die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeiter verteidigt und unterstützt.
In drei Tagen wird in der Türkei ein neues Parlament
gewählt. Obwohl mit einem Machtwechsel in Ankara
nicht zu rechnen ist, bleiben die Wahlen und die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Türkei hochspannend.
Seit neun Jahren regiert die AKP, die Partei von Ministerpräsident Erdogan, alleine. Sie hat in den ersten
Jahren ihrer Regierungszeit große und wichtige Reformen auf den Weg gebracht, die die Grundlagen der heutigen Fortschritte der Türkei in Richtung Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit waren. Eine besonders wichtige
Komponente in dieser Reformdynamik war die Perspektive für die Türkei, Mitgliedsstaat der EU zu werden.
Die aktuelle Lage und der Stand der Beitrittsverhandlungen geben aber Anlass zur Sorge; denn wir beobachten eine beunruhigende Stagnation in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei, die auch die bisher
erzielten Erfolge und Fortschritte gefährden könnte. Aus
diesem Grund haben wir im März dieses Jahres einen
Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem expliziten Anliegen, die „Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben“ zu wollen. Aus Sorge um Menschenund Minderheitenrechte in der Türkei ebenso wie aus
Sorge um den sozialen Frieden in diesem Land fordern
wir die Bundesregierung in diesem Antrag auf, der sich
Zu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
etablierenden Stagnation mit neuen außen- und europapolitischen Initiativen zu begegnen.
Nicht nur die Lage der gewerkschaftlichen Rechte
und generell die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind meilenweit von den ILO-Standards
und den Gemeinschaftswerten der EU entfernt. Auch die
aktuellen Festnahmen von renommierten Journalisten
oder Schikanen und die juristische Verfolgung von Medienvertretern machen deutlich, wie dringend notwendig eine neue Dynamik und die Intensivierung der damals begonnenen Reformen in der Türkei sind.
Die türkische Justiz braucht eine Generalsanierung
in Sachen Rechtsstaatlichkeit, um endlich Schluss damit
zu machen, dass jeder Verdächtige unmittelbar und
quasi prophylaktisch in Haft genommen werden kann
und manchmal sogar Jahre im Gefängnis verbringen
muss, bevor seine Schuld rechtlich bewiesen ist. Bei solchen Fragen sind wir parteiisch, parteiisch für Menschen- und Bürgerrechte und für umfassende und vorbehaltlose Pressefreiheit. Die EU steht auch im eigenen
Interesse in der Pflicht, die Beitrittsverhandlungen im
Namen dieser fundamentalen Rechte der Menschen in
der Türkei zu führen. Nur eine glaubwürdige Beitrittsperspektive kann den nötigen Druck und das günstige
Klima schaffen, um die türkische Innen- und Rechtspolitik demokratisch und rechtsstaatlich zu gestalten und zu
stabilisieren.
Das ist der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgversprechenden Türkei-Politik in Deutschland. Deshalb
setzen wir uns für das Ende der eingetretenen Blockade
bei den Beitrittsverhandlungen ein. So besteht die
Chance, dass die Türkei alle politischen und wirtschaftlichen Kopenhagen-Kriterien erfüllt und die daraus abzuleitenden Konsequenzen in Reformschritte umsetzt.
Der Antrag der Fraktion Die Linke greift viele richtige und wichtige Punkte im Bereich der Gewerkschaftsrechte in der Türkei auf und thematisiert zu Recht die
Verantwortung und Verpflichtung der deutschen Wirtschaft in der Türkei und in allen Unternehmen, die in
beiden Ländern arbeiten. Dennoch werden wir uns enthalten, weil der Antrag detaillierte Erwartungen formuliert, die nur innerhalb der Türkei verwirklicht und umgesetzt werden können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/2025, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/1101 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts
verbessern
- Drucksachen 17/4041, 17/5562 Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
Bereits vor wenigen Monaten haben wir an dieser
Stelle vor dem Hintergrund des vorliegenden und eines
weiteren Antrags ausführlich über die Reiserechte in der
Bundesrepublik gesprochen. Auch heute noch gilt unverändert, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und
Bürger mit einer ebenso nachhaltigen wie verantwortungsbewussten Verbraucherpolitik begleitet. Das deutsche Reiserecht gewährt unbestritten ein hohes Maß an
Schutz und reicht nicht nur im europäischen Vergleich
deutlich über den geltenden Standard hinaus. Dieses
hohe Niveau des Verbraucherschutzes werden wir nicht
nur in Zukunft weiter halten; wir wollen die verbraucherfreundlichen Strukturen bei Bedarf auch weiter verbessern und punktuell ausbauen.
Gerade weil das Reiserecht und eine an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger orientierte Verbraucherpolitik aber einen hohen Stellenwert haben muss,
hat mich die bisher geführte Debatte verwundert und irritiert. Die Oppositionsparteien haben es versäumt, sich
mit nachvollziehbaren und gut gemeinten Absichten für
einen möglichen Ausbau der bewährten gesetzlichen
Rahmenbedingungen einzusetzen. Die Aussprache war
stattdessen immer wieder von unnötigem Aktionismus,
nicht nachvollziehbaren Forderungen und mangelnden
Sachzusammenhängen durchzogen.
Ein Beispiel hierfür ist die Kritik an der Bundesregierung bezüglich des Krisenmanagements nach dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull. Zum einen betone ich an dieser Stelle wie in anderen Debatten
zuvor gerne erneut, dass im vergangenen Jahr auf nationaler und internationaler Ebene zeitnah und in enger
Abstimmung mit den am Luftverkehr Beteiligten die notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung der Lage geschaffen wurden. Zum anderen waren auch die Rechte
der gestrandeten Flugpassagiere durch die Fluggastrechte-Verordnung ({0}) Nr. 261/2004 zu jeder Zeit gedeckt. Luftfahrtunternehmen waren und sind noch immer verpflichtet, im Fall eines wegen Vulkanasche
annullierten Fluges Unterstützungsleistungen wie die
Erstattung des Flugpreises anzubieten. Eine ebenso in
der Verordnung festgeschriebene Informationspflicht
schreibt Fluggesellschaften zudem vor, die Reisenden
von den Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in
Kenntnis zu setzen. Die Hilfs- und Informationsangebote
an Flughäfen vor diesem Hintergrund als unzureichend
zu beschreiben und dies sogar der Bundesregierung als
mangelndes Krisenmanagement anzulasten, ist schlicht
zusammenhanglos und nicht nachvollziehbar.
Auch die parteiübergreifende Forderung der Opposition nach der Einführung einer wirksamen SchlichtungsPeter Wichtel
stelle macht nur bedingt Sinn, da die Bundesregierung
dieses Vorhaben nicht nur im Koalitionsvertrag festgelegt, sondern bereits umgesetzt hat. Mit der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, söp, ist
die Realisierung einer unabhängigen und verkehrsträgerübergreifenden Schiedsstelle bereits im Dezember
des Jahres 2009 gelungen. Die erfolgreiche Arbeit der
Einrichtung ist ein weiterer Beleg für das hohe Niveau
des Verbraucherschutzes in der Bundesrepublik und das
Engagement der Bundesregierung, dieses Niveau zu halten und weiter zu verbessern.
Der Ruf nach einer verpflichtenden Beteiligung der
Fluggesellschaften an der bestehenden Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr ist ebenso
unbegründet. Nachdem die Luftfahrtunternehmen sich
grundsätzlich für die Teilnahme an Schlichtungsverfahren ausgesprochen haben, ist dies durchaus auch in einer eigenen Schlichtungsstelle denkbar. Letztendlich
muss beachtet werden, dass es in der Luftfahrtbranche
im Gegensatz zu anderen Verkehrsträgern wie der
Schiene einen deutlich intensiveren Wettbewerb gibt.
Die Bundesregierung arbeitet gegenwärtig mit Nachdruck daran, die Einbeziehung der Luftverkehrsträger
in eine Schlichtung zu finalisieren. Entscheidend ist
schließlich weniger, wo, sondern vielmehr dass auch
Flugpassagiere ihre Anliegen so zeitnah und kostengünstig wie möglich im Rahmen einer außergerichtlichen Schlichtung prüfen lassen können.
Letztendlich hat mich aber insbesondere ein weiterer
in der Plenardebatte angesprochener Punkt verwundert.
So wurde dem der Dienst- und Fachaufsicht der Bundesregierung unterstehenden Luftfahrt-Bundesamt mangelnder Einsatz für behinderte Flugreisende seit dem
Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vorgeworfen. Eine Lektüre des jüngsten Berichtes der Europäischen Kommission über die Anwendung und Ergebnisse der Verordnung über die Rechte von behinderten
Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter
Mobilität verdeutlicht, dass diese Kritik absolut haltlos
und unbegründet ist. Der Bericht unterstreicht, dass sich
die Vorschriften der im Jahr 2008 in Kraft getretenen
Verordnung weitgehend bewährt haben. Zwar ist die
Auslegung der Verordnung in den Mitgliedstaaten noch
nicht komplett harmonisiert; die große Mehrheit der
europaweit betroffenen Passagiere hat aber die notwendigen Betreuungsleistungen erhalten, und es sind nur
wenige einzelfallbezogene Probleme aufgetreten. In der
Bundesrepublik hat das Luftfahrt-Bundesamt als nationale Durchsetzungsstelle seit Inkrafttreten der Verordnung keine systematischen oder strukturellen Defizite
bei der Umsetzung feststellen können.
Die erwähnten Punkte verdeutlichen, dass die Debatte seitens der Opposition teilweise unsachgemäß und
an der eigentlichen Thematik vorbei geführt wird. Ein
Fokus auf das Wesentliche - das ist die mögliche punktuelle Verbesserung der bewährten gesetzlichen Rahmenbedingungen - würde nicht nur der Aussprache bezüglich des vorliegenden Antrages guttun. Insbesondere
das Reiserecht der Bürgerinnen und Bürger kann letztendlich von einem konstruktiven Austausch profitieren.
Dass sich die Bundesregierung und auch die CDU/
CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bei Bedarf für
eine Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen des Reiserechtes engagieren, belegen die jüngsten Beratungen in den parlamentarischen Gremien zur
Fluggastrechte-Verordnung ({1}) Nr. 261/2004. Nicht
erst seit Veröffentlichung des Berichtes der EU-Kommission zu den Entwicklungen und Erfahrungen mit der
Verordnung setzt sich die Bundesregierung nachhaltig
für deren zeitnahe Überarbeitung ein. Nach der bisherigen Anwendung der Verordnung bestehen noch offene
Fragen und rechtliche Unklarheiten, die nur durch eine
Überarbeitung durch den Verordnungsgeber umfassend
und verbindlich geklärt werden können.
Wichtig ist uns dabei allerdings, dass die Verbesserungen nicht pauschal und unverbindlich, sondern so
präzise und rechtssicher wie möglich gestaltet werden.
So werden die kurzfristigen Maßnahmen des von der
EU-Kommission vorgeschlagenen Zwölf-Punkte-Planes
die bestehende Rechtsunsicherheit nicht nachhaltig ausräumen können. Auch der Ansatz, die Verpflichtungen
der Mitgliedstaaten ohne Mitwirkung des Europäischen
Rates und des EU-Parlamentes festzusetzen, betrachten
wir als keine optimale Lösung. Sichere, verlässliche und
rechtsverbindliche Regelungen kann alleine der EUVerordnungsgeber treffen.
