Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/26/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erheben. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Am vergangenen Freitag ist unser früherer Kollege und Vizepräsident des Deutschen Bundestages Helmuth Becker gestorben. Er wurde 81 Jahre alt. Wer Helmuth Becker kennengelernt hat, traf auf eine außerordentliche Parlamentarierpersönlichkeit. Becker gehörte als Abgeordneter der SPD ein Vierteljahrhundert dem Deutschen Bundestag an, dessen Arbeit er von 1969 bis 1994 in wichtigen und herausgehobenen Ämtern mitgeprägt hat. Im Innen- und Sportausschuss sowie im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat er wichtige Akzente gesetzt. Insbesondere als langjähriger Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion ist er im Gedächtnis vieler geblieben. „Münsterländische Gemütsruhe“ wurde ihm nicht nur von seiner Heimatpresse bescheinigt, und in der Tat zeichnete ihn eine wohltuend ausgleichende Art aus, womit er - nicht nur aus der Sicht des politischen Gegners seinen langjährigen Chef Herbert Wehner in der Fraktionsleitung eindrucksvoll ergänzte. Von 1980 bis 1982 übernahm Helmuth Becker in der Regierung Helmut Schmidt als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen auch Regierungsverantwortung - eine Aufgabe, die ihn zurück zu seinen beruflichen Anfängen führte. Denn von 1951 bis zu seiner ersten Wahl in den Bundestag 1969 war er als Elektroingenieur bei der Bundespost beschäftigt gewesen, wo er sich aktiv für die Interessen der Arbeitnehmer eingesetzt hatte. Besonders am Herzen lagen Helmuth Becker die Beziehungen zu unserem östlichen Nachbarland. Über Jahrzehnte setzte er sich in zahlreichen Initiativen und bei ungezählten Reisen für die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen ein, etwa in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und in der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe - ein Engagement, für das er mit der Ehrendoktorwürde der Universität Breslau ausgezeichnet wurde. Wir alle, die wir mit ihm zusammenarbeiten durften, kannten Helmuth Becker als einen Meister des politischen Pragmatismus. Er war über alle Parteigrenzen hinweg sehr geschätzt. Ein waches Gerechtigkeitsempfinden, verbunden mit der Fähigkeit zum Ausgleich und der Bereitschaft zum Kompromiss, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft zeichneten Helmuth Becker in besonderer Weise aus. Der Respekt und die Anerkennung, die ihm zuteil wurden, kamen besonders 1990 zum Ausdruck: Damals wählte ihn der erste gesamtdeutsche Bundestag nahezu einstimmig - mit 97 Prozent der abgegebenen Stimmen - zu seinem Vizepräsidenten. Die Wahl bedeutete die Krönung einer bemerkenswerten Parlamentarierkarriere. Dem Hohen Haus blieb Helmuth Becker auch nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament eng verbunden, nicht zuletzt als Präsident der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages von 1995 bis in das Jahr 2000. Mit Helmuth Becker verlieren wir einen leidenschaftlichen Parlamentarier, der sich bleibende Verdienste um den Deutschen Bundestag, den Parlamentarismus und die Demokratie in unserem Land erworben hat. Wir werden sein Andenken in Dankbarkeit und Ehren bewahren. Ich danke Ihnen. Bevor ich die Abgabe einer Regierungserklärung aufrufe, gibt es einige wenige amtliche Mitteilungen. Der Kollege Ruprecht Polenz feiert heute seinen 65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses besonders herzlich. ({1}) Bereits am vergangenen Mittwoch begingen die Kollegin Dr. Martina Bunge und der Kollege Karl Schiewerling ihre 60. Geburtstage. Auch diesen beiden Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Jubilaren übermittle ich auf diesem Wege noch einmal alle guten Wünsche. ({2}) Der Kollege Peter Friedrich hat am 23. Mai 2011 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist der Kollege Stefan Rebmann nachgerückt. Für den am 25. Mai 2011ausgeschiedenen Kollegen Alexander Bonde hat der Kollege Harald Ebner die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im Namen des ganzen Hauses begrüße ich die neuen Kollegen herzlich und wünsche eine gute Zusammenarbeit. ({3}) Die CDU/CSU-Fraktion teilt mit, dass der Kollege Ingo Wellenreuther aus dem Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausscheidet. Als neues ordentliches Mitglied wird die Kollegin Karin Maag vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen in der Partei DIE LINKE ({4}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 30 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz ({5}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten - Drucksache 17/5899 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Transparenz bei Rückstellungen im Kernenergiebereich schaffen - Drucksache 17/5901 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schnelles Internet für alle - Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen - Drucksache 17/5902 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internet-Telefonie in Afghanistan - Drucksache 17/5908 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({10}) Auswärtiger Ausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck ({11}), Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen - Drucksache 17/5909 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({12}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen - Drucksache 17/5906 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Claudia Roth ({14}), Präsident Dr. Norbert Lammert Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen- und Mädchenfußball stärken - Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitisch nutzen - Drucksache 17/5907 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({15}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland - Drucksachen 17/4192, 17/5962 Berichterstattung: Abgeordneter Frank Heinrich Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum G-8-Gipfel am 26./27. Mai 2011 in Deauville Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({17})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute und morgen wird im französischen Deauville der G-8-Gipfel stattfinden. Wir treffen uns dort, während uns gleichzeitig aus Nordafrika und Teilen der arabischen Welt aufrüttelnde Bilder und Nachrichten erreichen. Die Region befindet sich im Umbruch. Politische und gesellschaftliche Verkrustungen werden aufgebrochen. Wir werden Zeugen von Veränderungen in einer Dimension, die wahrscheinlich auch nachfolgende Generationen als Zeitenwende in der arabischen Welt bewerten werden. Auf den Straßen und Plätzen tunesischer und ägyptischer Städte nehmen Männer wie Frauen ihr Schicksal in die eigene Hand. Die Menschen sind dabei, ihren Ländern und zunehmend der ganzen Region ein neues Gesicht zu geben. In Tunesien und Ägypten haben die früheren Regierungen das Vertrauen der Bevölkerung verloren. In Libyen und in Syrien halten sich die Führungen nur noch durch rohe Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an der Macht. In der ganzen Region ist der Wille zur Veränderung spürbar. Die Menschen in Kairo, Tunis, Damaskus und Sanaa kämpfen für Freiheit, für Menschenrechte und für bessere Lebensbedingungen. In solchen Zeiten - wir in Europa wissen das seit 1989 durch eigene, wenn auch in vielen Einzelheiten andersgeartete Veränderungen werden Partner gebraucht. Es ist deshalb eine historische europäische Verpflichtung, den Menschen, die heute in Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu stehen. Daher wird Deutschland beim G-8-Gipfel seinen Beitrag zum politischen Wandel und zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Länder in dieser Region leisten. Wir wollen helfen, dass sie sich der Mehrparteiendemokratie, dem Pluralismus und der Marktwirtschaft zuwenden. Daher setze ich mich dafür ein, dass die G 8 ihre Unterstützung mit der Einhaltung genau dieser Prinzipien verbindet. Wir wissen alle, dass ein Wandel dieser Dimension nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist. Mit einem einzigen vermeintlich großen Wurf heute alle Probleme lösen zu wollen, ist weder realistisch, noch ist es hilfreich. Nein, angesichts der Größe der Herausforderung werden wir Geduld aufbringen und uns auch auf Rückschläge in den Reformprozessen einstellen müssen. Denn es ist an den Völkern selbst, ihren Reformweg in eigener Verantwortung zu gestalten. Aber das, was wir zur Unterstützung des Wandels zu Freiheit und Selbstbestimmung leisten können, das können und das werden wir leisten. Deshalb ist es richtig, dass beim G-8-Gipfel nicht etwa nur über die Menschen in den betroffenen Ländern gesprochen wird, sondern auch mit ihnen. Ich freue mich darauf, dass in Deauville die Premierminister von Tunesien und Ägypten an den Beratungen teilnehmen werden. So gibt uns das die Gelegenheit zum Gespräch. Ich möchte mich auch bei allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag herzlich bedanken, die in diesen Tagen Kontakte suchen zu den betroffenen Menschen, beispielhaft bei Volker Kauder, dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, der gerade am Wochenende mit einigen Kollegen in Ägypten war und sich dort ein Bild von der Lage gemacht hat. Herzlichen Dank dafür! Wir brauchen diese persönlichen Kontakte. ({0}) Meine Damen und Herren, in diesen beiden Staaten, in Ägypten und Tunesien, hat der politische Umbruch seinen Anfang genommen. Dort ist er mit ersten Refor12606 men und Entscheidungen für Wahlen am weitesten fortgeschritten. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch andere Staaten aus der Region auf unsere Unterstützung zählen können, wenn sie sich für den Weg hin zu freien Gesellschaften entscheiden. Ich möchte dem Außenminister ganz herzlich danken, der gerade in diesen Stunden im UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit anderen an einer Resolution gegen die Gewalttaten in Syrien arbeitet. Syrien ist ein Riesenproblemfall. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die Gewalt dort ganz eindeutig zu verurteilen. ({1}) Deutschland hat bereits im Rahmen der Transformationspartnerschaft ganz konkrete Angebote gemacht. Die Bundesregierung wird aus bestehenden Mitteln noch in diesem Jahr über 30 Millionen Euro speziell zur Unterstützung des demokratischen Wandels einsetzen. In den nächsten Jahren sollen insgesamt 100 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt werden. Wir müssen dazu beitragen, dass die ersten politischen Fortschritte nicht durch wirtschaftliche Instabilität gefährdet werden. Denn die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Perspektive gerade junger Menschen sind in diesen Ländern teilweise erschreckend hoch. Die Bevölkerungszusammensetzung in diesen Ländern ist eine andere als bei uns. Ein großer Teil der Menschen ist unter 25 Jahre alt. Diese jungen Menschen suchen Hoffnung und wirtschaftliche Perspektiven. Wir brauchen dabei das Rad nicht neu zu erfinden. Uns stehen schon heute mit den internationalen Finanzinstitutionen und den multilateralen Entwicklungsbanken alle erforderlichen Instrumente zur Verfügung. Mit den Spitzen von IWF und Weltbank werden wir in Deauville darüber sprechen, wie wir ein bedeutendes und wirkungsvolles Maßnahmepaket schnüren können. Ansatzpunkte gibt es in Tunesien und Ägypten auch für ein Engagement der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung; denn der Privatsektor ist in beiden Ländern bereits relativ gut entwickelt. Die Bank hat den Übergangsprozess in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfolgreich unterstützt und könnte an diese Erfahrung anknüpfen und in der nordafrikanischen Region unterstützend tätig werden. Zu den drängendsten Herausforderungen in Ägypten und Tunesien zählen die Arbeitslosigkeit und die wenig entwickelten Ausbildungsstrukturen. Die Arbeitslosigkeit in Ägypten beträgt offiziell 9 Prozent, in Tunesien sogar 14,4 Prozent. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die G 8 mit den Reformstaaten der Region eine sogenannte Partnerschaft für Beschäftigung schließt. Diese soll nach unserer Vorstellung aus Berufsbildung, beschäftigungsfördernden Maßnahmen und Investitionen bestehen. Dabei ist mir wichtig, nicht nur die Regierungen, sondern auch die Unternehmen und Gewerkschaften auf beiden Seiten einzubeziehen. Wir wollen vor allen Dingen das Engagement der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft - das muss gemeinsam geschehen - im Ausbildungsbereich verstärken. Hierbei können wir auf frühere Initiativen der deutschen Wirtschaft in der Region bauen. Deutschland verfügt mit dem dualen Ausbildungssystem über ein erfolgreiches und international anerkanntes Modell der beruflichen Bildung. Wir streben daher gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft an - wir werden das natürlich mit unseren Partnern besprechen -, Ägypten bei der Schaffung von 5 000 neuen Arbeitsplätzen zu unterstützen, die Ausbildungsstrukturen zu stärken mit dem Ziel, dass in Ägypten jährlich bis zu 10 000 Jugendliche zusätzlich ausgebildet werden können, Tunesien bei der Qualifizierung und Vermittlung von arbeitslosen Akademikern gezielt zu unterstützen und den Aufbau eines wettbewerbsfähigen Sektors kleiner und mittlerer Unternehmen durch Beratung und Finanzierung voranzubringen. ({2}) Dies wird uns möglich, indem wir Schuldenumwandlung in Höhe von 300 Millionen Euro auf vier Jahre gestreckt ins Auge fassen. Dann haben wir für die Programme, die bei den Menschen ansetzen, Spielräume. Ich glaube, genau das wird jetzt in der Region gebraucht: konkrete Hilfe für Menschen, die eine Perspektive brauchen. ({3}) Dafür werden Bundesminister Niebel und auch der Bundesaußenminister gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft die entsprechenden Gespräche in der Region führen. Wir werden dafür werben, dass diese Programme schnell in Gang kommen; denn Zeit zählt in dieser Region. Die Entwicklungen sind für alle eine historische Chance, für die Menschen in Nordafrika und in der arabischen Welt, aber auch für uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die Chance, eine neue Partnerschaft für Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung zu begründen, nicht verstreichen darf. Wir sehen, dass der politische Umbruch in Nordafrika und im Nahen Osten die geopolitische Tektonik einer ganzen Region in Bewegung bringt. Bewegung ist auch für den Prozess zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erforderlich, und zwar eine Bewegung in die richtige Richtung. Einseitige Maßnahmen, von welcher Seite auch immer, führen dagegen in eine Sackgasse. Das gilt für eine Fortsetzung des Siedlungsbaus Israels genauso wie für eine einseitige und unabgestimmte Ausrufung eines palästinensischen Staates. Ja, man muss es so sagen: Der gegenwärtige Zustand ist völlig unbefriedigend. Der Stillstand muss überwunden werden. Auch wenn es noch so mühselig ist, auch wenn es noch so viel Zeit und Geduld erfordert, am Ende führt kein Weg daran vorbei, alles dafür zu tun, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Das Ziel sind zwei Staaten: ein jüdischer und demokratischer Staat Israel und ein eigener Palästinenserstaat; zwei Staaten, die in Frieden und Sicherheit Seite an Seite leben. Dazu muss - das gilt auch für die jetzt zu bildende neue Übergangsregierung in Ramallah - jede palästinensische Regierung der Gewalt abschwören und das Existenzrecht Israels anerkennen. ({4}) Deshalb unterstützen wir den Vorschlag Präsident Obamas, ohne weiteren Zeitverlust die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen, und zwar zunächst über die Schlüsselfragen Grenzen und Sicherheit. Mit der Regelung der Grenzfragen kann das Problem des Siedlungsbaus gelöst werden; dies ist ein wichtiges Anliegen der Palästinenser. Mit der Regelung der Sicherheitsfragen kann der Hauptsorge Israels begegnet werden. Wir können also das, worum es geht, in einem Satz zusammenfassen - er ist auch schon von anderen gesagt worden -: Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt, insbesondere den Palästinensern, das ist der beste Schutz Israels. ({5}) Die internationale Gemeinschaft - ich sage das ausdrücklich auch für Deutschland - ist bereit, alles in ihren Möglichkeiten Stehende zu tun, um Israel und den Palästinensern auf dem Weg zur Lösung ihres Konflikts zu helfen. Dazu müssen aber die Verhandlungen beginnen und der gegenwärtige Stillstand überwunden werden. Meine Damen und Herren, dass Nordafrika und der Nahe Osten derzeit im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen, ist richtig und nachvollziehbar. Das darf aber nicht dazu führen, dass die G 8 ihr besonderes Engagement für Subsahara-Afrika aus den Augen verliert. Es ist daher wichtig, dass wir uns in Deauville mit afrikanischen Staats- und Regierungschefs treffen, um über zukünftige Entwicklungen in Afrika zu sprechen. Ich halte die Partnerschaft mit Afrika für unerlässlich, um die Beteiligung und Verantwortung der afrikanischen Staaten im Hinblick auf die zahlreichen Krisen in Afrika zu stärken. Die Entwicklungspolitik gehört zu den zentralen Themen der G 8. Als bedeutendster Impulsgeber und durch wichtige finanzielle Unterstützung hat die G 8 ihren Beitrag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Dynamik geleistet. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurden von den weltweiten Entwicklungshilfeleistungen, den ODALeistungen, in Höhe von knapp 130 Milliarden US-Dollar allein durch die G 8 über 89 Milliarden US-Dollar aufgebracht. Ich werde mich in Deauville dafür einsetzen, dass die G 8 weiterhin eine treibende Kraft bei der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bleibt. Das Umfeld der Entwicklungspolitik hat sich jedoch grundlegend verändert, nicht nur in den Empfängerländern, sondern auch in der internationalen Geberlandschaft. Dem müssen wir Rechnung tragen, und dem trägt die Bundesregierung Rechnung. Deshalb ist es wichtig - das macht Minister Niebel ganz eindrucksvoll -, ({6}) dass die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit - ({7}) - Ja, gut; es ist Ihnen unbenommen. Schauen Sie sich einmal die organisatorischen Neuordnungen an. Ich glaube, dass die Effizienz der Entwicklungshilfe in den vergangenen Monaten wirklich entschieden besser geworden ist. ({8}) Herr Trittin, das findet übrigens auch international sehr viel Anerkennung. Ich meine zum Beispiel die Umstrukturierung der GTZ, all das, was dort in Gang gebracht wurde. ({9}) Ich nenne gerne die fünf Leitprinzipien: Erstens. Wir brauchen einen neuen Schwerpunkt der Förderung von Entwicklung, statt bloß Hilfe zu leisten. In der Vergangenheit haben wir uns oft zu sehr auf die Weiterentwicklung allein des Instrumentariums der Entwicklungshilfe konzentriert und anderen Rahmenbedingungen nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Zweitens. Die Entwicklung in Nordafrika zeigt uns, dass eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung ohne Einhaltung der Menschenrechte und ohne politische Beteiligung nicht möglich sein wird. Die Einhaltung der Menschenrechte ist deshalb eine unerlässliche Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. ({10}) Drittens. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung der Regierungen der Entwicklungsländer. Dazu gehört für mich ausdrücklich auch die Mobilisierung eigener Einnahmen. Die Geber wiederum müssen ihrerseits bereit sein, mehr Raum für nationale Politiken und Programme zuzulassen und die nationalen Institutionen zu stärken; das ist ganz wichtig. Wenn man sich die Eigeneinnahmequoten, die einige Entwicklungsländer zu verzeichnen haben, anschaut, muss man feststellen: Das ist absolut nicht befriedigend. Es muss immer Hilfe zur Selbsthilfe sein, auch was die Tragfähigkeit staatlicher Institutionen in diesen Ländern anbelangt. ({11}) Viertens. In der Vergangenheit haben wir viel zu sehr ausschließlich darüber geredet, wie viel Geld wir für Entwicklung zur Verfügung stellen, und dabei den Blick auf die Ergebnisse manchmal vernachlässigt. ({12}) Genau sie müssen aber im Mittelpunkt stehen. Denn für die Menschen zählen nur die Ergebnisse des Handelns. Die Finanzierung muss stärker mit den Ergebnissen ver12608 knüpft werden. Gleichzeitig wird so ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, klare Ziele und Ergebnisse zu formulieren und sie tatsächlich zu erreichen. ({13}) Fünftens. Wirtschaftliches Wachstum ist die Grundlage jedes Entwicklungsprozesses; dies hat die G 20 in Korea ausdrücklich anerkannt. Genau dieses Verständnis müssen wir stärken. Meine Damen und Herren, Deauville bietet mir auch die Gelegenheit, meinen japanischen Kollegen, den Ministerpräsidenten Kan, zu treffen. Naoto Kan wird uns zum ersten Mal persönlich die Situation in Japan nach dem verheerenden Erdbeben, dem furchtbaren Tsunami und der unfassbaren Nuklearkatastrophe schildern. Die nukleare Bedrohung durch die Schäden am Kernkraftwerk Fukushima hält unvermindert an. Die Kette schlechter und besorgniserregender Nachrichten reißt nicht ab. Vom ersten Moment an haben wir gespürt: Die Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima, in einem Hochtechnologieland, stellen einen Einschnitt von globaler Tragweite dar. In Deutschland haben wir vor diesem Hintergrund beschlossen, die sieben ältesten Kernkraftwerke für drei Monate vom Netz zu nehmen und in dieser Zeit eine Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke vorzunehmen. Die ersten Ergebnisse der Reaktor-Sicherheitskommission liegen Ihnen vor. Die Ethikkommission wird mir am 30. Mai 2011 ihren Bericht übergeben. Wenige Tage später werden wir die notwendigen Entscheidungen in der Bundesregierung, im Deutschen Bundestag und Anfang Juli schließlich im Bundesrat treffen. Ich möchte hier nicht auf die derzeit laufenden Beratungen eingehen. Wohl aber müssen wir im Auge behalten, dass die Sicherheit der Nutzung der Kernenergie nicht allein mit nationalen Entscheidungen sicherzustellen ist. Wir brauchen eine Überprüfung der Sicherheitsstandards auch auf internationaler Ebene. ({14}) Dazu besteht in der G 8 trotz aller Unterschiede bei der Bewertung der Kernenergie ein breiter Konsens. Die G 8 muss deshalb eine führende Rolle bei der Verbesserung der nuklearen Sicherheit einnehmen. Gerade darüber werden wir heute und morgen beraten. Dabei geht es um eine kritische Überprüfung bestehender und in Planung befindlicher kerntechnischer Anlagen. Auf europäische Initiative hin soll auch auf internationaler Ebene ein sogenannter Stresstest für kerntechnische Anlagen durchgeführt werden. Ich setze mich im Kreis der G 8 dafür ein, bei den Sicherheitsüberprüfungen höchste Standards zugrunde zu legen. Gleichzeitig entwickeln wir die erneuerbaren Energien zu einer tragenden Säule unserer Energieversorgung. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien beschleunigt erreichen. Damit leisten wir auch einen Beitrag dazu, die beschlossenen ehrgeizigen Klimaziele umzusetzen. Alle Industrieländer haben sich auf der Klimakonferenz in Cancún im letzten Jahr verpflichtet, Strategien für das sogenannte Low Carbon Development umzusetzen. Die Entwicklungsländer werden dazu ermutigt. Wir gehen voran, damit andere unserem Beispiel folgen. Die in Cancún beschlossene Vereinbarung gibt den Klimaverhandlungen neue Dynamik. Sie legt das Fundament für ein neues Klimaabkommen, wenngleich der Weg dahin noch weit ist. Genauso klar ist aber auch: Um das jetzt beschlossene 2-Grad-Ziel zu erreichen, müssen wir weit konsequenter handeln, als das bis jetzt vereinbart wurde. Auf dem Weg zur nächsten Konferenz in Durban in Südafrika sind noch viele schwierige Fragen zu beantworten. Der südafrikanische Staatspräsident Zuma wird beim G-8-Gipfel über den Stand der Verhandlungen berichten. Es ist klar: Deutschland ist und bleibt Vorreiter in der Klimapolitik. Wir halten an unserem Ziel fest, ein neues, umfassendes UN-Klimaabkommen zu verabschieden. Das war schon ein wichtiges Anliegen unserer G-8-Präsidentschaft in Heiligendamm. Man muss sagen: Der Fortschritt ist hier an manchen Stellen wirklich eine Schnecke; aber es gibt nur die Möglichkeit, auf diesem Weg weiterzugehen. Meine Damen und Herren, wir werden in Deauville auch über die aktuelle Lage der Weltwirtschaft beraten. Der G-8-Gipfel ist ja von Anfang immer ein Weltwirtschaftsgipfel gewesen. Er ist dies auch unter französischer Präsidentschaft. Die französische Präsidentschaft hat das Thema „Internet - Chancen und Risiken“ zu einem Schwerpunktthema gemacht. Sie hat dazu einen großen Vorgipfel durchgeführt, dessen Ergebnisse uns auf dem G-8-Gipfel präsentiert werden. Auf der einen Seite sehen wir die riesigen Chancen des Internets, gerade wenn es um Demokratie, Transparenz und Informationsfreiheit geht. Auf der anderen Seite ist der Schutz von Eigentum, auch von geistigem Eigentum, und persönlichen Rechten natürlich ein Problem. Die Weltwirtschaft insgesamt steht besser da, als wir das noch vor einiger Zeit erwarten konnten. Der Aufschwung festigt sich, und Deutschland leistet dazu einen spürbaren Beitrag. Das heißt, wir können sagen: Mit all dem, was wir politisch unternommen haben, haben wir einen Beitrag dazu geleistet, die Weltwirtschaftskrise schnell zu überwinden. ({15}) Unsere Wirtschaft wächst 2011 um mindestens 2,6 Prozent; die Zahlen gehen eigentlich nach oben. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt auf unter 3 Millionen sinken. Was ganz interessant ist und was ich besonders den internationalen Partnern sagen werde: Nachdem unser Aufschwung anfänglich sehr stark exportgetrieben war, können wir heute feststellen, dass zwei Drittel des gesamten Wachstums durch eine wachsende Binnennachfrage zustande kommen. Das ist auch an die Weltwirtschaft eine wichtige Mitteilung. Wir haben aber natürlich von offenen Märkten und von unserer Exportkraft profitiert. Es gehört zu den ungelösten Problemen, dass wir bei der Doha-Runde der WTO bis jetzt nicht weitergekommen sind. Wir werden das wieder besprechen. Ich kann nur sagen: Deutschland wird sich mit aller Kraft dafür einsetzen, gemeinsam insbesondere mit Großbritannien, dass diese Doha-Runde zum Ende gebracht wird. Freier Welthandel ist der beste Marktmotor und Wachstumsmotor, den wir uns vorstellen können. Das ist unsere Überzeugung. ({16}) Wir werden auch über Konsolidierungsstrategien sprechen. Deutschland hat mit der Schuldenbremse den richtigen Weg eingeschlagen; denn nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen ist nicht möglich. Deshalb werden wir auch dies noch einmal deutlich machen. Meine Damen und Herren, die Verantwortung für die nationale Wirtschaftspolitik trägt jeder von uns allein. Aber die Ergebnisse und Folgen unseres Handelns sind weltweit spürbar, nicht nur für uns jetzt, sondern auch für kommende Generationen. Das müssen wir stets im Blick haben, und das muss auch der Geist der Diskussionen in Deauville sein. In der G 8, aber genauso auch in der G 20 müssen wir alles daransetzen, gemeinsame Lösungen für die anstehenden Probleme und Krisen zu suchen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung, und dafür werde ich bei den Diskussionen in den nächsten beiden Tagen werben. Herzlichen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, niemand hat Sie gezwungen, heute Morgen eine Regierungserklärung abzugeben. ({0}) Aber ich finde, wenn Sie eine abgeben, dann hat das Parlament mehr verdient als diesen leidenschaftslosen Rechenschaftsbericht. ({1}) Vielleicht habe ich eine andere Wahrnehmung als Sie, aber ich meine, die Welt brennt in diesen Tagen. Der arabische Teil ist in Aufruhr. Wenn mich nicht alles täuscht, dann stehen im Nahen Osten die Zeichen wieder auf Sturm. Pakistan treibt in einen Konflikt mit den USA. Was ist unsere Antwort darauf? Was ist die Antwort des größten Landes in Europa? Was Sie hier vorgetragen haben, ist Außenpolitik in Lethargie. Die Welt erwartet mehr von uns. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, was Sie eben vorgetragen haben, reiht sich in eine Reihe von außen- und europapolitischen Erklärungen ein, die wir in den letzten Monaten von diesem Pult aus von Ihnen gehört haben. Es ist noch keine sieben Monate her, als Sie hier auch über Deauville gesprochen haben. Ein Strandspaziergang mit dem französischen Präsidenten, und ganz Europa war vor den Kopf geschlagen. In Wahrheit sammeln Sie noch heute die Scherben von dem Geschirr ein, das an diesem Tag in Deauville zerschlagen worden ist. So ist es doch, meine Damen und Herren. ({3}) Deauville ist kein Glanzpunkt der internationalen Politik. Es ist eher so etwas wie ein Menetekel für Orientierungslosigkeit in Europa geworden. Bei Lichte betrachtet sind wir innerhalb der noch nicht ganz letzten zwei Jahre von einer anerkannten, respektierten Führungsnation in Europa, die sich selbst die Aufgabe gestellt hat, den täglichen Ausgleich, die Balance in Europa immer wieder neu herzustellen, zu einer Nation geworden, die an die europäische Peripherie geraten ist. Die Kleinen in Europa sind irritiert. Sie wissen nicht mehr, woran sie mit Europa sind, und zweifeln an unserer Verlässlichkeit. Die Großen, Frankreich und Großbritannien, treffen Vereinbarungen an uns vorbei. Glauben Sie mir: Ich sage das nicht einfach so dahin. Ich sage es, weil ich es mir anders wünschte. Aber ein ums andere Mal kommen Sie mit demselben Ergebnis zurück: nichts in der Hand, aber alle gegen sich. ({4}) Für unser Land geht das auf Dauer nicht. Es kostet Respekt und Ansehen, und das aufs Spiel zu setzen, steht nicht in der Verfügungsgewalt dieser Regierung. Wo bleibt der außenpolitische Gestaltungsanspruch dieser Regierung? Das frage ich mich. Was haben wir unseren Partnern und Verbündeten zu bieten? Wo gibt es Initiativen? Wo ist das Konzept? Wo ist Bewegung in irgendeinem der Problembereiche, die Sie beschrieben haben? Wo sind die Ideen, die Bewegung auslösen? Wie wir eben gehört haben, sind Sie in Gipfelroutinen und Erklärungsroutinen erstarrt. Sie fahren zu dem G-8-Gipfel nach Deauville ohne einen einzigen substanziellen Beitrag. Das haben Sie selbst eben vorgetragen. Unterstützen, beitragen, begrüßen - das waren die meistgebrauchten Vokabeln in Ihrer Regierungserklärung. Aber genau das ist zu wenig für ein Land wie Deutschland. ({5}) Ich bin mir sicher: Sie würden mir nicht einmal in allen Punkten widersprechen. Auch Sie spüren in der Tat, dass sich etwas verändert, auch im Verhältnis zu unseren wichtigsten Verbündeten, insbesondere im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Mich würde es sehr verwundern ({6}) - passen Sie auf! -, wenn in den letzten Tagen die Drähte zwischen Washington und Berlin bzw. Berlin und Washington nicht geglüht hätten, wenn nicht verzweifelte Versuche stattgefunden hätten, den amerikanischen Präsidenten wenigstens bei dieser Europareise zu einem Abstecher nach Berlin zu bewegen. Ich weiß doch, dass es jeden Morgen schmerzt, wenn man in diesen Tagen die Bilder aus Irland, die Bilder aus Großbritannien, ab heute Nachmittag die Bilder aus Frankreich und dann aus Polen sieht, aber wieder kein Weg Obamas in die deutsche Hauptstadt führt. Noch schmerzhafter, Herr Kauder, muss doch sein, wenn geschrieben wird: Selbst zu Zeiten von George Bush und Gerhard Schröder war das Verhältnis zu den USA nicht so kraftlos und lethargisch wie heute. Die transatlantischen Beziehungen dämmern dahin. Das ist der traurige Befund. ({7}) Schauen wir zur anderen Seite, Herr Kauder. Schauen wir Richtung Osten. Herr Westerwelle, ich begrüße ausdrücklich das Dreiertreffen, das mit Russland und Polen in Kaliningrad stattgefunden hat. Aber das ist natürlich noch keine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im Osten. In der Großen Koalition, Frau Bundeskanzlerin, hatten wir immerhin die Kraft, so etwas wie eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg zu bringen. Was ist aus dieser Initiative geworden? Wer treibt dieses Thema? Auch da Routine, nichts als Routine! Ich sehe keine neuen Ideen. Bei den bestehenden Vorhaben sehe ich jedenfalls nicht, dass mit Energie weitergearbeitet wird. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns doch wenigstens das seit Monaten dahindümpelnde Visathema - das steht im Grunde genommen jeder Entwicklung im deutsch-russischen Verhältnis in fast allen Bereichen entgegen - mit einer gemeinsamen Initiative aus dem Parlament nach vorne bringen, allen Unterschieden zum Trotz. Da muss es doch gemeinsame Interessen zwischen den Fraktionen dieses Hauses geben. ({8}) Wenn ich von gemeinsamen Interessen spreche: Die gibt es mit Sicherheit und erst recht im Hinblick auf den Nahen Osten. Aber auch da stellt sich die Frage: Wo ist der wahrnehmbare deutsche Beitrag? Ich jedenfalls kann ihn nicht sehen. Es kann doch nicht sein, dass Deutschland sich in die Rolle des Zuhörers begibt, wenn ein amerikanischer Präsident darum ringt, eine Friedenslösung im Nahen Osten doch noch möglich zu machen. Da kämpft Herr Obama - Sie haben das in den letzten Tagen gesehen - mit der Autorität seines ganzen Amtes, und wir stehen an der Seitenlinie. Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber das mit Ovationen im amerikanischen Kongress begleitete Nein Netanjahus zu der Initiative Obamas könnte eine neue Runde im Nahostkonflikt eingeläutet haben. Unsere einzige Antwort, Frau Merkel, kann darauf nicht das angekündigte Nein zur Abstimmung über ein unabhängiges Palästina in der Generalversammlung der Vereinten Nationen sein. Das kann es noch nicht gewesen sein. ({9}) Professionalität ist hier gefragt. Deshalb sage ich: Man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein Ja ankündigen; das weiß ich. Sie wissen, dass mir Israel nicht weniger am Herzen liegt als Ihnen. Aber gerade deshalb ist die öffentliche Festlegung auf ein Nein zum jetzigen Zeitpunkt so etwas wie die Carte blanche für all diejenigen, die keine Verhandlungen wollen. Deshalb war das falsch, meine Damen und Herren. ({10}) In Wahrheit gehören doch der Konflikt im Nahen Osten und die Ereignisse in der arabischen Welt ganz eng zusammen. Ich vermute, so wird es auch auf G-8-Ebene diskutiert. Das, was wir im Augenblick in Nordafrika erleben, ist wahrscheinlich der einschneidendste Wandel in der internationalen Politik seit dem Fall der Mauer. Das passiert nicht irgendwo auf der Welt, sondern an den südlichen Grenzen der Europäischen Union, in der engsten Nachbarschaft zu Europa. Und Europa? Europa ist außerstande, darauf eine wirklich kraftvolle Antwort zu geben - Tage und Wochen von Sprachlosigkeit, von allgemeinen Statements. Es ist ein wenig beschämend für Europa, dass auch hier wieder ein amerikanischer Präsident die Größe der Aufgabe, die vor uns steht, beschreiben muss, konkrete Zeichen der Unterstützung setzt. Das zu beschreiben, was Obama vergangene Woche in seiner Rede getan hat, wäre doch unsere Aufgabe, Europas Aufgabe gewesen. ({11}) Zugegeben: Man kann den Vergleich für schief halten, man kann den Namen für falsch halten, aber natürlich brauchen wir etwas für den Maghreb, das die Qualität eines Marshallplans hat. Eines liegt doch auf der Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Demokratie braucht Demokraten - das weiß aufgrund seiner Geschichte kein Land besser als unseres. Deshalb freuen wir uns für diejenigen, die sich dort Freiheit erkämpft haben, für die Menschen in Tunesien, in Ägypten. Aber es ist eben auch unser Interesse, dass die Freiheit dort bleibt, dass der Weg in Richtung Freiheit und Demokratie dort weiter beschritten wird. ({12}) Deshalb reicht der Schutz vor Flüchtlingen, was in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit Europas das beherrschende Thema war, nicht aus. Das ist keine Antwort. Was nottut, ist eine echte Entwicklungspartnerschaft mit der Maghreb-Region, ausbuchstabiert von der Demokratisierungshilfe in europäischer Arbeitsteilung über den Auf- und Ausbau rechtstaatlicher Verwaltungsstrukturen bis hin zur ökonomischen Entwicklung. Das betrifft die Investitionen, die dort dringend gebraucht werden, aber auch - auch das darf nicht tabuisiert werden - die Öffnung der europäischen Märkte für Waren und Dienstleistungen aus der Region. Außer lauen Ankündigungen war davon nichts zu hören, und das ist eindeutig zu wenig. ({13}) Über Europa werden wir in diesem Hause bei anderer Gelegenheit reden. Reden müssen wir - zum Beispiel darüber, welche Folgen es hat, wenn man bei Auftritten in Brüssel europäische Solidarität verkündet, Sorge um das gemeinsame Ganze äußert, aber dann bei Auftritten im Sauerland den Stammtisch bedient und Vorurteile wider besseres Wissens schürt. ({14}) Dazu wird Gelegenheit bestehen. Heute spielt ein ganz anderer Aspekt eine Rolle. ({15}) - Das ist ein bisschen Ihr Problem. ({16}) - Ich glaube nicht. ({17}) - Warten Sie es ab. Meine Damen und Herren, wie viel Respekt sich ein Land in der Außenpolitik erarbeitet - hören Sie bitte zu -, hängt nicht von der Teilnahme an Gipfeltreffen ab. Das ist kein Gradmesser dafür. Wertschätzung kommt dann zum Ausdruck, wenn zum Beispiel auch deutsches Personal in internationalen oder europäischen Institutionen gefragt ist. ({18}) In Europa haben Sie, wenn ich das richtig sehe, mit dem Verzicht auf den Posten des EZB-Präsidenten, auf den Ihr ganzes Personalpaket zugeschnitten war, gerade erst Ihr Waterloo erlebt. Weil das so ist, präsentieren Sie jetzt offenbar vor lauter Angst, dass es wieder schiefgehen würde, und präsentieren damit wir als größte Volkswirtschaft in Europa keinen eigenen Kandidaten für den IWF-Posten. ({19}) Das ist Angst, und das kann nicht die Rolle unseres Landes sein. Zuhören und begrüßen, das ist nicht das, was wir von der Bundesregierung bei solchen Gipfeln erwarten. ({20}) Eines ganz zum Schluss. Zu Hause sind Sie im Augenblick heftig dabei, Ihre jahrelangen Irrtümer in der Energiepolitik zu beseitigen. Was Sie im Augenblick tun, ist nicht die Vorbereitung einer Energiewende; darauf lege ich Wert. Die Energiewende gab es bis zum letzten Herbst. Der Atomausstieg stand im Gesetz, und die erneuerbaren Energien sind gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt worden. Das war die Energiewende. ({21}) Was wir jetzt sehen, ist nicht die Energiewende, das ist Ihre Wende, die Wende von Union und FDP, die Sie jetzt zur nationalen Angelegenheit erklären. Das ist ein durchsichtiger Trick. Den wird Ihnen die Öffentlichkeit in diesem Land nicht durchgehen lassen. ({22}) Wer so etwas tut, der ringt ganz offenbar um Glaubwürdigkeit, die ihm in den letzten Monaten irgendwie abhandengekommen ist. Wenn Sie nach den vielen Volten, nach den Pirouetten, nach den Kehrtwendungen, über die wir in den letzten Tagen und Wochen immer wieder gestritten haben, jetzt Glaubwürdigkeit in der Energiepolitik zurückgewinnen wollen, dann hätte ich doch wenigstens zu diesem Bereich heute Morgen von Ihnen Konkretes erwartet in der Frage, was Sie im Rahmen der G 8 tun wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass man dann eine glaubwürdige Initiative im internationalen Rahmen von G 8 startet. Wir werden - das weiß auch ich, das wissen auch wir - nicht den Rest der Welt von heute auf morgen davon überzeugen können, dass wir auf Atomkraft verzichten - trotz Fukushima. Aber was ich nach der innerdeutschen Debatte der letzten Tage und Wochen doch erwartet hätte, das ist eine deutsche Initiative - hier sichtbar, hier heute Morgen diskutiert zu Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraftwerken weltweit. ({23}) Stattdessen freuen Sie sich, dass Sie Ihren japanischen Kollegen in Deauville treffen; das ist eindeutig zu wenig. ({24}) Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung heute Morgen erlaubt einen tieferen Einblick in die deutsche Außenpolitik dieser Tage, als Sie vielleicht wollten, und das genau erfüllt nicht nur die Opposition in diesem Hause mit Sorge. Herzlichen Dank. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP-Fraktion erhält das Wort nun der Kollege Rainer Brüderle. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Steinmeier, Sie haben heftig die Regierung kritisiert. Aber was Sie und die SPD anders machen wollen, haben Sie nicht gesagt. ({0}) Ihre größte außenpolitische Anstrengung derzeit scheint zu sein, Ihren Konkurrenten als Kanzlerkandidaten, Herrn Steinbrück, wegzuloben, ({1}) und nicht, konkrete Wege aufzuzeigen, wie anders gehandelt werden kann. ({2}) Meine Damen und Herren, der G-8-Gipfel in Deauville steht im Zeichen des Kampfes für die Freiheit. Die G 8 muss sich als Wertegemeinschaft, als moralische Autorität verstehen. Die Kraft der Freiheit bricht sich im Norden Afrikas und im Nahen Osten Bahn. Menschen riskieren Leib und Leben für Freiheit und Selbstbestimmung. Wir müssen diese Freiheitsbewegung mit aller Kraft unterstützen. Deshalb ist es richtig, den alten Machthabern ihre Grundlagen zu entziehen. Die EU hat zu Recht ein Einreiseverbot und Vermögenssperren über den syrischen Präsidenten verhängt. Die EU hat zu Recht starke Zeichen gesetzt und in Bengasi ein Verbindungsbüro eröffnet, wie es Außenminister Westerwelle auch für Deutschland getan hat. Die EU verschärft zu Recht die Sanktionen gegen den Iran und andere Unrechtsregime. Wir dürfen nicht zulassen, dass Staatsterrorismus Freiheiten mit Füßen tritt. Wer brutal seine eigene Bevölkerung in Geiselhaft nimmt, muss mit harten Maßnahmen rechnen. Da muss Deutschland stehen, da muss Europa stehen, da muss die G 8 stehen. ({3}) In Tunesien und Ägypten können die Menschen die Kraft der Freiheit schon stärker spüren. Freiheit ohne Marktwirtschaft ist nicht denkbar. Wir müssen und können helfen, die dortigen Kommandowirtschaftsstrukturen auf Marktwirtschaft umzustellen. Wenn wir dies nicht schaffen, gibt es eine Abstimmung mit den Füßen. Eine ungesteuerte Migration ist nicht im Interesse der Europäischen Union. Wir müssen rasch Angebote für partnerschaftliche Zusammenarbeit auf den Weg bringen, wie es das Bundeswirtschaftsministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit getan haben. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ist ein gutes Instrument. Sie hat beim Fall des Eisernen Vorhangs und bei der Osterweiterung geholfen; sie kann jetzt in Nordafrika helfen. Deutschland und die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben besondere Erfahrungen mit Transformationsprozessen. Wir sollten deshalb das Wissen früherer Manager und vielleicht auch pensionierter und aktiver Beamter mit einbringen und Projektteams bilden, die diesen Prozess vor Ort konkret unterstützen können, und zwar im Interesse dieser Länder, aber auch im Interesse von Deutschland und Europa. ({4}) Das Leitprojekt Desertec, das nicht nur eine Zusammenarbeit im Energiesektor darstellt und eine Brücke zu unseren Nachbarn in Nordafrika schlagen kann, ist ein Zeichen, dass wir es mit der Hilfe ernst meinen, zu Marktstrukturen, zu Entwicklungsprozessen und zu Chancen der Freiheit vor Ort zu kommen. Freiheitsbewegungen brauchen eine Ergänzung durch freien Handel. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht auf den Doha-Prozess, auf die Welthandelsrunde, hingewiesen. Da müssen einige Gipfelteilnehmer auch in Kauf nehmen, dass es im Agrarsektor und in der Textilindustrie vielleicht Probleme gibt, und sich dazu durchringen, dass die Welthandelsrunde noch ein Erfolg wird. Marktzugang und Verbesserung des Welthandels sind eine Chance, Armut zu bekämpfen. Freiheitsbewegungen brauchen Ergänzung durch freien Handel. ({5}) Die G 8 sollte den Generalsekretär der WTO, der Welthandelsorganisation, beauftragen, ein Kompromisspapier zu erarbeiten. Das ist die einzige Chance, den Prozess noch zu retten. So hat man es auch bei der UruguayRunde mit Erfolg gemacht. Inzwischen ist das Kraftzentrum der Weltwirtschaft die G 20; die G 8 ist das nicht mehr wie in der Vergangenheit. Zur G 20 gehören China, Indien und Brasilien. Damit die G 8 nicht eines Tages zu einem Veteranentreffen wird, muss Europa wieder mehr Power entfalten und mehr Kraft einbringen. Nicht Europa aufzuhübschen, sondern es aufzufrischen, ist die Aufgabe. Deshalb müssen wir uns für den gemeinsamen Markt, offene Grenzen und eine starke Währung in Europa einsetzen, auch wenn wir nicht für jede Maßnahme, die notwendig ist, sofort den Beifall aller Nachbarn bekommen. Es gilt jetzt, das Richtige zu tun, damit Europa den richtigen Weg geht, wieder stärker wird und mehr Gewicht einbringen kann. Es geht nicht darum, kurzfristig den Beifall von einigen zu bekommen. ({6}) Das Aussetzen des Schengener Abkommens wäre ein Zeichen der Schwäche, kein Zeichen der Stärke. Europa muss zu seinen Werten stehen und sie verteidigen; Europa darf nicht zur Festung werden. Offene Grenzen und freier Verkehr sichern die Zukunftsfähigkeit Europas. Ein starkes Europa ist deutsche Staatsräson, und auch die Stabilität der Währung, des Euros, ist deutsche Staatsräson. Die Menschen in Deutschland haben zweimal Währungsschnitte erleben müssen. Deshalb sitzt das Empfinden um Geldwertstabilität quasi im Gencode unseres Landes. Diese Stabilität ist ein tiefes Anliegen der Menschen, und sie ist auch notwendig, damit Europa sich richtig entwickeln kann. In der Marktwirtschaft steuert man Produktion und Entscheidungsprozesse über die Knappheitsgrade, die in Preisen widergespiegelt werden. Wenn die Preise nicht stimmig sind, steuern wir falsch. Deshalb ist der deutsche Kampf um einen richtigen Rahmen beim ESM, bei der Entwicklung des Euros so entscheidend, auch wenn dies nicht sofort - ich wiederhole es - Beifall von jedem bringt. Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Stabiler Geldwert ist für die Gerechtigkeit notwendig; Inflation ist eine soziale Ungerechtigkeit. Deshalb muss Deutschland diesen klaren Kurs des ESM beibehalten. Der europäische Stabilitätsmechanismus darf kein neokeynesianischer Weichmacher werden. ({7}) Ich erinnere an Folgendes: Es war Gerhard Schröder, der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet hat. Das möchte ich all denen ins Stammbuch schreiben, die uns Europopulismus vorwerfen. Herr Schröder hat in seiner Regierungszeit versucht, zu erreichen, dass sich seine Prophezeiung erfüllt. Es war Rot-Grün, das die Aufweichung der Maastricht-Kriterien möglich gemacht hat, und es war Rot-Grün, das Griechenland in die EuroZone aufgenommen hat. Das ist die Wahrheit. ({8}) Die griechischen Berechnungen zur Erfüllung der Maastricht-Kriterien beruhten nicht auf Pythagoras, sondern eher auf Alexis Sorbas. ({9}) Rot-grüne Währungspolitik fasst man am besten folgendermaßen zusammen: Note in Sparen: 4 bis 5; Note in Statistik: 5 bis 6. Schwarz-Gelb macht das anders. ({10}) - Oberlehrer? Sie wollen doch dem deutschen Wesen Geltung verschaffen; das haben wir doch gerade gehört. Alle Welt soll sich nach deutschen Kriterien entwickeln - das hat Herr Steinmeier doch vorgetragen -, sei es in der Energiepolitik oder in der Wirtschaftspolitik. All das soll von Deutschland bestimmt werden. Er ist der deutsche Oberlehrer, der lehrt, dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll. ({11}) Schwarz-Gelb macht das anders. Für uns ist Deutschland der Währungshüter in der Europäischen Union. Hinsichtlich Griechenlands ist mittlerweile von der sanften Umschuldung die Rede. Die griechischen Wirtschaftszahlen sprechen für sich. Da braucht man nicht Pythagoras; da genügt Adam Riese. Der Bundesfinanzminister hat Bedingungen für eine sanfte Umschuldung genannt, etwa die Beteiligung privater Gläubiger. Ich sage: Der Bundesfinanzminister hat die FDP-Fraktion an seiner Seite, wenn er eine sanfte Umschuldung hart, aber fair umsetzt. ({12}) Meine Damen und Herren, Deauville kann und muss das Signal der Freiheit sein. Man kann sie nicht unterdrücken. Man kann sie verzögern, aber nicht verhindern. Wir haben in unserer Nachbarschaft, im Nahen Osten, in der arabischen Welt, eine Entwicklung, von der wir vor kurzem nicht zu träumen gewagt hätten. Deshalb gilt es jetzt, Farbe zu bekennen, Partnerschaft auszuüben, mit dabei zu sein, klare Positionen zu beziehen, im Dialog die Möglichkeiten zu schaffen, damit die Wünsche und Vorstellungen Realität werden. Dazu muss man aber auch den Mut haben, in Europa selbst Fesseln abzulegen, indem man hier die Behinderungen der europäischen Entwicklung beseitigt, indem man auf das Beispiel setzt, dass eine Wertegemeinschaft, wie sie die Europäische Union ist, erfolgreich wirtschaftliche Kraft entfalten kann und dass unser Weg, unser Modell in Europa überzeugend ist. Die Entwicklungen in Nordafrika und anderen Regionen der Welt, diese Freiheitsbewegungen, wären ohne das Beispiel des europäischen und auch des deutschen Weges, mit Freiheit Kraft zu entfalten und dadurch Arbeit und Zukunft zu schaffen, nicht auf den Weg gekommen. Wir haben mit unserem Beispiel die Kraft der Freiheit freigesetzt. Deshalb sind wir aus Überzeugung dabei, dies in die Realität umzusetzen. Herr Kollege Steinmeier, dabei sollten alle mitmachen. Das ist ein Thema, das sich nicht für Parteitagsoder Wahlkampfreden eignet, sondern hier muss das Parlament solidarisch hinter der Kanzlerin stehen. Sie hat einen klaren Weg aufgezeigt. Die Regierungsfraktionen unterstützen sie dabei. Ich bin sicher, sie wird auch mit guten Ergebnissen aus Deauville zurückkommen. Deauville bietet die Chance, dass wir in der Technologie, in der Freiheitsbewegung, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vorankommen. Ohne Armutsbekämpfung wird die Freiheitsbewegung auf Dauer keinen Erfolg haben. Deshalb ist es notwendig, das Richtige zu tun. Man kann nicht für jede Maßnahme jeden Tag Beifall bekommen. Entscheidend ist, dass am Schluss eines Entscheidungsprozesses das richtige Ergebnis steht, dass wir die richtige Einstellung haben, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen, dass wir für die richtigen Werte kämpfen und arbeiten. Nicht kurzfristiger Beifall, sondern klarer Kurs ist das, was wir in Europa, was wir in der Welt brauchen. Dafür steht diese Regierung. ({13}) Das hat sich bei der hervorragenden Wirtschaftsentwicklung Deutschlands gezeigt. Das ist der Markenkern der schwarz-gelben Regierung. ({14}) - Ja, die ganze Welt beneidet uns um diese wirtschaftliche Entwicklung. ({15}) Die Einzigen, die lachen, sind die, die nicht ertragen können, dass eine deutsche Regierung erfolgreich ist. Das sind Sie! ({16}) Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, erinnere ich noch einmal an den Überbau der Regierungspolitik der schwarz-gelben Koalition: Kurs halten, durchsetzen, nicht irritieren lassen. Das setzt sich durch. Klare Orientierung bringt Erfolg. ({17}) - Ach, die SPD hat ja so viele Probleme. Schreien Sie mal nicht so laut. Sie sind ja froh, wenn Sie noch Juniorpartner der Grünen sind. ({18}) Also: Kopf hoch! Wir halten weiter Kurs. Freuen Sie sich, dass Sie in Deutschland dabei sein dürfen. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen wie immer gerne zugehört. Zum Inhalt sage ich besser nichts. Ich habe aber eines festgestellt: Nur in unserer Altersgruppe kommt wirklich Leidenschaft hoch. ({0}) Das war deshalb so angenehm, weil Ihre Rede, Frau Bundeskanzlerin, völlig leidenschaftslos war. Das hing übrigens auch mit dem Inhalt zusammen. Das Problem beim G-8-Gipfel besteht ja schon darin, dass Sie dort wesentliche Entscheidungen für die ganze Erde treffen wollen. Ich frage mich immer: Mit welcher Legitimation? ({1}) Wer hat eigentlich acht Regierungschefs und Präsidenten berufen, Entscheidungen für die ganze Erde zu treffen? Sie lassen die Schwellen- und Entwicklungsländer aus. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Mit welchen Themen wollen Sie sich beschäftigen? Mit der Lage der Weltwirtschaft und mit den demokratischen Bewegungen in Tunesien, in Libyen, in Ägypten, in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Letzteres ist wirklich ein in jeder Hinsicht interessantes, aufwühlendes und spannendes Thema. Ich sage hier im Namen der Linken, dass wir all den demokratischen Bewegungen in diesen Ländern größte Sympathie und unsere Solidarität entgegenbringen. ({2}) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat entschieden, in Libyen Krieg zu führen. Die NATO-Staaten tun das. Diese Regierung hat vernünftigerweise dafür gesorgt, dass sich Deutschland der Stimme enthalten hat. Ich hätte mir gewünscht, dass sie sogar mit Nein gestimmt hätte. Aber immerhin, sie hat sich der Stimme enthalten und damit nicht Ja gesagt und nimmt an diesem Krieg auch nicht teil. Ich habe festgestellt, dass jetzt zwei Länder ständig den Krieg kritisieren, nämlich China und Russland, die aber vergessen, zu erwähnen, dass sie Vetomächte sind. Wenn sie es nicht gewollt hätten, wäre der Beschluss des Sicherheitsrates überhaupt nicht zustande gekommen. ({3}) Jetzt erleben wir, dass schwerste Luftangriffe geflogen werden. Dabei werden auch unschuldige Menschen getötet. Die Kriegslogik dominiert. Der Krieg wird immer härter. Von Anfang an haben wir bei diesem Krieg wie auch bei den anderen Kriegen gesagt: Krieg löst keine Probleme; er schafft nur neue Probleme. Das wird jetzt täglich in Libyen bewiesen. ({4}) Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen: Die Grünen und die SPD hätten für den Krieg gestimmt. Cem Özdemir hat mir bei Hart aber fair ganz klar gesagt, er hätte im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt. Die fünf großen Friedensforschungsinstitute in Deutschland haben jetzt ein Friedensgutachten 2011 vorgelegt. Darin sagen sie: Es gibt eine unkalkulierbare Eskalation des Krieges. Sie fordern sofortige Verhandlungen ohne Vorbedingungen, um die Gewalt zu beenden. Ich habe eine weitere Frage. Die Regierung in Libyen hat viele unschuldige Demonstranten erschossen. Aber das macht doch auch die Regierung in Syrien, das macht auch die Regierung im Jemen, und das macht auch die Regierung in Bahrain. Warum kommen Sie eigentlich nur bei Libyen auf die Idee, Bomben zu werfen, aber bei den anderen Ländern nicht? Wenn Bomben den Demonstranten angeblich helfen - das bezweifle ich energisch; aber das scheint Ihre Auffassung zu sein; Cem Özdemir hat klar gesagt, er sei für diesen Krieg gewesen -, warum gilt das dann nicht für die anderen Länder? Hier kommen mir doch üble Gedanken, und zwar dergestalt, dass Libyen viel Öl hat. Syrien und Jemen haben kein Öl. In Bahrain liegt ein strategisch wichtiger Militärstützpunkt der USA. Daraus erklärt sich die unterschiedliche Herangehensweise. Das ist höchst unglaubwürdig. Krieg darf nie das Mittel unserer Politik werden. ({5}) In Bahrain sind saudi-arabische Truppen einmarschiert und schießen dort auf Demonstranten. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Frage ans Fernsehen. Ich sehe Bilder aus dem Jemen, ich sehe Bilder aus Syrien, und ich sehe viele Bilder aus Libyen, aber nie Bilder aus Bahrain. Warum eigentlich sollen unsere Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer nicht sehen und erfahren, was dort passiert? Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine andere Politik auch in Bezug auf Nordafrika und in Bezug auf die arabische Welt. Die Unterstellung, die es früher immer gab, arabische Völker wollten keine Demokratie, ist jetzt widerlegt. Überall gibt es starke demokratische Bewegungen, die wir unterstützen müssen. Ich sage noch etwas: Wer endlich Frieden im Nahen Osten will, muss die Zweistaatenlösung unterstützen. Wir brauchen einen lebensfähigen Staat Palästina und einen sicheren Staat Israel. Wer das eine oder das andere nicht will, will auch keinen Frieden im Nahen Osten. ({6}) Hier hat Herr Steinmeier völlig recht, Frau Bundeskanzlerin: Es geht nicht, dass Sie sich bei dieser Frage - Sie haben hier nur ganz beiläufig die Rede Obamas erwähnt - heraushalten. Nein, wir müssen sagen: Es ist richtig, der Staat Palästina muss in den Grenzen von 1967 gegründet werden. Wenn es einen Gebietsaustausch gibt, dann muss er zwischen Israel und Palästina vereinbart werden. Wer jetzt diesen Weg nicht gehen will, der schadet nicht nur den Palästinenserinnen und den Palästinensern, der bringt auch den Israelis keinen Frieden. Deshalb brauchen wir für beide Völker diesen Weg. ({7}) Wir müssen auch unsere Rüstungsexportpolitik neu durchdenken; ich komme wieder einmal darauf zurück. Mit Genehmigung der Bundesregierung gab es Rüstungsexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro, an Ägypten im Wert von 144 Millionen Euro, an Bahrain im Wert von 184 Millionen Euro und an SaudiArabien im Wert von 441 Millionen Euro, und zwar in der Zeit von 2006 bis 2009. Der Spitzenreiter sind übrigens die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie bekamen Rüstungsexporte im Wert von 846 Millionen Euro. Ich sage es noch einmal ganz klar: Die libysche Armee hat gegen Demonstranten aus dem eigenen Volk auch mit deutschen Waffen gekämpft. Die saudische Armee kämpft mit deutschen Waffen in Bahrain gegen Demonstrantinnen und Demonstranten. Wir haben jetzt einen Antrag eingebracht, die Rüstungsexporte in diese Länder zu verbieten. Ich bin sehr gespannt, wie Ihre Fraktionen darüber entscheiden. Wir werden darüber namentlich abstimmen lassen, weil mich interessiert, ob wir immer noch keine Schlussfolgerungen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben und tatsächlich noch Geschäfte mit Krieg machen wollen, anstatt endlich damit aufzuhören. ({8}) Nun wollen Sie weiter über die Lage der Weltwirtschaft sprechen. Das ist übrigens ohne China sehr schwer; ich weiß gar nicht, wie Sie das machen wollen. Außerdem gehören auch Länder wie Brasilien und Indien dazu; aber das lasse ich einmal weg. Es gibt zwei Themen, die Sie erörtern wollen, nämlich zum einen die weltweiten Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen und zum anderen die gigantische öffentliche Verschuldung von Staaten auch infolge der Finanz- und Bankenkrise. Da sind wir wieder beim Thema Griechenland. Griechenland ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit, kurzum: am Rande der Pleite. Nun hatten Sie doch lauter Maßnahmen beschlossen und haben gesagt, sie seien alle so genial und damit seien alle Probleme gelöst. Nun sind die Probleme aber nur verschärft worden. Wann nehmen Sie das denn einmal zur Kenntnis und korrigieren diese Politik? Was wären denn die alternativen Wege, die wir diesbezüglich gehen könnten? Ich halte nichts davon, dass Sie immer wieder versuchen, Griechenland - genauso wie Spanien, Portugal, Irland und andere Länder - unter Druck zu setzen, indem Sie sagen: Es muss Sozialabbau betrieben werden; die Löhne müssen gesenkt werden; das ganze öffentliche Eigentum muss verkauft werden. Ich glaube, dass das nicht geht. Ich glaube auch, dass man einen Staat so gar nicht sanieren kann; denn Sie sorgen damit dafür, dass die Steuereinnahmen ständig zurückgehen. Das heißt, Griechenland wird dadurch nur noch - wenn es eine Steigerung von „pleite“ gäbe „pleiter“. ({9}) Genau diesen falschen Weg gehen Sie bei all diesen Staaten. ({10}) - Ja, was denn? Bei Griechenland ist es ganz einfach: Die sollen jetzt die Flughäfen, die Seehäfen, die Telefongesellschaften, die Post verkaufen. ({11}) Wenn man das alles privatisiert, dann gehört der öffentlichen Hand gar nichts mehr. Glauben Sie ernsthaft, dadurch die Probleme Griechenlands lösen zu können? Ganz im Gegenteil: Sie verschärfen damit die Probleme. ({12}) Es kommt aber etwas hinzu: Weder die Bevölkerung Griechenlands noch die Bevölkerung Spaniens ist bereit, sich das bieten zu lassen. Werfen Sie doch einmal einen Blick nach Spanien! Wer von Ihnen will mir eigentlich sagen, was dabei herauskommt? Wer von Ihnen kann überhaupt einschätzen, welche gesellschaftspolitischen Entwicklungen dort stattfinden? Wenn diese Länder aber in immer tiefere Krisen geraten, dann doch auch Deutschland. Wir müssen endlich einen anderen Weg für Europa und für unser Land finden; das will ich Ihnen gerne sagen. ({13}) Ihr Weg ist klar. Sie sagen: Alles privatisieren, Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen runter! Sie meinen, dadurch würde Griechenland gesund werden. Was Sie erzählen, ist albernes Zeug; das Gegenteil ist richtig. Wir müssen folgende Wege gehen: Erstens. Es fängt damit an, dass wir einen riesigen Exportüberschuss auch im Verhältnis zu Griechenland haben; wir sind Vizeweltmeister beim Export. Warum sind wir Vizeweltmeister? Ich kann es Ihnen sagen: Weil nur in Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn Jahren um 4,5 Prozent gesenkt worden sind, weil nur in Deutschland die Realrenten in den letzten zehn Jahren um 8,5 Prozent gesenkt worden sind, weil hier so viel privatisiert worden ist. Dadurch sind wir im Angebot billig geworden. Das aber hat Griechenland mit ruiniert; denn es kann sich nicht mehr mit der Abwertung seiner Währung wehren, weil wir gemeinsam mit Griechenland den Euro haben. Wir müssen einmal begreifen, dass wir einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung haben. Da muss man anders miteinander umgehen, als Sie das getan haben. ({14}) Zweitens. Wir brauchen einen Marshallplan. Ich sage Ihnen einmal, was die EU hatte: Sie hatte einen Sozialund Strukturfonds für ärmere Regionen. Darüber bekommen auch heute noch die ostdeutschen Bundesländer, Berlin und Bremen Geld; aber dieser Fonds läuft im Jahre 2013 aus. Frau Bundeskanzlerin, wo bleibt denn Ihre Initiative, um klarzustellen, dass wir in der Europäischen Union wieder einen Solidaritätsfonds benötigen, und zwar einen Fonds, der noch größer ist und auch anderen Ländern helfen kann. Im Übrigen sind auch die ostdeutschen Länder, Berlin und Bremen nach wie vor darauf angewiesen. Es gibt aber keine Initiative dazu; da wird einfach dichtgemacht. Hier kann ich einen zweiten Schritt nennen. Die Europäische Zentralbank darf Kredite nur an Privatbanken vergeben, nicht an Staaten. Sie müssen sich doch einmal überlegen, welch ein Gipfel der Unverschämtheit da stattfindet: Die Deutsche Bank erhält von der Europäischen Zentralbank einen Kredit für 1,25 Prozent Zinsen, kauft mit diesem Geld für die Dauer von zehn Jahren Staatsanleihen bei Griechenland und erhält dann 17 Prozent Zinsen. Das ist ein Reibach, der von der Europäischen Union organisiert und von der Bundesregierung genehmigt wird. Warum sagen Sie denn nicht: „Gut, dann ändern wir den Vertrag; die EZB - meinetwegen gründet man auch eine andere Bank - kann Direktkredite zu günstigen Zinsen an Griechenland vergeben“? Das wäre eine Hilfe für das Land und nicht der Weg, den Sie hier beschreiten. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin gleich fertig. Ich sage nur noch: Im Übrigen gibt es in Griechenland auch Milliardäre und Millionäre. Sie werden steuerlich so herangezogen wie in Deutschland, nämlich so gut wie gar nicht. Auch das ist ein falscher Weg. Sie denken immer nur an die Beschäftigten. Die sollen zur Kasse gebeten werden. Sie selber wollen die Schulden, die in der Finanzkrise angehäuft wurden, abbauen. Dazu wollten Sie eine Finanztransaktionsteuer einführen. Die hat Herr Schäuble aber gerade beerdigt. Dann haben Sie noch gesagt: Die Brennelementesteuer ist wichtig. ({0}) Die haben Sie aber auch beerdigt. Ich sage Ihnen, wer das Ganze bezahlt: die Arbeitslosen. ({1}) Mit dieser Politik kommen Sie nicht durch. Das werden Sie auch bei den nächsten Wahlen erleben. ({2}) - Natürlich. Sie haben das Elterngeld gestrichen. Sie haben Mittel für weitere Maßnahmen gestrichen. Sie haben in gigantischem Maße gekürzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Herr Kollege Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Kollegen reizen mich, Herr Präsident, immer wieder zu erwidern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das ist ja wahr.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber ich verstehe Sie, Herr Präsident. Sie wollen auf die Zeit achten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wenn die wechselseitige Begeisterung zwischen Ihnen und Volker Kauder nur von mir zu stoppen ist, dann muss ich das jetzt halt tun. Es ist vorbei.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben recht, Herr Präsident, aber Sie müssen zugeben: Seine Begeisterung für mich nimmt ständig zu. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun kann der Kollege Volker Kauder diese Begeisterung höchstselbst am Podium des Deutschen Bundestages zum Ausdruck bringen. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der G-8-Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat ein Schwerpunktthema, Herr Gysi. Dazu haben Sie nichts gesagt, weil Sie zu Menschenrechten und Religionsfreiheiten kein richtiges Verhältnis haben. ({0}) Der Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat neben Menschenrechten ein weiteres zentrales Thema, auf das der Kollege Brüderle hingewiesen hat und zu dem Sie auch nichts sagen können, nämlich Freiheitsbewegungen von Menschen, die eine neue Perspektive wollen. Das sind die Hauptthemen, um die es bei diesem Gipfel geht. Der Fraktionschef der SPD, Herr Steinmeier, hat heute gesagt, die Bundesregierung habe keinen richtigen Plan. ({1}) Ich wäre da ganz vorsichtig - ich weiß nicht, wo Herr Steinmeier sitzt; da hinten sitzt er -; denn die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben schon sehr früh, unmittelbar nach den Ereignissen in Nordafrika, in der EU die Transformationspartnerschaft auf die Tagesordnung gesetzt. ({2}) Noch bevor der amerikanische Präsident das Wort in den Mund genommen hat, hat diese Bundesregierung das Thema in Europa auf die Tagesordnung gesetzt. ({3}) Das Amt trübt zwar manchmal den Blick, Herr Steinmeier, aber trotzdem muss man fair bleiben und die Wahrheit sagen. Europa hat gleich den richtigen Weg eingeschlagen. Wenn wir diese Transformationspartnerschaft jetzt angehen, werden wir sehen, was wirklich erforderlich ist. Der Kollege Polenz war vor einer Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Ägypten; ich war am vergangenen Wochenende zu politischen Gesprächen in Kairo. Dort haben wir einen ganz anderen Eindruck gewonnen als den, den Herr Steinmeier an diesem Rednerpult zum Ausdruck gebracht hat. Die Menschen setzen auf Europa, und sie setzen vor allem auf Deutschland. Sie haben gesagt: Das Wichtigste, was wir jetzt brauchen, ist Bildung, weil wir dadurch eine Perspektive bekommen. Mehr als 50 Prozent der jungen Menschen in Ägypten sind Analphabeten. Die Menschen sagen: Wir haben ohne Bildung keine Perspektive. Im Zusammenhang mit Bildung fällt ihnen vor allem ein Land ein, und das ist Deutschland mit seinem dualen Ausbildungssystem, auf das sie setzen. ({4}) Deswegen ist es völlig richtig, wenn die Bundeskanzlerin sagt: Das wird ein Schwerpunkt sein. Ich möchte anregen, dass wir uns innerhalb der Bundesregierung mit der Frage beschäftigen, was wir tun können, um Auslandsschulen auszubauen und sie in die Lage zu versetzen, mehr Menschen auszubilden. Im Übrigen, lieber Herr Kollege Brüderle, sage ich zu dem Thema Fachkräfte, über das wir häufig diskutieren: Die jungen Leute, die in deutschen Auslandsschulen ausgebildet worden sind, sind die besten Fachkräfte, die wir dann auch holen können. ({5}) Schulen und Perspektiven sind zwei Punkte, die miteinander verbunden werden müssen. Das brauchen wir jetzt in Nordafrika. ({6}) Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass sie morgen auch den ägyptischen Ministerpräsidenten trifft. Wir haben uns in Ägypten mit jungen Muslimen, mit Vertretern der Muslimbrüder und jungen koptischen Christen getroffen. Dort ist man sich grundsätzlich darüber einig, dass an erster Stelle nicht eine bestimmte Religionszugehörigkeit steht, sondern der Wunsch, dass Ägypter Ägypten voranbringen. Das hindert uns natürlich nicht daran, die Situation in Ägypten genauer zu betrachten - dazu muss an den beiden Tagen in Deauville ein klares Wort gesagt werden -: Es gibt in Ägypten ein Sicherheitsvakuum. Die koptischen Christen machen sich zu Recht Sorgen um ihre Sicherheit. Es hat erneut Angriffe auf koptische Christen und Kirchen gegeben. Der jetzige Ministerpräsident darf in Deauville nicht nur sagen: Wir brauchen diese oder jene Hilfe. Er muss vielmehr bereit sein, koptische Christen vor Übergriffen zu schützen. Das Sicherheitsvakuum darf nicht zulasten der Christen in Ägypten gehen. ({7}) Natürlich nehmen wir die Entwicklung, die in Ägypten stattgefunden hat, wahr. Wir sollten dennoch nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Es ist völlig klar, dass man sich dort noch viele Jahre auf dem Weg zu einer Demokratie, wie wir sie uns vorstellen, befindet. Deswegen sind der Rechtsstaatsdialog und der Politikdialog mit Ländern wie Ägypten von großer Bedeutung. Wir werden feststellen, dass alle Muslime, auch die moderaten, als Grundsatz formulieren: Ägypten wird ein Staat sein, in dem die Grundlagen der Scharia die Grundlagen des Rechts sind. Da sollten wir uns keiner Täuschung hingeben; das wird auch in einer neuen Verfassung genau so formuliert werden. Umso wichtiger ist es, dass wir sagen: Eine solche Rechtssituation darf nicht dazu führen, dass eine starke Minderheit - die Christen machen immerhin 10 Prozent der Bevölkerung in Ägypten aus - bei einer solchen Entwicklung unter die Räder kommt. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen müssen wir immer wieder ganz genau hinschauen. ({8}) In Deauville wird auch die Situation im Nahen Osten ein wichtiges Thema sein. Auch hier muss ich sagen: Herr Kollege Steinmeier, Sie irren sich total, was die Zusammenarbeit in Europa und mit den Amerikanern anbelangt. Aus Ihrer Zeit als Außenminister wissen Sie doch ganz genau, dass ohne Amerika eine Klärung der Situation im Nahen Osten gar nicht möglich ist. Nach dem Motto zu verfahren: „Die Bundesregierung soll das Problem im Nahen Osten lösen“, ist Kinderträumerei und hat mit der Realität ganz und gar nichts zu tun. ({9}) Es bleibt dabei, dass wir unseren Einfluss ausüben müssen. Eine gewisse Sorge bereitet es, wenn man die jungen Menschen in Nordafrika - Christen und Muslime über die Situation vor Ort reden hört. Diese jungen Menschen sagen: Das, was uns dazu gebracht hat, auf die Straße zu gehen - bessere Perspektiven im Leben zu haben, für Freiheit zu streiten -, das fühlen wir auch bei den jungen Palästinensern. Deswegen erwarten wir, dass auch sie eine Perspektive erhalten. Ich kann nur sagen: Die Sorgen Israels sind groß im Hinblick auf die Situation in Nordafrika. Israel sollte darauf eine Antwort geben, und zwar dahin gehend, dass man nach einer Friedenslösung sucht. Sich abzuschotten, macht überhaupt keinen Sinn. Das werden die neuen jungen Bewegungen in Nordafrika nicht hinnehmen. Deswegen müssen wir als Deutsche den Transformationsprozess begleiten. Nur zu sagen, wie es Netanjahu tut: „Wir machen weiter wie bisher“, wird diese junge, starke, nach Freiheit strebende Generation in Nordafrika nicht zufriedenstellen. ({10}) Weil wir die Sorgen Israels teilen, weil das Existenzrecht Israels eine feste Größe für uns in der deutschen Politik ist, müssen wir mit unseren israelischen Freunden darüber sprechen, wie sich die Situation verändert hat und wie wir zu Lösungen kommen, die eine Befriedung dieser ganzen Region herbeiführen können. Eine Befriedung wird nur zu erreichen sein, wenn Menschen, die jungen Leute in Nordafrika, das Gefühl haben, dass sich etwas für sie in ihrem Land tut. Im Augenblick richten viele, die besonders stark sind, die eine gewisse Grundausbildung haben, den Blick nach Europa. Das ist ein großes Problem in dieser Region; denn genau diese Menschen werden in ihrem Land gebraucht. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir Hilfe anbieten. Ich glaube, wir müssen über die Ausgestaltung der Strukturfonds in Europa reden. Wir haben in Griechenland und auch in Portugal gesehen, dass es nicht immer sinnvoll ist, noch eine Autobahn und noch eine Brücke zu bauen. Vielleicht müssen diese Strukturfonds in Bildungsfonds umgewandelt werden, um jungen Menschen Perspektiven zu geben. Nicht nur in Brücken, sondern in die Köpfe muss investiert werden, auch durch Strukturfonds. ({11}) Wir haben also allen Grund, die Entwicklung in Nordafrika mit Zuversicht zu betrachten, aber auch mit dem klaren Bewusstsein, dass eine Begleitung der Entwicklung dort noch viele Jahre notwendig sein wird. Vor allem haben wir, finde ich, die Aufgabe, deutlich zu machen, dass wir darauf achten werden, dass die Christen in diesem Land ihren Glauben leben und ihre Perspektiven verwirklichen können. Wir dürfen, wenn wir die Menschenrechte ernst nehmen, nicht zulassen, dass starke oder auch schwächere Minderheiten unter die Räder kommen; das müssen wir allen sagen. Wir akzeptieren natürlich, dass ein Land, in dem 90 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, dort einen Schwerpunkt seiner Politik sieht, aber Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten für Christen und Muslime. Wir werden dafür streiten, und wir werden nicht schweigen, wenn Christen verfolgt werden. ({12}) Ich bitte darum, dass dies an den kommenden Tagen in Deauville deutlich gemacht wird. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, die G-8-Treffen der letzten Jahre haben regelmäßig mit großen Zusagen für Afrika geendet. Große Summen wurden jedes Mal versprochen. Fünf Jahre nach Gleneagles, direkt vor Beginn des nächsten Gipfels, hätte ich mir eine ehrliche Bilanz der Umsetzung gewünscht. ({0}) Sie haben hier leider um das Problem der fehlenden Zahlungen herumgeredet. Die internationale Hilfsorganisation ONE hat vor kurzem eine Umsetzungsbilanz vorgelegt. Diese fällt nicht gut aus, für die G 8 nicht und besonders für Deutschland nicht. Deutschland hat demnach seine Zusagen für Subsahara-Afrika nur zu 23 Prozent erfüllt. Schlechter war nur noch Italien. Dass es auch in schwierigen Zeiten anders geht, das zeigen die USA, Kanada oder Japan. Diese Länder haben ihre Ziele mehr als erfüllt. Ich kann nur sagen: Wer große Versprechungen macht und sie dann nicht einhält, wird seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht. Dieser Vertrauensbruch schadet dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit Deutschlands. ({1}) Jetzt steht die Unterstützung für wichtige Länder in Nordafrika und der arabischen Welt auf der internationalen Tagesordnung. Den mutigen Menschen dort, die für die Freiheit aufgestanden sind, gehören unsere Hochachtung und Solidarität; da sind sich hier alle einig. Gerade die Staaten der G 8 haben hier eine Bringschuld, weil wir alle die autoritären Regime dort viel zu lange gestützt haben, um vermeintliche Stabilität zu erreichen. Jetzt, im Vorfeld, ist zu lesen, es werde eher ein Gipfel der Signale; das heißt auf Deutsch: ein Gipfel der nicht ganz konkreten Versprechen. Ich frage Sie: Was nützt all das Gerede über eine Art Marshallplan für Tunesien und Ägypten, wenn noch nicht einmal klar ist, dass der EU-Markt für diese Länder weiter geöffnet wird? Wenig. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass sich die Bundesregierung ganz konkret für eine Marktöffnung in allen G-8-Ländern einsetzt. Wenn Sie das tun, dann haben Sie in diesem Punkt unsere volle Unterstützung. ({3}) Auch eine Änderung der Flüchtlingspolitik gegenüber Nordafrika ist notwendig. Hier regiert in Europa gerade die blanke Schäbigkeit. 850 000 Menschen sind bisher allein aus Libyen in die Nachbarländer geflohen. Nur 25 000 davon sind nach Italien, nach Europa geflohen; das sind gerade einmal 3 Prozent. Anstatt nun zu überlegen, wie man diesen Menschen helfen kann, wird über innereuropäische Grenzkontrollen diskutiert. Das ist schlicht und einfach beschämend. ({4}) Deutschland sollte hier mit großzügigen Aufnahmeangeboten international voranschreiten. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Die Länder des demokratischen Aufbruchs in Nordafrika brauchen eine umfassende Unterstützung, die ihre wirtschaftliche Situation verbessert und nicht als westliche Bevormundung daherkommt. - Dazu gehört ein freier Warenverkehr in die Europäische Union und in die anderen G-8-Länder; das gilt insbesondere für landwirtschaftliche Produkte aus Nordafrika. Dazu gehören großzügige Möglichkeiten für die Menschen aus Nordafrika, in der Europäischen Union zu lernen und, zumindest zeitweise, zu arbeiten. Sie müssen mit der Visaverweigerungspolitik, die Sie in diesem Zusammenhang betreiben, aufhören. ({5}) Dazu gehören auch gezielte finanzielle Hilfen durch die G 8. Die USA haben Ägypten gerade einen Schuldenerlass in Höhe von 1 Milliarde Dollar zugesagt. Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Gläubiger Ägyptens. Auch Sie sollten ganz konkret einen Schuldenerlass zusagen. In eine solche Agenda gehört ebenso eine umfassende Energiepartnerschaft für erneuerbare Energien, die auch der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Ein solches Paket wäre eine angemessene Reaktion auf die Umbrüche in dieser Region. Leider scheint die Bundesregierung hier als Treiber auszufallen. Ich begrüße das Engagement der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, das Eintreten für eine ZweiStaaten-Lösung und die Forderung nach Friedensverhandlungen. Präsident Obama hat erklärt, dass eine Lösung in den Grenzen von 1967 in Verbindung mit einem vereinbarten Gebietsaustausch beruhen muss. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Position heute ausdrücklich und vor allem wörtlich unterstützt hätten, gerade angesichts der Äußerungen von Ministerpräsident Netanjahu in Washington. ({6}) Auf der Tagesordnung des Gipfels steht auch das Thema „nukleare Sicherheit“. Drei Viertel aller Atomkraftwerke weltweit stehen in den Staaten der G 8. Es liegt ganz wesentlich in den Händen dieser acht Staaten, endlich die Konsequenzen aus der furchtbaren Katastrophe in Fukushima zu ziehen. Frau Merkel hat noch einmal die Tragweite der Katastrophe von Fukushima betont. Sie sollte aber auch dementsprechend handeln. Steigen Sie schnellstmöglich und endgültig aus der Atomkraft in Deutschland aus, und hören Sie auf, mit Hermesbürgschaften, also deutschen Steuergeldern, den Export von Atomtechnologie zu unterstützen! ({7}) Wir erwarten, dass Sie in Deauville klare Worte an Ihre Kolleginnen und Kollegen richten, dass es die viel beschworene nukleare Sicherheit nicht gibt und der Ausstieg aus der Atomkraft deswegen notwendig ist. Ihr Verhalten in Deauville in dieser Frage ist für uns auch ein Test mit Blick auf Ihre Glaubwürdigkeit hier in Deutschland. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun freuen wir uns, dass der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses seinen heutigen Geburtstag mit einer Rede im Plenum des Deutschen Bundestages für die CDU/CSU-Fraktion schmücken möchte. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für die freundlichen Glückwünsche. Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat in seiner Rede kritisiert, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung so oft von Zuhören, von Beitragen und von Unterstützen gesprochen hat. Ich bin gerade aus Tunis und Kairo zurückgekommen, wo wir in der vergangenen Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses gewesen sind. Die neuen Kräfte dort, die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz so mutig demonstriert und Kopf und Kragen riskiert haben und weiter riskieren, erwarten genau das von uns, nämlich, dass wir zuhören, dass wir beitragen und dass wir unterstützen. ({0}) Sie sagen zu Recht: Das ist unsere Revolution. Wir wollen nicht länger bevormundet werden - weder von unserer Regierung noch vom Westen. Deshalb war die Kritik, es sei hier zu wenig aktiv und mit eigenen Vorschlägen vorgegangen worden, meines Erachtens völlig neben der Sache. Mit einer besserwisserischen Hoppla-jetzt-komme-ich-Außenpolitik würden wir den Erwartungen und Hoffnungen der arabischen Freiheitsbewegung überhaupt nicht gerecht werden. Freiheit, Würde, Arbeit: Dafür sind Jung und Alt, Männer und Frauen überall in der arabischen Welt auf die Straße gegangen, und sie tun das noch - oft, wie zum Beispiel jetzt in Syrien immer wieder, unter Einsatz ihres Lebens. Wir bewundern diesen Mut, wir teilen diese Werte, wir hoffen und wollen helfen, soweit wir können, damit diese Bewegung auch Erfolg hat. Dem arabischen Frühling müssen ein Sommer und eine Ernte folgen, es darf keine neue Eiszeit geben. ({1}) Freiheit, Würde, Arbeit: Die Menschen in Tunesien und in Ägypten wollen frei und in Würde leben. Sie wollen eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit drückt hier besonders. Deshalb ist es genau der richtige Ansatz, dass jetzt auf dem G-8-Gipfel auch auf Vorschlag der Bundesregierung hierauf ein Schwerpunkt gesetzt wird. Alle Gesprächspartner in Tunis und Kairo haben uns gesagt, dass für den Erfolg der arabischen Revolution neben der Schaffung demokratischer Institutionen und rechtsstaatlicher Strukturen vor allen Dingen die Wirtschaft entscheidend ist. Deshalb ist es auch gut, dass Tunesien und Ägypten an dem G-8-Gipfel teilnehmen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden: Wir wollen das partnerschaftlich auf Augenhöhe miteinander besprechen. Man darf aber nicht übersehen: Die beiden Ministerpräsidenten stehen einer Übergangsregierung vor. Es sind eher technokratische Regierungen, wobei die Legitimation in Tunesien sicherlich ein beträchtliches Stück höher ist als im Augenblick in Ägypten. Tunesien ist insgesamt auf einem guten Weg. Dort kann man die Hoffnung haben, dass die Überleitung in demokratische Institutionen gelingt. Bei Ägypten muss man leider sagen: Das ist noch nicht ganz sicher. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt: Mehrparteiensystem, marktwirtschaftliche Strukturen und Rechtsstaat - davon wollen wir unsere Hilfe abhängig machen. Ich möchte nur darauf hinweisen - das muss auch auf dem G-8-Gipfel ein Thema sein -: In Ägypten gilt noch immer der Ausnahmezustand. In Ägypten urteilen Militärgerichte über Demonstranten, und sie verhängen Gefängnisstrafen von drei bis fünf Jahren. Es gibt in Ägypten - das ist hier von fast niemandem kommentiert worden - ein Parteiengesetz zur Registrierung neuer Parteien, wonach man nicht nur 5 000 Mitglieder braucht - darüber lässt sich ja noch reden -, sondern diese Mitglieder müssen sich auch notariell registrieren lassen, ihre Namen werden in den größten Tageszeitungen Ägyptens veröffentlicht, und sie müssen eine Geldsumme zahlen. Welchen Mut es erfordert, sich in einem solchen Land für eine neue Partei zu entscheiden und mit dem eigenen Namen dafür einzustehen, wenn man vielleicht noch die Sorge haben muss, dass daraus die nächste Internierungsliste wird, wenn die Sache nicht so gut ausgeht, wie man es sich erhofft, können diejenigen nachempfinden, die sich öfter mit Systemen beschäftigen, die noch keine Demokratien sind. All das muss, finde ich, auch auf dem Gipfel angesprochen werden. Der Militärrat hält in Ägypten nach wie vor das Heft in der Hand und lässt sich nicht in die Karten schauen. Hier ist Transparenz gefordert. Notwendig ist auch mehr Klarheit in der Frage, wie der Übergang organisiert werden soll. Es hat keinen Sinn, Geld in die alten ägyptischen Strukturen zu geben. Das will ich an dieser Stelle festhalten. ({2}) Das Besondere an der arabischen Revolution ist Analysen zufolge: Es gibt keinen Führer. Es gibt keine Partei. Es gibt kein Programm. - Das ist jetzt ein Problem. Man war sich einig in den Forderungen nach einem Rücktritt von Ben Ali und Mubarak und darin, künftig in Würde und Freiheit leben zu wollen. Das heißt, keine Repression, keine Korruption und kein Nepotismus mehr. Aber wie kommt man dahin? Hier setzt die Beratungsaufgabe ein. Dabei leisten die Stiftungen hervorragende Arbeit. Davon haben wir uns überzeugt. Auch das Goethe-Institut hat in beiden Ländern seine Programme so umgestellt, dass es für die Entwicklung in Richtung Demokratie und Rechtsstaat hilfreich ist. Die Frage ist nun: Was hilft wirtschaftlich? Man muss wissen, dass es in Ägypten einen gigantischen Wasserkopf gibt: Über 45 Prozent der Beschäftigten sind im öffentlichen Dienst. Das bedeutet einen Wust an Bürokratie und jede Menge Möglichkeiten zum Handaufhalten und zur Korruption, etwa wenn es um Genehmigungen geht. Man muss mit der Regierung auch darüber sprechen, wie man sich hier Änderungen vorstellt. Aber es gibt eine Möglichkeit, wie im Grunde jeder dazu beitragen kann, dass es in Tunesien und Ägypten wirtschaftlich wenigstens wieder etwas aufwärtsgeht, und zwar durch den Tourismus. Der Tourismus hat nicht nur den Vorteil, dass von dieser Branche ein Großteil der Wirtschaft abhängt. Selbst wenn vielleicht das eine oder andere Hotel in falschem Besitz ist, gibt es über die Beschäftigung in der Tourismusbranche auch einen Trickledown-Effekt, der allen Menschen in diesen Ländern zugute kommt. Deshalb wäre es sehr wichtig, dass wir uns auch darüber Gedanken machen - das richte ich auch an Ernst Hinsken -, wie wir zum Tourismus in Richtung Tunesien und Ägypten ermutigen können, damit er wieder in die Gänge kommt. Denn die Sicherheitsprobleme, die zur Zurückhaltung geführt haben, sind, glaube ich, gelöst. Hier kann jeder, dem die arabische Revolution am Herzen liegt, einen eigenen Beitrag leisten. Er hat auch einen Vorteil: Es geht in schöne Länder. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Rolf Mützenich ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf diese Debatte gefreut; denn ich glaube, es ist notwendig, dass wir seitens des deutschen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern etwas von der Verunsicherung über die tiefgreifenden Umbrüche nehmen, die in der arabischen Welt stattfinden. Umbrüche führen immer zu Verunsicherung. Deswegen brauchen wir diese Debatte. In der Tat hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr klare Worte und eine mutigere Rede zu diesen Umbrüchen erwartet, insbesondere dass sie auch auf die Chancen statt nur auf die Risiken hingewiesen hätte. Das muss man von einer Regierungschefin erwarten können. Insbesondere ist das im Kontrast zu der Rede von Präsident Obama deutlich geworden, der gesagt hat, was für ein Potenzial durch die Umbrüche gerade an unseren europäischen Außengrenzen möglicherweise auf uns rückwirken wird. Ich glaube, das ist das große Versäumnis auch Ihrer Fraktion. Das ist ein entscheidender Kontrast: Diese Bundeskanzlerin denkt nicht mehr wie ihre Vorgänger in europäischen Kategorien, was Maßnahmen und Chancen angeht, sondern sie hat nur noch ihre lokalen Interessen und ihre Parteiinteressen vor Augen. Ich finde, das darf eine Bundeskanzlerin und Regierungschefin nicht tun. ({0}) Ich gebe Herrn Polenz recht: Man darf nicht blauäugig sein. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Risiken. Aber Eigennutz und insbesondere mangelnde Selbstkritik wären genau das Falsche. Der Kollege Kauder hat gesagt: Wir setzen das auf die Tagesordnung. - Das nur auf die Tagesordnung zu setzen, reicht eben nicht. Man muss konkret beschreiben, wie man die Chancen nutzen will. Insbesondere darf man mit den mutigen und jungen Menschen in den arabischen Ländern nicht nur im Dialog sein. Man muss ihnen auch mit Würde und Respekt - genau das verlangen sie auf ihren Demonstrationen begegnen. Daran mangelte es in der heutigen Regierungserklärung. Auf Würde und Respekt ist die Bundeskanzlerin nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht eingegangen. Das ist schade. ({1}) Es gibt große Chancen, aus denen wichtige Entwicklungen entstehen. Man sollte nicht nur die Demonstrationen zur Kenntnis nehmen, sondern auch darauf achten, was darauf folgt. So hat zum Beispiel die ägyptische Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mubarak erhoben. Auch das ist ein mutiger Schritt. Die ägyptische Gesellschaft ist auf einem guten Weg, wenn Recht und Gesetz beachtet werden und vormalige Potentaten zur Verantwortung gezogen werden. Ich glaube, das ist genau das, was die Menschen erwarten. Hier müssen wir gerade auf europäischer Ebene unterstützend tätig werden. Ich appelliere an die europäischen Länder, nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen deutlich zu machen. Insbesondere die Sicherheitsrisiken, die in den vergangenen Jahren immer wieder aufgetreten sind - ich nenne als Beispiel nur den internationalen Terrorismus -, können besser eingegrenzt werden, wenn freiere, sozialere und gerechtere Gesellschaften unmittelbar an den Außengrenzen Europas aufgebaut werden. ({2}) Dafür brauchen die dort lebenden Menschen keine Ratschläge, sondern Zeit und Unterstützung. Man kann über die Entscheidung der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Sicherheitsratsresolution 1973 zu Libyen - das geht quer durch das Haus unterschiedlicher Auffassung sein. Aber ich bin entsetzt, dass Herr Minister Niebel, ein Kabinettsmitglied, nach der Sicherheitsratsresolution unseren Bündnispartnern niedere Beweggründe vorgeworfen hat, als es darum ging, diesen Beschluss umzusetzen. Ich finde es fatal, dass die Bundeskanzlerin hier nicht widersprochen hat. Das zeigt den tiefen Fall der deutschen Außenpolitik. ({3}) Herr Gysi, Sie haben Verschwörungstheorien mit einem marxistisch anmutenden Vokabular aufgestellt. Auch ich habe meine Ausbildung zum Beispiel in Falken-Lagern genossen. Aber so tief darf man nicht fallen. Wer, wenn nicht Gaddafi, war denn der beste Bündnispartner der sogenannten westlichen Welt, wenn es um Öl und Flüchtlinge ging? Wenn Ihre Logik zutreffen würde, würden Sie sich selbst widersprechen. Das gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu. Hören Sie auf, irgendwelche Verschwörungstheorien aufzustellen! Die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs versucht, Anklage gegen Gaddafi wegen Völkermordes und Missachtung der Menschenrechte zu erheben. Genau um diesen Punkt wird die Auseinandersetzung geführt. ({4}) Ich persönlich habe die Entwicklung in Syrien vollkommen falsch eingeschätzt. Ich habe gedacht, dass Assad mehr Mut besitzt und eine Reformbewegung in der an Traditionen orientierten syrischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Ethnien und Religionen zulässt. Ich bekenne mich selbstkritisch zu meinen Fehleinschätzungen der Vergangenheit. Deswegen betone ich, dass es richtig ist, dass die Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union bei den Sanktionen gegen Syrien vorangegangen ist und versucht, im Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss herbeizuführen. Wir haben noch nicht über unsere möglichen Antworten diskutiert. Ich glaube - das hat gestern der Kollege Hoyer im Auswärtigen Ausschuss sehr deutlich gemacht -, dass wir, wenn wir bei der Agrarpolitik nicht umsteuern, den Mittelmeerländern keine Perspektiven bieten können. Gleichzeitig - auch das habe ich in der Rede der Bundeskanzlerin vermisst - brauchen wir ein klares Wort zu den Flüchtlingen, zu der dortigen Situation und dazu, dass die Reformstaaten Tunesien und Ägypten unter den Flüchtlingen am meisten zu leiden haben. Das hätte an dieser Stelle gesagt werden müssen. Dies anzuerkennen, würde nach meinem Dafürhalten die Reformbewegungen in den Transformationsländern am besten unterstützen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Europa und gerade in Deutschland sollten uns vor Augen führen, welche Instrumente wir entwickelt haben und uns zur Verfügung stehen, mit denen bereits Mauern eingerissen und Gegensätze überwunden wurden. Hierzu kann die sozialdemokratische Außenpolitik mit ihren Instrumentarien „Wandel durch Annäherung“, „gemeinsame Sicherheit“ und „Entspannungspolitik in Zeiten neuer Spannungen“ eine Menge beitragen. Ich plädiere für den Dialog: nicht nur mit den Ländern, die auf Transformation setzen, sondern auch mit den Regierungen, die versuchen, diesen Reformprozess auch von ihrer Situation her zu beurteilen, wie dies zum Beispiel in Marokko und Jordanien der Fall ist. Das wäre der angemessene Weg. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der nun bevorstehende G-8-Gipfel ist der erste seit Beginn der Unruhen in der arabischen Welt. Es treffen sich acht der weltweit führenden Wirtschaftsnationen. Sowohl der Kommissionspräsident als auch der Ratspräsident sind dabei. Wir haben die Chance, dass von diesem Gipfel ein starkes Signal ausgeht, dass die Demokratiebewegungen, die Freiheitsbestrebungen in den Ländern der arabischen Welt nachhaltig unterstützt werden. Es ist aber bei weitem noch nicht absehbar, welche Entwicklung diese Länder nehmen werden, denn wir haben es mit ganz unterschiedlichen Szenarien zu tun. In Tunesien und Ägypten sind die früheren Machthaber gestürzt. Es beginnt die Aufarbeitung dieser Vergangenheit auch auf gerichtlichem Wege. Man versucht, demokratische Strukturen und rechtsstaatliche Verfahrensweisen zu etablieren. Es werden Fahrpläne für verfassunggebende Versammlungen und Wahlen aufgestellt. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, aber wir müssen noch eine Menge tun, damit diese Entwicklung unumkehrbar wird. Daneben stellen wir in Ländern wie Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain fest, dass die Machthaber mit roher Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Das sind untragbare Zustände. Darüber hinaus ist es bislang in einer Reihe von Ländern, zum Beispiel in Jordanien und Saudi-Arabien, mit politischen Zugeständnissen gelungen, Proteste zu vermeiden; eine Strategie, die erfolgversprechend erscheint. Die dortigen Machthaber müssen wohl keinen unmittelbaren Sturz befürchten, aber der Handlungsbedarf ist gleichwohl hoch. Meine Damen und Herren, wir stellen fest, dass es in diesen Staaten eine sehr heterogene Entwicklung gibt, je nachdem, wie legitim die Herrschaftsformen sind, welche Rolle das Militär spielt und Ähnliches. Es gibt aber in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sphäre auch übereinstimmende Aspekte, die diese Entwicklungen kennzeichnen: Es handelt sich um Volkswirtschaften, die international kaum wettbewerbsfähig sind. Beispielsweise tätigt der Nahe Osten ohne die Ölexporte Geschäfte mit dem Ausland in einem Umfang, der sich in etwa auf dem Niveau der Exporte der Schweiz befindet. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, eine junge Bevölkerung, der es an wirtschaftlicher Perspektive mangelt, sowie veraltete Bildungssysteme. Diese länderübergreifenden Defizite müssen für uns der Ansatzpunkt sein, Hilfe zu leisten. Die USA und auch die Europäische Union haben erste Schritte unternommen, die Vereinigten Staaten beispielsweise einen Schuldenerlass für Ägypten in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro. Bei Schulden Ägyptens in Höhe von 190 Milliarden Euro ist das zwar überschaubar, aber immerhin. Es handelt sich ja nicht nur um eine finanzielle Unterstützung, sondern es ist auch eine Anerkennung für die Oppositionsbewegung, für die Jugendbewegung, die den Wandel in diesem Land eingeleitet hat. Wir als Europäische Union haben die Chance, die Europäische Nachbarschaftspolitik endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wir brauchen keine FunktionärstrefThomas Silberhorn fen, in denen man keine Antenne für das entwickelt, was sich in den Gesellschaften vor Ort tut, sondern wir müssen bilateral den Kontakt so pflegen, dass wir mitbekommen, welche Entwicklungen stattfinden, um wirklich helfen zu können. Wir brauchen maßgeschneiderte Lösungen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik und nicht den Instrumentenkasten, den man über jedes dieser Nachbarländer stülpt. Wir leisten enorme finanzielle Hilfe, aber das allein wird nicht reichen; wir brauchen den direkten Kontakt zur Bevölkerung. Deswegen begrüße ich, dass es nun gelingt, dass wir unter dem Stichwort „Mobilitätspartnerschaft“ Reiseerleichterungen gewähren, Zugang zum Arbeitsmarkt gewähren, Beschäftigungsförderung betreiben, Berufsbildung nach unseren Erfahrungen exportieren. Das alles kann dazu beitragen, dass eine selbsttragende Entwicklung stattfindet, die am Ende auch demokratische Strukturen fördert. Wir müssen sehr deutlich machen, dass wir jetzt auf der Seite der Freiheitsbewegungen stehen, dass wir Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern wollen, aber wir müssen auch zu sichtbaren Ergebnissen kommen; denn Demokratie wird nach meiner Einschätzung nur dann eine Chance haben, wenn sie sich als handlungsfähig erweist, wenn deutlich wird, dass mit den neuen Strukturen die Probleme des Landes tatsächlich besser gelöst werden können, als das vorher der Fall war. Deswegen müssen wir auch die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg in diesen Ländern legen. In der Nahostpolitik tut sich jetzt ein Fenster auf, das wir tunlichst nutzen sollten. Ich glaube, dass die Entwicklung in der arabischen Welt jetzt nicht als Vorwand für einen Stillstand im Friedensprozess genommen werden darf, sondern im Gegenteil jetzt ganz konkrete Ergebnisse angestrebt werden sollten. Präsident Obama hat sich dazu bekannt, die Grenzen von 1967 als einen Ausgangspunkt für eine Friedenslösung zu nehmen. Er übernimmt damit den Standpunkt, den die Europäische Union seit langem vertritt. Aber es ist klar, dass Regelungen zum Gebietsaustausch das Ergebnis von Verhandlungen sein müssen, wie in anderen offenen Fragen auch: Sicherheitsgarantien für Israel, Rückkehrmöglichkeit für Flüchtlinge. Wir sollten jetzt darauf dringen, dass ohne Vorbedingungen zügig Gespräche stattfinden und dass nicht durch einseitige Erklärungen mögliche Verhandlungen belastet werden. Das gilt sowohl für die Ausrufung eines palästinensischen Staates wie für den Ausbau der jüdischen Siedlungen. Ich glaube, dass es jetzt nicht klug wäre, auf Zeit zu spielen. Den Umbruch in der arabischen Welt, der Auswirkungen haben wird, der die Gewichte in der Region verändern wird, sollten wir nutzen, um auch zu einer gemeinsamen Friedenslösung zwischen Israel und den Palästinensern zu kommen. Die jüngste Zusammenarbeit, das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas, sollte kein Hindernis sein. Es sollte nicht als solches verstanden werden, sondern als eine Chance; denn Israel hat bisher beklagt, dass es keinen Ansprechpartner gibt. Die Hamas sollte nicht isoliert werden, aber es muss auch klar sein, dass wir Erwartungen an sie richten. Es ist eine Bringschuld der Hamas, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und sich von Radikalisierung und Extremismus loszusagen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Silberhorn.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn uns das gelingt, dann in der Tat kann eine Zwei-Staaten-Lösung auf dem Verhandlungsweg ein Hoffnungsschimmer sein. Ich wünsche, dass auch der G-8-Gipfel jetzt ein Signal setzt, bei diesem Prozess voranzukommen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn kurz etwas Grundsätzliches: Die G 8 ist ein Auslaufmodell - zumindest müsste sie es sein -, weil die Musik zunehmend in der G 20 spielt. ({0}) Doch auch die darf mit Skepsis betrachtet werden, weil es nicht ausreicht, den Klub der Reichen um die Neureichen zu erweitern. Auch der G 20 fehlt die Legitimation. Deshalb wünschen wir uns in der internationalen Strukturpolitik, in der Global Governance einen Reformprozess, der auch die Rolle der Vereinten Nationen stärkt. Am Ende könnte dabei zum Beispiel eine G 25 herauskommen, eng verzahnt mit den Vereinten Nationen, in der es sowohl ständige als auch nichtständige Mitglieder gibt, die von verschiedenen Ländergruppen gewählt werden; ({1}) denn auch die Repräsentanten der ärmeren Entwicklungsländer müssen beteiligt werden, wenn es darum geht, die Weichen für die Weltwirtschaft zu stellen. Es ist unwürdig, sie nach Belieben des jeweiligen Gastgeberlandes am Katzentisch Platz nehmen zu lassen. Nach dieser Grundsatzkritik und der Zukunftsvision ein paar Worte zum bevorstehenden Gipfeltreffen: Ich wünsche mir sehr, dass die G-8-Regierungschefs bei ihren Beratungen zum Thema „Nordafrika und Mittelmeerraum“ die Kraft haben, mehr Selbstkritik zu üben. Man feiert jetzt die Demokratiebewegung auf dem Nachbarkontinent, hat aber allzu lange Bündnisse mit Despoten geschmiedet und ihnen sogar die Waffen geliefert, die jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt werden. Hat man aus den Fehlern gelernt? Wenn man sich jetzt die Gästeliste anschaut, dann darf das bezweifelt werden. Wir haben gerade gestern im Entwicklungsausschuss intensiv über massive Menschenrechtsverletzungen und Landgrabbing in Äthiopien diskutiert. Doch Premier Meles Zenawi wird nach wie vor von der G 8 hofiert. Zu den vielen leeren Versprechungen bezüglich der Entwicklungsfinanzierung ist hier schon einiges gesagt worden. Ich will das jetzt auch nicht weiter anprangern, sondern ich halte es für besser, gemeinsam in die Zukunft zu schauen und die Bundesregierung und den Finanzminister zu ermutigen: Haben Sie eigentlich schon wahrgenommen, wie viel Unterstützung und Rückenwind Sie aus diesem Parlament haben könnten, wenn Sie sich einen Ruck gäben und schon für den Haushalt 2012 deutlich mehr finanzielle Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe bereitstellten? ({2}) Nach dem heutigen Stand haben 349 Parlamentarier aus allen fünf Bundestagsfraktionen einen Aufruf der Entwicklungspolitiker zu einem entwicklungspolitischen Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels unterschrieben. Es gibt also eine zumindest dokumentierte klare Mehrheit hier im Parlament, den schönen Worten endlich Taten, das heißt auch ganz konkret, andere Haushaltszahlen folgen zu lassen. Das wäre ein starkes Signal, wenn es wirklich klappen könnte, noch vor der Sommerpause zu diesem fraktions- und parteiübergreifenden entwicklungspolitischen Konsens zu kommen, und zwar auch gegenüber Afrika, dem Nachbarkontinent. Das würde unsere Glaubwürdigkeit stark steigern. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sibylle Pfeiffer ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der G-8-Gipfel geplant wurde, hat noch niemand gewusst, welche Veränderungen und gesellschaftlichen Umbrüche in Nordafrika stattfinden werden. Lieber Kollege Hoppe, wenn zu diesem Zeitpunkt ein G 25 oder ein G 20 oder G 7 oder was auch immer geplant worden wäre, wäre es nicht anders. Wichtig ist doch, dass wir über das Thema reden und eine Möglichkeit finden, die Menschen vor Ort zu unterstützen. Wenn es darum geht, Selbstkritik an der Zusammenarbeit mit wem auch immer zu üben, lieber Kollege Hoppe, dann sage ich Ihnen: Wir können uns unsere Partner manchmal nicht aussuchen. Manchmal müssen wir über Schatten springen, die wir vielleicht auch als Schatten erkennen. Aber um den Menschen zu helfen, ist es manchmal vielleicht richtig, einfach etwas zu tun. ({0}) Wenn es um Selbstkritik geht, dann sollten wir alle einfach ein bisschen ruhig sein. Ich will gar nicht darüber reden, wer mit wem in der großen weiten Welt gut Freund ist, wer mit wem in einem Zelt gesessen hat und Ähnliches. Ich glaube, da geben wir uns alle nichts. Es ist jetzt der falsche Zeitpunkt, darüber lange zu diskutieren. Vor einiger Zeit haben wir hier schon einmal über die Entwicklung in Tunesien und Nordafrika insgesamt gesprochen. Wir haben damals bewundert, was dort geschah. Ich bin heute noch voll der Bewunderung und zolle all den jungen Menschen meinen Respekt, die diese gesellschaftlichen Umbrüche in Gang gesetzt haben. Aber mit einem kleinen bisschen Stolz sage ich, dass wir als großer entwicklungspolitischer Geber auch etwas dazu beigetragen haben. Wir haben rechtzeitig mit unseren Partnerländern entsprechende Strukturen vor Ort aufgebaut, sei es Verkehrsinfrastruktur, seien es Krankenhäuser oder Schulen. All dies ist schon einmal die Basis für eine freiheitliche gesellschaftliche Entwicklung. Insofern ist Entwicklungspolitik nicht nur eine vorbeugende Maßnahme, sondern sie kann auch im Nachhinein helfen. Vorbeugend ist die Entwicklungspolitik, weil sie - ich glaube, wir Entwicklungspolitiker sollten in diesem Punkt selbstbewusst genug sein - Frieden und Sicherheit in der Welt vielleicht nicht in vollem Umfang gewährleistet, aber zumindest in Gang setzt. Die deutsche Entwicklungspolitik ist hervorragend aufgestellt, zum einen durch ihre Durchführungsorganisationen, aber zum anderen durch ihre massive Unterstützung der politischen Stiftungen und der Kirchen sowie der Vielzahl und Vielfalt der Nichtregierungsorganisationen. Gerade die politischen Stiftungen, gerade die Kirchen haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu unterrichten, sie zu informieren und sie zu stärken, gesellschaftspolitische Veränderungen zu unterstützen, sofern sie da sind, oder sie vielleicht sogar in Gang zu setzen, um die Entwicklungszusammenarbeit zum Erfolg zu führen. Der Kampf für Freiheit verdient immer unsere Unterstützung. Deshalb ist die Frage: Wie richten wir unsere Entwicklungszusammenarbeit aus, und wie kann die Neuausrichtung der jetzigen Bundesregierung zum Beispiel in den Ländern Nordafrikas wirksam sein? Ich setze sehr darauf, dass eine Erholung der gesellschaftlichen Strukturen, eine Stabilisierung der demokratischen Bewegung nur über den wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen ist. Wenn wir den jungen Menschen durch Arbeitsplätze und Ausbildung Perspektiven eröffnen, dann ist das richtig und gut. Deshalb begrüße ich sehr, dass vor allen Dingen die DIHK und der BDI mit den vorhandenen Unternehmen vor Ort Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen wollen. Aber wir können in der Entwicklungszusammenarbeit noch mehr leisten: Wir können Unternehmensgründungen vor Ort unterstützen. Das gelingt uns gut mit Startups, wie wir es neudeutsch nennen, mit Unternehmensund Existenzgründungsdarlehen und Ähnlichem. Das alles können wir unterstützen. Wir Entwicklungspolitiker wissen allerdings, dass wir ohne die Mitnahme der Gesellschaft vor Ort und ohne die Kooperation mit den entsprechenden Regierungen kein Stück weiterkommen. Deshalb ist das, was jetzt in Deauville geschieht - dabei hat die Frau Bundeskanzlerin unsere volle Unterstützung -, ein ganz wichtiger Schritt. Ein Kommuniqué der G 8 mit den Ländern Nordafrikas auf Augenhöhe, wobei deren Verantwortung genauso eingefordert wird, wie wir unsere Verpflichtungen eingehen - seien es Zusagen, seien es die Mittelbereitstellung und Ähnliches -, das ist der richtige Weg. Nur in Kooperation werden wir erfolgreich sein. Wir alleine können es nicht schaffen, aber sie allein auch nicht. Deshalb bieten wir unsere Unterstützung beim Aufbau von industriellen, von ökonomischen Strukturen an, die die Freiheit unterstützen, die aber auch den jungen, zurzeit perspektivlosen Menschen die Aussicht eröffnen, sich und ihre Familien ernähren zu können. Damit unterstützen wir sie für die Zukunft in ihren Ländern. Das ist Aufgabe der Entwicklungspolitik. Deshalb unterstützen wir die G 8 in ihren Bemühungen, dies auch mittels Partnerschaften umzusetzen. Ich bin sicher, dass wir erfolgreich sein werden. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als letzter Redner spricht, dann ist eigentlich alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem. Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin sowie beim Kollegen Niebel, der die Zeitenwende erkannt, sofort Gespräche geführt und Entscheidungen getroffen hat, gerade in Bezug auf berufliche Bildung und auf Wirtschaftspartnerschaften. Ich danke in diesem Zusammenhang in ganz besonderer Form den Stiftungen unserer Parteien, die sich dort vor Ort in diesen Monaten außerordentlich engagiert haben, um die Demokratiebewegung mit zu unterstützen. ({0}) Ich habe eben gesagt, es ist noch nicht alles von allen gesagt worden. Deshalb richte ich meinen Blick auf Afrika insgesamt. Der Ruf nach Freiheit und Demokratie, den wir in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern in der Region erleben, kann Auswirkungen auf den gesamten Kontinent Afrika haben. Die Menschen wollen andere Lebensbedingungen. Sie wollen Teilhabe in ihren Ländern. Diese Teilhabe wird ihnen in vielen Ländern verwehrt. Wir haben die Verantwortung, dass wir Afrika als Chancenkontinent in unseren Partnerschaften begreifen. Chancenkontinent heißt, dass wir deutlich machen, dass es auch afrikanische Länder gibt, die seit Jahren vorbildliche Entwicklungen durchmachen. Ich erinnere nur an Botsuana, das als eines der ersten Länder seine Rohstoffe zertifiziert, damit den Haushalt in Ordnung gebracht und in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investiert hat und damit eigentlich kein Nehmerland mehr ist. Ich erinnere an Ghana, wo die soziale Marktwirtschaft in Teilbereichen unter Präsident Kufuor eingeführt worden ist, wo es einen demokratischen Wechsel durch demokratische Wahlen gegeben hat. Diese Länder können sich andere afrikanische Länder zum Vorbild nehmen. Eine besondere Herausforderung ist, dass wir versuchen, den Begriff der wertgebundenen Politik in unsere Verhandlungen mit den Regierungen aufzunehmen. Deshalb, lieber Kollege Hoppe, stimme ich in einem einzigen Punkt nicht mit Ihnen überein. Sie haben eben das Thema Äthiopien angesprochen und unseren Umgang mit Meles Zenawi erwähnt. Ich und andere aus den Koalitionsfraktionen und der Regierung haben ihn nicht hofiert. Auch Horst Köhler hat ihn nicht hofiert. Es ging einzig und allein darum, auch mit solchen Staatschefs Gespräche zu führen. ({1}) Das hat nichts mit Hofieren zu tun. Wir dürfen aber auch nicht in Sprachlosigkeit verharren; denn nur durch Dialog schaffen wir es, auch dort neue Wege aufzuzeigen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Herausforderung stellt die demografische Entwicklung dar. Schauen wir uns einmal die Bevölkerungszahlen an - ich berufe mich dabei auf die Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung -: In Afrika leben zurzeit 1 030 Millionen Menschen. Es werden bereits 2025 1 412 Millionen und im Jahr 2050 2 084 Millionen Menschen sein. Das bringt Herausforderungen in den Bereichen Wasser, Ernährung und damit der ländlichen Entwicklung sowie Energieversorgung mit sich. Lassen Sie mich bezüglich Wasser ein Beispiel herausgreifen - hier müssen wir auch unsere Bevölkerung mitnehmen -: Eine Stadt wie Lagos hat eine Kläranlage für 350 000 Einwohner, die 1950 gebaut wurde. Jetzt hat Lagos 16 bis 18 Millionen Einwohner. Damit geht fast alles Abwasser in die Lagunen, dann in den Atlantik und kommt irgendwann bei uns an. Wir müssen das unserer Bevölkerung deutlich machen, damit sie bereit ist, Entwicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit Afrika entsprechend zu unterstützen. ({3}) Meine Damen und Herren, diese christlich-liberale Koalition und Dirk Niebel haben ganz deutlich gesagt: Schwerpunkte werden wir in den Bereichen Wasser, ländliche Entwicklung und Bildung setzen. Je gebildeter die junge Generation ist - der Anteil der jungen Generation unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Afrika beträgt zurzeit 40 Prozent -, desto mehr Teilhabe will sie haben und desto eher wird sie nachhaltige Entwicklung als Chance für die eigene Heimat begreifen. Auch das ist Hartwig Fischer ({4}) eine ganz besondere Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Hierfür tragen wir Verantwortung. Hier müssen wir auch innerhalb der Europäischen Union Schwerpunkte setzen. All dies bietet Entwicklungsmöglichkeiten für den Chancenkontinent Afrika. Ich bitte Sie einfach einmal, die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung ermittelt hat und die auch Auswirkungen auf uns hat, genauer anzusehen. Dann sehen Sie, welche Herausforderungen sich für Afrika, aber auch für uns als Nachbarkontinent stellen. Unterstützen Sie dabei diese christlich-liberale Koalition! Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5951. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent- schließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 17/5895 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. Dagmar Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes und zur Reformierung des Wahlrechts - Drucksache 17/5896 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr vor der letzten Bundestagswahl hat das Bundesverfassungsgericht das Bundeswahlgesetz überprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es verfassungswidrig ist. Es hat dem Gesetzgeber eine Bearbeitungsfrist von drei Jahren eingeräumt. Diese läuft in sechs Wochen ab. Wir stellen fest: ({0}) Am Ende dieser drei Jahre stehen wir fast genau dort, wo wir zu Beginn gestanden haben. Es gibt keine Mehrheit im Deutschen Bundestag für ein verfassungskonformes Wahlrecht. Ich finde, das ist eine grobe Missachtung der Rechtsprechung des Gerichtes durch die Mehrheit in diesem Hause. ({1}) Sie haben eine Nachspielzeit von drei Jahren bekommen. Aber Sie haben die Uhr einfach ablaufen lassen und haben nichts gemacht. Ich finde, das ist eine unglaubliche verfassungspolitische Respektlosigkeit, die Sie an den Tag legen. ({2}) Die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der Schönheitsfehler haben mag. ({3}) Aber er würde uns helfen, ein verfassungskonformes Wahlrecht zu schaffen. Die SPD legt heute einen Gesetzentwurf für ein verfassungskonformes Wahlrecht vor. Sogar die Fraktion Die Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht. ({4}) Dass Sie sich als Regierungskoalition ausgerechnet von den Linken in Sachen Verfassung und Wahlrecht überholen lassen, ({5}) spricht eindeutig gegen Sie. ({6}) Das Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimmgewicht beanstandet. Das ist in der Tat eine paradoxe Erscheinung in unserem Wahlrecht. Es hätte bei der Nachwahl in Dresden dazu geführt, dass die CDU, wenn sie kräftig Zweitstimmen hinzugewonnen hätte, ein zusätzliches Listenmandat in Sachsen gewonnen hätte. Sie hätte dann aber ein Mandat in Nordrhein-Westfalen verloren. Allerdings wäre dieses Mandat in Sachsen gar nicht zu Buche geschlagen; denn in Sachsen hatte die CDU sogenannte Überhangmandate. Deshalb wäre in der Konsequenz ein Überhangmandat lediglich in ein Listenmandat umgewandelt worden. Unter dem Strich hätte die Union ein Mandat, und zwar in NordrheinWestfalen, verloren. Das bedeutet: Ein Zuwachs an Zweitstimmen kann zum Verlust von einem Mandat führen. Das BundesverThomas Oppermann fassungsgericht sagt, dass das nicht sein darf. Wenn die Wählerinnen und Wähler nicht mehr sicher sein können, ob sie mit ihrer Stimmabgabe ihrer Partei nützen oder schaden, dann ist das Vertrauen in das Wahlrecht in der Tat beeinträchtigt und dann muss dieser Fehler korrigiert werden. Das negative Stimmgewicht hat aber nur eine begrenzte Wirkung. Insgesamt können damit bundesweit ein oder zwei Mandate verschoben werden, nicht mehr. Unsere verbundenen Landeslisten sind quasi kommunizierende Röhren, die das immer ausgleichen. Eine viel gravierendere Verzerrung der Wirkung von Wählerstimmen kommt durch die Überhangmandate zustande. Sie sind das eigentliche Problem. Wir kennen Überhangmandate seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Vor 1990 waren es allerdings nie mehr als sechs Überhangmandate. Seit der Vereinigung ist ihre Zahl gewachsen. Heute haben wir bei einem Fünf-Parteien-System 24 Überhangmandate im Deutschen Bundestag, so viel wie noch nie zuvor. Diese 24 Überhangmandate entfielen ausschließlich auf die Union. Das bedeutet: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen, die man normalerweise braucht, um diese Anzahl der Mandate zu gewinnen, musste sich die Union verdienen. Sie hat sie extra obendrauf bekommen. Das Bundesverfassungsgericht - das muss man natürlich klar einräumen - hat bisher noch nicht eindeutig die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate festgestellt, ({7}) aber schon in seiner ersten Entscheidung klar ausgeführt, dass bei Überhangmandaten die Wähler der entsprechenden Kandidaten ausnahmsweise ihr Stimmgewicht verdoppeln können und dass das nur in engen Ausnahmegrenzen zulässig ist. In einer anderen Entscheidung hat es gesagt: Wenn sich der Anteil der Überhangmandate allerdings der 5-Prozent-Marke nähert, dann wird es verfassungsrechtlich kritisch. Genau dahin bewegen wir uns: 24 Mandate sind noch keine ganzen 5 Prozent, aber wir haben hier jetzt Überhangmandate fast in Fraktionsstärke; das ist wie eine sechste Fraktion im Deutschen Bundestag. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Überhangmandate in dieser Größenordnung aus vier Gründen verfassungswidrig sind: Erstens. Sie verleihen manchem Wähler ein doppeltes Stimmgewicht: Ein Teil der Wähler kann mehr Abgeordnete in den Deutschen Bundestag wählen als andere Wähler. Das ist eine Wirkung, die wir schon einmal in Deutschland hatten: beim vorkonstitutionellen Wahlrecht in Preußen. Zweitens. Die Überhangmandate führen zu einer massiven regionalen Ungleichverteilung der Mandate und damit zu unterschiedlichem politischem Einfluss der verschiedenen Regionen. Die CDU in Baden-Württemberg hat bei der letzten Wahl mit rund 34 Prozent der Zweitstimmen fast 50 Prozent der Mandate gewonnen, davon zehn Überhangmandate. Das politische Gewicht der zehn Überhangmandate ist fast genauso groß wie das politische Gewicht Hamburgs im Bundestag: Hamburg hat insgesamt 13 Bundestagsmandate. Baden-Württemberg hat jetzt zwar eine gute Regierung; aber das ist noch lange kein Grund dafür, dass diese Region hier im Deutschen Bundestag mit zehn Mandaten überrepräsentiert sein sollte. ({8}) Drittens. Die Überhangmandate verletzen die Chancengleichheit der politischen Parteien bei den Wahlen. Die SPD braucht für ein Bundestagsmandat 68 500 Stimmen, die CSU 62 000 Stimmen, die CDU nur 61 000 Stimmen. Es ist kein faires Wahlrecht, wenn einzelne Parteien weniger Stimmen für ein Mandat benötigen als andere. Der vierte Punkt ist im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate am gravierendsten. Die Überhangmandate können die Mehrheiten im Deutschen Bundestag umdrehen. Das heißt, eine Minderheit der Stimmen kann zu einer Mehrheit der Mandate führen. Die Überhangmandate können hierfür den Ausschlag geben. Spätestens wenn das passiert - meine Damen und Herren, da bin ich ganz sicher -, werden die Wählerinnen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie verlieren. Das kann dann eine Staats- und Verfassungskrise auslösen, über die sich niemand freuen kann. ({9}) Deshalb müssen wir dieses Problem ernst nehmen. Alle Experten sagen, dass die Zahl der Überhangmandate im Fünf-Parteien-System weiter anwachsen wird, von 24 in Richtung 50 oder 60. Das ist eine ernstzunehmende Bedrohung. Wir müssen wissen: Das Wahlrecht ist nicht irgendein Recht, das beliebig gestaltet werden kann. Das Wahlrecht ist neben der Freiheit der Person und der Meinungsfreiheit für die Demokratie schlechthin konstituierend: In der Demokratie liegt die Macht beim Volk; der Wahlakt ist die Übertragung dieser Macht vom Volk auf das Parlament. Der Wahlakt muss deshalb klar, einfach und sauber sein; vor allen Dingen muss er manipulationsfrei gestaltet sein. Er ist verbunden mit dem gleichen Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger; dieses gleiche Wahlrecht ist im Augenblick nicht mehr gewährleistet. Wir sagen deshalb: Ein verfassungskonformes Wahlrecht muss nicht nur das negative Stimmgewicht beseitigen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren. Hier gibt es mehrere Wege. Die Grünen wollen die Überhangmandate nach ihrem Entwurf mit Mandaten auf den Landeslisten anderer Länder verrechnen. Das ist nicht unproblematisch, weil auch das zu einer regionalen Ungleichverteilung des politischen Einflusses führen würde. Außerdem könnte man CSU-Mandate nicht verrechnen, weil die CSU eine eigenständige Landesliste aufstellt. ({10}) Man müsste dann der CSU direkt gewählte Mandate wieder abnehmen. Auch das ist problematisch. Die Linken legen einen Entwurf vor, in dem dieses Modell mit dem SPD-Modell kombiniert wird. ({11}) Unser Modell sieht vor, die Überhangmandate auszugleichen, sodass die Proportionalität des Zweitstimmenergebnisses wiederhergestellt werden kann. ({12}) Ausgleichsmandate gewährleisten, dass die Stimmabgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich nützt. Die Wählerinnen und Wähler können bei der Stimmabgabe dann wieder sicher sein, dass ihre Stimme der Partei, die sie gewählt haben, im Endeffekt zugute kommt. Wir sehen natürlich ganz klar die Gefahr, dass der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate größer werden kann. Wir sehen aber nicht tatenlos zu. Dieser unerwünschte Effekt kann korrigiert werden. Deshalb sagen wir: Vor der übernächsten Bundestagswahl kann man auswerten, wie sich die Ausgleichsmandate ausgewirkt haben. Wir wären dann bereit, durch eine maßvolle Reduzierung der Direktwahlkreise eine Verkleinerung des Bundestages herbeizuführen. Auf diesem Weg würden wir gleichzeitig einen Umstand herstellen, der die Entstehung von Überhangmandaten tendenziell verhindern kann. Die Koalition überlegt immer noch. Sie hat noch immer keine Einigung gefunden. Das liegt natürlich daran, dass sie das Wahlrecht in erster Linie als Instrument zur Machtabsicherung betrachtet. ({13}) Die Union möchte um jeden Preis die Überhangmandate behalten. Ich rufe Ihnen zu: Letztes Mal haben Sie zwar reichlich Überhangmandate gehabt, wie das beim nächsten Mal sein wird, wissen wir aber nicht. ({14}) In der Vergangenheit hat auch die SPD von Überhangmandaten profitiert. ({15}) Immer haben aber nur CDU und SPD davon profitiert, nie die Grünen, nie die FDP und nie die Linkspartei. Deshalb sagen wir: Wenn die Überhangmandate all diese kritischen Wirkungen haben, dann wollen wir davon nicht profitieren. Wir wollen auf diese Chance verzichten, indem wir die Überhangmandate ausgleichen. Ich kann verstehen, dass die Union sich angesichts einer laut demoskopischer Untersuchungen schrumpfenden Zustimmung und angesichts der schlechten Landtagswahlergebnisse an diesen Überhangmandaten festklammern will. Was ich aber nicht verstehen kann, Herr Brüderle, ist, dass die FDP in diesen Verhandlungen alles tut, um der Union die Überhangmandate zu sichern. Die FDP hat zwar ein bisschen unter dem Image gelitten, eine Partei der Egoisten zu sein, dass Sie jetzt aber so altruistisch sind, dass Sie sogar zur Machtabsicherung der Union beitragen wollen ({16}) und für ein Wahlrecht eintreten, das Ihrer Partei überhaupt nicht hilft, wundert mich sehr. Dieses Wahlrecht hilft den kleinen Parteien gar nicht. Sie bekommen zwar Ausgleichsmandate, aber keine Überhangmandate. ({17}) Deshalb möchte ich Sie bitten: Kehren Sie zurück ({18}) an den Verhandlungstisch. Sie haben mit uns zwar Gespräche geführt, aber wir hatten den Eindruck, dass die Gespräche nur geführt wurden, um Zeit zu schinden. Dafür stehen wir nicht zur Verfügung. Wir haben jetzt einen Entwurf auf den Tisch des Hauses gelegt. Dazu kann es jetzt eine Anhörung geben. Ich gehe davon aus, dass Sie noch vor Ablauf der Frist wenigstens einen Entwurf vorlegen. Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit vor einem Alleingang warnen. Ein Konsens im Wahlrecht ist für unsere Demokatie wichtig. ({19}) Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit Ihr Modell durchbringen wollen, dann können wir nicht ausschließen, dass wir uns in Karlsruhe wiedersehen. Dann wird das Bundesverfassungsgericht vielleicht final Gelegenheit bekommen, ein abschließendes Wort zur Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate zu sagen. Vielen Dank. ({20})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Thomas Oppermann. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Günter Krings. Bitte schön, Kollege Dr. Krings. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute auf Antrag von SPD und Linken über das Wahlrecht. Ich will Ihnen, Herr Oppermann, und allen anderen Kollegen eines vorweg sagen: So weit Sie kritisieren, dass die Koalitionsfraktionen zu lange brauchen, um einen ausformulierten Gesetzentwurf zu diesem Thema vorzulegen, gebe ich Ihnen recht. Dieser Kritik kann und will ich nicht entgegentreten. Auch ich hätte mir gewünscht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt deutlich weiter wären. ({0}) Aber ich möchte Ihnen auch Folgendes sagen: Sie sollten vermeiden - zum Schluss klang es ein wenig so, als ob Sie das tun könnten -, bei diesem Thema in Oppositionsreflexe zu verfallen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass man versuchen muss, mit allen Fraktionen zu sprechen. Hierfür gab es durchaus schon Angebote. Hier sind eben nicht nur die Regierungsfraktionen, sondern alle Fraktionen in diesem Hause gefragt, dieses schwierige Problem „negatives Stimmgewicht“ in den Griff zu bekommen und Lösungsvorschläge zu machen. Nur: Es reicht eben nicht, irgendeinen Gesetzentwurf vorzulegen, wie das inzwischen alle drei Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses gemacht haben, sondern es muss etwas vorgelegt werden, was verfassungskonform, transparent und fair ist. ({1}) Fair heißt: fair zwischen den verschiedenen Parteien und fair zwischen den verschiedenen Regionen in Deutschland. Ich kann es vorwegnehmen: Alle drei Gesetzentwürfe erfüllen diese Mindestvoraussetzungen für Wahlrechtsanträge eindeutig nicht. ({2}) Insofern verstärkt das noch die von Ihnen geäußerte Kritik - und auch meine Selbstkritik - daran, dass wir als Regierungsfraktionen noch nicht geliefert haben: Wir hätten Ihnen allen bei den Entwürfen, die Sie vorgelegt haben, eine Blamage ersparen können. Wir hätten Sie davor bewahren müssen, solchen Unsinn vorzulegen, wie er von Ihnen kam. ({3}) Wir haben, das bekenne ich freimütig, unsere Fürsorgepflicht Ihnen gegenüber nicht erfüllt. ({4}) Ich will Ihnen noch einmal die Probleme aufzeigen. Ich will kurz einen Entwurf nach dem anderen anschauen, damit ich darlegen kann, warum diese drei Entwürfe allesamt untauglich sind. ({5}) Meine Damen und Herren, gemeinsam können wir aus diesen drei Entwürfen lernen, wie man es nicht macht. Auch das ist schon ein gewisser Fortschritt. Kommen wir zunächst zum Vorschlag der Grünen, die ihn heute nicht zur Debatte stellen, die ihn vielmehr vor einigen Wochen vorgelegt haben. ({6}) Übrigens legen Sie Vorschläge immer nur dann vor, wenn Sie in der Opposition sind; in Regierungszeiten haben Sie es nie geschafft, Ihren Koalitionspartner zu einem Vorschlag zu überreden. Aber das sei dahingestellt. Sie wollen Überhangmandate auf anderen Landeslisten kompensieren, sie durch Verrechnungen ausgleichen. Im Klartext: Ihr Vorschlag geht dahin, dass an sich bereits auf Landeslisten gewählte Abgeordnete ihr Mandat wieder verlieren, weil in einem anderen Bundesland Überhangmandate eingetreten sind. Wie die anderen Fraktionen ignorieren Sie dabei, dass die Überhangmandate überhaupt nicht das Problem sind, das das Bundesverfassungsgericht uns zur Lösung aufgetragen hat. ({7}) Wir sind aber sehr dafür, nur die Probleme zu lösen, die uns von Karlsruhe zur Lösung aufgetragen wurden, und nicht irgendwelche imaginären Probleme. ({8}) Eine weitere Verschlimmbesserung geht dahin - der Kollege Mayer wird nachher dazu noch etwas ausführlicher sprechen -, dass Sie dann, wenn dieser Ausgleich nicht ausreicht, sogar den direkt in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten ihr Mandat wieder abnehmen wollen. ({9}) Das ist ein Vorschlag, der an Demokratiefeindlichkeit nicht zu überbieten ist. Ein solches Wahlrecht hat es nicht einmal - wir haben es eben erwähnt - im Preußischen Landtag oder im Deutschen Reichstag gegeben. Damit gehen Sie zurück in vordemokratische Zeiten. So etwas werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({10}) Die Folgen dieser grünen Ideen sind, dass ganze Wahlkreise eventuell ohne jeden Vertreter im Bundestag bleiben. Ein Land wie Brandenburg beispielsweise, in dem 350 000 Menschen CDU wählen, stünde am Ende eventuell ganz ohne einen CDU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag da. ({11}) Das ist demokratie- und proporzfeindlich. Bei Ihrem Vorschlag kann so etwas durchaus passieren. Es wäre fast schon bei der letzten Bundestagswahl passiert, wenn Ihr Wahlrecht gegolten hätte. In Wahrheit geht es Ihnen nicht um die Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts. Es geht Ihnen darum, das Projekt „Abschaffen der Überhangmandate“ - ein ganz anderes Projekt - zu forcieren. ({12}) Das ist, wenn man so will, ein Kapern der Gerichtsentscheidung für Ihre eigennützigen Zwecke. Dass dieses Thema - Aberkennung von gewonnenen Mandaten - offenbar doch gefährlich ist und uns das durchaus drohen könnte, sieht man daran, dass eine zweite Fraktion in diesem Hause, nämlich die Linksfraktion, einen ähnlichen Vorschlag vorlegt. Auch dieser Vorschlag führt dazu, dass Länder doppelt bestraft würden, indem sie - das hat Herr Oppermann durchaus richtig gesagt - zusätzlich benachteiligt würden, weil sie als Steinbruch für Länder mit Überhangmandaten dienen sollen. Das ist ein föderal ungerechtes System, das wir nicht akzeptieren können. Aber die Linken wären ja nicht die Linken, wenn sie nicht diesem Unsinn noch einige absurdere Vorschläge hinzufügen würden. Sie wollen zum Beispiel das Wahlalter auf 16 Jahre heruntersetzen. ({13}) Was das nun mit der Karlsruher Entscheidung zu tun hat, mag jeder für sich beurteilen. Wir sind als Union und als Koalition der Auffassung: In unserem Land gehören Rechte und Pflichten zusammen. ({14}) Es ist schon bemerkenswert, dass eine Fraktion, die ansonsten nicht einmal den Erwachsenen mündige Entscheidungen, etwa im Verbraucherrecht, zutraut, ({15}) auf einmal Jugendliche und Kinder entscheiden lassen möchte. ({16}) Hören Sie endlich damit auf, Erwachsene wie Kinder und Kinder wie Erwachsene zu behandeln! ({17}) Auch die Linken sind offensichtlich von sinkenden Umfragewerten alarmiert. Daher wollen sie sich offenbar ein neues Wahlvolk zusammenstellen. ({18}) Das hat ja in der DDR schon einmal gut funktioniert. Wenn man mit dem Volk nicht einverstanden ist, löst man das alte Volk auf und wählt sich ein neues Volk. ({19}) In diesem Zusammenhang sind wohl Ihre Vorschläge zum Ausländerwahlrecht zu sehen. Sie verlangen, dass Ausländer, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt haben, ohne Weiteres das Wahlrecht erhalten. ({20}) Das ist verfassungswidrig und offensichtlich ein Verstoß gegen Art. 20 des Grundgesetzes. Für eine philologischjuristische Nachhilfestunde fehlt mir die Zeit. ({21}) „Demokratie“ kommt von „Demos“, das heißt „Volk“, „Staatsvolk“. Das Staatsvolk sind die Bürger der Bundesrepublik Deutschland. So steht es in Art. 20 unseres Grundgesetzes. ({22}) Sie sollten zumindest einmal in diesen Grundartikel unserer Verfassung schauen. Auch ich bin sehr dafür, dass Zuwanderer bei der Bundestagswahl wählen können, aber erst, nachdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten haben. Dazu haben wir geringe Hürden. Wir haben immer noch eines der liberalsten Einbürgerungsrechte in ganz Europa. ({23}) Bei einem dritten Vorschlag der Linken stockt einem wirklich der Atem. Der eigentliche Schwerpunkt Ihres Gesetzentwurfs ist - das sieht man, wenn man die Zahl der zu ändernden Paragrafen betrachtet; Sie wollen über 20 Paragrafen ändern -, dass Sie ein flächendeckendes aktives und passives Wahlrecht für alle verurteilten Straftäter in Deutschland erreichen wollen. Ihr Schwerpunkt in der politischen Agenda beim Wahlrecht ist offenbar, verurteilte Straftäter wählen zu lassen. ({24}) Man kann jetzt darüber spekulieren, dass eine Partei, die aus einem Staat hervorgegangen ist, der zum Teil von Verbrechern geführt worden ist, es für besonders demokratisch hält, dass verurteilte Straftäter gewählt werden können und wählen dürfen. Dass beispielsweise ein verurteilter Mörder bei einer Bundestagswahl Wahlrecht hat, scheint Ihnen wichtig zu sein. Auch dass ein verurteilter Sexualstraftäter bei der Bundestagswahl kandidieren darf, scheint Ihnen wichtig zu sein. Ich will diese Spekulationen gar nicht weiterführen; ich glaube, das hätten Sie auch gar nicht verdient. Ich möchte nur eines sagen: Mit dieser Fülle von Forderungen in Ihrem Gesetzentwurf ist klar geworden, wo verurteilte Straftäter in Deutschland ihre politische Heimat finden, nämlich auf der ganz linken Seite des Hauses. ({25}) Daher ist es fast wohltuend, sich dem Gesetzentwurf der SPD zuzuwenden. Das mache ich nur kurz, da auch der Gesetzentwurf sehr kurz ist. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes fadenscheinig; man kann, wenn man ihn gegen das Licht hält, fast hindurchschauen. ({26}) Ihr Gesetzentwurf ist sicherlich, Herr Oppermann, gut gemeint. Aber wir alle wissen: Das Gegenteil von gut gemeint ist gut. Er ist also nicht gut gemacht. Das Hauptproblem ist - das haben Sie ja am Ende des Gesetzentwurfes etwas schamhaft erwähnt -, dass eine Umsetzung des Gesetzentwurfes zu einem massiven Aufblasen des Deutschen Bundestages in einer Größenordnung führen würde, die unberechenbar ist. Es können einmal 20 Abgeordnete mehr sein, es können auch leicht einmal 120 Abgeordnete mehr sein. Man kann jetzt lange darüber philosophieren, zu welchen zusätzlichen Kosten für Mitarbeiter, Abgeordnetenentschädigung und anderem das führen würde, aber vor allem tut es, glaube ich, einer Demokratie nicht gut, wenn die Größe eines Parlaments, also des Bundestages, von Wahl zu Wahl extrem variiert. Von daher ist es aus politischen Gründen äußerst fragwürdig, einen solchen Antrag zu forcieren. ({27}) Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie meinen, Sie könnten das Problem mit einer Reduktion der Zahl der Wahlkreise lösen, greifen Sie zu kurz. Das würde im Zweifelsfalle sehr viele Wahlkreise in Deutschland kosten. Vielleicht sollten Sie in Ihrer eigenen Fraktion noch einmal in Ruhe darüber debattieren, ob das so gewollt ist. Jedenfalls kann es leicht passieren, dass Sie damit der größten politischen Flurbereinigung in Deutschland das Wort reden, die es seit dem Reichsdeputationshauptschluss gegeben hat. ({28}) - Sie wissen doch gar nicht, was das ist, Herr Wieland. ({29}) Das größere Problem ist allerdings, dass der Ausgleich, den Sie vorschlagen, das Problem des negativen Stimmgewichts überhaupt nicht löst. Ich zitiere wörtlich aus Ihrer Begründung. Im jetzigen Wahlrecht ist es so, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann … So steht es in Ihrem Entwurf. Das stimmt. Genau das bewirkt das geltende Wahlrecht. Sie haben das Problem des negativen Stimmgewichts vollkommen korrekt beschrieben. Es ist der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, dieses Problem zu beseitigen. Genau das leistet Ihr Gesetzentwurf an keiner Stelle. Er reduziert nicht einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts. Sie beseitigen nicht das negative Stimmgewicht, sondern Sie gleichen es nur aus.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Krings, wenn wir rein fachlich diskutieren, ist, wie ich meine, Ihre Kritik an den Entwürfen, die vorliegen, zu respektieren. Wir vonseiten der SPD haben nicht den Anspruch, einen allein selig machenden Gesetzentwurf vorzulegen. Ich will Ihnen freimütig sagen: Es treibt uns um - bitte nehmen Sie das ernst; ich sage das ohne jede Polemik -, dass wir kurz vor Ablauf einer Frist, einer sehr großzügig bemessenen Frist, stehen, die uns das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage eines verfassungsfesten Wahlrechts eingeräumt hat. Ich könnte Ihnen fast sagen - ich bin dazu jetzt allerdings nicht autorisiert -: Wir ziehen alles zurück. - Das Entscheidende ist doch, dass Sie uns endlich vor den Ohren und Augen der Öffentlichkeit einen Vorschlag unterbreiten müssen. Wie geht es weiter? ({0}) Alle Fraktionen dieses Parlaments sind jederzeit, Tag und Nacht, bereit, mit Ihnen zu verhandeln. Das hätten wir schon früher machen können; aber sei es drum. Es ist noch nicht zu spät. Machen Sie uns bitte einen Vorschlag, damit alle Fraktionen ihren Job machen und ihre Aufgabe erfüllen können. ({1}) Wenn wir dieses Thema gemeinsam angehen, dann werden wir innerhalb von sechs, acht Wochen, nach der Abwägung des Für und Wider, Lösungsvorschläge vorlegen können. Dabei werden Ihre Argumente und unsere Argumente eine Rolle spielen, sicherlich aber nicht die Argumente, die sich auf Verbrecher beziehen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass uns gelingt, was uns in dieser Frage immer gelungen ist, nämlich einen Konsens zu finden. Das Wahlrecht - Herr Krings, das muss ich Ihnen nicht sagen; da will ich Sie auch nicht belehren - ist von überragender Bedeutung. Das sind die Spielregeln unserer Demokratie. Dass wir die Aufgaben, die uns gestellt worden sind, nicht erfüllen, bedeutet: Wir machen unseren Job nicht. Sie und wir, wir alle machen unseren Job nicht, und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Es ist der Auftrag des Parlamentes, ein verfassungskonformes Wahlrecht herzustellen; dies treibt uns um. Dieses Anliegen ist für mich zehnmal wichtiger als der Gesetzentwurf der SPD. Man kann natürlich auch über ihn hinausgehen. Wir sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Geben Sie uns die Gelegenheit, uns endlich gemeinsam an den Verhandlungstisch zu setzen! ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war die Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz.

