Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich die anwesenden 350 amerikanischen Stipendiatinnen und Stipendiaten des Parlamentarischen Patenschafts-Programms sowie Vertreter der
deutschen und amerikanischen Austauschorganisationen auf den Tribünen herzlich begrüßen. Diese jungen Amerikanerinnen und Amerikaner bilden bereits den
27. Jahrgang des PPP und besuchen zum Ende ihres einjährigen Aufenthaltes in Deutschland zurzeit Berlin und
heute den Deutschen Bundestag.
Das Parlamentarische Patenschafts-Programm wurde
1983 vom Bundestag und dem amerikanischen Kongress
vereinbart, und seitdem sind fast 20 000 junge Stipendiaten jeweils für ein Jahr in das Partnerland gereist. In
Gastfamilien und im unmittelbaren Kontakt mit den Mitschülern oder den Arbeitskollegen lernen die Stipendiaten, was unsere Länder gesellschaftlich, kulturell und
politisch verbindet. Dieser Jugendaustausch fördert das
gegenseitige Verständnis und trägt dazu bei, die Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika weiter zu
stärken.
Sie, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, sind
schon in jungen Jahren aufgebrochen, um außerhalb des
eigenen Landes Erfahrungen zu sammeln, von anderen
zu lernen und quasi als „junge Botschafter“ ihr Land auf
der anderen Seite des Atlantiks zu vertreten. Ich wünsche Ihnen im Namen des ganzen Bundestages weiterhin
einen interessanten Aufenthalt in Deutschland und eine
erfolgreiche Zukunft und wünsche mir, dass Sie Botschafter der deutsch-amerikanischen Freundschaft sein
mögen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Tagesordnung.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 26 und 28 zu tauschen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Verteidigung
zur Neuausrichtung der Bundeswehr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun der Bundesminister der Verteidigung, Thomas
de Maizière.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Neuausrichtung der
Bundeswehr hat begonnen. In der vergangenen Woche
habe ich die Eckpunkte dafür und neue Verteidigungspolitische Richtlinien vorgestellt und ausführlich begründet. Am Mittwoch haben wir meine Entscheidungen
und Überlegungen in den Verteidigungsausschüssen des
Bundestages und des Bundesrates diskutiert. Das werden
wir sicher auch weiter tun. Der richtige Ort für die öffentliche Diskussion über die Neuausrichtung der Bundeswehr ist aber natürlich das Plenum des Deutschen
Bundestages. Deshalb bin ich für die Möglichkeit dankbar, mit der heutigen Regierungserklärung und der
gleich folgenden Aussprache die sicherheitspolitische
Debatte in dieses Hohe Haus zu führen.
Wir brauchen diese politische Diskussion; denn ich
bin davon überzeugt: Die Neuausrichtung der Bundeswehr geht nicht nur die Bundeswehr an. Gerade eine Armee ohne Wehrpflicht braucht die öffentliche Debatte
über sie, und sie braucht öffentliche Unterstützung für
die Nachwuchsgewinnung und für die Einsätze.
Die Bundeswehr hat seit ihrer Gründung 1955 einen
wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Friedens in Freiheit im geteilten Deutschland geleistet, aber auch zum
Frieden in Europa und in der Welt.
Redetext
({0})
Sie hat auch das Bild eines weltoffenen und seiner Verantwortung bewussten Deutschland mitgeprägt. Dafür
war es von Zeit zu Zeit immer wieder notwendig, die
sich ändernden Herausforderungen für unsere Sicherheit
neu zu bewerten und den Auftrag der Bundeswehr entsprechend neu zu definieren. Jetzt ist es wieder notwendig.
Unsere Bundeswehr ist jetzt so auszurichten, dass sie
für die erkennbaren sicherheitspolitischen Herausforderungen von heute gewappnet ist, aber auch für die noch
nicht klar erkennbaren Herausforderungen von morgen so gut es eben geht. Dieses Ziel verbindet uns alle. Es ist
eine gute Tradition, dass wir zu den grundlegenden Entscheidungen zur Sicherheitspolitik ein großes Einvernehmen zwischen Regierung und Opposition hatten und
haben. Ich will mich auch jetzt darum bemühen - und
habe es bereits getan.
Meine Damen und Herren, die Verteidigungspolitischen Richtlinien sind der Ausgangspunkt für die Neuausrichtung. Die Organisation der Bundeswehr folgt
ihrem Auftrag und nicht umgekehrt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien formulieren die sicherheitspolitischen Zielsetzungen und die langfristigen Sicherheitsinteressen Deutschlands deutlich und in klarer Sprache.
Auf dieser Grundlage werden die Aufgaben der Bundeswehr festgelegt. Unsere nationalen Interessen wahren,
internationale Verantwortung übernehmen und die Sicherheit gemeinsam gestalten - das ist der Anspruch an
unsere Politik und an unsere Bundeswehr.
Eigentlich sollte es inzwischen eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir uns über unsere nationalen Interessen im Klaren sind und sie offen vertreten. Es sollte
ebenso selbstverständlich sein, dass wir in den internationalen Organisationen - in den Vereinten Nationen, in
unserem nordatlantischen Bündnis, in der Europäischen
Union - die internationale Verantwortung übernehmen,
die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man
von uns erwartet. Das ist mehr, als es bisher in Deutschland bekannt oder wohl auch akzeptiert ist.
({1})
Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich
aus unserer Geschichte, unserer geografischen Lage, den
internationalen Verflechtungen unseres Landes und unserer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland
und rohstoffarme Exportnation. Auch Bündnisinteressen
sind meist zugleich unsere nationalen Sicherheitsinteressen. Sicherheit für unser Land zu gewährleisten, bedeutet heute insbesondere, Auswirkungen von Krisen und
Konflikten möglichst auf Distanz zu halten und sich aktiv an deren Vorbeugung und Einhegung zu beteiligen.
Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur
Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente im Rahmen des Völkerrechts einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von
Streitkräften.
({2})
Militärische Einsätze ziehen weitreichende Folgen
nach sich, auch politisch. Das muss man vor jedem Einsatz bedenken. Auch das Ende muss man bedenken. Daher ist in jedem Einzelfall eine klare Antwort auf die
Frage notwendig, inwieweit die unmittelbaren oder mittelbaren Interessen Deutschlands oder eben auch die
Wahrnehmung internationaler Verantwortung den jeweiligen Einsatz erfordern und rechtfertigen, aber auch,
welche Folgen die Entscheidung hat, nicht an einem Einsatz teilzunehmen. Wir bleiben dabei zurückhaltend und
verantwortungsvoll - in jede Richtung.
Unsere Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen sind hervorragende Repräsentanten unseres Landes. Sie sind gerade auch mit ihrer Uniform sichtbarer
Ausdruck der Tatsache, dass wir unseren Beitrag zu
Frieden und Sicherheit in der Welt leisten.
({3})
Im Grundgesetz steht:
Eigentum verpflichtet.
Das ist, wenn Sie so wollen, die Kurzformel für die soziale Marktwirtschaft. Auf die internationale Politik
übertragen, heißt das: Wohlstand verpflichtet. Daraus erwachsen auch internationale Verantwortung und Solidarität, und das kann auch heißen: Beteiligung an internationalen Einsätzen aus internationaler Verantwortung.
Wir haben den Anspruch, ein souveräner, starker und
verlässlicher Partner im Bündnis, in Europa und in der
Welt zu sein.
({4})
Wir erfüllen diesen Anspruch. Das umfassende Engagement der Bundeswehr etwa im Kosovo steht beispielhaft
dafür, dass es Deutschland mit seiner internationalen
Verantwortung ernst meint. Durch den vernetzten Einsatz von zivilen und militärischen Mitteln haben wir den
Menschen auf dem Balkan nicht nur Frieden gebracht,
sondern tragen wir auch weiterhin zur Stabilität der Region bei. Der Einsatz im Kosovo zeigt, wie wichtig es
ist, Streitkräfte zum richtigen Zeitpunkt und in geeigneter Weise zum Einsatz zu bringen.
Die Wahrung unserer nationalen Interessen und die
Wahrnehmung unserer internationalen Verantwortung ist
nicht eine Aufgabe für die Bundeswehr alleine. Der Einsatz von Streitkräften muss nicht immer als zeitlich letztes Mittel erfolgen. Er darf aber immer nur dann erfolgen, wenn es keine geeigneteren Mittel gibt, um den
Einsatzauftrag zu erfüllen.
Das Konzept der vernetzten Sicherheit setzt konsequent auf einen ressortgemeinsamen Einsatz. Wer zur internationalen Sicherheit beitragen will, kann dies nur,
wenn die Instrumente richtig aufgestellt sind und ineinandergreifen. Wer etwa einen von inneren Konflikten
geschundenen Staat stabilisieren will, kann nicht in erster Linie nur Soldaten einsetzen, sondern muss vielmehr
auch Entwicklungshelfer, Lehrer, Richter und PolizeiDr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
ausbilder sowie Wirtschaftsförderer zum Einsatz bringen.
Als ich in New York war, hat mich der Satz eines UNBotschafters eines großen Staates sehr bewegt, der gesagt hat: Wir bekommen heutzutage in der Welt in ein
Krisengebiet leichter zwei schwere Kampfbataillone als
zehn Richter. - Denken wir einmal über diesen Satz
nach, darüber, was dies eigentlich bedeutet und ob wir
nicht, was vernetzte Sicherheit angeht, noch etwas weiter denken müssen.
Über die Mandate der Bundeswehr entscheidet der
Deutsche Bundestag. Wer einen Auftrag erteilt und ein
entsprechendes Mandat beschließt, der übernimmt Verantwortung. Verantwortung zu tragen, heißt dann auch
Mitsorge und Fürsorge für die Bundeswehr, ihre zivilen
Mitarbeiter und die Soldaten. Die verfassungsrechtlich
gebotene Einbindung des Deutschen Bundestages für die
Entscheidung über den Einsatz deutscher Streitkräfte
bleibt wichtig. Sie stärkt auch die Soldaten im Einsatz.
Zu speziell oder zu eng sollten die Mandate allerdings
nicht formuliert sein. Die Soldaten vor Ort müssen lageangepasst verantwortlich entscheiden können.
Ziel der Neuausrichtung ist es, dass wir über eine leistungsfähige Bundeswehr verfügen, die der Politik ein
möglichst breites Spektrum an Handlungsoptionen bietet
und mitten in der Gesellschaft verankert bleibt. Die Aufgaben der Bundeswehr sind vielfältig: die Landes- und
Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO, die internationale Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung im
Rahmen der Vereinten Nationen, die militärische Beteiligung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der Europäischen Union, die Rettung und Evakuierung deutscher Staatsbürger einschließlich der Geiselbefreiung im Ausland, Einsätze im
Rahmen der humanitären Hilfe sowie Unterstützung bei
heimischen Katastrophen und Heimatschutz. Das ist ein
breites Aufgabenspektrum.
Krisen und Konflikte unterscheiden sich in ihren Anforderungen und treten meist kurzfristig und leider oft
unvorhergesehen auf. Um sie eindämmen und lösen zu
können, müssen wir in der Lage sein, auch über große
Distanzen hinweg schnell und variabel einzugreifen. Ein
dem entsprechendes Fähigkeitsprofil können unsere
Streitkräfte jedoch heute noch nicht vorweisen.
Die Bundeswehr ist zudem strukturell unterfinanziert
für die Aufgaben, die ihr gestellt sind. Sie verfügt nicht
über ausreichende Mittel, nicht über ausreichende Fähigkeiten und nicht über optimale Führungsstrukturen, um
ihre Aufgaben effizient zu erfüllen. Unser Ziel ist deshalb eine Bundeswehr, die ihren Auftrag mit den Mitteln, die sie hat, erfüllen kann, eine Bundeswehr, die
nachhaltig finanziert ist, und eine Bundeswehr, deren
Personalplanung demografiefest ist, also Rücksicht
nimmt auf das, was an Menschen da ist.
Wir setzen auf ein breites Fähigkeitsprofil der Bundeswehr. Das neue Fähigkeitsprofil gibt eine Antwort
auf die Frage, was wir können wollen, nachdem die Sicherheitspolitik die Antwort auf die Frage gegeben hat,
was wir wollen können.
Es ist unsere nationale Zielvorgabe, langfristig zeitgleich rund 10 000 Soldatinnen und Soldaten in zwei
großen und in mehreren kleineren Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements bereitstellen zu können. Das nennt man den internationalen „Level of
Ambition“. Für den Schutz der Heimat halten wir ausreichend Kräfte bereit. Zusätzlich setzen wir auf unsere
Reservisten. Ihre Aufgabe wird wichtiger denn je. Insgesamt soll die Bundeswehr künftig über eine Personalstärke von bis zu 240 000 Angehörigen verfügen, davon
bis zu 185 000 Soldaten und 55 000 zivile Mitarbeiter.
Zur Zahl der Soldaten. Wir planen 170 000 Berufsund Zeitsoldaten ein, plus rund 5 000 freiwillig Wehrdienstleistende. Es können bis zu 10 000 weitere freiwillig Wehrdienstleistende hinzukommen. Sie kennen die
Formel, die ich in der letzten Woche so zusammengefasst habe: 170 plus 5 plus x. Ich freue mich, wenn über
die 5 000 eingeplanten weitere 10 000 freiwillig Wehrdienstleistende hinzukommen. Aber ich möchte mit
Blick auf die Bevölkerungsentwicklung lieber sicher
planen und Erwartungen übertreffen, als Erwartungen
nicht erfüllen.
Auch das Ministerium ordnen wir neu. Wir straffen
Hierarchieebenen, verringern die Zahl der Ministeriumsmitarbeiter von jetzt über 3 000 auf dann nur noch rund
2 000. Damit wir diese Ziele erreichen, müssen wir
gleichzeitig Personal halten, Personal gewinnen und Personal abbauen. Das wird nicht leicht. Das erfordert neue
Ansätze und Ideen in der Nachwuchsgewinnung, beim
Personalumbau und auch beim Personalabbau. Das gilt
umso mehr mit Blick auf die Tatsache, dass wir gleichzeitig den Umbau zu einer reinen Freiwilligenarmee zustande bringen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neuausrichtung
der Bundeswehr beginnt. In den nächsten sechs bis acht
Jahren wird sich die Bundeswehr stärker verändern, als
dies vielen heute vielleicht schon bewusst ist. Wir wollen, dass die Hauptveränderungen in den nächsten zwei
Jahren stattfinden werden.
Die Bundeswehr setzt alles daran, ihre starke Bindung
in die Gesellschaft auszubauen. Dazu setzen wir auch
auf unsere Reservisten als Staatsbürger in Uniform. Das
Angebot des freiwilligen Wehrdienstes ist nur ein Beispiel dafür, dass auch die neue Bundeswehr das vertritt,
was unsere Soldatinnen und Soldaten heute schon auszeichnet: die Bereitschaft zum Einsatz für andere und die
Bereitschaft zum Dienst für unser Land als Staatsbürger
in Uniform.
Vergessen wir nicht: Während wir hier in Berlin über
die Neuausrichtung der Bundeswehr diskutieren, erfüllen Soldaten der Bundeswehr gleichzeitig weiterhin die
bestehenden Einsatzverpflichtungen - in Afghanistan,
im Libanon, auf dem Balkan, in Afrika und an anderen
Orten weltweit. Diese Einsätze und das Tagesgeschäft
können nicht ruhen, während wir die Neuausrichtung der
Bundeswehr planen. Auch das muss gleichzeitig erfolgen.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten bei der Erfüllung der von uns erteilten Mandate einen hervorragenden Dienst, häufig unter Einsatz ihres Lebens und
Gefahren für ihre Gesundheit. Heute gedenken wir deswegen besonders des vor zwei Tagen gefallenen Kameraden und seiner Angehörigen.
Meine Damen und Herren, dass unsere Streitkräfte
vollumfänglich in der Lage sind, zu kämpfen, ist auch
die Maßgabe dafür, ob unsere Bundeswehr einsatzbereit
ist. Die Einsatzbereitschaft unserer Bundeswehr wiederum ist die Maßgabe dafür, ob wir als Deutscher Bundestag unserer Verantwortung nachkommen - gegenüber
den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes und
gegenüber den Freunden und Partnern in der Welt.
Die Umsetzung beginnt. Der Grund ist gelegt. Die
Feinplanung ist in Arbeit. Im Herbst lege ich die Details
zu den Fähigkeiten der Bundeswehr im Einzelnen, zum
neuen Personalsoll und das Stationierungskonzept vor.
Mit der Verabschiedung des Haushalts in diesem
Sommer besteht dann auch im Detail Klarheit über die
Finanzierung.
Wir können diesen Auftrag am besten erfüllen, wenn
wir ihn gemeinsam wahrnehmen: Bundesregierung,
Deutscher Bundestag, Bundesrat und die deutsche Öffentlichkeit. Die Bundeswehr reicht der Öffentlichkeit
die Hand. Ich hoffe, dass die Öffentlichkeit diese Hand
annimmt und gemeinsam daran arbeitet, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr gelingt. So dienen wir
Deutschland, so schützen wir die Menschen in unserem
Land, so sorgen wir für unsere Sicherheit.
Vielen Dank.
({5})
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Rainer Arnold für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen!
Herr Minister, es ist gut, dass mit Ihrer Amtsübernahme
ein Stück weit Vernunft und Sachlichkeit in die Arbeit
zurückgekehrt sind. Seither wird noch deutlicher, wie
oberflächlich vor Ihrer Amtsübernahme leider monatelang mit dem ernsten Thema Bundeswehr umgegangen
wurde.
({0})
Hier geht es für uns um etwas ganz Wichtiges: Parlamentsarmee bedeutet, dass sich alle Fraktionen, Regierungskoalition und Opposition, der gemeinsamen Verantwortung für die Soldaten stellen, die wir miteinander
in gefährliche und schwierige Einsätze entsenden. Diese
gemeinsame Verantwortung wird gerade auch in diesen
Tagen sehr deutlich, wenn wir an die Familie denken, die
ihren Sohn verloren hat, und an die anderen Familien,
die hoffen, dass ihre Kinder bald wieder genesen.
Die Bundeswehr leistet eine gute Arbeit. Wir sollten
bei der Reformdebatte nicht so tun, als ob man mit allem
neu beginnen müsste. Bei der Bundeswehr gibt es viel
Vernünftiges; es ist ein Niveau, das sich im Vergleich zu
unseren internationalen Partnern wirklich sehen lassen
kann. Trotzdem ist es richtig: Es muss immer wieder neu
bedacht werden, inwieweit sich die Welt verändert hat
und die Herausforderungen, auch für die Truppe, neue
und andere sind. Wir wissen aber auch: Die Debatte der
letzten Monate dauert eigentlich schon ein wenig zu
lang; sie schlägt natürlich auch auf die Motivation der
Soldaten durch, die jetzt dringend Klarheit für sich und
ihre Familien brauchen.
Herr Minister, ich finde es gut, dass Sie hier eine Debatte über nationale Interessen und die Legitimation von
Einsätzen führen. Wir nehmen daran gerne teil. Ich
glaube, das ist in Deutschland in der Vergangenheit zu
kurz gekommen. Dazu gehört aber noch etwas anderes:
Es muss deutlich werden, dass Sicherheitspolitik und
Verantwortung für die Streitkräfte eben nicht nur Sache
der Verteidigungspolitik sind, sondern die gesamte Regierung hier in der Verantwortung steht. Wenn man genau zugehört hat, hatte man den Eindruck: Vieles von
dem, was Sie gesagt haben, ist eigentlich Aufgabe des
Außenministers. Es wäre auch Aufgabe der Kanzlerin, in
den internationalen Organisationen das Gewicht Deutschlands einzubringen und Prozesse anzustoßen. Dazu ist
diese Regierung in den letzten Monaten leider in keiner
Weise in der Lage gewesen.
({1})
Wenn wir über die Legitimation von Einsätzen reden,
ist es sicherlich richtig: Deutschland hat als wirtschaftsstarkes Land eine ethische Verantwortung. Es kann nicht
einfach zuschauen, wenn in der Welt Völkermord stattfindet - das ist richtig -, und natürlich haben wir wohlverstandene Stabilitätsinteressen. Das bedeutet allerdings auch, dass man nicht immer Ja sagt, und das
bedeutet, dass man sich vor dem Hintergrund dieser Stabilitätsinteressen insbesondere der Umbruchsituation im
nördlichen Afrika in anderer Art und Weise stellt, als die
Bundesregierung dies in den letzten Wochen getan hat.
Natürlich kann man auch über wohlverstandene Wirtschaftsinteressen reden. Das heißt nicht, dass sie gegen
andere gerichtet sind, sondern das bedeutet vielmehr:
Stabilität als Voraussetzung für fairen Handel, von dem
die Menschen in Deutschland, aber auch in den Ländern,
mit denen wir handeln, große Vorteile haben. Das ist damit gemeint. Dann ist das auch in Ordnung.
Sie haben etwas Neues hinzugefügt. Sie haben gesagt:
Dieses reiche Land muss möglicherweise auch ohne unmittelbare Interessen agieren. - Ja. Ich glaube aber nicht,
dass Deutschland in diesen Fällen keine Interessen hat.
Deutschland hat ein Interesse daran, internationale Prozesse wirklich gestalten zu können. Auch das ist ein
wohlverstandenes Interesse. Erinnern wir uns daran,
dass wir Soldaten nach Osttimor geschickt haben. Osttimor liegt nicht vor unserer Haustür. Damals hatten wir
großes Interesse an der Beilegung des Konfliktes. Es
muss weiterhin unser Ziel sein, die Idee der Vereinten
Nationen zu stärken, dass das Gewaltmonopol ausDr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
schließlich bei den Vereinten Nationen liegt. Deshalb
war der Einsatz in Osttimor legitim. Das ist eine richtige
und sinnvolle Debatte.
Es gibt noch ein paar weitere positive Dinge, die ich
nennen möchte, bevor ich zu der eigentlichen Oppositionsaufgabe komme und die kritischen Punkte herausstelle. Herr Minister, Sie haben sich die Struktur des
Ministeriums genau angeschaut und ein paar gravierende
Fehler, die Ihr Vorgänger begangen hat, korrigiert. Das
ist in Ordnung. Wenn in einem Ministerium manche
Dinge nicht gut laufen, liegt das meistens nicht an den
Mitarbeitern, sondern an den Strukturen, die Politik vorgegeben hat und die sie selbstverständlich auch wieder
ändern kann. Wir unterstützen Sie auf dem Weg, die Entscheidungsprozesse im Ministerium zu straffen.
Zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Was hat
sich in der Welt eigentlich verändert? In den letzten
zwei, drei Jahren doch nicht so viel. Deshalb enthalten
die Verteidigungspolitischen Richtlinien auch nicht so
viel Neues; Sie brechen vielmehr das Weißbuch der alten
Bundesregierung auf die Verteidigungspolitischen Richtlinien herunter. Geändert hat sich eigentlich nur, dass wir
erkannt haben: Der Einsatz in Afghanistan ist viel
schwieriger, als wir uns das am Anfang vorgestellt haben. Ebenfalls geändert hat sich, dass die Schuldenbremse uns alle zwingt, ein Stück weit auf die Haushaltssituation zu achten.
Die Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen aber
auch ein Defizit auf. Bisher war die Feststellung, dass
Deutschland im Rahmen der internationalen Politik Motor der Rüstungskontrolle und Abrüstung ist, ein wichtiger Punkt in den VPR. Wir finden es sehr bedauerlich,
dass sich das in dem neuen Buch nicht wiederfindet.
({2})
Aus den Verteidigungspolitischen Richtlinien kann der
Umfang der Streitkräfte nicht abgeleitet werden. In
Wirklichkeit beinhaltet diese Reform nichts anderes als
die Aussetzung der Wehrpflicht und eine deutliche Reduzierung des Personalkörpers. Dies steht bis zum heutigen Tag im Mittelpunkt der Reform.
Diese Reform ist auch nicht in erster Linie sicherheitspolitisch getrieben; sie ist nun mal fiskalisch getrieben. Dies war der Auslöser. Herr Minister, Sie sind in
eine Falle getreten, die Sie selbst mit aufgestellt haben.
Die Bundeswehr hat entsprechend der laufenden Haushaltsplanung von Jahr zu Jahr Sparmaßnahmen im Umfang von 700 Millionen Euro zu erbringen. Hinzu kommen Preissteigerungen und Betriebskostensteigerungen.
Dann hat diese Regierung gesagt: Wir müssen auf das
bereits geplante Sparvolumen noch einmal 8,3 Milliarden Euro draufsatteln. - Herr Minister, Sie haben dem
zugestimmt. Ich sage Ihnen: Das ist eine Luftbuchung.
Das ist angesichts dessen, was Sie vorsehen, überhaupt
nicht realisierbar. Vor allen Dingen finde ich es nicht in
Ordnung, dass Sie dieses Problem der nächsten Bundesregierung vor die Tür legen;
({3})
denn erst dann werden die Probleme deutlich zutage treten.
Herr Minister, Sie haben ein zweites Problem. Am
letzten Mittwoch haben Sie die Erwartung geweckt, Sie
würden die Öffentlichkeit und die Soldaten endlich darüber informieren, wie Sie das fiskalische Loch auffüllen
wollen. Darauf haben alle gewartet. Ihre erste Reaktion
aber war, zu sagen: Ich verstehe mich gut mit dem
Finanzminister. - Das ist prima, das glauben wir Ihnen
auch. Ihre zweite Antwort war: Das regeln wir in der
Haushaltsdebatte. - Das regeln wir jedes Jahr in der
Haushaltsdebatte, das ist etwas ganz Normales. Sie kommen nicht weiter, weil Sie einen Koalitionspartner haben, dem Sparen um jeden Preis wichtiger ist als eine
verantwortungsvolle Sicherheitspolitik, und zwar deshalb, weil Steuersenkungen nach wie vor im Mittelpunkt
der FDP-Politik stehen.
({4})
Wenn jetzt einige Kollegen von der CSU schreien, muss
ich Sie daran erinnern: Sie dürfen nicht klagen, dass
Standorte geschlossen werden, wenn Sie gleichzeitig der
Auffassung sind, dass die Senkung der Steuern für Ihre
Hoteliers in Bayern wichtiger ist als eine seriöse Finanzausstattung der Bundeswehr.
({5})
Herr Minister, unsere Erwartung ist: Finanzieren Sie die
Bundeswehrreform seriös. Wenn dies nicht gelingt, werden die Soldaten kein Vertrauen in weitere Reformschritte haben, und ohne Vertrauen werden Sie die notwendige Motivation nicht erzeugen können.
Lassen Sie mich auch etwas zum Umfang der
Bundeswehr sagen, Herr Minister. Sie sprachen von
170 000 Zeit- und Berufssoldaten. Das ist knapp, das ist
auf Kante genäht. Ich glaube, das wissen alle. Aber wir
können da mitgehen - allerdings unter einer Voraussetzung: Die Zahl muss eindeutig und klar sein. Dahin gehend bitten wir Sie um Korrektur. Sie beziehen bei den
170 000 Zeit- und Berufssoldaten auch die Reservisten
ein, ohne auszuweisen, um wie viele Zeit- und Berufssoldaten bzw. Reservisten es sich dabei handelt. Das entspricht eigentlich nicht Ihrer sonstigen Vorgehensweise.
Unsere Bitte ist, bei den 170 000 Zeit- und Berufssoldaten, wie bisher, die Reservisten getrennt auszuweisen,
und zwar mit Dienstposten. Das ist notwendig und wäre
auch richtig.
Herr Minister, Sie sprachen davon, dass die Bundeswehr mitten in der Gesellschaft bleiben soll. Ja, das ist
unser gemeinsames Anliegen und entspricht unserem
Bild von Streitkräften in der Demokratie. Dazu braucht
die Bundeswehr nicht nur eine große Zahl von Köpfen,
sondern sie braucht vor allen Dingen die richtigen Menschen bei den Streitkräften. Das ist die große Herausforderung.
Hier machen Sie einen weiteren Fehler, Herr Minister.
Es gab die richtige Idee, mit der Aussetzung des Wehrdienstes einen freiwilligen Wehrdienst einzuführen. Damit könnte es uns wie bisher gelingen, die gesamte gesellschaftliche Breite anzusprechen und junge Menschen
aus allen sozialen Schichten für die Bundeswehr zu gewinnen. Die Zahlen sehen im Augenblick eher positiv
aus. Da hatten Sie im Verteidigungsausschuss recht, Herr
Minister; wir haben uns von den Zahlen überzeugt. Bei
den jungen Menschen ist die Bereitschaft für den Freiwilligendienst vorhanden. Leider wird dieses Projekt
von der Regierung in der ganzen Breite der Jugendfreiwilligendienste, von der Bundeswehr bis hin zum sozialen Bereich, völlig unengagiert und uninspiriert angegangen. Den jungen Menschen wird lediglich ein
liebloser Brief bzw. ein Flyer zugeschickt. Das reicht
nicht aus. Es muss ein Projekt der Politik werden, Jugendfreiwilligendienste attraktiv zu machen, und zwar
sowohl ideell als auch materiell. Unser dringender Rat
lautet: Werfen Sie einen Blick in die Bundesländer.
Schauen Sie sich beispielsweise die guten Vorschläge
aus Rheinland-Pfalz an.
({6})
Sie brauchen die Bundesländer, wenn Sie diese Idee ins
Bildungssystem implementieren wollen. Sie brauchen
ebenso den Städte- und Gemeindetag, um aus dieser
grundsätzlich guten Idee eine Anerkennungskultur zu
entwickeln.
Aber nichts passiert, Herr Minister. Das mangelnde
Engagement erkennt man an dem, was Sie selbst vorgetragen haben. Die ursprüngliche Idee war es, 15 000
Dienstposten zu schaffen. Diese Zahl haben Sie bereits
auf 5 000 reduziert, und jetzt warten Sie ab, ob noch
mehr dazukommen. Nein, Herr Minister, Sie müssen
15 000 Freiwillige wollen und alles dafür tun, dass sie
auch kommen. Das ist Ihre Aufgabe.
({7})
Deshalb muss auch an dieser Stelle nachjustiert werden.
Das Wichtigste in den nächsten Jahren aber wird sein,
den Soldatenberuf unter veränderten demografischen
Voraussetzungen und einer veränderten Wirtschaft mit
mehr Wettbewerb um die klugen jungen Leute attraktiv
zu halten. In einer Schublade im Ministerium liegen seit
Jahren 82 Vorschläge für ein Attraktivitätsprogramm.
Wir erwarten nicht, dass diese über Nacht umgesetzt
werden. Wir erwarten aber, dass Prioritäten gesetzt werden und dass den Soldaten und den potenziellen Bewerbern genau erklärt wird, welche Attraktivitätsschritte in
den nächsten Jahren unternommen werden. Das wird
Geld kosten; das gehört zur Wirklichkeit. Wenn wir dieses Attraktivitätsprogramm jetzt nicht aufs Gleis setzen,
werden wir in 10 bis 15 Jahren vielleicht noch die ausreichende Zahl von Köpfen bei der Bundeswehr haben,
wir werden jedoch eine andere Bundeswehr haben. Wir
werden nicht mehr die Bundeswehr haben, auf die wir so
stolz sein können, weil sie die Prinzipien vom Staatsbürger in Uniform und der Inneren Führung durchgängig
von den Generälen bis zu den Mannschaften lebt und
versteht. Daher ist die Attraktivitätssteigerung für uns
die zentrale Herausforderung.
Letzter Punkt. Herr Minister, kürzen Sie die Zahl der
Zivilbeschäftigten nicht so stark wie vorgesehen! Bei allen Armeen, die ihre Streitkräfte verkleinert haben, zum
Beispiel Frankreich, Großbritannien und die USA, hat
sich deutlich gezeigt: Je weniger Soldaten es gibt, umso
mehr Unterstützung durch zivile Mitarbeiter - vor allen
Dingen im anspruchsvollen technischen Bereich - ist
notwendig. Überdenken Sie diese Zahlen noch einmal.
Wir haben den Eindruck, dass es hier nur um eine Schätzung geht und es keine seriöse Planung gibt. Wenn Sie
zu sehr kürzen, werden Sie am Ende merken, wie notwendig die zivilen Beschäftigten sind.
Lassen Sie mich zum Schluss Ihr Angebot annehmen.
Sie müssen wirklich zum Schluss kommen, Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss.
({0})
Herr Minister, wenn Sie an diesen Stellen nachjustieren, kann es in der Tat so sein, dass die Sozialdemokraten diese Reform am Ende politisch mittragen; aber die
von mir skizzierten Punkte sind unabdingbar. Ich glaube,
die Reform würde besser, wenn Sie hier zuhören; sie
würde besser für unsere Gesellschaft, für deutsche Sicherheitsinteressen und auch für die Soldaten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, lassen Sie auch mich zu Beginn meiner Rede Ihnen im Namen der FDP-Fraktion unsere
herzliche Anteilnahme am Tod eines jungen Hauptmannes im Einsatz zum Ausdruck bringen. Auch wir sind in
Gedanken bei der Familie, den Angehörigen und den
Freunden.
Ich glaube, es wird in dieser schwierigen Zeit in
Afghanistan nicht das letzte Mal sein, dass wir uns damit
auseinandersetzen müssen. Deswegen ist es so wichtig,
dass Sie heute in dieser Debatte einen Akzent gesetzt haben, der über den Alltag hinausgeht. Wir diskutieren
heute nicht nur darüber, wie die Strukturen der Bundeswehr in Zukunft aussehen sollen, wir diskutieren auch
nicht nur über die Wehrform oder über die Attraktivität
der Streitkräfte, sondern wir diskutieren auch über das
veränderte sicherheitspolitische Umfeld weltweit, in das
wir unsere Streitkräfte in den nächsten Jahren entsenden
werden.
Sie haben mit der Vorlage der Verteidigungspolitischen Richtlinien etwas getan, das von vielen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz in Gesprächen vor Ort imElke Hoff
mer wieder gefordert wird: Erklärt uns, warum wir vom
Deutschen Bundestag in einen Einsatz geschickt werden! - Ich glaube, es ist sehr wichtig, an dieser Stelle zu
erwähnen, dass die zukünftigen Herausforderungen in
der Sicherheitspolitik weit von dem entfernt sind, wofür
die Streitkräfte seinerzeit in der Bundesrepublik
Deutschland aufgestellt worden sind. Die Sicherheitslage hat sich verändert; der symmetrische Krieg von damals hat sich zu einer asymmetrischen Herausforderung
entwickelt. Das bedeutet, dass auch die Herausforderungen für unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
mehr denn je davon abhängen, welche Rückendeckung
sie von der Politik haben und wie klar der Auftrag ist,
mit dem sie in Einsätze gesendet werden.
Meines Erachtens müssen wir auch viel intensiver darüber diskutieren, dass die Zivilbevölkerung in den jeweiligen Krisengebieten immer mehr zum Mitstreiter,
zur Zielgruppe, zur Partei, zum Beteiligten in Konflikten
wird. Das heißt, unsere Soldatinnen und Soldaten werden in ein Umfeld geschickt, das unklar ist. Die Fähigkeiten, die sie in Zukunft brauchen werden, dürfen daher
nicht allein den Umgang mit militärischem Gerät beinhalten. Sie müssen weitere Qualifikationen haben, zum
Beispiel kulturelle Kompetenz, Sprachfähigkeiten und
die Fähigkeit, sich mit zivilen Beschäftigten vor Ort zu
vernetzen. Sie müssen auch den vernetzten Ansatz, den
Sie hier mit Recht deutlich hervorgehoben haben, voranbringen. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur das
militärische Portfolio und das militärische Spektrum eines Einsatzes der Bundeswehr festlegen, sondern weit
darüber hinausgehen müssen. Ich darf an dieser Stelle
eine persönliche Bemerkung machen: Ich glaube, dass
wir über kurz oder lang nicht an der Definition einer nationalen Sicherheitsstrategie vorbeikommen werden,
({0})
weil die Herausforderungen ungleich größer werden.
Wir müssen uns auch damit befassen, die Legitimation zukünftiger Einsätze der Bundeswehr durch zwei
wichtige Komponenten zu ergänzen: Erstens bedarf es
der Legitimität der Zivilbevölkerung im Einsatzland,
zweitens aber auch der Unterstützung und der Legitimität der entsendenden Nation. Das heißt, die Erklärung,
warum wir uns an einem Einsatz beteiligen, ist meines
Erachtens wichtiger und notwendiger denn je, insbesondere dann, wenn das, was Sie, Herr Minister, vorgetragen haben, zutrifft: wenn ein originäres nationales Interesse möglicherweise nicht so klar zu definieren ist, wie
es in der Vergangenheit der Fall war.
Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir in Zukunft
auf internationaler Ebene auch über die Frage diskutieren müssen: Wie definieren wir den Status eines Kombattanten? Neue Technologien und neue Herausforderungen führen dazu, dass die Zivilisierung auch
militärischer Fähigkeiten immer weiter voranschreitet.
Die Frage „Was sind die Sicherheitsherausforderungen
des 21. Jahrhunderts?“ geht weit über das hinaus, worüber wir hier und heute in Bezug auf die zukünftige
Struktur der Bundeswehr diskutieren.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, an dieser
Stelle darauf einzugehen. Sie haben klugerweise immer
wieder darauf hingewiesen, dass die Reform der Struktur
der Streitkräfte nicht nur in finanzieller Hinsicht und
nicht nur durch die bestehenden Herausforderungen determiniert ist, sondern auch durch die demografische
Entwicklung. Wir müssen uns darauf einstellen, dass
sich in Zukunft nicht mehr so viele junge Männer und
Frauen für den Dienst an der Waffe entscheiden werden,
wie es in der Vergangenheit der Fall war.
Vor diesem Hintergrund kommt der Attraktivität des
Soldatenberufes eine erhebliche Bedeutung zu. Die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung haben sehr
klare Vorstellungen davon, wie die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werden kann. Ich glaube, dass auch
die Opposition bereit ist, sich konstruktiv in diese Diskussion einzubringen und die notwendigen Entscheidungen im Sinne der Bundeswehr und der deutschen Sicherheitspolitik mitzutragen. So habe ich Sie, Herr Kollege
Arnold, trotz aller Kritik, die Sie geäußert haben, verstanden.
Wir diskutieren heute nicht zum letzten Mal darüber,
wie die Bundeswehr der Zukunft aussieht. Für meine
Begriffe müsste die heutige Diskussion eigentlich der
Beginn einer breiten sicherheitspolitischen Debatte sein.
Wir dürfen nicht den Fehler machen, lediglich zum Ausdruck zu bringen: Ja, wir werden die Bundeswehr in Zukunft in internationale Einsätze schicken. - Das reicht
nicht aus. Wir müssen uns auch fragen: Kann sie das
leisten? Können wir die notwendigen zivilen und militärischen Fähigkeiten überhaupt bereitstellen? Wann überfordern wir unser eigenes Gemeinwesen, wenn es darum
geht, in Konfliktregionen dieser Welt zu intervenieren
und sich dort einzusetzen? Ich glaube, dass wir es nicht
nur uns selbst, sondern auch der Bevölkerung schuldig
sind, ganz klar zu sagen, was wir können und was wir
nicht können.
Wir haben in letzter Zeit, gerade in der Diskussion
über Libyen, viel über „responsibility to protect“ gesprochen. Das klingt sehr gut, und das ist ein hehrer moralischer Anspruch. Dennoch sollten wir gleichzeitig auch
an „ability to protect“ denken. Verfügen wir tatsächlich
über die notwendigen Fähigkeiten? Wenn es um den
Einsatz unserer Streitkräfte geht, dürfen wir nicht Emotionen zur Grundlage unserer Entscheidung machen. Es
darf nicht so sein, dass wir dort tätig werden, wo die
meisten Fernsehbilder entstehen und wo die mediale
Aufmerksamkeit am größten ist. Vielmehr müssen wir
bei unserer Entscheidung bedenken: Wo haben wir ein
Interesse? Wo können wir helfen? Haben wir die Mittel?
Was ist das Ziel, was soll am Ende herauskommen? Es
ist nämlich leichter, einen militärischen Konflikt zu beginnen, als ihn zu beenden.
({1})
Ich glaube, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten
schuldig sind, sehr genau zu erwägen, in welches Szenario wir sie schicken, weil sie es am Ende sind, die den
ultimativen Preis dafür bezahlen müssen, wenn wir eine
sicherheitspolitische Fehleinschätzung vorgenommen haben.
Ich möchte meine Rede mit den Worten des berühmten chinesischen Generals und Militärphilosophen Sun
Tzu beenden. Er hat gesagt:
Die Kunst des Krieges ist für den Staat von entscheidender Bedeutung. Sie ist eine Angelegenheit
von Leben und Tod, eine Straße, die zur Sicherheit
oder in den Untergang führt. Deshalb darf sie unter
keinen Umständen vernachlässigt werden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich ist man froh, wenn ein Bundesminister
der Verteidigung sich seriös und weniger glamourös präsentiert.
({0})
Aber nicht auf die Inszenierung, auf die Inhalte kommt
es an, und die sind falsch - bei zu Guttenberg wie bei de
Maizière.
({1})
Herr Minister, Sie wollen eine Armee, die weltweit
einsetzbar ist, die im Zweifelsfall auch Krieg führen soll
und die auch ein Instrument durch Durchsetzung machtund wirtschaftspolitischer Interessen sein kann. Das alles halten wir für falsch.
({2})
Sie reden, Herr Minister, von einer Neuausrichtung
der Bundeswehr. Doch davon kann überhaupt keine
Rede sein. Sie setzen den unter SPD und Grünen begonnenen Umbau der Bundeswehr zur Einsatzarmee fort.
Eine wirkliche Reform müsste innehalten und eine kritische, schonungslose Bilanz der Auslandseinsätze ziehen.
Daraus müssten Schlüsse gezogen werden. Aber genau
das tun Sie nicht. Die Bundeswehr ist seit zehn Jahren
im Einsatz im Afghanistan. Ein Ende ist nicht absehbar.
Die Sicherheitslage hat sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Die Zahl der Toten steigt kontinuierlich. Für den
Einsatz wird eine Riesenmenge an Geld und Ressourcen
benötigt. Deshalb kann man sagen: Afghanistan ist keine
Blaupause für künftige Bundeswehreinsätze; es ist ein
abschreckendes Beispiel.
({3})
Die Lektion lautet: Man kann mit militärischen Mitteln
den Terrorismus nicht schlagen und auch keine Nationen
aufbauen. Aber Sie machen weiter, haben jetzt sogar
noch Pakistan als möglichen neuen Einsatzort ins Gespräch gebracht. Da wird einem angst und bange.
Die Grundrichtung stimmt nicht. Sie wollen die Personalstärke der Streitkräfte zwar verringern; aber den
Anteil der Soldatinnen und Soldaten, die dauerhaft in
Auslandseinsätzen kämpfen können, wollen Sie noch erhöhen. Wofür? Wozu? Unter welchen Voraussetzungen?
Das bleibt unklar, Hauptsache: allzeit bereit - und das
weltweit.
Wenn Sie auch noch sagen: „Wir wollen eine Bundeswehr zur Sicherung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit des Landes“ - das sagen Sie so -, dann ist das in
unseren Augen nichts weiter als ein Blankoscheck für
Interventionismus, und dafür gilt: Ohne uns!
({4})
Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien sind
- man muss es so sagen - ein alter Hut. Sie beschwören
wieder einmal die bekannten diffusen Risiken, denen wir
zukünftig ausgesetzt sein werden - Flüchtlingsströme,
knapper werdende Rohstoffe, Weiterverbreitung von
Atomwaffen -, und präsentieren wieder nur die alte Antwort, dass man in der Lage sein müsse, diesen Risiken
auch militärisch zu begegnen. Unsere Antwort ist eine andere: Die neuen globalen Probleme können nachhaltig
nur mit nichtmilitärischen, das heißt mit zivilen Mitteln
und mit einer Politik globaler Gerechtigkeit gelöst werden. Das ist das, für das sich die Bundesrepublik Deutschland im UNO-Sicherheitsrat stark machen müsste.
({5})
Neu, Herr Minister, ist allenfalls die Tonlage, mit der
Sie über den Zusammenhang von Militär und wirtschaftlichen Interessen reden. Sie haben bei der Präsentation
der Verteidigungspolitischen Richtlinien gesagt, unser
Platz in der Welt werde dadurch bestimmt, dass wir von
Rohstoffen und Exporten abhängig seien, und dann unverblümt festgestellt - ich zitiere -:
Wir haben ein nationales Interesse am Zugang zu
Wasser, zu Lande und in der Luft.
({6})
Das ist kühn. Meinen Sie das auch weltweit? Sie sollten
schon höllisch aufpassen, wenn Sie eine solch aggressive, zumindest missverständliche Sprache gebrauchen.
Die Linke will jedenfalls nicht, dass Bundeswehrsoldaten für Wirtschaftskriege in Marsch gesetzt werden. Das
ist mit uns nicht zu machen.
({7})
Es geht uns also nicht darum, die vorhandenen Strukturen zu optimieren; es geht darum, sie zu revidieren. Dazu
haben wir unsere Position als Bundestagsfraktion konkretisiert.
An erster Stelle steht für uns die Rückbesinnung auf
den Auftrag in Art. 87 a des Grundgesetzes:
Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.
Davon ist auch unsere zweite Forderung bestimmt:
Die Bundeswehr sollte in ihren Strukturen auf Defensive
ausgerichtet sein. Das heißt, wir brauchen keine verlegbaren Hauptquartiere und keine Einsatzverbände, die,
Paul Schäfer ({8})
6 000 Kilometer oder weiter entfernt, in anderen Staaten
Operationen durchführen können. Milliardenschweres
Gerät wie den Jagdbomber Eurofighter brauchen wir
auch nicht.
({9})
Wenn der Satz gilt, dass wir auf absehbare Zeit nicht
militärisch bedroht sind, dann heißt das drittens: Wir
können den Umfang der Streitkräfte erheblich reduzieren, wir sagen: um die Hälfte. Eine Bundeswehr mit
125 000 Soldatinnen und Soldaten reicht aus, um die
Aufgaben der Landesverteidigung wahrzunehmen.