Auch inhaltlich müssen die Maßnahmen stimmig sein
und eine klare Verbesserung des Reiseschutzes darstellen. Das ist im Fall des Vorhabens, das Bewusstsein der
Reisenden für ihre Rechte durch Informationskampagnen in Zusammenarbeit mit den Verbraucherschutznetzen zu schärfen, offensichtlich gegeben. Die Umsetzung
dieses Punktes wird von uns dementsprechend befürwortet und unterstützt. Die vorgeschlagene Förderung der
Veröffentlichung verhängter Sanktionen betrachten wir
dagegen kritisch. Für Maßnahmen wie eine schwarze
Liste, die auch in der Debatte bezüglich des vorliegenden Antrages gefordert wird, gibt es schlicht keine rechtliche Grundlage. Zudem würde die Veröffentlichung von
Daten einen Eingriff in die wirtschaftliche Tätigkeit der
Unternehmen darstellen.
Meine Ausführungen verdeutlichen, dass wir uns,
wann immer wir mögliche Verbesserungen im Reiserecht erkennen, mit Nachdruck dafür einsetzen werden.
Diese Verbesserungen sehen wir aber insbesondere im
vorliegenden Antrag nicht. Bereits in der ersten Lesung
vor wenigen Monaten habe ich betont, dass es für die geforderte Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs keine gesetzliche Grundlage gibt. Auch ein
Sachzusammenhang zwischen der geforderten Datenerhebung und der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung
ist nicht gegeben. Es ist nicht Aufgabe der amtlichen
Verkehrsstatistik, Daten für die Überwachung von Passagierrechten zu erfassen. Die im Antrag formulierte
Aufnahme der Verspätungstatbestände in das Verkehrsstatistikgesetz, VerkStatG, wäre schlicht sachfremd.
Auch die Rolle des Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, die
im Antrag scheinbar missinterpretiert wird, sollte in diesem Zusammenhang noch einmal unterstrichen werden.
Das LBA ist kein rechtsdurchsetzendes Organ für FlugZu Protokoll gegebene Reden
gäste und auch nicht im zivilrechtlichen Interesse tätig.
Die Geltendmachung und Durchsetzung zivilrechtlicher
Ausgleichsansprüche gegenüber der Luftfahrtindustrie
im Interesse der betroffenen Fluggäste ist keinesfalls
Aufgabe der Behörde. Ein Sachzusammenhang zwischen
der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs ist,
um dies erneut deutlich zu betonen, nach wie vor nicht
gegeben.
Abschließend betrachtet hebe ich erneut hervor, dass
die Bundesregierung ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger mit einer umsichtigen Verbraucherpolitik nachkommt. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben sich bewährt und werden, wenn es
erforderlich ist, punktuell ausgebaut und weiterentwickelt. Forderungen, mit denen das hohe Niveau des Verbraucherschutzes nicht verbessert werden kann und weit
über das Ziel eines angemessenen Reiseschutzes hinausschießen, werden unsere Unterstützung dagegen nicht
finden. Den vorliegenden Antrag lehnen wir nicht zuletzt
vor diesem Hintergrund ab.
Die Europäische Kommission hat im April dieses
Jahres dem Europäischen Parlament und dem Rat eine
Mitteilung vorgelegt, mit der sie eine Auswertung der
Fluggastrechteverordnung der EU ({0}) vornimmt. In dieser Bestandsaufnahme nennt sie Verbesserungen bei der Anwendung der Verordnung, erläutert
verbleibende Hindernisse und schlägt Maßnahmen vor,
die eine weiter verbesserte Anwendung dieser Verordnung ermöglichen könnten.
Koordiniert mit der derzeit laufenden Überarbeitung
der Pauschalreiserichtlinie ({1}) wird die EUKommission in diesem Jahr eine Folgenabschätzung der
Fluggastrechteverordnung einleiten. Ziel ist, im Jahr
2012 Vorschläge zur weiteren Verbesserung der Fluggastrechte vorzulegen.
Nach Informationen der EU-Kommission ist die Zahl
der Fluggäste seit dem Jahr 2000 um rund 35 Prozent
gestiegen; auch die Zahl der Fluggastbeschwerden ist in
den letzten Jahren angestiegen.
Aufgrund des wachsenden Flugverkehrs ist nach Informationen der EU-Kommission die Qualität des Flugverkehrs für die Passagiere gesunken. Die Kommission
nennt als Gründe vermeidbare Verspätungen durch
Überlastungen im Luftraum und auf Flughäfen, unzureichende Alternativplanungen bei extremen Schlechtwetterlagen und strengere Sicherheitsmaßnahmen, aber
auch größere Flughäfen mit langen Wegen, Schwierigkeiten beim Gepäcktransfer und damit verbundene
höhere Risiken für die Fluggäste, Anschlussflüge zu verpassen. Auch Geschäftspraktiken von Luftfahrtunternehmen zulasten von Flugpassagieren, die erst nach
Verabschiedung der Fluggastrechteverordnung in Erscheinung getreten sind, können sich für die Passagiere
als ebenso kostspielig erweisen wie Annullierung oder
große Verspätung von Flügen. Nach Meinung der Kommission ist möglicherweise eine Anpassung der Fluggastrechteverordnung an diese Tatsachen notwendig.
Aber auch Ansprüche, die die Fluggastrechteverordnung schon jetzt beinhaltet, werden laut EU-Kommission nicht ordnungsgemäß von den Luftfahrtunternehmen umgesetzt, wie der Anspruch auf Umbuchung bei
nächster Gelegenheit und unter vergleichbaren Reisebedingungen, wenn ein vereinbarter Reiseweg geändert
wurde, und der Anspruch auf Betreuung bei Wartezeiten.
Nationale Durchsetzungsstellen bearbeiten die Beschwerden nicht schnell und effizient genug, und weil
die Entscheidungen der nationalen Durchsetzungsstellen nicht verbindlich sind, werden sie von Luftfahrtunternehmen nicht immer befolgt oder von Gerichten nicht
immer anerkannt.
Laut Kommission fehlt es zudem an einer Überwachung, Erfassung und Veröffentlichung von Informationen über das Verhalten der Unternehmen und über das
Niveau der Verbraucherzufriedenheit.
Die EU-Kommission hält eine öffentliche Berichterstattung über Sanktionen und das Verhalten der Luftfahrtunternehmen für eine wichtige Bedingung für die
korrekte Anwendung der Verordnung. Aus diesem Grund
wird die Kommission die Herausgabe und Veröffentlichung der notwendigen Daten durch die Luftfahrtunternehmen auch unterstützen. Die Luftfahrtunternehmen
sollen den nationalen Durchsetzungsstellen mehr Informationen zum Beispiel über Pünktlichkeit, die Zahl der
von Störungen betroffenen Flüge und die angewendeten
Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte übermitteln,
die diese dann veröffentlichen sollen.
Diese Transparenz zur besseren Überwachung der
Passagierrechte halten wir ebenfalls für notwendig. Die
Veröffentlichung dieser Daten sollte jedoch nicht nur
empfohlen, sondern über das Verkehrsstatistikgesetz von
der Bundesregierung auch verbindlich erlassen werden.
Die betroffenen Unternehmen sollten zur Herausgabe
der notwendigen relevanten Daten verpflichtet werden.
Hinsichtlich dieses Anliegens unterstützen wir den
vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Die Bundesregierung besitzt gegenwärtig keine verlässlichen Zahlen zu Annullierungen, Verspätungen, Herabstufungen oder Nichtbeförderungen von Personentransporten. Diese Zahlen sind aber für eine effektive
Durchsetzung von Fahrgast- und Passagierrechten erforderlich. Die im Antrag vorgeschlagenen §§ 12 und 18
des Verkehrsstatistikgesetzes reichen allerdings nicht
aus, um die in diesem Antrag formulierte Forderung umzusetzen. § 12 befasst sich mit der Luftverkehrsstatistik,
und § 18 bezieht sich auf die Personenbeförderungsstatistik auf Schienenstrecken. Um auch den Busbereich
und die Schiffsreisen mit einzubeziehen, müssten die
§§ 3 und 17 ebenfalls entsprechend angepasst werden.
In der Begründung dieses Antrags wird umfangreich
auf die Flugbeförderung eingegangen. Alle anderen Verkehrsträger werden in einem, nämlich dem letzten Satz
zusammengefasst: „Gleiches gilt auch für die anderen
sektorspezifischen Regelungen.“
Die Passagiere der anderen Verkehrsträger wie
Bahn, Bus und Schiff haben aber für uns eine gleichrangige Bedeutung wie die Passagiere im Luftverkehr.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese Bedeutung spiegelt sich übrigens auf EU-Ebene
auch in den Verordnungen für die Passagiere der übrigen Verkehrsträger wider.
Im Dezember 2009 trat die Verordnung über die
Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr in Kraft;
2010 verabschiedeten Rat und Parlament eine Verordnung über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und 2011 eine Verordnung über die Fahrgastrechte im Busverkehr. Auch diese Verordnungen
beinhalten für die Fahrgäste, wie die Verordnung für die
Fluggäste, das Recht auf Information, Erstattung, Änderung des Reisewegs, Betreuung während der Wartezeiten und unter bestimmten Bedingungen Ausgleichszahlungen.
Außer dem Luftverkehr müssen auch die anderen Verkehrsträger in dem vorliegenden Antrag entsprechend
ihrer Bedeutung umfangreicher behandelt werden. Zu
den im vorliegenden Antrag genannten Parametern
könnten noch weitere hinzugefügt werden, wie zum Beispiel die Anzahl der Beschwerden und die Anzahl und
Höhe der Entschädigungen.
Die Europäische Kommission schreibt in ihrem Bericht an das Europäische Parlament und den Rat über
die Verordnung ({2}) Nr. 1107/2006 über die Rechte von
behinderten Flugreisenden und Flugreisende mit eingeschränkter Mobilität vom April dieses Jahres, dass jeder
sechste europäische Bürger unter einer Behinderung leidet. Die immer älter werdende europäische Bevölkerung
führt zu einer steten Zunahme der Zahl von Flugreisenden, die aufgrund einer Behinderung oder eingeschränkter Mobilität spezieller Hilfe bedürfen.
Angesichts dieser Tatsache kommt mir die Behandlung dieser Bevölkerungsgruppe in dem vorliegenden
Antrag viel zu kurz; sie wird nur in einem Halbsatz erwähnt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass das
Luftfahrt-Bundesamt, LBA, auch die Durchsetzung der
Rechte von Fluggästen mit eingeschränkter Mobilität
gewährleisten soll.
Abschließend kann ich sagen, dass der Antrag die
richtige Stoßrichtung hat. Er muss aber noch überarbeitet und um wichtige Punkte ergänzt werden. Die SPDFraktion wird sich daher enthalten.
Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mag den redlichen Ansatz verfolgen, die
Durchsetzung der Rechte von Reisenden in Deutschland
zu verbessern. Doch wie bei so vielem gilt auch hier:
Der Teufel steckt im Detail. Lassen Sie mich daher nur
kurz auf zwei kleine, jedoch nicht minder wichtige
Punkte eingehen.