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war eine sehr lange und mir sehr willkommene Zwischenfrage, Herr Wiefelspütz. Ich hatte schon gehofft, dass ich die Grundzüge unseres Modells - nicht auf Kosten meiner Redezeit - erläutern kann. Das tue ich jetzt gerne und antworte Ihnen damit auf Ihre Frage. ({0}) Wir haben schon Gespräche geführt, zum Beispiel zum Rechtsschutz, aber auch zu anderen Aspekten. ({1}) Diese Gespräche fanden zwischen den Fraktionen statt, auch zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. Ich sage Ihnen ganz klar - das habe ich hier im Plenum bereits mehrfach vorgetragen -: Die Lösung muss darin bestehen, dass wir das Problem, das das Bundesverfassungsgericht zur Lösung aufgegeben hat, nämlich das negative Stimmgewicht, erst einmal in der Sache ernst nehmen. ({2}) Wir müssen es begreifen und erkennen. ({3}) Das negative Stimmgewicht entsteht durch die Verbindung von Landeslisten. Wie kann ein Problem, das durch die Verbindung von Landeslisten entsteht, gelöst werden? Durch die Trennung von Landeslisten. ({4}) - Jetzt rede ich. Sie haben gerade geredet. ({5}) Deshalb befürworten wir ein Modell zur Trennung von Landeslisten; das wissen Sie. Es ist erstaunlich, dass keiner der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen auf dieses Modell eingeht. Wir alle wissen, dass es im Hinblick auf Gesetzesbegründungen Rationalisierungsanforderungen gibt; das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach festgestellt. Sie müssen sich in Ihren Gesetzentwürfen aber zumindest mit diesem Thema beschäftigen. Dieses Lösungskonzept, das einfachste und sicherste, wird aber in keinem der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen erwähnt. ({6}) Dieses Konzept ist allerdings das richtige. Ich sage Ihnen ganz klar: Die Lösung besteht im Wesentlichen in der Streichung eines einzelnen Paragrafen. Ich sage Ihnen aber auch - das ist ein Grund für das langsame Verfahren -: Es gibt in diesem Bereich Untervarianten. Man könnte die Mandate beispielsweise nach der aktuellen Wahlbeteiligung Landeslisten zuordnen; das ist ein wunderbares Instrument, um echte Erfolgswertgleichheit herzustellen. Wenn man auch die dann vielleicht immer noch vorhandenen inversen Effekte und Restwirkungen des negativen Stimmgewichts ausgleichen will, müsste man die Mandate nach Bevölkerungsanteilen verteilen. Beide Varianten wären möglich. ({7}) Darüber hinaus gibt es ein, zwei weitere Untervarianten. Das Konzept bzw. der Weg ist vorgezeichnet. Darüber können wir sofort in Gespräche eintreten; ({8}) auch über dieses Thema haben wir schon gesprochen, auch mit Ihrer Fraktion. Wir müssen überlegen, welche Untervarianten wir anwenden. Ich sage Ihnen: Die Lösung muss mit dem Problem zu tun haben. Ihre Lösungen haben nichts mit dem Problem zu tun. Das Problem ist die Verbindung von Landeslisten. Die Lösung muss in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten bestehen. ({9}) Meine Damen und Herren, noch zwei Sätze zum SPD-Modell. ({10}) Wir jedenfalls nehmen das Bundesverfassungsgericht sehr ernst und lösen das Problem des negativen Stimmgewichts. Bei der SPD bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie das Problem nicht lösen wollen oder es einfach ignorieren. Ausgleich von Überhangmandaten heißt nicht Beseitigung des negativen Stimmgewichts. Ich will zum Schluss noch einige grundsätzliche Erwägungen machen. Bei aller berechtigten Kritik an der Dauer der Erörterungen, auch innerhalb der Regierungsfraktionen - das habe ich am Anfang gesagt und sage ich jetzt noch einmal; diese Kritik nehme ich an -, ist es wichtiger für uns alle, dass wir ein gründlich durchdachtes und verfassungskonformes Wahlrecht vorlegen und nicht eines, das mit heißer Nadel gestrickt ist, untauglich ist oder unfaire Elemente enthält. ({11}) Interessanterweise werfen Sie sich diese Punkte ja auch gegenseitig vor. Herr Oppermann, in Ihrem Vortrag haben Sie ganz deutlich gesagt, dass ein internes Kompensationsmodell, wie es die Grünen und Linken vorschlagen, offenbar nicht tauglich ist und die Ungerechtigkeiten föderal noch vergrößern würde. ({12}) Der eigentliche Skandal ist deshalb auch nicht, dass wir diese Frist des Bundesverfassungsgerichts eventuell versäumen werden - das ist ärgerlich genug -, ({13}) der eigentliche Skandal ist hier, dass alle Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes meines Erachtens missbrauchen, um nicht das Problem zu lösen, sondern ihre alte politische Agenda nach vorne zu bringen. ({14}) Sie kümmern sich um Straftäter und darum, Überhangmandate zu beseitigen. Das hat im Kern nichts mit dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu tun und ist meines Erachtens auch eine Form von Missachtung des Bundesverfassungsgerichts. ({15}) Es ist schön, dass die Opposition mit ihren Vorlagen in diesem Bereich die Messlatte für unseren Vorschlag nicht so hoch legt, aber wir versichern Ihnen: Wir werden nicht an diesen schwachen Gesetzentwürfen Maß nehmen, sondern wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, der transparent, gerecht und vor allem verfassungskonform ist. ({16}) Das kann und muss dann eine solide Basis sein.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Thomas Oppermann? Dadurch würde sich auch Ihre Redezeit verlängern. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war eigentlich schon mein Schlusssatz, aber bitte schön, Herr Oppermann.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie sagen, die Opposition missachte das Bundesverfassungsgericht. Das macht mich fast sprachlos. Wir legen hier Gesetzentwürfe vor, über die man inhaltlich in der Tat immer streiten kann, um Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ziehen. Sie haben überhaupt keinen Entwurf vorgelegt. Deshalb entlarvt sich das, was Sie hier sagen, als eine blanke, dreiste Vorwärtsverteidigung. Sie wollen von dem eigenen Versagen ablenken und beschimpfen deshalb die Opposition. ({0}) Wenn Sie meinen, dass das die Verantwortung einer Regierungsmehrheit ist, dann mögen Sie ein solches Verständnis von Verantwortung haben. Ich teile es nicht. ({1}) Ich habe eine Frage. Sie meinen, dass Ausgleichsmandate verfassungsrechtlich nicht vernünftig begründbar sind. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass unter anderem die CDU in SchleswigHolstein gerade Ausgleichsmandate für Überhangmandate ins schleswig-holsteinische Landeswahlrecht eingefügt hat, und zwar aus dem Grund, um das vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Wahlrecht zu reparieren. Ist Ihnen das bekannt, und wie bewerten Sie es, dass in fast allen Landeswahlgesetzen Ausgleichsmandate vorgesehen sind?

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihre Wortmeldung wundert mich in mehrfacher Hinsicht, Herr Oppermann. Zunächst einmal hätte ich zumindest erwartet, dass Sie meiner Rede zugehört hätten. Ich habe am Anfang und gegen Ende meiner Rede deutlich gesagt, dass ich die Kritik an dem langsamen Verfahren ernst nehme und auch annehme. Ich habe auch gesagt, dass es nicht reicht, irgendeinen Vorschlag vorzulegen, also irgendein Papier mit irgendwelchen Buchstaben zu bedrucken, und zu meinen, dass sei jetzt ein Beitrag zur Lösung des Problems. ({0}) Ich habe Ihnen dargelegt und bewiesen, dass Ihr Ansatz in Bezug auf die Ausgleichsmandate nichts mit der Lösung des Problems „negatives Stimmgewicht“ zu tun hat. Es ist auch eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichts, einen Lösungsvorschlag vorzulegen, der nichts mit dem Problem und seiner Lösung zu tun hat, sondern nur mit der alten politischen Agenda, auf der die Überhangmandate stehen. ({1}) Ihr damaliger Kanzler Gerhard Schröder hat in diesem Hause nur deshalb Vertrauensfragen gewonnen, weil es Überhangmandate gab. Sie in persona und Ihre ganze Fraktion haben diese Überhangmandate massiv verteidigt. Jetzt, auf einmal, da es Ihnen nicht mehr in den Kram passt, sagen Sie: Das alles wollen wir nicht mehr. Das ist eben nicht der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts. Dabei geht es nur um das negative Stimmgewicht. Dieses Problem wollen wir lösen, zugegebenermaßen zu langsam, aber wir beschäftigen uns wenigstens mit dem Problem. ({2}) - Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer Frage, ansonsten dürfte ich ja auch gar nicht mehr reden. Eine weitere Anmerkung, und zwar zu Ihrer Frage zum Problem in Schleswig-Holstein. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung, auch zum hessischen Wahlrecht, sehr deutlich gesagt, dass wir in Deutschland von sogenannten getrennten Wahlrechtsräumen ausgehen. Schauen Sie sich Art. 28 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland an. Alle anderen Artikel sagen nichts über das Wahlrecht der Länder aus. Wir müssen hier also von komplett und grundsätzlich getrennten Maßstäben ausgehen. Dies sagte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von vor wenigen Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat uns allen zum Kummer aufgegeben - ich glaube, in diesem Kummer waren wir alle uns damals einig -, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Wir haben damals in Karlsruhe dagegengehalten. Diese Aufgabe ist auf Bundesebene zu lösen. Sie ist nur dem Deutschen Bundestag gestellt. Was Sie aus Schleswig-Holstein und anderen Ländern beschreiben, ist ein Phänomen, das damit nichts zu tun hat. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen: Wir sind als Regierungsfraktionen gefordert. Die Opposition ist offenbar in diesen Fragen ratlos. ({3}) Sie haben zwar Papier bedruckt, aber keine Lösungsvorschläge vorgelegt. Wir werden eine Lösung bieten als Grundlage für solide gemeinsame Gespräche. Herzlichen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Günter Krings. - Nun für die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte schön, Kollege Jan Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollege Krings, wenn die Opposition nichts vorgelegt hätte, dann hätten wir heute gar nichts zu diskutieren. Das ist die Wahrheit. Sie müssen die Vorschläge, die gemacht wurden, nicht teilen. Sie als demokratiefeindlich zu bezeichnen, geht voll an der Sache vorbei, vor allem, wenn man selber nichts vorlegt. Das war völlig unangemessen. Sie könnten versuchen, ein bisschen herunterzukommen und die Vorschläge sachlich zu diskutieren. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf einige Punkte eingehen. Die Linke geht in der Tat über die Frage des negativen Stimmgewichts hinaus. Das mag Ihnen nicht gefallen, aber es sind die Vorschläge, die aus den Reihen der Opposition kommen. Ich möchte vorstellen, was wir vorschlagen, um zu versuchen, die Demokratie insgesamt attraktiver zu machen und mehr Menschen an Partizipationsprozessen zu beteiligen. Zunächst haben wir einen Vorschlag zum negativen Stimmgewicht gemacht. Was bedeutet das negative Stimmgewicht? Ich möchte es für die Bürgerinnen und Bürger übersetzen: Es bedeutet, dass ein Mehr an Stimmen bei einer Wahl gegebenenfalls zu einem Weniger an Sitzen führen kann. Das ist paradox; das kann jeder verstehen. Da ist Abhilfe vonnöten. Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben. Unser Gesetzentwurf greift dementsprechend einige Vorschläge der SPD und der Grünen auf und versucht, daraus eine Quintessenz zu ziehen, die übrigens auch, liebe Kollegen von der Union, die Belange von Bayern und der CSU ein Stück weit mit berücksichtigt. ({1}) Denn wir sind in der Tat der Meinung, dass es beim Wahlrecht keine Benachteiligung der CSU geben darf. Dieses Problem müssen wir anders beheben, aber nicht im Wahlrecht. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({2}) Ferner will die Linke eine Verrechnung von Direktund Listenmandaten zunächst auf der Bundesebene, die dann entsprechend auf die Landesebene heruntergebrochen wird. In der Tat sind wir auch der Meinung: Sollten dann noch Überhangmandate entstehen, soll ein Ausgleich erfolgen. So viel zum Thema „negatives Stimmgewicht“. Die Linke hat darüber hinaus die heutige Debatte, zu der Sie nichts beigetragen haben, über das wir uns jetzt auseinandersetzen könnten, zum Anlass genommen, zu versuchen, beim Wahlrecht insgesamt andere Punkte mit zu berücksichtigen. Dass das erforderlich ist, zeigen die Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen DemoJan Korte kratie und die niedrige Wahlbeteiligung. Demnach ist es höchste Zeit, umfassende Änderungen vorzunehmen. Ich will einige Änderungsvorschläge vorstellen. In Deutschland entscheidet ein Bundeswahlausschuss über die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl. So weit, so gut. Interessant ist dabei - an dieser Stelle sehen wir Handlungsbedarf -, dass im Bundeswahlausschuss die im Bundestag vertretenen Parteien sitzen, die dann darüber entscheiden, ob Konkurrenz zugelassen wird oder nicht. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Debatte über „Die Partei“, deren Nichtzulassung seinerzeit die Medienberichte gefüllt hat. Sie wurde übrigens unter anderem wegen mangelnder Ernsthaftigkeit nicht zugelassen. Das ist ein sehr dehnbares Kriterium. Mir fallen noch andere Parteien ein, für die das gilt. Das Hauptproblem bei dem Verfahren ist, dass es keine Möglichkeit gibt, dagegen zu klagen. Deshalb schlagen wir vor, dass bei einer Nichtzulassung durch den Bundeswahlausschuss die betroffene Partei binnen drei Tagen beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen kann und dass das Bundesverfassungsgericht noch vor der Wahl in einem zeitlich angemessenen Abstand hierüber eine Entscheidung fällt. Das ist ein konkreter Vorschlag. Diesen Punkt hat im Übrigen auch die OSZE kritisiert. Wir wollen - der Kollege Krings hat es angesprochen noch weiter gehen. Wir wollen das aktive Wahlrecht auf 16-Jährige ausweiten. Junge Leute engagieren sich auch mit 16 in der Gesellschaft, mischen sich ein und übernehmen Verantwortung. Deswegen wollen wir das Wahlalter senken, analog zu den Kommunen, in denen überwiegend 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Wahl in Bremen durften 16-Jährige wählen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir müssen begründen, warum 16-Jährige nicht wählen dürfen. Wir sind dafür, dass auch 16-Jährige aktiv an der politischen Gestaltung und an Bundestagswahlen teilnehmen. Je mehr, desto besser. ({3}) Wir fordern des Weiteren - darauf wurde bereits hingewiesen -, dass alle Menschen, die seit fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland legal leben, das Wahlrecht bekommen. Das ist dringend notwendig, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Tausende Menschen nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die zum Teil seit Jahrzehnten hier leben, Steuern zahlen, wirtschaften und sich in die Gesellschaft einbringen und sich einmischen, von der Wahrnehmung eines wesentlichen Grundrechts ausgeschlossen sind. Wir schlagen vor, dass alle, die hier leben, mitentscheiden, wie es in diesem Land weitergeht. Es ist entscheidend, dass wir das endlich hinbekommen. ({4}) Wir schlagen überdies vor, die 5-Prozent-Hürde - das ist ein altes Thema - abzuschaffen. Denn es ist klar: Jede Stimme muss gleich viel wert sein. Selbst wenn eine Partei fast 1 Million Stimmen bekommt, verfallen nach geltendem Recht de facto alle Stimmen. Deswegen sind wir dafür, die 5-Prozent-Hürde abzuschaffen. ({5}) - Stimmt, damit würden wir der FDP zurzeit entgegenkommen. Die FDP müsste uns zumindest in diesem Punkt unterstützen. Das ist sehr wahr, Kollege Wieland. Gegen die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde wird immer argumentiert, dann würden die Rechtsextremen in die Parlamente einziehen. Diese Argumentation ist aber nicht schlüssig. Was wäre, wenn sie einmal 6 Prozent bekämen? Wollen wir dann eine 8-Prozent-Hürde einführen? Das geht natürlich nicht. Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und der Kampf gegen Rassismus sind Tagesaufgabe. Das muss zivilgesellschaftlich und darf nicht über das Wahlrecht geregelt werden. Die 5-Prozent-Hürde ist ein Anachronismus. Deswegen schlagen wir vor, sie zu streichen. ({6}) Zum Ausschluss von Wahlcomputern. Darüber wurde insbesondere in der Netzcommunity diskutiert. Wir schlagen vor, Computer bei Wahlen zu verbieten. Der Grundsatz der Öffentlichkeit und der Nachvollziehbarkeit von Wahlen muss erhalten werden. Das ist bei Computern logischerweise nicht der Fall. Man kann in sie nicht hineinschauen; man kann nicht wie bei dem herkömmlichen Verfahren Zettel für Zettel nachprüfen, wie die Stimmen abgegeben wurden. Deswegen schlagen wir ein grundsätzliches Verbot von Wahlcomputern vor. ({7}) Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist nur eine Frage, mit der wir uns, wenn wir über Demokratie diskutieren, auseinandersetzen müssen. Das Wahlrecht umfassend zu reformieren, kann nur ein erster Schritt sein. Ich glaube, dass das Vertrauen in die Demokratie - das besagen alle empirischen Befunde - schwindet. Das darf einen nicht kaltlassen. Wir brauchen sozusagen ein Demokratiebeschleunigungspaket, und zwar nicht nur beim Wahlrecht. Wir müssen darüber hinausgehen. Dazu gehören der Ausschluss von Lobbyisten aus Ministerien und die Beantwortung der sozialen Frage. Denn nur wer sozial und ökonomisch vernünftig abgesichert ist und keine Angst vor der Zukunft haben muss, ist überhaupt in der Lage, sich aktiv in ein demokratisches Gemeinwesen einzubringen. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn wir über Demokratie diskutieren. ({8}) - Richtig, Hartz IV muss weg. Das haben Sie eingeführt. Nun können Sie helfen, Hartz IV abzuschaffen. Das wäre ein schöner Erkenntnisgewinn. Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es gibt einen großen Verdruss über die demokratische Verfasstheit in diesem Land. Dieser rührt vor allem daher, dass es keine Unmittelbarkeit bei Entscheidungen gibt. Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen regelmäßig unterwegs sind - ich hoffe, dass das alle tun -, dann hören Sie oft: Es ändert sich eh nichts; egal wen ich wähle, egal wer in Berlin regiert, es ändert sich einfach nichts. - Wir sollten daher im Rahmen der Debatte über eine Wahlrechtsre12636 form endlich auch die Frage der direkten Demokratie auf die Tagesordnung setzen; denn direkte Demokratie schafft Unmittelbarkeit. Meine Fraktion schlägt daher vor, bei jeder Bundestagswahl und an jedem 3. Oktober eine Volksabstimmung über ein Sachthema durchzuführen, das jede Fraktion vorschlagen kann. Das würde für Unmittelbarkeit sorgen. Wenn zum Beispiel die Mehrheit der Bevölkerung für den Abzug aus Afghanistan stimmte, dann könnten die Menschen sehen, dass der Bundestag gezwungen ist, das durchzusetzen. Das wäre ein wirklicher Fortschritt bei der Demokratisierung. ({9}) Wir brauchen eine neue Ära der Demokratie, ({10}) eine Einmischdemokratie, eine neue Ära der Solidarität. Dafür haben wir hier Vorschläge vorgelegt. Wir sind im Gegensatz zur CSU, die hier nur Kalte-Krieg-Rhetorik und kalten Kaffee geliefert hat, bereit, sachlich darüber zu diskutieren. Wir haben etwas vorgelegt. Ich bin gespannt, wann Sie etwas vorlegen. Wir sind wie immer zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit, weil wir im Gegensatz zu Ihnen keine Ideologen sind. Schönen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Jan Korte. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte schön, Kollege Dr. Stefan Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wahlrecht ist eine Angelegenheit, die dieses Haus jenseits der Beteiligung von Ministerien in eigener Verantwortung und im Dialog der Fraktionen miteinander diskutieren sollte. Insofern freue ich mich über die Diskussion am heutigen Vormittag an so prominenter Stelle. Leider verengt sich die Debatte ein wenig auf die Frage des eigentlichen Wahlvorgangs. Lediglich der Kollege Korte hat dankenswerterweise auch an andere Aspekte gedacht. Beispielsweise müssen wir das Problem der Berliner Zweitstimme beseitigen, für subjektiven Rechtsschutz vor und nach der Wahl sorgen, Probleme bei der Zulassung durch den Bundeswahlausschuss beseitigen und Ähnliches mehr. ({0}) - Regen Sie sich nicht künstlich auf, Herr Wiefelspütz; das tut Ihnen nicht gut. Es liegen drei Vorschläge vor, die ernsthaft diskutiert werden können, nämlich der Vorschlag der Linken, der Vorschlag der Grünen und der Vorschlag der Koalition. ({1}) - Ich habe gesagt: der Vorschlag der Koalition. ({2}) - Hören Sie doch einfach zu! Ich beginne mit der Begründung, warum die SPD keinen ernstzunehmenden Vorschlag unterbreitet hat. Stellen Sie sich vor, wir würden heute den Gesetzentwurf, den uns die SPD nahelegt, beschließen ({3}) und bezüglich der Frage, wie zukünftig gewählt wird, zu 100 Prozent nach den Vorstellungen der SPD verfahren. ({4}) Meine naturwissenschaftliche Vorbildung sagt mir, dass man beim Versuchsaufbau den gleichen Ablauf, den man hatte, noch einmal abbilden lassen sollte. ({5}) Das Verfassungsgericht hat uns gesagt: Lieber Deutscher Bundestag, schaffen Sie das negative Stimmgewicht ab, das bei der Bundestagswahl im Jahre 2005 durch die Nachwahl in Dresden aufgetreten ist. - Lassen Sie uns folgendes Gedankenexperiment einmal gemeinsam durchspielen: Wir veranstalten die Bundestagswahl 2005 nach dem Wahlgesetz, das Sie uns heute vorschlagen. ({6}) - Weil 2005 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Wahlen ergangen ist. - Wir veranstalten also nach dem Wahlvorschlag der SPD die Wahl von 2005 und fragen uns: Wäre es zu dem negativen Stimmgewicht, das 2005 durch das Bundesverfassungsgericht moniert wurde, nicht gekommen? Wäre eine Stimme eines CDU-Wählers in Dresden für die CDU negativ gewesen, wenn er nach dem SPD-Wahlrecht abgestimmt hätte? - Die Antwort ist leider: Ja. Es ist so, als würden Sie Ihr Auto zur Reparatur in die Werkstatt geben, um das schwere Problem am Motor beheben zu lassen, und die Werkstatt würde Ihnen vorschlagen, bessere Scheibenwischer am Fahrzeug anzubringen. Wenn wir die Wahl 2005 nach dem Wahlrecht der SPD durchgeführt hätten, wäre die Verfassungsbeschwerde ebenfalls erfolgreich gewesen, ({7}) weil nach wie vor ein CDU-Wähler seiner eigenen Partei geschadet hätte - und das verkaufen Sie uns als ernsthaften Beitrag. Das ist doch lachhaft. ({8}) Einen solchen Anspruch können Sie hier nicht erheben. Sie werfen ein in der Tat zu diskutierendes verfasDr. Stefan Ruppert sungsrechtliches Problem, nämlich das der Überhangmandate, in den Raum und sagen, dass wir uns aus politischem Kalkül, aber auch aus einer gewissen verfassungsrechtlichen Überlegung heraus diesem Problem widmen müssen. Das, was Sie zur Lösung dieses Problems vorschlagen, ist jedoch, um es als Jurist zu sagen, keine Minus- oder Pluslösung des vorliegenden Problems, sondern ein Aliud, also etwas gänzlich anderes. Das heißt, Sie kurieren hier etwas, was in dieser Form nicht kuriert werden kann. ({9}) - Damit komme ich zu Ihnen, Herr Ströbele. ({10}) In der Tat ist Ihr Vorschlag tauglich, um das Problem des negativen Stimmgewichts zu lösen. ({11}) Insofern sind Sie meiner Meinung nach einen Schritt weiter als die Kollegen von der SPD. Sie zeigen uns auf, wie man das Problem des negativen Stimmgewichts lösen kann. Sie kaufen sich dabei allerdings gravierende verfassungsrechtliche Nachteile ein. ({12}) Es geht um den gleichen Erfolgswert der Stimme. In Brandenburg wählen 362 000 Menschen die CDU - ich kann ihnen immer noch empfehlen: Wählt lieber FDP! ({13}) und erringen damit kein Mandat. In Baden-Württemberg wählen 61 000 Menschen die CDU und erringen damit ein Mandat. Das sei jedem Baden-Württemberger Kollegen von der CDU wirklich gegönnt; aber Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, dass bei 360 000:60 000 - in Brandenburg braucht man also praktisch das Sechsfache an Stimmen, um ein einziges Mandat zu erringen der gleiche Erfolgswert der Stimme - verfassungsrechtlich geboten - auch nur annähernd gegeben ist. ({14}) Ihr Entwurf beinhaltet einen weiteren verfassungsrechtlichen Kollateralschaden. Sie legen fest, dass einzelne Wahlkreise in Zukunft keine direkt gewählten Abgeordneten mehr haben. Sie behaupten einfach: Das tut den Leuten in Bayern eh nicht gut; deswegen nehmen wir ihnen die Mandate von drei direkt gewählten Kandidaten schlicht ab. - Man stelle sich vor: In München wird ein attraktiver Wahlkampf zwischen dem Grünen-, dem FDP-, dem CSU- und dem SPD-Bewerber geführt, und der CSU-Bewerber setzt sich aufgrund eines hervorragenden Wahlkampfs gerade so durch, ({15}) ein Mann, den die Leute wirklich wollen. Dann sagen Sie den Leuten: Der bleibt zu Hause, und in München gibt es in Zukunft keinen direkt gewählten Abgeordneten mehr für den Deutschen Bundestag. - Ich glaube, solche Reformvorschläge können Sie hier nicht ernsthaft vertreten. ({16}) Ich war kurzzeitig etwas eifersüchtig, als sich die neuen Freunde der CSU in Konkurrenz zu einem alten Freund der CSU, nämlich mir, begeben wollten. ({17}) Sie lösen dieses Problem, indem Sie festlegen: Wir gleichen das aus. ({18}) Das ist nun wirklich eine etwas merkwürdige Mischform. Alle anderen Überhangmandate in Deutschland werden verrechnet, aber die eines einzelnen Bundeslandes werden ausgeglichen. Das ist ein systematischer Bruch, den man aus meiner Sicht niemandem erklären kann. Abgesehen davon, dass Sie gern eine Lösung hätten - diesen Wunsch kann ich verstehen -, kann ich keinerlei Grund dafür erkennen. ({19}) - Ich habe die Kollegen von der CSU auch schon vor ihren neuen, falschen Freunden gewarnt. Aber, ich glaube, sie wussten es selbst. Jetzt komme ich, weil das immer wieder moniert wird, zu der Frage, was wir denn wollen. ({20}) Vor dieser Frage will ich mich explizit nicht drücken. Wir haben in vielen Gesprächen mit Ihnen, mit der SPD, mit den Grünen, immer wieder gesagt, was wir wollen, und das war auch in der Presse zu lesen. Wir wollen das Problem dort angehen, wo es entsteht, nämlich bei der Trennung von Wahlgebieten. Wenn wir Wahlgebiete trennen, dann begegnen wir dem Problem des negativen Stimmgewichts direkt - anders als die SPD. Die SPD löst das Problem überhaupt nicht, verschärft es gegebenenfalls noch. Jetzt gibt es drei Möglichkeiten für die Wahl in getrennten Wahlgebieten, die ich ernsthaft diskutieren würde. Wir können 16 Wahlgebiete in Deutschland festlegen und ihnen Mandate nach ihrer Einwohnerzahl zuteilen: ({21}) Bremen hat soundso viele Einwohner, also bekommt es soundso viele Mandate. - Dann führen wir eine Bundes12638 tagswahl durch. In Bremen werden die Stimmverhältnisse entsprechend umgelegt und man sieht, wer welche Mandatszahl erringt. Das ist das absolut puristische Modell, um dem Problem des negativen Stimmgewichts zu begegnen. Damit wird das Problem nämlich komplett beseitigt. Es ist das einzige Modell, das zu diesem Ergebnis führt. Wir kaufen uns dabei allerdings wiederum erhebliche Kollateralschäden ein, die wir dann gewichten müssen. Es ist plötzlich irrelevant, wie viele Menschen in Bremen wählen gehen. Die Bremer können sich sicher sein, immer ihre vier oder fünf Mandate zu bekommen, selbst wenn fast niemand wählen geht. Wenn sozusagen keiner zur Wahl geht, ist der einzelne Bremer Bürger viel besser vertreten, was seine Stimme angeht, als jemand in Niedersachsen, wo sehr viele Menschen zur Wahl gehen. Wir konterkarieren also eigentlich unser gemeinsames Interesse, die Wahlbeteiligung zu steigern und die Menschen dadurch zu motivieren, zur Wahl zu gehen, dass sie mehr Mandate erringen können, wie es im geltenden Wahlrecht heute zum Glück auch der Fall ist. Aber wir lösen das Problem des negativen Stimmengewichts. Das zweite Modell bei der Trennung wäre, die Wahlbeteiligung einzupreisen. Das heißt, wir wählen in den 16 Wahlgebieten, stellen fest, wie viele Zweitstimmen dort abgegeben wurden, teilen nach der Zahl der abgegebenen Zweitstimmen die Mandate zu und verteilen danach wieder die entsprechenden Sitze. Dadurch bleibt ein kleines Restrisiko für das negative Stimmgewicht; aber wir erzielen auf der anderen Seite einen erheblichen verfassungsrechtlichen Vorteil, indem wir einpreisen, dass die Menschen dort zur Wahl gegangen sind. ({22}) Wir haben einen weiteren Nachteil: dass nämlich die Stimmen, die auf Parteien abgegeben wurden, die kein Mandat erringen, oder die Stimmen, die oberhalb der Stimmen für ein Mandat liegen, schlicht wegfallen. Das ist ein ernsthaftes verfassungsrechtliches Problem, weil es eine faktische Erhöhung der 5-Prozent-Hürde darstellt. Es kann plötzlich sein, dass 13, 14 Prozent der Bremer die Grünen gewählt haben - ({23}) - Sie sind natürlich auf dem permanenten Steigflug. Aber angenommen, es wählen Sie 13 Prozent der Bremer, und wir stellen dann fest, dass dies nicht für ein Mandat reicht, dann kann man den Wählern der Grünen in Bremen vorwerfen: Eure Stimmen sind verfallen; es war jenseits aller politischen Fragen sinnlos, die Grünen zu wählen. ({24}) Die dritte Lösung wäre, nur die überhängenden Listen aus dem Wahlverbund herauszulösen, also nur in Sachsen oder in Baden-Württemberg. Dort, wo Überhangmandate entstehen, trennen wir die Listen der Parteien, die die Überhangmandate erreichen, heraus. Auch das wird von einigen Verfassungsrechtlern vertreten und immer wieder gefordert. Damit haben wir den minimalinvasiven Eingriff; allerdings haben wir auch ein Restrisiko für das negative Stimmgewicht. Mein Anliegen wäre jetzt, diese drei Vorschläge, die das Problem ernsthaft angehen, ohne große verfassungsrechtliche Kollateralschäden zu erzeugen, im Dialog mit der Opposition sorgsam gegeneinander abzuwägen, vielleicht auch zu sehen, ob man mit einem Teilausgleich an dieser Stelle der SPD etwas entgegenkommen kann, wenn das ihr Anliegen ist, und auf dieser Grundlage dann ein Wahlrecht in Deutschland mit subjektivem Wahlrechtsschutz, mit Lösung der Berliner Zweitstimme und einem ordentlichen, verfassungsrechtlich abgewogenen Verfahren durch dieses Haus zu bringen. ({25}) Machen Sie mit, und diskutieren Sie fachlich und nicht polemisch! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({26})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Stefan Ruppert. - Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren, ich muss es Ihnen noch einmal vorhalten: Im Urteil vom 3. Juli 2008 ({0}) steht der schöne Satz: Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis spätestens zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. ({1}) Sie haben leider nicht gesagt, wann Sie Ihren Gesetzentwurf vorlegen und wie Sie dieser Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts noch nachkommen wollen. Was ist denn, wenn die Kanzlerin im September die Vertrauensfrage stellt, und Ihr Laden in seine Bestandteile zerfällt? So, wie Sie auftreten, ist das ja kein rein theoretisches Szenario. ({2}) Dann stehen wir vor Neuwahlen und haben kein geltendes Bundeswahlgesetz, weil das Verfassungsgericht uns nur für die letzte Bundestagswahl noch einmal die Erlaubnis gegeben hat, nach diesem Recht zu wählen, nicht aber ein zweites Mal. Dann wären wir in einer richtigen demokratischen Staatskrise und benähmen uns wie LänVolker Beck ({3}) der, die keine richtigen Demokratien sind, weil wir verfassungswidriges Wahlrecht anwenden müssten. Das wäre eine Katastrophe und würde das Vertrauen in dieses Parlament draußen im Lande erheblich erschüttern. ({4}) Herr Krings, wenn man keinen eigenen Vorschlag hat, sollte man nicht ganz so arrogant über die Vorschläge der anderen, die alle ihre Pros und Kontras haben, herziehen. ({5}) Wenn Sie schon Lösungen kritisieren und behaupten - übrigens habe jetzt überwiegend ich das Wort; das ist die Regel hier im Parlament -, ({6}) man verfehle mit hier vorgelegten Entwürfen das Thema, dann lese ich Ihnen einmal aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht vor. ({7}) Darin heißt es: Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag haben. Es geht weiter: Je nachdem, für welche Alternative sich der Gesetzgeber entscheidet, ergeben sich Auswirkungen auf das gesamte Wahlsystem. Dann folgt ein Satz, der unseren Vorschlag beschreibt, den das Gericht ausdrücklich für zulässig und erwägenswert hält, dessen Nachteile es aber auch benennt: Eine landeslistenübergreifende Verrechnung von Direktmandaten und Zweitstimmenmandaten würde beispielsweise Überhangmandate und damit den Effekt des negativen Stimmgewichts weitestgehend vermeiden, gleichzeitig aber dazu führen, - das bestreiten wir auch gar nicht dass für den Ausgleich fehlender Listenmandate auf einer Landesliste auf Mandate einer anderen Landesliste zurückgegriffen werden müsste. So beschreibt das Gericht einen der Lösungswege. Wir haben ihn als Gesetzentwurf formuliert. Er ist zweifelsfrei verfassungskonform. ({8}) Er hat Nachteile politischer Art, die man nicht mögen mag, aber er löst das Problem des negativen Stimmgewichts und das Problem der Überhangmandate. Nun kann man sagen: „Wir sind weniger radikal“, und Elemente des Vorschlags der SPD übernehmen, wie es die Linke macht. Das ist ebenfalls ein gangbarer Weg. Bei dem Vorschlag der SPD, der mir im Grundsatz politisch gefällt, habe ich noch die Frage, ob das negative Stimmgewicht dadurch wirklich restlos beseitigt würde. Das können wir in der Ausschussanhörung klären. Aber dieser Vorschlag ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag zur Lösung des Problems. Außerdem möchte ich Ihnen noch etwas anderes vortragen - auch zum Schutz der SPD -, weil Sie behauptet haben, hier habe die SPD das Thema verfehlt. In seiner Entscheidung vom 26. Februar 2009 sagte das Bundesverfassungsgericht, dass es eine Wahlprüfungsbeschwerde wegen der Überhangmandate deshalb nicht prüfe, weil diese Problematik sich so nicht mehr stellen werde, wenn der Gesetzgeber das Problem des negativen Stimmgewichts beseitigt habe. Damit geht das Bundesverfassungsgericht selbst davon aus, dass das entscheidende Problem bei dem negativen Stimmgewicht die unausgeglichenen Überhangmandate sind. Angesichts dessen können Sie doch der SPD nicht vorhalten, sie habe das Thema verfehlt und, statt den Motor zu reparieren, Scheibenwischer angebracht. ({9}) Wir müssen schauen, ob damit alle Probleme im Detail gelöst sind; aber das Hauptproblem in den meisten Fällen löst dies, und das hängt nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts entscheidend mit dem Thema des negativen Stimmgewichts zusammen. Nebenbei: Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil zum negativen Stimmgewicht herausgestellt, entscheidendes Problem bei knappen Mehrheitsverhältnissen sei, dass durch diesen Effekt, durch den Wechsel eines Sitzes auf die andere Seite des Hauses, eine Verschiebung der Mehrheit erfolgen könne, und dies ein Problem der Stimmenwertgleichheit und somit ein Problem in der Demokratie sei. Wenn das ein Problem in der Demokratie ist, dann wäre aber eine Überhangmandatsfraktion von 30 bis 60 Abgeordneten, wie sie nach einer Studie des Wissenschaftlichen Dienstes aufgrund der aktuellen Umfragen möglich wäre, ein noch entscheidenderes Problem, weil dann die Gefahr bestünde, dass die Bevölkerung Parteien wählt, von denen sie denkt, sie würden gemeinsam die Regierung bilden. Damit erhielten diese zwei, drei oder vier Parteien die Mehrheit bei den abgegebenen Stimmen, während andere Parteien zusammen die Mehrheit bei den Mandaten erhielten. Dann sind wir in einer konstitutionellen Krise. Dann wird sich jeder Bürger sagen: Es ist wirklich egal, was ich wähle. Es kommt aufgrund wunderbarer Regelungen im Wahlrecht ja trotzdem etwas anderes heraus. ({10}) Das zu verhindern, sind wir unseren Wählerinnen und Wählern schuldig; denn in unserer Verfassung steht, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Von Tricks im Volker Beck ({11}) Wahlgesetz steht da nichts drin. Deshalb sollten wir uns jetzt auf den Hosenboden setzen und zusehen, dass wir die Arbeit noch vor der Sommerpause so weit vorantreiben, dass wir uns vor dem Bundesverfassungsgericht und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht blamieren. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Volker Beck. - Nun für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan Mayer. Bitte schön, Kollege Stephan Mayer. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Wir debattieren heute nicht über irgendein Rechtsgebiet, nicht über irgendeinen Politikbereich. Wir debattieren heute über den zentralen konstitutiven Bestandteil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, über das Wahlrecht. ({0}) Wir sollten uns alle davor hüten, dass wir diese Diskussion nur durch die Brille aktueller Umfragewerte oder vor dem Hintergrund betrachten, wem was vermeintlich wann wie nützen könnte. Das Wahlrecht ist die Leitplanke unseres Staatswesens. Das Wahlrecht legt, wie Kollege Wiefelspütz schon ausgeführt hat, die Spielregeln fest, unter denen unser Staatswesen funktioniert. Wir sollten uns, wie ich glaube, davor hüten, diese Spielregeln allzu oft und allzu weitgehend zur Disposition zu stellen. Dies ist wichtig, damit Verlässlichkeit waltet. Dies ist aus meiner Sicht aber auch wichtig, um entsprechende Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden. Wir alle haben, wie ich glaube, die Aufgabe, das Wahlrecht zu hegen und zu pflegen und es vor allem so transparent und verständlich zu gestalten bzw. zu halten, dass es die Bevölkerung nachvollziehen kann. Wir können durchaus stolz sein auf unser Wahlrecht. Mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht ist Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren. Das sieht man meines Erachtens auch daran, dass andere Länder unser Wahlrecht kopieren, zum Beispiel Neuseeland. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. Juli 2008 ist die Ursache für die heutige Debatte, und die Aufgabe, die uns das Verfassungsgericht gestellt hat - auch das ist kein Geheimnis -, ist alles andere als einfach. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit festhalten, dass das Verfassungsgericht explizit nicht geurteilt hat, dass Überhangmandate verfassungswidrig sind. ({1}) Ich sage dies auch, sehr geehrter Kollege Oppermann, an Ihre Adresse, weil Sie formuliert haben: Überhangmandate sind unverdient. - Ich sage hier ohne Schaum vor dem Mund und ganz nüchtern: Sie diskreditieren mit dieser Aussage meines Erachtens das Wählervotum in einem Wahlkreis. Direkt gewählte Abgeordnete haben in unserem personalisierten Verhältniswahlrecht eine enorme Bedeutung und einen enormen Stellenwert. Überhangmandate sind keine unverdienten Mandate, sie sind verdiente Mandate. Der Wahlkreisbewerber, der direkt gewählt wird, wird nicht ohne Grund gewählt. Ich möchte durchaus zum Ausdruck bringen, dass ich die drei Gesetzentwürfe der Opposition respektiere. Sie sind mit Sicherheit eine Grundlage für die weitere Debatte. ({2}) Ich persönlich habe allerdings den Eindruck, dass sie insoweit keine taugliche Grundlage darstellen, da allen drei Gesetzentwürfen aus meiner Sicht die Verfassungswidrigkeit quasi auf die Stirn geschrieben steht. Zunächst einmal zum Gesetzentwurf der Grünen: Die Grünen favorisieren das Kompensationsmodell, benachteiligen damit aber in eklatanter Weise die Länder, in denen keine Überhangmandate anfallen, ({3}) sprich: Die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß und auch in Zukunft keine Überhangmandate anfallen, werden im Deutschen Bundestag schlechter, also durch eine geringere Anzahl an Abgeordneten, vertreten als die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß viele Überhangmandate anfallen. Das stellt aus meiner Sicht einen eklatanten Verstoß gegen die Bundestreue dar. Des Weiteren verletzen Sie in eklatanter Weise den Grundsatz der Gleichheit des Erfolgswertes der Stimme. Daraus konstruiere ich die von mir behauptete Verfassungswidrigkeit Ihres Gesetzentwurfes. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie meinen es ja besonders gut mit der CSU. Ich finde es ja immer wieder schön, dass Sie der CSU besondere Aufmerksamkeit zuwenden. ({4}) Besonders auffällig war für mich da schon die Formulierung im Begründungsteil Ihres Gesetzentwurfes. Sie behaupten darin, die Unabhängigkeit der CSU werde nur vorgespielt. ({5}) Es gibt durchaus den einen oder anderen CDU-Kollegen, dem es vielleicht ganz recht wäre, wenn die Unabhängigkeit der CSU tatsächlich nicht gegeben wäre. Ich kann Ihnen aber an dieser Stelle wirklich glaubhaft und Stephan Mayer ({6}) nachdrücklich versichern: Die CSU ist eine vollkommen unabhängige Partei und wird dies auch bleiben. ({7}) Was aber schon absurd ist, ist, dass Sie sagen: Wenn in Bayern für die CSU Überhangmandate anfallen - das war bei der letzten Wahl im Jahr 2009 der Fall; es wird hoffentlich nie mehr vorkommen -, dann verliert derjenige direkt gewählte Abgeordnete sein Mandat, der den geringsten Anteil an Erststimmen bekommen hat. ({8}) Ich stehe nicht in der Gefahr, von der Regelung, die Sie favorisieren, betroffen zu sein. Bei der letzten Wahl habe ich über 60 Prozent der Erststimmen bekommen. ({9}) Aber es gibt durchaus Kollegen - das sage ich ganz ernsthaft -, die davon betroffen sein könnten. Mit dieser Regelung missachten Sie aus meiner Sicht das Wählervotum in eklatanter Weise. Man spricht bei mir in der Gegend respektvoll vom sogenannten Heimatabgeordneten. Wir dürfen nicht den besonderen Wert unterschätzen, wenn ein Kandidat in einer direkten Wahl die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinigen kann. Das bedeutet, dass abseits von der Parteizugehörigkeit dieser Person besonderes Vertrauen entgegengebracht wird und ihr besondere Kompetenz und besondere Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Ich finde es - mit Verlaub - schäbig, ({10}) dass Sie einem solchen Kandidaten, der direkt in den Deutschen Bundestag gewählt wird, die Möglichkeit verweigern wollen, sein Mandat anzutreten. ({11}) Sie missachten mit dieser Regelung nicht nur die Bedeutung des direkt gewählten Abgeordneten, sondern in eklatanter Weise auch das Wählervotum. Zum Gesetzentwurf der SPD. Herr Kollege Oppermann, Ihr Entwurf beinhaltet meines Erachtens nicht nur, wie Sie es behauptet haben, Schönheitsfehler; das wäre etwas zu euphemistisch ausgedrückt. Er ist aus meiner Sicht auch verfassungswidrig - das muss ich Ihnen so deutlich sagen -, weil er, wie Sie selbst im Begründungsteil einräumen, den Fall des negativen Stimmgewichts nicht gänzlich ausschließt. ({12}) Er würde natürlich auch dazu führen, dass das Parlament unnötig aufgebläht werden würde, weil Überhangmandate ausgeglichen würden. Es sollte in der Zukunft schon eine der Grundlinien unserer Debatte sein, dass wir dafür Sorge tragen, dass unser Parlament, in dem jetzt 621 Abgeordnete vertreten sind, nicht übermäßig mit zusätzlichen Mandaten aufgebläht wird. Man kommt sehr schnell an eine Grenze, an der die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht mehr gegeben ist. ({13}) Ich glaube, Gegenstand unserer weiteren Diskussionen sollte sein, wie wir verhindern können, dass das Parlament aufgrund von Ausgleichsmandaten übermäßig vergrößert wird. Wenn Ihr Vorschlag umgesetzt werden würde, würden Sie auch die Bedeutung des direkt gewählten Abgeordneten minimieren; denn Ihr Vorschlag beinhaltet eine Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise und damit natürlich auch eine Reduzierung der Zahl der direkt gewählten Abgeordneten, um ein exorbitantes Aufblähen des Parlaments zu verhindern. Als direkt gewählter Abgeordneter sage ich ganz offen: Es ist schon wichtig, dass der Kreis der Wählerinnen und Wähler, für die man verantwortlich ist, nicht übermäßig wächst. Die Nähe zum Bürger, aber auch zu den Kommunen und Gemeinden würde abnehmen, wenn der Wahlkreis immer größer würde und damit die Zahl der darin lebenden Bürgerinnen und Bürger immer weiter anstiege. Wir müssen peinlichst genau darauf achten, dass das Band zwischen dem direkt gewählten Abgeordneten und den Bürgern nicht zu locker wird. ({14}) Bei vielen Gelegenheiten diskutieren wir hier im Plenum über die zunehmende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Man würde dieser Verdrossenheit Vorschub leisten, wenn man die Anzahl der direkt gewählten Abgeordneten und die Anzahl der Wahlkreise reduzieren würde. ({15}) Ich komme in aller Kürze noch zum Gesetzentwurf der Linksfraktion. Es ist schon angedeutet worden, dass die Linke hinsichtlich der CSU mehr Milde walten lässt als hinsichtlich der Grünen. ({16}) Ich bin aber für die Klarstellung des Kollegen Korte dankbar, dass wir beileibe keine Freunde sind. Man kann sich zwar nicht seine Verwandtschaft aussuchen, aber seine Freunde schon. Deswegen möchte ich auf die Feststellung Wert legen, dass uns hier noch sehr viel trennt. ({17}) Ich sage ganz offen: Die Reduzierung des Wahlalters auf 16 Jahre wäre ein großer Fehler. Die Landtagswahl in Stephan Mayer ({18}) Bremen hat gezeigt, dass man damit die Jungwähler nicht an die Urne bringt. Ganz im Gegenteil: Die Wahlbeteiligung in Bremen war so niedrig wie nie zuvor. ({19}) In diesem Sinne sollten wir die Diskussionen in Zukunft konstruktiv fortsetzen. Ich glaube, es sollte, egal welcher Fraktion man angehört, unser Bestreben sein, beim künftigen Wahlrecht einen möglichst großen Konsens in diesem Haus zu finden. Wie gesagt: Es ist die Leitplanke unseres Staatswesens. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({20})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. - Nun spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was muss das Wahlrecht leisten? Es muss den Wählerwillen so genau wie möglich in der Zusammensetzung des Deutschen Bundestages abbilden. Das Wahlrecht ist somit der Grundpfeiler unserer repräsentativen Demokratie. Verzerrungen - das haben wir schon gehört - können durch das sogenannte negative Stimmgewicht auftreten. Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgefordert, das zu ändern. Sie können aber auch durch die Überhangmandate auftreten. Obwohl Sie von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung wissen, dass die Frist des Bundesverfassungsgerichts in fünf Wochen abläuft, gibt es von Ihnen keine beratungsfähige Vorlage. Auch wenn Sie von den Koalitionsfraktionen - Herr Ruppert, Herr Krings, Herr Mayer - schon in der Debatte im März, als wir den Vorschlag der Grünen diskutiert haben, und auch heute die Vorschläge der Opposition in der Luft zerreißen: Sie kritisieren zwar, sagen aber nicht, was Sie wollen. ({0}) - Na ja. Herr Krings, Sie haben bereits im März erklärt, dass die Reform des Wahlrechts eine komplizierte Sache sei. Da gebe ich Ihnen recht. Herr Ruppert, Sie haben das eindrucksvoll dargelegt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber drei Jahre Zeit gegeben, um eine Neuregelung zu finden. Jedoch ist die Zeit nun fast um, und es gibt nichts von Ihnen, weil Sie sich nicht einmal innerhalb der Koalition einigen können. Es kursierte bereits ein Entwurf. Herr Krings, Sie haben ihn heute nochmals skizziert. Aber Sie scheinen bei diesem Modell nicht einmal mit der FDP Einigkeit erzielen zu können. Sie wollen die Listenverbindungen zwischen den Bundesländern abschaffen; die 16 Bundesländer sollen zu 16 getrennten Wahlgebieten werden. Das würde die kleinen Parteien benachteiligen. Deshalb kommen Sie hier auch nicht zu einer Lösung innerhalb der Koalitionsfraktionen. Im Übrigen löst es auch nicht das Problem: Wie das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes feststellt, kann das negative Stimmgewicht bei Ihrem Modell - Länder als getrennte Wahlgebiete, in der Variante mit Sitzkontingenten nach Wahlbeteiligung weiterhin auftreten. Damit ist die Auflage des Bundesverfassungsgerichts nicht erfüllt. Nach diesem Gutachten wären bei der letzten Bundestagswahl 16 hypothetische Fälle des negativen Stimmgewichts aufgetreten. Ihr Modell ist deshalb nicht geeignet, die bestehenden Probleme zu lösen. Deshalb ist es nicht mehrheitsfähig. Sie wollten unter Hochdruck arbeiten. Aber wo bleibt das Ergebnis? Wir warten. Sie wollten mit uns reden; auch da hat sich nichts getan. Herr Kollege Uhl hat in der Debatte im März erklärt, wir sollten uns zusammensetzen; denn Sie hielten knappe Mehrheitsentscheidungen beim Wahlrecht für schädlich. Das sehen wir auch so. Bisher war es gute Tradition, dass wir bei Fragen des Wahlrechts immer auf eine breite Zustimmung gesetzt haben. Wir warten aber immer noch auf ein konkretes Gesprächsangebot. Ich hatte Ihnen in der entsprechenden Debatte angeboten, noch einmal Gespräche zu führen und externen Sachverstand hinzuzuziehen. Auch darauf haben Sie sich nicht eingelassen. Das ist bedauerlich und ärgerlich. Ich glaube, dass wir jetzt nicht mehr fristgerecht zu einer Lösung kommen werden. Für uns, für die SPD-Bundestagsfraktion, ist klar: Wir wollen das unitarische Prinzip einer Bundestagswahl nicht verletzen. Wir wollen keine 16 Länderwahlen; ({1}) aber dazu würde es kommen, wenn die Landeslisten nicht mehr miteinander verbunden wären. ({2}) Wir wollen die Grundkonstruktion unseres Wahlsystems erhalten, aber die aufgetretenen Schwächen beseitigen. Wir wollen dabei beachten, dass es für die Bürgerinnen und Bürger verständlich und nachvollziehbar ist. Durch Überhangmandate und das sich daraus möglicherweise ergebende negative Stimmgewicht werden das Wahlergebnis und der Wählerwille verzerrt und die Stimmengleichheit verletzt, die Mehrheit der Zweitstimmen ist nicht mehr gleichzeitig die Mehrheit der Mandate. Weil Überhangmandate nicht ersetzt werden, kann sich innerhalb einer Legislaturperiode das Mehrheitsverhältnis ändern. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, in einem ersten Schritt die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate zu egalisieren, um die Mehrheitsverhältnisse nach Zweitstimmen im Bundestag richtig abzubilden. Falls die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages in nicht vertretbarer Weise ansteigen sollte, ist in einem zweiten Schritt, nach der Wahl 2013, zu prüfen, ob der Bundestag durch die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise wieder verkleinert werden sollte. Mir ist bewusst, dass die dann vorzunehmende Neuzuschneidung der Bundestagswahlkreise eine große Aufgabe und Herausforderung ist. Ich betreue dieses Thema seit vielen Jahren und meine, dass ein verfassungskonformes und transparentes Wahlrecht der Mühe wert ist. Unser Vorschlag lautet: Lassen wir Ausgleichsmandate zu, und entscheiden wir über Veränderungen bei der Zahl der Wahlkreise nach der nächsten Bundestagswahl. Noch ein Satz zum Gesetzentwurf der Linken. Er ist ein Sammelsurium von Wahlrechtsänderungen - es sind auch Grundgesetzänderungen dabei -, die mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur wenig zu tun haben. ({3}) Unter anderem fordern Sie die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde. Ich meine, die 5-Prozent-Hürde hat sich bewährt. Sie hat bislang verhindert, dass Splitterparteien und rechtsextremistische Parteien in den Bundestag eingezogen sind. Die 5-Prozent-Regelung hat andererseits aber nicht verhindert, dass neue Parteien den Weg in dieses Parlament gefunden haben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, Sie haben viel Zeit verstreichen lassen. Nehmen Sie unsere Vorschläge ernsthaft auf, kehren Sie an den Verhandlungstisch zurück, und lassen Sie uns die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen! Danke sehr. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Patrick Sensburg für die Fraktion der CDU/CSU.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wahlrecht - das wurde durch die Ausführungen meiner Vorredner deutlich - ist eine staatsrechtliche und verfassungsrechtliche Feinarbeit, bei der leider oft auch machtpolitische Erwägungen angesprochen werden. Das haben wir in der Rede des Kollegen Oppermann direkt am Anfang der Debatte gesehen. Erst hieß es, dass Machtpolitik nicht betrieben werde, doch dann spielten machtpolitische Erwägungen in den Ausführungen eine zentrale Rolle. Ich versuche, das bei der Bewertung der vorliegenden Vorschläge zu vermeiden. ({0}) - Ich gebe mir Mühe, Herr Kollege Wieland. Das deutsche Wahlrecht hat beide Extreme erlebt, sowohl das Mehrheitswahlrecht als auch das Verhältniswahlrecht. Die Kombination im personalisierten Verhältniswahlrecht - darüber sind wir uns, glaube ich, in diesem Hause einig - ist ein guter und richtiger Weg. Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht in der bereits zitierten Entscheidung vom 3. Juli 2008 bescheinigt, indem es sagt - ich zitiere -: Der Gesetzgeber „darf auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden, etwa indem er eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältniswahlprinzip zulässt“. Trotzdem hat des Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht insofern für verfassungswidrig erklärt, als ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen führen kann, die über die Landesliste vergeben werden - das hat der Kollege Oppermann zu Anfang am Beispiel NRW ausgeführt -, oder weil ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führen kann, die über die Landesliste vergeben werden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns denkbare Lösungswege aufgezeigt. Zum einen könnte man demzufolge beim Entstehen - ich betone: Entstehen - der Überhangmandate ansetzen. Zum anderen wurde explizit der Verzicht auf Listenverbindungen genannt. Zugleich wurden aber auch die möglichen Auswirkungen beider Denkansätze angedeutet, und es wurde nachdrücklich auf die hohe Komplexität der möglichen Regelungen hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns damit deutlich gemacht, dass eine Lösung in Reinform vielleicht gar nicht möglich ist, sondern wir möglichst nah an die Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts herankommen müssen. Wenn Sie Entwürfe vorlegen, dann müssen Sie auch erlauben, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen. ({1}) - Das mache ich dann auch. Ich fange aber mit den Kollegen der SPD an und nicht mit Ihnen, Herr Kollege Wieland. Der Vorschlag der SPD - das haben meine Vorredner, besonders Herr Dr. Krings, deutlich gemacht - setzt nicht am entscheidenden Problem an, sondern findet einen Ausgleich für Überhangmandate. Er sattelt also drauf. Ich kann das verstehen: Wenn man die Besorgnis hat, keine direkten Wahlkreise zu holen, dann will man Überhangmandate ausgleichen. Im Jahre 2002 hatten Sie diese Überlegungen übrigens nicht, als Sie nämlich selbst von Überhangmandaten profitiert haben. ({2}) Es ist schon interessant, dass dieser Vorschlag gerade jetzt kommt. Schauen wir uns einmal an, Herr Kollege Oppermann, zu welchen Auswirkungen das Ganze führen würde! Legen wir die Wahl 2009 zugrunde, würde es dazu führen, dass es 60 Mandate mehr in diesem Bundestag gäbe. Wenn wir - das haben wir eben angesprochen - diese Idee weiterverfolgen, dann würde Ihr Entwurf dazu führen, dass sich der Bundestag gegebenenfalls um über 100 Mandate aufblähen kann. Wir hätten dann eine große Schwankung zwischen der Grund12644 mandatszahl und der möglichen Mandatszahl durch Überhangmandate und Ausgleichsmandate; denn beide müssen nämlich berücksichtigt werden. Ich glaube, das ist ein großes Problem und schafft keine Sicherheit. Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob damit das System des negativen Stimmgewichts beseitigt wird oder ob wir nicht vielmehr eine hohe Ungleichgewichtigkeit schaffen. Das ist vorhin bereits angesprochen worden. ({3}) Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen macht mir wirklich Sorgen, vor allem - der Kollege Mayer hat es vorhin angesprochen - als direkt gewählter Abgeordneter. Wenn man die Nähe zu seinem Wahlkreis hat und erkennt, dass nach Ihrem Entwurf über die Listenverbindungen einige direkt gewählte Abgeordnete herausfallen können, dann bereitet das Sorgen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Wähler, die gesagt haben: „Ich wähle diesen Abgeordneten“, wenn dann aufgrund des Länderproporzes dieser Abgeordnete herausfallen muss. Ich weiß nicht, was der Kollege Ströbele dazu sagt; momentan sagt er gar nichts. ({4}) Im Hinblick auf diese Problematik kann ich Ihren Vorschlag nicht gutheißen. Er beseitigt das Problem des negativen Stimmgewichts sowieso nicht; er lässt Direktmandate hinten herunterfallen. Ich glaube, auch dieser Ansatz ist im Ergebnis nicht gut. Zum Gesetzentwurf der Linken ist schon einiges gesagt worden. Er ist ein Sammelsurium, das weit über das Bundesverfassungsgerichtsurteil hinausgeht ({5}) das ist bereits angesprochen worden -: das Ausländerwahlrecht, das Wahlrecht mit 16 Jahren, aber auch die 5-Prozent-Klausel. Ich frage mich manchmal, welche Sorgen Sie eigentlich haben, dass Sie gerade die 5-Prozent-Klausel abschaffen wollen. Das zeigt, wo Sie Ihre Zukunft sehen. Es kann doch nicht der richtige Ansatz sein, bei einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts alles Mögliche machen zu wollen, nur nicht, dem Auftrag Rechnung zu tragen. ({6}) Auch Sie schwächen übrigens den direkt gewählten Abgeordneten. Herr Kollege Korte, Sie haben eben von mehr Demokratie gesprochen. Warum schwächen Sie dann die direkt gewählten Abgeordneten mit den Überhangmandaten? Das ist doch nicht mehr Demokratie, das ist weniger Demokratie. Das würden Sie erkennen, wenn Sie es einmal bis zum Schluss durchdenken würden. ({7}) Herr Kollege Korte, der Entwurf hat übrigens auch sprachliche Mängel. ({8}) Lesen Sie sich einmal den von Ihnen vorgeschlagenen § 7 a Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes durch! Wenn Sie den verstehen, alle Achtung! - Nicht die Rede, Herr Kollege Korte, die kann man, glaube ich, verstehen. ({9}) Die Vorschläge sind von den Kollegen Dr. Krings und Dr. Ruppert gekommen. ({10}) Ich würde mir in diesem Haus wünschen, dass wir das Thema Wahlrecht - ich hatte es zu Anfang gesagt - fraktionsübergreifend debattieren und diskutieren, ({11}) dann aber auch fraktionsübergreifend eine Lösung finden. Es ist ausreichend Zeit, das gemeinsam zu tun. Wir müssen allerdings die Thematik seriös angehen. Sie haben mit Ihren drei Vorschlägen gezeigt, dass Sie nicht zur Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts beitragen. Sie haben Vorschläge vorgelegt, die uns im Kern nicht weiterbringen. ({12}) Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch, sodass wir es schaffen, gemeinsam über die Fraktionen Lösungen zu finden und das Wahlrecht auf eine breite Basis zu stellen! Der Kollege Krings hat hierzu Vorschläge gemacht. ({13}) Setzen Sie sich mit uns gemeinsam an einen Tisch. Diskutieren Sie diese Vorschläge. Die Einladungen sind erfolgt, anders als Sie es vorhin gesagt haben. Ich würde mir wünschen, dass wir dann ein Wahlrecht bekommen, das von einer breiten Mehrheit hier im Deutschen Bundestag getragen ist. Danke schön. ({14})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Patrick Sensburg. - Nun hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege Wolfgang Wieland.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Sensburg, man muss sich vorher ehrlich machen. In der Frage der Wahlgesetzgebung haben wir als Parteien alle Eigeninteressen. Ich habe schon das letzte Mal, als wir zu Ende der vergangenen Legislaturperiode hier über unseren Entwurf debattiert haben, gesagt: Wir sind eine kleine Partei und von Überhangmandaten relativ weit entfernt. Daraufhin erntete ich wütenden Protest von Claudia Roth, meiner Parteivorsitzenden. Deswegen wiederhole ich dies heute nicht, auch weil das mit der kleinen Partei möglicherweise nicht mehr richtig ist. Aber wir bleiben bei unseren Überzeugungen. Unsere Überzeugungen entsprechen dem Arbeitsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes, das negative Stimmgewicht zu beschneiden und dafür zu sorgen, dass es keine Verfälschung des Wählerinnen- und Wählerwillens durch Überhangmandate geben darf. Das ist zu erledigen, und nicht das Risibisi der Linksfraktion oder die mündlichen Vorschläge, die Sie hier nun vorgelegt haben, Herr Kollege Krings. Durch diese Vorschläge würde genau das Gegenteil erreicht. Sie würden dazu führen, dass es sogar mehr negative Gewichtung und mehr Überhangmandate geben könnte. Sie glauben doch wohl nicht, dass wir da mitmachen werden. Es ist nachgerade merkwürdig, dass ausgerechnet die CSU, die Partei von „Kopf-ab-Jaeger“ und Franz Josef Strauß, nun sagt: Bitte, Grüne, mehr Milde mit der CSU. ({0}) - Den haben wir immer. ({1}) - Selbstverständlich. - Wir hatten das letzte Mal als Einzige einen Vorschlag gemacht. Selbst Ihr Parlamentspräsident Lammert hat vor der letzten Bundestagswahl gesagt: Es wäre gut, wenn wir schon ein verfassungsgemäßes Wahlrecht hätten. Da war Ihr Hauptargument: Ihr habt das Problem der CSU nicht gelöst. - Wir haben zugegeben, dass wir das Problem der CSU nicht gelöst hatten. Jetzt haben wir einen Vorschlag gemacht, durch den das Problem der CSU klar und eindeutig gelöst wird. Dazu sagen Sie nun wieder: So geht das aber ganz und gar nicht. - Sie sind nicht nur eine Dagegen-Partei, sondern auch - Sie sind beides in Kombination - eine Tunix-Partei. ({2}) Daher sollten Sie hier den Mund nicht so voll nehmen. ({3}) Professor Meyer hat schon damals in der letzten Legislaturperiode ({4}) - nicht dieser Herr Mayer; hören Sie einmal zu - in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf, über den im Übrigen alle Sachverständigen sagten, das wäre ein Weg, den man gehen könnte, ({5}) wütend gesagt: Alle diese Dinge wie Kinderwahlrecht und Sonstiges kann man machen, aber es geht nicht darum, was man machen kann, sondern darum, dass man verhindern muss, dass nach einem Wahlrecht gewählt wird, das so katastrophal ist, dass es kein Wahlrecht mehr ist. - Er sagte weiter: Da sitzen Sie ein ganzes Jahr herum und tun nichts. - Jetzt haben Sie weitere zwei Jahre herumgesessen und nichts getan. Das ist ein Armutszeugnis. Das muss hier gesagt werden. ({6}) Noch ein Wort zur Rechtsstaatspartei FDP. Kollege Burgbacher hat, als er noch Parlamentarischer Geschäftsführer war und nicht unentwegt Akten studieren musste, am Tag der Urteilsverkündung in Karlsruhe gesagt: Jetzt muss der Gesetzgeber handeln. Es besteht dringender Handlungsbedarf. - Daraus wurden bei Frau Leutheusser-Schnarrenberger eine Warnung vor Aktionismus und eine Forderung nach Augenmaß und Ruhe. Inzwischen sind Sie offenbar eingeschlafen, meine Damen und Herren von der FDP; denn von Ihnen kommt nichts mehr. ({7}) Vor allem die SPD, aber auch die Linkspartei haben hier brauchbare Vorschläge zu der Frage, wie man das negative Stimmgewicht verhindern und wie man zu einem korrekten Umgang mit Überhangmandaten kommen kann, vorgelegt. Das ist eine Diskussionsgrundlage. Es gibt natürlich auch hier Haken; da sind wir uns doch einig. Das negative Stimmgewicht wird nicht ganz ausgeschlossen, und über die Frage, wie groß der Bundestag werden soll, muss debattiert werden. Darüber kann auch debattiert werden. Aber wir müssen doch zu einem Ergebnis kommen. Sie sagen hier so schön: Wir wollen den Konsens. Kollege Mayer sagt, er habe Respekt vor allen Vorschlägen, um sie im nächsten Satz als schäbig und vordemokratisch zu bezeichnen. Respekt stelle ich mir anders vor. Wir haben die Sonderrolle der CSU immer respektiert. Nur, wir sagen: Eine Partei, die eine solche Sonderrolle beansprucht, kann sich nicht immer wie ein Rosinenpicker das Beste aussuchen: hier nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Fraktionsgemeinschaft bilden, aber dann, wenn es einmal, wie sie glaubt, zu ihrem Nachteil ist, aber immer noch gerecht und dem Wählerwillen entsprechend, die beleidigte Leberwurst spielen und sich als Opfer darstellen. Das geht nicht. ({8}) Wir haben immer gesagt: Das Problem der Berliner Zweitstimmen ist für uns ein geringes. Die SPD will es jetzt lösen. Für uns ist klar: Der Linksparteiwähler aus Lichtenberg oder Marzahn wählt seine Partei, wie auch immer sie gerade heißt, wo auch immer er sie auf dem Stimmzettel findet. Er wählt sie, ob die Vorsitzenden nun Karl und Rosa oder Klaus und Gesine heißen. ({9}) Dass gerade dieser Wähler seine Stimme splittet, ist am unwahrscheinlichsten. Das ist ein Scheinproblem. Aber, bitte schön, von mir aus können wir auch Scheinprobleme lösen. ({10}) Schließlich und endlich meine letzte Bemerkung. Es wurde gesagt: Wir debattieren hier nicht unsere Rechte als Parteien und Fraktionen. Wir debattieren das Recht des Souveräns. Wir diskutieren über das Recht der Bürgerinnen und Bürger, dass ihre Stimmen bei Wahlen wirksam werden. - Das muss mit Ernst geschehen, das muss im vorgegebenen Zeitrahmen geschehen, und das müsste endlich auch ergebnisorientiert geschehen. Vielen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. - Nun spricht für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Thomas Strobl. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl. Er ist der letzte Redner in dieser Debatte. ({0})