Viertens. Unser Konzept der zukünftigen Bundeswehr
ist eng verknüpft mit einer stärkeren Demokratisierung,
mehr Zivilität, mehr Parlamentsheer. Es geht schlicht darum, dass die Bundeswehr, will sie in der Gesellschaft
verankert bleiben, auch die Normen und Werte dieser
Gesellschaft verinnerlichen muss. Wir reden von Bindung an Recht und Gesetz, ebenso wie von soldatischer
Interessenvertretung und humaner Menschenführung; da
ist noch viel zu tun.
Fünftens. Wir sagen klar Nein zur Ausweitung der
Bundeswehreinsätze im Innern. Bewaffnete Einsätze im
Innern müssen grundsätzlich tabu bleiben.
({10})
Der weiteren Vermischung von Zivilem und Militärischem ist ein Riegel vorzuschieben. Katastrophenschutz
ist eine zivile Angelegenheit, und dafür müssen dort die
Kapazitäten ausgebaut werden.
({11})
Mit das Beste an unserem Bundeswehrkonzept ist:
Eine solche Reform wäre finanzierbar. Sie würde Mittel
freisetzen für soziale und entwicklungspolitische Belange, auch für solide Konversionsprogramme, womit
man den Kommunen helfen würde, und auch für das
Bundeswehrpersonal stünde mehr Geld zur Verfügung.
Ihre Sparvorgabe von 8,3 Milliarden Euro kann man inzwischen getrost vergessen. Sie werden noch genug
schieben, tricksen und täuschen, um das Geld zusammenzubekommen. Das wird nicht funktionieren.
Dass - diese Bemerkung kann ich mir am Schluss
nicht verkneifen - die SPD mit dieser Reform nur ein
Problem zu haben scheint, nämlich dass man noch mehr
Geld in das System Bundeswehr stecken muss, ist für
eine Partei, die sich einmal zu Frieden und Abrüstung
verpflichtet hat, kläglich.
({12})
Wir als Linke werden den Zielen Abrüstung und Frieden jedenfalls weiterhin verpflichtet bleiben.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute Morgen hier im Deutschen
Bundestag eine bemerkenswerte Regierungserklärung
erlebt.
({0})
In Nüchternheit und Klarheit und mit bestechender logischer Konsequenz wird die Bundeswehr in eine neue
Zeit geführt. Herr Minister, herzlichen Dank dafür!
({1})
Bei der Regierungserklärung des Verteidigungsministers
ist deutlich geworden - so viel zu den kritischen Anmerkungen zum Verhältnis von Außenministerium und Verteidigungsministerium -, dass die Bundeswehr in das außenpolitische Konzept der Bundesregierung eingebettet
ist und dass es da eine gemeinsame Politik und Strategie
gibt.
({2})
- Warten Sie einmal ab. Es ist nicht so, wie Sie es gern
hätten. Ich schildere, wie es tatsächlich ist.
({3})
Außenpolitik und Verteidigungspolitik bilden in unserer
Regierung eine Einheit.
({4})
Das bedeutet, dass in der Außenpolitik und in der Verteidigungspolitik gemeinsam die Ziele formuliert werden,
die für uns wichtig sind.
Thomas de Maizière hat gesagt, dass die Bundeswehr
die Aufgaben erfüllen muss, die wir politisch formuliert
haben. Sie hat natürlich zum einen die Sicherheit unseres
Landes zu gewährleisten; zum anderen hat sie die Aufgaben zu erfüllen, die im Rahmen unserer Bündnisverpflichtung, wie Thomas de Maizière es formuliert hat,
auf uns zukommen und die wir bisher nicht immer so
deutlich in der Öffentlichkeit haben darstellen können.
Wir sind in das System sowohl der UNO als auch der
NATO eingebettet. Hier erfüllen wir unsere Aufgaben.
Die Bundeswehr leistet einen Beitrag zur Friedenssicherung, und das hat eine ganz andere Bedeutung als früher.
Die Friedenssicherung findet nämlich nicht mehr ausschließlich in unserem Land statt. Unser Frieden ist vielmehr durch vielfältige, auch terroristische Aktionen auf
der ganzen Welt bedroht. Wer hier für Frieden und Sicherheit sorgen will, kann keine Bundeswehr aufstellen,
die ihre Arbeit nur im eigenen Land verrichtet. Das ist
unsere Botschaft.
({5})
Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass die Bundeswehr über ihren Auftrag hinaus tätig wird. Im Übrigen waren es Sie von den Grünen und den Roten, die die
Bundeswehr zum ersten Mal im Ausland eingesetzt haben. Sie waren es, die den Auftrag der Bundeswehr neu
formuliert haben.
({6})
Deswegen kann ich Ihnen nur raten, an der Diskussion
über die Reform der Bundeswehr, darüber, sie auf die
neuen Aufgaben auszurichten, teilzunehmen. Herr Kollege Trittin, hier haben Sie sich so verhalten, wie Sie das
in Ihrer Regierungsverantwortung vielfach getan haben.
Sie haben Dinge angestoßen, aber die Konsequenzen
nicht bedacht. Sie haben die Reform der Bundeswehr
nicht vorangebracht. Diese Aufgabe haben Sie schön anderen überlassen.
({7})
Diese Aufgabe werden wir nun erfüllen. Thomas de
Maizière hat die Punkte angesprochen. Die Bundeswehr
ist auf die neuen Herausforderungen auszurichten, aber
sie muss ihren Auftrag auch unter veränderten Bedingungen erfüllen können. Wir haben über Jahre hinweg
gesehen, dass die Wehrpflicht nicht mehr so konsequent
durchgesetzt werden konnte, wie es notwendig war. Deswegen war es richtig, dass wir Überlegungen angestellt
haben, wie wir darauf reagieren, und nun sagen: Wir haben in der Bundeswehr einen festen Stamm und Freiwillige. Ich kann mir nur wünschen, dass die Bundeswehr
durch die Reform so attraktiv wird - schon deshalb ist
die Reform so wichtig; Thomas de Maizière hat es angesprochen -, dass sich junge Menschen für die Bundeswehr interessieren und im Hauptberuf und als Freiwillige bei der Bundeswehr ihren Dienst tun.
({8})
Wir müssen klarstellen, dass wir Freiwilligendienste
in unserem Land brauchen, dass wir junge Menschen
brauchen, die im sozialen Bereich, in unseren Hilfsorganisationen tätig sind, dass aber der freiwillige Dienst in
der Bundeswehr genauso wichtig und ehrenhaft ist wie
jeder andere freiwillige Dienst. Das müssen wir deutlich
machen.
({9})
Es gibt hier keine Abstufung nach dem Motto: Im sozialen Bereich ist das gut, bei der Bundeswehr weniger.
Nein, der Freiwilligendienst ist ein Dienst an unserem
Land - bei der Bundeswehr oder in sozialen Einrichtungen. Dafür müssen wir werben.
({10})
Es hat doch mit Prestige zu tun, wenn wir vom Dienst in
der Bundeswehr sprechen.
Wir sehen natürlich, dass der Dienst in der Bundeswehr etwas Besonderes ist, weil er die ganze Person fordert und natürlich auch gefährlich ist. Wir haben in diesen Tagen wieder erleben müssen, dass der Dienst in der
Bundeswehr lebensgefährlich ist. Ich finde, umso größer
muss unser Respekt vor denjenigen sein, die in unserem
Auftrag und für unsere politischen Ziele ihren Dienst
tun. Deswegen sage ich einen herzlichen Dank an alle
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an alle Soldatinnen
und Soldaten in der Bundeswehr. Wir sind dankbar dafür, dass sie diesen Dienst für unser Vaterland verrichten.
({11})
Die Reform der Bundeswehr hat begonnen. Thomas
de Maizière hat darauf hingewiesen, dass dies ein Prozess ist. Deswegen ist Ihre Kritik nicht angebracht, Herr
Arnold.
Selbstverständlich werden im Zuge dessen, was an
notwendigen Veränderungen vorgestellt worden ist, die
finanziellen Grundlagen dargelegt. Diese finanziellen
Grundlagen werden nicht, wie Sie es formuliert haben,
wie immer im Haushaltsplan berücksichtigt; sie werden
zum ersten Mal im neuen Haushaltsplan berücksichtigt,
der im Herbst beraten und verabschiedet wird. Es ist völlig richtig, dass Thomas de Maizière jetzt keine Zahlen
nennt und darauf verweist, dass wir im Rahmen der
Haushaltsplanberatungen und der mittelfristigen Finanzplanung auch das Finanzierungskonzept für die Reform
vorlegen werden.
Als Sie, Herr Arnold, gesprochen haben, habe ich Ihnen angemerkt, dass Sie wissen, dass da jemand seine
Arbeit macht, der die Dinge konsequent und logisch angeht und das in einer Ruhe und Selbstverständlichkeit
macht, die Sie im Grunde genommen sehr beeindruckt
hat. Das hat man bei Ihrer Rede nämlich auch gemerkt,
lieber Herr Arnold.
({12})
Man hat Ihnen angesehen, wie Sie sich gesagt haben:
„Mensch, es wird mir doch noch irgendetwas einfallen,
was ich kritisch anmerken kann.“ Entsprechend schlecht
war es dann auch, weil Ihnen nämlich nichts Gescheites
eingefallen ist.
({13})
Man kann nämlich überhaupt keinen kritischen Einwand
gegen dieses Konzept vorbringen.
Herr Bundesminister, wir sind dankbar für die
Schritte, die Sie eingeleitet haben. Wir begleiten Sie bei
dieser Aufgabe, und wir stehen zu dieser Reform der
Bundeswehr. Wir wünschen Ihnen dabei viel Erfolg.
({14})
Das Wort hat nun Jürgen Trittin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeiten
haben sich geändert. Früher erlebten wir ein permanentes Schaulaufen des Verteidigungsministers mit dem Außenminister, wer der Wichtigere im Kabinett sei.
Mit der heutigen Regierungserklärung müssen wir
feststellen: Die Zeiten haben sich geändert. Die Frage ist
auch entschieden. Über die strategische und sicherheitspolitische Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland
wird im Verteidigungsministerium entschieden. Dort wird
formuliert. Insofern muss man Ihnen an dieser Stelle, Herr
de Maizière, ein Kompliment machen.
({0})
Sie haben begonnen, sich der Realität zu stellen. Die
CDU/CSU verabschiedet sich von etwas, das lange Zeit
für sie identitätsstiftend war: der Wehrpflicht. Sie versuchen jetzt, in diese Richtung Grund hineinzubringen.
Sie sagen der deutschen Öffentlichkeit: Wir wollen mit
einem Konzept von 175 000 plus x künftig diese Aufgaben einer Bundeswehr bewältigen. Ich hätte in Ihrer heutigen Regierungserklärung, gerade weil ich wichtige strategische Grundentscheidungen, die Sie mit benannt
haben, teile, gerne von Ihnen eine Begründung gehört,
warum das, was Ihnen Ihr eigener Generalinspekteur aufgeschrieben hat, nicht Leitlinie gewesen ist. Warum hatten Sie nicht den Mut, auf die Größe der Bundeswehr zu
gehen, die von der Aufgabe her definiert vom Generalinspekteur auf etwas über 160 000 beziffert wurde? Sie mögen das für kleinlich halten, was die Zahlen angeht. Ich
glaube aber, dass hinter dem Unterschied zwischen den
185 000, auf die Sie kommen wollen, was nach Ansicht
der SPD vielleicht noch zu knapp ist, und den 160 000,
die nach Auffassung des Generalinspekteurs und meiner
Fraktion angemessen wären, genau das Stück Halbherzigkeit steht, das immer noch in dieser Reform steckt.
Dieses Stück Halbherzigkeit finden Sie in den Verteidigungspolitischen Richtlinien, die die Grundlage der Reform sein sollen.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von heute haben Sie zu der Feststellung, dass jetzt anders als in den
Verteidigungspolitischen Richtlinien unter Peter Struck
bei den Aufgaben der Bundeswehr nicht mehr der Auslandseinsatz im multilateralen Verband an vorderer
Stelle steht, sondern die Verteidigung im Bündnis, gesagt, das sei keine Rangfolge, sondern nur eine Reihenfolge. Ich halte dies für beschönigend und für falsch. Es
ist offensichtlich eine Rangfolge, die Sie hier vorgenommen haben. Sie gewichten die Verteidigung im Bündnis
wieder höher als die Aufgabe, die wir alle als wichtig
identifiziert haben, nämlich mehr Einheiten sowie mehr
Soldatinnen und Soldaten für Auslandseinsätze bereitzustellen.
({1})
Wir teilen die Auffassung, dass wir 10 000 Soldatinnen
und Soldaten für Auslandseinsätze vorhalten müssen.
Aber das gefährden Sie, bis hin zur Beschaffung. Sie
müssen dem Hohen Haus einmal erklären, warum wir
noch immer über 1 000 Panzer - wir haben festgestellt,
dass es 1 048 sind - haben. Warum müssen wir an Rüstungsprojekten wie Tiger und MEADS festhalten, die darauf ausgerichtet sind, große Panzerverbände zu bekämpfen? All dies ist Folge der von Ihnen vorgenommenen
Ausrichtung. Sie haben gesagt: Für uns kommt die Verteidigung im Bündnis an erster Stelle.
Wir glauben, dass Sie hier nicht konsequent sind. Es
wird die Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein,
der internationalen Verantwortung stärker gerecht zu
werden. Internationale Verantwortung bedeutet nicht, wie
einige glauben, dass man sich unilateral um die Sicherung
von Rohstoffquellen kümmert; so habe ich das nicht verstanden. Internationale Verantwortung heißt, dass wir uns
an den Gefahren für die Sicherheit, die sich auf der Welt
ergeben, orientieren. Es geht dabei nicht mehr um zwischenstaatliche Konflikte zwischen hochgerüsteten Armeen. Aber genau daran halten Sie noch immer in Ihrer
Prioritätenreihenfolge fest. Es geht typischerweise um
asymmetrische Konflikte. Es geht typischerweise um das
Vorgehen in gemischten zivil-militärischen Missionen.
Es geht typischerweise um die Sicherung vor Staatszerfall und Ähnlichem.
In einer solchen Debatte, in der wir über die Ausrichtung der Bundeswehr sprechen, will ich sagen: In diesem
Zusammenhang wird mehr auf die Bundesrepublik
Deutschland zukommen als in der Vergangenheit. Das
ist eine Botschaft, die man in einer solchen Debatte aussprechen muss. Ich will nicht spekulieren. Wenn ich mir
aber anschaue, wie sich beispielsweise der Trennungsprozess zwischen dem Südsudan und dem Sudan entwickelt, dann bin ich mir nicht sicher, ob wir weiterhin mit
etwas mehr als 20 unbewaffneten Militärbeobachtern
auskommen oder ob nicht andere mehr von uns erwarten. Wenn das alles so ist, dann brauchen wir eine konsequente Ausrichtung der Bundeswehr im Hinblick auf
multilaterale Einsätze im Auftrag der Vereinten Nationen zur Stabilisierung von zerfallenden Staaten; das wird
die Kernanforderung sein. Nur so werden wir unserer internationalen Verantwortung gerecht.
({2})
Deutschland muss seiner internationalen Verantwortung gerecht werden. Das zielt insbesondere auf die Sicherung und die Herstellung der Herrschaft des Rechts.
Wir dürfen keine rechtsfreien Räume auf diesem Globus
dulden. Das heißt für uns: Ausbildung, Ausrichtung und
Ausrüstung der Bundeswehr müssen sich klar an dieser
Priorität orientieren. Da haben Sie noch ein bisschen Arbeit vor sich, Herr Minister.
({3})
Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus
unserer Sicht ist das, was der Minister heute vorgetragen
hat, seit der Zusammenlegung von Bundeswehr und NVA
vor über 20 Jahren die größte Reform, die wir bei der
Bundeswehr durchführen. Diese Reform wäre auch notwendig gewesen - davon sind wir überzeugt -, wenn wir
die Wehrpflicht nicht ausgesetzt hätten. Die FDP hat im12826
mer gefragt: Werden die Haushaltsmittel richtig eingesetzt? Sind die Beschaffungsmaßnahmen, die einst beschlossen wurden, noch richtig? Herr Trittin, Sie haben
die Frage gestellt, warum wir an dem einen oder anderen
- Sie haben als Beispiel MEADS genannt - noch festhalten. Ich kann Ihnen sagen, warum.
Wir halten gar nicht daran fest. Aber wir haben aus
der Zeit der rot-grünen Koalition - bei den großen Beschaffungsprojekten waren die Grünen voll dabei - Verträge, aus denen man nur schwer herauskommt. Das ist
eines unserer Probleme. Sie als Grüne haben bei allen
großen Rüstungsprojekten mitgemacht, beispielsweise
bei MEADS. Wir haben es Gott sei Dank geschafft, die
Anzahl der Transportflugzeuge zu reduzieren. Sie wollten 90 bestellen; dann hat Peter Struck die Anzahl auf 60
reduziert. Nur in dieser Koalition - ich sage ausdrücklich Danke schön an den Koalitionspartner; Volker
Kauder hat es ja in seiner Rede deutlich gemacht - ist
diese Reform möglich gewesen. Wir haben es gesehen:
Sie als Grüne haben sich bei den Sozialdemokraten nie
durchsetzen können. Sie waren ähnlich wie wir für die
Aussetzung der Wehrpflicht.
({0})
Sie haben sich nicht durchsetzen können. Die Freien Demokraten haben sich in dieser Koalition mit dieser Forderung durchgesetzt. Das war nicht leicht für unseren
Koalitionspartner, aber er hat mitgemacht. Das ist eine
der größten Reformen, und dafür sagen wir als FDP
Danke an die Christlich Demokratische Union.
({1})
Aber die Frage ist durchaus berechtigt: Wie finanzieren wir zukünftig die Bundeswehr? Hier kann ich für die
FDP sagen: Natürlich wollen wir Einsparungen vornehmen. Aber es wird auf keinen Fall auf Kosten der Soldaten oder der Zivilangehörigen gehen. Wir gehen an die
vielen Beschaffungsmaßnahmen heran - davon habe ich
schon gesprochen -, die nach unserer Auffassung überflüssig sind. Herr Kollege Arnold, Sie haben uns doch
mit dem Herkules-Projekt ein Milliardengrab eingebrockt. Wir versuchen nun, das Beste daraus zu machen.
Das funktioniert doch heute noch nicht richtig. Das sind
Ihre Entscheidungen gewesen, nicht unsere. Das Gleiche
gilt für das Übermaß an Bürokratie.
({2})
Sie fordern hier jetzt: Herr Minister, finanzieren Sie
seriös! - Dass Sie das überhaupt wagen. Herr Scharping
hat uns die Privatisierung eingebrockt. Das war nicht die
FDP. Wir waren gegen diese Privatisierung. Wir sind
nämlich nicht für Privatisierung um jeden Preis. Wir haben gesagt, dass wir auch bei der Logistik nicht mitmachen. Aber wer hat uns denn den Bundeswehrfuhrpark
und alles andere eingebrockt, ohne je zu überprüfen, ob
es effektiv ist? Kümmern Sie sich um die Projekte, die
Sie uns eingebrockt haben, die heute die Bundeswehr
sehr viel Geld kosten und bei der Bundeswehr überhaupt
nicht ankommen! Überprüfen Sie das selber und bringen
Sie Korrekturvorschläge ein! Dann würden Sie einen
wichtigen Beitrag zur Finanzierung der Bundeswehr liefern, weil wir dann zukünftig mehr Geld zur Verfügung
hätten.
Des Weiteren stellt sich die Frage, ob das Liegenschaftsmanagement, das uns Rot-Grün eingebrockt hat,
wirklich etwas Gutes für die Bundeswehr ist. Ich habe
erhebliche Zweifel. Wir plagen uns in dieser Zeit auch
im Haushaltsausschuss damit herum.
Sie haben uns wirklich unglaublich viele Baustellen
hinterlassen, Herr Kollege Arnold. Insofern kann ich
verstehen, dass Sie zu der wirklich ausgesprochen guten
Rede des Ministers und zu dem, was wir als Reform
wollen, keine Alternativen angeboten haben. Ihr Beitrag
wäre - lassen Sie es mich süffisant sagen - eher für einen Lyrikkongress geeignet gewesen als für eine verteidigungspolitische Debatte. Sie haben keine Alternativen
vorgetragen. Herr Trittin sprach von „halbherzig“. Was
ist denn halbherzig? Ich kann nur sagen: Das eine oder
andere wird zu korrigieren sein - das wird sich im Laufe
der Zeit herausstellen -, aber die Richtung stimmt doch.
Man kann doch bei dieser Reform nicht von halbherzig
sprechen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Machen Sie mit! Bringen Sie sich ein! Bringen Sie Ihre Vorschläge ein! Sie haben sich, Herr Trittin - das kann ich
verstehen, weil Sie im Auswärtigen Ausschuss sitzen -,
mehr in die Außenpolitik geflüchtet. Das Entscheidende
wäre aber gewesen, konkret zu sagen, was Sie für unsere
Bundeswehr wollen. Das wäre besser gewesen als das,
was heute vorgetragen worden ist.
Im Haushaltsausschuss sollen wir ja die Beschaffungsmaßnahmen finanziell untermauern. Insofern ist es
mir als Haushälter sehr wichtig, dass wir alles auf den
Prüfstand stellen. Wir haben zu viele Eurofighter; das ist
unser Problem, denn diese Entscheidung stammt noch
aus der Zeit der alten Koalition. Gott sei Dank haben wir
beim A400M einiges korrigiert. Wir werden uns weiterhin Herkules ansehen. MEADS ist - da gibt es kein Vertun - für uns beendet; das war ein großes Projekt aus rotgrüner Zeit. Wir schauen uns noch einmal das Liegenschaftsmanagement und den Bundeswehrfuhrpark an.
Das Entscheidendste ist aber, dass das Ministerium verkleinert wird - das eine oder andere kann ich mir noch
vorstellen -, damit die Entscheidungsabläufe in der Bundeswehr zügiger vonstatten gehen. Es kann einfach nicht
sein, Herr Minister - ich nenne nur ein Beispiel -, wenn
unsere Soldaten in Afghanistan Schutzbrillen brauchen,
dass die Entscheidung darüber nach zwei Jahren noch
nicht gefallen ist. Das kann nur an dem großen Apparat
liegen. Woran kann es denn sonst liegen? Diese Forderung ist doch berechtigt.
Vor allem - lassen Sie mich das zum Schluss sagen;
werfen Sie darauf bitte auch einen Blick - muss es für
das, was wir beschaffen, jeweils einen Verantwortlichen
geben. Es kann nicht sein, dass es immer nur der beamtete Staatssekretär ist. Es wäre gut für die Bundeswehr,
wenn mehr Verantwortung auf einzelne Personen übertragen würde. Auch das gehört für uns zu dieser Reform
dazu.
Viel Glück bei dieser Reform! Wir sind dabei.
({3})
Das Wort hat nun Hans-Peter Bartels für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der Koalition, ich glaube, wenn Sie sagen
müssten, was jetzt genau das Ziel dieser Bundeswehrreform sein soll, dann kämen Sie ganz schön ins
Schwimmen. Geht es vorrangig um die Schuldenbremse
als höchsten strategischen Parameter, wie Ihr verflossener Minister zu Guttenberg das genannt hat, oder geht es
um die bessere Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte?
Dann frage ich Sie: Wo genau sind die Verbesserungen
versteckt? Oder ging es einfach nur um die Abschaffung
der Wehrpflicht, womit die FDP - herzlichen Glückwunsch, Herr Koppelin! - sich nun fast vollständig
durchgesetzt hat? Ich glaube, Sie sind selbst ein bisschen
unglücklich darüber, dass man nicht wirklich erkennen
kann, welcher Rationalität diese Operation folgt.
Sie bekommen eine kleinere Bundeswehr; das ist klar.
Aber wenn wir nicht alle aufpassen, dann erleben wir
den Übergang von einer größeren unterfinanzierten Bundeswehr zu einer etwas kleineren unterfinanzierten Bundeswehr. Ich warne davor, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Finanzierung muss stimmen.
Auch bei dem gerade neu eingeführten freiwilligen
Wehrdienst sind alle Parameter unklar. Wie viele freiwillig Wehrdienstleistende wollen Sie denn nun haben?
7 500, wie es in den ersten Papieren von Generalinspekteur Wieker hieß, oder 15 000 wie der Amtsvorgänger
des jetzigen Ministers in Aussicht gestellt hat, oder nur
5 000 plus, wie jetzt Herr de Maizière sagt? Was wollen
Sie wirklich? Wollen Sie möglichst wenige Freiwillige,
damit Sie nicht mehr bezahlen müssen, oder wollen Sie
den freiwilligen Wehrdienst so schnell wie möglich ganz
abschaffen? Das Vorgängermodell, der von Ihnen eingeführte sechsmonatige Grundwehrdienst, hat auch nur für
drei Quartale gegolten.
Ich sage Ihnen heute voraus: Auch der freiwillige
Wehrdienst wird bei Ihnen jetzt nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zur völligen Abschaffung dieser
Wehrform sein. Das ist schade, das ist bitter, das ist nicht
gut. Wir hätten hier im Parlament gemeinsam zwischen
Koalition und Opposition etwas Besseres vereinbaren
können, etwas Dauerhaftes. Wir Sozialdemokraten hätten im Übrigen diesen leichtfertigen Umgang mit der
Wehrpflicht gerade von der CDU und CSU nicht erwartet.
({0})
Ich fordere Sie auf: Stehen Sie zum freiwilligen
Wehrdienst, den Sie vor acht Wochen doch selbst erst
hier im Bundestag beschlossen haben! Planen Sie dann
eine substanzielle Zahl von Freiwilligen ein, auf richtigen Dienstposten, für einen Dienst, der gebraucht wird,
nicht auf Extrastellen außerhalb der Streitkräftestruktur,
nicht als fünftes Rad am Wagen! Das nämlich hätten die
jungen Leute, die sich melden, nicht verdient. Machen
Sie diesen Dienst attraktiver! Es geht nicht nur mit Ehre.
Werben Sie flächendeckend für das freiwillige Engagement junger Leute in allen Formen, die unser Land anbietet und braucht: bei der Bundeswehr, im Freiwilligen
Sozialen oder Ökologischen Jahr, im Entwicklungsdienst, im neuen Bundesfreiwilligendienst und natürlich
im THW und bei den anderen Diensten des Katastrophenschutzes, die auch alle bisher auf Wehrpflichtige
rechnen konnten.
Der unorganisierte, überstürzte Ausstieg aus der
Wehrpflicht war ein Fehler. Das werden Sie demnächst
sogar bei den Bewerbungen für den Dienst als Zeitsoldat
merken. Wundern Sie sich dann nicht. Sie müssen jetzt
für eine Kultur der Freiwilligkeit in diesem Land werben, nicht mit Abenteueranzeigen in der Bild-Zeitung,
sondern massiv, flächendeckend, umfassend, für alle
Dienste. Rufen Sie eine „Woche der Freiwilligkeit“ aus,
in der sich alle Träger öffentlich darstellen, oder denken
Sie sich etwas anderes aus! Das ist eine aktive Gestaltungsaufgabe. Wer bloß abwartet, will vielleicht gar keinen Erfolg. Ich wünschte mir eine Regierung, die nicht
reaktiv, sondern die aktiv an diese Fragen herangeht.
({1})
Fangen Sie damit an, wir machen dann schon weiter.
Herr Minister, da dies nun nicht die erste Reform von
Streitkräften ist, gibt es schon einige Erfahrungen, die
auch zum Beispiel Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung gemacht haben und die Sie sicher gern mit
uns teilen wollen. Ich nenne sechs Punkte:
Erstens. Begrenzen Sie den Umzugsaufwand so stark
wie möglich. Auch diese Reform schafft keine Strukturen und Stationierungen für die Ewigkeit. Kleine Standorte können effektiv, größere können uneffektiv sein. Sie
kennen Beispiele. Sparen Sie unnötige Transaktionskosten.
Zweitens. Bleiben Sie mit der Bundeswehr in der Fläche. Der Arbeitgeber Bundeswehr muss sichtbar und erlebbar sein. Das Militärische darf dem Zivilen nicht zu
fremd werden.
({2})
Drittens. Vorsicht mit den Ärmelschonerklischees
über die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr. Wir brauchen diese Mitarbeiter. Wer überproportional Zivilpersonal abbaut, der bürdet den immer weniger werdenden
Soldaten Aufgaben auf, die nicht zu deren Kernauftrag
gehören, oder er füttert private Dienstleistungsfirmen.
Wir brauchen aber Experten in den Wehrtechnischen
Dienststellen, wir brauchen die erfahrenen Kollegen in
den Arsenalbetrieben, in den Bundeswehr-Dienstleistungszentren, in der Wehrverwaltung, in den Krankenhäusern, in den Instituten und in den Streitkräftestrukturen selbst, etwa die zivilen Seeleute im Trossgeschwader
der Marine. Das ist kein überflüssiges Zusatzpersonal,
das ist die Bundeswehr selbst: Soldaten und Zivilbeschäftigte.
Viertens. Das Heer leidet stärker als andere Teilstreitkräfte unter dem Wegfall der Wehrpflichtigen. Ihr Ansatz, Herr Minister, dennoch das Spektrum der Fähigkei12828
ten des Heeres in geringerer Stärke weitgehend zu
erhalten, ist richtig, solange es keine wirkliche europäische Streitkräfteplanung, kein Pooling und Sharing gibt.
Aber bleiben Sie bitte konsequent. Erhalten Sie zum
Beispiel auch ein Element Heeresflugabwehrtruppe und
bei der Marine zum Beispiel auch die U-Abwehrfähigkeit der Flotte.
Fünftens. Die Spitzengliederung der Teilstreitkräfte
zu straffen, aus drei Stäben jeweils eine Kommandobehörde zu machen, findet unsere Unterstützung, ebenso
die Stärkung des Generalinspekteurs. Aber entlassen Sie
die Inspekteure der Teilstreitkräfte - oder Befehlshaber,
wie sie wohl künftig heißen sollen - nicht aus der ministeriellen Mitverantwortung. Nicht ihre Führungsstäbe,
aber die Befehlshaber in Person brauchen einen Platz im
Ministerium als Mitglieder des Militärischen Führungsrates. Vermeiden Sie die Konfliktlinie: hier Berlin, da
Truppe. Teilstreitkraftübergreifendes Denken muss die
Rationalität der neuen Bundeswehr sein.
Sechstens. Herr Minister, Sie sind Abgeordneter für
Meißen im Freistaat Sachsen. Auch Sachsen hat bedeutende Bundeswehrstandorte. Auf die Stationierung der
kleineren Bundeswehr angesprochen, werden Sie mit
dem Satz zitiert: „Ich weiß, wo ich herkomme.“ Das ist
nicht zu kritisieren, aber Sie wissen, dass es vielen Kollegen hier im Hause auch so geht wie Ihnen. Fast überall
identifizieren sich Kommunen, Bundesländer und Abgeordnete mit ihrer Bundeswehr vor Ort. Das ist kein bedauernswerter Kirchturmpatriotismus und sollte auch
nicht so verstanden werden, sondern das ist ein gutes
Fundament für die Verankerung unserer Bundeswehr in
unserer Gesellschaft.
Abschließend: Diese Reform ist chaotisch gestartet,
der neue Minister hatte nicht mehr wirklich die Chance,
die Reset-Taste zu drücken. Aber wir nehmen Ihnen ehrlich ab, dass Sie bemüht sind, jetzt das Beste daraus zu
machen. Lassen Sie uns versuchen, dabei so viel parteiübergreifenden Konsens wie möglich zu finden.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn eine Tageszeitung, die unserer Regierungsarbeit
nicht immer wohlwollend gegenübersteht,
({0})
schreibt: „… was Thomas de Maizière … als knallharte
Analyse der Lage präsentiert und als künftige Ausrichtung der Bundeswehr vorgegeben hat, das hat Hand und
Fuß“, und wenn dies die überwiegende Meinung der
meisten Kommentatoren widerspiegelt, dann muss der
Verteidigungsminister seine Arbeit richtig gut gemacht
haben.
({1})
Mit den Eckpunkten und den Verteidigungspolitischen
Richtlinien ist eine hervorragende Grundlage für die notwendige Neuausrichtung der Bundeswehr vorgelegt
worden.
Herr Minister de Maizière, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Ihnen für Ihre sorgfältige, seriöse und
ungeschönte Analyse der Lage.
({2})
Sie haben die Gründe für die Neuausrichtung der Bundeswehr ausführlich angesprochen. Ihre Darlegungen
zeigen die Größe der Herausforderungen und die
Schwierigkeiten auf, die Pläne für die Neuausrichtung
der Bundeswehr umzusetzen, zumal wir schon heute die
zu erwartenden Widerstände in den Apparaten, aber
auch in der Fläche gut abschätzen können, wenn es darum geht, Veränderungen und tiefgreifende Einschnitte
zu akzeptieren. Wir alle stehen vor der Frage: Wollen
wir eine moderne, effiziente Bundeswehr mit zukunftsfähigen Strukturen, die den sicherheitspolitischen Aufgaben im 21. Jahrhundert und dem Heimatschutz gerecht
wird, die bündnisfähig ist und die als Instrument der Außenpolitik zur Wahrung unserer Interessen beitragen
kann, oder wollen wir das nicht? Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will eine solche Bundeswehr. Deshalb
unterstützen wir Sie, Herr Minister, bei Ihren Reformplänen nachdrücklich.
Meine Damen und Herren, die drängendste Frage
- das wurde zu Recht angesprochen - ist die der Personalgewinnung. Die Bundeswehr muss sich gegen die
Konkurrenz am Arbeitsmarkt künftig noch stärker behaupten. Deshalb müssen wir die Attraktivität des
Dienstes deutlich verbessern. Wir brauchen ein neues
Konzept für die Rekrutierung von Nachwuchs. Es gibt
inzwischen viele Vorschläge, wie dies geschehen könnte,
beispielsweise durch Maßnahmen zur Verbesserung der
Vereinbarkeit von Familie und Dienst, durch attraktivere
Laufbahnen oder durch die Ausweitung der Möglichkeiten, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben. Vor allem
aber muss ein wirksames Attraktivitätsprogramm zielgruppenorientiert formuliert, konzipiert und kommuniziert werden. Aus unserer Sicht geht es dabei vorrangig
um Besoldung, Dienstzeitregelungen, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, attraktive Standorte, angemessene Unterkünfte sowie umfassende Einsatzversorgung
einschließlich der Nachsorge.
Weil das Thema von Herrn Bartels und Herrn Arnold
angesprochen wurde, möchte ich festhalten: Es ist realistisch, dass der Verteidigungsminister die Zahl der freiwillig Wehrdienstleistenden zunächst mit 5 000 ansetzt.
Es war uns von Anfang an klar, dass die Bereitschaft zu
diesem Dienst in der Übergangszeit eher niedriger sein
wird. Es ist daher besser, weniger einzuplanen und dann
mehr zu erhalten als umgekehrt.
Natürlich, Herr Arnold und Herr Bartels, rennen Sie
bei uns offene Türen ein, wenn Sie sagen, man müsse alles tun, damit es mehr als 5 000 junge Menschen werden, die den freiwilligen Wehrdienst leisten wollen.
({3})
- Sehr richtig, aber dann müssen auch Sie und Ihre Partei alles dafür tun. - Das heißt zunächst einmal, dass der
Bundeswehr die Möglichkeit gegeben wird, in den Schulen offensiv zu werben.
({4})
Stattdessen besteht doch in den SPD-regierten Bundesländern und Kommunen die Tendenz, Soldaten in Uniform mehr und mehr aus den Schulen herauszudrängen
oder Jugendoffiziere erst gar nicht mehr hereinzulassen.
Das ist die Realität. Das muss aufhören.
({5})
Meine Damen und Herren, über die Verteidigungspolitischen Richtlinien hat Stefan Kornelius vor wenigen
Tagen in der Süddeutschen Zeitung geschrieben:
De Maizières Richtlinie ist ein bemerkenswertes
Dokument sicherheitspolitischer Reife, sachlich
kühl, punktgenau und ohne sprachliche Verbrämung.
Es ist gut, dass ein solches Dokument in verständlicher Klarheit unsere sicherheitspolitischen Interessen,
Aufgaben und Ziele beschreibt. Kernpunkt der Neuausrichtung ist, dass sich die Fähigkeiten der Bundeswehr
aus ihrem Auftrag und ihren Aufgaben ableiten. Die Bedeutung, die die Verteidigungspolitischen Richtlinien
der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung beimessen, wird von uns ausdrücklich geteilt.
Derartige Einsatzszenarien bleiben für die Bundeswehr
auf absehbare Zeit die wahrscheinlichsten Aufgaben.
Dazu gehört auch, dass Deutschland bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben aufgrund seines Gewichts und
seiner Wirtschaftskraft grundsätzlich eine besondere
Verantwortung hat.
Ich stimme dem Verteidigungsminister zudem ausdrücklich zu, dass wir vor der Entsendung von deutschen
Soldaten zuvorderst unsere primär sicherheitspolitischen
Interessen diskutieren sollten. Dies ist gerade auch wichtig für die Beantwortung einer Frage, die wir jetzt verstärkt angehen müssen - zunächst bei uns und dann mit
unseren Partnern -: Welche Aufgaben können künftig in
der EU und im Bündnis gemeinsam oder arbeitsteilig
wahrgenommen werden? Denn eines ist klar: In der EU
geht die Zeit von voll ausgerüsteten Armeen zu Ende.
Will Europa dennoch seine Handlungsfähigkeit zur Verteidigung seiner Sicherheit und seiner Interessen wahren, braucht es starke und effiziente europäische Streitkräfte. Diese werden sich nur aus einer verstärkten
Bündelung von nationalen Fähigkeiten und Kapazitäten
({6})
sowie aus einer verstärkten Rollen- und Aufgabenverteilung ergeben.
Es wird kein Weg daran vorbeiführen, zu prüfen und
dann auch umzusetzen, wo wir Fähigkeiten mit anderen
teilen wollen, wo wir Fähigkeiten übernational mit anderen einbringen wollen und auf welche Fähigkeiten wir
ganz verzichten wollen, weil andere sie verlässlich und
günstiger bereitstellen.
({7})
Es ist richtig:
Gegenseitige Abhängigkeiten für den Einsatz und
im Einsatz dürfen nur in dem Maße zugelassen werden, wie dies die Wahrnehmung der Aufgaben erfordert.
So steht es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien.
Aber es sind eben gegenseitige Abhängigkeiten, die
uns als Parlament mit unserem Recht der Mandatierung
von Bundeswehreinsätzen vor neue Herausforderungen
stellen; denn unsere Partner werden berechtigterweise
fragen, ob wir als Bundestag im entscheidenden Moment
bereit sind, die deutschen Streitkräfte zur Verfügung zu
stellen, auf die sich unsere Partner in einem solchen
Konzept der Aufgabenteilung stützen. Das müssen wir
natürlich auch von unseren Partnern wissen. Es geht
hierbei um Berechenbarkeit, um Verlässlichkeit und um
gegenseitiges Vertrauen unter Bündnispartnern. Dies erfordert eine ehrliche Diskussion darüber, wo wir derartige Streitkräfte einsetzen wollen und wo wir sie nicht
einsetzen wollen.
Meine Damen und Herren, wir begrüßen es ausdrücklich, dass der Verteidigungsminister die Debatte über
diese sicherheitspolitischen Fragen und unsere sicherheitspolitischen Interessen offensiv führt. Nur durch eine
solche Debatte werden wir das Verständnis der Menschen in unserem Land für die Herausforderungen und
Bedrohungen für unsere Sicherheit und für die sich daraus ergebenden Aufgaben der Bundeswehr befördern
können. Das ist dringend notwendig.
Herr Minister de Maizière, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hält Ihre Überlegungen und Pläne zur Neuausrichtung der Bundeswehr für richtig. Diese in die Tat
umzusetzen, ist eine Mammutaufgabe, die uns über viele
Jahre fordern wird. Wir werden Sie dabei tatkräftig unterstützen.
({8})
Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Minister hat gesagt, er möchte zeitgleich 10 000 Soldatinnen und Soldaten in zwei großen und mehreren kleineren Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig einsetzen können. Herr Trittin möchte noch mehr davon.
Das heißt im Klartext, dass Sie in Zukunft in der Lage
sein wollen, zwei Einsätze wie den in Afghanistan
durchzuführen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein!
Der eine Einsatz, den wir haben, ist schon viel zu viel.
Die Bundeswehr muss sofort aus Afghanistan und den
anderen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden.
({0})
Sie sagen, neben den finanziellen Anreizen gehe es
darum, die jungen Menschen davon zu überzeugen, den
Reiz des Besonderen zu erfahren, sich selbst einen
Dienst zu erweisen und unserem Land zu dienen. Am
Mittwoch ist nun ein weiterer junger Mann in Afghanistan getötet worden. Meinen Sie ernsthaft, dass Ihre salbungsvollen Worte ein Trost für die Eltern und Freunde
der inzwischen 49 in Afghanistan getöteten und der unzähligen traumatisierten Soldaten sind?
({1})
Um genügend junge Männer und Frauen für den freiwilligen Wehrdienst zu ködern, rührt das Verteidigungsministerium nun kräftig die Werbetrommel. Was viele
nicht wissen: Mit diesem freiwilligen Wehrdienst ist ein
Einsatz im Ausland verbunden.
Seit 2006 haben sich die Anzahl der öffentlichen Auftritte der Bundeswehr auf Ausbildungsmessen und anderen Veranstaltungen sowie die Kosten dafür mehr als
verdoppelt, und das bereits vor der Aussetzung der
Wehrpflicht. Seit März läuft eine millionenschwere Werbekampagne in der Springer-Presse, auf Radio- und
Fernsehkanälen.
({2})
Neulich hat das ARD-Magazin Panorama einen interessanten Beitrag zu diesem Thema gebracht. Ein Lehrer
berichtete darin über den Besuch eines Wehrdienstberaters in einer Schule in Prerow, Mecklenburg-Vorpommern. Der Lehrer wunderte sich, warum der Wehrdienstberater eine Karriere bei der Bundeswehr als einen Job
wie jeden anderen, wie bei BMW, Mercedes oder einer
Werft, darstellte, aber von Krieg und posttraumatischen
Belastungsstörungen nicht redete.
Bei der Werbekampagne der Bundeswehr kommen
die hässlichen Bilder aus Afghanistan nicht vor. Darin ist
immer von Chancen, Karriere und Ausbildung die Rede.
Aber welche Chancen haben jetzt die Soldaten, die getötet wurden, oder all die Soldaten, die mit körperlichen
und seelischen Verletzungen heimgekommen sind? Sie
geben vor, den Jugendlichen eine Perspektive zu bieten;
doch Sie verschweigen die Risiken und Nebenwirkungen.
({3})
Dies betrifft besonders die Jugendlichen aus strukturschwachen Regionen.
Die Geschäftsführerin der Werbeagentur, die mit der
Werbekampagne der Bundeswehr beauftragt worden ist,
hat es ganz ehrlich auf den Punkt gebracht: Wenn man
für Schokoriegel Werbung macht, dann sagt Ihnen auch
niemand, dass man fett wird, wenn man 5 Kilogramm
davon isst. Das, meine Damen und Herren, ist zynisch.
({4})
Die Bundeswehr steigert ihre Aktivitäten an Schulen
sowie in der Lehrer- und Referendarausbildung. Wir
meinen: Die Bundeswehr hat an der Schule nichts zu suchen. Politische Bildung ist die Aufgabe von ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen. Dafür muss Geld ausgegeben werden, nicht aber für die Propaganda der
Bundeswehr.
({5})
Es kann ja wohl nicht wahr sein: Erst strangulieren Sie
mit Ihrer Kürzungspolitik das Bildungssystem, und dann
springt die Bundeswehr mit ihrer Propaganda ein.
In vielen Bundesländern regt sich Widerstand von
Schülern, Eltern und Lehrern gegen die Auftritte von
Bundeswehr an Schulen und auf Berufsmessen. Wir halten das für gut.
({6})
GEW, kirchliche Gruppen und Schüler schließen sich
zusammen und setzen sich zur Wehr. Neulich erzählte
mir eine Lehrerin aus dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg, dass sich das Robert-Blum-Gymnasium in einer
Schulkonferenz zur Schule ohne Militär erklärt hat.
Schüler der Hulda-Pankok-Gesamtschule in Düsseldorf
haben ihre Lehrer und Eltern überzeugt, keine Bundeswehr mehr an ihre Schule zu lassen. Das sind die richtigen Schritte, die Schüler, Eltern und Lehrer machen können.
({7})
Ich denke oft an eine Mutter aus Thüringen, die mir
berichtete, ihre beiden Söhne seien nach dem Einsatz in
Afghanistan traumatisiert, hätten selbst nach Monaten
nicht in den Alltag zurückgefunden. Für sie und alle
Eltern wünsche ich mir, dass sie mit Reinhard Mey sagen: Nein, unsere Söhne geben wir nicht - und unsere
Töchter auch nicht.
({8})
Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, Sie haben in Ihrer Rede heute, aber auch mit
der großen - nein, ich korrigiere mich -, mit der langen
Rede in der letzten Woche einiges gesagt, was unsere
Zustimmung findet. Aber Sie haben viele Fehler der Reform nicht behoben bzw. gar nicht angehen können.
Ich beginne mit der sicherheitspolitischen Ableitung,
mit dem Geburtsfehler der Reform. Die Reform ist von
der Reihenfolge her auf den Kopf gestellt. Normalerweise definiert man Aufgaben, und anschließend sagt
man, welche Strukturen man dafür braucht. Ihr Vorgänger hat erst erklärt, was alles in den Strukturen passieren
muss, wie das Ministerium möglicherweise auszusehen
hat, und hat dann gesagt: Am Ende machen wir vielleicht auch noch ein neues Weißbuch. - Sie haben jetzt
versucht, die sicherheitspolitische Begründung nachzuliefern.