Der erste Punkt ist die Datenbasis. Entgegen der Annahme meines geschätzen Kollegen Tressel haben wir
mit der Deutschen Flugsicherung, DFS, und dem Central Office for Delay Analysis, CODA, einer Abteilung
von Eurocontrol, längst Institutionen, die uns Monat für
Monat umfangsreichstes Datenmaterial zur Verfügung
stellen. Auf Grundlage der Meldungen von Piloten, die
jede Verspätung einer von 76 möglichen Ursachen zuordnen und an die Flugsicherung melden müssen, wird
in Europa jede einzelne Abweichung vom geplanten
Flugablauf minutengenau erfasst. Vor diesem Hintergrung erschließt es sich mir nicht, warum wir darüber
hinaus noch eine weitere, rein nationale Statistik brauchen sollten.
Ich gebe allerdings zu: Wirft man einen ersten, flüchtigen Blick in diese Daten, so könnte man den Eindruck
erhalten, die Anzahl der Verspätungen und Annullierungen hätte in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Lag die durchschnittliche Verspätung aller in
Europa startenden und landenden Flüge im Jahr 2009
noch bei zehn Minuten, so schnellte sie binnen eines
Jahres um 40 Prozent nach oben. Da die Fluggesellschaften nach Angaben von Eurocontrol 2010 für jede
zweite Verspätung verantwortlich waren, wäre es nun
einfach, ihnen den Schwarzen Peter zuzuschieben, wie
es vonseiten der Opposition auch gerne und häufig getan wird. Völlig unberücksichtigt bleiben bei einer solch
simplen Betrachtungsweise jedoch die durchaus komplexen Wirkungszusammenhänge.
Denn die nähere Analyse der Daten zeigt, dass ein
wesentlicher Teil der Verspätungen, die den Fluggesellschaften zugerechnet werden, Folgeverspätungen sind.
Dabei wird allerdings nicht danach unterschieden, welchen Grund die ursprüngliche Verspätung hat. Es können sowohl endogene Faktoren, etwa Verzögerungen im
Betriebsablauf oder technische Probleme am Flugzeuge
auf die die Fluggesellschaften mehr oder minder direkten Einfluss haben, wie auch exogene Faktoren sein. Für
das Jahr 2010 sind hier insbesondere die massiven Arbeitskampfmaßnahmen der Fluglotsen in Europa und
das schlechte Wetter zu Beginn und zum Ende des Jahres
2010 zu nennen. Folglich müssen die in Deutschland
dargestellten Verspätungen weder zwangsläufig hier
entstanden sein, noch in der Verantwortung der Fluggesellschaften liegen.
Würde man, wie im Antrag gefordert, nun eine weitere Differenzierung anstreben, würden sich für die Luftverkehrswirtschaft zusätzliche Informationspflichten
ergeben, die sicherlich nicht dem Ziel des Bürokratieabbaus dienen.
Darüber hinaus sei angemerkt, dass über 90 Prozent
aller Flüge in Deutschland verzögerungsfrei ihr Ziel erreichten - bei rund 1,7 Millionen gewerblichen Flügen
und circa 160 Millionen beförderten Passagieren im
Jahr eine aus meiner Sicht durchaus beeindruckende
Leistung.
Der zweite Punkte der aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet werden
sollte, ist die Durchsetzung der Verbraucherrechte. Wie
im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vereinbart, werden wir hierzu eine unabhängige und verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle einrichten.
Derzeit finden noch letzte Abstimmungsgespräche zwischen den verschiedenen Facheben statt, doch ich bin
zuversichtlich, dass wir noch in diesem Jahr einen konsensfähigen Vorschlag auf den Tisch legen werden, der
allen Interessen gerecht wird - denen der Verbraucher
Zu Protokoll gegebene Reden
und denen der Industrie. Einen Schlichtungszwang lehnen wir jedoch ab.
Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst
nach schlanken und praxisnahen Lösungen zu suchen,
um die berechtigten Verbraucherinteressen durchzusetzen, anstatt durch einen weiteren Wust an Daten und Informationen Bürger wie auch Wirtschaft zusätzlich zu
belasten.
Die Linke im Bundestag unterstützt den Antrag der
Grünen. Wir sehen ihn als Ergänzung zu unserem eigenen Antrag „Fluggastrechte stärken“. Die fehlende
Durchsetzung von Passagierrechten im Luftverkehr
stellt immer noch ein Problem dar, das gelöst werden
muss. In der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung war noch die Rede von einer „Einrichtung einer
unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die
Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff“. Sie existiert bis heute nur auf dem Papier, obgleich täglich Hunderte von Passagieren Anspruch auf Entschädigung,
Ausgleich oder sonstige Leistungen haben.
Das Luftfahrt-Bundesamt ist in Deutschland offizielle
Durchsetzungs- und Beschwerdestelle für die Rechte der
Fluggäste. Nach unserer Auffassung kommt das Amt seiner Aufgabe nicht genügend nach. Beschwerden nimmt
das LBA zwar entgegen, aber nachgewiesene Verstöße
werden selten ordnungsrechtlich gegenüber den Unternehmen verfolgt.
Auch im Fall des Vulkanausbruchs Eyjafjallajökull
2010 sind die europäischen und deutschen Fluggesellschaften ihren Zahlungsverpflichtungen nur zögernd
und nicht zufriedenstellend nachgekommen. Klagen zum
Beispiel gegen Air Berlin sind anhängig. Ein Passagier,
der ein Problem mit einem konkreten Flug hat, ist heute
in Deutschland der Willkür der Fluggesellschaften ausgeliefert, weil Beschwerden abgewiesen werden und gerechtfertigte Ansprüche eingeklagt werden müssen. So
stellt sich die Linke Mobilität nicht vor. Gerechtigkeit
und Teilhabe müssen auch in der Mitte der Gesellschaft
möglich sein. Es kann nicht angehen, dass man bei Flugbuchungen eine Rechtsschutzversicherung mit abschließen muss.
Selbstverständlich ist eine genaue statistische Erhebung der Verspätungen, Annullierungen, Fälle der Nichtbeförderung und Herabstufung im Hinblick auf die Fluggastrechteverordnungen dringend erforderlich. Die
Ergebnisse dieser Evaluation sollten regelmäßig offengelegt werden. Allerdings reicht eine solche Evaluierung
allein bei weitem nicht aus. Die Linke fordert die Einführung einer verbindlichen, unabhängigen und verkehrsträgerübergreifenden Schlichtungsstelle. Eine Anbindung an die bestehende Schiedsstelle öffentlicher
Personenverkehr ist denkbar, da oft mehrere Verkehrsträger Gegenstand einer Beschwerde sind. Eine Schlichtungsstelle, die allein von den Fluggesellschaften finanziert und getragen wird, für deren Tätigwerden der
Fluggast erst einmal 50 Euro Eigenbeteiligung zahlen
muss, lehnen wir ab.
Mobilität muss ökologisch, sozial gerecht, barrierefrei und demokratisch sein. Mit der Evaluation von Beschwerden im Luftverkehrsbereich beschreiten wir den
richtigen Weg.
Passend zur gestrigen Debatte in den Ausschüssen
über die Mitteilung der Europäischen Kommission zur
Fluggastrechteverordnung haben wir heute diesen Antrag im Plenum. Wenn Sie mich fragen: Das war eine
schallende Ohrfeige für die Bundesregierung. Selten
habe ich in einem offiziellen Papier der EU-Kommission
so deutliche Kritik gelesen. Das will ich Ihnen auch an
einigen Punkten verdeutlichen. Sanktionen seien „nicht
wirksam, verhältnismäßig und abschreckend genug“.
Die Durchsetzung erfolge „zu komplex, zu langsam oder
praktisch gar nicht“, heißt es wenig später. Die nationalen Durchsetzungsstellen seien „nicht in der Lage, eine
immer größer werdende Zahl von Beschwerden innerhalb einer angemessenen Frist ordnungsgemäß zu bearbeiten“. Deshalb werden beispielsweise kollektive
Rechtsmittel und Schlichtungsstellen gefordert. Auch
dieser Antrag von uns lag Ihnen bereits vor.
Aber das ist ja noch lange nicht genug: In Antworten
auf zahlreiche Kleine Anfragen stellte die Bundesregierung erstaunlicherweise fest, dass Parameter wie Verspätungen, Annullierungen und Nichtbeförderung gar
nicht erhoben würden. Die Zahlen sind sehr wohl vorhanden und werden bisher allein aus betriebswirtschaftlichen Gründen erhoben. So hat jede Airline, jeder Flughafen und auch die Deutsche Flugsicherung diese
Daten. Selbst die Auskunft erteilende Behörde, das LBA,
hat Statistiken, die beispielsweise Piloten einsehen können.
Das Problem: Das LBA bewertet lediglich die eingehenden Beschwerden. Dabei wissen wir doch alle: Die
Beschwerden bilden nur einen Bruchteil des Problems.
Denn: Welcher Fluggast kennt die Funktion des LBA?
Nur 23 Prozent der Passagiere haben überhaupt einmal
von der Fluggastrechteverordnung“ gehört. Wer von denen wendet sich bei einem Problem an das LBA? 86 Prozent der Passagiere geben an, durch die Fluggesellschaften nicht informiert zu werden. Wir alle haben das
schon einmal erfahren. Was schlägt die Europäische
Kommission neben einer besseren Aufklärung der Flugpassagiere vor? Ich zitiere einmal wieder aus meiner
Lieblingslektüre der vergangen Tage:
Die Verordnung würde größere Wirkung erzielen,
wenn die Luftfahrtunternehmen ({0}) den nationalen Durchsetzungsstellen mehr Informationen übermitteln würden, die für die Veröffentlichung von Informationen
bezüglich zum Beispiel Pünktlichkeit, Zahl der von
Störungen betroffenen Flüge und angewendeten
Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte hilfreich
sind.
Wir haben deshalb die laut Bundesregierung angeblich „nicht erhobenen“ Daten akquiriert und für
Deutschland auswerten lassen. Dabei sind wir auf eine
Dimension gestoßen, die zeigt, wie groß die Diskrepanz
Zu Protokoll gegebene Reden
zwischen Rechtsanspruch und Rechtsdurchsetzung für
die Verbraucherinnen und Verbraucher ist. So sehr die
einzelnen Verordnungen auch zu kritisieren sind, das
Problem liegt keineswegs auf europäischer Ebene. Das
Problem sind die Durchsetzungsstellen; in Deutschland
also das LBA und damit eine Behörde des Verkehrsministeriums.
Solange hier keine offiziellen Daten gegenüber entsprechenden Tatbeständen, wie Verspätungen und Annullierungen etc., vorliegen, die die Probleme in der
Umsetzung der einzelnen Verordnungen verdeutlichen,
wird hier auch kein Problembewusstsein entstehen. Eine
Evaluation dieser Daten ist letztlich der nächste Schritt
in einer konsequenten Rechtsdurchsetzung. Bislang gilt
beim BMVBS die Devise: keine Rechtsgrundlage für Statistiken, keine Daten, kein Problem. Aus den Antworten,
die wir bislang erhalten haben, kann man nur eines folgern: Die Bundesregierung und allen voran Staatssekretär Mücke und Minister Ramsauer scheren sich nicht um
Verbraucherrechte im Reisebereich. Einzig im Verbraucherministerium ist noch ein zartes Aufbegehren vorhanden, welches regelmäßig von Ramsauer und
Leutheusser-Schnarrenberger im Keim erstickt wird.
Die Rechtsdurchsetzung wird nicht allein durch Statistiken besser. Die bestehenden Probleme zwischen
Norm und Praxis werden jedoch offensichtlich. Das wollen wir mit dem vorliegenden Antrag ändern. Eine Evaluation mit entsprechenden Lösungsansätzen darf man
von den Fachbehörden durchaus erwarten. Die Passivität, die die Antworten der Bundesregierung zeigen, ist
absolut unangemessen.
Die ungenaue oder irreführende Information der
Fluggäste durch Vertragsbedingungen der Luftfahrtunternehmen, durch deren allgemeine Informationen in Werbung und Presseerklärungen und
durch spezifische Angaben in ihren Antworten auf
Fluggastansprüche
- lieber Herr Ramsauer stellt ein erhebliches Übel dar, das in jedem Fall
geahndet werden sollte, auch wenn keine entsprechenden Beschwerden eingelegt wurden.
Herr Ramsauer, Sie sollten sich einmal überlegen, ob
Sie und Ihre Behörde weiter an Ihrer Lobbypolitik festhalten wollen. Die Rechtsdurchsetzung ist nationale Angelegenheit und nicht die der EU.
Der vorliegende Antrag bedeutet letztlich nur eine
Anpassung der Rechtslage an den ohnehin zu erfüllenden Anspruch. Selten bedeutet ein Antrag so wenig
Mehraufwand für Behörden bei so viel mehr Erfolg.
Man könnte also von einer optimalen Kosten-NutzenBilanz sprechen. Die Beschlussempfehlung, diesen Antrag abzulehnen, ist nicht nachvollziehbar. Wenn in den
Ausschüssen Kolleginnen und Kollegen der Koalition
das Gleiche beklagen, jetzt aber gegen unseren Antrag
stimmen, ist das noch unverständlicher. Reisende würden Ihnen eine Zustimmung danken.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5562, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4041 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der
Grünen und Enthaltung der SPD angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Alphabetisierung und Grundbildung in
Deutschland fördern
- Drucksache 17/5914 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Lassen sie mich zunächst auf die neuen und überaus
positiven Zahlen der Bundesagentur für Arbeit eingehen, die letzte Woche erst veröffentlicht worden sind.
Die Arbeitslosigkeit sinkt, und das konstant und rapide
seit dem Regierungsantritt von Angela Merkel: bundesweit auf 7 Prozent mit weiter sinkender Tendenz und in
meinem Wahlkreis München-Land sogar auf unter
3 Prozent. Das bedeutet fast Vollbeschäftigung. Das ist,
wie ich finde, sehr erfreulich.
Bildung ist das wichtigste Kulturgut und die zentrale
wirtschaftliche Ressource unseres Landes. Da darf es
nicht sein, dass fast 90 000 junge Menschen die Schule
ohne Abschluss verlassen. Lesen und Schreiben sind
heute und künftig elementare Fähigkeiten, deren Beherrschung Voraussetzung für die Gestaltung der eigenen Biografie ist. Nur so ist es möglich, am öffentlichen
Leben teilzunehmen. Gerade deshalb sind die veröffentlichten Zahlen des „Level-One Survey“-Forschungsprojekts der Universität Hamburg, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit
1,3 Millionen Euro gefördert wurde, so ernüchternd.
Fast 7,5 Millionen Menschen werden in Deutschland
dem funktionalen Analphabetismus zugerechnet. Das
entspricht etwa 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Funktional bedeutet in diesem Sinne, dass Menschen zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende, auch kürzere Texte wie zum
Beispiel eine schriftliche Arbeitsanweisung verstehen
können. Die Studie wurde im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen erstellt mit der
Zielrichtung, die tatsächliche Größenordnung des AnZu Protokoll gegebene Reden
alphabetismus in Deutschland wissenschaftlich zu ermitteln.
Ziel der Dekade der Vereinten Nationen ist es, die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und
schreiben können, weltweit zu halbieren und jedem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Für Industrieländer wie Deutschland bedeutet dies in Anbetracht des
demografischen Wandels und damit sinkender Erwerbstätiger, vorhandene Bildungsbenachteiligungen frühzeitig zu erkennen und abzubauen. Analphabetismus ist
aber auch immer im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen zu verstehen. Es ist daher kein individuell verschuldetes, sondern ein gesellschaftliches Problem, dessen Lösung auch von der Gesellschaft bewältigt werden
muss.
Mit der erschreckend hohen Zahl funktionaler Analphabeten in unserem Land dürfen wir uns nicht abfinden. Ansätze zur Lösung des Problems gibt es viele;
zahlreiche Vorhaben zur Stärkung der Alphabetisierung
und Verbesserung der Grundbildung in Deutschland
wurden bereits auf den Weg gebracht. Deutlich wird bei
der Bekämpfung des Analphabetismus aber auch, dass
durch die Kulturhoheit der Länder gerade diese ganz
besonders gefordert werden, da die Kompetenzen des
Bundes hier nur sehr eingeschränkt sind. Dennoch versucht die Bundesregierung im engen Schulterschluss mit
den Bundesländern, das ihr Mögliche auf den Weg zu
bringen. Dafür möchte ich Frau Ministerin Schavan an
dieser Stelle herzlich danken.
Wichtig ist es, es erst gar nicht zum Analphabetismus
kommen zu lassen: Daher ist der erste Ansatz, den die
Bundesregierung in Angriff genommen hat, bereits im
Rahmen der frühkindlichen Erziehung Defizite rechtzeitig zu erkennen und zu beheben, bevor diese sich dann
verfestigen und zu späterem Analphabetismus führen, so
immanent wichtig. Damit werden die Möglichkeiten der
Prävention vor Schulbeginn thematisiert sowie gute Bildung, Erziehung und Betreuung in den Kindertageseinrichtungen so früh wie möglich bundesweit zur Verfügung gestellt, um die Chancen aller Kinder auf
erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem zu erhöhen.
Jedes Kind soll von Anfang an faire Chancen haben.
Dort aber, wo es im frühkindlichen Bereich schon zu
spät ist, ist die Anstrengung umso schwieriger und herausfordernder für alle Beteiligten. Aber auch hier setzen wir an. So ist zu begrüßen, dass sich zur nationalen
Umsetzung der Ziele der Weltalphabetisierungsdekade
die wichtigsten Akteure der Alphabetisierungsarbeit in
einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben.
Dies sind neben dem BMBF die Deutsche UNESCOKommission, der Deutsche Volkshochschul-Verband,
der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung
e. V., der Verlag Ernst Klett Sprachen, die GEW und die
Stiftung Lesen. Die Mitglieder dieses Aktionsbündnisses
haben auf mehreren vom BMBF geförderten Fachtagungen eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet, in denen
die wichtigsten Aufgaben für die Alphabetisierungsarbeit definiert wurden.
Im Rahmen seiner Zuständigkeit engagiert sich das
BMBF schon seit Jahrzehnten im Bereich Alphabetisierung. So hat die Bundesregierung 2006 durch das
BMBF seine Förderung neu ausgestaltet und in einem
Förderschwerpunkt „Forschung und Entwicklung zur
Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ gebündelt. Mit einer Fördersumme von rund 30 Millionen
Euro ({0}) werden insgesamt 24 Verbundvorhaben mit über 100 Einzelprojekten gefördert. Wir
werden also weiterhin verstärkt das Thema Alphabetisierung und Grundbildung in die Öffentlichkeit hineintragen und präventiv vorgehen.
Wir empfehlen, den Antrag der SPD an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung zu überweisen.
Lesen und Schreiben können, ist grundlegend. Denn
es bedeutet, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich ihr
nicht verschließen zu müssen. Oft gehen mit Analphabetismus Isolation, Nicht-verstanden Werden und
mangelndes Selbstbewusstsein einher. Neuste Studien
beziffern die Zahl der Analphabeten, die keine zusammenhängenden Texte lesen oder schreiben können, in
Deutschland auf 7,5 Millionen. 2 Millionen von ihnen
können sogar nur einzelne Wörter schreiben. Das Ziel
von Alphabetisierung und Grundbildung ist daher unter
dem Gesichtspunkt von Arbeitsmarktintegration und
Gesellschaftsintegration gleichermaßen bedeutend.
In Ihrem Antrag wenden Sie sich dieser sehr wichtigen - in der öffentlichen Diskussion oft vernachlässigten Frage zu, was wir grundsätzlich auch nur begrüßen können. Jedoch hält Ihr Antrag leider wenig Überraschendes bereit. Und werte Kollegen der SPD-Fraktion, Sie
begeben sich mit Ihrem Antrag keinesfalls auf politisches Terrain, das die Bundesregierung bisher vernachlässigt hätte.
Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregierung hat das Thema Alphabetisierung und Grundbildung bereits seit längerem auf ihrer Agenda. Erste Ansätze in die richtige Richtung haben wir bereits in der
Großen Koalition gesetzt, sogar mit Ihnen gemeinsam.
Die jetzige christlich-liberale Bundesregierung hat diesen Weg nicht nur fortgeführt, sondern ihr Engagement
weiter ausgebaut.
Alphabetisierung und Grundbildung werden mit einem ganzheitlichen Ansatz erfolgreich gefördert. Das
BMBF stellt in der sogenannten Alphabetisierungsdekade rund 50 Millionen Euro für lösungsorientierte Projekte zur Verfügung. Davon werden allein 35 Millionen
Euro für den Förderschwerpunkt „Forschung und Entwicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung“ aufgewendet, da wir in Zukunft durch die frühkindliche Bildung Analphabetismus vermeiden wollen.
In diesem Zusammenhang möchte ich einige konkrete
Beispiele benennen:
Um Kinder bereits in der sensiblen Prägungsphase zu
fördern, hat die Bundesregierung zum einen das Projekt
„Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“ gemeinsam mit der Stiftung Lesen ins Leben gerufen. Mit dem
Programm erhalten Eltern kostenlos Lesebücher und
Zu Protokoll gegebene Reden
Marcus Weinberg ({0})
sollen zum Vorlesen und die Kinder selbst später zum
Lesen ermutigt werden.
Zum anderen stellt die Bundesregierung mit dem Programm „Offensive Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas
Sprache & Integration“ bis zum Jahr 2014 rund
400 Millionen Euro zur Verfügung. Bis zu 4 000 Kitas
können mit diesen Mitteln zusätzliches qualifiziertes
Personal finanzieren, um den Bereich Sprachförderung
und Integration weiterzuentwickeln.
Neben der frühkindlichen Bildung und Leseförderung
der Kinder im Schulalter liegt ein weiterer Schwerpunkt
bei Menschen im erwerbsfähigen Alter, die unter sogenanntem funktionalen Analphabetismus leiden. Immerhin sind zwar 57 Prozent dieser Analphabeten in die Arbeitswelt integriert. Sie arbeiten jedoch meistens
unterhalb ihrer fachlichen Qualifikation bzw. persönlichen Befähigung. Unser Ziel ist es daher, den bisher vom
Erwerbsleben ausgeschlossenen Menschen die Möglichkeit zu geben, Sprache zu beherrschen, einen Job zu erlernen und diesem auch nachzugehen. Die unter ihrer
Qualifikation tätigen Personen wollen wir durch gezielte Förderungen besser in die Arbeitswelt integrieren.