Sie haben mittlerweile die Verteidigungspolitischen
Richtlinien verfasst, die aber - das muss man feststellen,
wenn man ehrlich ist - nur so etwas wie Ihre Privatmeinung sein können. Die Inkraftsetzung der Verteidigungspolitischen Richtlinien ist ein Verwaltungsakt.
Das, was Sie heute hier beschrieben haben, ist nicht
deckungsgleich mit dem, wie beispielsweise der Außenminister im UN-Sicherheitsrat gehandelt hat.
Das heißt, wenn wir eine kohärente verteidigungsund sicherheitspolitische Ableitung brauchen, dann
muss es eine sein, die auch innerhalb der Bundesregierung abgestimmt ist. Das, was Sie heute beschrieben haben, wird in der Bundesregierung möglicherweise gar
kein Konsens sein. Sie hatten Vorgänger, die versucht
haben, die Verteidigungspolitischen Richtlinien im Kabinett beschließen zu lassen. Sie hingegen haben dies gar
nicht erst versucht. Wenn ich mir das Kabinett anschaue,
verstehe ich das zwar in emotionaler Hinsicht, allerdings
ist es handwerklich unsauber.
Damit bin ich beim zweiten großen Problem. Die
Auseinandersetzung begann mit der Frage nach den Einsparzielen: Wie sehen die aus? Wie sparen wir? Was
kostet das alles? Das alles wissen wir nicht; das alles sagen Sie uns nicht. Sie sagen zwar: „Wir führen jetzt eine
große Reform durch“, aber die Information über das,
was die Grundlage dafür ist, nämlich die finanzielle
Ausstattung, enthalten Sie uns komplett vor.
Fakt ist: Das Kabinett hat beschlossen, 8,3 Milliarden
Euro in vier Jahren einzusparen. Dafür haben der damalige Verteidigungsminister, die Bundeskanzlerin, der damalige Gesundheitsminister, der Außenminister und der
ehemalige Innenminister die Hand gehoben. Sie alle
haben die Hand für Einsparungen in Höhe von
8,3 Milliarden Euro in vier Jahren gehoben. Wenige
Wochen später hat dasselbe Kabinett beschlossen, dass
die Bundeswehr eine Gesamtgröße von 185 000 Soldaten haben soll. Im Anschluss hat der damalige Verteidigungsminister gesagt: Im Übrigen sind die Einsparziele
nicht mehr zu erreichen. - Angesichts dessen stellt sich
die Frage: Weiß das Kabinett eigentlich noch, was es beschließt? In einer solchen Situation ist es kein Wunder,
dass Sie nicht das gesamte Kabinett mit Ihren Plänen betrauen. Was Sie vorhaben, passt vorne und hinten nicht
zusammen; die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut.
({0})
Sie gehen aber auch nicht auf Fragen ein, die sich auf
Ihr eigenes Handeln beziehen. Mit Blick auf die Aussetzung der Wehrpflicht stellt sich beispielsweise die Frage,
wer den Objektschutz durchführt, wenn es keine Wehrdienstleistenden mehr gibt. Diese Frage habe ich gestellt,
ein halbes Jahr nachdem die politische Entscheidung bereits gefallen war. Die sinngemäße Antwort des Staatssekretärs war: Das ist eine gute Frage; wir denken jetzt
einmal darüber nach, wie wir das machen.
Über unglaublich viele relevante Details Ihrer Reform
wurde nicht entschieden. Sie sind auf diese Details auch
in Ihren Reden überhaupt nicht eingegangen. Wie wollen
Sie eigentlich mehr Freiwillige gewinnen? Das ist mir
bisher nicht klar geworden. Sie haben nur gesagt, dass
sich die Bundeswehr auf Veranstaltungen vorstellen soll.
Das ist aber kein schlüssiges Konzept, wie man Freiwillige gewinnen kann; wir verstehen es nicht. Es ist auch
nichts, was bisher zu Ende gedacht worden ist.
Das gilt natürlich auch für die Beschaffung. Die Beschaffungsfrage ist von zentraler Bedeutung, wenn es
darum geht, das Geld zusammenzuhalten. Es gibt Beschaffungsprojekte, die in den 80er-Jahren begonnen
wurden - da haben die Grünen im Übrigen nicht regiert,
Herr Koppelin - und die bis heute noch nicht abgeschlossen sind. Die Frage ist, welche Philosophie man in
Bezug auf die Beschaffung verfolgt. Die Beschaffung
darf sich nicht daran ausrichten, wie man am besten
Standortpolitik macht. Auch dazu haben Sie bisher kein
einziges Wort gesagt.
Das Zusammenhalten des Geldes ist ein wichtiger
Punkt, wenn man das Ziel erreichen möchte, die Bundeswehr flexibel zu gestalten. Flexibilität ist bekanntermaßen entscheidend für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr. Wir konnten uns vor zehn Jahren noch nicht
vorstellen, dass wir in den Afghanistan-Einsatz gehen.
Wir haben vor drei Monaten noch nicht daran gedacht,
was in Libyen passiert. Wir wissen auch nicht, über was
wir in fünf oder zehn Jahren diskutieren.
Wie gesagt, die Flexibilität ist ein entscheidender
Punkt. Um sie zu gewährleisten, müssen Sie angemessene Strukturen schaffen und an die Beschaffungsfrage
anders herangehen. Außerdem müssen Sie das Geld zusammenhalten. Mit der Feilscherei um die Sparziele leisten Sie der Bundeswehr einen Bärendienst. Was Sie
heute nicht einsparen, was Sie dem Finanzminister heute
doch noch abknapsen, müssen Sie morgen zweimal oder
dreimal bezahlen.
Letzter Punkt. Sie haben viel von Bündnissolidarität
und Bündnispolitik gesprochen. In einer Zeit, in der wegen der Finanzfrage alle relevanten Bündnispartner
ebenfalls Reformen durchführen - viele sparen ein; darin
liegt eine große Chance für Abrüstung, worüber Sie
ebenfalls kein Wort verloren haben -, führen Sie aber
eine rein nationale Reform durch, statt sich im NATOBündnis und auf Ebene der EU abzusprechen, wie man
Potenziale schaffen, wie man gemeinsam einsparen und
wie man Synergieeffekte nutzen kann.
({1})
Das Wort hat nun Ernst-Reinhard Beck für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Bartels hat, in Frageform gekleidet, festgestellt, er habe noch nicht verstanden, was der
Sinn dieser Reform sei. Entweder hat er nicht zugehört,
oder er hat nur eine rhetorische Frage gestellt, die er allerdings am Schluss seiner Rede selbst beantwortet hat.
Die sechs Punkte, die er vorgestellt hat, habe ich so verstanden, dass er die Grundannahmen dieser Reform zwar
für richtig hält, dass er aber bestimmte Aspekte noch im
Detail diskutieren will. Ich glaube, genau das ist der Sinn
dieser Debatte. Daher fordere ich Sie zu einer konstruktiven Zusammenarbeit auf. Polemik dieser Art gehört
vielleicht am Anfang der Debatte dazu; aber am Ende
muss sie konstruktiv verlaufen.
Was der Minister hier unaufgeregt vorgetragen hat,
war ein klar definiertes Konzept zur künftigen Rolle der
Bundeswehr im Rahmen nationaler Sicherheitsvorsorge
und internationaler Bündnisverpflichtungen. Die Eckpunkte der Neuausrichtung basieren auf einer fundierten
sicherheitspolitischen Analyse, aus der sich Aufgaben
und Aufgabenprofil der Bundeswehr geradezu zwangsläufig ableiten lassen.
Herr Kollege Schäfer, die Verteidigungspolitischen
Richtlinien sind eben kein alter Hut, sondern das Ergebnis einer nüchternen Beschreibung von sicherheitspolitischen Fakten. Sie bilden im Grunde eine realistische Basis für eine Analyse der Fähigkeiten unserer Streitkräfte.
Sie zeichnen sich durch Klarheit, durch eine gewisse
Schärfe in der Formulierung, aber auch durch Sachlichkeit aus. Sie zeigen auf, wie unsere Sicherheitsinteressen
von unseren Werten und Zielen abgeleitet werden. Ich
finde es also richtig, dass wir an dieser Stelle auch über
unsere Interessen diskutieren.
Herr Kollege Trittin, ich halte es für erfreulich, dass
an erster Stelle im Aufgabenspektrum die Landesverteidigung als Bündnisverteidigung steht. Ich sage Ihnen
auch, warum. Wir können semantisch darüber streiten,
ob es „Reihenfolge“ oder „Rangfolge“ heißen sollte.
({0})
- Aber Sie haben es angesprochen. - Zur Rangfolge
möchte ich sagen, dass in Art. 87 a Abs. 1 Grundgesetz
steht:
Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.
Das ist völlig richtig; es ist die primäre, von der Bevölkerung zu nahezu 100 Prozent akzeptierte Aufgabe von
Streitkräften, den Schutz des eigenen Landes und der
Bürger zu gewährleisten. Ich finde es richtig, dass das
am Anfang steht und damit eine gewisse Wertigkeit hat.
Sie leiten aus der geringeren Bedeutung der Landesverteidigung ab, dass man bei der Ausrüstung auf Altes,
was man früher für die Landesverteidigung im klassischen Sinne benötigte, verzichten kann. Dazu muss ich
sagen: Das wäre eine fahrlässige Vernachlässigung potenzieller Bedrohungen.
({1})
Ich nenne zum Beispiel: Cyberwar. Das ist eine neue Art
der Bedrohung. Ich nenne auch die Abwehr ballistischer
Raketen. Diese Bedrohungen bestehen, wenngleich es
keine konventionelle Bedrohung an den Grenzen gibt.
Herr Kollege Schäfer, ich höre, Sie wollen, dass sich
die Bundeswehr allein auf die Landesverteidigung konzentriert. Ich mache Sie deshalb auf Art. 24 Grundgesetz
aufmerksam, der das kollektive Sicherheitssystem und
die Mitwirkung der Staaten an der Aufrechterhaltung der
internationalen Stabilität und Sicherheit zum Thema hat.
Ihre Aussage zeigt im Grunde, dass Sie diese Verantwortung, die Sie bisher bei allen Auslandseinsätzen ausblenden, bewusst ausblenden. Das finde ich nicht in Ordnung; ich muss das in aller Klarheit sagen.
({2})
- Die Verantwortung für das Leben von Soldaten nehmen wir dadurch wahr, dass wir sie gut ausbilden, gut
ausrüsten und mit einem entsprechenden Auftrag in den
Einsatz schicken. Ich glaube, es ist eine ethische Verantwortung, den Schutz des Lebens der Zivilbevölkerung
und die Hilfeleistung im Einsatz zu gewährleisten. Frau
Kollegin, der Schutz von Soldaten allein kann nicht das
oberste Prinzip des Handelns sein; sonst dürften wir sie
erst gar nicht in den Einsatz schicken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Heimatschutz - für viele ein Relikt aus vergangenen Zeiten wird ausdrücklich an privilegierter Stelle erwähnt. Die
Bundeswehr hat sich hier in der Vergangenheit als tatkräftiger Helfer erwiesen und zugleich die Verbundenheit mit den Menschen in unserem Land unter Beweis
gestellt.
Der Minister hat dankenswerterweise an mehreren
Stellen darauf hingewiesen, dass wir ein modernes Reservistenkonzept brauchen. Reservisten sind nicht nur
ein Bindeglied zwischen Bundeswehr und Gesellschaft,
sondern auch eine Verstärkung der Truppe bei den vielfältigen Aufgaben, die jetzt auf uns zukommen.
Die deutschen Sicherheitsinteressen werden mit Konfliktverhinderung, sicherheitspolitischer Glaubwürdigkeit, transatlantischer und europäischer Partnerschaft, internationaler Geltung der Menschenrechte, Demokratie
und Völkerrecht umfassend beschrieben. Ich brauche
hier nicht im Einzelnen darauf einzugehen.
Lassen Sie mich zum Umfang der Bundeswehr kommen. 170 000 länger dienende Berufs- und Zeitsoldaten
sind eine realistische Zahl; es ist für mich die Grenze,
die Deutschland als ein Land, das in Europa eine besondere Verantwortung trägt, nicht unterschreiten sollten.
Lassen Sich mich ein Wort zum Thema Freiwilligenwerbung sagen. Herr Kollege Arnold, Sie haben hier
frühzeitig ein Konzept zum Scheitern verurteilt, dessen
Umsetzung eigentlich noch gar nicht richtig begonnen
hat. Es wäre eigentlich schade, wenn es scheitern würde.
Ernst-Reinhard Beck ({3})
({4})
Denn ich glaube, dass eine Chance darin liegt,
({5})
an die jungen Menschen zu appellieren: Tut etwas für
euer Land, egal ob bei der Bundeswehr, in einem sozialen Jahr, im Entwicklungsdienst oder auf andere Art und
Weise! Wir sollten im Grunde klarmachen: Wir brauchen
junge Menschen, die sich für die Gemeinschaft einsetzen.
({6})
- Herr Groschek, da sind wir uns einig. - Es geht darum,
dass in einem bestimmten Teil der Biografie nicht nur
das Ich im Vordergrund steht, sondern auch deutlich
wird, dass es eine Verpflichtung gegenüber den anderen
gibt. Lassen Sie uns daran arbeiten und nicht vorzeitig
aufgeben. Wir müssen mit einer Anerkennungskultur für
die Freiwilligendienste, das Ehrenamt und den Einsatz
für die Gemeinschaft werben.
({7})
Kollegin Buchholz, es ist einfach primitive Polemik,
wenn Sie von der Propaganda der Bundeswehr und ähnlichen Dingen sprechen. Ich halte es für wichtig, dass
junge Menschen informiert - nicht indoktriniert - werden: über die Aufgaben der Streitkräfte, über die elementare Aufgabe des Staates, für die Sicherheit eines
Landes zu sorgen. Das ist eine wichtige Bildungsaufgabe, und keine Propaganda; lassen Sie sich das an dieser Stelle sagen.
({8})
Zum Finanzkonzept. Seitens der Opposition ist viel
Kritik daran geübt worden. Es wurde auch gesagt, dass
ein solches Konzept im Augenblick fehlt. Ich meine,
diese Kritik ist dem politischen Ritual geschuldet. Natürlich steht und fällt die Reform mit einer soliden Finanzinie; das ist völlig klar. Ich bin sicher, dass wir diese bekommen werden. Lassen Sie mich an dieser Stelle daran
erinnern, dass das gesamte Parlament Verantwortung für
die Parlamentsarmee trägt und nicht nur die Regierung
und die sie tragenden Fraktionen. Ich lade die Opposition herzlich ein, bei der Bewältigung dieser schwierigen
Finanzierungsaufgabe mitzuwirken.
Kritisch angemerkt wurde auch die fehlende Einbindung, etwa in den europäischen Kontext. Ich glaube,
dass sich jeder Bündnispartner bei der Reform seiner
Streitkräfte zunächst am nationalen Rahmen orientiert
und dabei die entsprechenden Potenziale aufrechterhält.
Der Präsident zeigt mir an, dass meine Redezeit abgelaufen ist. Ich möchte schließen mit dem Dank an den
Minister für das Konzept. Ich möchte ihm für diese
schwierige Aufgabe die Unterstützung meiner Fraktion
zusichern und ihm eine glückliche Hand wünschen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bereits in der Koalitionsvereinbarung haben CDU,
CSU und FDP die Neuausrichtung der Bundeswehr angelegt. Der ehemalige Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg hat diese Aufgabe mit großer
Entschlossenheit angenommen.
({0})
Er hat eine der größten Reformen dieser Legislatur mit
Weitblick, mit Dynamik und mit großem Mut auf den
richtigen Weg gebracht.
({1})
Das ist ein Verdienst, das bleibt.
Dies haben Sie, Herr Minister de Maizière, in Ihrer
Rede zur Neuausrichtung der Bundeswehr am 18. Mai
2011 in Berlin deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen
ausdrücklich danken. Sie haben darauf aufgebaut, und
Sie haben mit der Fertigstellung der Verteidigungspolitischen Richtlinien der Reform unserer Streitkräfte die
notwendige und vor allem richtige sicherheitspolitische
Ausrichtung gegeben. Damit ist ein solides Fundament
gegossen, auf das wir nun fähigkeits- und einsatzorientiert aufbauen können. Dies erfolgt unter den richtigen
Prämissen der nachhaltigen Finanzierbarkeit und der Demografiefestigkeit.
Wie sich Fundament und Prämissen auf die Neugestaltung auswirken, zeigt sich beispielsweise bei der Planung des zukünftigen Personalumfangs. Mit 240 000 militärischen und zivilen Dienststellen haben wir einen
Level erreicht, der verteidigungspolitisch noch verantwortbar ist. Das ist aber auch ein Umfang, der mit Blick
auf die demografische Entwicklung erreichbar zu sein
scheint, ohne Qualitätseinbußen hinnehmen zu müssen.
Denn was nützt es uns, wenn wir auf dem Papier mit
Nachwuchs planen, die gewünschte Zahl an qualifizierten Nachwuchskräften aber nicht erreichen können?
Diese wichtige demografische Dimension haben Sie,
Herr Minister, in vielen Gesprächen in den letzten Wochen immer wieder sehr eindrucksvoll aufgezeigt.
Mit einer sicherheitspolitisch verantwortbaren und
demografiefesten Reduzierung des Personalumfangs
kann langfristig auch ein entscheidender Sparbeitrag geleistet werden. Bis dahin verlangt der Personalumbau
aber wahrscheinlich zusätzliche Mittel, die es aus meiner
Sicht entsprechend einzelplanunschädlich zu berücksichtigen gilt.
({2})
- Es ist genau so, wie ich es gesagt habe, Herr Bartels:
einzelplanunschädlich. Das wäre mein Vorschlag an dieser Stelle.
Insgesamt gilt, dass Sicherheit Kernelement staatlichen Handelns ist und wir die Bundeswehr finanziell
nachhaltig ausstatten müssen, damit unsere Soldatinnen
und Soldaten ihren Auftrag bestmöglich erfüllen können. Zur optimalen Auftragserfüllung gehört die Bereitstellung einer modernen, schützenden Ausrüstung. Hierbei leisten gerade die deutsche und die europäische
Wehrtechnik einen wichtigen Beitrag. Den Erhalt deutscher Kernfähigkeiten im Bereich dieser Hochtechnologien gilt es daher unbedingt zu berücksichtigen. Wir
müssen unsere Soldaten weiterhin optimal ausstatten
können, ohne uns von anderen abhängig zu machen.
Hierzu brauchen wir - auch das wurde schon angesprochen - optimale Beschaffungsprozesse.
({3})
Ich möchte Ihnen, Herr Minister, auch dafür danken,
dass Sie am 18. Mai so deutliche Worte zur Frage der
Standorte gefunden und sich für ihre Erhaltung in der
Fläche ausgesprochen haben.
({4})
Gerade in regionaler Nähe wird die Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen. Das ist als ein
Aspekt erfolgreicher Personalrekrutierung zu sehen. Darüber hinaus erhält eine Flächenpräsenz die große Verbundenheit mit der Bevölkerung am Standort und damit
die Verankerung der Armee in unserer Gesellschaft aufrecht. Diese Verankerung wird durch die Verkleinerung
auf der einen Seite und die Aussetzung der Wehrpflicht
auf der anderen Seite nicht leichter. Die damit verbundene Herausforderung müssen wir bei der Neuausrichtung im Auge behalten.
Um gerade jungen Menschen die wichtige Rolle der
Bundeswehr in unserem Staatswesen zu vermitteln, hat
sich beispielsweise das Konzept der Jugendoffiziere bewährt. Das gilt es zu erhalten und zu stärken. Die Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber muss weiterentwickelt werden. Vor allem muss ihre Attraktivität mit
geeigneten Instrumenten kommuniziert werden. Die berufliche Ausbildung sowie das Konzept der Bundeswehruniversitäten sind dabei wichtige Markenzeichen
der Bundeswehr.
Kolleginnen und Kollegen, im Hinblick auf die zuvor
geführte Diskussion und gerade im Hinblick auf die Diskussion im Ausschuss möchte ich dem Minister noch
einmal ganz herzlich danken. Er hat ein solides und tragfähiges Konzept auf den Tisch gelegt. Dabei ist es ihm
gelungen, zumindest die ernstzunehmenden Fachpolitiker der Opposition für weite Teile der Reform zu gewinnen. Der Versuch, auch heute ein Haar in der Suppe zu
suchen, ist ihrer Oppositionsrolle geschuldet und natürlich okay.
({5})
Für unsere Soldatinnen und Soldaten ist es wichtig,
dass die Reform auf einer breiten parlamentarischen
Mehrheit fußt. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen unsere Anerkennung und nicht parteipolitisches
Klein-Klein.
({6})
Allen Soldatinnen und Soldaten sowie ihren Familien
wünsche ich von dieser Stelle aus Gottes Segen.
Es freut mich nun, dass nach mir Frau Julia Klöckner
ihre Rede hält. Es ist immer besonders bedauerlich,
wenn mit dem Ausscheiden einer Kollegin aus diesem
Haus auch Kompetenz, Schlagfertigkeit und Charme
verloren gehen. Glück und Gottes Segen für Ihre neue
Aufgabe in Rheinland-Pfalz!
({7})
Nun hat mir Kollege Hahn schon die Arbeit abgenommen. Also, Kollegin Klöckner, ergreifen Sie das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat, es ist meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag, zumindest meine vorerst letzte Rede.
({0})
Ich möchte das einhalten, was ich vor der Wahl versprochen habe: dass ich komplett nach Rheinland-Pfalz
wechsele.
({1})
Für meine Rede heute habe ich mir bewusst das
Thema Bundeswehr ausgesucht. Ich komme aus einem
Bundesland, in dem die Bundeswehr eine große Rolle
spielt. Das gilt nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die Zivilbeschäftigten, sei es in
Birkenfeld, in Baumholder, im Grunde in ganz Rheinland-Pfalz.
({2})
- Dazu wollte ich gerade kommen. - Ich habe in IdarOberstein regelmäßig Gespräche mit Menschen geführt,
deren Angehörige beispielsweise in Afghanistan sind.
Wenn ich diese Gespräche beendet hatte, hatte ich meist
mehr Fragen, als ich Antworten bekommen hatte. Ich
weiß nicht, wie es Ihnen geht: Im Deutschen Bundestag
haben wir häufig über Einsätze im Ausland entschieden.
Nicht selten sind wir danach bei parlamentarischen
Empfängen gewesen und zur Tagesordnung übergegangen.
Ich kann für mich sagen: Manche Entscheidungen
habe ich schweren Herzens getroffen. Wir erleben dieser
Tage, dass Menschen, die wir in den Auslandseinsatz geschickt haben, ums Leben kommen. Es ist gleich, ob wir
diese Einsätze als Krieg bezeichnen oder nicht. Sie lassen ihr Leben im Dienst für unser Land. Das verdient
Anerkennung. Das gilt auch für diejenigen, die sich in
Zukunft für die Bundeswehr entscheiden.
({3})
Ich gebe zu: Ich war immer eine Anhängerin der
Wehrpflicht. Aber ich musste einsehen, dass die Wehrpflicht aufgrund des demografischen Wandels und der
fehlenden Wehrgerechtigkeit so nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Ich war auch eine Verfechterin der allgemeinen Dienstpflicht. Dienst an einem Land kann ganz verschiedene Gesichter haben. Man kann sich um alte
Menschen oder um Natur und Umwelt kümmern, und
man kann sich für die Sicherheit des Landes einsetzen.
Eine allgemeine Dienstpflicht ist verfassungsmäßig problematisch.
Deshalb setzt der Weg, den unser Bundesverteidigungsminister eingeschlagen hat und fortführen wird,
großes Vertrauen voraus. Er hat bereits große Zustimmung bei den Betroffenen hervorgerufen. Deshalb bitte
ich Sie alle hier im Parlament - ich werde das Nötige
von Rheinland-Pfalz aus tun -, den Minister bei diesem
Weg zu unterstützen und die Gelder zur Verfügung zu
stellen, die wir jetzt brauchen, damit wir auf längere
Sicht - nach der Neustrukturierung der Bundeswehr weniger Geld brauchen. Das ist keine parteipolitische
Frage, sondern gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
({4})
Herr Arnold hat vorhin Rheinland-Pfalz gelobt. Ich
finde, Rheinland-Pfalz ist ein super Bundesland.
({5})
Dass es so super ist, hat es seinen Bürgerinnen und Bürgern, sicherlich auch den Winzerinnen und Winzern, zu
verdanken.
({6})
Bei allem geschätzten Können Ihrer Parteikollegen: Es
geht auch um die Kraft der Menschen und darum, was
die Menschen selber dort erreichen können. Ich halte es
für nicht angemessen, dass in dem jetzigen Koalitionsvertrag von Rot und Grün steht, dass die Schule kein Rekrutierungsort für die Bundeswehr sein soll.
({7})
Damit stellen Sie die Bundeswehr mit Rechtsradikalengruppen und Sekten gleich, die nicht in der Schule werben dürfen.
({8})
Das halte ich für nicht angemessen.
({9})
Die Bundeswehr hat etwas in der Schule zu suchen; denn
sie bietet Berufsperspektiven. Die Bundeswehr bietet
Studienmöglichkeiten, handwerkliche Ausbildungen und
auch Sanitätsausbildungen.
({10})
Deshalb wird es auch Aufgabe der Bundeswehr sein,
zu werben, damit sich junge Menschen für den Dienst in
der Bundeswehr entscheiden. Wir haben bisher keine eigenen Erfahrungswerte, wie wir geeigneten Nachwuchs
auf einer Freiwilligenbasis gewinnen können. Wir brauchen jeden. Ich bin auch Realistin: Das Ehrenvolle ist
das eine; aber bei der Gewinnung von Vollbeschäftigten
werden wir aufgrund der Attraktivität vieler anderer Arbeitsplätze vor besonderen Herausforderungen stehen.
Deshalb sollten wir bei dieser Zäsur darauf achten,
dass das Gespräch über die Bundeswehr, über ihre verfassungsgemäße Verankerung nicht von den Tischen der
Familien, nicht aus der Gesellschaft verschwindet. Die
Bundeswehr ist kein Selbstzweck. Die Bundeswehr steht
auch unter einer Kontrolle. Die Bundeswehr ist für uns
im Einsatz. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden
darüber entscheiden, wen Sie wohin schicken. Die Menschen können freiwillig wählen, ob sie Dienst in der
Bundeswehr leisten - ja, das stimmt -; aber wir sollten
nicht leichtfertig über die Einsätze entscheiden.
Wie gesagt, sehr geehrter Herr Minister, von Rheinland-Pfalz aus werde ich Sie unterstützen. Ich bedanke
mich bei Ihnen und euch allen für eine tolle Zeit in neun
Jahren.
Herzlichen Dank.
({11})
Frau Klöckner, ich bedanke mich bei Ihnen im Namen des ganzen Hauses für Ihre engagierte Arbeit im
Deutschen Bundestag. Ob das allerdings Ihre letzte Rede
im Deutschen Bundestag war, kann man heute in Anbetracht Ihres Alters noch nicht vorhersehen.
({0})
Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rekommunalisierung beschleunigen - Öffentlich-Private Partnerschaften stoppen
- Drucksache 17/5776 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Wirtschaftssenator von Berlin, Harald Wolf, das
Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den
letzten Jahren haben immer mehr Kommunen ehemals
privatisierte Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge rekommunalisiert, wieder in kommunales
Eigentum überführt. Das geschah unabhängig von der
politischen Couleur: Bürgermeister, Stadträte und Gemeinderäte von CDU, SPD, Linken und Grünen - von
der FDP ist mir nichts bekannt; aber selbst das will ich
nicht ausschließen - haben sich im Interesse ihrer Kommunen entschieden, öffentliches Eigentum in öffentliche
Verantwortung zurückzunehmen, und damit die Voraussetzungen für die Kommune geschaffen, in Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger die Gewährleistung
öffentlicher Daseinsvorsorge zu verbessern.
({0})
Seit 2007 sind 42 neue Stadtwerke gegründet worden,
und 100 Konzessionsverträge für die Netze sind von
Stadtwerken übernommen worden. Bei der Abfallentsorgung hat es zwischen 2004 und 2008 im Rahmen von
Neuvergaben 49 Rekommunalisierungen gegeben. Bürgerinnen und Bürger wehren sich mit Volksentscheiden
gegen Privatisierungspläne oder haben über Volksentscheide Rekommunalisierungen durchgesetzt. In Berlin
haben wir vor einiger Zeit den Erfolg eines Volksentscheids erlebt, der unter dem Motto „Wir wollen unser
Wasser zurück“ den Protest gegen die Teilprivatisierung
der Berliner Wasserbetriebe im Jahre 1999 durch die damalige Große Koalition artikuliert hat. Über 700 000
Berlinerinnen und Berliner haben diesen Volksentscheid
unterstützt.
({1})
Dies zeigt: Immer mehr in den Kommunen Verantwortliche und immer mehr Bürgerinnen und Bürger haben mit der Privatisierungswelle der 90er-Jahre Erfahrungen gemacht. Viele der Versprechungen, die damals
gemacht wurden, haben sich nicht erfüllt, und viele Verheißungen, die damals an die Wand gemalt wurden, haben sich nicht realisiert.
Die Öffentlich-Privaten Partnerschaften haben sich
als nichts anderes als eine verdeckte Kreditaufnahme erwiesen. Die kommunalen Haushalte wurden durch lang
laufende Verbindlichkeiten weiter belastet. Effizienzgewinne für die Haushalte sind in der Regel nicht eingetreten; sie bestanden vor allen Dingen aus Steuerersparnissen für Leasinggesellschaften oder andere Betreiber. Die
Risiken blieben in der Regel bei der öffentlichen Hand.
Deshalb hat übrigens das Abgeordnetenhaus von Berlin
vor geraumer Zeit mit einer breiten Mehrheit, die über
die Mehrheit der Koalition von SPD und Linken hinausging, beschlossen, keine Projekte der Öffentlich-Privaten Partnerschaft einzugehen. Der Grundsatz ÖffentlichPrivater Partnerschaften lautet nämlich: Public - das
heißt die Öffentlichkeit - pays, Private profits.
({2})
Für die Kommunen lohnen sie sich nicht.
({3})
Die Erfahrungen mit der Privatisierung von Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge waren häufig,
dass die Preise gestiegen sind, dass insbesondere bei den
infrastrukturgebundenen Leistungen Monopolstellungen zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgenutzt wurden, dass teilweise Investitionen und Instandhaltung zurückgefahren worden sind und
Arbeitsbedingungen sich verschlechtert haben; auch der
Verlust der öffentlichen Steuerung ist selbstverständlich
eine der Folgen.
Ich will an dieser Stelle sagen: Es hat sich auch finanziell für die Kommunen nicht ausgezahlt; denn für eine
kurzfristige Einnahme - einmalig in einem Haushaltsjahr - wurde eine langfristige, nachhaltige Einnahmequelle aufgegeben. Ich will Ihnen das an einem Beispiel
deutlich machen.
Ich habe schon die Teilprivatisierung der Berliner
Wasserbetriebe angesprochen. Damals ist für
1,7 Milliarden Euro die Hälfte der Anteile an Private
veräußert worden. Wenn man ausrechnet, welche Zinsersparnis das bedeutet - 1,7 Milliarden Euro, 4 Prozent
Zinsen -, kommt man auf circa 70 Millionen Euro. Die
Privaten haben eine Rendite von circa 120 Millionen
Euro. Das heißt, ich könnte für den Haushalt jährlich
diese Zinsersparnis von 70 Millionen Euro sozusagen als
öffentliche Einnahme verbuchen, wenn ich die Anteile
noch hätte, und gleichzeitig hätte ich ein Tarifsenkungspotenzial zugunsten der Kundinnen und Kunden in Höhe
von 50 Millionen Euro. Es hat sich also weder für die
Kunden noch für die Kommune gerechnet.
({4})
Aus derartigen Privatisierungserfahrungen müssen die
Lehren gezogen werden.
({5})
Deshalb hat der Senat von Berlin auch beschlossen,
die Berliner Wasserbetriebe zu rekommunalisieren. Wir
stehen gegenwärtig in Verhandlungen mit RWE über den
Senator Harald Wolf ({6})
Rückkauf der Anteile und in Verhandlungen mit dem
zweiten Anteilseigner, Veolia, über einen Neuabschluss
der Verträge.
Wir haben eine breite Diskussion über die öffentliche
Verfügung über die Energienetze, weil 2014 die Konzessionsverträge auslaufen.
Wir haben in Berlin eine kommunale Wertstofftonne
eingeführt, um unseren kommunalen Entsorger zu stärken.
Wir haben noch eine Konsequenz aus den Erfahrungen der Vergangenheit gezogen, nämlich die, dass bei
der Übertragung öffentlicher Aufgaben der Daseinsvorsorge an Dritte die Verträge offengelegt werden müssen,
dass keine vertraulichen Verträge mehr abgeschlossen
werden dürfen. Wir haben ferner die Voraussetzung dafür geschaffen, dass derartige Verträge auch rückwirkend
offengelegt werden können. Ich würde mich freuen,
wenn andere Bundesländer sich daran ein Beispiel nehmen würden, weil das die Transparenz stärkt.
({7})
Herr Senator Wolf, ich darf Sie kurz unterbrechen.
Der Kollege Mücke von der FDP und der Kollege
Ströbele von den Grünen würden Ihnen gerne jeweils
eine Zwischenfrage stellen.
Gern.
Bitte schön.
Herr Senator, wir haben jetzt Ihre Skepsis gegenüber
Privatisierungen gehört. Ich vertrete als Liberaler dazu
eine andere Auffassung. Es ist bemerkenswert, welche
Position Sie einnehmen. Deshalb meine Frage.
Der rot-rote Senat hatte vor einiger Zeit die größte
landeseigene Wohnungsbaugesellschaft an die Börse gebracht und damit privatisiert. Plant der Senat von Berlin
jetzt einen Rückerwerb dieser Anteile, und, wenn ja, wie
will er diesen Rückerwerb finanzieren?
Herr Abgeordneter, Sie sind nicht richtig informiert.
Wir haben diese Gesellschaft nicht an die Börse gebracht.
({0})
2003 gab es eine Privatisierung - das ist richtig -, unter
folgenden Bedingungen, nämlich dass damals die vereinigte Opposition von Grünen, CDU und FDP vor dem
Verfassungsgericht gegen den Berliner Landeshaushalt
geklagt und ihn für verfassungswidrig hat erklären lassen.
({1})
Verbunden war damit die Auflage des Verfassungsgerichts, dass wir nur noch gesetzlich vorgeschriebene
Ausgaben tätigen dürfen und alle möglichen Einnahmen
realisieren müssen. Der Senat hat damals jene Entscheidung getroffen, um die finanzielle Handlungsfähigkeit
zu gewährleisten - vor dem Hintergrund des von Ihrer
Partei, von den Grünen und von der CDU angeregten
Verfassungsgerichtsurteils mit der Auflage, Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte zu gewährleisten.
({2})
Ich sage im Nachhinein: Wir hätten an dieser Stelle
standhafter sein müssen.
({3})
Aber nehmen auch Sie Ihre Mitverantwortung oder die
Ihrer Parteifreunde wahr. Niemand hat damals einen
Vorschlag zur Finanzierung des Berliner Haushalts machen können. Vor diesem Hintergrund ist jene Entscheidung getroffen worden.
Wir haben mittlerweile eine klare Beschlussfassung
- das ist eine Lehre aus diesem Fehler -: Es gibt keine
Rekommunalisierung kommunalen Wohnungsbestandes,
({4})
und es gibt keine Privatisierung von Unternehmen der
Daseinsvorsorge. Das ist klare Beschlussvereinbarung
bei uns, das ist Koalitionsvereinbarung, und das ist auch
Beschlusslage im Senat, meine Damen und Herren.
({5})
Jetzt der Herr Kollege Ströbele.
Herr Senator, ich begrüße Sie im Deutschen Bundestag. - Sie haben lobend den Volksentscheid zu den Berliner Wasserbetrieben erwähnt. Meine Frage lautet: Haben
der Senat von Berlin und Sie persönlich den Volksentscheid unterstützt, oder hat sich der Volksentscheid gegen den Senat gerichtet, nachdem der Senat von Berlin
und der zuständige Senator sich geweigert haben, die
Verträge über den Verkauf der Wasserbetriebe von Berlin offenzulegen, und der Senat trotz einer Entscheidung
des Berliner Verfassungsgerichts diese Verträge weiterhin nur sehr unvollständig offengelegt hat und deshalb
durch den Volksentscheid dazu gezwungen werden
musste, die Verträge vollständig offenzulegen? Sie tun
so, als wenn das ein Volksentscheid gewesen wäre, der
vom Berliner Senat unterstützt, vielleicht sogar initiiert
worden ist. Ich finde es hervorragend, dass Sie das jetzt
prüfen; aber wir wollen doch der historischen Wahrheit
die Ehre geben.
({0})
Lieber Christian Ströbele, auch ich bin sehr dafür, der
historischen Wahrheit die Ehre zu geben, und ich stelle
fest, dass, wenn grüne Politiker aus Berlin im Deutschen
Bundestag sitzen, sie manchmal die Verästelungen der
Berliner Politik nicht wirklich wahrnehmen;
({0})
das stellen wir gegenwärtig auch im Wahlkampf fest.
({1})
- Ich spreche gerade mit dem Kollegen Ströbele, der mir
eine Frage gestellt hat, die ich, wie sich das gehört, anständig beantworten will.
({2})
Herr Ströbele, das Abgeordnetenhaus von Berlin hat
eine Novelle des Informationsfreiheitsgesetzes beschlossen und damit der Intention des Volksbegehrens Rechnung getragen; denn auf der Grundlage dieses vom Parlament - übrigens mit aktiver Mitwirkung der Fraktion
der Grünen - beschlossenen Gesetzes können die Verträge veröffentlicht werden.
({3})
- Das ist ein gutes Gesetz, genau. Die Offenlegung ist
erfolgt, und zwar vor dem Volksentscheid. Der Senat
bzw. das Abgeordnetenhaus hat alles getan, um der Intention des Volksbegehrens Genüge zu tun.
Ich kann mich erinnern - um auch das einmal zu sagen, Kollege Ströbele -:
({4})
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus hatte auch - ({5})
- Ja, aber das habe ich doch gerade gesagt.
({6})
- Ja. Ganz einfache Frage.
({7})
Das Abgeordnetenhaus hat die Verträge auf der Grundlage einer Novelle des Informationsfreiheitsgesetzes offengelegt, und zwar vor dem Volksentscheid.
({8})
Das ist die Wahrheit, wenn Sie eine ganz kurze Antwort
wollen.
({9})
Jetzt fahre ich in meinen Ausführungen fort.
({10})
Die Frage ist so beantwortet, wie er sie beantworten
wollte. Der Herr Senator kann jetzt mit seiner Rede fortfahren. - Bitte schön, Herr Senator.
({0})
Ich würde einfach bitten, die Frage, von der Sie meinen, dass sie noch nicht beantwortet ist, jetzt noch einmal zu wiederholen. Ich beantworte sie dann gern, falls
mir doch die Fragestellung entgangen sein sollte.
({0})
- Okay. Dann wird die Frage nicht gestellt, und deshalb
kann ich sie auch nicht beantworten. Ich fahre jetzt fort.
({1})
Bei dem Antrag der Fraktion Die Linke geht es darum, die Rahmenbedingungen für Rekommunalisierung
zu verbessern und Rahmenbedingungen, die in der Vergangenheit geschaffen wurden, um Privatisierung zu befördern, abzuschaffen bzw. zurückzudrängen. Dazu dient
der Vorschlag, das ÖPP-Beschleunigungsgesetz, mit
dem Privatisierungen befördert werden sollen, aufzuheben und stattdessen gesetzliche Regelungen zu treffen,
mit denen Rekommunalisierung, die Rückführung von
privatisierten Unternehmen in öffentliches Eigentum,
befördert werden kann. Das heißt auch, dass die ÖPP
Deutschland AG aufgelöst wird und es eine Anlaufstelle
für die Kommunen gibt, um sie bei ihren Rekommunalisierungsbestrebungen zu unterstützen. Dazu gehört, dass
das Förderprogramm der KfW Bankengruppe „Kommunal investieren“ umgewidmet werden muss. Statt mit
diesem Programm Privatisierungsprojekte zu unterstützen, soll damit in Zukunft eine kosten- und zinsgünstige
Finanzierung von Rekommunalisierungsprojekten bereitgestellt werden.
Senator Harald Wolf ({2})
({3})
Herr Kollege.
Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage mehr zu.
Keine Zwischenfrage.
Ich habe ausführlich geantwortet und führe meine
Rede jetzt im Zusammenhang zu Ende.
({0})
Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen muss
klargestellt werden, dass die interkommunale Zusammenarbeit der Kommunen vergaberechtsfrei ist; denn für
die Kommunen - gerade für die kleinen - ist es wichtig,
dass sie hier untereinander kooperieren können. Das ist
übrigens auch eine Forderung, die der deutsche Bundesrat gestellt hat, und ich finde, der Deutsche Bundestag
täte gut daran, das zu unterstützen.
Gerade in der gegenwärtigen Diskussion um die
Energiewende hat das Thema Energienetze eine besondere Bedeutung. Die Energiewende wird nur möglich
sein, wenn wir die Energienetze, und zwar nicht nur die
Übertragungsnetze, sondern auch die Verteilnetze, dafür
ertüchtigen, dass sie regenerative Energien, die von ihrer
Natur her dezentral und fluktuierend sind, aufnehmen
können, und wenn wir die Energienetze kommunal zu
einem virtuellen Kraftwerk miteinander verbinden.
Dafür sind Investitionen in diese Netze notwendig.
Um diese Investitionen steuern zu können, müssen die
Kommunen Einfluss auf die Netze nehmen können. Dieser öffentliche Einfluss ist eine Voraussetzung für die
Energiewende; denn diese wird nicht dadurch herbeigeführt werden, dass man die vier großen Oligopolisten
große Offshoreanlagen bauen lässt und damit die Zentralisierung der Energieversorgung weiter zementiert; vielmehr muss die Energieversorgung kommunalisiert, dezentralisiert und damit auch regenerativ gestaltet
werden.
({1})
Schauen Sie sich an, welche Auseinandersetzungen in
den Kommunen gegenwärtig geführt werden. Dabei geht
es auch um die Höhe des Rückkaufwerts in dem Fall,
dass man die Konzession nicht verlängern, sondern die
Netze selbst übernehmen will.
({2})
Hier sage ich ganz klar: Im Sinne einer Rekommunalisierung muss geregelt werden, dass nicht der Sachzeitwert oder der Ertragswert, sondern der kalkulatorische
Restbuchwert entscheidend ist. Durch die Rekommunalisierung müssen die alten Netzbetreiber nicht auch noch
zusätzlich verdienen. Deshalb fordern wir hier eine solche klare Regelung.
({3})
Hieran schließen wir die Forderung an, dass es eine
klare Verpflichtung zur Offenlegung aller Daten gibt, die
für die Netzübernahme notwendig sind. Dies muss vier
Jahre vor Auslaufen des Konzessionsvertrages erfolgen,
weil hier gegenwärtig langwierige Prozesse und juristische Auseinandersetzungen notwendig sind. Auch hier
bedarf es also einer Klarstellung.
({4})
Auch bei der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes kommt es darauf an, dass es keinen Vorrang für kommerzielle Betreiber gibt, sondern dass im
Gegenteil den Möglichkeiten, die EU-rechtlich gegeben
sind - Tariftreue, soziale und ökologische Standards bei
der Vergabe -, ein großes Gewicht eingeräumt wird.
({5})
Ich muss zum Schluss kommen.
({6})
Ich glaube, dass wir bei derartigen positiven Rahmenbedingungen für die Rekommunalisierung einen Zugewinn
an Demokratie in den Kommunen erzielen können, weil
die Aufgaben der Daseinsvorsorge, die ja ganz entscheidend für die Lebensbedingungen und das Funktionieren
einer Kommune sind, wieder der politischen und demokratischen Kontrolle unterworfen werden können. Daneben können wir bessere und notwendige Voraussetzungen für eine wirkliche Energiewende schaffen und dafür
sorgen, dass Wertschöpfung und Arbeitsplätze in den
Kommunen erhalten bleiben; denn rekommunalisierte
Unternehmen stärken - das zeigt die Erfahrung - durch
ihre Auftragsvergabe gerade die örtliche, lokale Ökonomie. Wir können auch eine gute kommunale Infrastruktur entwickeln.
Deshalb glaube ich, dass es richtig und wichtig ist,
den Kommunen den Weg zur Rekommunalisierung zu
erleichtern und damit die Voraussetzungen für bessere
Lebensbedingungen in den Kommunen und für bessere
öffentliche Dienstleistungen für die Bürgerinnen und
Bürgern zu gewährleisten.
Senator Harald Wolf ({7})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Lisa Paus von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Senator Wolf, da Sie die Zwischenfrage nicht
mehr zugelassen und die Frage meines Kollegen Herrn
Ströbele nach der Haltung des Senats zu dem Volksentscheid nicht beantwortet haben, will ich Sie ein bisschen
in Ihrem Erinnerungsvermögen unterstützen.
Wir beide wissen doch, dass Sie als Senator noch kurz
vor dem Volksentscheid in einem Interview in der taz geraten haben, diesem Volksentscheid nicht zuzustimmen.
Wir beide wissen auch, dass die Haltung des Senats gegenüber dem Volksentscheid insgesamt über die ganze
Zeit hinweg sehr zögerlich gewesen ist. Am Anfang ging
es sogar um die Frage, inwieweit dieser Volksentscheid
verfassungsrechtlich zulässig ist. Die ganze Zeit über hat
der Senat den Volksentscheid nicht positiv begleitet,
sondern ihm im Gegenteil sämtliche Steine in den Weg
gelegt.
Erlauben Sie mir noch eine zweite Bemerkung. Wir
beide sind uns grundsätzlich in der kritischen Haltung
gegenüber Öffentlich-Privaten Partnerschaften einig.