So eröffnen wir ihnen die Chance auf eine adäquate Beschäftigung, schaffen Motivation und Selbstbestätigung.
Werte Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie fordern
mit Ihrem Antrag die Bundesregierung nun unter anderem auf, gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen ein „Grundbildungspaket“ zu vereinbaren. Die Idee
ist gut, aber nicht neu und Ihre Forderung damit überholt. Die Bundesregierung hat diesen Ansatz bereits im
Frühjahr dieses Jahres aufgegriffen und gemeinsam mit
den Ländern ein breites gesellschaftliches Bündnis erarbeitet. An diesem Bündnis werden auch Unternehmensverbände, Kammern, Gewerkschaften und Volkshochschulverbände beteiligt.
Was die weiteren Forderungen angeht, erscheinen
diese ebenfalls weder zielführend noch erforderlich. Ich
deutete es bereits an: Um die Alphabetisierung und
Grundbildung nachhaltig und umfassend zu fördern,
müssen wir uns verdeutlichen, welche Maßnahmen zielführend und wahrhaftig erfolgversprechend sind. Einfach den Geldhahn aufzudrehen oder unzählige, nicht
zielorientierte Einzelmaßnahmen frei nach dem Gießkannenprinzip zu fördern, wird es mit uns nicht geben.
Doch neben all den Forschungs- und Fördervorhaben dürfen wir eines nicht vergessen: Teilhabe an Gesellschaft und Erwerbsleben wird uns darüber hinaus
nur mit einem breiten gesellschaftlichen Engagement
gelingen. Es ist also auch unerlässlich, dass sich die
Bürgerinnen und Bürger gegenseitig unterstützen, indem sie Neugier und den Lernwillen in einer Vorbildfunktion an die Kinder - auch aus den bildungsfernen
Elternhäusern - weitergeben. Hier sollten alle Akteure
aus Gesellschaft, Politik, Bildungswesen und Wirtschaft
Hand in Hand arbeiten.
Durch größere Sensibilität im Umgang mit Analphabetismus können wir dazu beitragen, dass wir Betroffene
in unsere gesellschaftliche Mitte holen und nicht an den
Rand verdrängen. Die Bundesregierung hat sich der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland bereits mit großem Engagement zugewandt. Fortschritte in
die richtige Richtung sollten daher nicht durch wieder
neue Projekte, Programme und föderale Abstimmungsprozesse ausgebremst werden. Aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag auch nicht zustimmen können.
Ich fordere Sie daher auf, lieber gemeinsam mit uns
den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und abseits von
Parlamenten und Verwaltungen die Gesellschaft zu
mehr gegenseitiger Unterstützung zu bewegen und im
gesellschaftlichen Konsens Alphabetisierung und
Grundbildung in Deutschland nachhaltig zu erreichen.
Mit unserem Antrag „Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland fördern“ wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass endlich ein bildungspolitisches
Tabu aufgebrochen wird, das viel zu lange in Deutschland gegolten hat, nämlich das Tabu, dass Analphabetismus ein Thema in unterentwickelten Ländern ist, in fernen Kontinenten und nur weit weg von hochmodernen,
hochindustrialisierten und hochgebildeten Gesellschaften und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland.
Dieses Tabu war und ist nicht gut für die Betroffenen,
und es war und ist nicht gut für die Gesellschaft insgesamt. Experten, Fachverbände und Wissenschaftler sind
bekanntlich Jahre lang von geschätzten 4 Millionen primären und funktionalen Analphabeten in Deutschland
ausgegangen, eine Zahl, die für sich schon schlimm genug war. Aber sie hat in der Vergangenheit keine bildungspolitische Bewegung ausgelöst, wie sie beispielsweise der sogenannte PISA-Schock erzeugen konnte.
Über die Gründe sollten sich alle Beteiligten parteiübergreifend, ohne Schuldzuweisungen, aber selbstkritisch
und lernfähig noch einmal austauschen.
Immerhin hat sich die damalige Bundesregierung
2003 zusammen mit den Akteuren der Alphabetisierungsarbeit auf die nationale Umsetzung der Weltalphabetisierungsdekade verpflichtet, die als Ziel hatte, bis
2012 die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, weltweit zu halbieren und jedem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Statt
uns über eine Halbierung freuen zu können, erfahren wir
jetzt durch neue wissenschaftliche Studien im Jahr 2011,
dass die Zahl der funktionalen Analphabeten in
Deutschland in Wirklichkeit fast doppelt so hoch ist wie
ursprünglich angenommen, nämlich 7,5 Millionen. Das
muss uns alle erst recht schockieren und zu gemeinsamen neuen Anstrengungen veranlassen, zumal wir eine
Kanzlerin haben, die die „Bildungsrepublik“ ausgerufen hat.
Was ist nun die neu festgestellte und offensichtlich
schon länger vorhandene reale Ausgangslage, mit der
wir uns in Deutschland tabulos befassen müssen? Die
Studie „leo - Level-One Survey“ hat 2010 im Auftrag
des BMBF die Größenordnung des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und
64 Jahren untersucht. Die Ergebnisse der Studie wurden
Anfang dieses Jahres vorgestellt. Danach betrifft der
Analphabetismus im engeren Sinne mehr als 4 Prozent
Zu Protokoll gegebene Reden
der erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 18 bis
64 Jahren. Das entspricht einer Größenordnung von
2,3 Millionen Menschen, die zwar einzelne Wörter lesend verstehen bzw. schreiben können, nicht jedoch
ganze Sätze. 300 000 Menschen davon können noch
nicht einmal ihren Namen schreiben.
Aber auch der funktionale Analphabetismus weist ein
beängstigend hohes Ausmaß auf und betrifft kumuliert
14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können danach zwar
einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende - auch kürzere - Texte. Die Betroffenen
sind damit nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben oder am Arbeitsleben angemessen teilzunehmen; sie
können schriftliche Arbeitsanweisungen nicht verstehen,
schon gar nicht Zeitungen und Bücher lesen.
Drei Sachverhalte wollen wir aus dieser Studie besonders herausstellen: Der erste besondere Sachverhalt
ist, dass von den funktionalen Analphabeten knapp
57 Prozent erwerbstätig sind und nur 17 Prozent arbeitslos. Dieser Fakt hat sicherlich nicht nur mich überrascht, sondern wirft allgemein viele Fragen auf: Wie
sollen wir uns vorstellen, dass mehrere Millionen Menschen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, keine zusammenhängende Texte lesen können? Wie kommen
diese Menschen trotzdem einigermaßen klar? Welche
„Überlebensstrategien“ haben sie entwickelt? Hier
wird noch viel wissenschaftliche Aufklärung, aber auch
persönliches Verständnis und persönliche Einfühlung
von uns allen zu leisten sein.
Ein zweiter besonderer Sachverhalt ist in unseren Augen, dass etwa 20 Prozent der funktionalen Analphabeten 18 bis 29 Jahre alt sind. Junge Menschen, die vor
kurzem die Schule verlassen haben, können danach
keine Bedienungsanleitung, keine Zeitung lesen oder
keine Formulare ausfüllen. Folglich können sie auch
nur sehr eingeschränkt mit dem Internet umgehen, welches für die junge Generation besonders hohen Stellenwert hat. Wie abgeschnitten müssen sie dadurch von
wichtigen Kommunikations- und Teilhabeprozessen
sein?
Als dritter Sachverhalt erscheint uns besonders bemerkenswert, dass nur 19,3 Prozent der funktionalen
Analphabeten keinen Schulabschluss haben. Ein großer
Teil der funktionalen Analphabeten hat also Texte lesen
und schreiben gelernt, einen Bildungsabschluss gemacht, diese vorhandenen mehr oder weniger ausgebildeten Fähigkeiten im Laufe der Zeit aber wieder verlernt.
Dies alles muss uns „wachrütteln“! Dieser „ALPHASchock“ darf nicht ohne Antwort bleiben. Es kann nicht
sein, dass der PISA-Schock vor circa zehn Jahren wie
ein Blitz durch die Republik gegangen ist und unendliche Diskussionen über bzw. Konsequenzen für unser
Schulsystem ausgelöst hat, während das katastrophale
Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland direkt
nach Veröffentlichung der Studie gerade einmal in
13 Zeitungsartikeln Erwähnung gefunden hat und dann
die Ergebnisse der Studie ins Nichts zu verpuffen drohen, wenn wir nicht politisch aufwachen, aufpassen und
uns engagieren. Ich sage noch einmal: Parteiübergreifend aufwachen, aufpassen und uns engagieren, gemeinsam mit Parlament und Regierung in Bund und Ländern,
mit den Sozialpartnern und Verbänden sowie mit den
Betroffenen und ihren Initiativen. Alphabetisierung ist
eine Gemeinschaftsaufgabe jenseits von politischen
Ideologien und verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. Denn im Prinzip dürften wir uns alle einig sein, dass
hier Entscheidendes getan werden muss. Wir dürfen das
Thema nicht immer wieder an den Rand drängen bzw.
vergessen und verdrängen, nur weil die Menschen, die
es betrifft, keine Lobby haben, auf sich aufmerksam zu
machen.
Herr Spiewak von der Wochenzeitung „Die Zeit“, die
sich als einzige überregional bedeutsame Zeitung intensiv mit der Alpha-Level-Studie auseinandergesetzt hat,
hat recht: Wir dürfen nicht länger wegschauen! Grundbildung bzw. Alphabetisierung ist eine elementare Aufgabe der Bildungspolitik, ein persönlicher existenzieller
Bedarf und eine gesellschaftlich existenzielle Notwendigkeit, wenn wir nicht ganze Bevölkerungsgruppen aus
dem gesellschaftlichen bzw. aus dem Erwerbsleben
nachhaltig auszuschließen wollen. Wir alle zusammen
müssen deshalb das Thema mit Nachdruck auf die
Agenda bringen.
Es ist hohe Zeit, mit einem „ALPHA-Grundbildungspakt“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie
allen gesellschaftlichen Kräften die Anzahl der funktionalen Analphabeten in Deutschland so schnell es geht zu
halbieren. Wir brauchen deutlich mehr Alphabetisierungskurse, mehr Angebote berufsbegleitender Grundbildung und mehr soziale Begleitung der Betroffenen.
Wir brauchen eine zielgruppenorientierte Medienkampagne, eine „ALPHA-Offensive“, damit Analphabetismus entstigmatisiert wird und die Betroffenen ermutigt
werden, aus ihrer Anonymität herauszutreten und Kurse
zu besuchen. Hierbei brauchen wir nicht nur die Massenmedien - wie Fernsehen und Radio -, sondern auch
die Hilfe der Familien, der Vereine und der Nachbarschaft, um Brücken zu bauen. Ebenso setzen wir uns ein
für einen Ausbau des Berufsbildes „Alphabetisierungsund Grundbildungspädagoge“.
Am Ende meiner Rede möchte ich großen Respekt und
Anerkennung an die Betroffenen aussprechen, die die
Scham überwunden haben und sich zu erkennen gegeben sowie den Kampf gegen den Analphabetismus aufgenommen haben. Für ihren Mut zu diesem Schritt bewundere ich sie. Ich wünsche mir noch mehr solche
mutigen Menschen und ebenso viele Helfer in ihrem
Umfeld, die ihnen diesen schweren Schritt erleichtern.
Darüber hinaus möchte ich meinen herzlichen Dank
an alle Träger und Akteure der Alphabetisierungsarbeit
aussprechen. Sie leisten mit knappen Ressourcen - sei es
in Kursen oder in der Entwicklung von Lernportalen
etc. - Pionierarbeit. Pionierarbeit, die helfen kann,
diese Art des „Bildungsnotstands“ in unserem Land zu
überwinden. Dass dies jetzt endlich mit einem umfangreichen politischen Programm auch wirklich nachhaltig
und erfolgreich geschieht, das ist allerdings die Aufgabe
von uns als Parlamentarier und Regierung, denn sonst
Zu Protokoll gegebene Reden
sind die vielen betroffenen Menschen einmal mehr im
Tabu allein gelassen. Das haben sie allerdings wahrlich
nicht verdient.
Die hohe Zahl von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht
eine besondere Mahnung, die uns die Forscher der
LEO-Studie am Ende der Weltalphabetisierungsdekade
der Vereinten Nationen mit auf den Weg geben. Denn Lesen und Schreiben sind nicht nur Grundtechniken. Die
Forscher der PISA-Studie beschreiben beispielsweise
Lesekompetenz vielschichtiger. Sie schreiben:
Lesekompetenz wird im Sinne einer Basiskompetenz
verstanden, von der angenommen wird, dass sie in
modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher
Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig ist.
Insofern müssen wir die Herausforderung grundlegend verstehen. Alphabetisierung und Grundbildung
sind Aufgaben, die an konkreten Lebenssituationen von
Menschen anknüpfen und die sie umfassend in die Lage
versetzen müssen, auf eigenen Beinen am Leben der Gesellschaft umfassend teilhaben zu können.
Deshalb fordert die SPD-Fraktion auch einen umfassenden Grundbildungspakt, den der Bund mit den Ländern und Kommunen abschließen sollte. Sein Ziel muss
sein, die Zahl der funktionalen Analphabeten in einem
übersichtlichen Zeitraum zu halbieren. Diese nationale
Aufgabe muss der Bund ressortübergreifend angehen.
Und er muss Länder und Kommunen angemessen dabei
unterstützen. Deshalb fordern wir bei einem Ausbau der
Kursplätze auf bis zu 100 000 die Beteiligung des Bundes mit mindestens 20 Millionen Euro an den Kosten.
Der Grundbildungspakt bildet das Dach für alle Aktivitäten. Er umfasst jedoch nicht alle Aufgaben, sondern
ermöglicht die Verständigung darüber, Aktivitäten auf
allen Ebenen und bei allen Akteuren anzustoßen. Wir sehen hier als SPD-Fraktion fünf wesentliche Aufgabenfelder:
Erstens. Wir brauchen wirksame Instrumente, um Analphabetismus in den Betrieben und Verwaltungen diskriminierungsfrei erkennen zu können und Grundbildung zu fördern. Hier sind natürlich insbesondere die
Sozialpartner in den Betrieben zu unterstützen, Analphabetismus im Betrieb zu erkennen. Die Herausforderung stellt sich aber ebenso für die Behörden, die für
den Umgang mit Analphabetismus zu sensibilisieren
sind. Deshalb fordern wir unter anderem auch, dass die
Bundesagentur für Arbeit Alphabetisierung und Grundbildung als Voraussetzung für die Integration in den Arbeitsmarkt versteht und entsprechende Maßnahmen fördert.
Zweitens. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis
von Qualität in der Grundbildung und Vereinbarungen
über Standards und nutzerorientierte Zertifikate. Rahmencurriculum, ein System von Zertifikaten, das Lernfortschritte arbeitsweltbezogen dokumentieren kann,
Standards für die Aus- und Weiterbildung von Kursleiterinnen und Kursleitern sowie die Berufsausbildung zum
Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen sind
Instrumente, um eine hohe und vergleichbare Qualität
der Grundbildungsangebote zu gewährleisten. Dazu gehört auch, die bestehenden Kurse in enger Zusammenarbeit mit den Trägerorganisationen laufend zu evaluieren
und zu verbessern.
Für die Schulen gelten in Zusammenarbeit mit den
Bundesländern ebenso ehrgeizige Ziele: Wir müssen es
schaffen, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die
ohne die grundlegendsten Lese- und Schreibkenntnisse
die Schule verlassen, gegebenenfalls auch mittels Förderangeboten außerhalb der Regelschulzeit deutlich zu
verringern.
Drittens. Mit Analphabetismus verbinden sich nicht
selten weitere Probleme bei den Betroffenen. Deshalb
muss in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit sichergestellt
werden, dass Alphabetisierungskurse sozialpädagogisch
begleitet werden, um die Probleme umfassend lösen zu
können.
Viertens. Wir brauchen ein dicht gestaffeltes Netz von
Beratungs- und Informationseinrichtungen. Vor Ort
müssen die Betroffenen auf eine flächendeckende und
niedrigschwellige Bildungsberatung mit spezifischen
Kenntnissen zurückgreifen können. Diese soll unterstützt werden durch eine bundesweite Service-, Beratungs- und Informationsstelle. Sie kann helfen, bundesweite Kampagnen zu starten, damit Betroffene ermutigt
werden, aus der Anonymität herauszutreten und einen
Alphabetisierungskurs zu besuchen.
Im Übrigen sollten auch Behörden und Politik stärker
für das Thema sensibilisiert werden. Unserer Meinung
nach gehört auch die Aufnahme des Themenbereichs
„Funktionaler Analphabetismus“ in die Nationale
Bildungsberichterstattung zu den Maßnahmen, die einerseits öffentlich sensibilisieren und andererseits notwendiges Wissen für Administration und Politik kontinuierlich bereitstellen können.
Fünftens. Die Städte und Gemeinden müssen gezielt
unterstützt werden beim Aufbau von Alphabetisierungsund Grundbildungsnetzwerken. Deshalb ist es besonders wichtig, die gezielte Arbeit in besonders betroffenen Stadtteilen zu erleichtern, zum Beispiel, indem das
bewährte Programm „Soziale Stadt“ um den Bereich
der Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse ergänzt
und erneuert wird.
Sicherlich können im Rahmen dieser Debatte Lösungsansätze nur umrissen werden. Uns ist jedoch besonders wichtig, dass wir nun endlich in einen intensiven Dialog mit den Akteuren der Alphabetisierung und
Grundbildung eintreten, um etwas für die Betroffenen zu
erreichen. Denn wir können und wir wollen es uns vor
allem nicht leisten, dass 7,5 Millionen Menschen aufgrund von funktionalem Analphabetismus von vollständiger gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen bleiben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bereits im Jahr 2000 wurde auf dem Weltbildungsforum in Dakar das UNESCO-Programm „Bildung für
alle“ auf den Weg gebracht. Eines der sechs bis zum
Jahr 2015 zu erreichenden Bildungsziele ist die Halbierung der Analphabetenrate weltweit. Im Zuge der 2003
ausgerufenen Weltalphabetisierungsdekade, die dieses
Ziel befördern soll, wurde für Deutschland mit der
Level-One-Studie - leo - dieses Jahr erstmals belastbares Zahlenmaterial zur Größenordnung des funktionalen Analphabetismus vorgelegt.
Diese jüngsten empirischen Befunde machen darauf
aufmerksam, dass die Zahl derjenigen, die nur ein rudimentäres Textverständnis - funktionaler Analphabetismus - aufweisen, bei 14,5 Prozent - 7,5 Millionen Menschen - der erwerbsfähigen Bevölkerung liegt. Der
größte Teil, 32,6 Prozent der Betroffenen, befindet sich
in den Alterskohorten der 50- bis 64-Jährigen. Beunruhigend sind jedoch vor allem die 20 Prozent der funktionalen Analphabeten im Alter zwischen 18 und 29 Jahren.
Der Antrag der SPD greift also ein Thema auf, das
durchaus von bildungspolitischer und ökonomischer Relevanz ist.
67 Prozent der funktionalen Analphabeten verfügen
über keinen oder einen unteren Bildungsabschluss. Psycho-organische Beeinträchtigungen oder Analphabetismus durch fehlende Praxis erklären die weiteren 23 Prozent. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Ursachen für
das aufgeführte Phänomen vor allem bei den Defiziten
im Bereich der allgemeinschulischen Bildung gesucht
werden sollten.
Jedes Jahr verlassen fast 65 000 Jugendliche die
Schule ohne Abschluss, häufig gerade aufgrund mangelnder Schreib- und Lesekompetenzen. Lesen und
Schreiben sind der Schlüssel zum lebenslangen Lernen,
Grundbildung die Voraussetzung für gesellschaftliche
und berufliche Teilhabe.
Es muss leider festgehalten werden, dass die Abbrecherquote der SPD-geführten Bundesländer Berlin - von
9,9 Prozent auf 11,5 Prozent -, Brandenburg - 11,7 Prozent auf 13 Prozent - und Mecklenburg-Vorpommern
- 12,1 Prozent auf 16,8 Prozent - in den vergangenen
Jahren auf ein trauriges Rekordniveau gestiegen sind,
während sich die Bildungsinvestitionen von BadenWürttemberg - 6,3 Prozent auf 5,6 Prozent -, Bayern
- 7,2 Prozent auf 6,4 Prozent - und Hessen - 8,1 Prozent
auf 7 Prozent - auszahlen. Da der Kampf gegen den Analphabetismus vor allem in der Schule gewonnen oder
verloren wird, ist diese zweigeteilte Entwicklung durchaus beachtenswert.
Schließlich sei noch einmal an das Engagement der
Bundesregierung erinnert, welche mit 26 Millionen
Euro jährlich das Programm „Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“ der Stiftung Lesen fördert. Hierbei
soll vor allem durch ein niedrigschwelliges Angebot die
Lesebegeisterung bei Kindern innerhalb der Familien
geweckt werden; denn wer früh und regelmäßig liest, hat
später bessere Chancen. Schlechte Schulleistungen resultieren oft aus Versäumnissen in der frühen Kindheit.
Die PISA-Ergebnisse haben gezeigt, dass viel zu viele
Schüler große Probleme mit dem Lesen und Verstehen
von Texten haben. Vorlesen in der Kindheit ist daher ein
wichtiger Impuls bei der Entwicklung von Lese- und
Sprachfähigkeiten und der Konzentrationsfähigkeit.
Dass ein Projekt aus meinem Wahlkreis - Family
Literacy, FLY, des Landesinstituts für Lehrerbildung und
Schulentwicklung in Hamburg - den UNESCO-Alphabetisierungspreis 2010 erhalten hat, freut mich besonders; denn hier wird die gesamte Familie in den Prozess
einbezogen, und die Eltern werden darin gestärkt, den
Schriftspracherwerb ihrer Kinder früh zu unterstützen.