Nichtsdestotrotz gehört zur Wahrheit auch, dass die rotrote Praxis in den letzten zehn Jahren leider deutlich anders war. Es ist nicht nur die Wohnungsbaugesellschaft
privatisiert worden, die hier bereits Thema gewesen ist,
sondern auch eine Gewerbesiedlungsgesellschaft, und es
hat weitere Aktivitäten gegeben.
Sie haben in Ihrer Verantwortung als Wirtschaftssenator über zehn Jahre lang das Thema Wasserbetriebe nicht
etwa in Richtung Rekommunalisierung bewegt. Im Gegenteil, Sie haben ein Verfassungsgerichtsurteil, das wir
beide noch 1999 zusammen erstritten haben, wasserdicht
gemacht, sodass jetzt eine Rekommunalisierung der
Wasserbetriebe schwieriger ist, als sie 2000/2001 gewesen wäre.
Von daher sollten Sie ein bisschen näher an der Wahrheit bleiben. Wir sind immerhin im Deutschen Bundestag.
({0})
Herr Senator, ich bitte Sie, vom Platz aus zu antworten.
Frau Paus, erstens hat der Senat, um das noch einmal
zu sagen, ein Informationsfreiheitsgesetz beschlossen,
durch das die Offenlegung der Verträge möglich wurde.
Auf der Grundlage dieses Gesetzes sind die Verträge
veröffentlicht worden.
({0})
- Vollständig.
({1})
Zweitens kann ich mich gut erinnern, dass die Fraktion der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus die Bedenken, ob der Gesetzentwurf, der zum Volksentscheid
zur Abstimmung stand, in den einzelnen Formulierungen verfassungsmäßig ist, geteilt hat. Ich kann mich gut
erinnern, dass der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/
Die Grünen vor der Volksabstimmung gefragt hat, wie
wir ein verfassungswidriges Gesetz verhindern können.
Auch das gehört zur Wahrheit.
Jetzt können Sie nicht so tun, als ob die Fraktion der
Grünen oder die grüne Partei dieses Volksbegehren unterstützt hätte. Nein, wir haben die Intention der Offenlegung der Verträge unterstützt, und wir haben die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Auf dieser
Grundlage sind die Verträge veröffentlicht worden.
Setzen Sie ein solches Informationsfreiheitsgesetz
dort um, wo Sie als Grüne in der Landesregierung sind!
Dann wären wir in der Bundesrepublik Deutschland weiter.
({2})
Drittens. Ja, Frau Paus, unter unserer Ägide ist auch
die Königliche Porzellan-Manufaktur privatisiert worden. Das stimmt, aber sie gehört nicht zur öffentlichen
Daseinsvorsorge. Ich bin nicht der Auffassung, dass die
Produktion von Tellern und Tassen eine öffentliche Aufgabe ist.
({3})
Aber Wasser, Elektrizität und alle anderen Bereiche der
Daseinsvorsorge gehören in die öffentliche Hand.
Vierter Punkt, Teilprivatisierung. Sie wissen genauso
gut wie ich, dass die Große Koalition 1999 einen Vertrag
geschlossen hat, in dem das Land zu einem Ausgleich aller wirtschaftlichen Nachteile, die aus dem damaligen
Verfassungsgerichtsurteil erwachsen könnten, verpflichtet wurde. Wir waren damals - genauso wie heute - an
diesen Vertrag rechtskräftig gebunden. Daran hätten
auch die Grünen nichts ändern können. Vor diesem Hintergrund haben wir eine Gesetzesänderung vornehmen
müssen, um das Teilprivatisierungsgesetz an das Verfassungsgerichtsurteil anzupassen. Aber wir haben in keinem Punkt mit unserer Kritik nachgelassen.
Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs, wonach
auch die Wasserversorgung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht unterliegt, haben wir nun das Bundeskartellamt eingeschaltet.
Herr Kollege Wolf, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme sofort zum Ende. - Heute sind wir zumindest in der Lage, eine Rekommunalisierung in Erwägung
zu ziehen; denn es gibt politischen Druck auf die Privaten. Es ist klar, dass Privatisierungen in Berlin nicht
mehr akzeptiert werden und nicht gewollt sind. 2003 war
die Situation anders. Damals gab es rechtskräftige Verträge, die wir erfüllen mussten.
Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
Diese Verträge müssen wir noch heute erfüllen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Kruse von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ja, damals, Johannes. - Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Grundsätzlich freue ich
mich sehr, wenn auf der Bundesratsbank Leute sitzen.
Wenn diese dann auch noch sprechen, ist das in der Regel nett. Als Hamburger habe ich dann erst einmal den
positiven Reflex: Der ist immerhin Senator. - Aber die
Erwartungen werden nicht immer so erfüllt, wie man es
sich wünscht.
Sie haben leider sehr wenig zu dem vorliegenden Antrag gesagt. Das mag man Ihnen nachsehen; denn Sie sind
kein Mitglied dieses Parlaments. Ich komme gleich auf
die Punkte Ihres Antrages zu sprechen. Aber Sie haben
immerhin tiefe Einblicke in Ihr politisches Selbstverständnis und das Ihrer Regierung gegeben. Am Schluss
haben Sie gesagt, Ihre Vorstellungen seien ein Weg für
mehr Demokratie. Wenn ich mir Ihre gesamte Rede in Erinnerung rufe, dann frage ich mich, was Sie eigentlich zu
Ihrem Demokratieverständnis gesagt haben. Als das Parlament in Berlin sein vornehmstes Recht und seine vornehmste Pflicht, Sachwalter des Haushaltes zu sein und
die Haushaltskontrolle auszuüben, wahrgenommen hat
und - weil Sie nicht hören wollten - vor Gericht ziehen
musste, um Sie zu zwingen, einen verfassungsgemäßen
Haushalt vorzulegen, haben Sie sich von dunklen Mächten umgeben und verfolgt gefühlt.
({0})
Diese dunklen Mächte - FDP, Grüne und CDU, also Parteien, die einen wesentlichen Bestandteil dieser Demokratie darstellen - haben Sie dann genötigt, das wertvolle Tafelsilber des Landes Berlin zu verkaufen. Das
war notwendig, weil Sie in Ihrer Ausgabenpolitik nicht
einhalten wollten.
({1})
Wenn die Opposition ihr Recht wahrnimmt, die Regierung zu kontrollieren, und feststellt, dass die Regierung
keinen verfassungsgemäßen Haushalt aufgestellt hat,
dann sagen Sie quasi im Umkehrschluss, die Opposition
sei daran schuld, dass die Regierung ein Wohnungsbauunternehmen verkaufen müsse. Diese Logik ist interessant, aber nicht richtig.
({2})
Zuerst habe ich mich gefragt, warum wir über Ihren
Antrag überhaupt diskutieren. Schließlich geht es nur
um ein paar Hochbauprojekte im Rahmen von ÖPP.
Wenn man aber genau hinschaut, stellt man fest, dass Ihr
Antrag sehr stringent ist. Die dort erhobenen vier Forderungen greifen sehr klar ineinander. Entgegen Ihrer Auffassung geht es im Wesentlichen aber nicht darum, über
Privatisierungen zu reden. ÖPP ist nicht mit Privatisierung gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich um eine
Partnerschaft zwischen Privaten und Öffentlichen zum
Zwecke der Durchführung und des Betreibens von Projekten. Es geht Ihnen also gar nicht darum, Fehler der
Vergangenheit aufzuarbeiten. Als Hamburger weise ich
darauf hin: Wir haben als CDU ganz klar gesetzlich festgelegt, dass die Wasserwerke nicht verkauft werden dürfen. Ich glaube, das ist eine sehr gute Entscheidung gewesen.
({3})
Ihr Antrag stellt keine Einladung dar, um über die
Vorteile und Nachteile von ÖPP anhand der knapp
100 Projekte, die bisher durchgeführt wurden, zu diskutieren. Es gibt ja einen Erfahrungsbericht. Dieser Erfahrungsbericht sagt aus, dass 14 Prozent der Projekte unterhalb der Kostenschätzung vor Ausschreibungsbeginn
lagen. Die Verteilung der Aufträge ist ja immer kritisch.
Siegen immer nur die Großen? Die Verteilung ist um
5 Prozent besser als bei der herkömmlichen Vergabe,
wenn mittelständische Betriebe, vor allen Dingen die im
regionalen Umkreis von 100 Kilometern, mit einbezogen werden. Bei den 16 bisher fertiggestellten, schlussgerechneten Projekten ist das Verhältnis so, dass drei davon etwas teurer geworden sind, drei etwas billiger und
logischerweise zehn auf den Punkt abgeschlossen haben.
Das ist alles nicht sehr spannend. Das würde derartige
Maßnahmen also nur im Einzelfall erlauben; da gebe ich
den Antragstellern recht. Natürlich gibt es auch Projekte,
bei denen man sagen muss: Da ist ÖPP nicht sinnvoll gewesen. Es ist also kein Allheilmittel.
Der Antrag will aber etwas anderes. Wenn wir diesen
Antrag beschließen würden, dann würde sich die Republik verändern. Warum? Der Einstieg betrifft nur ÖPP.
Dann sagen Sie, Sie wollen mehr in die Kommunen verlagern. Dem kann man natürlich entgegnen, dass es nach
unserer Erinnerung in der Vergangenheit nicht immer so
gewesen ist, dass Kommunen automatisch besser gewirt12842
schaftet hätten; das ist ein weites Feld. Sonst wären wir
ja auch nicht auf die Idee gekommen, private, marktwirtschaftliche Elemente mit einzubauen.
Dann sagen Sie, wir möchten, dass dort, wo die Kommune beteiligt ist, das Aktienrecht geändert wird. Und
Sie sagen, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen
Tätigkeit von Kommunen aufgehoben werden soll.
Wozu würde das Ganze führen?
({4})
- Zu Transparenz, das ist interessant. Es hat nichts mit
Transparenz zu tun, wenn die Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit von Kommunen aufgehoben wird,
sondern dies ist eine Wettbewerbsverzerrung. Warum?
Ein kommunaler Betrieb kann kaum pleitegehen. Ich
weiß, Berlin bzw. Sie arbeiten daran, aber das dauert
sehr lange.
({5})
Die meisten unter uns sind sich einig, dass die Wasserwerke staatlich bleiben müssen. Nun kann ein Wasserwerk natürlich sagen: Wenn wir schon die Wasserleitung legen, dann könnten wir auch den Hausanschluss
legen. Und wenn wir schon einmal da sind, dann - nach
dem Motto: alles aus einer Hand, „one face to the customer“ - bauen wir Ihnen auch noch die Badewanne ein.
Dann sagt man noch: Wir brauchen ja Arbeitsplätze im
Handwerk, von daher stellen wir Leute ein. - Ihr Angebot für diese Badezimmergestaltung erstellen sie vor
dem Hintergrund der Gebühreneinnahmen. Das heißt,
sie können auf dem Markt interessante Angebote machen und müssen keine Konkurrenz scheuen; denn im
Zweifelsfall liegen sie in ihrem Preis unter dem der Konkurrenz. Das bedeutet, der kleinere Betrieb hat das
Nachsehen. Der kann sich nicht so rückfinanzieren wie
ein kommunales Unternehmen, weil er natürlich nicht
das Rating hat wie eine Kommune. Darüber hinaus kann
er auch nicht auf Gebühreneinnahmen zurückgreifen.
Das ist keine Transparenz, sondern die Zerstörung von
Strukturen.
Dann wollen Sie das Aktienrecht mal so eben - nur
wegen Ihrer Rekommunalisierung - dahin gehend ändern, dass die Mitglieder des Aufsichtsrates weisungsgebunden sein sollen und Bericht erstatten müssen.
Nehmen wir zunächst einmal den letzten Punkt, die
Berichterstattung. Sie wollen, dass die Mitglieder des
Aufsichtsrates verpflichtet sind, die vertraulichen Informationen, die sie dort bekommen, an ihre Entsender weiterzugeben. Das können Sie auch einfacher haben: Ich
würde das Ganze einfach auf YouTube oder anderweitig
ins Internet stellen. Die Vertraulichkeit ist dann natürlich
weg. Sie können dann Unternehmensinterna nicht mehr
diskutieren, bzw. sie sind nicht mehr intern. Das ist,
glaube ich, ein großer Nachteil.
Zweitens, die Weisungsgebundenheit. Man kann natürlich das tun, was Sie da wollen, aber das ist ein anderes System. Wir haben ein System, das aus Verantwortung, Freiheit und Gewissen besteht. Das bedeutet, die
Gewerkschaft, die einen Vertreter entsendet, tut das, weil
sie von ihm als Mensch und von seiner Fachkompetenz
und seiner moralischen Kompetenz überzeugt ist. Die
schickt ihn in ein Unternehmen, damit er zum Wohle
dieses Unternehmens und im Interesse der Anteilseigner
handelt. Sie mit Ihrem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber jedem Individuum wollen das nicht. Sie wollen
ihm detailliert vorgeben, was er zu tun hat. Er soll weisungsgebunden handeln. Er soll zurückberichten, wieder
hinlaufen und sagen: Meine Partei hat mir gesagt, ich
soll dieses oder jenes entscheiden.
({6})
- Ja, Ihr Stadtrat. Dass Sie gerne eine Räterepublik haben wollen, das habe ich Ihrem Antrag auch entnommen.
Das ist nicht der richtige Weg.
Was würde am Ende passieren, wenn Ihr Projekt
durchgesetzt würde? Sie würden eine Gesellschaft bekommen, in der es nur staatliche Betriebe und Großkonzerne gäbe. Großkonzerne würden sicherlich in Ihrem
System überleben. Verschwinden würden kleine und
mittelständische Betriebe. Genau das ist Ihr Ziel. Das ist
auch okay, und das Ziel ist legitim. Sie wissen, dass die
Gesellschaft, die Sie wollen, keine Gesellschaft ist, in
der es kleine, selbstständige Einheiten und ein freies Unternehmertum gibt.
({7})
- Bei der Kritik, die eben durchschien - auch ich bin
kein Freund der großen Vier -, müssen Sie eines sehen:
Die Energiestruktur, die wir heute haben, ist nicht auf
privatwirtschaftlicher Basis entstanden. Kein einziges
Atomkraftwerk ist von einem privaten Unternehmen geplant oder gebaut worden. Die Atomkraftwerke sind
staatlich entstanden. Das heißt, dass staatliche Systeme
sehr wohl zu Fehlern neigen. Das haben wir überall bewiesen, Sie besser als wir.
({8})
Zu argumentieren, wenn ein Unternehmen in kommunalem Besitz sei, würden immer die richtigen Entscheidungen getroffen, ist falsch. Die Energiewende, die in
unserer Gesellschaft stattfindet, ist nicht von den Kommunen ausgegangen, sondern von privaten Stromanbietern wie LichtBlick, die darauf vertraut haben, dass es in
diesem Land Kunden für Ökostrom gibt. Diese haben
bahnbrechend gewirkt. Nur deswegen ist das so. Wenn
heute kommunale Betreiber anfangen, in der Kreislaufwirtschaft Angebote zu machen, dann tun sie das nur,
weil private Unternehmen ihnen das vormachen.
Das Subsidiaritätsprinzip sollten wir nicht anrühren.
Wenn Ihr Projekt greift, die Kommunen vor Ort, vor allen
Dingen in strukturschwachen Gebieten, die Führung
übernehmen und die Stadtreinigung auch noch Gartenbauleistungen anbietet, dann wird die Vielfalt verschwinden, und die Städte und Gemeinden werden grauer. DieRüdiger Kruse
ses Modell ist erst 20 Jahre her. Wir möchten es nicht
wiederhaben. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Kahrs von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist immer wieder eine Freude, wenn man
hier im Deutschen Bundestag eine inhaltliche Debatte
führen kann. Bisher habe ich das vermisst. Ich habe etwas vom Berliner Lokalwahlkampf erlebt.
({0})
Ich frage mich, ob hier der Ort dafür ist. Ich bin mir sicher, dass die Debatte, die zwischen den Kollegen von
den Grünen und der Linken geführt worden ist, im Berliner Abgeordnetenhaus sehr viel qualifizierter mindestens 20- bis 30-mal geführt worden ist. Deswegen frage
ich, warum man uns hier damit behelligen muss.
Im Ergebnis stellt man, wenn man den Antrag der
Linken liest, fest, dass reine Ideologie gefeiert wird. Hier
wird gesagt: Staat ist immer besser als privat. - Das ist
genauso intelligent wie die Aussage der FDP: Privat geht
vor Staat. - An den Rändern sitzen die Ideologen, und
jetzt ist es an uns in der Mitte, zu erklären, dass das Leben nicht ganz so einfach ist, wie sich das manch
schlichter Antragsteller vorstellt.
({1})
- Nur getroffene Hunde bellen, Herr Kollege.
Als ich diesen Antrag gelesen habe, habe ich gedacht:
Das ist wieder die übliche grüne, Entschuldigung, linke
Schreibe.
({2})
Im Ergebnis kann man sagen, dass es wohl auch so ist.
Was mich wirklich gewundert hat, ist, dass Sie, Herr
Senator, sich dafür hergegeben haben, diesen Senf auch
noch zu verteidigen. Die Aussage des Kollegen Kruse
über die Wertschätzung von Senatoren teile ich; denn bei
uns in Hamburg sind Senatoren in der Regel sehr seriöse
Personen. Wenn Sie einen solchen Antrag verteidigen,
bringen Sie das Bild ins Wanken, das ich bisher von Ihnen hatte. Ich kenne Sie nur als sehr kompetenten Senator,
({3})
der auch von der mittelständischen Wirtschaft Berlins
gelobt wird. Das ärgert häufig Ihre Bundespartei, aber
die Linke in Berlin findet das gut.
Man muss sich mit diesem Antrag inhaltlich beschäftigen. Wenn wir das tun, kommen wir zu dem Ergebnis,
dass es nicht so ist, dass die Kommune immer alles richtig macht, aber auch nicht so, dass die Privaten alles
richtig machen. Wenn wir den Antrag lesen, stellen wir
fest, dass in einer, wie ich finde, unerträglichen Art und
Weise der Bereich der Privatisierung und Rekommunalisierung mit ÖPP vermischt wird. Das eine hat nur sehr
begrenzt mit dem anderen etwas zu tun; das hat Herr
Kollege Kruse auch gesagt.
Es ist doch so, dass die umfangreichste Verstaatlichung gerade in Baden-Württemberg stattgefunden hat.
Die Anteile an EnBW wurden, glaube ich, nicht von der
Linkspartei zurückgekauft, sondern von einer Koalition
aus CDU und FDP.
({4})
Also können Sie den vorliegenden Antrag mit sehr viel
mehr Wohlwollen lesen als wir Sozialdemokraten.
({5})
Ich glaube nicht, dass es für das Land ein wirklich tolles
Geschäft war, was der damalige und zu Recht abgewählte Ministerpräsident da eingefädelt hat.
Wenn wir uns mit der Sache - kurze Ausflüge seien
mir gestattet - beschäftigen,
({6})
dann können wir feststellen, dass es im Bereich ÖPP sowohl Licht als auch Schatten gibt. Am Anfang haben
viele gedacht: Wunderbar, das ist die Lösung, jetzt können wir uns als Kommune endlich all das leisten, was
wir uns früher nie leisten konnten. Irgendwer muss das
einmal bezahlen, aber das ist noch ewig hin.
In dieser Situation sind auch Fehler passiert; das muss
man zur Kenntnis nehmen. Ich als Haushälter finde, dass
man sich die ÖPP sehr misstrauisch und sehr genau anschauen muss. Es gibt sehr viele Chancen, und es gibt
sehr viele Risiken. Ich glaube, dass man jeden Fall einzeln betrachten muss. Deswegen taugt das Thema weder
für den Berliner Kommunalwahlkampf noch für lustige
Anträge der Linken, sondern es geht um die durchaus
ernstzunehmende Frage, wo ÖPP Sinn machen oder
eben nicht.
Ich als Haushälter bin ein großer Anhänger der Kameralistik. Das mag für viele hier im Haus eine sehr
langweilige Materie sein. Man kann auch über viele andere Systeme, zum Beispiel die Doppik, reden, in denen
man sich die Zahlen so hindrehen kann, wie man sie
braucht. Die Kameralistik hingegen ist ehrlich. Sie zeigt
genau auf, wo man Geld hat, wie viel Geld man hat und
was man mit dem Geld tun kann oder auch nicht. Das ist
für die Bürger sehr transparent.
Man muss die ÖPP so gestalten, dass sie mit der Kameralistik in Übereinstimmung gebracht werden. Man
muss abbilden, wie sich die Kosten für eine bestimmte
Maßnahme im Rahmen der ÖPP im Laufe der Zeit im
Haushalt widerspiegeln. Sie müssen im Haushalt auftauchen. Die Menschen müssen wissen, was die Vorhaben
kosten. Man kann den Menschen doch ehrlich sagen:
Wir haben kein Geld, um eine Schule zu bauen oder sie
zu sanieren, aber wir glauben, dass es dringend notwendig ist, weil Bildung wichtig ist. Es gehört dazu, dass
Schulen anständig aussehen. - Wenn man dann sagt: „Es
gibt eine Möglichkeit, ein Vorhaben umzusetzen, das
kostet Geld, aber damit kann man das Ganze nachvollziehbar gestalten“, dann kann man das in einer Kommune ernsthaft diskutieren.
Man muss allerdings aufpassen, dass bestimmte Fehler nicht passieren. Es muss ein transparentes Verfahren
geben, die Verträge müssen einsehbar sein, man muss sie
offenlegen können. Wenn einige Parteien sagen: „Wir
wollen alles offenlegen“, dann ist es nicht so, dass nur
die Unternehmen die Bösen sind. Es gibt auch viele Unternehmen, die die Verträge gerne offenlegen würden. Es
gibt dazu ein Schreiben von der deutschen Bauindustrie.
Darin heißt es, dass man ein großes Interesse an mehr
Transparenz und an der Offenlegung von ÖPP-Vertragswerken hat, weil man nämlich glaubt, dass dies für alle
Beteiligten Sinn macht, auch was die Akzeptanz angeht.
Denn die Bürger wundern sich doch: Auf der einen Seite
ist ihre Kommune pleite, und auf der anderen Seite werden Schwimmbäder, Kindergärten und Schulen saniert.
Natürlich wundern sich die Bürger und fragen sich, woher das Geld auf einmal kommt. Dann muss man ihnen
den Sachverhalt erklären und darauf hinweisen, dass
ÖPP Sinn machen kann. Man muss die Kosten offenlegen. Dann muss man sich das Ergebnis genau anschauen. Es darf nicht dazu führen, dass die Schulden in
die Zukunft geschoben werden und dass die, die jetzt zur
Schule gehen, diese am Ende ihres Arbeitslebens immer
noch abbezahlen. Man muss die Vorteile und die Nachteile abwägen. Wenn man dann zu dem Ergebnis kommt,
dass man das machen kann, ist das gut.
Es gibt gute Beispiele für ÖPP, und es gibt schlechte
Beispiele. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Privatisierung und Entkommunalisierung. In Hamburg wurde
ein Volksentscheid durchgeführt: Der Stadt sollte zukünftig verboten werden, irgendetwas zu verkaufen. Er
ist durchgefallen - normalerweise sind solche Begehren
immer erfolgreich -, und zwar deswegen, weil nicht klar
und transparent gesagt wurde, was denn dann verkauft
werden soll. Es wurde einfach gesagt: Die Kommune
darf gar nichts mehr verkaufen.
Ich finde es auf der einen Seite richtig, in Hamburg
die Wasserwerke oder die öffentlichen Unternehmen des
Wohnungswesens, SAGA/GWG, nicht zu verkaufen.
Das ist richtig, wichtig und gut. Auf der anderen Seite ist
nicht einsehbar, warum es nicht möglich ist, dass man
sich von Unternehmen - Hapag-Lloyd oder andere -, die
in Schwierigkeiten geraten sind und denen man finanziell geholfen hat, dieses Geld zurückholt, sobald es einem solchen Unternehmen wieder besser geht.
Natürlich muss eine Kommune auch in der Lage sein,
Grundstücke zu verkaufen, zum Beispiel an Wohnungsunternehmen oder an Genossenschaften, die darauf
bauen wollen. Das ist ein wichtiger Bestandteil des sozialen Wohnungsbaus.
Das alles gehört zusammen. Deswegen muss man,
wie ich finde, den vorliegenden Antrag der Linken ablehnen. Er ist nämlich erstens undifferenziert und zweitens hochideologisch. Deswegen, Herr Senator, war es
bedauerlich, dass Sie sich dafür hergegeben haben.
Vielen Dank. Schönen Tag noch!
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Breil von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken, den wir heute debattieren,
ist blanke Augenwischerei. Sie von der Linken reden da
von Beratung kommunaler Unternehmen und von wirtschaftlich arbeitenden Unternehmen. In Wirklichkeit
sollen Räte gebildet werden, um die Unternehmen kontrollieren zu können. Sie schreiben da von Änderungen
im Aktiengesetz. Tatsächlich wollen Sie die Aktionäre
entmachten. Sie fordern in Ihrem Antrag die Rekommunalisierung öffentlich-privater Projekte. Ihr wahres Ziel
ist aber die Verstaatlichung der Wirtschaft. Die materielle Gleichheit aller - das ist das zentrale Ziel der
Linkspartei. Niemand darf mehr haben als der andere.
({0})
Sie haben keinen Bezug zu den Menschen, die hart
und fleißig arbeiten. Sie haben keinen Bezug zu den
Leistungsträgern in unserer Gesellschaft, außer natürlich
den, dass Sie deren Erfolg abgreifen wollen.
({1})
Bevor allerdings die Linkspartei das Eigentum dieser
fleißigen Menschen großzügig verteilen kann, muss sie
es „vergesellschaften“ oder, wie Sie es neuerdings formulieren, „demokratisieren“. Alles Geplänkel! Der richtige Begriff lautet: verstaatlichen. Sie lassen dabei bewusst offen, in welchem Ausmaß und in welcher Form
Sie diese Enteignungen vornehmen wollen. Doch wie
Eisenfedern aus einem uralten Sofa, so baumeln Ihre
wahren Ziele schlaff aus dem heutigen Antrag.
({2})
Vorformuliert ist das alles in den Gründungsdokumenten der Linkspartei. Sie bekennen dort schamlos:
Die Demokratisierung der Wirtschaft erfordert, die
Verfügungsgewalt über alle Formen des Eigentums
sozialen Maßstäben unterzuordnen.
({3})
Schließlich sagt Ihr Genosse, unser Kollege Diether
Dehm:
Unser Fernziel ist, Konzerne wie Daimler-Chrysler,
BMW und Großbanken wie die Deutsche Bank zu
vergesellschaften.
({4})
Das ist das, was die Linken unter Demokratisierung und
unter Vergesellschaftung verstehen: Verstaatlichung auf
allen Ebenen.
Hier und heute sind eben die Kommunen fällig. Klarheit schafft das linke Wahlprogramm von 2005:
Die Versorgung der Menschen mit Wasser und
Strom, die Müll- und Abwasserentsorgung, der
öffentliche Personenverkehr, … sind Leistungen,
die … nicht der privaten Konkurrenz unterworfen
werden dürfen.
({5})
So steht es in Ihrem Wahlprogramm.
Um diesen Sichelschnitt den Kommunen schmackhaft zu machen, entdecken Sie auf einmal Ihr Herz für
das regionale Handwerk, ein Handwerk, das, wie Sie in
Ihrem Antrag ausführen, von öffentlich-privaten Gemeinschaftsunternehmen nur gequält wird und schließlich leer ausgeht.
Kommen wir nun zur Wahrheit: Die Kommunen leiden unter einem strukturellen Defizit. Dies kann unserer
Ansicht nach nur mit sinnvollen strukturellen Reformen
behoben werden.
({6})
Ziel muss sein, die kommunalen Einnahmen zu verstetigen und die Ausgabenseite zu entlasten. Das ist nur im
Gesamtpaket zu erreichen.
Den Kommunen wurden in den letzten Jahrzehnten
ständig neue Aufgaben übertragen, und das ohne ausreichende Finanzausstattung.
({7})
Es ist die christlich-liberale Bundesregierung, die damit
Schluss gemacht hat.
({8})
Sie hat damit begonnen, Entlastungen der Kommunen
auf der Ausgabenseite einzuleiten.
({9})
Ein Beispiel: Unsere christlich-liberale Koalition hat
bei der Neuregelung des SGB II eine bedeutende Korrektur vorgenommen. Der Bund wird schrittweise die
Kosten der Grundsicherung im Alter übernehmen:
({10})
45 Prozent im Jahr 2012, 75 Prozent in 2013 und
100 Prozent ab 2014. Die Kosten dafür betragen aktuell
3,9 Milliarden Euro pro Jahr, bei einer geschätzten Steigerung von 5 Prozent im Jahr. 4,5 Milliarden Euro Zuschuss vom Bund für die Kommunen im Jahr 2014 - das
ist eine klare Ansage.
Gleichwohl ist es auch immer erste Aufgabe der
Kommunen, sorgsam mit ihren Mitteln zu wirtschaften.
({11})
Wenn sich zum Beispiel eine Kommune durch Übernahme des Stromnetzes Effizienzvorteile oder Synergieeffekte erhofft, kann eine solche Übernahme durchaus
sinnvoll sein. Auch für Investitionen kann der Zusammenschluss von Netzen oder die gemeinsame Betriebsführung gelegentlich Vorteile bringen.
Aber pauschal eine Rekommunalisierung zu verordnen, kann nicht im Interesse der Kommunen liegen;
denn der Drang zum eigenen Stadtwerk entspringt gerade bei kleineren Kommunen vielfach dem Wunsch,
vermeintlich versäumte Versorgungssicherheit nachzuholen. Dabei werden komplexe Regelungen und deutlich
gestiegene Geschäftsrisiken gerade für kleine Versorgungsunternehmen vehement verkannt. Wenn dann noch
die Kommune die Kosten für künftige Aufrüstungen,
Zinsen und Erhaltung unterschätzt, schadet sie sich
selbst und damit vor allem ihren Bürgern.
Sehr geehrte Damen und Herren, ein glänzendes Beispiel für gelungene Öffentlich-Private Partnerschaft findet sich hier ganz in der Nähe. Es ist ein Beispiel, das
gerade die Linke in freudige Erregung versetzen muss;
denn in Kürze werden Sie sich dort auf der frisch polierten Regierungsbank niederlassen. Es ist der Landtagsneubau in Potsdam, Kostenpunkt 120 Millionen Euro.
Das Gebäude wird von dem niederländischen Konsortium Royal BAM errichtet und die nächsten 30 Jahre betrieben. Ab 2013 wird das Land Brandenburg 30 Jahre
lang 9 Millionen Euro Miete pro Jahr zahlen. Übrigens
wirkt die Bayerische Landesbank, die Bayern LB, federführend an der Finanzierung des PPP-Modells mit. Sie
sehen, es geht doch.
({12})
Danke.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann heute weder mit Sichelschnitt
noch mit Eisenfedern dienen; ich versuche es sachlich in
Bezug auf die Themen, die im Antrag der Fraktion Die
Linke angesprochen worden sind.
({0})
- Hallo, Herr Kampeter, schön, dass Sie der Debatte folgen! Im Haushaltsausschuss wird das ja auch noch zu
thematisieren sein. Viele der Vorschläge der Linken werden dort diskutiert werden, weil sie Ihren Fachausschuss
betreffen.
({1})
Es geht hier ja nicht nur um einen kritischen Blick
und eine kritische Reflexion im Hinblick auf ÖPP und
die Frage, welche Risiken eigentlich in diesem Projekt
bestehen. Als der Kollege Breil das letzte Projekt gerade
so glanzvoll beschrieben hat, mussten wir allesamt ein
bisschen schmunzeln, weil als Garant für die Realisierung die Landesbank in Bayern genannt worden ist.
({2})
Ich glaube, dass wir über die Fragen, wie ÖPP-Projekte wirken, wie viele Risiken dort bestehen, wie Transparenz hergestellt wird, wie nachvollziehbar solche Verträge sind und wie einseitig oder auch nicht Lasten und
Verantwortung in solchen Verträgen verteilt sind, eine
kritische Debatte zu führen haben. Das ist der erste
Punkt; deshalb ist es auch in Ordnung, dass wir die Debatte heute hier vertieft führen, dann aber auch in den
Fachausschüssen. Ich halte eine solche Debatte für notwendig.
({3})
Der zweite Punkt: Das, was Sie angesprochen haben,
Herr Senator Wolf, sind aber die Themen Rekommunalisierung und Privatisierung. Sie müssen es an einer solchen Stelle schon aushalten, dass Sie nicht besonders gut
aussehen, wenn Sie hier im Parlament Ihren Vortrag mit
Vehemenz halten und sich als Garant für die Rekommunalisierung und gegen die Privatisierung darstellen.
({4})
Sie hatten zehn Jahre Zeit, in Berlin politisch unter Beweis zu stellen, wie wichtig Ihnen das Thema Rekommunalisierung und Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand
ist. Die Tatsache, dass Sie eine Wohnungsbaugesellschaft und die Siedlungsbaugesellschaft veräußern
mussten, damit zu begründen, dass es eine Verfassungsklage der Grünen und der CDU gegen Ihren Haushalt
gab, ist doch völlig absurd.
({5})
Ich habe auch schon Urteile von Verfassungsgerichten
gesehen. Das Verfassungsgericht gibt Ihnen in solchen
Fällen bestimmte Auflagen, aber es zwingt Sie nicht
dazu, Wohnungen zu veräußern.
({6})
Diesen Beschluss, Herr Wolf, hat Rot-Rot zu verantworten. Darum sollten sich die Linken kümmern.
({7})
Ich bin zwar keine Berlinerin - ich lebe hier nur mit
Zweitwohnsitz -, aber ich glaube, dass dies Berlin bis
heute nachhängt und dass auch heute noch Wohnungen
veräußert werden. Das halte ich wirklich für nicht verantwortlich. Da klafft eine große Lücke zwischen dem
Anspruch, den Sie hier formulieren, und Ihrer realen
Politik, die Sie in Berlin bereits seit zehn Jahren zu verantworten haben.
({8})
Dieser Diskussion müssen Sie sich stellen. Es geht nicht,
hier überall zu erklären, Sie seien die ausgewiesenen
Verfechter der Rekommunalisierung, obgleich Sie jede
Menge öffentliches Eigentum verkauft haben, wobei Sie
auch andere Akzente hätten setzen können.
({9})
Denken Sie doch einmal an die massive Kritik, die
Sie seitens der Sparkassenverbände und anderer Institutionen bekommen haben, als Sie die Landesbank verkauft haben.
({10})
Wir können das gern vertiefen, nicht nur im Berlin-Diskurs.
Das Thema „Privat vor Staat“ wird oft sehr ideologisch und sehr radikal diskutiert. Zu den Verfechterinnen
und Verfechtern gehören einige der Kolleginnen und
Kollegen zu meiner rechten Seite des Hauses. Wir haben
damit in Nordrhein-Westfalen hinreichende Erfahrungen
gemacht, wo in der letzten Legislaturperiode unter
Schwarz-Gelb die wirtschaftliche Betätigung der Kommunen massiv eingeschränkt wurde. Dies stieß nicht nur
auf Kritik aufseiten der SPD oder Grünen oder des Verbandes kommunaler Unternehmen. Nein, auch der
Handwerkskammertag und die kommunalen Spitzenverbände, in denen nach meiner Information auch viele
CDU-Mitglieder aktiv sind,
({11})
haben massiv Kritik an dieser einseitigen Privilegierung
und Ausrichtung auf „Privat vor Staat“ geäußert.
({12})
- Herr Lindner, wir haben das alles jetzt gemeinsam mit
dem Handwerkskammertag wieder zurückgenommen.
({13})
- Ich weiß. Herr Lindner, dass Sie zu der Zeit im Landtag waren, macht es ja nicht besser, oder?
({14})
Ich weiß auf jeden Fall, dass wir diesen Punkt der Gemeindeordnung längst geändert haben.
({15})
- In Brüssel war ich noch nie als Abgeordnete. Aber
vielleicht können wir uns darüber an anderer Stelle austauschen.
({16})
Darum geht es jetzt auch nicht.
Der Umgang mit dem Thema wirtschaftliche Betätigung hat sich in Nordrhein-Westfalen geändert, und dies
wird nicht nur von den Städten und Gemeinden begrüßt.
Darüber hinaus wird es auch vom Handwerk sehr begrüßt. Das ist ein Fakt, mit dem Sie sich abfinden müssen.
({17})
Frau Kollegin Haßelmann, entschuldigen Sie die Unterbrechung. Der Kollege Mücke möchte Ihnen gern
eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Bitte, Herr Mücke.
({0})
Frau Kollegin Haßelmann, auch Sie haben jetzt zur
Kenntnis gegeben, dass Sie Privatisierungen sehr kritisch gegenüberstehen, insbesondere wenn es sich um
Wohnungen handelt, die im öffentlichen Eigentum stehen oder gestanden haben. Wenn ich richtig informiert
bin, hat im Jahr 2000 Rot-Grün regiert.
({0})
Wenn ich weiter richtig informiert bin, hat im Jahr 2000
eine rot-grüne Bundesregierung 114 000 Wohnungen
veräußert, nämlich die sogenannten Eisenbahnerwohnungen. Wie können Sie mir erklären, dass Sie heute
diese Position einnehmen und damals eine andere hatten?
({1})
Stimmen Sie mir zu, dass Ihre Argumentation angesichts
dieser Fakten ein bisschen zwielichtig erscheint?
Nein, ich teile Ihre Einschätzung an dieser Stelle
nicht. Über die Frage, ob der Bund zur Erfüllung seiner
Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge bestimmtes
Eigentum besitzen muss oder nicht, können wir hier gern
diskutieren und streiten. Aber Sie haben mich an Ihrer
Seite, wenn klar ist, dass zum Beispiel ein Land wie
Nordrhein-Westfalen beim Verkauf der Wohnungen der
Landesentwicklungsgesellschaft einen Fehler gemacht
hat.
Ich kann Ihnen auch das Beispiel Freiburg nennen.
Ich war nicht für den Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft oder städtischer Wohnungen.
({0})
Ich habe selbst elf Jahre Kommunalpolitik gemacht
und weiß, dass wir Steuerungsinstrumente in der Wohnungspolitik als Mittel für die sozialräumliche Integration brauchen, und diese Anforderung erfüllen wir in
erster Linie durch sozialen Wohnungsbau und Wohnungsbaugesellschaften, auf die wir Einfluss ausüben
können.
({1})
Deshalb ist das für mich überhaupt kein Widerspruch.
({2})
- Das habe ich gerade schon gemacht.
Die Kommunen brauchen einen Rechtsrahmen, innerhalb dessen sie selbst entscheiden können, ob und wie
sie ihre Leistungen erbringen wollen. Wichtig dabei ist
doch, dass bestimmte Kriterien erfüllt sind: Es muss eine
strategische, vor allem transparente Entscheidung getroffen werden, die den Städten und Gemeinden die
politische Steuerungsfähigkeit und demokratische Kontrolle lässt, und die Aufgabe muss effizient wahrgenommen werden. Das ist die Grundentscheidung.
Es geht nicht um einen theoretischen Diskurs über das
Verhältnis von Privat zu Staat. Wir müssen immer darüber nachdenken, wie Städte und Gemeinden ihre kommunalen Aufgaben in transparenter Weise wahrnehmen
können und welche Steuerungsmöglichkeiten die gewählten Gemeindevertreter haben sollen. Darum geht es,
wenn wir über die Wahrnehmung von Aufgaben vor Ort
reden.
({3})
Machen wir uns nichts vor: Viele Städte- und Gemeinderäte entscheiden sich parteiübergreifend für eine
Rekommunalisierung. Ich weiß, dass das der FDP besonders wehtut.
({4})
Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass sich nach
einer Privatisierung von Aufgaben die Gemeinderäte dafür entscheiden, ebendiese Aufgaben in den Verantwortungsbereich der Stadt zurückzuholen. Warum tun sie
das? Sie haben den Eindruck, dass hier eine Schieflage
entstanden ist. Oftmals ist es nämlich so, dass Gewinne
privatisiert und Verluste sozialisiert wurden, sodass die
Städte auf den Kosten sitzen blieben. Dass dies vonseiten der Städte und Gemeinden sowie der Bürgerinnen
und Bürger nicht akzeptiert wird, ist doch klar. Man
möchte nicht, dass private Unternehmen die Gewinne
einstecken und dass die Verluste über Gebühren und andere Abgaben auf die Bürger umgelegt werden.
Ganz viele Städte und Gemeinden entschließen sich
daher, Aufgaben zu rekommunalisieren. Das ist auch in
Bayern, Baden-Württemberg und anderswo der Fall. Darüber gibt es mittlerweile Erhebungen. Unterhalten Sie
sich einmal mit den Leuten vor Ort. Es gehört zum Spektrum kommunalpolitischen Handelns, dass Aufgaben in
die Entscheidungskompetenz der Kommunen wieder zurückgeholt werden.
({5})
- Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass
ich das versucht habe zu erläutern.
({6})
Die Kommunen wissen, dass sie von den Bürgerinnen
und Bürgern für Aufgaben, die sie eigentlich delegiert
haben, in die Verantwortung genommen werden.
Es ist gut, dass wir eine vertiefte Diskussion über Rekommunalisierung führen. Demnächst wird über das
Abfallwirtschaftsgesetz zu diskutieren sein und über die
Frage, welche Akzente Sie da setzen. Hier fahren Sie
vonseiten der Koalition einen völlig falschen Kurs, indem Sie falsche Entscheidungen, die gegen die Kommunen gerichtet sind, treffen und indem Sie die Privaten
privilegieren, anstatt den Kommunen die Möglichkeit zu
lassen, selbst darüber zu entscheiden, wie kommunale
Aufgaben wahrgenommen werden sollen.
Wir haben auch eine Debatte im Zusammenhang mit
dem Energiewirtschaftsgesetz zu führen. Ganz viele
Kommunen wollen ihre Stromnetze wieder im eigenen
Verantwortungsbereich haben. Das ist auch gut so. Ihre
Entscheidung, den Atomkonsens rückgängig zu machen,
war nicht nur in der Sache, also energiepolitisch, falsch.
Dies war auch eine Entscheidung gegen die Städte und
Gemeinden. An dieser Stelle ist es deshalb so wichtig,
dass wir auch im Zusammenhang mit der Rekommunalisierung über das Thema Energiewende und über die Verfügbarkeit von Energienetzen vor Ort reden. Da gibt es
noch viele inhaltliche Fragen, die wir zu erörtern haben.
({7})
Ich bin mir sicher, dass wir eine konstruktive Debatte
in den entsprechenden Fachausschüssen führen. Es ist
notwendig, einen Akzent in Richtung Rekommunalisierung zu setzen. An die Adresse der Linken sage ich: Ich
würde mir wünschen, dass Sie nicht nur im Deutschen
Bundestag über dieses Thema reden.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Skudelny?
Ja, gerne.
Bitte, Frau Skudelny.
Stimmen Sie mir zu, dass man über die Netze überhaupt keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des
transportierten Stroms hat? Die Netze sind grundsätzlich
barrierefrei. Das heißt, der Eigentümer des Netzes kann
überhaupt nicht bestimmen, auf welche Art der Strom,
der durch seine Netze fließt, erzeugt wird. Deswegen ist
der Einfluss der Netzbetreiber in Richtung Energiewende relativ beschränkt.
({0})
Ich verstehe nicht, warum Sie sich dagegen aussprechen, dass Kommunen über Netze verfügen
({0})
und damit diejenigen sein können, die klar darüber entscheiden, wie sie ihre Energieversorgung gestalten wollen; darum geht es doch im Kern.
({1})
Es geht nicht darum, die Netze bei den vier großen Energieversorgern zu belassen und Verträge, die vor 20 oder
40 Jahren geschlossen wurden, mit bestimmten vertraglichen Grundlagen auf immer zu zementieren. Ich weiß,
dass das der Wunsch vieler großer Konzerne ist. Aber
ich finde es toll, dass momentan in den Städten und Gemeinden eine lebhafte Debatte darüber geführt wird,
weil sie das Gefühl haben, dass sie viel mehr Chancen
und Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihr eigenes Energie- und Klimakonzept vor Ort haben, wenn sie
an Einfluss auf die Netze gewinnen. Deshalb sprechen
wir uns dafür aus, ihren Einfluss zu steigern.
({2})
Meine Damen und Herren, wie gesagt: Ich wünsche
mir von der Linken, dass solch ein Antrag nicht nur eingebracht wird, sondern es auch in Berlin, in der realen
Politik zu Ergebnissen führt.
({3})
Es liegt ganz offensichtlich auf der Hand, dass die rotrote Koalition in Berlin dies in zehn Jahren nicht geschafft hat; mir fehlt die Redezeit, um das mit weiteren
Beispielen zu belegen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Norbert Brackmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sonst bemühen sich die Linken immer, sich
den Anstrich zu geben, die Initiativen vor Ort aufzunehmen und für die Menschen da zu sein. Aber was sind die
Kriterien, nach denen wir die aufgeworfene Frage der
Rekommunalisierung im Zusammenhang mit dem ÖPPBeschleunigungsgesetz bewerten sollten? Das können
doch in Wirklichkeit nur die Menschen sein. Dann können wir wiederum schauen, ob die Menschen einen Nutzen aus kommunalen Investitionen ziehen: Erhalten sie
dadurch Arbeitsplätze?
Ich kann feststellen: Der Antrag würde, wenn man ihn
beschließen würde, zunächst einmal die Freiheit der
Kommunen einschränken, darüber zu entscheiden, in
welcher Form sie ihren Bürgern Gutes tun wollen.
({0})
Insofern sind Ihre Forderungen unmittelbar gegen die
Freiheitsrechte der Menschen gerichtet.