Zudem fördert das Bundesministerium für Bildung
und Forschung das Internetportal iCHANCE, mit welchem vor allem junge Erwachsene angesprochen und
informiert werden. Internetangebote bieten durch die
Interaktivität in sozialen Netzwerken vielfältige Möglichkeiten zur Information, zur Bewusstseinsbildung und
zum Abbau von Vorurteilen. Es ist nicht einfach, sich mit
seinen Lese- und Rechtschreibschwächen zu offenbaren.
Daher müssen wir ein offenes und unterstützendes
Klima in unserer Gesellschaft schaffen.
Die SPD weist im vorliegenden Antrag weiter darauf
hin, dass gerade die kommunal getragenen Volkshochschulen als „Reparaturwerkstatt“ im Bereich des Analphabetismus tätig sind. Sicherlich wäre es wünschenswert, das Kursangebot auszuweiten und den
Qualifikationsgrad der Kursleiter noch weiter zu steigern. Doch diesbezüglich stehen zunächst einmal Kommunen und Länder in der Pflicht.
Analphabetismus ist trotz der vermeintlich guten Schulbildung in Deutschland seit Jahren ein bekanntes Problem. Nun weist die LEO-Studie der Uni Hamburg nach,
dass es weit größer ist als bisher angenommen. In der Öffentlichkeit wird es allerdings oft noch als Randthema betrachtet. Der SPD-Antrag nimmt die Studie zum Anlass,
um einen „Grundbildungspakt“ von Bund, Ländern und
Kommunen zu fordern und eine lange Liste von Maßnahmen, die ihr geeignet scheinen, die Zahl der Betroffenen in
Deutschland zu halbieren.
Auffällig ist, dass in Veröffentlichungen wenig darüber zu finden ist, warum die Zahl der funktionalen Analphabeten mit 7,5 Millionen betroffenen Menschen in
der erwachsenen deutschsprachigen Bevölkerung so
hoch ist und warum es noch einmal mehr als 13 Millionen Menschen sind, die nur fehlerhaft lesen und schreiben können. Nicht erklärt werden kann auch, warum es
deutlich mehr Männer als Frauen unter den Betroffenen
gibt.
Wenngleich der Anteil der betroffenen Menschen
ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten, die
keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss und/
oder einen Migrationshintergrund haben, besonders
hoch ist, muss auch die Frage gestellt werden, warum
Analphabetismus auch bei Menschen mit höherem
Schulabschluss in beträchtlichem Maße auftritt?
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn aber diese Ursachen nicht hinreichend klar
sind, wird es schwer, wirksame und nachhaltige Gegenstrategien zu finden. Es gibt offensichtlich noch einen
erheblichen Forschungsbedarf.
Der Antrag der SPD allerdings zielt zunächst darauf,
die Symptome zu bekämpfen. Das ist ehrenwert und notwendig. Einige Dinge kommen mir dabei allerdings zu
kurz, bzw. ich würde sie ob ihrer Angemessenheit infrage
stellen.
Die erste und offensichtlich wichtigste Ursache liegt
in der Qualität der Schulbildung und der starken Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Situation
in den Familien. Wir wissen seit der ersten PISA-Studie,
dass die Lesefähigkeit der Schulabgängerinnen und
Schulabgänger zu wünschen übrig lässt. Damals wurde
mehr als 22 Prozent der Jugendlichen bescheinigt, nur
schlecht lesen zu können. Die damals 15-Jährigen sind
heute 25. Viele von ihnen dürften sich heute unter den
13 Prozent der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen
wiederfinden, die als funktionale Analphabeten gelten
müssen.
Wer nicht lesen und schreiben kann, ist in den Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
stark eingeschränkt, findet schwerer eine Arbeit, hat damit weniger Einkommen, kann den eigenen Kindern
nicht so gut helfen usf. So setzt sich ein Teufelskreis in
Gang, aus dem ganze Familien nicht mehr herauskommen. PISA 2009 bescheinigte noch immer 18 Prozent
schlechte Leserinnen und Leser. In den vergangenen
zehn Jahren ist in Schule und Gesellschaft zu wenig passiert, um hier Abhilfe zu schaffen. Wenn es diesen Zusammenhang zwischen der Qualität der Lesefähigkeit,
die in der Schule erworben wird, und der Zahl der Analphabeten gibt - und alles spricht dafür -, dann besteht
die Gefahr, dass sich der Teufelskreis fortsetzt. Wenn Analphabetismus in der Zukunft verringert werden soll,
dann darf man nicht nur die Symptome des eingetretenen Analphabetismus bekämpfen, sondern muss dort ansetzen, wo ein Großteil der Ursachen liegt: in der
Schule!
Dazu aber gibt es gerade einmal einen Punkt unter
insgesamt 21 im Antrag der SPD. Hier aber muss man
vor allem ansetzen, wenn Analphabetismus in der Zukunft spürbar verringert werden soll. Sonst hangelt man
sich auch künftig von Hilfsprogramm zu Hilfsprogramm.
Wir brauchen mehr Qualität in Schule, die ausfinanziert werden muss, und ausreichendes und gut ausgebildetes pädagogisches Personal auf allen Bildungsebenen. Ich verweise auf unsere diesbezüglichen Anträge.
Hinzu kommt das dringende Erfordernis, die soziale Situation der Familien zu verbessern. Geringes Einkommen
in sozial benachteiligten Familien beschneidet auch die
Möglichkeiten, Bildungs- und Kulturangebote überhaupt
in Anspruch zu nehmen. Zwar sucht die Bundesregierung
nun über das Bildungs- und Teilhabepaket, dem zumindestens für Kinder und Jugendliche entgegenzuwirken, aber
der gesamte Ansatz bleibt unbefriedigend und reicht auch
in der Summe nicht aus. Pikant ist in diesem Zusammenhang, dass der Bund in diesem Paket Mittel für Nachhilfe
über die Jobcenter zur Verfügung stellt, aber die Bundesagentur für Arbeit die Nachfrage des Bundesverbandes
Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach der Möglichkeit der Finanzierung von Alphabetisierungskursen
verneint hat. Es sei nicht Aufgabe der Grundsicherung für
Arbeitslose. Ja was denn nun? Nachhilfe bei schlechten
Lernleistungen in der Schule - ja, Förderung der Alphabetisierung für eine bessere Vermittlung am Arbeitsmarkt nein? Die Logik muss mir einer erklären!
Ein zweiter Kritikpunkt am SPD-Antrag: Wer Analphabeten den Schritt zum Lesen- und Schreibenlernen
erleichtern will, braucht niedrigschwellige Angebote,
die nicht stigmatisieren, die zugänglich und einladend
sind, auch wenn sich die Betroffenen nur wenig am gesellschaftlichen Leben beteiligen ({0}). Sie müssen
vielleicht auch über Umwege an die potenziellen Schülerinnen und Schüler gebracht werden.
Die Forderung, Menschen mit geringer Grundbildung im Betrieb ausfindig zu machen, halte ich auch bei
besten Absichten eher für schwierig. Vielmehr sehe ich
hier eine große Gefahr von Stigmatisierung, die dann
wieder zur Perfektionierung von Meidverhalten führen
kann, aus Angst sich zu outen oder bloßgestellt zu werden, möglicherweise die Arbeit zu verlieren.
Für sehr richtig und wichtig halten wir dagegen den
Aufbau eines öffentlich finanzierten Systems der Bildungsberatung, in dem geschultes Personal tätig ist und
ebenso praktische wie psychologische Hilfe leicht und
gebührenfrei gegeben werden kann.
Überhaupt muss es ein Recht auf solche, auch nachholende Angebote der Grundbildung geben, und sie
müssen öffentlich finanziert werden. Die grundlegende
Beherrschung der Kulturtechniken ist eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie darf keinem Menschen verwehrt werden.
Die Probleme des Analphabetismus sind lange bekannt. Abhilfe ist hier nicht in einem einmaligen Kraftakt und in kurzen Zeiträumen zu schaffen. Wenn man
aber nicht dort anfängt, wo die Hauptursache des Problems liegt, in der Schule und der sozialen Absicherung
von Menschen, wird es größer und auf künftige Generationen vererbt.
Mit der aktuellen leo-Level-One-Studie liegen nun
endlich zum ersten Mal nationale, belastbare und differenzierte Daten zur Literalität im Level-One-Bereich vor,
dem untersten Kompetenzniveau im Lesen und Schreiben. Die Ergebnisse der Studie, die uns seit Anfang März
vorliegen sind erschreckend: Die Zahl der funktionalen
Analphabeten in Deutschland ist doppelt so hoch wie
bisher angenommen. Bislang waren Experten von insgesamt vier Millionen funktionalen Analphabeten ausgegangen, in der Realität sind es jedoch 7,5 Millionen!
7,5 Millionen Menschen, deren schriftsprachliche Kompetenzen nicht ausreichen, um beispielsweise einfache
Texte zu verstehen oder zu verschriftlichen. 7,5 Millionen Menschen, deren Teilhabe am gesellschaftlichen,
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Hinz ({0})
sozialen Leben und an der Arbeitswelt massiv eingeschränkt ist, deren Lebensqualität tagtäglich darunter
leidet. Zwar sind 57 Prozent der Betroffen erwerbstätig,
doch häufig in sehr schlecht bezahlten Jobs. Ihr Arbeitsleben ist geprägt von inneren Ängsten sowie vom Zwang
zu vertuschen und vorzutäuschen.
Das Problem des Analphabetismus ist in Deutschland
lange Zeit nicht ausreichend im öffentlichen Bewusstsein gewesen. Ich begrüße es deshalb außerordentlich,
dass dieses Thema nun im Bundestag zur Diskussion
steht und die SPD mit ihrem Antrag viele wichtige
Punkte zur Verbesserung der Situation aufzeigt.
Die aktuelle Erkenntnisse belegen das Ausmaß des
Analphabetismus, die Dringlichkeit einer besseren Alphabetisierung und damit auch der Grundbildung in
Deutschland. Dies betrifft zum einen den primären Analphabetismus, bei dem Menschen aus verschiedensten
Gründen nicht in der Lage sind, sich Schriftsprache anzueignen, zum anderen die bereits erwähnte, weitaus
größere Gruppe, der funktionalen Analphabeten.
Wenn man sich die Zahlen nach Altersgruppen differenziert ansieht, besteht ebenfalls kein Grund zur Entwarnung. Zwar ist die Zahl der funktionalen Analphabeten bei der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen am
höchsten, doch finden sich auch bei den 18- bis 29-Jährigen fast 20 Prozent wieder. Auffällig ist weiterhin, dass
über 60 Prozent der funktionalen Analphabeten männlich sind.
Angesichts der immer höheren Anforderungen auf
dem Arbeitsmarkt werden die beruflichen Möglichkeiten
dieser Menschen immer geringer und ihre Perspektivlosigkeit wächst. Hier haben die Erwachsenenbildung und
die Volkshochschulen auch in Zukunft eine wichtige
Funktion. Notwendig ist es, die bereits 2003 von der vom
Bundesbildungsministerium geförderten Tagung gemeinsam mit den wichtigsten Akteuren der Alphabetisierungsarbeit formulierten „Bernburger Thesen“ mit voller Kraft umzusetzen und die bisher eingeleiteten
Maßnahmen zu evaluieren.