({1})
Ein anderes Thema sind die Menschen, die Arbeitsplätze haben wollen. Im Zusammenhang mit ÖPP-Projekten ist immer wieder über die Frage diskutiert worden, ob ein Auftrag für eine große Firma - beim
Landtagsbau in Potsdam war es zum Beispiel eine niederländische Firma - dazu führt, dass Arbeitsplätze vor
Ort verloren gehen. In Baden-Württemberg hat es ein eigenes Forschungsprojekt gegeben, bei dem exakt diese
Frage untersucht worden ist. Siehe da: Gerade bei ÖPPProjekten erhalten mittelständische Unternehmen 83 Prozent der Aufträge, bei der klassischen Vergabe sind es
nur 81 Prozent.
Zudem ist untersucht worden, ob die Aufträge in der
Region bleiben. Konkret wurde untersucht: Wie viele
Aufträge werden in einem Radius von 100 Kilometern
vergeben? Bei ÖPP-Projekten sind es 73 Prozent der
Aufträge, bei klassischen Vergaben lediglich 65 Prozent.
Das heißt, bei ÖPP-Projekten werden mehr Aufträge in
der Region vergeben.
({2})
Dann kann man noch die Frage stellen, womit die
Menschen hinterher zufriedener sind. Auch das hat man
untersucht. Dabei hat man festgestellt, dass ÖPP-Projekte mit einer Note von 2,4 benotet wurden, während
die selbst vergebenen Projekte mit 2,6 bewertet wurden.
Das heißt, die Menschen sind obendrein auch noch zufriedener.
({3})
Das zeigt deutlich, dass es bei Ihrem Antrag um Ideologie geht, nicht darum, dem Mittelstand Aufträge zuzuführen und den Menschen eine zufriedenstellende Lösung anzubieten.
({4})
- Frau Höll, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben.
({5})
Meine Zahlen sind aber veröffentlicht; Sie können sie
nachlesen.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Im Antrag der
Grünen mit dem Titel „Transparenz in Public Privat
Partnerships im Verkehrswesen“ wurde darauf hingewiesen, dass man den Sinn oder Unsinn von ÖPP-Projekten
anhand von Einzelfallentscheidungen bewerten kann
und muss; die Zahlen ändern nichts. Das finde ich auch.
Insofern wundere ich mich ein Stück weit über die Rede
meiner Vorrednerin. Darin stimmen wir völlig überein.
Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf die Frage: Ist
ÖPP per se gut, oder ist eine Rekommunalisierung per se
gut? Man kann das immer nur an Einzelfällen festmachen.
({6})
In dieser Zeit, in der sich Bund, Länder und Kommunen in einer Konsolidierungsphase befinden, in der wir
auf jeder Ebene darüber streiten, aber auch entscheiden
müssen, welches der richtige und wirtschaftlich vernünftigste Weg zur Beschaffung ist, dürfen wir bestimmte
Lösungsmöglichkeiten nicht von vornherein außer Betracht lassen. Wir werden nicht zulassen, dass es in
Deutschland wieder Denkverbote gibt.
({7})
Ich frage Sie von der Fraktion Die Linke, wo Sie das
ganze Geld hernehmen wollen, das uns heute fehlt.
({8})
Man muss nur einmal vor die Haustür treten, um festzustellen, dass es überall einen riesengroßen Investitionsbedarf gibt. Angesichts dessen ganz pragmatisch darüber
nachzudenken, ob wir durch Öffentlich-Private Partnerschaften einen Schritt weiterkommen können, muss zulässig sein.
({9})
Nun mögen Sie sagen, dass eine Kommune überfordert ist, wenn es darum geht, zu entscheiden, welches
das bessere Modell ist. Aber auch diesbezüglich ist der
Bund vorangegangen und hat unter anderem mit der
ÖPP Deutschland AG eine Institution geschaffen, bei
der sich Kommunen beraten lassen können. Dort können
sie Wirtschaftlichkeitsberechnungen und Qualitätsanalysen durchführen lassen und sich beraten lassen, um dann
frei zu entscheiden, ob sie den Weg gehen wollen oder
nicht.
In Ihrem Antrag führen Sie ein negatives Beispiel aus
meinem Wahlkreis an. In Ahrensburg wurde die Gasversorgung in private Hand überführt. Später ist sie rekommunalisiert worden, weil das schiefgegangen ist. Mich
wundert, dass Sie, wenn Sie schon auf Ahrensburg
schauen, selektiv die Stadtwerke herausgreifen; denn
Ahrensburg hat gerade drei ÖPP-Projekte durchgeführt.
Es wurden eine Seniorentagesstätte und eine Schulsporthalle gebaut. Das sind Vorzeigeprojekte für ÖffentlichPrivate Partnerschaften. Das Verhältnis ist also 2 : 1.
Nun ist das keine statistische Erhebung, zeigt aber, wie
selektiv Sie die Wirklichkeit draußen wahrnehmen, und
belegt, dass Sie aufgrund Ihrer ideologischen Verblendung alle bevormunden wollen, sobald Sie irgendwo etwas gefunden haben, was Ihre Annahmen bestätigt.
({10})
Ich kann Ihnen an Beispielen aus meinem Wahlkreis
auch die Vorteile von ÖPP aufzeigen. Die Stadt Schwarzenbek - sie ist ebenso wie viele andere Kommunen in
dieser Region hochverschuldet - hat ein neues Gymnasium zuzüglich einer Drei-Feld-Sporthalle gebraucht.
Die Gebäude waren zu errichten, aber nicht zu finanzieren. Wie das heute bei einem solchen Projekt Pflicht ist,
wurde eine Wirtschaftlichkeitsanalyse durchgeführt. Was
ist günstiger? Eine Öffentlich-Private Partnerschaft oder
die klassische Vergabe durch die Kommune selbst? In
dieser Analyse hat man festgestellt, dass die ÖffentlichPrivate Partnerschaft einen Kostenvorteil von 19 Prozent
mit sich bringt. Dann wurde das Ganze gebaut. Es gab
ein paar Probleme. Der Kostenvorteil betrug am Ende
12 Prozent. Durch diese wirtschaftliche Betätigung standen der Stadt Schwarzenbek für Aufgaben der Daseinsvorsorge 3 Millionen Euro mehr zur Verfügung.
({11})
Es hat ein paar Nebenwirkungen gegeben, die wir hier
nicht verschweigen wollen: Der Neubau der Schule war
früher fertig als geplant. Das ist etwas, was wir bei der
kommunalen Vergabe nicht täglich finden.
({12})
Die Schülerzahlen steigen seitdem. Dafür gibt es einen
Grund: Die Schule wurde als modernste Schule in Norddeutschland ausgezeichnet.
({13})
Das ist ein Beleg von vielen, dass Öffentlich-Private
Partnerschaften wirtschaftlich sein können. Durch dieses
sparsame und effiziente Agieren können wir das Beste
aus den Steuermitteln herausholen. Deswegen kann man
ÖPP nicht so pauschal verunglimpfen, wie Sie das mit
Ihrem Antrag versuchen.
({14})
Natürlich gibt es auch negative Beispiele. Ich will
jetzt gar nicht darauf eingehen, dass sich Ihr Antrag
- angefangen beim Redner über die Beispiele bis hin zu
den Debattenschwerpunkten - ausdrücklich mit Berlin
beschäftigt hat. Als jemand, der in Berlin nur einen
Zweitwohnsitz hat, will ich auch gar nicht die Berliner
Situation bewerten. Ich stelle einfach nur fest, dass erstens in wenigen Monaten hier eine Landtagswahl stattfindet, dass zweitens ein spezifisches Berliner Problem
im Vordergrund steht und dass sich drittens Berlin aufgrund seiner Verhaltensweise nicht gerade in einer vorteilhaften Finanzsituation befindet.
({15})
Die Verschuldung Berlins in Höhe von 70 Milliarden
Euro bedeutet eine Größenordnung, mit der sich der Stabilitätsrat beschäftigen muss. Der Rechnungshof warnt
vor Ihrem politischen Vorhaben der Rekommunalisierung, weil das die Verschuldung noch weiter in die Höhe
treiben und den Menschen in Berlin damit noch mehr
Zukunftsperspektiven nehmen würde. Angesichts dessen
ist es schon ein Stück aus dem Tollhaus, dass Sie mit Ihrem Antrag den Deutschen Bundestag für den Berliner
Landtagswahlkampf missbrauchen wollen.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit
komme ich zum Schluss. Bei ÖPP-Projekten handelt es
sich um Einzelfallentscheidungen, die jede Kommune
für sich selbst treffen muss. Warum soll der Bund die
Kommunen an dieser Stelle bevormunden? Dafür gibt es
überhaupt keinen Grund.
({17})
Darum rufe ich Ihnen zu: Die Menschen haben es verdient, die Luft der Freiheit zu atmen. Das umfasst auch
die Freiheit, einzelfallbezogen selbst entscheiden zu dürfen, welche Form der Aufgabenerledigung für sie das
Beste ist. Der Geist der Freiheit ist es, der unser demokratisches Gemeinwohl - ({18})
- Der Geist der Freiheit ist aber, darüber zu entscheiden,
ob man privatisieren will oder nicht.
({19})
Wir wollen nicht den Geist volkseigener Betriebe, um
es auf den Punkt zu bringen. Finden Sie Ihren inneren
Frieden mit der Vergangenheit. Kommen Sie endlich in
der Gegenwart an. Dann haben Sie auch die Chance, darüber nachzudenken, wie Sie die Zukunft für die Menschen gestalten wollen.
Danke schön.
({20})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Tiefensee von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte
meine Redezeit darauf verwenden, eine Antwort auf die
Frage zu geben, worum es eigentlich geht, wenn von
ÖPP - Öffentlich-Private Partnerschaften - die Rede ist,
und damit etwas mehr Klarheit schaffen. Außerdem
möchte ich dafür werben, dass wir - ähnlich wie es
meine Vorredner zum Teil gemacht haben - dieses Instrument etwas differenzierter betrachten und den Kommunen nicht ein Instrument aus der Hand schlagen, das
sie dringend brauchen.
Erstens. Wenn die Öffentlichkeit ÖPP hört bzw. Ihren
Antrag liest, dann entsteht der Eindruck, es ginge bei Öffentlich-Privaten Partnerschaften um das Veräußern von
Anteilen kommunaler Unternehmen. Dem ist nicht so.
Das ist eine Begriffsverwirrung, die wir aufklären müssen.
({0})
Es ist eine Täuschung, ein Vermischen unterschiedlicher
Sachverhalte, was dazu führt, dass in der Öffentlichkeit
ein falscher Eindruck entsteht und ein durchaus sinnvolles Instrument desavouiert wird.
({1})
Zweitens. Wir müssen darüber reden, warum die Kommunen überhaupt über derartige Instrumente nachdenken. Das heißt, hinter unserer Debatte verbirgt sich die
Frage, wie es um die Finanzausstattung der Kommunen
bestellt ist und ob die öffentliche Hand genug Geld hat,
ihre Aufgaben wahrzunehmen. Da hilft es nicht, meine
sehr verehrten Damen und Herren von Schwarz-Gelb,
dass wir einerseits von starken Städten reden - bei Ihnen
von der Union -, andererseits vom teuren Schwächling
- bei der FDP - und dann wieder die Gewerbesteuer
schleifen wollen oder mit einem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Kommunen pro Jahr
1,4 Milliarden Euro entziehen und ihnen bei der Finanzierung von Projekten, die Arbeitsplätze schaffen, den finanziellen Teppich unter den Füßen wegziehen.
({2})
Das verträgt sich nicht mit dem Thema, das wir heute
diskutieren.
({3})
Jetzt zu den ÖPP. Meine sehr verehrten Damen und
Herren von der Linken, sehr geehrter Herr Senator Wolf,
mich wundert es, dass Sie dieses Anliegen vertreten.
Denn diejenigen, die sich mit den wirtschaftlichen Verhältnissen der Kommunen auseinandersetzen, wissen,
dass wir dieses Instrument - maßvoll und unter ganz bestimmten Kriterien und Restriktionen angewendet - dringend brauchen. Warum? Es geht darum, dass wir Investitionen oder Beschaffungen gemeinsam mit privaten
Partnern vornehmen, wenn wir dadurch einen Nutzeffekt
haben.
Welches sind die Nutzeffekte? Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das Sie besichtigen und demzufolge auf
seinen Wahrheitsgehalt hin überprüfen können. Es geht
um die Stadt Magdeburg und meinen sehr verehrten Kollegen Trümper, den sozialdemokratischen Oberbürgermeister. Wie viele Oberbürgermeister stand er im Jahr
2008 vor folgender Frage: Soll ich in den Schulen, Kindertagesstätten und Sporthallen weiterhin notdürftig sanieren, Flickschusterei betreiben, oder nehme ich mit
dem Instrument der ÖPP 20 Schulen, Kindertagesstätten
und Sporthallen auf einmal in Angriff, und - man höre schaffe eine grundlegende, auch energetische Sanierung
innerhalb einer Frist bis zum Jahre 2015? Das ist die Alternative.
Jetzt kommen Sie und sagen: Dieses Instrument will
ich dem Oberbürgermeister aus der Hand schlagen. Das
ist schlecht. Wir sollten der Öffentlichkeit sagen, dass
ein solcher Antrag, würde er hier die Mehrheit finden,
dazu führen würde, dass es ein solch segensreiches Wirken insbesondere für die Schülerinnen und Schüler nicht
geben würde.
({4})
- Es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage.
Bitte schön.
Herr Tiefensee, als ehemaliger Oberbürgermeister
von Leipzig brauchen Sie nicht nach Magdeburg zu
schauen. Wir kommen beide aus Leipzig und haben dort
gemeinsam erlebt, wie die Stadtverwaltung - mit Zustimmung der Mehrheiten, aber ohne unsere Stimmen
als PDS - zweimal beschlossen hat, die Stadtwerke teilzuprivatisieren. Wir haben gesehen, welcher Schaden für
die Stadt entsteht, wenn man privatisiert.
Können Sie mir zustimmen, dass eine Stadt wie Leipzig mit einem wahnsinnigen Investitionsstau, was die
Schulen, Kindergärten usw. betrifft, das nicht alleine
stemmen kann? Es liegt eigentlich in der Verantwortung
des Bundes und der Länder, dafür zu sorgen, dass die
Kommunen genug Geld bekommen, dass sie eine ordentliche Finanzausstattung haben, um diese Aufgaben,
die jetzt verfassungsmäßig ihre sind, erfüllen zu können.
Ohne eine ordentliche Finanzausstattung ist dies nicht
möglich.
PPP rechnet sich langfristig weder für Leipzig noch
für Magdeburg noch für andere Kommunen. Durch die
Gewinngarantien, die ausgesprochen werden, werden
die Städte immer weiter finanziell belastet. Ich denke, es
ist uns klar, dass sich Öffentlich-Private Partnerschaften
für die private Seite nur lohnen, wenn sie Gewinne
macht. Warum sollte man den Bürgerinnen und Bürgern
diese Gewinne entziehen? Warum sollte man den Städten die Möglichkeit entziehen, diese Gewinne, die man
nicht maximieren muss,
Bitte kommen Sie zum Ende Ihrer Frage.
- im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der Stadt
einzusetzen statt für private Interessen?
({0})
Frau Höll, Sie hätten Ihrem Senator nicht so viel Redezeit geben sollen, dann hätten auch Sie hier regulär die
Möglichkeit zu einem Redebeitrag gehabt. Ich will Ihnen auf Ihre drei, vier Fragestellungen sehr gern antworten.
Erstens. Wir sind uns bezüglich der Finanzausstattung
der Städte einig; das habe ich deutlich gemacht. Ich
stehe dafür. Meine Fraktion und meine Partei stehen dafür. Wir sind eine Partei, die aus den Städten kommt, die
aus der schwierigen Situation in den Städten im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden ist. Dies ist also eines
unserer Urthemen. Wir stehen dafür, dass die öffentliche
Hand, ein aktiver Staat, dafür Sorge tragen muss, dass
die Kommunen ihre Aufgaben der Daseinsvorsorge für
die Bürger erledigt bekommen.
Außerdem fragten Sie nach der Privatisierung der
Energieunternehmen, speziell in Leipzig. Ich muss feststellen: Sie sind wieder dabei, beide Themen zu vermischen. Ich möchte die Öffentlichkeit und uns alle bitten,
das nicht zu tun. Wir reden hier über das Thema ÖPP.
Dennoch will ich Ihnen die Antwort auf Ihre Frage
nicht schuldig bleiben. Sie erwischen damit nämlich gerade den Falschen. Während meiner Dienstzeit als Oberbürgermeister von Leipzig von 1998 bis 2005 hat die
Rekommunalisierung der Energieunternehmen stattgefunden. Lassen Sie uns über die Frage, unter welchen
Bedingungen die Privatisierung von Anteilen nötig ist,
ein anderes Mal diskutieren. Wir müssen nämlich zwischen der Aufgabenverantwortung einerseits und einer
Erledigungs- bzw. Erfüllungsverantwortung andererseits unterscheiden. Das geht bei Ihnen aber munter
durcheinander.
Wir sehen es so: Die öffentliche Hand wird niemals
die Aufgabenverantwortung für die öffentliche Daseinsvorsorge aus der Hand geben dürfen. Aber sie darf sich
bei der Erfüllung dieser Aufgabe durchaus Privater bedienen. Wir sind nicht der Auffassung, dass Private, zum
Beispiel ein kleiner Handwerksbetrieb oder der Zusammenschluss von Handwerksbetrieben, zu verteufeln sind.
Auch sie gehören zu unserer Gesellschaft. Im Übrigen
arbeiten auch diese Betriebe im Interesse des Gemeinwohls. Aus diesem Grund gehören auch sie zu diesem
Komplex.
({0})
Frau Höll, jetzt dürfen Sie sich setzen; denn ich fahre
in meiner Rede fort.
Ich würde gern zu der Frage „Wieso fließen die Gewinne in die Taschen der Gesellschaften?“ Stellung nehmen. Ich möchte, auch am Beispiel von Magdeburg, auf
die Vorzüge von PPP zu sprechen kommen und deutlich
machen, dass sich diese Partnerschaften am Ende auch
für die Kommunen rechnen.
Was ist der erste Vorteil? Die Kommunen erstellen
zusammen mit den Privaten das Portfolio für eine zu
leistende Investitionsaufgabe, und zwar in einer Transparenz, die beispielhaft ist. Ich kenne kaum Vorhaben
der öffentlichen Hand, die derart transparent sind. Der
erste Vorteil ist also die Transparenz.
Zweitens. Die Aufgabe wird schneller erledigt als
ohne PPP. Das heißt im Klartext, dass Kinder und Jugendliche - um beim genannten Fall zu bleiben - schneller den Nutzen davon haben, dass die Gebäude saniert
worden sind.
Drittens. Es kommt zu einer Ersparnis; denken Sie
nur an die energetische Sanierung.
({1})
Die öffentlichen Haushalte werden saniert, indem laufende Kosten minimiert werden. Schließlich arbeiten die
Kommunen mit Partnern zusammen, die die jeweilige
Aufgabe ständig erledigen. Die Gesellschaften, die Partner der Kommunen sind, sind dafür prädestiniert, während insbesondere manch kleine Gemeinde solche Leistungen über Jahre hinweg nicht erbracht hat und erst in
die Lage versetzt werden muss, dies zu tun. Die Privaten
können diese Leistungen im Verbund mit der öffentlichen Hand besser erbringen.
Im Übrigen werden im Rahmen von PPP auch kleine
Unternehmen angesprochen. Sehen Sie sich das Magdeburger Modell an: Es fand eine europaweite Ausschreibung statt, in vier Tranchen wurden 20 Schulen saniert,
und das Verfahren war transparent. Durchgesetzt hat sich
die SALEG Sachsen-Anhaltinische Landesentwicklungsgesellschaft mbH. Die Finanzierung, Frau Höll,
wurde übrigens von einer Bank aus Bremen und - man
höre und staune - der Sparkasse Magdeburg übernommen, die, wie ich glaube, nicht im Verdacht steht, die
Rendite in die eigene Tasche zu stecken. Hier ist also ein
äußerst transparentes, sinnvolles Verfahren angewandt
worden. Die Risiken werden von den Privaten getragen
- Geld wird erst dann gezahlt, wenn die Sanierung erfolgt ist -, und den Nutzen der Sanierung haben die Kinder und Jugendlichen.
Meine Damen und Herren, das ist beste Arbeit. Ich
betone aber: An anderer Stelle kann es durchaus sinnvoll
sein, sich gegen Public-private-Partnerships zu entscheiden. Meine herzliche Bitte an Sie lautet: Vermischen Sie
nicht die Themen, und schlagen Sie den Kommunen dieses sinnvolle Instrument nicht aus der Hand. Es ist gut.
Wir wollen es stärken, wenn es maßvoll und am richtigen Ort eingesetzt wird.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar von der
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Zum Antrag der Linken ist bereits
vieles gesagt worden. Mir ist in der Debatte aufgefallen,
wie sehr sich auch Parteien, die eigentlich eher zur Mitte
des politischen Spektrums gehören, an der Formulierung
„Privat vor Staat“ abgearbeitet haben. Der Kollege
Kahrs von der SPD sagte dazu, das sei eine extreme Formulierung, und die Kollegin Haßelmann hat in ihrer
Rede geäußert, „Privat vor Staat“ sei quasi eine ideologische Aussage.
({0})
Ich will noch einmal daran erinnern, dass letzten Endes alle Freiheiten, die unsere Verfassung gewährt, dem
Staat zunächst einmal vorgehen. Natürlich darf jeder
Bürger in Deutschland jeden Beruf ergreifen, den er ergreifen möchte. Natürlich darf jeder Bürger in Deutschland in jeder Branche als Selbstständiger oder als Unternehmer tun, was er möchte, solange es eine legale
Tätigkeit ist. Das ist „Privat vor Staat“. Das ist letzten
Endes eine der Grundaussagen unseres Grundgesetzes.
({1})
Es ist völlig klar, dass der Staat aus guten Gründen
Freiheiten einschränken darf, auch die Freiheit zur wirtschaftlichen Betätigung, aber er darf es eben nicht willkürlich tun, sondern er muss es rechtfertigen. Er muss
dafür zwingende öffentliche Gründe haben.
Ihre Aussage, „Privat vor Staat“ sei extrem, Herr Kollege Kahrs, bietet mir eigentlich eher Anlass, Sie zu fragen, ob Sie nicht einmal Ihren Standpunkt überprüfen
sollten; denn das ist etwas, was auf der Grundlage unserer Verfassung so nicht haltbar ist.
Die Grünen müssen sich fragen lassen, ob ihre Aussage, „Privat vor Staat“ sei Ideologie, eigentlich auch
gilt für Themen wie die Vorratsdatenspeicherung oder
die Meinungsfreiheit im Internet.
({2})
Sehen Sie das da auch so, oder gilt da die Regel „Privat
vor Staat“ nicht ganz genauso? Wer das als Ideologie bezeichnet, legt letzten Endes eine opportunistische Haltung gegenüber Grundrechten an den Tag. Eine Partei,
die diese Auffassung vertritt, ist eigentlich keine Bürgerrechtspartei mehr.
({3})
Niemand, keine Kommune, kein Land, ist gezwungen, eine Öffentlich-Private Partnerschaft einzugehen.
Das ist eine freiwillige Entscheidung, die eine Kommune treffen kann. Wo das geschieht, entscheiden die
Verantwortlichen im Stadtrat, im Kreistag, wo auch immer, dass es offenkundig im Sinne der Bürger, im Sinne
der Kommune besser ist, einen privaten Partner hereinzuholen, weil es etwa den Bürgern am Ende Vorteile
bringt, weil es vielleicht günstiger ist, es so zu machen,
weil vielleicht der Service besser ist oder weil man mit
einem Spezialisten zusammenarbeiten möchte, der eine
bestimmte Dienstleistung tagtäglich erbringt. Es geschieht übrigens auch in der freien Wirtschaft, dass man
sich für bestimmte Aufgaben Spezialisten von außen dazukauft. Das ist nichts, was es nur beim Staat gibt. Es ist
oft genug sinnvoll, entweder unter Kostengesichtspunkten oder unter Qualitätsgesichtspunkten.
Öffentlich-Private Partnerschaften erlauben den
Kommunen in der Regel eine sichere Kalkulation der
Kosten. Man kann aufgrund der Verträge ein paar Jahre
im Voraus sehen, was es kostet, und kann die Haushalte
natürlich besser planen. Letzten Endes kann sich eine
Kommune, wenn sie sich für ein solches Modell entscheidet, von unternehmerischen Risiken befreien. Sie
trägt dann bestimmte Risiken nicht mehr, etwa bei Personalkosten, Rohstoffkosten, Sachkosten, Baustoffkosten, was auch immer, sondern hat einen Vertrag, und bestimmte unternehmerische Risiken lasten dann am Ende
auf dem Privaten.
Es gibt also gute Gründe dafür, sich für solche Modelle zu entscheiden. Es ist jeder Kommune unbenommen, das zu tun. Es obliegt sicher nicht dem Deutschen
Bundestag, den Kommunen das zu untersagen oder zu
erschweren. Sie sollen die Möglichkeit und Freiheit haben, dieses Instrument zu nutzen.
({4})
Der Antrag der Linken enthält die Aussage - darauf
möchte ich eingehen -, dass die öffentliche Aufgabenerfüllung dem Gemeinwohl diene und die private Aufgabenerfüllung nicht dem Gemeinwohl diene. Ich glaube,
dass das eine Schwarz-Weiß-Betrachtung ist, dass das
vielleicht auch eine etwas naive Sicht auf staatliche
Strukturen bedeutet. Auch staatliche Strukturen können
ein gewisses Eigeninteresse entwickeln, das sich vom
Allgemeinwohl abkapselt. Bei öffentlichen Unternehmen ist es oft genug so, dass die politischen Entscheidungsträger unter Druck gesetzt werden, zum Beispiel
bestimmte Strukturveränderungen nicht durchzuführen,
Stellenabbau oder anderes nicht zu betreiben. Man lässt
das einfach laufen, weil der politische Druck zu groß ist.
Niemand, der in politischer Verantwortung ist, handelt
gern gegen solchen Druck.
Öffentliche Unternehmen bergen sicher immer die
Gefahr, dass deren Themen und deren wirtschaftliche
Fragen in Wahlkämpfe, in politische Auseinandersetzungen gezogen werden. Deswegen sind sie oft langsamer,
wenn es darum geht, sich an neue Entwicklungen auf
dem Markt anzupassen.
Letzten Endes muss man natürlich auch sehen, dass
öffentliche Unternehmen zum Teil auch völlig sachfremd eingesetzt werden; ich glaube, wir alle kennen
Beispiele dafür. Da werden Leute in Führungspositionen, etwa als Geschäftsführer, untergebracht, nicht aufgrund ihrer Qualifikation oder Leistung, sondern eher
aufgrund bestimmter politischer Vorlieben. Das kann
passieren, und dafür gibt es Beispiele.
Es ist also beileibe nicht so, dass die öffentliche Aufgabenerfüllung immer nur im Interesse des Gemeinwohls ist. Zum Teil dient sie schlicht und einfach anderen Interessen, und der Verbraucher und Bürger muss es
am Ende über Gebühren oder Entgelte bezahlen. Auch
deshalb besteht Skepsis gegenüber öffentlichen Unternehmen, und zwar da, wo sie so eingesetzt oder missbraucht werden.
({5})
Deswegen ist es auch immer besser, egal ob es um
eine öffentliche oder eine private Aufgabenerfüllung
geht - zum Beispiel bei den Busverkehren oder bei der
Entsorgung -, wenn derjenige, der beispielsweise die
Konzession hat, die Abfallentsorgung in einem Gebiet
zu übernehmen, weiß, dass er, wenn er mit den Kosten
nicht mehr mithalten kann oder wenn jemand auftaucht,
der das besser oder billiger machen kann, den Auftrag
los ist. Was wäre denn los und welche Gebühren müssten die Bürger im Abfallbereich zahlen, wenn ein kommunaler Versorger ohne Grenzen und Beschränkungen
auf alle Zeiten das Recht hätte, die Entsorgung zu übernehmen? Der müsste sich nicht mehr darum kümmern,
die Gebühren zu senken und die Qualität zu verbessern.
({6})
Auch wenn es dafür Gründe gibt und es weiterhin möglich sein wird, dass Kommunen die Entsorgung übernehmen - das wird sogar der Regelfall sein -, ist es gut und
im Interesse der Bürger, dass ein kommunaler Betrieb,
wenn er nicht mehr wettbewerbsfähig ist und den Bürgern kein gutes Angebot machen kann, den Druck von
privater Seite zu spüren bekommt. Das halte ich aus
Sicht der Bürger und Gebührenzahler für richtig.
({7})
Natürlich muss man - das ist mein letzter Gedanke
hierzu - bei all diesen Themen, egal ob man eine Rekommunalisierung, eine kommunale Aufgabenerfüllung
oder eine Öffentlich-Private Partnerschaft will, auf die
Vertragsgestaltung achten. Selbstverständlich ist es am
Ende eine Frage der Konditionen. Wenn man, wie Sie
offenbar als Regelfall unterstellen, einen Vertrag voraussetzt, der für einen Investor tatsächlich eine Lizenz zum
Gelddrucken ist, würde ich einer solchen Vereinbarung
als Kommunalpolitiker auch nicht zustimmen. Aber es
liegt in der Verantwortung der kommunalen Mandatsträger vor Ort, Verträge mit privaten Partnern so abzuschließen, dass sie im Interesse der Kommunen liegen
und Vorteile bringen. Wenn Private mit der Erfüllung
von Aufgaben im Bereich der Daseinsvorsorge betraut
werden sollen, müssen die Verantwortlichen in den
Kommunen die Ausschreibung so gestalten, dass öffentlichen Interessen damit gedient ist.
Insofern glaube ich, dass der Antrag grundsätzlich in
die falsche Richtung geht. Die FDP bekennt sich dazu,
dass Öffentlich-Private Partnerschaften ein sinnvolles
Instrument sein können und Aufgaben der Daseinsvorsorge nach einer sinnvollen Ausschreibung im fairen
Wettbewerb auch von Privaten erbracht werden können.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich betrachte es nicht als feinen Stil, wenn man als Berliner Senator in den Bundestag kommt, als Antragsteller
eine elfminütige Rede hält und dann, nachdem sie wahlkampfbetont herübergebracht wurde, von dannen zieht
und die Kolleginnen und Kollegen, die auch etwas dazu
zu sagen haben, nicht mehr anhört.
({0})
Bitte geben Sie das an Herrn Senator Wolf weiter.
Meine Damen und Herren, ich habe mich mit diesem
Antrag intensiv auseinandergesetzt. Ich habe alle
35 Fragen gelesen, die Antworten genau studiert und bin
zu einigen Ergebnissen gekommen, die ich Ihnen heute
nicht vorenthalten möchte. Deshalb sage ich eingangs:
Der Grundsatz, so viel Privat wie irgend möglich, und
nur so viel Staat, wie unbedingt erforderlich, gilt nicht
nur für die FDP; für diesen Grundsatz steht auch meine
Fraktion.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken:
Sie haben - das zeigt Ihr Antrag - nichts dazugelernt. Zu
viel Staat macht die Wirtschaft kaputt. Dafür gibt es aktuelle Beispiele. Schauen Sie einmal nach Griechenland:
Hier arbeitet jeder vierte Erwerbstätige beim Staat. In
der Bundesrepublik Deutschland ist es zurzeit jeder
Vierzehnte. Dazwischen klafft also eine riesengroße Lücke, und da kommen Sie mit Ihrem Antrag und wollen
Verstaatlichungsorgien feiern. Meine Damen und Herren, da machen wir nicht mit.
({2})
Sie gehen von dem Ansatz aus, dass der Unternehmer
zu verteufeln ist und dass die Devise „Staat, Staat, Staat;
es gibt nichts Besseres“ immer in den Vordergrund gestellt werden muss. Wir lassen uns von ganz anderen
Vorstellungen leiten und ziehen vor allen Dingen Konsequenzen daraus, dass Ihre Vorgänger dies 40 Jahre in der
DDR praktiziert haben und jetzt festgestellt werden
muss, wohin der Zug ging, nämlich in den „Bahnhof
Bankrott“. Auch das ist nicht von der Hand zu weisen.
({3})
Es zeigt sich, dass Ihre Wahlprogramme und Ihr
Wahlprogrammentwurf alle linken Ladenhüter beinhalten - bis hin zur Überführung von Schlüsselbereichen
der Wirtschaft in Gemeineigentum und zur Verstaatlichung auch anderer Bereiche. Wieder kommt zum Ausdruck: Sie wollen eine andere Gesellschaft.
({4})
Hier unterscheiden sich unsere Ansichten fundamental
von dem, was Sie hier fordern. Pauschale Rekommunalisierungen können nicht im Interesse der Allgemeinheit
sein. Deshalb setzen wir von der Union auf PPP bzw.
ÖPP.
Wir wollen verstärkt privates Kapital akquirieren. Für
uns sind neue, innovative, effizienzsteigernde und damit
kostensparende Beschaffungsmethoden erforderlich, mit
denen die Pflichtaufgaben des Staates finanziert und abgewickelt werden können.
Schon in der Großen Koalition haben wir die Rahmenbedingungen hierfür verbessert. Diese Rahmenbedingungen - ich möchte an das anknüpfen, was Herr
Kollege Tiefensee soeben gesagt hat - haben sich zwischenzeitlich auch in Deutschland bewährt. Von 2002
bis 2010 wurden Investitionen in Höhe von gut 5,9 Milliarden Euro getätigt: vom Bund über 2 Milliarden Euro,
von den Ländern 1,5 Milliarden Euro und von den Kommunen 2,4 Milliarden Euro.
Das Potenzial ist immer noch groß. Derzeit befinden
sich über 100 größere Projekte in der Ausschreibung und
Vorbereitung. Das ist gut so; denn richtig durchgeführte
PPP- bzw. ÖPP-Projekte führen erstens zur Entlastung
der öffentlichen Haushalte, zweitens zu einer niedrigeren
Staatsquote, drittens zur Verbesserung des Standortes
Deutschland, viertens zu Wachstums- und Beschäftigungsimpulsen, fünftens zur Mobilisierung von privatem Kapital, sechstens zur Umsetzung von Projekten, die
ansonsten nicht realisiert werden könnten, und siebtens
zur Freisetzung weiterer Investitionen. Wir alle, der
Staat, die Betriebe und die Bürger, profitieren davon.
Das sollte auch heute als Botschaft mit hinausgehen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, klar ist aber
auch: PPP ist kein Allheilmittel für die Bewältigung der
schwierigen Haushaltslage, aber unbestritten ergibt sich
ein Effizienzvorteil. Zudem kann der Staat die benötigten Güter oder Projekte mit PPP meist schneller, günstiger und in höherer Qualität für den Bürger bereitstellen.
Das Einsatzspektrum für diese Programme ist breit, zum
Beispiel in den Bereichen Infrastruktur, öffentliche Bauten, Verkehr, Kultur und Forschung.
Lassen Sie uns alle einmal über den Tellerrand und
die Landesgrenzen hinausschauen und sehen, wie die
Nachbarländer das machen. PPP hat sich in ganz Europa
bewährt, und die Erfahrungen zeigen: Mit diesem Programm können Infrastrukturprojekte schneller und kostengünstiger realisiert werden. Hier können wir lernen.
Allein 2010 hatte Public-Private Partnership in Europa
ein Volumen von 18,3 Milliarden Euro. Deutschland belegt den achten Platz. Hier ist, anders als Sie meinen,
also noch viel Luft nach oben drin.
Wir wollen PPP nicht nur auf den Transportbereich,
die Verkehrsinfrastruktur fokussieren. 2010 haben deshalb die Investitionen durch PPP in anderen Bereichen
bereits über die Hälfte ausgemacht. Die Erfolge sind
enorm und überall zu sehen: Straßen, Brücken, Schulen,
Büros, Krankenhäuser, aber auch sozialer Wohnungs12856
bau, Luftraumüberwachung und sehr vieles mehr. Sie
alle wurden und werden über dieses Programm abgewickelt.
Statt wie Sie von der Linken PPP zu verteufeln, ist es
meiner Meinung nach vielmehr erforderlich, dass sämtliche Rahmenbedingungen für PPP-Programme verbessert
und Hemmnisse abgebaut werden. Wir wollen mehr
Aufgaben durch private Unternehmer erledigen lassen
und dadurch dringend notwendige Arbeitsplätze schaffen und zudem die Infrastruktur verbessern.
Wir meinen auch - das sollte gerade in dieser Debatte
zum Ausdruck kommen -: Mittelstand und PPP gehören
zusammen. Der Mittelstand profitiert sehr stark davon.
Dieses System stärkt die regionale Wirtschaft. Im
Durchschnitt entfallen 83 Prozent des Auftragswertes
auf mittelständische Unternehmen.
Richtig ist, dass unabhängig von einer Beteiligung auf
der Nachunternehmerebene mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe als direkte Partner an
solchen Projekten beteiligt werden. Dabei dürfen Öffentlich-Private Partnerschaften bisherige Investitionsvorhaben des Staates nicht ersetzen. Ziel muss es deshalb sein,
das Investitionsvolumen insgesamt zu erhöhen und die
Wirtschaft das machen zu lassen, was sie besser kann als
der Staat.
Die einzelnen Projekte, die von den Vorrednern genannt worden sind, haben das bereits eindrucksvoll zum
Ausdruck gebracht. Ihr Antrag kommt aus der alten
Mottenkiste. Ich schätze Sie persönlich, Frau Kollegin
Lötzer; Sie haben anscheinend nicht daran mitgewirkt,
sonst wäre nicht so etwas herausgekommen.
Ich meine, Sie liegen damit völlig falsch. Gehen Sie
in sich! Ziehen Sie Konsequenzen! Werfen Sie den Antrag in den Papierkorb und seien Sie bereit, unsere Argumente zu würdigen! Denn sie sind tausendmal besser als
das, was Sie mit Ihrem Antrag bewirken wollen.
In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist faszinierend, wie viel Lärm vier Personen erzeugen können: Vielen Dank für den Applaus.
({0})
- Das wird sich zeigen.
Der Kollege Toncar hat daran Anstoß genommen,
dass mein Kollege Kahrs das Mantra von Schwarz-Gelb
„Privat vor Staat“ als Ideologie bezeichnet hat.
({1})
Ich will das unterstreichen: Es ist Ideologie.
({2})
Es ist eine Ideologie, die krachend gescheitert ist. Sie ist
in diesem Jahr in Baden-Württemberg krachend gescheitert, und sie ist insbesondere vor einem Jahr in Nordrhein-Westfalen krachend gescheitert. „Insbesondere“
sage ich deswegen, weil es im Landtagswahlkampf in
Nordrhein-Westfalen darum ging, gerade diese Ideologie
wieder auszuhebeln. Die Bürger haben ein Mandat dafür
gegeben, das alles zurückzudrehen, was Schwarz-Gelb
unter der Ideologie „Privat vor Staat“ in NordrheinWestfalen angerichtet hat.
({3})
Sie haben nämlich den öffentlichen Unternehmen
Fesseln angelegt, die ihnen sozusagen einen Tod auf Raten garantiert hätten. Sie haben ihnen nicht mehr als den
Status quo garantiert. Sie haben ihnen durch die Änderung des § 107 der Gemeindeordnung jede Entwicklungsmöglichkeit genommen.
Das alles haben wir mit der neuen rot-grünen Koalition wieder zurückgedreht, und das ist in NordrheinWestfalen sehr begrüßt worden. Die Bürger finden das
übrigens sehr gut, weil sie gerade zu den kommunalen
Unternehmen großes Vertrauen haben. Befragungen haben ergeben, dass über 61 Prozent der Bürger ihnen viel
mehr trauen als anderen Unternehmen.
Uns geht es nicht darum, für die öffentlichen Unternehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber den privaten zu
generieren. Das ist nicht der Ansatz. Wir wollen vielmehr Wettbewerbsgleichheit. Das ist das Ziel, das wir
erreichen wollen. Wir wollen, dass öffentliche Unternehmen die gleichen Chancen am Markt haben wie private
Unternehmen.
Wer die Faktenlage kennt, weiß, dass sich öffentliche
Unternehmen in der Regel sowieso privater Unternehmen bedienen, weil sie ihre Aufgaben nicht komplett allein erfüllen können. Sie wissen sicherlich, in welchem
Maße das örtliche Handwerk von den Stadtwerken lebt.
Die Auftragslage dort wäre ganz anders, wenn die Stadtwerke die Entfaltungsmöglichkeiten, die sie heute in
Nordrhein-Westfalen wieder haben - in anderen Ländern
ist es leider noch nicht so weit -, nicht hätten.
Insofern ist es eine Ideologie. Ich will es Ihnen anhand Ihres Koalitionsvertrages entgegenhalten.
({4})
Auch wenn Sie sich nicht immer daran halten, sollte man
ihn lesen. Darin wird die Ideologie deutlich beschrieben.
Zum Thema Verkehr steht im Koalitionsvertrag:
Aufgabe der Privatwirtschaft ist es, Personenverkehr, Gütertransport und Logistik zu betreiben.
Dann heißt es weiter:
Aufgabe des Staates ist es, eine zukunfts- und leistungsfähige Infrastruktur zu garantieren …
Was heißt das denn übersetzt? Das heißt, der Staat ist der
Büttel derjenigen, die Gewinne machen. Der Staat muss
alles leisten, darf aber selber nicht an Gewinnen beteiligt
werden. Dafür sind die Privaten zuständig. Das ist nicht
unsere Ideologie.
Zum öffentlichen Personennahverkehr schreiben Sie
ganz unverblümt:
Dabei werden wir den Vorrang kommerzieller Verkehre gewährleisten.
Wer sich mit kommerziellen Verkehren in Städten auseinandersetzt, der weiß, dass - als Folge der Privatisierung - die betreffenden Unternehmen Dumpinglöhne
zahlen und trotzdem die Fahrpreise steigen. In diese
Richtung wollen wir nicht gehen. Aber das ist die Ideologie, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag ganz unverblümt niedergeschrieben haben.
Ich komme auf den Antrag der Linken zurück. Der
Grundsatz „Privat vor Staat“ hat allerdings nichts mit
PPP zu tun. Ich glaube, da haben Sie - darauf haben
schon einige Redner hingewiesen - einiges durcheinandergeworfen. Man sollte vielleicht der Öffentlichkeit erklären, was eine Öffentlich-Private Partnerschaft - ÖPP
oder auf Englisch PPP - eigentlich ist. Was kann man
sich darunter vorstellen? Die Grundüberlegung ist, dass
die öffentliche Hand und private Unternehmen auf Augenhöhe miteinander verhandeln und einen Vertrag für
ein Objekt schließen. Der Kollege Tiefensee hat vorhin
Beispiele aus dem schulischen Bereich genannt. In vielen Landesteilen der Republik lässt sich nachweisen,
dass diese Partnerschaften funktionieren.
Wie geht das genau? Viele Kommunen stehen vor
dem Problem, dass die Schulen marode sind. Das kennen
Sie alle sicherlich aus Ihren Heimatgemeinden. Wenn jemand eine Kommune kennt, in der die Situation besser
ist, der sage mir bitte Bescheid. Die rund 75 Schulen in
meiner Heimatgemeinde sind jedenfalls fast alle in irgendeiner Form renovierungsbedürftig. Der Investitionsbedarf beträgt grob geschätzt 150 Millionen bis 200 Millionen Euro. Wenn eine Kommune nun etwas für
Bildung tun und das schulische System verbessern will,
dann müsste sie eigentlich das dafür notwendige Geld
auf dem Kapitalmarkt aufnehmen und es sofort investieren. Das könnte sie, wenn sie es denn dürfte. Aber so
viel Kapital darf in der Regel keine Kommune aufnehmen. Da sind Regularien davor, die eine solche Kreditaufnahme verhindern. Selbst wenn die Kommune es
dürfte: Was würde sie dann machen? Sie würde ihre Planungs- bzw. Architekturabteilung beauftragen, Pläne zu
erarbeiten. Man darf aber nicht vergessen, dass die meisten Kommunen in den letzten 20 bis 30 Jahren diese Abteilungen abgebaut haben. Diese müssten also Private
mit der Planung beauftragen. Wenn die Planungen durch
die parlamentarischen Gremien durch sind, würde die
Kommune private Unternehmen beauftragen, das entsprechende Projekt zu realisieren, und zwar mit dem
Geld, das sich die Kommune - sofern sie es denn darf zuvor geliehen hat. Das ist bisher der klassische Weg.
Eine PPP funktioniert wie folgt: Ein Privater stellt das
notwendige Geld zur Verfügung, realisiert nach Absprache mit der Kommune das Projekt - darüber werden Verträge geschlossen; entscheidend ist die Vertragsgestaltung - und betreibt das Projekt so lange, wie es der
Lebenszyklus vorsieht. Das ist Teil der Leistung. Der
Unterschied zwischen einer PPP und der klassischen Variante ist die Lebenszyklusbetrachtung. Wenn wir ehrlich
sind, müssen wir zugeben, dass die kommunalen Räte
den Lebenszyklus nicht immer im Blick haben. Bei einer
PPP wird ein Objekt mit allen seinen Kosten bis zum
Ende nach etwa 25 oder 30 Jahren betrachtet. Diese Kosten werden berechnet. Die Kommune mietet das Objekt
zu einem festen Satz und hat immer ein funktionierendes
Objekt. Nach 25 oder 30 Jahren geht es in ihren Besitz
über. Das ist PPP. Das ist kein Allheilmittel.
Jede Kommune muss für sich entscheiden, ob sie ein
Projekt so angehen will und angehen kann. Wir sind jedenfalls nicht bereit, dieses Instrument - es kann sinnvoll sein, muss es aber nicht - einfach zu beseitigen. Ihr
Antrag liefe aber darauf hinaus, dieses Instrument abzuschaffen. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass die
Kommunen in der Lage sind, selber zu entscheiden, ob
PPP für sie ein sinnvolles Modell ist.
Sie behaupten in Ihrem Antrag, die PPP Deutschland
AG werde nur vom Bund und von Wirtschaftsunternehmen betrieben. Das ist nicht richtig. Bund, Länder und
Kommunen halten einen Anteil von 57 Prozent, während
die private Wirtschaft einen Anteil von 43 Prozent hält.
Das heißt, Kommunen, die wollen, haben die Möglichkeit, einzugreifen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel
gibt es eine Taskforce für PPP. Das Finanzministerium
hat ein Beratungsinstitut errichtet, das Kommunen berät,
die dieses Instrument nutzen wollen. Wir halten das für
den richtigen Weg. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag
ab.
Vielen Dank.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich nun das Wort dem Kollegen Christian von
Stetten von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute von der Linksfraktion eingebrachte Antrag fordert in seiner Überschrift eine Beschleunigung
der Rekommunalisierung und einen Stopp der Öffentlich-Privaten Partnerschaften. Wenn man allerdings den
Antrag genau liest, dann wird deutlich, dass das, was Sie
heute hier einfordern, im Prinzip ein Generalangriff auf
die kleinen Handwerker, die kleinen Dienstleister und
die Kleinstunternehmen in den Städten und Gemeinden
ist.
({0})
Frau Kollegin, Sie fordern - es wurde bereits erwähnt unter anderem eine Änderung der Gemeindeordnung dahin gehend, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen
Betätigung von Kommunen aufgehoben werden soll. Es
ist doch genau diese Regelung, die die Kleinstunternehmer, die Handwerker in unseren Kommunen schützt.
({1})
Wenn Sie nun das tun, was wir als verantwortliche Politiker nicht tun sollten, nämlich den kleinen Handwerkern
und den kleinen Gewerbetreibenden diesen Schutz nehmen, dann nehmen Sie denen auch noch die Arbeit. Das
sollte nicht im Sinn aller hier im Hause und auch nicht
Ihrer Fraktion sein. Dieser Schutz hat sich bewährt, und
den werden wir auch weiterhin geben.
({2})
Nun möchte ich einmal die rot-grüne Bundesregierung für einen Gesetzentwurf aus dem Jahr 2005 loben.
({3})
Ihr habt damals - das war einer der letzten Gesetzentwürfe, die Rot-Grün im Bundestag verabschiedet hat einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung der ÖffentlichPrivaten Partnerschaften eingebracht. Diesen Gesetzentwurf haben wir von CDU/CSU-Seite wohlwollend begleitet. Obwohl wir in der Opposition waren, haben wir
mitgeholfen, diesen Gesetzentwurf im Bundestag zu verabschieden.
({4})
- Wir haben uns enthalten - da hast du völlig recht -,
weil es ein Schritt in die richtige Richtung war, aber es
noch weitere Punkte gab, die wir aufnehmen wollten.
Wenn sich aber eine Opposition während eines Bundestagswahlkampfs dazu durchringt, das Gute in einem Gesetzentwurf positiv zu bewerten, dann ist das sicherlich
zu begrüßen.
Dieses Gesetz, das 2005 verabschiedet wurde, wollen
Sie ausweislich Ihres Antrags aus ideologischen Gründen abschaffen.
({5})
Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir hier selbstverständlich nicht mitmachen werden.
Aus Ihrem Antrag wird deutlich, dass Sie das Unternehmensrecht verändern wollen. Zum Beispiel wollen
Sie das Aktienrecht dahin gehend ändern, dass in Zukunft für die von Kommunen entsandten Aufsichtsräte in
Aktiengesellschaften und gemeinwirtschaftlichen Unternehmen nicht mehr das gilt, was heute noch Gesetz ist.
Heute ist im Gesetz geregelt, dass die Aufsichtsräte zum
Wohl des Unternehmens Entscheidungen treffen sollen,
also auch zum Wohl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das wollen Sie nun ändern, und zwar so, dass in Zukunft die Aufsichtsräte zuerst dem Gemeinwohl, also
den kommunalen Interessen, verpflichtet sind. Sie haben
die Funktion der Aufsichtsräte überhaupt nicht verstanden. Sie fordern keine Rekommunalisierung, sondern
das ist eine Renaissance des Sozialismus, und das wollen
wir hier im Parlament nicht beschließen.
({6})
Ich möchte nun noch ein weiteres Thema aufgreifen,
da ich glaube, dass das Gegenteil von dem, was Sie hier
beschreiben, der Fall sein wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in dieser Legislaturperiode noch einen
weiteren Schritt gehen müssen, nämlich den Schritt in
Richtung Abschaffung der steuerlichen Ungleichbehandlung von staatlichen Dienstleistungen und den
Dienstleistungen, die von privaten Unternehmen erbracht werden. Die Europäische Union ermahnt uns
schon heute, hier für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit zu
sorgen. Beispielsweise gibt es eine Ungleichbehandlung
im Bereich der Umsatzsteuer. Das trifft in dem Bereich
jeden Bürger.
({7})
Sie haben - wir befinden uns ja derzeit im Vorwahlkampf in Berlin - die Berliner Verhältnisse angesprochen. Insofern sollten Sie dies einmal mit den Berliner
Gastronomen und Unternehmern diskutieren. Derzeit
gibt es drei Möglichkeiten, Räume für eine Familienfeier
anzumieten: Entweder mieten Sie den Raum direkt bei
der Kommune oder bei einem örtlichen Gastronomen
oder bei einem Unternehmen an, das im Rahmen einer
Öffentlich-Privaten Partnerschaft das Gebäude betreibt
und die Räume vermietet. Wenn Sie einen Raum direkt
bei der Kommune steuerfrei für 1 000 Euro anmieten,
dann haben Sie einen wesentlichen Vorteil gegenüber
demjenigen, der einen gleichwertigen Raum bei einem
örtlichen Gastronomen anmietet; denn bei dem örtlichen
Gastronomen fallen neben der Miete in Höhe von
1 000 Euro auch noch, wenn man die Personalkosten berücksichtigt, 19 Prozent Umsatzsteuer, also zusätzlich
190 Euro, an. Das ist eine Wettbewerbsverzerrung, die
beseitigt werden muss.
({8})
Wir werden Ihren Antrag dazu nutzen, hierüber intensiv in den zuständigen Ausschüssen zu diskutieren.
Ich hätte gerne auf die Rede des Senators reagiert und
ihm zwei, drei Ratschläge für Berlin mitgegeben. Leider
hat er das Plenum schon verlassen. Er wird triftige
Gründe dafür haben.
Ich darf zum Schluss die Diskussion zusammenfassen. Ich glaube, es ist deutlich geworden: PPP ist kein
Allheilmittel. Aber in der Zusammenarbeit zwischen
Staat und privaten Unternehmen können intelligente,
kostengünstige und für die Bürger nützliche Projekte
entstehen. Deswegen werden wir auch in Zukunft an diesem Modell festhalten.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5776 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss. Die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke - Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag
ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Haushaltsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist an-
genommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Dirk Fischer ({0}), Arnold
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Verkehrssicherheit in Deutschland weiter
verbessern
- Drucksache 17/5530 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kirsten
Lühmann, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sicher durch den Straßenverkehr - Für eine
ambitionierte Verkehrssicherheitsarbeit in
Deutschland
- Drucksache 17/5772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Gero Storjohann für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden
uns in der Dekade der Verkehrssicherheit - das haben die
UN beschlossen -, und die geht von 2010 bis 2020. Wir
als Union empfanden es als sinnvoll, mit einem eigenen
Antrag die Verkehrssicherheit auch im Bundestag in den
Mittelpunkt zu stellen. Ich glaube, feststellen zu können,
dass von allen Themen, die wir bearbeiten, die Übereinstimmung der Verkehrspolitiker im Bereich der Verkehrssicherheit am größten ist. Es ist wichtig, dass diese
Arbeit in den Vordergrund gestellt wird; denn die Arbeit
ist erfolgreich gewesen.
Vergleicht man das Jahr 2010 mit dem Jahr 2000,
dann stellt man fest, dass allein bei den Verkehrstoten
ein Rückgang von über 50 Prozent zu verzeichnen ist, im
Verhältnis zum Jahr 1991 betrug der Rückgang 68 Prozent. Das wurde in einer Zeit erreicht, in der das Verkehrsaufkommen immer mehr gestiegen ist und um über
20 Prozent zugenommen hat. Das macht deutlich, dass
wir bisher eine gute Arbeit vorlegen konnten. Ich erinnere an die Gurtpflicht, an den Einbau von Airbags und
an den Ausbau der Infrastruktur. Das hat enorme Fortschritte bei der Verkehrssicherheit gebracht, und das hat
zu dem Sinken der Zahl der Todesfälle entscheidend beigetragen.
Was nicht so erfolgreich gewesen ist, ist die Vermeidung von Schwer- und Schwerstverletzten. Der Einbau
von Airbags hat dazu geführt, dass die Unfälle, die es
weiterhin gab, zwar nicht mehr so oft tödlich ausgegangen sind, dass aber Schwer- und Schwerstverletzte zu
beklagen waren. Deshalb müssen wir die Verkehrssicherheitsarbeit auf einem hohen Niveau weiterführen.
Wir wollen mit unserem Antrag der Regierung einen Impuls geben, auf dem guten Weg fortzuschreiten. Bei allen Erfolgen unserer Arbeit muss deutlich sein, dass das
nicht nur eine Aufgabe des Parlaments oder der Regierung ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Dadurch, dass wir den Verkehr sicherer machen, wollen
wir dafür sorgen, dass Menschenleben nicht gefährdet
werden und dass die Menschen unversehrt an ihr Ziel
kommen. Jeder getötete Mensch ist einer zu viel. Deshalb möchten wir die Zahl der Geschädigten so weit wie
möglich senken. Uns ist klar, dass die Zahl nie null sein
wird, aber die Vision, dieses Ziel anzustreben, muss erlaubt sein. Das ist international Konsens.
Unser Antrag enthält eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die ihre spezielle Wirkung entfalten. Wir als
Parlament haben eine gute wissenschaftliche Begleitung.
Die Regierung hat die Bundesanstalt für Straßenwesen,
die jeden Vorschlag intensiv darauf prüft, ob er machbar
ist und in welchem Umfang durch ihn eine Verbesserung
herbeigeführt wird. Deshalb dauert es auch eine gewisse
Zeit, bis ein guter Vorschlag umgesetzt wird. Ich erinnere an die Umsetzung des Vorschlags zum Tagfahrlicht.
Es hat eine Dekade gedauert, bis Erfolge zu verzeichnen
waren. Aber deshalb geben wir nicht auf. Vielmehr ist es
für uns Verkehrssicherheitspolitiker ein umso größerer
Ansporn, andere davon zu überzeugen, weiterzumachen.
Unser besonderes Augenmerk gilt den gefährdeten
Personengruppen im Straßenverkehr: Das sind nach unserer Auffassung Kinder, Fahranfänger zwischen 18 und
24 Jahren, die im Straßenverkehr aufgrund mangelnder
Fahrerfahrung ein besonders hohes Risiko eingehen, und
insbesondere ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger, Fahrradfahrer und motorisierte Zweiradfahrer.
Unfallschwerpunkte sind weiterhin der Güterkraftverkehr und der Verkehr auf den Landstraßen. Hier müssen
jeweils spezifische Maßnahmen ergriffen werden. Insbesondere die Gefährdung von jungen Fahrern hat uns in
letzter Zeit angetrieben, neue Initiativen zu ergreifen.
Von 2008 auf 2009 ist die Zahl der Verkehrstoten bei
jungen Fahranfängern um über 10 Prozent gesunken.
Wir sind der Meinung, dass das auf die Einführung des
Führerscheins mit 17 und auf die Absenkung der Promillegrenze auf null bei jungen Fahrern zurückgeführt werden kann. Die 0,0-Promille-Grenze findet eine hohe Akzeptanz bei den jungen Menschen, die inzwischen durch
Aufklärungsarbeit selbst dafür sorgen, dass der, der
fährt, wirklich null Promille hat. Das ist der erfolgreichen Arbeit der letzten Bundesregierung zu verdanken.
Wir möchten die Fahranfängervorbereitung weiter
optimieren. Deshalb enthält unser Antrag unter anderem
einen Prüfauftrag im Hinblick auf eine zusätzliche Begleitphase nach der Fahrschulausbildung und nach der
Fahrprüfung. Ein solches Zweiphasenmodell, das wir
schon länger diskutieren und das häufig an den Kosten
gescheitert ist, wird in Österreich praktiziert. Es ist sinnvoll, sich intensiver damit zu beschäftigen.
Große Aufmerksamkeit erfährt auch der Vorschlag,
den Einsatz sogenannter Alcolocks bei alkoholauffällig
gewordenen Verkehrsteilnehmern zu prüfen. Falls einige
das noch nicht kennen: Es handelt sich um eine sogenannte Wegfahrsperre. Das Lenkrad wird erst nach Pusten in ein Alkoholtestgerät entriegelt, natürlich nur dann,
wenn die Person nüchtern ist. In einigen europäischen
Ländern wird dieses System bei alkoholauffälligen Personen getestet, um ihnen die Chance, weiterhin am Straßenverkehr teilzunehmen, zu eröffnen.
({0})
Wir wissen, dass es auch bei diesem Verfahren Manipulationsmöglichkeiten gibt, aber wir wollen es trotzdem
testen. Deshalb haben wir einen ergebnisoffenen Prüfauftrag aufgenommen.
Bei den Autobahnen wollen wir durch den weiteren
Ausbau von Lkw-Stellplätzen mehr Sicherheit schaffen.
({1})
Der Bund hat bereits ein gutes Programm auf den Weg
gebracht. Bis 2012 sollen weitere 5 500 neue Lkw-Parkplätze gebaut werden; denn die Situation auf den Parkplätzen an den Autobahnen ist unhaltbar. Es entstehen
gefährliche Situationen durch Rückstau. Die Lkw-Fahrer
sind nämlich gehalten, ihre Ruhezeiten einzuhalten. Sie
sollen deshalb stressfrei ihre Parkplätze ansteuern können. Auch das ist ein wichtiger Auftrag im Bereich der
Verkehrssicherheit.
({2})
Für uns als Union ist der bedarfsgerechte Ausbau des
Bundesfernstraßennetzes ein wesentlicher Beitrag dazu,
die Verkehrssicherheit zu erhöhen. 2008 und 2009 wurden über 232 Kilometer neue Autobahnen fertiggestellt,
171 Kilometer Autobahn wurden sechs- und mehrspurig
ausgebaut. Wir sind der festen Überzeugung: Breitere,
moderne und gut ausgebaute Straßen erhöhen die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer.
Auch bei allen künftigen Baumaßnahmen wollen wir
uns am Leitbild der fehlerverzeihenden und standardisierten Straße orientieren. Hierzu gehören vor allen Dingen Rüttelstreifen auf den Autobahnen, die dem Sekundenschlaf entscheidend entgegenwirken können.
Auch der freiwillige Einbau von technischen Assistenzsystemen - das liegt ja meinem Kollegen Vogel besonders am Herzen - kann eine Lösung sein, um die Verkehrssicherheitsarbeit entscheidend voranzubringen.
({3})
Diese Systeme werden gerade für den Premiumbereich
entwickelt und zum Teil auch schon eingebaut und getestet.
({4})
Es bleibt zu hoffen, dass sie später auch im Volumenbereich eine entsprechende Wirkung entfalten. Deshalb bin
ich froh, dass wir hier in Deutschland Fahrzeuge herstellen, die dem Premiumbereich zuzurechnen sind.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch die Forderung aufstellen, dass man sich EU-weit auf einheitliche Statistiken
einigt, damit Vergleichbarkeit gegeben ist. Es muss Klarheit darüber herrschen, wann ein Verkehrsverletzter auch
als solcher in den Statistiken erfasst wird und er nicht als
Person gilt, die zwar im Krankenhaus behandelt wird,
aber nicht in den entsprechenden Statistiken erfasst wird.
Unser Antrag enthält eine Vielzahl von Maßnahmen.
Im Ausschuss werden wir sicherlich intensiv auch die
Vorschläge, die darüber hinaus noch vorgetragen werden, beraten und diskutieren. Ich bitte um Überweisung
an den Ausschuss.
({6})
Die Kollegin Kirsten Lühmann hat für die SPD-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sehr verehrte Herren und Damen! Kennen
Sie „Bike Heroes“? Ich meine damit nicht den Rennradnachwuchs, den Rudolf Scharping für seinen Bund
Deutscher Radfahrer sucht, sondern ich meine die Zeichentrickfiguren, mit denen der Auto Club Europa seine
diesjährige Kampagne zum Thema „Kind und Fahrrad“
startet.
Bundesweit ist die Zahl der im Verkehr getöteten Kinder im letzten Jahr von 90 auf 104 gestiegen. Jedes
zweite dieser Kinder war mit einem Fahrrad unterwegs.
Der ACE möchte bei seiner Aktion mit den Kindern zusammen, also nicht mit erhobenem Zeigefinger, einen
Sichtcheck der Fahrräder der Kinder auf technische
Mängel durchführen. Gleichzeitig wird eine Zählung
stattfinden, wie viele Kinder mit einem Helm und wie
viele ohne Helm Fahrrad fahren. Ich denke, wir alle sind
sehr gespannt auf die Ergebnisse der Studie. Diese Kampagne des ACE wie die anderen Aktionen der Verkehrssicherheitsverbände ADAC, ARCD, DVR oder Verkehrswacht sind wichtig. Sie sind wichtige Teile im
großen Puzzle der Verkehrssicherheit. Dazu gehört, die
Grundregeln der StVO, die wir alle einmal lernen mussten, zu verinnerlichen:
({0}) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert
ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
({1}) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder
mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, …
belästigt wird.
({2})
Mit den Aktionen der Verkehrssicherheitsverbände
und dem Verweis auf § 1 der StVO könnten wir das
Thema Verkehrssicherheit eigentlich ad acta legen. Damit ist alles gesagt. Wir alle wissen aber, dass sich die
Situation auf bundesdeutschen Straßen in der Realität
anders darstellt.
Ich bin heute, wie so oft, mit dem Fahrrad hierhergekommen. Ich habe mich maßlos über einen Lkw geärgert, der den Sicherheitsabstand zu uns Fahrradfahrenden deutlich unterschritten hat und dadurch eine sehr
gefährliche Situation verursacht hat. Ich habe aber auch
gehört, dass sich die Fußgänger über die Fahrradfahrenden aufgeregt haben, weil diese aus dem obigen Grund
auf den Gehweg ausgewichen sind.
({3})
Ich weiß auch, dass ich mich, wenn ich mit dem Auto
unterwegs bin, über all die aufrege, die langsamer sind
als ich, und damit eigentlich auch über mich selber, weil
ich irgendwann ja auch wieder als Fußgängerin unterwegs bin. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat 2001 die rotgrüne Bundesregierung ein Programm für mehr Sicherheit im Straßenverkehr verabschiedet. Schwerpunkt war
die Bewusstseinsbildung der Verkehrsteilnehmenden
und damit dieses Thema Rücksichtnahme.
Viele dieser Themen kommen uns auch heute, zehn
Jahre später, sehr bekannt vor: ÖPNV als sicheres Verkehrsmittel stärken, Unfallrisiko für Fahranfangende reduzieren, Landstraßen sicherer machen, Finanzierung
der Verkehrssicherheitsarbeit sichern, Fahrerlaubnis auf
Probe, Lenk- und Ruhezeiten sowie Ladungssicherung,
aber auch die Überwachung und Sanktionierung verstärken.
Auch dieser Plan hat dazu beigetragen, dass sich die
Verkehrssicherheit auf bundesdeutschen Straßen in den
letzten zehn Jahren deutlich gesteigert hat. Hier nur eine
Zahl, auf die wir mit Recht stolz sein können: Die Zahl
der Verkehrsunfalltoten lag im letzten Jahr unter 4 000.
Diese Zahl alleine wird Ihnen wenig sagen; ich gebe Ihnen eine Vergleichszahl: In den 70er-Jahren lag diese
Zahl bei über 20 000, obwohl wir nur ein Drittel der
Kraftfahrzeuge von heute auf unseren Straßen hatten.
Jetzt, nach zehn Jahren, hat die Bundesregierung beschlossen, einen neuen Verkehrssicherheitsplan aufzulegen, und ihn, wie wir von den Verkehrssicherheitsverbänden gehört haben, schon mit diesen abgestimmt. Ich
halte dies für richtig und gut. Nach einer Dekade muss
man sich die Fragen stellen: Was haben wir erreicht?
Was war gut? Aber was ist noch zu tun? Diesem Thema
widmet sich der Antrag der SPD, aber auch - Herr
Storjohann hat es gesagt - der Antrag der Koalition.
Bleiben wir bei den Verkehrsunfalltoten. Das Dritte
Europäische Aktionsprogramm für Straßenverkehrssicherheit hat das Ziel gehabt, von 2001 bis 2010 die Zahl
der Verkehrstoten europaweit um 50 Prozent zu senken.
Dieses Ziel hat die Bundesrepublik fast erreicht. Mit
dem neuen Leitfaden für die Politik der Verkehrssicherheit, den die Kommission aufgelegt hat, möchte sie diese
Zahl von 2010 bis 2020 noch einmal um 50 Prozent senken. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat - Herr
Storjohann hat es gesagt - hat sogar eine Vision Zero, indem er sagt: Unser Ziel müsste sein, die Zahl auf null zu
senken. Ich kenne auch das Zitat unseres Altbundeskanzlers Helmut Schmidt: Wer Visionen hat, möge bitte
zum Arzt gehen. In diesem Fall hilft aber nur ein ehrgeiziges Ziel. Auch wenn wir es nie erreichen, müssen wir
uns zu ihm bekennen. Wir müssen unsere Aktivitäten auf
dieses Ziel ausrichten, und es muss uns zur Höchstform
antreiben. Auch ich bin wie wohl alle hier der Meinung:
Jeder Tote im Straßenverkehr ist ein Toter zu viel.
Genau das ist es, was mit dieser Vision Zero ausgedrückt werden soll. Minister Ramsauer hat auf einer
Veranstaltung des DVR diese Idee ausdrücklich gutgeheißen und sich mit ihr solidarisch erklärt. In unser Verkehrssicherheitsprogramm sollten wir daher zumindest
die 50-Prozent-Marke aufnehmen, die uns Europa vorgegeben hat.
Aber es geht nicht nur um Tote - auch darauf hat der
Kollege Storjohann hingewiesen -, sondern es geht auch
um Schwer- und Schwerstverletzte. Zurzeit differenziert
unsere Statistik nicht danach. Wenn ich nach einem Unfall 24 Stunden zur Beobachtung im Krankenhaus
bleibe, zähle ich genauso als Schwerstverletzte wie jemand, der lebenslange Folgen aufgrund eines Unfalls erleiden muss. Wenn wir gezielt Prävention betreiben wollen, müssen wir genaue Zahlen haben. Daher regen wir
an, eine Kategorie wie „lebensgefährlich verletzt“ einzuführen, damit wir hier über genaue Zahlen verfügen und
das trennen können.
Ich führe noch einige Punkte aus dem SPD-Antrag an.
Wir haben uns zum einen dem Aktionsfeld Mensch mit
den Kategorien Kind, Fahranfangende und ältere Menschen gewidmet. Hier ist die Aufklärung durch die Verkehrssicherheitsverbände mit ihren vielen Ehrenamtlichen von besonderer Bedeutung. Ich denke hier etwa an
die Verkehrswacht, die auf Landes-, Kreis- und Ortsebene erhebliche Arbeit leistet. Von hier aus danke ich
all den Menschen, die das tun, noch einmal herzlich für
das, was sie in der Vergangenheit geleistet haben.
({4})
- Ich danke Ihnen für Ihren Applaus. Er war sehr wichtig. - Aber genauso wichtig wie dieser Applaus und die
Anerkennung ist auch die finanzielle Sicherheit, die wir
diesen Verkehrssicherheitsverbänden geben müssen.
Wenn sie weiterhin so erfolgreich, so effektiv und so
kostengünstig für unsere Sicherheit sorgen sollen, dann
müssen wir ihnen auch mittelfristige Planungssicherheit
geben. Ich war sehr euphorisch, als Herr Staatssekretär
Scheuer bei den Haushaltsberatungen angekündigt hat,
dass er genau dies tun wolle. Ich bitte Sie dann aber
auch, diese Summe zu verstetigen, zumindest auf dem
jetzigen Niveau, und sie auch in die mittelfristige
Finanzplanung aufzunehmen, damit die Verkehrssicherheitsverbände entsprechende Sicherheit haben.
({5})
Ich meine, das sind wir dem Ehrenamt schuldig.
In unserem Antrag gehen wir weiter auf Kinder und
auf die Helmpflicht ein. Wir möchten gern, dass untersucht wird, ob es angesichts der Zahlen nicht doch sinnvoll ist, eine Helmpflicht für Kinder auf Fahrrädern einzuführen.
Wir gehen auf Fahranfangende und auf das Mehrphasenmodell ein. Der Führerschein mit 17, den wir eingeführt haben, war gut, aber nicht alle können ihn nutzen.
Die zwei Jahre Probezeit, die wir eingeführt haben, sind
gut; aber nach der Führerscheinprüfung gibt es auch für
die auffällig gewordenen Fahranfangenden keine neue
Praxisprüfung. Die Kurse, die sie machen müssen, sind
in der Regel nur Theoriekurse.
Ebenso haben wir die 0,0-Promille-Grenze eingeführt. Das war auch sehr gut. Aber, Herr Storjohann, ich
sage Ihnen deutlich: Allein in Niedersachsen hatten wir
im letzten Jahr 3 425 schwere Verkehrsunfälle, die aufgrund von Alkoholmissbrauch zustande kamen. Das ist
einfach zu viel.
Zudem ist der Verkehrsunfalltod für junge Menschen
zwischen 18 und 24 Jahren immer noch die Haupttodesursache. Das heißt, obwohl wir die Zahlen gesenkt haben, sterben noch immer die meisten Menschen im Alter
zwischen 18 und 24 Jahren an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Die Gründe dafür sind neben falschem
Überholen hauptsächlich nicht angepasste, zu hohe Geschwindigkeit. Wenn wir diese Zahlen senken wollen,
müssen wir auch darüber nachdenken, ob wir jungen
Menschen, die noch nicht so viel Fahrerfahrung haben,
in den ersten zwei Jahren, bis sie diese Erfahrung gesammelt haben, eine Höchstgeschwindigkeit auferlegen, die
niedriger als diejenige ist, die erfahrene Autofahrer fahren dürfen. Andere Länder wie Frankreich haben es uns
erfolgreich vorgemacht. Ich halte dies für eine auch für
uns angezeigte Maßnahme.
Lassen Sie uns die letzte Zielgruppe anschauen; das
sind die sogenannten Silver Ager, wie der ADAC sie
nennt. Die erste Reihe hier im Haus wird sehen, dass ich
eigentlich auch schon ein bisschen dazugehöre, wenn
auch noch nicht ganz. Diese Silver Ager sind zwar an
der Verursachung von Unfällen unterproportional beteiligt, aber wenn sie in einen Unfall verwickelt werden
und dabei verletzt werden, dann sind diese Verletzungen
in der Regel sehr schwer. Dies wird sich in absoluten
Zahlen aufgrund des demografischen Wandels natürlich
erhöhen. Das damit verbundene Problem wurde gestern
auch bei einer Veranstaltung im BMVBS zu dem Thema
„Barrierearmes Bauen“ angesprochen: Keine Person
möchte daran erinnert werden, was kommt, wenn sie älter wird. Das heißt, wir treffen keine Vorsorge, und wenn
es so weit ist, dann ist es zu spät.
Insbesondere im ländlichen Raum sind die Menschen
auf Kraftfahrzeuge angewiesen. Wir haben viele Orte
ohne Bäcker, ohne Fleischer, ohne Supermarkt, ohne
funktionierenden ÖPNV. Oftmals leben die Kinder auch
noch an anderen Orten. Wenn die Fahrerlaubnis abgegeben werden muss, dann bedeutet dieser Verlust der Mobilität auch einen erheblichen Verlust an Lebensqualität.
Als Polizeibeamtin habe ich sehr viele Vorträge dazu
gehalten. Heute weiß ich: Ich hätte es auch lassen können; denn eine Studie besagt, dass ältere Menschen in
diesem Fall nicht auf die Polizei hören. Sie hören aber
auch nicht auf ihre Kinder, was mich nicht verwundert:
Als Kinder haben wir nicht auf unsere Eltern gehört. Warum sollen sie jetzt auf uns hören? Aber ältere Menschen
hören in dieser Frage auf Ärzte und Ärztinnen. Diesem
Thema sollten wir uns widmen; wir sollten die Beratung
hierzu ausweiten.
Wir können zwar die schönsten Ideen haben, aber
wenn deren Umsetzung nicht kontrolliert wird, werden
wir nicht weiterkommen. Das heißt, wir müssen uns
auch mit folgender Frage auseinandersetzen: Wie überwachen wir die Realisierung unserer schönen Ideen? Ich
weiß, das ist Ländersache, die Länder haben die Polizeihoheit. Aber wir müssen auch darüber reden: Wie viel ist
uns die Sicherheit der Menschen auf unseren Straßen
wert? Darüber müssen wir mit den Ländern sprechen.
Nicht allein Geld zählt; gefragt sind intelligente Konzepte und die Einbeziehung bürgerschaftlichen Engagements mit Unterstützung von Bund, Ländern und Kommunen. Die Ideen dazu finden sich im SPD-Antrag und
auch im Antrag der Regierungskoalition. Ich bin sicher,
in den Beratungen werden wir noch viele neue Ideen haben, damit am Ende der Debatte ein Verkehrssicherheitsprogramm steht, das die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer auf bundesdeutschen Straßen erhöht.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Oliver Luksic hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über weitere Verbesserungsmöglichkeiten bei der Verkehrssicherheit reden, dann gehen wir
glücklicherweise von einem relativ hohen Niveau aus.
Im Jahr 2010 gab es die niedrigste Anzahl von Verkehrstoten seit dem Jahr 1953, als diese Statistik zum ersten
Mal erhoben wurde. Das kann man vor allem vor dem
Hintergrund, dass die Gesamtfahrleistung gestiegen ist,
nicht oft genug betonen. Im Vergleich zum Jahr 1991
gibt es 68 Prozent weniger Tote, obwohl die Gesamtfahrleistung in dieser Zeit um 20 Prozent gestiegen ist.
Hierfür sind natürlich neue Regelungen, aber auch Verbesserungen an der Fahrzeugtechnik verantwortlich.
Dennoch dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht
nachlassen. Auch wenn wir die niedrigste Anzahl von
Verkehrstoten haben, bedeutet diese Zahl, dass jeden Tag
in Deutschland zehn Menschen ihr Leben im Straßenverkehr lassen. Das macht deutlich, dass wir unsere Anstrengungen auf diesem Gebiet erhöhen müssen. Mit
dem Antrag der Regierungskoalition wollen wir dazu einen Beitrag leisten.
Lassen Sie mich am Anfang ganz bewusst den vielen
ehren- und hauptamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern danken, die etwa bei der Deutschen Verkehrswacht
mithelfen, sich als Schülerlotsen engagieren oder auch
im Unterricht zum Thema Verkehrssicherheit dazu beitragen, das Bewusstsein für Probleme im Straßenverkehr
zu schaffen. Das verdient in der Tat unseren Respekt und
auch die Anerkennung aller Fraktionen in diesem Hause.
({0})
Die christlich-liberale Koalition geht in ihrer Verkehrssicherheitsarbeit von einem zentralen Grundgedanken aus. Wir werden weitere Erfolge nur erzielen, wenn
wir interdisziplinär denken, das heißt, wenn wir die Themenfelder Technik, Infrastruktur und Mensch im Zusammenhang betrachten. Lassen Sie mich im Folgenden
einige Punkte herausgreifen.
Zunächst zur Technik. Auf EU-Ebene gibt es hinsichtlich der Fahrzeugsicherheit große Fortschritte. Wir diskutieren in Europa jetzt über die Harmonisierung von Fahrzeugprüfungen. Natürlich ist es ein erstrebenswertes Ziel,
in diesem Bereich gemeinsame Standards beispielsweise
in Form von Prüflisten europaweit durchzusetzen. Klar
ist aber auch, dass wir das hohe Niveau, das wir in
Deutschland haben, im Zuge einer Harmonisierung nicht
absenken dürfen. Eine Harmonisierung sollte nicht zulasten der Sicherheit gehen. Deswegen sollte sich die Bundesregierung in Brüssel für ein hohes Niveau der Fahrzeugprüfungen einsetzen.
Eine spannende technische Möglichkeit bietet der
Einsatz von Alcolocks, also speziellen Wegfahrsperren.
Wir sollten ihren Einsatz bei der Rehabilitation alkoholauffällig gewordener Kraftfahrer prüfen. Durch einen
freiwilligen Einbau dieser Technik können sie schneller
ihre Fahrerlaubnis zurückbekommen. Damit ermöglichen wir ihnen Mobilität und sorgen für die Sicherheit
der anderen Verkehrsteilnehmer. Deshalb fordern wir in
unserem Antrag, dass das Verkehrsministerium die Möglichkeiten zum Einbau dieses neuen Instruments prüft.
Auf dem Feld der Infrastruktur gibt es einen besonderen Problembereich, der uns seit Jahren große Sorgen
macht. Das sind nicht die Autobahnen, wie oft suggeriert
wird, sondern die Landstraßen. Dort gibt es überproportional viele Tote und Verletzte. Wir sollten daher unsere
Anstrengungen zur Verbesserung der Infrastruktur insbesondere auf diesen Bereich konzentrieren. Dazu gehört,
dass wir bekannte Unfallschwerpunkte systematisch entschärfen. Mittelfristig sollten wir der Verkehrssicherheit
- das gilt besonders in Bezug auf die Planung von neuen
Strecken bzw. auf die Erneuerung von älteren Strecken einen größeren Stellenwert einräumen. Wir müssen hier
zu einem Leitbild der fehlerverzeihenden und selbsterklärenden Straße kommen. Kurzfristig kann dies durch
konkrete Projekte wie etwa den Einsatz von Rüttelstreifen geschehen. In Versuchen wurde nachgewiesen, dass
durch sie die Zahl der Unfälle deutlich reduziert werden
kann.
Entscheidend ist natürlich auch der Faktor Mensch.
Die besten Regeln nutzen wenig, wenn sie nicht im Bewusstsein der Menschen verankert sind. Das gilt für alle
Verkehrsteilnehmer, auch für die Radfahrer. Deswegen
ist es wichtig, dass wir beispielsweise bei der Fahrlehrerausbildung ansetzen. Wir müssen uns fragen: Bilden wir
die Fahrlehrer gut genug aus? Vermitteln wir neben den
Inhalten auch die notwendige pädagogische Kompetenz,
damit die Fahrlehrer auf heterogene Teilnehmergruppen
eingehen können? Haben wir die richtigen Zugangsvoraussetzungen für diesen Beruf? Über diese Fragen sollten wir bei den Beratungen im Ausschuss diskutieren.
Das Gleiche gilt für mögliche Verbesserungen in der
Fahrausbildung. Ich denke, wir sollten hier durchaus
über eine weitere Stufe der Ausbildung nach der Fahrprüfung, wie wir sie aus Österreich kennen, nachdenken.
Dort helfen Feedbackfahrten nach dem Erwerb des Führerscheins, immer wiederkehrende Fahrfehler zu beseitigen. Ich glaube, es wäre im europäischen Sinne, wenn
wir beim Austausch von Best-Practice-Modellen die positiven Erfahrungen unserer europäischen Nachbarn berücksichtigen.
Wir müssen auch auf die älteren Teilnehmer im Verkehr schauen; das ist aufgrund des demografischen Wandels ein immer wichtiger werdendes Thema. Deswegen
zählt der Grundsatz des lebenslangen Lernens auch im
Bereich der Verkehrssicherheit. Es reicht nicht mehr aus,
sich nur am Anfang der Fahrerkarriere mit dem Autofahren auseinanderzusetzen.
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der
SPD-Fraktion sagen. Ich glaube, es gibt hier in der Tat
viele Überschneidungen. Der eine oder andere Punkt ist
vielleicht aus unserem Antrag übernommen; das finden
wir aber gut und richtig.
({1})
- Wir haben unseren Antrag zuerst vorgelegt. - Mit Sicherheit werden wir, wie Sie eben zu Recht gesagt haben, den einen oder anderen Punkt aus der Debatte im
Ausschuss aufnehmen können. Ich finde es gut, dass Sie
den Grundsatz der Subsidiarität hochhalten.
Bei einem Punkt gibt es allerdings Differenzen - das
möchte ich festhalten -: Es ist durchaus kritisch zu hinterfragen, ob man Tempo 30 innerorts zur Regel machen
sollte. Man kann bereits jetzt an Gefahrenschwerpunkten, zum Beispiel vor Schulen, Tempo 30 festlegen. Das
machen die meisten Kommunen; das ist gut und richtig.
Es geht aber in die falsche Richtung, das Verhältnis von
Tempo 30 zu Tempo 50 umzukehren, wie es SPD und
Grüne wollen. Wir werden in den nächsten Wochen und
Monaten genau hinschauen, was unser ehemaliger Kollege Hermann in Baden-Württemberg in der Verkehrspolitik tun wird. Ich glaube, er will Tempolimits und eine
Citymaut einführen sowie die Zahl der Autofahrer halbieren. Das geht nach unserer Meinung in die falsche
Richtung, in Richtung Bevormundung. Das ist eine Verkehrspolitik, die wir nicht mittragen wollen.
({2})
Vieles ist schon erreicht. Wir wollen in unseren Anstrengungen nicht nachlassen und Mobilität möglich und
sicherer machen. Entscheidend ist: Sicherheit ist nur im
Einklang mit der Freiheit und der Verantwortung des
einzelnen Verkehrsteilnehmers zu erreichen.
Ich darf mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.
({3})
Die Kollegin Sabine Leidig hat für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Storjohann, Sie haben recht: Es gibt sicher wenige
Bereiche, in denen die Übereinstimmungen quer durch
die Fraktionen so groß sind. Trotzdem sind wir mit der
Situation längst nicht zufrieden. Es gibt auch ein paar
fundamentale Unterschiede in unseren Auffassungen.
Deutschland ist nicht nur der größte Waffenexporteur,
sondern auch einer der weltgrößten Autoexporteure.
({0})
Auch Autos sind lebensbedrohlich. Man muss sich einmal die Dimension deutlich machen: Täglich fallen
3 000 Menschen in der Welt dem Autoverkehr zum Opfer. Das sind so viele, als wenn jeden Tag zehn vollbesetzte Jumbojets abstürzen würden.
Vielleicht erinnern Sie sich an die öffentliche Debatte,
die Ende Januar nach dem schlimmen Zugunglück bei
Hordorf stattgefunden hat, bei dem ein Güterzug und ein
Personenzug zusammengestoßen sind. Dabei sind zehn
Menschen getötet worden; 18 Menschen wurden schwer
verletzt, einige so schwer, dass sie nie mehr ihr gewohntes Leben werden führen können. Auf den Straßen
Deutschlands werden aber jeden Tag mehr als zehn
Menschen getötet und mehr als 200 Menschen schwer
verletzt.
Ich glaube, wir würden bei keiner anderen Verkehrsart akzeptieren, dass jährlich allein in Deutschland Tausende Menschen ums Leben kommen oder schwer verletzt werden. Stellen Sie sich vor, jede Woche würden
100 Menschen im Bahnverkehr umkommen oder jeden
Monat würde ein vollbesetzter Passagierjet abstürzen.
Ich glaube, der Bahn- und Luftverkehr würde aufs
Höchste infrage gestellt. Nicht so beim Autoverkehr.
Richtig ist, dass es seit vielen Jahren Verbesserungen
gibt; das ist wirklich sehr gut. Ich glaube aber, es ist auch
an der Zeit - und die Zeit ist gut dafür -, eine andere Perspektive auf das Problem einzunehmen. Sicherheitsgurte,
Airbags, Ampeln, Schilder, Warnsysteme, Helme - all
das sind wichtige Maßnahmen; aber mit all diesen Maßnahmen werden die Menschen sozusagen an den Autoverkehr angepasst. Ich glaube, das Entscheidende wäre
eigentlich, die Autogefahr zu bannen und in diesem Bereich energisch abzurüsten.
Der erste und wichtigste Schritt der Abrüstung ist die
Entschleunigung: Die Autos müssen langsamer werden.
({1})
Unfallursache Nummer eins ist überhöhte Geschwindigkeit.
({2})
Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass
man in Europa bis zu 140 000 Unfälle vermeiden,
20 Milliarden Euro sparen und 6 000 Menschenleben retten könnte, wenn die Durchschnittsgeschwindigkeit nur
um 3 Kilometer pro Stunde abgesenkt würde.
Es ist bekannt, dass das aggressive Fahren dadurch
unterstützt wird, dass auf den Autobahnen kein Tempolimit existiert. Die meisten Menschen, die von einem
Auto mit 30 Stundenkilometern erfasst werden, überleben diesen Unfall. Von den Menschen, die von einem
Auto, das 50 Stundenkilometer fährt, erfasst werden,
sterben die meisten. Das ist ein gravierender Unterschied, den man nicht wegwischen kann. Spätestens
wenn es um Leben und Tod geht, muss man Tempolimits
durchsetzen.
({3})
Man kann Aufklärungskampagnen machen und Prüfaufträge erteilen, wie es die SPD vorschlägt. Das ist aber
nicht nötig. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Selbst der
Wissenschaftliche Beirat zur Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit, den sich der Bundesverkehrsminister
leistet, empfiehlt ganz eindeutig Tempolimits. Das ist
eine einfache Maßnahme, die nichts kostet und ausgesprochen wirksam ist. Wir brauchen maximal 120 Stundenkilometer auf den Autobahnen und in den Städten
Regeltempo 30.
({4})
Die Mehrheit der Bevölkerung sieht längst ein, dass solche Geschwindigkeitsbegrenzungen sinnvoll sind und
letztlich allen nützen. Die Straßen werden sicherer, Umwelt und Klima werden geschont - das ist ein ganz relevanter Faktor -, und die Lebensqualität in unseren
Wohngebieten wird verbessert.
Damit komme ich zur zweiten Abrüstungslinie, die
ich wichtig finde. Sie hat übrigens ganz viel mit Freiheit
zu tun. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr sich
die Herren von der FDP für die Freiheit der Autofahrer
einsetzen, dass sie aber überhaupt nicht über die Freiheit
der Kinder, auf den Straßen spielen zu können, sprechen,
({5})
auch nicht über die Freiheit der Fahrradfahrer, unbehindert fahren zu können, oder über die Freiheit der Menschen, die Straßen überhaupt zu nutzen. Das finde ich
ausgesprochen skurril.
Ich muss Ihnen einmal eine Geschichte erzählen. In
meinem Wahlkreisbüro im Odenwald erschien neulich
eine junge Mutter und erzählte, dass sie ihre beiden
Jungs, die acht und zehn Jahre alt sind, jeden Tag mit
dem Auto zwei Kilometer weiter ins nächste Dorf in die
Schule bringt. Warum fahren sie nicht mit dem Fahrrad?
Die Mutter sagt: Weil das zu gefährlich ist, weil es keinen Radweg gibt, weil sich die großen Lkws durch die
Ortschaft drängen und weil es einfach zu viel Autoverkehr gibt.
({6})
Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir die Wohnorte, die Städte umwelt- und menschenverträglich so
umgestalten, dass diejenigen, die nicht motorisiert sind,
Raum bekommen. Sie müssen unter unseren Schutz gestellt werden. Auch für sie müssen unsere Freiheitsansprüche gelten. So können wir es schaffen, dass die Vorherrschaft der Autos aufgehoben wird und tatsächlich
Räume entstehen, in denen auf der Straße Lebensqualität
und Sicherheit herrschen.
({7})
Kollegin Leidig, beachten Sie bitte das Signal. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
({0})
Mein letzter Satz: Die Linke steht für radikale Abrüstung, und das gilt auch im Straßenverkehr.
({0})
- Alle.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Wagner das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion,
({0})
wir halten eine Reduktion des Verkehrs durchaus für einen Aspekt der Verkehrssicherheit. Was Kollegin Leidig
angeht: Sie haben mir aus der Seele gesprochen - das
muss ich zugeben -, aber ich habe bisweilen auch an Ihren Porsche fahrenden Kollegen aus Franken denken
müssen.
({1})
Die Bundesregierung muss in diesem Jahr ein neues
Verkehrssicherheitsprogramm aufsetzen. Seit 2004 existiert eine EU-Charta für Verkehrssicherheit. Es ist anzumerken - das haben meine Vorredner schon herausgearbeitet -, dass sich die Verkehrssicherheit positiv
entwickelt hat. Es gibt einen Rückgang bei der Anzahl
der Verkehrstoten, der Schwerstverletzten und der
Schwerverletzten, während sich die Anzahl der Fahrzeuge, die Fahrleistung und die zurückgelegten Fahrstrecken verdreifacht haben. Problematisch ist nach wie vor,
dass die Unfallstatistik nur den Rückgang der Toten je
100 000 Einwohner ausweist, nicht aber den der Schwerverletzten. Darüber besteht also noch eine gewisse Unklarheit.
Auch hat sich zwar die Schwere der Unfälle verringert, die Anzahl der Unfälle insgesamt ist allerdings weit
weniger zurückgegangen. Verkehrsunfälle sind nach wie
vor die Todesursache Nummer eins bei den Menschen
im Alter zwischen 1 und 45 Jahren.
Die pro Jahr durch Pkw-Unfälle verursachten gesellschaftlichen Kosten betragen inklusive der Gesundheitskosten insgesamt 30 Milliarden Euro. Mit einem
Bruchteil dieser Summe könnten wichtige bauliche Veränderungen vorgenommen werden, um die Unfallzahlen
zu reduzieren. Aus unserer Sicht fehlt nach wie vor ein
umfassendes Verkehrssicherungskonzept, so etwas wie
ein Masterplan für die Verkehrssicherheit in Deutschland. Außerdem fehlt es an der Möglichkeit, das Verkehrssystem so zu gestalten, dass es Fehler verzeiht und
niemand darin zu Tode kommt. Hier ist also noch viel zu
tun.