Ein besonderer Handlungsauftrag für die Politik liegt
in der erschreckenden Tatsache, dass die meisten dieser
funktionalen Analphabeten in Deutschland eine Schule
besucht haben und dort offenbar Lesen und Schreiben
nur unzureichend gelernt oder später wieder verlernt
haben. Wissenschaftler bestätigen den Verdacht, dass
viele der späteren Analphabeten in der Schulzeit nur
schlecht, aber zumindest hinreichend, lesen und schreiben können, dass diese Fähigkeit nach dem Verlassen
der Schule jedoch verkümmert, wenn sie nicht gepflegt
wird.
Um dem Entgegenzusteuern ist eine Bewusstseinsbildung in allen Bereichen des menschlichen Lebens vonnöten, um betroffene Personen zu ermutigen, sich dem
Problem zu stellen. Insbesondere den Kolleginnen und
Kollegen und Vorgesetzten im Betrieb fällt dabei eine
wichtige Aufgabe zu. Aber auch in anderen Bereichen
gilt es aufmerksam zu sein: So steigt beispielsweise die
Anzahl derjenigen, die sich die Fragen zur Fahrprüfung
lieber vorlesen lassen, als sie eigenständig zu bearbeiten.
In der Schule hat sich in letzten Jahren in Bezug auf
individuelle Förderung Vieles verbessert - die schwachen Schüler werden besser unterstützt, die Klassen sind
kleiner. Dennoch schafft es unser Bildungssystem offenbar immer noch nicht, allen Kindern und Jugendlichen
ein Mindestmaß an Bildung zu vermitteln. Professor
Grotlüschen, die die leo-Level-One-Studie durchgeführt
hat, bemängelt, dass es allein den Grundschulen überlassen wird, sich um die Basis des Lesens und Schreibens zu kümmern. Das sei ein falscher Ansatz, da einige
Kinder langsamer lernen und auch in der weiterführenden Schule Unterstützung benötigen.
Wir Grüne fordern seit Langem, die Lehreraus- und fortbildung so zu reformieren, dass die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer Bildungsbenachteiligung besser erkennen und abbauen können. Der nationale Bildungsbericht hat den Abbau von Chancenungleichheit als eine
Kernaufgabe für unser Bildungssystem eindrücklich bestätigt. Eine individuelle Bildungsplanung für jedes
Kind ist notwendig, um Defizite in der Lese- und Rechtschreibung frühzeitig zu erkennen. Hier ist zum einen
eine stärkere Vernetzung der Sonderpädagogik mit der
allgemeinen Pädagogik und eine größere Vernetzung
vor Ort zwischen den Einrichtungen, die Grundbildungskurse anbieten, und den allgemeinen und beruflichen Schulen vonnöten. Die Sprachförderung, nicht nur
für Kinder mit Migrationshintergrund, muss über die gesamte Bildungsbiografie systematisch fortgesetzt werden. Aber nicht nur die Schule muss den Förderbedarf
erkennen, auch das familiäre Umfeld kann etwas tun.
Durch regelmäßiges Vorlesen und das Beschäftigen mit
Büchern können Eltern schon im Kleinkindalter wichtige Grundlagen legen.
Wir brauchen eine politische und gesellschaftliche
Kraftanstrengung um die Zahl der funktionalen Analphabeten zu senken. Die Länder sollten sicherstellen,
dass in allen Regionen ausreichend Plätze für Alphabetisierungskurse zu Verfügung stehen, die Bundesregierung fordern wir auf, ihre Alphabetisierungsprogramme
zu intensivieren, Lehrer- und Lehrerinnen, Betriebe und
Ehrenamtliche in Vereinen müssen auf das Problem hingewiesen werden und ermutigt werden, einzugreifen.
Deutschland hat auch im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen einen wichtigen
Beitrag zu leisten. Ziel der Dekade ({1}) ist
es, die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, weltweit zu halbieren.
Der von der Bundesregierung angekündigte Grundbildungspakt kommt reichlich spät und ist in seiner Ausgestaltung ähnlich unkonkret und unverbindlich, wie der
Ausbildungspakt. Die Zahlen über die Risikogruppe von
Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlässt,
sind seit vielen Jahren bekannt und liegt mit 7,5 Prozent
auf einem nicht zu akzeptierenden Level. Auch bei der
Lesekompetenzvermittlung in der weiterführenden
Schule gibt es nach wie vor großen Handlungsbedarf,
das haben die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre eindrücklich bewiesen. Die Schülerinnen und Schüler in
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Hinz ({2})
den weiterführenden Schulen werden häufig bei einer
Leseschwäche nicht ausreichend gefördert und drohen
im weiteren Bildungsverlauf abgehängt zu werden. Es
fehlt vielerorts an dem Bewusstsein, dass nicht alle Kinder diese Kompetenzen bereits in der Grundschule erworben haben. Doch die Nationale Qualifizierungsinitiative hat bisher leider zu keinen Verbesserungen geführt
und ist auch in anderen Bereichen eine Enttäuschung:
Wie der Umsetzungsbericht „Aufstieg durch Bildung“
zeigt, ist nach zwei Jahren erschreckend wenig passiert.
Es werden Bestandsaufnahmen gemacht, Listen ausgefüllt, aber mehr passiert nicht.
Wir fordern, dass Bund und Länder endlich initiativ
werden um gemeinsam Programme zur Bekämpfung des
Analphabetismus zu erarbeiten und umzusetzen. Für ein
westliches Industrieland wie Deutschland sollte der Abbau von Bildungsbenachteiligung und die Bekämpfung
und Prävention von Analphabetismus ein Kernanliegen
sein.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5914 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Adulte Stammzellforschung ausweiten, Forschung in der regenerativen Medizin voranbringen und Deutschlands Spitzenposition
ausbauen
- Drucksachen 17/908, 17/3618 Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
Dr. Martin Neumann ({1})
Priska Hinz ({2})
Die adulte Stammzellforschung und die regenerative
Medizin befinden sich zum überwiegenden Teil noch in
der Grundlagenforschung. Bis es zu einer Anwendung
im klinischen Bereich kommt, ist es noch ein weiter Weg.
Die Bundesregierung hat die Potenziale der adulten
Stammzellforschung zweifelsohne längst erkannt. So hat
das Bundesministerium für Bildung und Forschung die
finanziellen Mittel zur Förderung sukzessive erhöht. Im
Jahr 2005 ist die Stammzellforschung mit 1,4 Millionen
Euro, 2009 mit 4,8 Millionen Euro, 2010 mit 9,1 Millionen Euro gefördert worden. Für 2011 ist eine weitere
Steigerung auf 10,6 Millionen Euro vorgesehen. In Anbetracht der angespannten Haushaltslage meine ich,
dass wir uns hier mehr als großzügig erweisen. Somit
halten wir den Antrag der SPD-Fraktion für reichlich
übertrieben, hier noch mehr Forschungsgelder zu investieren.
Der Antrag der SPD-Fraktion erweckt in mir den
Eindruck, dass die Realitäten nicht erkannt werden
wollen. Ein „Fortpflanzungsmedizingesetz“ zu fordern
geht an der Realität vorbei, denn dafür sind die rechtlichen Regelungen bereits im Embryonenschutzgesetz
aufgeführt, und Fragen der regenerativen Medizin sind
ausführlich in vier weiteren Gesetzen geregelt und zwar
im Arzneimittelgesetz, im Medizinproduktegesetz, im
Transplantationsgesetz und im Transfusionsgesetz. Seit
1997 gibt es das ELSA-Programm zur Erforschung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte in den Lebenswissenschaften.
Warum verlangt hier die SPD-Fraktion erneut ein Begleitprogramm? Sie kritisieren, dass es zu viele kommerzielle Nabelschnurblutbanken gibt. Auch das entspricht
nicht den Tatsachen. Es sind gerade mal drei kommerzielle. Fünf öffentliche und drei öffentlich-private Nabelschnurblutbanken zeigen ein anderes Bild. Die nicht
kommerziellen befinden sich vor allem an Unikliniken.
Geld zu investieren, um eine öffentliche Nabelschnurblutbank zu schaffen, wäre somit verschleudertes Kapital.
Ihr Antrag enthält zu viele Forderungen und Prüfungen, die einerseits schon längst erfüllt sind und somit
nicht mehr aktuell und andererseits auch entbehrlich
sind. Hierzu zählt beispielsweise die Einrichtung eines
Zentrums für klinische Studien in der regenerativen Medizin. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass die
klinischen Studien dezentral und multizentrisch durchzuführen sind, und zwar dort, wo die entsprechenden
fachlichen Kompetenzen und die Rahmenbedingungen
vorhanden sind.
Im Übrigen wurde von verschiedenen Gremien bereits bestätigt, dass die derzeitigen Mittel, die der Bund
zur Verfügung stellt, den Anforderungen im vollem Umfang gerecht werden. Dies könnte die Opposition zur
Kenntnis nehmen. Wir sind auf dem Laufenden. Sollten
sich Veränderungen im Bereich der adulten Stammzellforschung ergeben, werden wir uns entsprechend beraten. Seien Sie versichert, dass auch wir große Hoffnung
auf diese Forschung setzen, birgt sie doch das Potenzial,
Menschen mit Behinderungen und/oder schweren
Krankheiten zu therapieren.
Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion, Drucksache 17/908, hat zum Ziel, die Forschung mit adulten
Stammzellen und die regenerative Forschung weiter
auszuweiten und insbesondere den Wissenstransfer in
die Wirtschaft zu verbessern. Die positive Einschätzung
der Potentiale der adulten Stammzellen und der regenerativen Forschung, die diesem Antrag zugrunde liegt,
teile ich.
Bevor man jedoch Maßnahmen zur Erreichung bestimmter Ziele formuliert, ist es unabdingbar, den aktuellen Istzustand richtig darzustellen, weil man sonst zu
falschen Schlussfolgerungen gelangt. Der vorliegende
Antrag gibt jedoch kein zutreffendes Bild der Förderungsrealität im Bereich der Stammzellforschung und
der regenerativen Medizin wieder. Die in ihm formulierten Forderungen sind in weiten Teilen bereits erfüllt
oder entbehrlich. Aus diesem Grund ist der Antrag abzulehnen. Dies möchte ich an einigen Punkten deutlich
machen.
Die Erhaltung der Gesundheit ist eine der größten
Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. Die
regenerative Medizin lässt auf effiziente Therapieansätze hoffen, auch für bislang schwer oder gar nicht zu
behandelnde Krankheiten. Dabei spielt das Verständnis
der Zell-, Gewebs- und Organfunktionen sowie die Nutzung der körpereigenen, natürlichen Selbstheilungskräfte eine entscheidende Rolle. Hierin liegt ein wichtiger Paradigmenwechsel von der symptomatischen
Behandlung hin zu einer Ursachenbehebung. Die
Stammzellforschung als Grundlagenwissenschaft der regenerativen Medizin spielt in diesem Zusammenhang
eine wichtige Rolle.
Auch wenn sich die regenerative Medizin noch überwiegend im Bereich der Grundlagenforschung bewegt,
gibt es erste Anwendungen, zum Beispiel bei der Regeneration von Haut oder Knorpel sowie bei der Behandlung von He