Ich will die Aufmerksamkeit auf einen Bereich lenken, der bisher wenig angesprochen worden ist, nämlich
auf unser Verhältnis zur Mobilitätspolitik, insbesondere
zum Mobilitätsträger Auto. Ich glaube, hier haben wir
ein nationales Problem. Nicht einmal die Sozialdemokraten sind beispielsweise bereit, Geschwindigkeitsbegrenzungen in Erwägung zu ziehen, die über die
Tempo-30-Zonen in bestimmten Stadtquartieren hinausgehen. Wir sind der Meinung, dass Tempolimits auf allen Straßen, sowohl bei den innerörtlichen Verkehren als
auch auf Autobahnen und Bundesstraßen, ein hochwirksames Mittel zur Unfallreduktion und zur Reduktion der
Zahl der Verletzten sind.
({2})
Wir glauben auch, dass „null Promille für alle“ der richtige Weg ist. Außerdem muss viel mehr Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden. Das Phänomen „Mama-Taxi“ ist
schon angesprochen worden.
Kinder werden heutzutage jeden Meter durch die Gegend chauffiert. Sie lernen ihre motorisierte Umgebung
als Verkehrsteilnehmer nicht mehr aus eigener Anschauung mit Fahrrad oder zu Fuß kennen, sondern durch die
Perspektive der Windschutzscheibe. Sie sind also, wenn
sie sich einmal selbstständig im Straßenverkehr bewegen
müssen, in der Tat hochgefährdet. Das muss dringend
geändert werden. Wir wissen natürlich, dass wir den
Menschen nichts aufzwingen können. Niemand kann
eine Mutter daran hindern, auf dem Weg zur Arbeit ihr
Kind bei der Kita abzusetzen; das ist ja die Lebenswirklichkeit. Gemeinsam mit den Kommunen sollten wir den
Menschen aber bewusst machen, dass dies für das Verkehrsverhalten ihrer Kinder schlecht ist.
({3})
Schlecht sind auch die viel zu breiten Straßen. Stellen
Sie sich einmal irgendwo in Deutschland auf eine Autobahnbrücke, und schauen Sie hinunter. Eine riesig breite,
in der Regel nicht baumbestandene Fahrbahn lädt zum
Rasen ein. Selbst jemand, der eigentlich auf eine vernünftige Geschwindigkeit achtet, ist geneigt, auf solchen
Straßen viel schneller zu fahren, als er es sich zutraut
und als gut für ihn selbst und die Umwelt wäre.
Ich erlebe die verkehrspolitischen Diskussionen - und
auch das Thema Verkehrssicherheit gehört zu verkehrspolitischen Diskussionen - immer so, dass die autofahrende Bevölkerung es sofort als Zumutung empfindet,
wenn man in irgendeiner Weise eine Beschränkung von
ihr verlangt. Das halte ich für falsch. Ich bin der Meinung, die Beschränkung ist der einzige Weg, damit wir
dauerhaft Auto fahren können, und zwar so, dass sich
auch noch andere Verkehrsteilnehmer ungefährdet im öffentlichen Raum bewegen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Der Kollege Holmeier für die Unionsfraktion ist der
letzte Redner in dieser Debatte.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
16 Prozent mehr Verkehrstote im ersten Quartal 2011 das ist die erschreckende Mitteilung des Statistischen
Bundesamtes vom Dienstag dieser Woche. Dieser Anstieg im ersten Quartal ist wahrscheinlich witterungsbedingt; es sind aber dennoch 16 Prozent mehr. Das ist in
erster Linie für die Angehörigen der Verstorbenen ein
entsetzlicher Verlust. Es ist aber auch für die Politik ein
herber Rückschlag. Die Statistik zeigt, dass wir uns beim
Thema Verkehrssicherheit nicht zurücklehnen und auf
unseren Lorbeeren ausruhen dürfen.
Es ist ein beachtlicher Fortschritt, dass die Zahl der
Verkehrstoten seit der Einführung der amtlichen Statistik
kontinuierlich zurückgegangen ist; wir haben das schon
öfter gehört. Seit 1991 ist sie um 68 Prozent gesunken;
sie lag im Jahr 2010 auf dem Tiefststand mit 3 657 Verkehrstoten. Das zeigt: Die Verkehrssicherheitsarbeit in
Deutschland war und ist erfolgreich. Aber jeder Verkehrstote ist ein Verkehrstoter zu viel. Die aktuellen
Zahlen beweisen, wie wichtig es ist, dass wir uns auf
politischer Ebene weiterhin intensiv mit dem Thema
Verkehrssicherheit auseinandersetzen. Unser Antrag ist
daher aktueller denn je.
Ich begrüße ausdrücklich, dass sich dies nicht nur im
Koalitionsantrag, sondern auch im Antrag der Opposition widerspiegelt. Viele der insgesamt 30 Forderungen,
die die SPD-Fraktion in ihrem Antrag aufstellt, sind sicherlich gut gemeint. Häufig fehlt jedoch der Bezug zur
Realität. Die aktuelle Unfallstatistik führt uns aber
schmerzlich vor Augen, dass wir die Realität nicht aus
dem Blick lassen dürfen. Wir brauchen daher keine überambitionierten Ziele; das hat sich in der Vergangenheit
bei anderen Themen immer wieder gezeigt. Ich denke
zum Beispiel an die Lissabon-Strategie der Europäischen Union.
Wir brauchen seriöse Ziele und erfolgversprechende
Maßnahmen, die die Verkehrssicherheit in der Praxis tatsächlich erhöhen. Deshalb haben wir uns das Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 um 40 Prozent
zu reduzieren.
({0})
Das ist ambitioniert, aber es ist auch realistisch. Nicht
weniger wichtig ist, neben der Zahl der Verkehrstoten
die Zahl der Verletzten und insbesondere die Zahl der
Schwerstverletzten zu senken. Hierbei müssen wir vor
allem auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer achten.
Besonderen Schutz genießen die jungen Verkehrsteilnehmer, insbesondere unsere Kinder, aber auch Personen
über 75 Jahre, Fußgänger und Radfahrer sowie Fahranfänger.
Mit den im Koalitionsantrag vorgeschlagenen Maßnahmen können wir das schaffen. Bei vielen Maßnahmen sind wir bereits auf einem sehr guten Weg. Ich
denke zum Beispiel an das erfolgreiche Programm „Begleitetes Fahren ab 17“, das auf unsere Initiative hin nun
in Dauerrecht übergeführt wurde und nachweislich zu einer deutlichen Reduzierung der Verkehrsverstöße bei
Fahranfängern beiträgt.
Um mehr Verkehrssicherheit zu erreichen, brauchen
wir keine unnötigen Beschränkungen der Freiheiten unserer Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen keine Tempolimits auf den Autobahnen und auch keine Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften auf
Tempo 30, wie es von der Opposition vorgeschlagen
wird. Die christlich-liberale Koalition setzt stattdessen
auf moderne und intelligente Verkehrssicherheitssysteme. Wir begegnen den Herausforderungen der Zukunft
nicht mit den Antworten von gestern, sondern mit zukunftsweisenden Technologien, und setzen die richtigen
Schwerpunkte.
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Großteil der Verkehrstoten auf Landstraßen
zu beklagen ist und nicht auf Autobahnen. Wir brauchen
daher ausreichende Investitionen in den Straßenbau, um
die Unfallschwerpunkte auf den Bundes- und Staatsstraßen zu entschärfen. Ortsumgehungen sind hierbei besonders wichtig.
({2})
Jede Ortsumgehung bringt mehr Sicherheit für die Anwohner im Ort und für die Verkehrsteilnehmer, und jede
Ortsumgehung erhöht die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger in der Ortschaft. Auch der Bau zusätzlicher Parkplätze für Lkw - dies wurde bereits angesprochen - ist von besonderer Bedeutung und für die
Erhöhung der Verkehrssicherheit wichtig. Das gilt sowohl für Autobahnraststätten wie auch für Autohöfe.
Hier müssen wir in erster Linie ansetzen. Das sind die
Herausforderungen, die wir in Zukunft angehen wollen.
Mit dem Koalitionsantrag leisten wir hierzu einen wichtigen Beitrag.
Abschließend möchte ich noch den vielen Ehrenamtlichen danken, die sich zum Beispiel in der Verkehrswacht mit viel Engagement für die Sicherheit im Straßenverkehr einsetzen. Ein weiterer Dank gilt dem
Bundesverkehrsministerium, das bei der Verbesserung
der Sicherheit im Straßenverkehr hervorragende Arbeit
leistet. Wenn wir uns auch in Zukunft alle gemeinsam
für die Verkehrssicherheit auf deutschen Straßen einsetzen, bin ich zuversichtlich, dass das Statistische Bundesamt im nächsten Jahr wieder einen Rückgang der Zahl
der Verkehrstoten verkünden wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5530 und 17/5772 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen
- Drucksache 17/3685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
Antrag, der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, mit
dem Titel „Korruption im Gesundheitswesen wirksam
bekämpfen“ ist nicht nur gut, sondern auch notwendig.
Er ist notwendig, weil der gesetzlichen Krankenversicherung durch Korruption, durch Abrechnungsbetrug
und vor allen Dingen durch Falschabrechnungen jedes
Jahr erhebliche Summen an Versicherungsgeldern verloren gehen. Man kann darüber streiten, ob es 5, 10 oder
sogar 20 Milliarden Euro sind, wie Transparency International behauptet. Zumindest handelt es sich um eine
riesige Summe; das ist unter Fachleuten unbestritten.
Diese finanziellen Schäden gehen zulasten der Solidargemeinschaft, zulasten der Versicherten und vor allen
Dingen zulasten des Staates. In den Gesundheitsfonds
zahlt der Staat in diesem Jahr bekanntlich 15,3 Milliarden Euro ein. Nicht zu vergessen ist, dass dadurch auch
der Wettbewerb der Leistungserbringer beeinträchtigt
wird.
Am Dienstag dieser Woche haben Herr Lauterbach,
Frau Reimann und ich eine Pressekonferenz zum Thema
„Korruption im Gesundheitswesen“ veranstaltet. Viele
Journalisten haben uns gefragt: Warum ist die Korruption gerade im Gesundheitsbereich so massiv? Der
Grund ist eigentlich ein ganz einfacher: Es liegt an den
Abrechnungsmodalitäten.
Wir von der SPD sind für die Beibehaltung des Sachleistungsprinzips. Das hat allerdings zur Folge, dass das
System ein Stück weit intransparent ist. So rechnen Vertragsärzte in der Regel mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ab, ohne dass der Patient die Abrechnung
sieht. Es ist nur schwer zu kontrollieren, ob Apotheker
Medikamente beispielsweise aufgrund eines verkauften
Luftrezeptes ausgeben. Es ist auch nicht immer zu klären, was genau Pharmavertreter in Praxen und Apotheken treiben. In einem solchen System sind der Anreiz
und letztlich auch die Versuchung groß - vielleicht kann
man auch sagen: die Hemmschwelle ist gering -, mehr
abzurechnen. Hinzu kommt: Abrechnungsmissbräuche
werden in der Praxis kaum geahndet. Im Strafrecht besteht hier eine Regelungslücke. Deswegen fordern wir
von der SPD:
Erstens. Nach der jetzigen Rechtslage können niedergelassene Ärzte im Gegensatz zu angestellten Ärzten
nicht wegen Bestechlichkeit bestraft werden. Wir fordern hier eine rechtliche Klarstellung.
({0})
Zwar wird der Große Strafsenat des BGH noch in diesem Jahr eine Grundsatzentscheidung fällen. Aber wir
sagen ganz klar: Es kann nicht sein, dass Ärzte bestimmte Therapien und Medikamente nur deshalb verordnen, weil sie dafür Geld oder Sachwerte von der Industrie bekommen. Das darf nicht sein.
({1})
In einem Fall, den der BGH entscheiden muss, hat ein
Arzt beispielsweise Reizstromgeräte bekommen. In einem anderen Fall hat ein Pharmaunternehmen einem
Arzt eine Barrückvergütung - in der Fachsprache heißt
sie Kick-back-Zahlung - in Höhe von 800 Euro gewährt,
wenn er mit einem bestimmten Medikament pro Quartal
einen Umsatz von mindestens 10 000 Euro macht. Dann
spielen ganz andere als medizinische Gründe für die Art
der Verschreibung die maßgebende Rolle, und das darf
aus unserer Sicht nicht sein.
Zweitens. Zumindest dann, wenn Krankenhäuser systematisch falsch abrechnen, muss dies sanktioniert werden. Wenn ein Krankenhaus falsch abrechnet, passiert in
der Praxis bisher nichts; ganz im Gegenteil. Wenn eine
Krankenkasse eine Abrechnung moniert, die aber richtig
ist, muss die Krankenkasse 300 Euro an das Krankenhaus bezahlen. Das ist, glaube ich, in der Sache nicht begründet.
Drittens. Gegenüber den Bundesländern ist anzuregen
- das ist aus unserer Sicht wirklich von Bedeutung -,
dass diese qualifizierte Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Ermittlungsgruppen bei der Kriminalpolizei einrichten. Das haben einige Bundesländer schon gemacht,
das sollten aber alle machen. Dann wäre zum Beispiel
die Rechtsprechung zum Betrugsschaden im Sinne von
§ 263 StGB, die sich auf das Sozialversicherungsrecht
bezieht, den Staatsanwälten bekannt. Viele Staatsanwälte gehen solchen Tatbeständen nämlich nicht nach,
weil sie sich im Sozialversicherungsrecht nicht auskennen.
Viertens. Aus unserer Sicht ist unabhängig davon, wie
das BGH-Urteil lauten wird, ein sozialversicherungsrechtlicher Straftatbestand neu zu schaffen, der die gesetzliche Krankenversicherung und die Patienten effektiv schützt. In den beschriebenen Fällen, in denen ein
Pharmavertreter einen Arzt - umgangssprachlich gesagt schmiert, ist im Sinne des Betrugstatbestands oftmals
kein Schaden entstanden; denn der Arzt hat ein ganz großes Auswahlermessen bei den Medikamenten. Da ist
nichts nachzuweisen. Die Krankenkasse muss dann erstatten. Insofern ist vor allen Dingen ein Vertrauensschaden beim Patienten entstanden, der strafrechtlich nicht
zu fassen ist. Hier besteht aus unserer Sicht dringend
Handlungsbedarf.
({2})
Fünftens. Wir brauchen Stellen zur Bekämpfung von
Fehlverhalten bei den Krankenversicherungen. Sie müssen als Profitcenter organisiert werden. Es kann nicht
sein, dass die Krankenkassen, die sich im Bereich der
Fehlverhaltensbekämpfung engagieren, mit finanziellen
Nachteilen bestraft werden.
Ich komme zum Schluss, auch wenn ich zu diesem
Thema noch ein paar Minuten reden könnte. Aus unserer
Sicht ist es wichtig, dass die Effizienz und Wirtschaftlichkeit im Bereich des Gesundheitswesens gestärkt werden. Das ist auch gerade im Interesse der Ärzte, die ehrlich abrechnen. Das ist die breite Mehrheit. Die Ärzte
sind in ihrem Job in der Regel sehr engagiert. Diejenigen, die falsch abrechnen, schädigen auch die ehrlich abrechnenden Ärzte. Es gibt ja ein Gesamtbudget. Der
Arzt, der mehr verschreibt, als er eigentlich dürfte, oder
der falsch verschreibt oder der sich bei der Abrechnung
von krimineller Energie leiten lässt, schädigt die ehrlichen Ärzte.
Sie hatten angekündigt, zum Schluss zu kommen,
Herr Kollege.
Ja. - Die notwendigen finanziellen Mittel stehen dann
nicht zur Verfügung, weil ein „korrupter“ Arzt entsprechend verschrieben hat.
In dem Sinne ist unser Antrag nicht nur notwendig,
nicht nur sinnvoll, sondern er ist auch in der Sache begründet.
Ich danke Ihnen.
({0})
Wir haben zu danken, Kollege Dr. Franke. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dietrich
Monstadt. Bitte schön, Kollege Monstadt.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Ausgaben des Gesundheitsfonds betrugen im letzten Jahr 170 Milliarden
Euro. Diese riesige Summe weckt bei allen Beteiligten,
die von diesem System profitieren wollen, Begehrlichkeiten, sich legal wie auch illegal ein großes - manchmal
ein zu großes - Stück aus dem Gesamtkuchen herauszuschneiden.
Alle Beteiligten stehen gegenüber den Mitgliedern
und Versicherten in der Verantwortung dafür, dass die
begrenzten Mittel sinnvoll, wirtschaftlich und zweckmäßig eingesetzt werden. Die gesetzlichen Krankenkassen
sind Treuhänder der Beiträge, die ihre Mitglieder eingezahlt haben.
Es gibt Fehlverhalten. Wer sich etwa als Leistungserbringer korrumpieren lässt oder falsch abrechnet, vergeht sich an der Gemeinschaft der Versicherten und der
Versorgung kranker Menschen. Wer als Arzt Geld- oder
Sachleistungen annimmt, damit er bestimmte Medikamente verordnet, die gegebenenfalls dem Patienten nicht
nutzen, sondern ihn nur Risiken und Nebenwirkungen
aussetzen, wendet sich vom zentralen Prinzip des ärztlichen Berufes ab, dass nämlich das Wohl des Kranken
oberstes Gebot ist. Dennoch gehen wir - ich nehme an,
wir alle gemeinsam - davon aus, dass Ehrlichkeit der
Regelfall ist und Korruption, Abrechnungsbetrug und
Falschabrechnung die Ausnahme darstellen. Pauschalverdächtigungen sind fehl am Platz.
Es ist auch wenig hilfreich, wenn man versucht, eigene fehlgeleitete Politik durch den Versuch zu korrigieren, drastische Sanktionen zu verhängen, wie wir dies in
diesem Hohen Haus beim Antrag der SPD im Zusammenhang mit der Androhung von Geldbußen von bis zu
10 000 Euro gegen niedergelassene Ärzte bei bevorzugter Behandlung von Privatpatienten erlebt haben.
Seit 2004 besteht eine gesetzliche Grundlage zur Bekämpfung von Fehlverhalten. Gesetzliche Krankenkassen wie auch der Spitzenverband sind seitdem verpflichtet, besondere Stellen zur Fehlverhaltensbekämpfung
einzurichten und hierüber zu berichten. Diese Stellen
sind auch zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft in
solchen Fällen verpflichtet, in denen ein Anfangsverdacht auf strafbare Handlungen hinweist. Im Übrigen
werden wir mit dem Versorgungsgesetz ein ausdrückliches Verbot der Zuweisung gegen Entgelt einführen.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag
der SPD fordert die Bundesregierung auf, im Strafgesetzbuch zu regeln, dass Korruptionshandlungen niedergelassener Vertragsärzte Straftatbestände darstellen. Dieser Antrag ist überflüssig. Schon heute ist jede
Korruptionshandlung - auch durch Ärzte - strafrechtlich
sanktioniert. Mit diesem Antrag ist wohl etwas anderes
gemeint. Es soll die aktuelle Praxis des Pharmamarketings unter Strafe gestellt bzw. nach Vorstellung der SPD
ein Sondertatbestand, insbesondere für Ärzte, geschaffen
werden. Aber auch dies ist vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtslage überflüssig.
Während wir diese Forderung der SPD diskutieren,
liegen seit drei Wochen im Großen Senat für Strafsachen
des BGH die zentralen Fragen der juristischen Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang vor: erstens die
Entscheidung, ob ein niedergelassener Vertragsarzt bei
der Behandlung gesetzlich Versicherter als Amtsträger
nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe c StGB anzusehen ist,
mit der Folge, dass die Beteiligten ein Amtsdelikt, zum
Beispiel Vorteilsannahme, Bestechlichkeit oder Bestechung begehen können, und zweitens, ob der Vertragsarzt Beauftragter der gesetzlichen Krankenkassen im
Sinne des § 299 StGB ist. Dies könnte bei Annahme von
Zuwendungen den Tatbestand der Bestechlichkeit und
Bestechung im geschäftlichen Verkehr begründen. Diese
Fragen sind in der Literatur umstritten. Höchstrichterliche Entscheidungen hierzu sind bisher nicht ergangen.
Das Urteil des Großen Senats wird die Rechtslage klären, und dies voraussichtlich schneller, als das von der
SPD geforderte Gesetzgebungsverfahren dauern würde.
Wir alle sind gut beraten, die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs abzuwarten. Wir wollen keine Sonderstraftatbestände für Ärzte.
Der vorliegende Antrag der SPD fordert die Bundesregierung weiter auf, durch entsprechende gesetzliche
Regelungen sicherzustellen, dass systematische Falschabrechnungen von Krankenhäusern mit spürbaren Sanktionen geahndet werden. Wir wissen, dass Falschabrechnungen vorkommen, übrigens sowohl zulasten der
Krankenkasse als auch zulasten des Krankenhauses. Es
gibt keine amtliche Statistik über zu hohe Krankenhausabrechnungen. Die aktuellsten Daten legen eine Prüfquote durch den MDK von etwa 10 bis 12 Prozent auffälliger Krankenhausabrechnungen zugrunde. Davon
werden etwas über 40 Prozent als falsch festgestellt. Das
sind etwa 4 Prozent aller Krankenhausrechnungen. Interessant ist, dass sich die beanstandeten durchschnittlich
40 Prozent auf zwei Drittel der geprüften Krankenhäuser
verteilen. Damit konzentriert sich das Gros des Fehlverhaltens auf diese wenigen schwarzen Schafe. Meine Damen und Herren der SPD, ich erkenne in diesem Zusammenhang an, dass Sie die Sanktionen ausdrücklich auf
systematische Falschabrechnungen begrenzen wollen,
also auf solche Fälle, die etwa Vorsatz oder ein Mindestmaß an krimineller Energie enthalten.
Ein seit längerer Zeit diskutiertes Thema ist, dass einerseits die Krankenkasse dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro zahlen muss,
falls die Prüfung einer Krankenhausrechnung nicht zu
einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, andererseits fehlt eine korrespondierende Regelung bzw. Sanktion im umgekehrten Fall. Im Übrigen ist dies eine Regelung, die von Ihrer Ministerin Ulla Schmidt eingeführt
wurde. Hintergrund dieser Regelung ist, Kassen davon
abzuhalten, ihre Zahlungen an Krankenhäuser unberechtigt zu verzögern und die Prüfungen zielgenau auf solche
Abrechnungen zu konzentrieren, die Auffälligkeiten aufweisen. Pflicht des MDK und der Krankenkassen ist es,
Beitragsmittel gerade zur Prüfung der vorgelegten Rechnungen einzusetzen. Ob hier weitere Sanktionen oder
gar Strafen erforderlich sind, muss überlegt werden.
Die SPD fordert in dem vorliegenden Antrag weiter
die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften
bzw. Verwaltungseinheiten mit sozialrechtlichem Spezialwissen. Dies soll angesichts fehlender Gesetzgebungskompetenz durch einen dringenden Appell der
Bundesregierung an die Bundesländer erfolgen. Verehrte
Kolleginnen und Kollegen der SPD, in Ihrer Begründung weisen Sie auf die „bereits eingerichteten Schwerpunktstaatsanwaltschaften bzw. speziellen Verwaltungs12870
einheiten, z. B. in Bayern, Saarland, Rheinland-Pfalz,
Hessen, Niedersachsen“ hin. Wer führt denn mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz die von Ihnen erwähnten
Bundesländer? Was hindert Sie daran, auch in den von
der SPD geführten Bundesländern Ähnliches von Ihren
dort verantwortlichen Parteifreunden zu fordern? Handeln Sie insoweit!
Neben der Sache liegt im Übrigen der Begründungsansatz, den zuständigen Staatsanwaltschaften zu unterstellen, sie würden die ständige Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts und des BGH in Strafsachen nicht
kennen.
Weiterhin verlangt die SPD in ihrem Antrag die Einführung eines besonderen auf sozialversicherungsrechtliche Sachverhalte abzielenden Straftatbestandes. Zur
Begründung wird der Fall eines Arztes herangezogen,
der eine OP ausführt, obwohl er dafür nicht ausreichend
qualifiziert ist. Gerade bezogen auf dieses Beispiel halte
ich Sonderstraftatbestände für Ärzte für überflüssig. Das
StGB ist auch in diesen Fällen ausreichend.
Schließlich schlägt die SPD in ihrem Antrag einen
Weg dafür vor, wie man die von den Krankenkassen eingerichteten Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten
von der Verwaltungskostendeckelung freihalten kann.
Ich halte das im Antrag dafür vorgeschlagene „Profitcenter“ schon rein begrifflich für etwas unglücklich.
Dennoch würde ich mich dem grundsätzlichen Anliegen
nicht verschließen, hier eine sinnvolle Regelung zu finden, mit der eine effiziente Bekämpfung von Fehlverhalten gefördert wird.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Anträge der SPD in dieser Form nicht umsetzbar sind. Sie
müssen daher zurückgewiesen werden.
Meine Damen und Herren, solange es eine gesetzliche
Krankenversicherung gibt, werden wir immer wieder
nach Wegen suchen müssen, Missbrauch vorzubeugen,
ihm entgegenzuwirken bzw. ihn aufzuklären und ihn zu
sanktionieren. Wir wollen gemeinsam Beitragszahler,
Patienten und Leistungserbringer, die sich im Regelfall
korrekt verhalten, vor dem Fehlverhalten einer Minderheit schützen. Über die besten Wege dahin sind wir immer zu einer konstruktiven Diskussion bereit.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Monstadt. - Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin
Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich möchte
mich als Allererstes - ich denke, ich spreche hier auch in
Ihrem Namen - bei all jenen, die sich in den letzten Tagen so unermüdlich und engagiert dafür eingesetzt haben, den gefährlichen Darminfektionen durch den
EHEC-Keim auf den Grund zu gehen, und allen, die sich
um die daran schwer erkrankten Menschen gekümmert
haben, bedanken.
({0})
Sie alle, Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kliniken, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den entsprechenden Einrichtungen, haben eine großartige Leistung vollbracht
und sich selbstlos für das Gemeinwohl eingesetzt. Ich
möchte ihnen allen meinen ganz herzlichen Dank dafür
aussprechen und allen von dieser Krankheit Betroffenen
unsere besten Genesungswünsche schicken.
({1})
Wir alle wissen, dass eine solche Selbstlosigkeit ein
großer Antrieb für viele Menschen im Gesundheitswesen ist. Unter Einsatz all ihrer Fähigkeiten und manchmal auch über ihre Grenzen hinaus dienen sie den Patientinnen und Patienten und damit der Gesellschaft.
({2})
Korrupte Praktiken sind daher nicht nur eine finanzielle Belastung, wie das der Kollege Monstadt ja schon
ausgeführt hat, sondern sie sind auch ein moralischer
Schlag ins Gesicht all jener, die die Interessen der Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen ganz
nach oben und in den Mittelpunkt ihrer eigenen Arbeit
stellen, und das ist die Mehrheit.
({3})
Die Antikorruptionsinitiative Transparency International bezeichnet es als Korruption, wenn anvertraute
Macht zum eigenen Vorteil missbraucht wird. Im Gesundheitswesen haben wir es wirklich manchmal mit einer erstaunlichen Breite von kriminellem oder zumindest
deutlich unethischem Handeln zu tun: Krankenhäuser
zahlen für jeden überwiesenen Patienten eine Fangprämie, und Pharma- und Medizintechnikkonzerne vergüten
die Verordnung ihrer Produkte; das haben wir schon gehört. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vermieten ihren guten Ruf an die PR-Abteilungen von Konzernen, und Ärztinnen und Ärzte verbünden sich mit
Apothekern und Versicherten, um über fingierte Abrechnungen die Krankenkassen zu betrügen. Zu guter - oder
schlechter - Letzt gründen Unternehmen eigene Patientenselbsthilfegruppen und instrumentalisieren die Kranken für Kampagnen zugunsten ihrer Produkte.
Diese Korruption kostet nicht nur das Geld der Versicherten, also unser aller, das dann in der Versorgung der
Patientinnen und Patienten fehlt, nein, solches Fehlverhalten richtet auch erheblichen Schaden im Vertrauensverhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten an. Wenn ein Patient nicht mehr sicher
sein kann, dass das, was die Frau Doktor empfiehlt,
wirklich das beste Mittel oder die qualifizierteste Behandlung ist, sondern fürchten muss, dass die EmpfehKathrin Vogler
lung durch finanzielle Interessen geleitet ist, dann
schwindet sein Vertrauen und damit seine Bereitschaft,
die Therapie durchzuhalten.
({4})
Im Antrag der SPD-Fraktion wird geschätzt, dass die
Kassen in Deutschland jährlich 5 Milliarden bis 18 Milliarden Euro durch Korruption und Betrug verlieren. Das
bedeutet: Bei konsequenter Korruptionsbekämpfung
könnte der Kassenbeitrag um bis zu 1,5 Prozentpunkte
sinken.
In Ihrem Antrag konzentrieren Sie sich dann aber leider allzu sehr auf die kleinen Fische im Meer der Korruption. Sie richten Ihre Aufmerksamkeit vor allem auf
die Ärztinnen und Ärzte, die Krankenhäuser, die Apothekerinnen und Apotheker, und da insbesondere auf die
Fälle, die ohnehin schon öffentlich bekannt geworden
sind. Alles zusammengerechnet würden Sie bei diesen
Vorgängen vermutlich auf eine Gesamtschadenssumme
von maximal 1 Milliarde Euro kommen. Da derzeit deutlich weniger Fälle ermittelt werden, ist es richtig, dass
Sie die Zahl der spezialisierten Ermittler erhöhen wollen.
Die Ausweitung des Bestechungsparagrafen auf niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ist meiner Ansicht
nach ebenfalls sinnvoll, auch wenn sie nur aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung nachvollzieht. Aber
manchmal ist es auch gut, wenn man nicht alles den
Richterinnen und Richtern überlässt.
Von den geschätzten 5 Milliarden oder gar
18 Milliarden Euro sind wir aber auch dann noch weit
entfernt, wenn wir alles umsetzen, was Sie vorschlagen.
Das heißt, die kleinen Fischen im korrupten Netz kriegen wir vielleicht an die Angel, aber die großen Haie
nicht. Solange Sie sich nicht auch die Beziehungen zwischen der klinischen und akademischen Medizin und der
Industrie vornehmen, lassen Sie die großen Haie weiter
im Karpfenteich des Gesundheitswesens wildern.
Der kritische Arzt Dieter Lehmkuhl schreibt im
Rundbrief von Transparency International, ein Großteil
der deutschen Ärzteschaft habe kein kritisches Bewusstsein über die Beziehungen zur Industrie und mögliche
finanzielle Verflechtungen. Der Umgang mit Interessenkonflikten sei ungetrübt und naiv, urteilt er. Ich habe,
ehrlich gesagt, manchmal den Eindruck, dasselbe könnte
man auch über die Politik sagen.
Naivität und Gewinnstreben werden zum Einfallstor
für die großen Konzerne und ihre Lobbyisten. Hier stehen wir korrupten Netzwerken gegenüber, deren Mitglieder teilweise überhaupt kein Unrechtsbewusstsein
haben. Deswegen brauchen wir gesetzliche Regelungen
und entsprechende Kontrollmechanismen.
({5})
Mehr Transparenz bedeutet, dass finanzielle Verflechtungen und Interessenkonflikte offengelegt werden müssen. Anfangen sollten wir - damit komme ich zum
Schluss - bei uns selbst, im politischen Raum: Solange
wir nicht verhindern, dass private Versicherungskonzerne Parteien sponsern, dass jemand, der über öffentliche Impfkampagnen mitentscheidet, auf den Gehaltslisten der Pharmaindustrie steht, oder dass Führungskräfte
aus öffentlichen Einrichtungen nahtlos in Wirtschaftsunternehmen wechseln können, brauchen wir uns nicht
über unterentwickeltes Unrechtsbewusstsein in der Ärzteschaft zu wundern.
Ich danke Ihnen.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler. - Jetzt
spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Erwin
Lotter. Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Missbrauchsbekämpfung ist zwar in unser aller Interesse, aber Ihr Antrag, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
strotzt nur so vor Unterstellungen gegenüber einem gesamten Berufsstand. Nicht nur als Parlamentarier, sondern auch als Arzt bin ich geradezu entsetzt über die Art
und Weise, wie hier die gesamte Ärzteschaft unter Generalverdacht gestellt wird.
Die SPD sieht an allen Ecken und Enden Korruption
und Missachtung der Patienten, der man nur noch mit
dem Holzhammer schärferer Strafgesetze entgegentreten
kann. Das muss vor vier Jahren, als die SPD in der Großen Koalition regierte, noch ganz anders gewesen sein.
Noch im Jahr 2007 hat die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt von der SPD in einem Interview mit
dem Magazin stern ihre Behauptung wiederholt,
Deutschland habe das beste Gesundheitswesen der Welt.
In nur vier Jahren scheint sich dieses System in einen
Korruptionssumpf nach dem Muster maroder Bananenrepubliken verwandelt zu haben, und das ausgerechnet
aus der Sicht von SPD-Gesundheitspolitikern, die noch
vor wenigen Jahren Ulla Schmidt und ihrer Lobpreisung
des deutschen Gesundheitswesens zugejubelt haben.
Niedergelassenen Vertragsärzten wird generell die
Neigung zum Betrug unterstellt. Krankenhäusern wird
bei Falschabrechnungen systematisches Vorgehen unterstellt. Nicht nur das: Es entsteht der Eindruck, Patienten
kämen in Lebensgefahr, weil zahlreiche Ärzte nicht deren Wohl, sondern nur die Höhe von Schmiergeldzahlungen fest im Blick hätten. Dabei unterstellen Sie, der Patient würde wissentlich falsch behandelt werden. Eine
Unterstellung der übelsten Sorte! Denn das Gegenteil ist
der Fall: Der hippokratische Eid verpflichtet Ärztinnen
und Ärzte, sich nach bestem Wissen und Gewissen um
das Wohl der Patienten zu kümmern. Dies sind keine
hohlen Worte; denn gerade im Bereich der niedergelassenen Ärzte neigen viele Mediziner zur Selbstausbeutung. Sie arbeiten aufgrund der herrschenden Honorardeckelung wochenlang umsonst, verbringen viele
Stunden in der Praxis oder auf Hausbesuchen.
({0})
- Frau Vogler, Sie selber haben vorhin das Engagement
der Ärzte dankenswerterweise herausgestellt. In einem
Korruptionssumpf wäre so etwas schlecht vorstellbar.
Was treibt eigentlich die Kolleginnen und Kollegen
von der SPD dazu, ein solches Bild der Ärzteschaft zu
vertreten?
({1})
Was ist das für ein Verständnis vom Arztberuf? Sicher,
meine Damen und Herren, in jedem Berufszweig gibt es
schwarze Schafe. Kriminelle Handlungen müssen
unnachsichtig verfolgt und verurteilt werden. Aber
schwarze Schafe gibt es doch in jedem Berufszweig. Sogar unter Politikern soll es schon schwarze Schafe gegeben haben.
Nun aber zu Ihren Behauptungen und unausgegorenen Vorschlägen im Einzelnen: Erstens. Die SPD behauptet, durch Fehlverhalten im Gesundheitswesen entstehe den Krankenkassen in Deutschland ein Schaden in
Höhe von bis zu 18 Milliarden Euro jährlich. Bei allem
Respekt vor dem European Healthcare Fraud & Corruption Network, dessen Studie dieser Vermutung zugrunde
liegt, aber in dieser Quelle wurde Deutschland überhaupt
nicht untersucht. Erwähnt werden insgesamt sechs Staaten, zum Beispiel die USA und Neuseeland, aber nicht
die Bundesrepublik. Die Summe ist also völlig aus der
Luft gegriffen.
Seit 2007 hat der GKV-Spitzenverband eine Stelle zur
Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen
aufgebaut. Bislang liegen mehrere Berichte von Krankenkassen auf Landesebene über Verdachtsfälle vor, die
aber bislang nicht zusammengefasst wurden. Laut einem
Bericht des Bundesgesundheitsministeriums an den Gesundheitsausschuss, der vorgestern vorgelegt wurde, lautet der aktuelle Sachstand:
Eine nachvollziehbare Schätzung der durch Fehlverhalten verursachten jährlichen materiellen Schäden im Gesundheitswesen ist nicht möglich.
Zurzeit werden Kriterien erstellt, um die Berichte zu
standardisieren und vergleichbar zu gestalten. Eine einheitliche Datenerhebung, die belastbare Zahlen enthält,
wird voraussichtlich 2012 vorliegen. Eines ist klar: Bei
ihren Behauptungen zur Schadenshöhe tappen die Sozialdemokraten im Dunkeln.
Zweitens. Der Antrag fordert zusätzliche Vorschriften
im Strafgesetzbuch, insbesondere in Bezug auf § 299
StGB, in dem es um Bestechlichkeit im geschäftlichen
Verkehr geht. In der Tat ist es höchst umstritten, ob
§ 299 StGB auch Ärzte erfasst, die als Vertragsärzte für
die gesetzlichen Krankenkassen tätig werden. Einzelne
Entscheidungen wie die des Oberlandesgerichts Braunschweig vom Februar 2010 gehen davon aus, dass ein
niedergelassener Kassenarzt ein Beauftragter des geschäftlichen Betriebs einer Krankenkasse sei. Somit
käme er als Täter gemäß dieser Strafvorschrift in Betracht. In der juristischen Literatur wird dies aber teilweise bestritten. Höchstrichterliche Entscheidungen sind
hierzu bislang nicht ergangen. Eine Klärung der Rechtslage ist erst in Kürze durch das Urteil des Großen Senats
des Bundesgerichtshofs zu erwarten.
Was schließen wir daraus, meine Damen und Herren?
Etwa dass der Gesetzgeber schnell neue Vorschriften
einfügen muss, während die Rechtsprechung noch um
die Auslegung der alten ringt? Es ist doch nicht die Aufgabe der Legislative, Klarstellungen zur Rechtsauslegung zu verabschieden.
Ebenso ist es unnötig, wie die SPD fordert, einen zusätzlichen Straftatbestand zu schaffen, der die besondere
Stellung der GKV schützt. Was, bitte sehr, soll eigentlich
durch eine solche Norm genau geschützt werden? Dieser
Begriff wäre allenfalls eine Generalklausel, die für Ratlosigkeit und eine Prozesslawine sorgt. Dies werden wir
im Sinne klarer Rechtsverhältnisse nicht mitmachen.
2003 wurden die Krankenkassen und die Körperschaften der Ärzte und Zahnärzte dazu verpflichtet, organisatorische Einheiten zur Bekämpfung von Fehlverhalten einzurichten. Diese arbeiten seither erfolgreich.
Überdies wurde von den Beteiligten die bundesweite Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung von Fehlverhalten
im Gesundheitswesen eingerichtet, deren Aufgabe es ist,
die gesammelten Daten und Berichte zu standardisieren.
Weiterhin haben wir Ärztekammern, Krankenhausgesellschaften und Clearingstellen auf Länderebene. Diese
überprüfen, ob Absprachen und Verträge niedergelassener Ärzte mit Krankenhäusern unter verschiedenen
rechtlichen Aspekten zulässig sind. Es stehen also schon
jetzt genügend handlungsfähige Strukturen zur Verfügung, mit denen dem Missbrauch von Finanzmitteln im
Gesundheitswesen wirksam begegnet werden kann.
Meine Damen und Herren, wir Liberalen lehnen den
Antrag der SPD in aller Entschiedenheit ab. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigt er in
schöner Eindeutigkeit: Die Sozialdemokraten haben kein
Vertrauen in den Einzelnen. Sie misstrauen allen und jedem. Die Ärzteschaft bleibt leider ein Feindbild. Ihr Patentrezept, meine Damen und Herren von der SPD, ist:
Kontrolle, Kontrolle und noch mehr Kontrolle, Gesetze
und noch mehr Gesetze. Wohin das gerade im Gesundheitswesen geführt hat, dürfte allgemein bekannt sein.
Noch mehr staatliche Bevormundung ist das Letzte, was
die Mediziner in Deutschland benötigen.
({2})
Vielen Dank, Kollege Dr. Erwin Lotter. - Jetzt hat für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Frau Maria Klein-Schmeink das Wort. Bitte schön, Frau
Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Keine Angst, ich lese keine Rede ab weil wir das zum einen zu später Stunde nicht nötig haben und weil das zum anderen in der Sache nicht weiterhilft.
({0})
Hier geht es weder um einen Generalverdacht gegen
die Ärzte noch um die Schaffung eines rechtlichen Sondertatbestands für die Ärzte, sondern es geht, wie es im
Antrag der SPD heißt, um das Thema „Korruption im
Gesundheitswesen“. Über dieses Thema sollten wir an
dieser Stelle auch reden, und zwar nicht als Lippenbekenntnis, mit dem die Entschlossenheit dieses Parlamentes, wirksam dagegen vorzugehen, lediglich suggeriert
wird, sondern man muss sich tatsächlich um diese Sache
kümmern und schauen, wie man weiterkommt. Es geht
nicht nur um eine geschlossene Haltung, sondern auch
darum, der Korruption im Gesundheitswesen entschlossen entgegenzutreten. In diesem Bereich gibt es noch etliche Mängel zu verzeichnen.
({1})
Diesen Mängeln sollten wir uns tatsächlich widmen.
Hier müssen wir uns natürlich die Frage stellen, ob
der Antrag der SPD wirklich gut ist, wie Herr Dr. Franke
für sich in Anspruch genommen hat. In der Tat hat der
Antrag zwei Mängel, nämlich zum einen den Mangel,
dass das schon genannte höchstrichterliche Urteil in
Kürze zu erwarten ist. Da wird eine Klarstellung erfolgen. Es wird klargestellt, ob man den Korruptionstatbestand überhaupt auf niedergelassene Ärzte anwenden
kann. Wenn das so ist - vieles spricht dafür -, dann wird
es auch rückwirkend eine andere Rechtslage geben. Dies
wird viele der hier bereits erwähnten Praktiken infrage
stellen und zu strafrechtlichen Konsequenzen führen.
Von daher haben wir einen guten Grund, abzuwarten und
diesen Antrag in dieser Form nicht zu beschließen.
({2})
Der zweite Mangel dieses Antrags ist aus meiner
Sicht ebenfalls gravierend. In diesem Antrag wird nicht
klar zwischen Korruption und Fehlern im System unterschieden. Ein Fehler im System meint beispielsweise
eine fehlerhafte Abrechnung der Krankenhäuser mit den
Krankenkassen. Das ist eine ganz andere Gemengelage,
eine ganz andere Problemlage als die bei einer Korruption, also bei gezieltem, bewusstem, gewolltem Betrug.
Dieser muss nachhaltig eingedämmt werden, um das
richtige Signal in das System zu senden. Es ist ganz
wichtig, dass wir hier eine klare Unterscheidung vornehmen und nicht das eine mit dem anderen verwechseln
und beides in einen Sack stecken. Das an Ihre Adresse.
({3})
Ich glaube auch, dass wir denjenigen, die eben genannt worden sind und die mit großem Engagement im
Bereich der gesundheitlichen Versorgung arbeiten, die
nicht falsch abrechnen und nicht betrügen, keinen Gefallen tun, wenn wir dies vermengen.
Es gibt weiteren Regelungsbedarf, nämlich Transparenz herzustellen. Die Grünen haben in diesem Jahr eine
Kleine Anfrage zu den Einrichtungen für die Bekämpfung der Korruption und des Fehlverhaltens im Gesundheitswesen gestellt. Wir haben in der letzten Legislaturperiode zwei Berichte über die Arbeitsweise dieser 2003
eingerichteten Stellen entgegengenommen. Wir müssen
feststellen: Wir wissen beinahe nichts. Wir tappen im
Dunkeln, und wir haben nicht dafür gesorgt, dass die
notwendige Transparenz vorhanden ist, um gegen Korruption im Gesundheitswesen gezielt anzugehen.
({4})
Wir meinen: Diese Art von bewusstem Nichtwissen dürfen wir nicht länger hinnehmen.
({5})
Ich kann die Antwort auf die Kleine Anfrage vorlesen
- daran sieht man sehr deutlich, worum es geht -:
Da die Unterrichtungspflicht über Aufwandsentschädigungen gegenüber der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband festgelegt ist, liegen der Bundesregierung keine
Erkenntnisse über die Höhe von gezahlten Aufwandsentschädigungen vor.
Das ist eine klassische Antwort.
({6})
Wir haben sehr viele Antworten dieser Art in der
Kleinen Anfrage erhalten, Antworten, die zeigen, wie
viel Nichtwissen und wie wenig Entschlossenheit wir
uns im Kampf gegen Korruption und Fehlverhalten derzeit noch leisten. Ich glaube, wir müssen beträchtlich vorankommen, wenn wir sicherstellen wollen, dass das
System die richtige Botschaft empfängt: Korruption hat
im Gesundheitswesen nichts zu suchen. Wir müssen dagegen geschlossen und entschlossen angehen, und wir
müssen für die richtigen Instrumente sorgen.
({7})
Das ist etwas, was Sie im Versorgungsgesetz teilweise
in Angriff nehmen; aber das ist nicht alles, was wir tun
müssen. Wir müssen vielmehr für wirklich schlagkräftige Instrumente sorgen und dürfen uns nicht hinter unterstellten Zuschreibungen und hinter dem Zuschreiben
von Generalverdacht verschanzen.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Klein-Schmeink. - Jetzt
spricht für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin
Stefanie Vogelsang. Bitte schön, Frau Kollegin Stefanie
Vogelsang.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geschätzten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute über Korruption
und Betrug im Gesundheitswesen.
Erstens. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Niemand
von uns will Korruption und Betrug in irgendeiner Weise
Vorschub leisten, niemand will, dass dadurch weitere
Milliardenbeträge im Gesundheitswesen verbrannt werden.
({0})
Zweitens. Wir sind uns sicher, dass wir bei einem so
wichtigen Grundpfeiler unserer sozialen Ordnung wie
dem Gesundheitswesen etwas nicht aufs Spiel setzen
dürfen: Das ist das Vertrauen der Menschen in die Qualität der ärztlichen Versorgung und in unser Gesundheitssystem in Gänze.
Wir haben gestern in der Aktuellen Stunde darüber
debattiert, dass sich einige gesetzliche Krankenkassen
schändlich gegenüber Patientinnen und Patienten verhalten haben, weil sie Menschen mit einem Rechtsanspruch
zu Bittstellern degradiert haben. Heute wurden wir im
Tagesspiegel auf die Stimmung vorbereitet, die Sie, Herr
Kollege Lauterbach, mit Ihrem Antrag ein weiteres Mal
gegen das Gesundheitssystem machen. Heute unterhalten wir uns über den Antrag der SPD über Korruption.
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann stellt
man fest, dass es Ihnen im ersten Teil nicht einen einzigen Satz wert ist, darauf hinzuweisen - Kollegin Vogler
hat das am Anfang ihrer Rede ausgeführt, was ich sehr
gut fand -, dass sich ganz viele Menschen uneigennützig
für andere einsetzen und ihren Job tun. Das Erste, was
die SPD verbreitet hat, war Generalverdacht: Alle Lehrer sind faul, alle Beamten sind ständig krank, alle Politiker sind korrupt, alle Ärzte sind nur an ihrem wirtschaftlichen Erfolg interessiert, und alle Krankenhäuser
begehen systematisch Abrechnungsbetrug. Das ist die
Haltung, die Sie vertreten. Das wollen Sie den Bürgern
unserer Republik vermitteln, und zwar nicht erst seitdem
dieser Antrag vorliegt, sondern schon seit vielen Jahren.
({1})
Zum einen tun Sie sich damit selber keinen Gefallen;
zum anderen erweisen Sie damit unserem Sozialsystem
einen Bärendienst. Uns allen ist es wichtig, für mehr
Transparenz zu sorgen. Wir haben in unserem komplizierten Gesundheitswesen mit irrsinnig hohen Milliardenbeträgen zu tun. Rund 250 Milliarden Euro werden
im Gesundheitswesen pro Jahr ausgegeben. Natürlich
gibt es da eine Anfälligkeit für Betrug und Korruption;
das ist keine Frage. Wir haben unzählige Regelwerke geschaffen und viele Gesetze verabschiedet.
Frau Klein-Schmeink, ein wichtiges Gesetz wurde
von Ihrer damaligen Gesundheitsministerin Fischer auf
den Weg gebracht. Sie hat in einer AMG-Novelle - einer
Novelle zum Arzneimittelgesetz - klare Formulierungen
vorgenommen, damit Ärzte nicht unendlich viele Muster
und sonstige Geschenke bekommen, mit der Folge, dass
niemand weiß, was bezahlt wird.
({2})
Das Einzige, worüber wir uns intensiv Gedanken machen müssen, ist der Zustand der Staatsanwaltschaften
unserer Länder. Ich finde es nicht richtig, dass wir, wenn
wir gegen Korruption und Betrug angehen, den Schwerpunkt auf die Krankenkassen legen. In unserem staatlichen System, in unserer staatlichen Ordnung haben wir
entsprechende Strukturen. Träger dieser Strukturen sind
unsere Staatsanwaltschaften. Wir müssen gemeinsam etwas dafür tun, dass im Hinblick auf die komplizierten
Regelwerke in den Staatsanwaltschaften eine bessere
Kompetenz vorhanden ist, dass mehr Menschen mit juristischem Sachverstand auch sozialwirtschaftlichen
Sachverstand haben und die Verflechtungen und Abhängigkeiten in den jeweiligen Bereichen durchleuchten
können. Ich freue mich darüber, dass wir Ihren Antrag
im Ausschuss debattieren. Wir werden die Entscheidung
des Bundesgerichtshofs abwarten, bei der es um die Korruption bei ärztlichen Leistungen geht.
Wir hatten uns in der letzten Sitzung des Petitionsausschusses - was dort behandelt wird, ist oft ein Seismograf vieler Themen, die wir in der Gesundheitspolitik
diskutieren - mit einer Petition befasst, bei der es um
Folgendes ging: Es wurde der Verdacht erhoben, dass
Mediziner in unserem Land von der Pharmaindustrie
Geldzuwendungen für ausgefüllte Formulare bekommen
- nirgendwo registriert -, und das in unvorstellbaren
Größenordnungen. Es wurde herausgearbeitet und sehr
schön dargestellt, welche einzelnen Maßnahmen uns zur
Verfügung stehen, um dagegen anzugehen.
Bei uns in Deutschland ist es oft so, dass es aufgrund
viel zu vieler Detailregelungen kaum noch Stellen in den
Ländern gibt, die diese Regelungen kontrollieren können. Sie haben mich deswegen an Ihrer Seite, wenn es
darum geht, die Staatsanwaltschaften in den Ländern zu
überprüfen. Aber Sie haben mich nicht an Ihrer Seite,
wenn es darum geht, Ihre Linie weiterzuführen, nämlich
einen Generalverdacht gegen alle im Gesundheitswesen
Tätigen aufrechtzuerhalten und das Vertrauen der Bevölkerung zu zerstören. Herr Lauterbach, wie wir alle wissen auch Sie: Vertrauen zerstört man nicht von heute auf
morgen durch das Umlegen eines Hebels, sondern das
macht man mit vielen kleinen Nadelstichen.
({3})
Diese vielen kleinen Nadelstiche haben Sie von der SPD
in den letzten Jahren in diesem Bereich gesetzt. Wir sorgen jetzt dafür, dass wir diesen Berufsstand und die dort
arbeitenden Menschen wieder mit dem Image versehen,
das ihnen zusteht.
({4})
Für Korruption und für Betrug haben wir in unserem
Gesundheitswesen keinen Platz. Vielmehr brauchen wir
Platz für genügend Vertrauen in die Leistungen, die dort
erbracht werden.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Vogelsang. - Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Professor Karl Lauterbach. Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Uns ist im Prinzip gerade durch Frau Vogelsang
und Herrn Lotter die Position der schwarz-gelben Regierung dargestellt worden. Es gab dabei keine großen
Überraschungen. Es wurde im Prinzip vorgetragen, es
sei alles in Butter, es bestehe kein Handlungsbedarf, es
sei alles wunderbar.
({0})
Wir könnten wahrscheinlich noch Jahrzehnte warten, bis
von Ihnen irgendetwas käme.
({1})
Auch wenn jetzt wöchentlich über laufende Ermittlungen berichtet wird und Grundsatzurteile zum System erlassen werden, ist ganz klar, dass von Ihnen nie etwas
kommen würde.
({2})
Sie haben es ja selbst auf den Punkt gebracht: Für Sie
handelt es sich hier um einen Bereich, in dem eine Kultur des Vertrauens aufgebaut werden muss, und zwar des
Vertrauens zu Ihren Kunden.
({3})
Wir beobachten im Prinzip bei FDP und Union eine ganz
klassische Klientelpolitik: Es werden die immer kleiner
werdenden Gruppen, die Ihnen im Gesundheitswesen
wichtig sind, geschützt. Uns wird das allgemeine Argument entgegengehalten, wir stellten alles unter einen Generalverdacht.
In Wirklichkeit geht es uns um den Patienten- und
Verbraucherschutz und im Übrigen auch um den Schutz
der ehrlichen Ärzte und Manager im Gesundheitswesen,
also um den Schutz derjenigen, die auf ehrliche Weise
ihre Leistung erbringen.
({4})
Um den Schutz derer geht es uns, die mit in Verdacht geraten, weil über immer mehr Fälle in den Medien berichtet wird. Uns geht es also geradezu um die Vermeidung
eines Generalverdachtes, indem wir die rechtlichen
Grundlagen zur Verfolgung solcher Fälle schaffen. Es ist
ganz interessant, dass von Ihrer Seite eine inhaltliche,
ehrlich gemeinte Auseinandersetzung mit den Detailvorschlägen überhaupt nicht vorkam.
({5})
Um es noch einmal klarzumachen: Wir wollen nicht,
dass Ärzte allgemein unter den Verdacht gestellt werden,
sie seien korrupt. Das unterstellen wir nicht. Das kommt
in unserem Antrag auch mit keinem Wort vor.
({6})
Wir wollen nur, dass diejenigen verfolgt werden können,
denen Korruption auch nachgewiesen werden kann mehr nicht.
Das Ganze ist auch ein riesiges medizinisches Problem. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden mit einem
Medikament, das Ihnen aus medizinischer Sicht gar
nicht nützt, behandelt, und zwar nur deswegen, weil ein
Arzt eine Rückzahlung eines pharmazeutischen Unternehmens bekommen hat. Dass so etwas zum Beispiel in
der Onkologie geschehen ist, ist bekannt. Solche Vorgänge haben in einzelnen Bereichen sogar schon zu Verurteilungen geführt.
({7})
Stellen Sie sich einmal vor, Sie selbst wären davon betroffen. Würden Sie dann auch sagen, man dürfe keinen
Generalverdacht erheben? Stellen Sie sich vor, Sie oder
Ihre Kinder wären von so einem Fall betroffen. Das sind
keine belanglosen Dinge, sondern das ist sehr wichtig.
Sie sind in keiner Weise bereit, sich auf die Diskussion einzulassen.
({8})
Sie hoffen, dass das BGH-Urteil so ausfällt, dass sich die
Probleme von allein lösen und dass der Gesetzgeber
nicht aktiv werden muss. Möglicherweise wünschen Sie
sogar, dass das Urteil so ausgeht, dass es den Forderungen in unserem Antrag nahekommt. Aber Sie, Herr
Lotter, wollen sich auf keinen Fall in diese Diskussion
hineinziehen lassen. Es könnte ansonsten ja der Eindruck entstehen, die FDP wolle sich mit den Ärzten anlegen.
({9})
Gestatten Sie, Herr Kollege Professor Lauterbach,
eine Zwischenfrage unseres Kollegen Dr. Erwin Lotter?
Sehr gerne, ja.
Bitte schön, Kollege Dr. Erwin Lotter.
Herr Kollege Lauterbach, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie keinen Generalverdacht erheben wollen. Ich möchte Ihnen einmal den ersten Satz Ihres Antrages zur Kenntnis geben, der da lautet:
Durch Korruption, Abrechnungsbetrug und
Falschabrechnung gehen der gesetzlichen Krankenversicherung jedes Jahr erhebliche Summen an Versichertengeldern verloren. Experten … schätzen …
zwischen 3 und 10 Prozent der Gesundheitsausgaben …
Sind Sie bereit, anzuerkennen, dass man hier durchaus
von einem Generalverdacht sprechen kann?
({0})
Nein. - Stellen Sie sich einmal vor, ich mache folgende Aussage: Durch Korruption im Bankenwesen und
durch Vetternwirtschaft entstehen Milliardenverluste.
Sage ich damit, dass jeder Banker korrupt ist? Würde damit jeder Banker unter Generalverdacht gestellt? Der
Schaden ist doch unbestritten. Wäre Ihre Argumentation
richtig, würde das bedeuten, dass jede Kritik und jede
Quantifikation eines Schadens automatisch jeden, der im
entsprechenden Sujet arbeitet, unter Generalverdacht
stellt. Diese Behauptung können Sie doch nicht ernsthaft
aufrechterhalten.
Ich bleibe dabei: Der Antrag ist gut. Man kann über
die Kritik der Grünen sprechen. Es stellt sich nur die
Frage, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist.
Es sei nur darauf hingewiesen: Wenn das BGH-Urteil
so ausfällt, wie Hinweise vermuten lassen, dann wird das
Korruptionsproblem nicht gelöst sein; denn bis dieses
Urteil in die Rechtspraxis umgesetzt ist, wird eine lange
Zeit vergehen. Außerdem betrifft es weder Privatärzte
noch privat Krankenversicherte. Es wäre lediglich für
die gesetzlich Versicherten ein Schutz, der sich aber erst
seinen Weg durch die Institutionen bahnen muss. Ein
solches Urteil löst weder die Probleme mit den Privatärzten noch die Probleme für die Privatversicherten. Daher halten wir daran fest, dass es für uns wichtig ist, eine
Lösung für das gesamte System zu finden.
Das war wenigstens eine Substanzkritik. Sie haben
genau wie die Kollegen von der Linkspartei das Anliegen anerkannt. Es ist doch jeder mit mir einer Meinung,
dass die Art und Weise, wie Schwarz-Gelb dieses für die
Versicherten und die ehrlichen Ärzte gravierende Problem abtut, einer ernsthaften Auseinandersetzung mit
dieser Angelegenheit, unter der viele Ärzte, viele Patienten und auch viele Versicherte zu leiden haben, nicht angemessen ist.
({0})
Vielen Dank, Kollege Professor Karl Lauterbach. Es gibt in dieser Debatte keinen weiteren Redner, keine
weitere Rednerin. Somit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3685 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Somit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Eberhard Gienger, Stephan Mayer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim
Günther ({1}), Dr. Lutz Knopek, Gisela Piltz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klima- und Umweltschutz im und durch den
Sport stärken - Für eine verantwortungsvolle
Sportentwicklung in Deutschland
- Drucksache 17/5779 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Damit sind alle einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen uns vor; ich brauche sie nicht
zu verlesen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5779 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Beate MüllerGemmeke, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ELENA - Meldepflicht aufheben und Daten
der Beschäftigten löschen
- Drucksache 17/5527 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
1) Anlage 2
Vizepräsident Eduard Oswald
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Alle sind
damit einverstanden, sodass ich schon dem ersten Redner das Wort erteilen kann. Es ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Dr. Konstantin
von Notz. Bitte schön, Kollege Konstantin von Notz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am
1. Januar 2010 startete ELENA, eines der größten Datensammelprojekte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Unmittelbar nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Vorratsdatenspeicherung und der
Gewissheit, dass das Verfahren völlig aus dem Ruder gelaufen war, hatten wir die Bundesregierung mit unserem
ersten hierzu vorgelegten Antrag aufgefordert, ELENA
auszusetzen und die Datenübermittlung zu stoppen.
Schon damals kam die Kritik an ELENA von allen
Seiten: Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer, Datenschützer und Bürgerrechtsgruppen - niemand war mit
ELENA zufrieden. Die einzigen Befürworterinnen und
Befürworter fanden sich just in diesem Saal während der
ersten Lesung unseres Antrags. Der Kollege Kai Wegner
von der Union erklärte, ELENA sei ein wichtiger Meilenstein zum Abbau bestehender Bürokratie.
({0})
- Das glaubt er heute noch. - Die Kollegin Doris Barnett
von der SPD sagte, ELENA sei auf der Höhe der Zeit
und deshalb ein Vorbild für andere Verfahren. Die Kollegin Bögel äußerte die Hoffnung - ich zitiere -:
Lassen Sie uns ELENA weiter aufhübschen, damit
sie zur begehrten Lichtgestalt Helena wird. So können alle Beteiligten zum Schluss rufen: Heureka!
({1})
So waren Ihre Einschätzungen vor einem Jahr. Nicht
erst aus heutiger Sicht lagen Sie hiermit alle krass falsch,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, der
SPD und der FDP.
Noch vor der Beratung unseres Antrages in den Ausschüssen kamen öffentliche Ankündigungen seitens der
FDP, man werde ELENA kippen. Zudem äußerten auch
führende Vertreter der Unionsfraktion, zum Beispiel der
geschätzte Kollege Uhl - er ist leider nicht da -, öffentlich massive Zweifel an der Verfassungskonformität von
ELENA.
({2})
- Selbst er. Zu ihm komme ich noch.
Doch in den Ausschüssen lehnten Sie unseren Antrag
ab, und auch sonst geschah vonseiten der Koalition rein
gar nichts. Kurz vor der zweiten und dritten Lesung im
Plenum erklärten Kanzlerin Merkel und der zuständige
Wirtschaftsminister, damals noch Herr Brüderle, öffentlich, ein Moratorium bei ELENA verhängen zu wollen.
({3})
Doch in der zweiten und dritten Lesung am 30. September 2010 hielten Sie hier exakt die gleichen Reden wie
ein halbes Jahr zuvor, und Sie lehnten unseren Antrag erneut ab, obwohl er nur das formulierte, was Sie selbst
zwei Wochen später umsetzten, allerdings ohne gesetzliche Grundlage und ohne die Beteiligung des Parlaments.
Das alles ist nicht nur hochnotpeinlich. Ihr Verhalten
beim Thema ELENA, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Koalition, ist rechtsstaatlich fragwürdig und ein Täuschungsmanöver gegenüber der Öffentlichkeit,
({4})
denn die Bundesregierung suggeriert, ELENA gestoppt
zu haben. In Wahrheit aber werden die Daten von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weiterhin
Monat für Monat übermittelt und zentral gespeichert.
({5})
Die verfassungsrechtlichen Bedenken haben sich sogar verschärft; denn der eigentlich gesetzlich garantierte
Auskunftsanspruch der Betroffenen kann durch die Verschiebung des ELENA-Starts nicht wie ursprünglich
vorgesehen 2012, sondern nun voraussichtlich erst 2014
erfolgen. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung.
({6})
Wegen Ihrer Handlungsunfähigkeit sind nun auch die
Kommunen in der prekären gesetzlichen Pflicht, zum
1. Januar 2012 Technologie und Personal für ELENA zu
ganz erheblichen Kosten bereitzustellen, und zwar so,
als wäre nichts geschehen. Denn: Es ist nichts geschehen. All Ihren Ankündigungen, im November eine gesetzliche Regelung vorzulegen, folgte rein gar nichts, außer einem bis heute anhaltenden, überaus peinlichen
Streit über die Zuständigkeit bzw. Nichtzuständigkeit
zwischen dem Wirtschafts- und dem Arbeitsministerium. Dieses ganze Verfahren ist erbärmlich und ein weiterer Fleck auf Ihrer wirklich nicht weißen Regierungsweste.
({7})
Aus ELENA wird keine schöne Helena mehr.
ELENA ist eine Untote, ein Datenzombie, für tot erklärt,
({8})
aber wegen Handlungsunfähigkeit der schwarz-gelben
Bundesregierung noch immer Grundlage für eine unkontrollierte Datensammelei ohnegleichen.
Machen Sie dem Spuk endlich ein Ende. Wenn man
selbst nichts zustande bringt, muss man eben auch einmal einem sinnhaften Oppositionsantrag zustimmen.
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Dr. von Notz. - Jetzt für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger.
Bitte schön, Kollege Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im
Kern geht es bei dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
darum, dass Klarheit geschaffen wird, wie mit dem elektronischen Entgeltnachweis weiterhin verfahren wird.
({0})
Sicherlich ist es wichtig, darüber an dieser Stelle zu
sprechen. Aber es gilt auch, dies gründlich zu tun, Herr
Kollege von Notz.
({1})
Den Grünen geht es letztendlich nicht um Gründlichkeit,
sondern um Schnellschüsse.
Entscheidend ist, dass wir die offenen Fragen beantworten. Die Bundesregierung ist dabei, das Ganze intensiv zu prüfen. Es gibt keine peinliche Uneinigkeit zwischen Wirtschaftsministerium und Arbeitsministerium;
({2})
verantwortlich ist schließlich die Bundesregierung insgesamt. Mit dieser Angelegenheit sind sehr viele Fragen
verbunden. Dementsprechend ist es richtig, wie die Bundesregierung handelt: Sie prüft intensiv, um sachgerechte Lösungen zu finden. Dies ist den Grünen nicht bekannt; das ist klar.
({3})
Unter diesem Gesichtspunkt werte ich Ihren Antrag.
({4})
Zum besseren Verständnis will ich Folgendes sagen:
Auch die Grünen haben im Zuge der Gesetzgebung erkannt, dass die Einführung eines elektronischen Entgeltnachweises eine große Chance bietet. Eine Entlastung
der Wirtschaft ergibt sich dadurch, dass man viele Bescheinigungen nicht mehr in Papierform erstellen muss.
Damit erreicht man über einen längeren Zeitraum eine
Entlastung in den Verwaltungen und in den Betrieben.
({5})
Wie bei jedem großen IT-Projekt - auch bei der Umsetzung der Hartz-IV-Gesetzgebung, die mit einer entsprechenden Datenstruktur verbunden war, konnten wir
dies erleben - gibt es bei der Einführung des elektronischen Entgeltnachweises Anlaufschwierigkeiten. Der
Kollege Kurth kann dies sicherlich bestätigen; er hat das
Verfahren seinerzeit begleitet. Sicherlich gibt es außerdem veränderte Rahmenbedingungen, neue Positionen
und neue Sichtweisen, was eine zentrale Speicherung
angeht. Aber ich bin schon verwundert, dass die Grünen
diesen Punkt heute in den Vordergrund stellen; Herr Kollege von Notz, Sie haben dies vorhin getan.
({6})
Diese Bedenken hatten Sie bei der Gesetzgebung offensichtlich nicht.
({7})
- Das ist zwar nicht Ihr Gesetz, aber Sie haben sich bei
der Abstimmung darüber zumindest enthalten. Das
heißt, Sie haben dem Gesetz nicht widersprochen. Letztendlich haben auch Sie darin eine große Chance gesehen. Sie sollten sich heute also nicht so äußern, als hätten Sie schon damals diese Bedenken gehabt.
Es ist wichtig, alle relevanten Fragen eingehend zu erörtern. Die Bundesregierung wird dies natürlich tun. Die
Koalitionsfraktionen werden sie bei dieser Arbeit intensiv
begleiten. Man muss allerdings - das gehört zu einer Abwägung dazu - die in den Betrieben und in den Verwaltungen bereits getätigten Investitionen berücksichtigen.
Verschlankungen bei der Datenerhebung haben bereits
stattgefunden. Wenn man auf diesem Weg weitergeht,
kann man vielleicht eine bessere Akzeptanz des Verfahrens erreichen. Wenn das nicht möglich ist - dieser Punkt
wird derzeit geprüft -, sind wir durchaus bereit, Konsequenzen zu ziehen. Aber am Anfang bedarf es, wie gesagt, einer intensiven Prüfung. Diese Prüfung werden wir
vornehmen.
In diesem Sinne lehnen wir Ihren Schnellschuss ab.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird hier auf alle
Fälle nach der Sommerpause Klarheit schaffen. Ich bin
überzeugt davon, dass die Bundesregierung bemüht ist,
unserem Ansinnen nachzukommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Kollege Max Straubinger. - Jetzt spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Doris Barnett. Bitte schön, Frau Kollegin Doris Barnett.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich weiß nicht, worüber ich mich heute mehr
wundern soll: über die Antragsteller, die sich einer gemeinsamen Initiative aus rot-grüner Regierungszeit entledigen wollen,
({0})
oder über die Bundesregierung, die ein innovatives Verfahren aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen an die
Wand fährt und sich obendrein nicht gesetzestreu verhält.
Vor neun Jahren hat Rot-Grün, überzeugt vom Nutzen
der IuK-Technologie auch in der Arbeitswelt, mit dem
Jobcard-System den Vorläufer von ELENA auf den Weg
gebracht. In einem großen Versuch in NRW haben wir
damals das Verfahren getestet, bevor wir die bundesweite Einführung in Angriff genommen haben. In der
Großen Koalition wurde aus dem Jobcard- das ELENAVerfahren, was an der Sache aber nichts ändert. Ziel war
und ist, Bürokratie abzubauen und Kosten einzusparen,
aber auch den Arbeitnehmern schneller zu ihren Leistungen zu verhelfen.
({1})
Dafür werden Informationen zum Einkommen, die im
Sozialversicherungssystem zu verschiedenen Leistungsberechnungen gebraucht werden, an einer zentralen
Stelle sicher gespeichert. Das ist genauso sicher wie bei
der gesetzlichen Krankenkasse und der Rentenversicherung. Der Abruf dieser Daten kann von den jeweiligen
autorisierten Stellen und nur unter Beteiligung des betroffenen Bürgers mithilfe von zwei voneinander unabhängigen Schlüsseln, den Signaturkarten, erfolgen. Die
leistungserbringende Stelle hat eine solche Karte, und
die andere Karte hat der betroffene Bürger. Die Signaturkarte wird von den Behörden nur ganz bestimmten Personen mit entsprechenden Zulassungen ausgehändigt. Es
ist also nicht so, dass diese Karten im Amt herumliegen
und jedermann Zugang zu ihnen hat. Anderes zu behaupten, wäre schlichtweg Unsinn.
Selbst wenn ein unbefugter Dritter tatsächlich einmal
eine solche Signaturkarte bekäme, könnte er keine Daten
abrufen. Er könnte nur dann tatsächlich mit dem Auslesegerät Daten abrufen, wenn er sowohl diese Karte als
auch die Karte des Bürgers hätte.
({2})
- Lesen Sie doch einmal das Gesetz. - Auch dann können von der abrufenden Stelle, zum Beispiel der Wohngeldstelle, nur die Daten herausgezogen werden, die für
die Berechnung einer bestimmten Leistung - hier Wohngeld - benötigt werden. Also, wenn Wohngeld beantragt
wird, kann man dort zum Beispiel nichts über eine Arbeitsplatzkündigung erfahren.
Lesen Sie das Gesetz! Ich kann es Ihnen nur noch einmal ans Herz legen. Ihre ständig geäußerten Bedenken
beruhen erstens nicht auf Fakten, man findet zweitens
dazu keinerlei Anhaltspunkte im Gesetz oder Verfahren,
und sie diskreditieren drittens den Bundesdatenschutzbeauftragten, der bei dieser Vorratsdatenspeicherung über
die Nutzung der Instrumente zur Gewährleistung der Datensicherheit zu wachen hat und der einzige Schlüsselverwalter ist.
({3})
Seit bald 18 Monaten werden die Daten in die Zentrale Speicherstelle übermittelt, dort geprüft, zweifach
verschlüsselt und danach gespeichert. Wie schon früher
ausgeführt, ist der Datenzugriff nicht nur von außen,
sondern auch von innen unmöglich: Den Mitarbeitern
der Zentralen Speicherstelle ist ein Zugriff nicht möglich.
Was die Datenmengen angeht, darf ich daran erinnern, dass für die Durchführung des ELENA-Verfahrens
die Daten von zwei Jahren benötigt werden. Bei der Berechnung bestimmter Leistungen braucht man eben Angaben über diesen Zeitraum.
Um weiteren Vorhaltungen über eine angebliche Datensammelwut vorzubeugen, sage ich es auch in der heutigen Debatte: Das ELENA-Verfahren umfasst ein integriertes Löschprogramm, das keinerlei Aktivierung
durch einen Menschen von außen bedarf. Selbst wenn
- wovon der Antragsteller ausgeht - über vier Jahre Daten gesammelt würden, bevor ein Abruf möglich sein
soll, wären die Daten von 2010 und 2011 im Jahr 2014
schon längst gelöscht. Sie haben aber insoweit recht, als
man sich fragen kann, warum die Daten, die nicht gebraucht werden, weil die Regierung das Verfahren nicht
ab 2012 anwenden will, überhaupt gesammelt werden.
({4})
Deshalb muss ich mich jetzt an die Regierung selbst
wenden,
({5})
die sich offenbar von ELENA lösen will. Etwas anderes
kann es nicht bedeuten, dass der Koalitionsausschuss im
Dezember 2010 beschlossen hat, den Zeitpunkt des verpflichtenden Datenabrufs vom 1. Januar 2012 auf den
1. Januar 2014 zu verschieben. Auch hat er beschlossen,
ELENA in die Zuständigkeit des Arbeitsministeriums zu
überführen, was bei diesem wiederum erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit ausgelöst hat. Als Parlamentarierin reibt man sich da schon die Augen; denn bisher
war mir nicht bekannt, dass der Koalitionsausschuss Gesetze macht.
({6})
Eine wirksame Verschiebung des Termins von 2012
auf 2014 bedarf doch einer Gesetzesänderung. Ansonsten ist das Gesetz ab Januar nächsten Jahres anzuwenden; ab dann gilt das ELENA-Verfahren.
({7})
Unternehmen, Verwaltungen und Bürger können dann
nur noch mit diesem Verfahren arbeiten. Oder will die
Regierung wirklich Unternehmen und Verwaltung verpflichten, nach dem 1. Januar 2012 doppelgleisig zu fahren, weitere zwei Jahre die Daten sowohl elektronisch zu
übertragen als auch im Bedarfsfalle auf Papier zu erstellen? Wie rechtfertigt die Bundesregierung die dadurch
anfallenden Kosten für die Unternehmen?
Selbst wenn die Anwendung des Abrufverfahrens
durch Gesetzesänderung wirksam auf 2014 verschoben
wird, ist zu fragen, was in der Zwischenzeit passiert.
Wenn die Daten, so wie es die Grünen fordern, gelöscht
werden, muss doch ab 1. Januar 2012 wieder neu mit der
Sammlung der benötigten Daten für die zwei Jahre angefangen werden, damit die notwendigen Daten zu Beginn
der Anwendung des Abrufverfahrens im Jahr 2014 zur
Verfügung stehen. Also alles noch einmal von vorne? Zu
welchen Kosten? Wer zahlt? Oder bereitet die Regierung
gar den Tod von ELENA auf Raten vor? So weit sind wir
aber noch nicht; noch gilt das Gesetz, das einen Datenabruf ab 1. Januar 2012 vorsieht. Deshalb wäre die
geforderte Löschung der Daten zum jetzigen Zeitpunkt
gesetzeswidrig.
Ich erwarte von uns Abgeordneten, dass wir zu einem
Gesetz stehen, das wir über Jahre hinweg gemeinsam erarbeitet und dann beschlossen haben, und nicht versuchen, es mit tausenderlei unzutreffenden Bedenken und
Vorurteilen zu verhindern. Nur so können wir Vertrauen
in unser politisches Handeln gewinnen. Ansonsten verliert nicht nur das Gesetz an Akzeptanz, sondern auch
wir selbst.
({8})
Die Bundesregierung hat deshalb im September 2009
zu Recht ein Informationskonzept erstellt, das konkrete
Handlungsempfehlungen enthielt. Die Bundesregierung
hätte diese Empfehlungen also noch vor der Einführung
von ELENA umsetzen und Verständnis bei der Bevölkerung erreichen können. Warum sie das nicht getan hat,
bleibt ihr Geheimnis.
Der ehemalige Wirtschaftsminister jedenfalls hat
nichts getan, um das ELENA-Verfahren voranzubringen.
Er hat die Großunternehmen und sein eigenes Haus nicht
angehalten, ab dem 1. Januar 2010 die Daten zu übermitteln. Ist es nicht so, dass das Bundeswirtschaftsministerium erst Monate nach dem Start von ELENA angefangen hat, die Daten seiner Mitarbeiter zu übermitteln?
Haben Sie damit nicht ein hervorragendes Negativbeispiel abgegeben? Die Kleinunternehmer und die mittelständischen Betriebe haben sich gesetzestreu verhalten
und werden jetzt trotzdem um die Früchte ihrer Datenübermittelung gebracht.
Ich frage die Bundesregierung, insbesondere den
Bundeswirtschaftsminister, warum sie die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden
bisher noch nicht einmal erwidert haben.
({9})
Die melden sich nicht. Das muss man sich einmal vorstellen. Will die Bundesregierung bzw. das Bundeswirtschaftsministerium den Prozess verlieren, vielleicht sogar absichtlich? Ist das ein angemessenes Gebaren eines
Verfassungsorgans? Und wozu das alles?
Mein Fazit lautet: Nach wie vor ist das ELENA-Verfahren in Kraft und ist Gesetz. Es ist trotz aller Verunglimpfungen ein sicheres Verfahren, das zum Bürokratieabbau beiträgt und für die Anwender eine große
Erleichterung bedeutet. Ab dem 1. Januar 2012 stehen
die Daten den autorisierten Behörden und den Bürgern
zum Abruf entsprechender Daten zur Verfügung, wenn
sich die Bundesregierung gesetzestreu verhält.
Die Forderungen, die im vorliegenden Antrag enthalten sind, gehen an den Tatsachen vorbei. In dem Antrag
wird zum Gesetzesbruch aufgefordert. Deshalb lehnen
wir diesen Antrag ab.
Vielen Dank.
({10})
Für die FDP hat der Kollege Kober das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen! Geschätzter Kollege Konstantin von Notz, Ihr
heutiger Antrag „ELENA - Meldepflicht aufheben und
Daten der Beschäftigten löschen“ ist symptomatisch für
die Art und Weise, wie Sie von Bündnis 90/Die Grünen
Politik machen. Erst stoßen Sie das Kind absichtlich in
den Brunnen oder lassen es zumindest in den Brunnen
fallen,
({0})
dann machen Sie sich aus dem Staub, stellen sich abseits
und zeigen mit dem Finger auf diejenigen, die versuchen, das Kind zu retten. Wenn es Ihnen nicht schnell
genug geht, dann empören Sie sich öffentlich.
({1})
Das war auch bei Hartz IV so, Herr von Notz. Das haben
Sie erfunden, und wir von der christlich-liberalen Koalition haben es in einer großen Kraftanstrengung im Sinne
der Betroffenen, im Sinne der Kinder, im Sinne der
Schwächsten reformiert und verbessert.
({2})
Das ist aktuell bei der Zeitarbeit so, und das ist auch bei
diesem Antrag so. Sie haben ELENA erfinden lassen
und der Einführung 2002, als Sie in der Bundesregierung
waren, zugestimmt.
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
von Notz?
Nein, heute nicht.
({0})
- Also gut.
Bitte.
Das ist nett. Herzlichen Dank, auch für die Geduld aller am Freitagnachmittag.
({0})
Herr Kollege Kober, ich habe zwei Dinge anzumerken.
Erstens. Es überrascht mich, dass Sie jetzt anfangen,
die Grünen wegen Hartz IV zu bashen. Das kommt sonst
aus anderen Ecken; aber bitte schön. Jetzt einmal echte
Argumentation: Wie erklären Sie sich Ihre Argumentation vor dem Hintergrund, dass sowohl der Kollege
Ahrendt als auch die Kollegin Piltz als auch Ihr damaliger Wirtschaftsminister Brüderle gesagt haben, dass
ELENA gekippt werden muss und wir ein Moratorium
brauchen? Das ist schließlich genau das, was wir hier beantragen.
Zweitens frage ich, wer für das Verfahren im Augenblick zuständig ist. Die Ministerin ist ja anwesend. Insofern wäre es interessant, das von Ihnen zu erfahren, da
Sie momentan ja irgendwie an der Regierung beteiligt
sind. Es wird ja immer gesagt, dass so viel geprüft wird.
Machen Sie einfach eine schlichte Ansage: Ist das Wirtschaftsministerium oder das Arbeitsministerium zuständig? Wer prüft denn im Augenblick so intensiv?
Lieber Kollege von Notz, ich beginne mit der zweiten
Frage. Ihnen wird nicht entgangen sein, wie hervorragend und reibungslos diese christlich-liberale Koalition
zusammenarbeitet.
({0})
Insofern überlassen Sie es doch uns, die Frage zu klären,
wer welche Zuständigkeit hat.
({1})
Darauf kommt es im Übrigen gar nicht an. Entscheidend
ist, dass wir eine gute und verantwortungsvolle Politik
im Sinne der Menschen in diesem Land machen. Seien
Sie gewiss, auch bei ELENA wird das der Fall sein.
Nun zu Ihrer ersten Frage. Als FDP-Bundestagsfraktion haben wir in der Tat eine eigene Position, die wir in
das Gespräch mit den Unionskollegen einbringen werden. Zu Beginn meiner Rede hatte ich aber darauf abgehoben, dass Sie sich dazu bekennen sollten, dass Sie
- zwar nicht persönlich, aber Ihre Fraktion und Ihre Partei - ELENA zunächst erfunden und dann auch eingeführt haben. Sie wollten dieses Gesetz bzw. dieses Verfahren.
({2})
Jetzt auf die anderen zu zeigen und zu schreien: „Haltet
den Dieb“, ist einfach unseriös.
({3})
Diese Vorgehensweise ist - das werde ich noch an weiteren Beispielen zeigen - zum Prinzip Ihrer aktuellen Politik geworden. Wir als christlich-liberale Koalition werden das öffentlich benennen und Sie in diesen Punkten
stellen. - Vielen Dank.
({4})
Ich habe es bereits gesagt: Sie haben ELENA erfinden lassen
({5})
und der Einführung im Jahr 2002, als Sie in der Bundesregierung waren, zugestimmt. Lieber Konstantin von
Notz, Sie haben übrigens auch gewisse Terrorismusbekämpfungsgesetze - damals unter Otto Schily - widerstandslos einfach durchgewinkt.
({6})
- Herr von Notz, die Rede schreitet fort. - Seit Ihrem
Ausscheiden aus der Bundesregierung versuchen Sie,
sich als Bürgerrechtspartei zu gerieren. Sie tun so, als sei
Ihnen der Datenschutz wichtig. Aktuell kann man auf
der Homepage der Grünen folgenden Text finden:
Die Grünen rufen zur Massenbeschwerde gegen
ELENA auf. Dieser „Elektronische Entgeltnachweis“ ist ein Projekt der schwarz-roten Bundesregierung,
- Sie verschweigen, dass es eigentlich Ihre Idee war der jetzt von CDU/CSU und FDP freudig umgesetzt
wird.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ELENA ist von Ihnen auf den Weg gebracht worden. ELENA ist Ihr Kind
und Ihr Projekt. Ich weiß, was Sie mir jetzt entgegenhalten werden - das machen die Kollegen von den Grünen
aus dem Arbeits- und Sozialausschuss auch immer -:
Man könne mit der Zeit lernen,
({8})
man könne aus vergangenen Fehlern lernen. - Richtig,
das ist so. Ich beobachte mit großem Interesse, lieber
Kollege von Notz, wie sich Ihre Partei in der letzten Zeit
verhält. In NRW sind die Grünen im vergangenen Jahr
an die Regierung gekommen. Sie haben sich aber nicht
danach gereckt und gestreckt, das Innen- oder das Justizministerium zu übernehmen.
({9})
Auch als Sie in diesem Jahr in Baden-Württemberg an
die Regierung gekommen sind,
({10})
haben Sie sich in keiner Weise für Bürgerrechte und Datenschutz interessiert. Sie haben auch dort weder das
Justizministerium noch das Innenministerium für sich in
Anspruch genommen. Das zeigt eindeutig: Bürgerrechte
und Datenschutz sind kein Anliegen der grünen Partei.
({11})
Wir von der christlich-liberalen Koalition hingegen,
lieber Herr von Notz, reden nicht nur über Bürgerrechte,
sondern wir handeln auch entsprechend.
({12})
Erst am Mittwoch dieser Woche hat das Bundeskabinett
auf Initiative der FDP einen Gesetzentwurf verabschiedet, mit dem das Gesetz zur Sperrung von Internetseiten
aufgehoben werden soll. Sie wissen, wovon ich rede:
Löschen statt Sperren. Aktuell beraten wir darüber - der
Kollege Straubinger hat es vorhin schon ausgeführt -,
wie wir bei ELENA weiter vorgehen wollen.
Im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir uns hierbei Zeit.
Denn anders als Sie legen wir Wert darauf, dass unsere
Politik nachhaltig ist, Bestand hat und nicht immer wieder vom Bundesverfassungsgericht gekippt wird.
({13})
Deshalb ist hier nicht Eile geboten, sondern Sorgfalt.
Das ist ein weiteres Kennzeichen unserer christlich-liberalen Koalition und ihrer Politik.
({14})
Natürlich haben wir Vorstellungen, wie es mit
ELENA weitergehen soll. Wir wollen die Erprobungsphase von ELENA - das ist bereits angesprochen worden - bis 2014 verlängern, wie es der Koalitionsausschuss im November letzten Jahres beschlossen hat.
Die datenschutzrechtlichen Bedenken sind uns ein
ernstes Anliegen. Das werden wir noch eingehend prüfen. Ich halte es für ein gutes und richtiges Signal, dass
der Datenfragebogen überarbeitet wurde. Beispielsweise
sind die Angaben zum Thema Streik aus dem Fragebogen herausgenommen worden.
Zudem hat sich bislang noch sehr wenig von dem
Einsparpotenzial oder Bürokratieabbau gezeigt, die von
ELENA erwartet wurden. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sowie die Kommunen sind noch nicht
ganz zufrieden mit dem Verhältnis von Aufwand, Kosten
und Nutzen. Auch hier werden wir nachsteuern. Das
Kosten-Nutzen-Verhältnis muss am Ende stimmen.
E-Government birgt ohne Frage viele Chancen und
ein großes Potenzial. Das Ganze muss aber richtig angegangen werden. Natürlich kann es sinnvoll sein, die
große Zahl von physischen Bescheinigungen und Formularen zu reduzieren. Eine entsprechende Umsetzung
muss aber datenschutzrechtlich und verfassungsrechtlich
einwandfrei sein. Für ELENA werden wir eine solche
Umsetzung jetzt prüfen und gegebenenfalls nachsteuern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/
Die Grünen, Sie können versichert sein, dass die christlich-liberale Koalition eine umfassende und sorgfältige
Überprüfung von ELENA vornehmen wird und dass wir
dementsprechend handeln werden; denn Handeln ist das
Kennzeichen unserer Politik.
({15})
Der Kollege Korte hat für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Redebeitrag der FDP gerade war ja wirklich nicht
schlecht. - Zur Sache: Bundeskanzlerin Angela Merkel
ist nicht gerade dafür bekannt, dass sie etwas entscheidet, und wenn sie etwas entscheidet, dann meistens das
Falsche. In diesem Fall hat sie wieder einmal nichts entscheiden wollen. Sie hat 2010 Folgendes gesagt: „Ich
unterstütze ausdrücklich, dass ELENA nochmals überprüft wird.“ Dann gibt es ein Schreiben vom Staatssekretär aus dem Hause von der Leyen vom Frühjahr 2011
- das war also vor kurzem -, in dem steht: Derzeit findet
eine Prüfung hinsichtlich des weiteren Vorgehens im
ELENA-Verfahren statt, die noch nicht abgeschlossen
ist. - Das kommt aus Ihrem Hause. Das ist typisch für
diese Regierung. Es wird gelabert und gelabert, aber
nichts wird vorgelegt. Dasselbe haben wir hier gestern
beim Thema Wahlrecht erlebt. So geht es nicht. Der Antrag, der hier heute eingebracht wurde, ist daher sinnvoll.
({0})
Im Gegensatz zu Ihnen hat sich die Linksfraktion entschieden, wie sie ELENA einschätzt: Wir lehnen das
Verfahren rundheraus ab
({1})
und stehen für ein ganz klares Nein zu einer Vorratsdatenspeicherung von bis zu 40 Millionen sensibler Daten
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Das hier ist
übrigens noch viel schlimmer als die eigentliche VorratsJan Korte
datenspeicherung, die vom Bundesverfassungsgericht
mit deutlichen Worten kassiert worden ist; denn die Daten sollen zentral gespeichert werden. Allein aus diesen
Gründen ist ELENA vehement abzulehnen.
({2})
Ich will Ihnen weitere Gründe nennen, aus denen
ELENA abzulehnen ist. Ein Grund ist der Schutz des
einzelnen Arbeitnehmers, der sich in Zeiten der prekären
Beschäftigung, die Sie in diesem Land maßgeblich voranbringen, bekanntermaßen sowieso in einem immensen Abhängigkeitsverhältnis befindet. Es geht überhaupt
nicht, dass Sie dann auch noch sensible Daten von ihm
speichern, um ihn möglicherweise kontrollieren zu können.
ELENA ist im Übrigen nach Auffassung von führenden Experten und Staatsrechtlern grob verfassungswidrig. Die Klagen laufen an. Ich kann einfach nicht verstehen, warum man das nicht zur Kenntnis nimmt und sich
bei diesem Thema die nächste Klatsche in Karlsruhe holen will.
({3})
- Sie von der SPD schütteln gerade den Kopf. Es ist unfassbar: Seit Sie in der Opposition sind, sagen Sie, Sie
seien die Arbeitnehmerpartei und wollten die Interessen
der Arbeitnehmer vertreten.
({4})
Mit Ihrem Larifari-Kurs machen Sie das Gegenteil. Die
Position der Sozialdemokraten in diesem Punkt hat
nichts mit dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu tun.
Der nächste Aspekt, den ich ansprechen will, wurde
auch schon erwähnt. Die FDP, die große wirtschaftsliberale Partei, sollte sich einmal anhören, was die kleinen
und mittelständischen Unternehmen und die Unternehmerverbände zu ELENA sagen. Sie wissen überhaupt
nicht, wie sie das finanzieren sollen. Für einen großen
Konzern mit den entsprechenden Abteilungen und ITSystemen ist das kein Problem. Für die kleinen Unternehmen, für die Sie sich angeblich starkmachen, ist das
der blanke Horror. Dasselbe gilt übrigens für die Kommunen. Sie sollten sich einmal anhören, was die kommunalen Spitzenverbände sagen.
({5})
Kollege Döring, Sie sind doch auch Kommunalpolitiker,
Sie müssen das doch zur Kenntnis nehmen. Sie müssen
für Ihre Landeshauptstadt Hannover doch etwas tun.
Das, was Sie hier machen, ist katastrophal. Auch deswegen muss ELENA abgelehnt werden und könnten Sie
dem Antrag zustimmen; das ist doch nicht so schwer.
({6})
Zusammenfassend: Das Ganze ist unnötig; das haben
die Erfahrungen empirisch bewiesen. Es ist ein massiver
Anschlag gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Deswegen brauchen wir hier, wie auch für andere
Großprojekte, ein Moratorium. Gerade in Zeiten prekärer Beschäftigungen sollte man die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmerrechte stärken und ausbauen und sie
nicht beschränken. Dafür steht die Linke. Deswegen
stimmen wir dem Antrag zu. Trotz Ihrer katastrophalen
Politik wünsche ich ein schönes Wochenende.
Danke.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5527 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit
und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also die Federführung
beim Innenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. Juni 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.