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 3. Juli 2008 das negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt hat, war allen Beteiligten klar, dass dem Gesetzgeber damit eine harte Nuss aufgegeben wird. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht eine lange Frist, bis zum 30. Juni dieses Jahres, gesetzt. Klar ist in Karlsruhe bereits in der mündlichen Verhandlung geworden, dass es beim Wahlrecht keinen Königsweg gibt. Die komplizierte Verschränkung von Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht, wie wir sie in unserem deutschen Wahlrecht kennen, bringt immer Brüche und Schwierigkeiten mit sich. Die Tatsache, dass jede der Oppositionsfraktionen - Linke, Grüne, SPD einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, dass also unterschiedliche Gesetzentwürfe vorliegen, bestätigt, dass es den Königsweg offensichtlich nicht gibt. ({0}) Ich räume ein, dass es kein Ruhmesblatt für die Koalitionsfraktionen ist, bisher keinen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben. ({1}) Aber auch dies zeigt, dass die Materie eine außerordentlich schwierige ist. ({2}) Der Vorschlag der Sozialdemokraten - das muss man klar sagen - beseitigt das negative Stimmgewicht nicht, erfüllt also den verfassungsrechtlichen Auftrag jedenfalls nicht vollständig. ({3}) Außerdem bläht er den Deutschen Bundestag auf. Hinter die Lösung, letztlich einfach die Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages zu vergrößern, sodass es also mehr Abgeordnete gibt, ist ein Fragezeichen zu setzen. Bei Grünen und Linken wird offenkundig, dass sie ein Problem mit den Überhangmandaten haben. ({4}) Das ist aber kein verfassungsrechtliches Problem, ({5}) sondern ein politisches, Ihr politisches Problem. ({6}) - Nein. Die Überhangmandate sind die Ursache des negativen Stimmgewichts. Sie selbst sind aber nicht verfassungswidrig. Es gibt durchaus Möglichkeiten und Wege, die Überhangmandate beizubehalten und trotzdem zu einer verfassungsmäßigen Lösung zu kommen. ({7}) Sie verkennen, dass Überhangmandate immer direkt gewählten Abgeordneten zufallen. Diese Abgeordneten haben die höchste demokratische Legitimation, die es überhaupt gibt. Wir wollen dieses Element des Mehrheitswahlrechtes in unserem Wahlrecht nicht aufgeben, sondern es im Zweifel eher etwas stärken. Außerdem ist der Vorschlag der Grünen ein Vorschlag, der dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht in dem Maße gerecht wird, wie es nach dem jetzigen Wahlrecht der Fall ist. Der Vorschlag wird auch unter föderalen Gesichtspunkten - das ist keine Verfassungsvorgabe - dem, was wir uns in einem föderalen Bundesstaat vorstellen, eben nicht gerecht, und das möchten wir nicht akzeptieren. Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Noch einmal: Karlsruhe hat nicht die Überhangmandate als solche für verfassungswidrig erklärt, sondern es geht um einen Mangel namens negatives Stimmgewicht, der für verfassungswidrig erklärt worden ist und den wir zweifellos zu beseitigen haben. Ein Mangel! Diesen Mangel zu beseitigen, heißt aber nicht, dass wir jetzt zu einer Generalüberholung unseres Wahlrechts kommen müssen. Thomas Strobl ({8}) ({9}) - Nein, das wollen Sie. Sie wollen dies jetzt zum Anlass nehmen, um das ganze Wahlrecht sozusagen wegzuspülen. ({10}) Wir haben hier eine etwas andere Vorstellung. Wir glauben und sind ganz überzeugt, dass wir mit dem Wahlrecht, welches wir haben, einer Symbiose zwischen dem Verhältniswahlrecht und dem Mehrheitswahlrecht, in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland gut gefahren sind. Wir glauben im Übrigen auch, dass eine ganz große Mehrheit in der Bevölkerung das Wahlrecht, das wir haben, für gut und richtig hält. Deswegen müssen wir einen Mangel beseitigen, den uns Karlsruhe zu beseitigen aufgegeben hat. Es ist wirklich mein Wunsch, dass wir das gemeinsam tun, auch gemeinsam mit der Opposition, also fraktionsübergreifend. Beim Wahlrecht haben wir im Deutschen Bundestag eine lange Tradition, über die Parteigrenzen hinweg die Kraft zu entwickeln, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. ({11}) Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir diese Kraft erneut entwickeln und dass sich jeder auch einen Ruck gibt. Noch einmal: Den Königsweg beim Wahlrecht gibt es nicht. Es wird immer nur einen Kompromiss geben. Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir alle an einem solchen Kompromiss mitwirken. Danke schön. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen herzlichen Dank, Kollege Thomas Strobl. - Wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 17/5895 und 17/5896 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. - Das ist somit so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 f sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzteordnung - Drucksache 17/5804 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union - Drucksache 17/5903 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2}) - Drucksache 17/5474 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag für eine Verordnung ({4}) Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verordnung ({5}) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit ({6}) zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten ({7}) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet ({8}) zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({9}) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken ({10}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes - Drucksache 17/5904 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Eduard Oswald e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet ({12}) und zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ({13}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes - Drucksache 17/5905 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2010 - Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 2010 - - Drucksache 17/5648 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Swen Schulz ({15}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Notfallplan für die Hochschulzulassung zum Wintersemester 2011/12 jetzt starten - Drucksache 17/5899 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Transparenz bei Rückstellungen im Kernenergiebereich schaffen - Drucksache 17/5901 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schnelles Internet für alle - Flächendeckende Breitband-Grundversorgung sicherstellen und Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen - Drucksache 17/5902 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internet-Telefonie in Afghanistan - Drucksache 17/5908 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({20}) Auswärtiger Ausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck ({21}), Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen - Drucksache 17/5909 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen - Drucksache 17/5906 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({23}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Eduard Oswald g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Claudia Roth ({24}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauen- und Mädchenfußball stärken - Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitisch nutzen - Drucksache 17/5907 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({25}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/5474 - Tagesordnungspunkt 30 c - soll federführend beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 k auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 31 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften über den Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzverträgen und über verbundene Verträge - Drucksache 17/5097 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({26}) - Drucksache 17/5819 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Sonja Steffen Stephan Thomae Halina Wawzyniak Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5819, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5097 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das Stimmverhalten der Grünen war hier oben nicht sichtbar. Wir geben der Fraktion die Möglichkeit, dies zu korrigieren. - Wie ist Ihr Abstimmungsverhalten? - Die Mehrheitsverhältnisse sind aber auch so klar geworden. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Der Kollege Volker Beck gibt noch einen Hinweis. Wie war das Stimmverhalten? ({27}) - Zustimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zugestimmt. Damit ist das protokollarisch erledigt. Jetzt atmen wir kurz durch. Dann sind Sie in der Lage, die dritte Beratung und Schlussabstimmung durchzuführen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Niemand. Stimmenthaltungen? - Das ist die Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 für einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines Standpunkts der Union im Stabilitäts- und Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien im Hinblick auf die Beteiligung der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien im Rahmen von Artikel 4 und 5 der Verordnung ({28}) Nr. 168/2007 des Rates als Beobachter an den Arbeiten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und die entsprechenden Modalitäten einschließlich Bestimmungen über die Mitwirkung an den von der Agentur eingeleiteten Initiativen, über finanzielle Beiträge und Personal - Drucksache 17/5710 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({29}) - Drucksache 17/5954 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Michael Roth ({30}) Oliver Luksic Thomas Nord Manuel Sarrazin Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5954, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5710 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Enthaltungen der Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen. Vizepräsident Eduard Oswald Tagesordnungspunkt 31 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({31}) zu dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen Öffentliche Konsultation: Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz SEK({32}) 173 endg. - Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Eva Högl Marco Buschmann Raju Sharma Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 31 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({33}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvC 3/11 - Drucksache 17/5952 Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Kauder ({34}) Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Das sind alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch nicht. Die Beschlussempfehlung ist somit einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 31 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 262 zu Petitionen - Drucksache 17/5780 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 262 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 263 zu Petitionen - Drucksache 17/5781 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Das ist die Linksfraktion. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 263 ist somit angenommen. Tagesordnungspunkt 31 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 264 zu Petitionen - Drucksache 17/5782 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 264 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 265 zu Petitionen - Drucksache 17/5783 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Stimmenthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 265 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 266 zu Petitionen - Drucksache 17/5784 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 266 angenommen. Tagesordnungspunkt 31 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 267 zu Petitionen - Drucksache 17/5785 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? Die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 267 ist somit angenommen. Vizepräsident Eduard Oswald Tagesordnungspunkt 31 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41}) Sammelübersicht 268 zu Petitionen - Drucksache 17/5786 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen sowie die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 268 angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte Die erste Rednerin dieser Aktuellen Stunde kommt aus der Fraktion Die Linke und ist unsere Kollegin Frau Diana Golze. Ich gebe ihr das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin Diana Golze. ({42})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Tatort Berlin-Weißensee, 12. Mai 2011, Charlottenburger Straße, 10 Uhr: Frau K., 76 Jahre alt, und ihr Mann, 78 Jahre, stehen in einer Schlange von etwa 120 Menschen. Sie tun dies nicht, um Konzertkarten für eine Schlagerrevue zu ergattern oder um mit Nachbarn zu plaudern. Nein, sie stehen hier vor der Geschäftsstelle der AOK, weil die Krankenkasse, bei der sie seit Jahren versichert waren und für die sie sogar seit einigen Monaten einen Zusatzbeitrag gezahlt haben, Insolvenz angemeldet hat. Aus, Ende. Zwar hat man Familie K. gesagt, sie habe nun das Recht, sich eine neue Krankenkasse zu suchen, und diese habe die Pflicht, sie aufzunehmen. Doch das, was das Ehepaar K. in den letzten Tagen erlebt hat, war ein Skandal. ({0}) Bei anderen Kassen sind sie abgewimmelt worden mit Aussagen wie „Dann gibt es aber keine Zusatzleistungen mehr“ oder einfach nur „Wir sind voll“. Familie K. ist deshalb verunsichert und in großer Sorge. Wird die geplante Hüft-OP für Frau K. noch stattfinden? Wird Herr K. seine teuren Medikamente weiter verschrieben bekommen? Die FDP sagt nun - ich zitiere -: Die demografische Entwicklung … hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und kann nur im Miteinander von Jung und Alt gelöst werden. Dies ist die Definition der FDP von Generationengerechtigkeit, die ganz offenkundig dann nicht gelten soll, wenn es um die Gesundheitsversorgung von alten oder chronisch kranken Menschen geht. Sicher, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben 2007 gegen die Gesundheitsreform der schwarz-roten Regierung gestimmt. Aber das haben Sie wohl nicht getan, weil Sie die Sorge um die Finanzstärke der gesetzlichen Krankenkassen umtrieb oder Ihnen die Aufkündigung der paritätischen Finanzierung durch die Arbeitgeber den Schlaf geraubt hat. Nein, vielmehr hieß es in einer Mitteilung des heutigen Gesundheitsministers bereits 2007 - ich zitiere -: Die FDP bemängelt, dass die Reform an der Umlagefinanzierung des Gesundheitssystems festhält. Aber genau in der schleichenden Aushebelung der paritätischen Finanzierung liegt eines der Probleme, das den gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen macht und nun die erste in die Insolvenz getrieben hat. Zur Erinnerung: Die Aushöhlung der paritätischen Finanzierung hat schon 2003 begonnen. Bereits damals wurde die Arbeitgeberseite in großem Stil entlastet. Für die Verschiebung der Last auf die Schultern oder, besser gesagt, die Geldbörsen der Versicherten durch die Praxisgebühr, Zuzahlungserhöhungen und Leistungskürzungen ist - auch wenn Sie es jetzt nicht mehr hören wollen - Rot-Grün verantwortlich. Schwarz-Rot hat über die Zusatzbeiträge genau diese Politik fortgesetzt. Das zeigt: Es ging nicht um die heilige Kuh Beitragssatzstabilität, sondern von vornherein darum, den Beitrag der Arbeitgeber zu senken. Die Linke sagt: Das ist ungerecht und unsolidarisch und gehört geändert. ({1}) Das erklärte Ziel der vorangegangenen Bundesregierungen war eine Beschleunigung des Wettbewerbs der Krankenkassen. Es ging aber nicht etwa um einen Wettbewerb um bessere Leistungen oder mehr Vorsorgeprogramme; es ging um einen Wettbewerb um junge, gesunde und zahlungskräftige Versicherte. Der Zusammenbruch der City BKK zeigt, dass die Gesundheitsreformen vor allem zu einem geführt haben: Versicherte werden zu Verunsicherten. Denn trotz gesetzlichem Anspruch auf Aufnahme in eine Krankenkasse ihrer Wahl gab es für viele Versicherte der City BKK erst einmal nur Chaos. Das ist für die Betroffenen entwürdigend, aber es war vorhersehbar. Denn alle Krankenkassen mit hohem Bestand an alten und chronisch kranken Menschen sind gezwungen, auf Teufel komm raus zu sparen, selbst bei gesetzlich garantierten Ansprüchen, zum Beispiel Eltern-Kind-Kuren. Durch eine solche Politik werden Versicherte, die jahrelang ihren Beitrag plus Zusatzbeiträge zahlen, zu Bittstellern gemacht. Das ist ein Skandal. ({2}) Wir brauchen in der Krankenversicherung nicht mehr Wettbewerb nach dem Motto „Wer es länger schafft, Zusatzbeiträge zu verhindern, hat gewonnen“, sondern mehr Solidarität. ({3}) Wir brauchen die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung. Wer von einem Solidarsystem spricht, muss die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite gleichermaßen zur Finanzierung heranziehen. Es ist doch klar im Interesse der Arbeitgeber, gesunde und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben. Abschließend gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung. Ich gehöre im Deutschen Bundestag zur Gruppe derer, die freiwillig gesetzlich versichert sind und damit die Sozialkassen stärken. Die Einbeziehung der Selbstständigen, Beamten und auch Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist deshalb für mich ein Baustein für eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Dafür steht die Linke ohne Wenn und Aber! Vielen Dank. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Diana Golze. - Jetzt hat für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Johannes Singhammer das Wort. Bitte schön, Kollege Johannes Singhammer. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir lassen die Versicherten der City Betriebskrankenkasse nicht allein. Die christlich-liberale Koalition verhilft den 170 000 Versicherten der City BKK zu ihrem guten Recht. Vorstände von gesetzlichen Krankenkassen, welche Versicherte der City BKK abwimmeln oder unanständig behandeln, werden nicht ungeschoren davonkommen. ({0}) Die Rechtslage ist klar wie selten, und wir brauchen keinerlei Nachhilfe der Linken, was zu tun ist. Die Verantwortlichen werden die Konsequenzen zu ziehen haben. Was gesetzlich notwendig ist, werden wir tun, und zwar schnell, klar und konsequent. „Schnell, klar und konsequent“ heißt, dass noch im Zusammenhang mit dem geplanten Versorgungsgesetz die notwendigen weiteren gesetzlichen Maßnahmen beschlossen werden. Denjenigen Vorstandsmitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse, die meinen, es sei besonders clever, plötzlich die Geschäftsstelle ihrer Krankenkasse zu renovieren, wodurch der Publikumsverkehr verhindert wird, oder die meinen, es sei besonders klug, Rentner oder gehbehinderte Versicherte, die von der City BKK in eine neue Krankenkasse ihrer Wahl wechseln wollen, von einem Teil Berlins in einen ganz anderen Stadtteil, der nur schwer zu erreichen ist, zu schicken, werden wir klarmachen, dass diese Art des Verhaltens nicht belohnt wird, sondern dass sie Konsequenzen haben wird. ({1}) Nicht die Mitarbeiter einer solchen gesetzlichen Krankenkasse, sondern die Vorstände werden wir in Haftung nehmen. Wir werden nicht zulassen, dass bestehende Gesetze vor aller Augen in der Öffentlichkeit nicht beachtet, umgangen oder gar gebrochen werden. ({2}) Die Gesetze sind eindeutig wie selten in einer solchen Situation: Erstens. Jeder Versicherte der GKV hat die freie Wahl, bei welcher Krankenkasse er sich versichern will, wenn seine Krankenkasse - aktuell ist es die City BKK pleitegeht. Zweitens. Jeder Versicherte der GKV muss von der Krankenkasse aufgenommen werden, bei der er sich bewirbt. Drittens. Kein Versicherter der GKV ist ohne Versicherungsschutz, wenn seine Kasse insolvent wird. Viertens. Wenn ein Versicherter sein Wahlrecht nicht ausübt oder keine Kasse findet, die ihn aufnimmt, so fällt er nicht in ein Versicherungsloch, sondern er wird durch den Arbeitgeber, die Rentenversicherung oder die Arbeitsagentur einer Kasse zugewiesen. Dabei muss man darauf achten, dass die Kassen, die sich diesen Versicherten gegenüber jetzt vorbildlich verhalten, entsprechend bewertet werden und dass die Kassen, die sich in den letzten Tagen alles andere als vorbildlich verhalten haben, da sie wenige Versicherte oder gar keine Versicherten aufgenommen haben, bei den Zuweisungen entsprechend behandelt werden. Die gesetzliche Krankenversicherung lebt von der Solidarität aller Beteiligten, von der Solidarität der Gesunden mit den Kranken, der Besserverdienenden mit den weniger gut Verdienenden, von der Solidarität der Krankenkassen mit günstiger Versichertenstruktur mit den Krankenkassen mit etwas ungünstigerer Versichertenstruktur. Damit die Solidarität nicht zum Nachteil für einzelne Kassen wird, haben wir im Gesetz Ausgleichsund Sicherungssysteme vorgesehen, zum Beispiel den Risikostrukturausgleich und die Haftungsverbünde der Krankenkassen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer als Vorstand einer gesetzlichen Krankenkasse das Solidaritätsgebot in schlimmer und unangenehmer Weise verletzt, muss künftig im schlimmsten Fall damit rechnen, dass er abgesetzt wird. Ich danke der Bundesregierung und insbesondere dem neuen Minister, dass sie hier so schnell und so konsequent handeln. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. - Nun für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Karl Lauterbach. Bitte schön, Kollege Dr. Karl Lauterbach.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Wettbewerb, den wir derzeit bei den gesetzlichen Krankenkassen beobachten, dreht sich nur noch um drei Punkte: die Vermeidung eines Zusatzbeitrags, die Vermeidung eines Zusatzbeitrags und die Vermeidung eines Zusatzbeitrags. ({0}) Alles andere spielt keine Rolle mehr. ({1}) - Ich komme gleich dazu, Herr Spahn. - Eine Krankenkasse, die gute Qualität aufweist und einen Zusatzbeitrag nehmen muss, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die umfangreiche Kosten für Vorbeugemedizin trägt, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die einen guten Service bietet, verliert Mitglieder. Diejenigen, die gehen, sind die jungen und die gesunden Mitglieder. Es sind diejenigen, die einkommensstark sind. Es sind diejenigen, die keine Bindung zur Kasse haben - außer der, dass sie Beitragszahler sind. Es gehen also die, die die Kasse braucht, um die anderen - diejenigen, die alt und krank sind - mitzubezahlen. Das ist, wenn man so will, ein kranker Wettbewerb. Jetzt ist das System selbst krank. Das System läuft darauf hinaus, dass jede Krankenkasse versuchen muss, den Zusatzbeitrag zu vermeiden, egal was es kostet. Da kann man nicht überrascht sein, wenn die Kassen versuchen, die Mitgliedschaft derjenigen abzuwenden, die Träger schlechter Risiken sind. Von der FDP wird das derzeit kritisiert. Aber man muss in Erinnerung rufen: Die FDP hatte in ihrem Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl noch den Vorschlag, die gesamte gesetzliche Krankenversicherung zu privatisieren. Das wäre dann das System für alle gewesen. Was wir erleben, ist also im Prinzip nur ein Teil dessen, was die FDP und auch Herr Bahr damals in Reinkultur wollten. Im Ernst: Was wir derzeit sehen, ist doch nichts anderes, als dass die FDP mit Krokodilstränen vor den Folgen ihrer eigenen Reform warnt. ({2}) Herr Bahr hat selbst Gesundheitsökonomie studiert, ein Stück weit. ({3}) - Es geht hier nicht um Noten. Ich versuche, etwas zu erklären. Vielleicht ist das gerade auch für Sie interessant, Herr Spahn. - Dann müssen Sie doch Folgendes wissen, Herr Bahr: Die Krankenkassen unterscheiden sich im Angebot so gut wie nicht. Sie werden sich demnächst noch weniger unterscheiden, weil sie die paar Leistungen, mit denen sie sich noch unterscheiden, abstoßen müssen, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Das ist doch kein Wettbewerb. Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Einheitsangebot, alle Kassen böten immer das Gleiche an, aber die Mitglieder der Kassen wechselten im monatlichen Rhythmus. Das wären hektische Wechselbewegungen, ein ständiges Wechseln. Dann hätten wir nur Bürokratie; aber die Versorgung liefe im Prinzip auf die Einheitskasse hinaus. Somit schafft die FDP hier einen Wettbewerb, der die Einheitskasse durch die Hintertür einführt. Mehr ist dabei nicht herausgekommen. Im Wesentlichen ist es so: Die Reform ist eine morbide Reform. Ich bin übrigens nicht dagegen, dass wir weniger Kassen haben werden. Herr Rösler sagte, es sollten Kassen in die Insolvenz gehen. Damit habe ich kein Problem. Ein Problem tritt aber auf, wenn diejenigen Kassen in die Insolvenz gehen, die alte und kranke Mitglieder haben oder deren Versicherte in der falschen Stadt wohnen, beispielsweise in München, Hamburg oder Berlin. Was ist das für ein Wettbewerb? Bei dieser Art von Wettbewerb geht es nur darum, wo eine Kasse zufällig ihren Sitz hat und welche Mitglieder sie hat. Es geht überhaupt nicht mehr um die Qualität. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir ein verheerendes Signal an ältere und kranke Menschen geben: dass sie selbst in der gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr willkommen sind. Ein solches Signal müssen wir mit allen Kräften vermeiden. ({4}) Das ist das Signal, das in der privaten Krankenversicherung übrigens zu jeder Zeit gegeben wird. ({5}) Die private Krankenversicherung könnten Sie jederzeit abschaffen, was Sie aber nicht wünschen. Das System der privaten Krankenversicherung ist ja das Idealbild der FDP: Privatversicherung für alle. In der privaten Krankenversicherung können sich behinderte und ältere Menschen gar nicht versichern. Jetzt haben Sie die gesetzlichen Krankenkassen dementsprechend ein wenig umgestaltet. Wir werden Leistungskürzungen erleben. Wir werden sehen, dass im Jahr 2012/13 die Krankenkassenzusatzbeiträge - das sind die einzigen Beiträge, auf die es ankommt - zwischen 0 und 30 Euro liegen werden. Die Zeit der Fusionen der Krankenkassen ist vorbei. Dann wird es massenhaft Krankenkassenpleiten geben. Herr Bahr, meine Empfehlung an Sie - Sie werden auf absehbare Zeit wahrscheinlich einer der letzten Bundesminister der FDP sein -: Bleiben Sie nicht mit einer Reform in Erinnerung, die das Vertrauen in die gesetzliche Krankenkasse komplett ausgehöhlt hat. Der Wiedereinstieg der FDP in Bundeskabinette darf nicht durch ein solches Signal belastet sein. ({6}) Sie arbeiten jetzt an der Nebenwirkung der Reform von Herrn Rösler. Aber gehen Sie weiter und bekämpfen Sie die Ursache dieses falschen Wettbewerbs: Nehmen Sie die Zusatzbeiträge zurück, dehnen Sie den Risikostrukturausgleich weiter aus, damit auch alte und kranke Menschen wieder eine Chance haben, sich zu versichern, und damit sich der Wettbewerb wieder um Vorbeugung und Qualität dreht, nicht aber um Risikoselektion und um das Einkommen der Versicherten. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Karl Lauterbach. - Jetzt spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Heinz Lanfermann. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich versuche, zum Thema zurückzukommen. An Ihrer Stelle, Herr Kollege Lauterbach, würde ich mir mehr Gedanken darüber machen, wie Ihre Reden im Bewusstsein der Menschen hängen bleiben. ({0}) Der Minister hat in der kurzen Zeit, die er im Amte ist, schon einen sehr guten Eindruck gemacht. Die Linksfraktion hat hier eine Aktuelle Stunde beantragt, die nicht wirklich aktuell ist, sondern sich auf das Fehlverhalten einiger Kassen in den vergangenen Wochen bezieht, das nach dem energischen Eingreifen des neuen Ministers Daniel Bahr bereits in der letzten Woche - das war eine seiner ersten Amtshandlungen - abgestellt wurde. ({1}) Im Ergebnis wirken Sie wie jemand, der auf dem Bahnhof steht und hinter dem Zug herschaut. ({2}) Aber Sie wollten ja auch gar nicht über diesen Fall sprechen, sondern Sie wollten uns eigentlich einige abstruse Vorstellungen über Ihre Ideen zur Gesundheitspolitik nahebringen. ({3}) Der Titel dieser Aktuellen Stunde „Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte“ suggeriert, dass eine Reihe von Kassen betroffen sei. Natürlich gibt es nur eine. ({4}) Im Augenblick haben wir es nur mit der City BKK zu tun. Was die Folgen für die Versicherten angeht, die Sie auch noch angesprochen haben, haben wir hier den Eindruck gewinnen müssen, dort passierten fürchterliche Dinge. Natürlich ist das nicht der Fall; das Gesetz hat da vorgesorgt. Allen Menschen wird geholfen, selbst wenn sie sich nicht rechtzeitig eine neue Kasse suchen. Insofern bestehen da überhaupt keine Probleme. Alle in diesem Hause waren sich einig, dass das, was einige Kassen gemacht haben, nämlich Menschen abzuwimmeln und sie nicht richtig oder nicht vollständig zu beraten, völlig falsch war und neben der Sache lag. Insofern brauchen wir uns über diesen Fall gar nicht zu streiten. Vielmehr soll ganz anderes nach vorn gebracht werden. Zu der eindeutigen Rechtslage hat der Kollege Singhammer hier bereits alles vorgetragen. Selbstverständlich ist das Wichtigste das Wahlrecht der Versicherten. Es darf über die Köpfe der Versicherten hinweg keine Maßnahmen geben, auch keine gemeinsamen Maßnahmen von Kassen. Ebenso darf es keine Zuweisungen statt des Wahlrechts geben. Erst dann, wenn jemand die Fristen selber nicht nutzt, wird er zugewiesen, damit er nicht ohne Versicherungsschutz bleibt. In Wirklichkeit ging es um etwas anderes. Das Wort „Einheitskasse“ ist gefallen. In der Tat gibt es Menschen, die die Einheitskasse anstreben; aber das tut gewiss nicht diese Koalition. ({5}) - Ja, Sie haben daran andere Erinnerungen, Frau Golze, vielleicht solche an frühere Zeiten. Sie haben einmal auf einer Wahlkampfveranstaltung auf die Frage, woran Sie denken, wenn von der DDR die Rede ist, geantwortet: Eigentlich denke ich nur an eine glückliche Kindheit. ({6}) Diese unpolitische Linie haben Sie sich bis auf den heutigen Tag aufrechterhalten, wie ich an Ihrer Rede hier gehört habe. ({7}) Meine Damen und Herren, wir haben mit unserer Krankenversicherung wirklich etwas Großartiges geschaffen. Natürlich, Herr Kollege Lauterbach, können Sie hier erzählen, was Sie wollen; da schützt Sie ja das Grundgesetz. ({8}) Aber Sie sollten nichts Falsches behaupten. Wenn Sie die Wahlprogramme der FDP schon nicht lesen, dann sollten Sie sie auch nicht falsch zitieren. Selbstverständlich haben wir niemals die Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung gefordert. Wir meinen allerdings, dass es in einem freiheitlichen System sehr wohl einen Wettbewerb geben kann, etwa einen Wettbewerb um den Preis, weil die Signalwirkung des Preises - was bekomme ich für das, was ich zahle? - immer ein wichtiges Element ist, und ebenfalls einen Wettbewerb um die Leistungen. Auch dazu gibt es im Übrigen gesetzliche Bestimmungen. Wir werden sie sogar noch verbessern; darüber beraten wir in diesen Tagen in der Koalition. Ebenso gibt es einen Wettbewerb um Qualität, um Service usw. ({9}) Ich will Sie nur daran erinnern, dass es gewiss nicht die FDP war, die die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Wir haben nicht einmal den Gesundheitsfonds eingeführt. Aber wir gehen als gute Demokraten von dem aus, was uns überlassen worden ist, auch wenn es im Wesentlichen unter der Ägide Ihrer früheren Gesundheitsministerin - sie hieß Ulla Schmidt - geschehen ist. Wir bauen das, was wir vorfinden, entweder weiter aus, wenn es gut ist, oder wir bauen es um, wenn es verbesserungswürdig ist, und zur Not schaffen wir etwas auch wieder ab. ({10}) - Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Wir tun dies unter dem Gesichtspunkt: Der Bürger und seine Möglichkeiten, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwählen, stehen im Mittelpunkt. Auch die Krankenkassen sind frei darin, unterschiedliche Angebote zu machen. Nicht alle Leistungen sind gleich. Der Zusatzbeitrag ist nicht das einzige Argument. Viele Bürger haben ihre Kasse verlassen, nachdem sie einen Zusatzbeitrag erhoben haben. Aber noch viel mehr Bürger sind bei ihrer Kasse geblieben. Nun tun Sie doch nicht so, als hätten diese Bürger nicht bemerkt, dass sie einen Zusatzbeitrag zahlen. Dafür gibt es Argumente; mit denen geworben wird, und das dürfen die Kassen schließlich auch. Lassen Sie das Ganze da, wo es hingehört: in der Eigenverantwortung, in der Entscheidungsfreiheit, in der Wahlfreiheit der Bürger, und versuchen Sie nicht dauernd, dieses ohnehin schon bürokratische und überregulierte System irgendwie noch mehr zu bürokratisieren. Versuchen Sie nicht, noch mehr über die Köpfe der Menschen hinweg zu bestimmen. In diesem Sinne wollen wir jedenfalls nicht arbeiten. Wir werden die Verantwortung der Bürger auf diesem Gebiet stärken. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Heinz Lanfermann. - Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Fritz Kuhn. Bitte schön, Kollege Fritz Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass eine Bundesregierung die Rechtslage umsetzt, indem sie den Versicherten der City BKK die Möglichkeit gibt, sich woanders zu versichern, ist ja wohl das Mindeste. Darüber braucht man sich eigentlich nicht lange zu unterhalten. ({0}) Wir erwarten von der Regierung, dass sie dies umsetzt. Wenn sich die Kassen sperren, ist es an der Exekutive, dem entgegenzuwirken. Ich war ein bisschen erstaunt, Herr Singhammer, mit welcher Freude, mit welchem Eifer und mit welcher Drastik Sie hier etwas betont haben, was selbstverständlich ist. Dahinter steckt wohl, dass Sie gern über die Folgen, aber nicht so gern über die Ursachen reden. Wir müssen jetzt aber auch über die Ursachen reden. Ist denn die City BKK pleitegegangen, weil sie so schlecht wirtschaftete? ({1}) Oder ist sie nicht in erster Linie deswegen pleitegegangen, weil in den Städten Hamburg und Berlin, in denen sie hauptsächlich tätig war, ({2}) die Struktur von medizinischer Überversorgung und einem besonderen Altersaufbau geprägt ist? War nicht der Grund dafür, dass sie mit Kassen, die auch in anderen Regionen des Landes tätig sind, nicht mehr konkurrenzfähig war und zwangsläufig verlieren musste, der, dass der Wettbewerb hauptsächlich über den Zusatzbeitrag geht? Diese Frage müssen wir klären. Ich bin der Meinung, dass dieses System mit dem Gesundheitsfonds, das ursprünglich nur die Möglichkeit zur Erhebung eines begrenzten Zusatzbeitrags vorsah und dann durch die Entgrenzung des Zusatzbeitrags unter Schwarz-Gelb und das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge völlig verschärft wurde, eine solche Tendenz verschärft und auch dazu führen wird, dass noch mehr Kassen pleitegehen werden mit den entsprechenden Folgen, über die wir hier heute diskutieren. Im Vordergrund steht nicht ein Leistungswettbewerb, sondern ein Preiswettbewerb. Dieser Preiswettbewerb, den es seit Mitte der 90er-Jahre unter den Kassen über die Prozentsätze, die in voller Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tragen waren, gab, war ein anderer Preiswettbewerb als der, der sich nun in den EuroBeträgen der Zusatzbeiträge manifestiert. Diese Form des Wettbewerbs führt natürlich schneller zum Verlassen der Kassen. ({3}) Darauf waren Sie noch stolz. Aber es findet eben kein Wettbewerb um die tatsächliche Leistung der Krankenversicherungen statt. Da wäre Wettbewerb angebracht; diesen Wettbewerb wollen wir. Derzeit ist es vielmehr ein Wettbewerb, der allein über den Euro-Betrag des Zusatzbeitrags läuft. ({4}) Deswegen hat Karl Lauterbach recht. Es geht bei diesem Wettbewerb kaum noch darum, wer den besten medizinischen Service bietet, sondern hauptsächlich um die Frage, ob ein Zusatzbeitrag erhoben wird und, wenn ja, wie hoch dieser ist. ({5}) Herr Lanfermann, Sie kommen um eines nicht herum: Die Veränderungen, die Schwarz-Gelb vorgenommen hat, ausgehend vom Gesundheitsfonds der Großen Koalition, führen dazu, dass wir keinen solidarischen Wettbewerb in einer sozialen Marktwirtschaft haben, ({6}) sondern einen sehr einseitigen Wettbewerb um Preise, aber leider nicht in dem Sinne, dass die Preise wohlfahrtsorientierte, gesundheitspolitisch vernünftige Wahrheiten abbilden. Deswegen handelt es sich an der Stelle auch nicht um vernünftige Marktwirtschaft. ({7}) Aus dieser Geschichte kommen Sie nicht heraus. Sie müssen über die entscheidenden Punkte reden. Wir halten es für falsch, dass Sie aus dem Zusatzbeitrag eine kleine Kopfpauschale gemacht haben. Sie müssen uns auch einmal beantworten, was eigentlich passiert, wenn die Zusatzbeiträge noch weiter steigen werden. Es sagen viele Gutachten, dass der nicht auf dem jetzigen Niveau gehalten werden kann, ({8}) und zwar vor allem deswegen nicht, weil die Kostensteigerungen in Zukunft allein von den Versicherten über die Zusatzbeiträge aufgefangen werden müssen. ({9}) Es ist jedenfalls so, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag eingefroren haben. Darüber können Sie nicht hinwegtäuschen. ({10}) - Haben Sie ihn eingefroren, oder haben Sie ihn nicht eingefroren? ({11}) Wie kommt es denn, dass der Kollege Max Straubinger von der CSU, wenn ich richtig informiert bin, vorschlägt - das habe ich gelesen -, den Gesundheitsfonds wieder abzuschaffen? Darüber müssen Sie doch in der CDU/CSU einmal ernsthaft diskutieren. ({12}) - Wenn Sie laut werden, dann bin ich beim richtigen Punkt. Da bin ich mir absolut sicher. Wir stellen fest, dass die systematischen Fehler, die Sie mit der Privatisierung und der Entsolidarisierung der gesetzlichen Krankenversicherung gemacht haben, jetzt zur ersten Pleite geführt haben. Ich sage Ihnen voraus: Es wird weitere geben, weil das System insgesamt falsch ist. Sie müssten neben einer Reaktion auf die Unterversorgung im ländlichen Raum - darauf geben Sie im Versorgungsgesetz jetzt hoffentlich eine Antwort - auch einmal eine Antwort auf die Überversorgung in den städtischen Ballungsgebieten geben. ({13}) Wenn es im Land Berlin und in der Stadt München mehr Röntgenpraxen als in Italien gibt, dann ist Voraussetzung für einen vernünftigen Wettbewerb, dass zunächst einmal diese Überversorgung abgebaut wird. Wir sind darauf gespannt, welche Antworten Sie geben. Ich nehme an, dass Herr Bahr dazu nachher noch etwas sagen wird. Fazit: Reden Sie nicht nur über die Folgen und darüber, was jetzt mit den Versicherten der pleitegegangenen Krankenversicherung geschieht! Reden Sie auch über die Ursachen und darüber, wie Sie so etwas in Zukunft verhindern wollen! Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon etwas verwundert darüber, dass die Debatte schon einige Zeit läuft, ohne dass insbesondere von den Rednern der Opposition der eigentliche Skandal, der eigentliche Anlass dieser Debatte erwähnt wird. ({0}) Hier wird rechtswidrig, böswillig und - ich behaupte sogar - gefährlich für das Ganze gehandelt. Ich komme gleich noch darauf zurück. Es ist erstens rechtswidrig, weil die Rechtslage eindeutig ist. Jeder Versicherte hat unabhängig von Alter, Einkommen und anderen Merkmalen das Recht auf freie Kassenwahl. Für Leistungserbringer wie Ärzte und Krankenhäuser ist die Sache auch geklärt: Wenn eine Krankenkasse in Insolvenz geht, haften die anderen Kassen für die offenstehenden Kosten. Die Rechtslage ist also eindeutig. Es ist zweitens böswillig, weil es Krankenkassen gibt, die in Kenntnis dieser Rechtslage Menschen einmal quer durch die Stadt jagen. Die AOK Berlin beispielsweise suggerierte den betroffenen Menschen, sie müssten quer durch die Stadt zu einer bestimmten Geschäftsstelle in Weißensee, die nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat, fahren, um sich bei dieser Krankenkasse anmelden zu können. Das ist unwürdig. Es ist eine Schande, wie die AOK Berlin hier gehandelt hat. Und Sie haben dazu in dieser Debatte kein einziges Wort gesagt. ({1}) Es ist drittens gefährlich, weil die Krankenkassen, die so gehandelt haben - auf diesen Punkt haben Sie nur mit einem Satz hingewiesen -, einen immensen Imageschaden für das solidarische System der gesetzlichen Krankenversicherung verursacht haben. Wir kennen die Bilder von verunsicherten Menschen - es handelte sich vor allen Dingen um Rentner und kranke Menschen -, die in einer Schlange stehen und nicht wissen, was mit ihnen geschehen soll. Eine Kasse, die sich in Sonntagsreden immer „Patient der Anwälte“ nennt ({2}) und es zulässt, dass es zu solchen Bildern kommt, handelt fahrlässig und stellt eine Gefahr für die Akzeptanz unseres Solidarsystems dar. Manche Kasse wird sich noch über die Folgen ihres Handelns wundern. ({3}) Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt. Sie kochen hier Ihr Süppchen und versuchen, aus dieser Angelegenheit politisches Kapital zu schlagen. Es ist ein Skandal, dass Sie davon ablenken, dass hier rechtswidrig, böswillig und gegen das Interesse des Ganzen auf gefährliche Weise gehandelt worden ist. Dazu hätten Sie ein paar Sätze sagen müssen. ({4}) Wir werden insofern reagieren, als wir gesetzlich klar regeln werden, wie diejenigen, die Mitglied in einer Kasse waren, die geschlossen wurde, besser informiert werden können. Idealerweise muss es ein Formular geben, in dem man ankreuzen kann, in welche Krankenkasse man eintreten will. Solche Informationen, wie man eine Kasse wechseln kann, sind wohl ohne eine gesetzliche Regelung nicht zu bekommen. Zum Zweiten braucht es offensichtlich auch Sanktionen. Der Fisch stinkt am meisten vom Kopf her. ({5}) Nicht die Geschäftsstellenmitarbeiter in Weißensee treffen die Entscheidungen, sondern sie werden weiter oben getroffen. Deswegen werden wir entsprechende Sanktionen gegen Vorstände einführen. Sie reichen von Zwangsgeldern bis hin zur Absetzung. Herr Kollege Kuhn, ich will noch einige grundsätzliche Bemerkungen machen. Die City BKK ist nicht wegen des Gesundheitsfonds oder wegen der Zusatzbeiträge in Schwierigkeiten gekommen. Sie hat seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, Probleme. Aus dem öffentlichen Dienst kommend und mit einer entsprechenden Versichertenstruktur ausgestattet, war sie vor allem in Hamburg und Berlin tätig. ({6}) Wir können einmal die Frage stellen, wie sehr sich die Gesundheitssenatorin in Berlin darum bemüht hat, die angespannte Kostensituation aufgrund der vielen Krankenhausbetten in Berlin zu entschärfen. ({7}) Sie trauen sich nicht, entsprechende Entscheidungen zu treffen. Deswegen ist die ärztliche Versorgung in Berlin besonders teuer. Anschließend beschweren Sie sich aber darüber, dass die Berliner Krankenkassen Probleme haben. Das zeugt von Doppelmoral. ({8}) Dann die Frage des Wettbewerbs. Wir haben uns in den 90er-Jahren - damals war ich noch nicht dabei, aber viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen - in großer Einigkeit für den Wettbewerb entschieden. Es wurde die freie Kassenwahl eingeführt, die ein hohes Gut ist. Zum Wettbewerb gehört - dieses Konzept haben wir in der Großen Koalition weiterentwickelt -, dass Kassen, die aufgrund ihrer Kostenstruktur, ihrer Verwaltungskosten und falscher Angebote im Markt keinen Erfolg haben, vom Markt verschwinden können. Es gibt im Moment über 150 Kassen. Da kann es also einmal sein, dass eine Kasse geschlossen werden muss, wenn sie keinen Fusionspartner findet. Wenn das zum Wettbewerb gehört, muss klar geregelt sein, was im Fall einer Insolvenz passieren muss. Das haben wir gemeinsam festgestellt. Man kann aber nicht sagen, dass es bei dem Wettbewerb nur um Kosten, um Geld und um die Höhe des Zusatzbeitrages geht. Der Zusatzbeitrag ist natürlich ein wesentlich konkreteres Signal als das, was wir vorher hatten. Preisunterschiede zwischen den Krankenkassen gab es schon vorher. Sie betrugen zum Teil zwischen 60 und 70 Euro im Monat. Weil der Beitrag aber vom Lohn abgezogen wurde und dann auch noch ein Dreisatz nötig war, um den Unterschied zu einer anderen Kasse nachvollziehen zu können, war kein Bewusstsein dafür vorhanden. Wer aber 8 Euro selber zahlen muss, merkt das sofort. So können sich die Kassen heute differenzieren. Sie können sich aber nicht nur bei den Kosten differenzieren: Man kann mit dem Zusatzbeitrag ein besonderes Angebot finanzieren, zum Beispiel besonders gute Versorgungsstrukturen, die man über Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken erreicht. Es geht um ein besonders gutes Angebot für die Versicherten, ({9}) sodass Krankenkassen sagen können: „Bei uns kostet es zwar 10 Euro mehr als bei den anderen, aber dafür bieten wir dir etwas Besonderes.“ ({10}) Das ist die Idee des Wettbewerbs: Es geht darum, bei der Qualität zu konkurrieren. Abschließend sage ich es noch einmal: Es ist ein Skandal, was öffentlich-rechtliche Körperschaften bei eindeutiger Rechtslage auf dem Rücken der Patienten machen. Zweitens ist es zumindest ein kleiner Skandal, dass die Oppositionsredner hier nicht einen einzigen Satz darauf verschwenden, was da eigentlich passiert ist, sondern nur versuchen, ihr Süppchen zu kochen, die Menschen zu verunsichern und vom eigentlichen Skandal abzulenken. Das ist das eigentliche Problem dieser Debatte. Vielleicht wird der eine oder andere Kollege darauf noch zu sprechen kommen; denn das ist das eigentliche Thema. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauende und Zuhörende! Herr Spahn, der eigentliche Skandal liegt darin, dass Sie in den Medien haben verlautbaren lassen, es sei ein Skandal, dass sich die Politik überhaupt um diesen Zustand kümmern müsse. ({0}) Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, wie Sie das Wesen von Politik begreifen. Für uns ist dieser Umgang mit Tausenden Versicherten - ich will nicht vom „Tatort Weißensee“ sprechen, weil ich die Sendung Tatort durchaus liebe selbstverständlich ein empörender Skandal. Es ist auch ein Skandal, dass Sie das Wesen von Politik so diskreditieren. Sie sollten in den Spiegel schauen, bevor Sie in dieser Sache weitere Bemerkungen vornehmen. ({1}) Zum nächsten Punkt. Hier geht es um eine Fachfrage. Vielleicht haben Sie sich versprochen. Was auch immer! Wen meinten Sie eigentlich in Ihren Ausführungen mit den „Patienten der Anwälte“? ({2}) Ich denke, dass Ihre Freud’sche Fehlleistung wirklich deutlich gemacht hat, dass auf jeden Fall nicht Sie der Anwalt der Patientinnen und Patienten sind, sondern die von Ihnen gescholtene Opposition, die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen. ({3}) Zum Thema AOK. Die AOK in Berlin - Frau Vogelsang wird vielleicht darauf eingehen - hat fusioniert. Die AOK Nordost gehört zu denen, die sich öffentlich entschuldigt haben. Zu Recht! Es ist empörend, wie sich Kassen im Hinblick auf die Versicherten der City BKK verhalten haben; das geht weit über die Rechtsansprüche hinaus. ({4}) Es ist aber auch empörend, dass die Bundesregierung und das Bundesversicherungsamt im Vorfeld offenbar keine Sorgsamkeit haben walten lassen; denn eine Pleite, eine Insolvenz passiert nicht von heute auf morgen. Die Mitglieder waren vollkommen überrascht; ihnen wurde die Insolvenz Anfang Mai schriftlich in einem Brief mitgeteilt. Anderen - nicht nur den Fachleuten, sondern auch der Exekutive, der Regierung - war bekannt, dass hier möglicherweise eine Insolvenz ansteht. ({5}) Infolgedessen hätten hier schon längst Vorbereitungen getroffen werden können. Sie sollten sich also nicht so viel einbilden und nicht sagen, dass nur andere schuld sind; auch Ihre Regierung hat versagt. ({6}) - Das Land Berlin hat keine eigene Kassenaufsicht mehr, weil es keine eigenen Kassen mehr hat. Das sollten Sie einmal überprüfen. Gleich wird aber noch eine Berlinerin sprechen, die sich dazu äußern kann. Sie können es selbstverständlich auch kollegial untereinander klären. Zum Thema Fusionen. Ja, wir wollen, dass es weniger Kassen gibt. Das muss aber geregelt ablaufen, damit solche Zustände nicht mehr auftreten. Zum Thema Kassenbeiträge und vor allen Dingen Zusatzbeiträge. Der Wettbewerb über den Preis, den Sie einführen, wird auf den Schultern von Kranken, Älteren und Behinderten stattfinden. Diese Form von Wettbewerb über den Preis wollen Sie durch ihr neues Versorgungsgesetz sogar noch ausbauen. Das, was jetzt passiert, ist demnach nur der Vorbote eines Flächenbrandes, den Sie in der Bundesrepublik Deutschland im Sommer verursachen werden. Wir werden sehen, ob Sie am Ende, wenn die Zusatzbeiträge 50 oder 70 Euro betragen, wovon viele Experten und Expertinnen längst ausgehen, immer noch zu Ihren Zusatzbeiträgen stehen. Die SPD Berlin war die einzige politische Institution in Berlin, die ganz konkrete Hilfs- und Unterstützungsangebote für die Versicherten der City BKK unterbreitet hat. Das gilt insbesondere für den Kollegen Thomas Isenberg, den gesundheitspolitischen Sprecher der SPDFraktion im Abgeordnetenhaus, der ein Beschwerdetelefon, eine Hotline eingerichtet hat, die rege genutzt worden ist. ({7}) Somit hat er individuelle Unterstützung geboten. Das hat sonst niemand gemacht. Wir haben also nicht nur dem Recht auf die Sprünge geholfen, sondern auch tatsächliche Unterstützung geleistet. Das danken uns die Bürger und die Bürgerinnen. Zu den Kassenvorständen: Ja, es ist gut, dass öffentliche Entschuldigungen erfolgt sind. Entschuldigen allein reicht aber nicht. Wir wachen mit Argusaugen darüber, ob den Worten jetzt auch Taten folgen. Das sei hier einmal ganz deutlich gesagt. Zum Ende meiner Rede möchte ich auf die Beschäftigten der Kassen eingehen. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter hatten es schwer, auch wenn ihre Kasse die Versicherten in eine missliche Lage gebracht hat. Ich bitte aber, zu bedenken, dass die Beschäftigten der Kassen, die sich in Insolvenz befinden, nicht einfach entlassen und zu Schuldigen erklärt werden dürfen. Es ist auch unsere Aufgabe, aufseiten der Beschäftigten zu stehen. Infolgedessen sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der Anwalt der Patienten und Patientinnen, der Anwalt der Versicherten und der Anwalt der Beschäftigten. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr. ({0})

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wer den Eindruck erweckt, dass der Grund für die Schließung der City BKK allein in der Entwicklung der letzten Monaten liegt, der verkennt die Geschichte der City BKK. ({0}) Die City BKK hat schon meinen Vorvorgängern im Amt des Gesundheitsministers viele Sorgen bereitet. Die City BKK gäbe es heute schon längst nicht mehr, wenn diese Koalition im Rahmen der Finanzierungsreform nicht eine Entscheidung getroffen hätte, die der City BKK eine zweite Chance eröffnete. Erinnern wir uns doch einmal an die Situation zu Beginn dieser Legislaturperiode - es wurde ja der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge etwas Neues sind; es wurde der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge die Ursache für das Problem sind -: Zu Beginn dieser Legislaturperiode drohte für das Jahr 2010 ein Milliardendefizit. Der Gesundheitsfonds mit gedeckelten Zusatzbeiträgen wurde von SPD und Union eingeführt. Meine Vorvorgängerin, Frau Schmidt, hat mich gleich in meiner ersten Woche im Amt scharf kritisiert, wie ich der Presse entnehmen konnte. Sie hat gesagt, die SPD habe damals ein viel klügeres Konzept auf den Weg gebracht, indem sie gedeckelte Zusatzbeiträge beschlossen habe. Hätten wir an diesem Finanzierungskonzept festgehalten - für das Jahr 2010 drohte ein Defizit von etwa 8 Milliarden Euro -, dann würden wir heute nicht über die Schließung der City BKK diskutieren. Dann hätten wir massenweise Kasseninsolvenzen erlebt. Daher sage ich: Von Ihnen, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, brauche ich keine Ratschläge, wie wir mit der Situation der Krankenkassen umzugehen haben. Das, was Sie uns hinterlassen haben, hätte zu einer massiven Verunsicherung der Versicherten geführt. Das hätte zu Kasseninsolvenzen ohnegleichen geführt. Deswegen sage ich Ihnen: Diese Koalition hat für ein stabiles, nachhaltiges und sicheres Finanzierungskonzept der gesetzlichen Krankenversicherungen gesorgt. ({1}) Schauen wir uns doch einmal die City BKK an. Die City BKK hatte in der Zeit, in der es noch keinen Gesundheitsfonds und keinen einheitlichen Krankenkassenbeitrag gab - dieser war gewollt -, den höchsten Beitragssatz aller gesetzlichen Krankenkassen. Er betrug 17,4 Prozent, als der Beitragssatz durchschnittlich 14 Prozent betrug. Da gab es für die Versicherten übrigens weniger Transparenz im Wettbewerb. Herr Kollege Kuhn, Sie haben die prozentualen Beitragssätze so gelobt. Hierzu sage ich Ihnen: Wir stellen fest, dass die Zusatzbeiträge für die Versicherten eine viel größere Transparenz bedeuten, um ihre Krankenkasse in Euro und Cent mit einer anderen vergleichen zu können. Das führt zu einem Wettbewerb, bei dem sich die Versicherten für eine Krankenkasse ihrer Wahl entscheiden. ({2}) Deswegen ist für die Versicherten der Zusatzbeitrag das überlegene Finanzierungsinstrument gegenüber dem alten, intransparenten System von Rot-Grün. ({3}) Zur Wahrheit gehört aber auch - das ist bereits angesprochen worden -, dass die City BKK schon einige Male kurz vor der möglichen Schließung stand. Die Große Koalition hat die gesetzgeberischen Voraussetzungen zur Schließung von Kassen auf den Weg gebracht. Die christlich-liberale Koalition hat das Ganze umgesetzt, sodass im Fall der City BKK die Schließung möglich war. Man darf aber bei aller Verunsicherung, die unter den Versicherten herrschte und die mir als Gesundheitsminister Sorgen gemacht hat, nicht unberücksichtigt lassen, dass die Versicherten zu keinem Zeitpunkt ihren Versicherungsschutz verlieren. Die Versicherten erhielten ein Schreiben, in dem steht: Sie verlieren Ihren Versicherungsschutz nicht. Bis zur Schließung der City BKK am 30. Juni haben Sie weiterhin den vollen Versicherungsschutz bei Ihrer Krankenkasse. Wenn Sie sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht für eine andere Krankenkasse entscheiden, werden Sie automatisch überführt und nahtlos einer anderen Krankenkasse zugeordnet. Aufgrund der anfänglichen Unsicherheit mussten wir natürlich öffentlich reagieren. Wir sind über Bürgerhotlines, Öffentlichkeitsarbeit, Anzeigenschaltungen und weitere exekutive Maßnahmen tätig geworden, um den Versicherten die Unsicherheit zu nehmen. Sie behalten ihren Versicherungsschutz. Sie können die Zeit nutzen, um sich frei nach einer anderen Krankenkasse ihrer Wahl umzusehen. ({4}) Einzelne Leistungserbringer in Berlin und in Hamburg haben sich entschieden, Versicherte nicht zu behandeln. Dieses Verhalten ist ganz klar nicht in Ordnung. Es gibt ganz klare gesetzliche Regelungen. An diese Regelungen halten wir uns auch. Mit unserem aktiven Eingreifen haben wir dazu beigetragen, die Verunsicherung der Versicherten und Patienten abzubauen. ({5}) Werfen wir einen Blick auf die Debatten zu diesem Thema. Ein Vorschlag sieht vor, die Versicherten bei der Schließung einer Krankenkasse sofort allen anderen Krankenkassen zuzuordnen. Ich sage Ihnen: Das wäre der falsche Weg; denn die freie Wahl der Krankenversicherung ist ein hohes Gut, um das uns im Übrigen andere Länder beneiden. Dieses hohe Gut, nämlich dass die Versicherten ihre Krankenkasse selbst wählen können, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern wir müssen es unbedingt erhalten. Wir wollen nicht, dass Patienten und Versicherte zu Bittstellern einer Krankenkasse werden oder möglicherweise sogar gar keine Wahl mehr haben und einer Einheitskasse beitreten müssen. Für uns ist die Kassenvielfalt und die freie Wahl der gesetzlichen Krankenversicherung ein so hohes Gut, dass wir alles daransetzen werden, dieses zu erhalten. ({6}) Damit ist aber auch klar: Das Abwimmeln und das Verhalten, das wir erlebt haben, ist nicht nur rechtswidrig, sondern auch unanständig gewesen. Wir wollen den Wettbewerb erhalten, und wir wollen, dass der Versicherte Recht und Anspruch darauf hat, von einer Krankenkasse genommen zu werden. Wenn aber gerade ältere Versicherte, die häufig nicht mobil sind, zu einer Krankenkasse geschickt werden, die am anderen Ende der Stadt Berlin liegt, wenn ältere Versicherte am Telefon abgewimmelt werden, weil alle Leitungen besetzt sind, und Geschäftsstellen geschlossen werden, weil angeblich wichtige Sitzungen der Mitarbeiter stattfinden, dann ist das ein Verhalten - da können wir, glaube ich, für das ganze Haus sprechen -, das wir als Abgeordnete aufgrund der Gesetzeslage nicht akzeptieren können und auch nicht akzeptieren wollen. ({7}) Deshalb müssen wir gemeinsam dagegen angehen. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie dieses Problem gelöst werden kann. Die Linke hat vorgeschlagen, einfach darauf zu verzichten, dass Kassen geschlossen werden. Ich habe in der Presse gelesen, dass die Insolvenz einer Krankenkasse nicht möglich sein soll. Ich glaube, dass das nicht im Interesse der Versicherten ist. Was ist das denn für ein Anreiz für die Krankenkassen, die solide wirtschaften und ihre Hausaufgaben machen? Wir als Versicherte wollen doch, dass die Krankenversicherungen mit den Pflichtbeiträgen ihrer Beitragszahler sorgsam umgehen. Wenn eine Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben macht, Verwaltungskosten reduziert, ihren Service verbessert, ihre Leistungen verbessert und die Arbeit für ihre Versicherten besser erledigt, dann soll sie doch bitte schön davon profitieren können. Eine Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben nicht erledigt und die ihre Verwaltungskosten nicht reduziert, soll nicht noch die Unterstützung der anderen bekommen. Wir sind für einen leistungsorientierten und fairen Wettbewerb, sodass sich das Sparen und der sorgsame Umgang mit dem Geld der Versicherten auch für die Versicherten der eigenen Krankenversicherung lohnt. Deshalb braucht es diesen Ansatz. ({8}) Die SPD hat vorgeschlagen, man solle einfach die Zusatzbeiträge abschaffen. Das ist ja ein schöner Vorschlag, lieber Herr Lauterbach. Sie haben auch nichts anderes vorgeschlagen. Wenn wir die Zusatzbeiträge heute abschaffen würden, dann würden wir nicht nur über die Insolvenz der City BKK sprechen, sondern auch über die der DAK, der KKH und vieler anderer. ({9}) - Sie haben hier vorgetragen, dass dies Ihr Vorschlag ist. - Andere Krankenkassen, die Millionen von Versicherten haben und im Moment einen Zusatzbeitrag verlangen müssen, wären dann auch von einer Insolvenz bedroht. Sie könnten die Versorgung ihrer Versicherten nicht finanzieren, wenn sie keinen Zusatzbeitrag mehr verlangen dürften. ({10}) Deswegen löst dieser Vorschlag der SPD das Problem, vor dem wir stehen, nicht. ({11}) Sie haben vorgeschlagen - das ist typisch; das machen Sie jedes Jahr -, den Ausgleich auszuweiten. Das haben wir gemacht. Es war Ihr Vorschlag, den Krankenkassenausgleich auf die Krankheitsbilder auszuweiten. ({12}) Bisher waren es nur Alter, Geschlecht und einige wenige andere Kriterien. Sie haben durchgesetzt, es auf 80 Krankheitsbilder auszuweiten. Das heißt, schon heute werden schlechte Risiken, Versicherte mit Krankheiten, stärker berücksichtigt als früher. Aber das scheint das Problem immer noch nicht zu lösen. Ich sage Ihnen: Sie werden nie einen Ausgleich erreichen, der die unterschiedlichen Risiken zu 100 Prozent abdecken kann. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, um dieses Problem komplett zu lösen, und das, lieber Herr Lauterbach - in Wahrheit wollen Sie von der SPD dies wohl -, ist eine staatliche, zentralistisch gelenkte Einheitskasse. ({13}) Aber dann wären die Patienten Bittsteller bei einer Einheitskasse. Sie hätten dann nicht mehr die Möglichkeit, die Krankenversicherung selbst zu wählen. Dann hätten wir keinen Wettbewerb mehr. Dann würde mit den Beitragsgeldern nicht mehr sorgsam umgegangen werden. ({14}) Deswegen sage ich Ihnen, dass das keine Lösung ist. Wir haben die Lösung auf den Weg gebracht. Wir haben die Sanktionsmöglichkeiten für die Aufsichten verschärft. Das war notwendig, damit die Aufsichten besser durchgreifen können. Wir haben einen unbürokratischen Weg gefunden, damit die Versicherten eine freie Wahl der Kassen haben und unbürokratisch durch das Ankreuzen auf einem Formular selbst und schnell die Krankenkasse ihrer Wahl aussuchen können. Das ist notwendig, damit das hohe Gut der freien Wahl der Kassen und der sorgsame Umgang mit Beitragsgeldern weiterhin gewährleistet bleiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Bahr, die Reduzierung der Lösungsvorschläge der Oppositionsparteien auf Details, um dann draufzuschlagen, ist kein guter politischer Stil. ({0}) Sie wissen ganz genau, dass unser Konzept beispielsweise die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung beinhaltet und nicht einfach nur die Zusatzbeiträge. ({1}) Insofern ist Ihr Verhalten, denke ich, politisch nicht ganz korrekt. ({2}) Erst einmal zu den Fakten. Wir haben erlebt, wie eine Betriebskrankenkasse, die City BKK, pleitegegangen ist. Wir haben große Verunsicherung bei den Versicherten erlebt. Wir haben die Bilder gesehen, die Schlangen vor den Geschäftsstellen anderer Kassen gezeigt haben. Wir haben erfahren, dass Versicherte von Pontius zu Pilatus geschickt wurden. Wir haben das Einteilen der Versicherten in gute Risiken und schlechte Risiken erlebt, also in Junge und Gesunde sowie in Ältere und Kranke. Dieses Denken kannten wir bisher nur aus der privaten Versicherungswirtschaft. Es wurden einige Fälle bekannt, bei denen Ärzte die medizinische Versorgung von City-BKK-Versicherten verweigert haben. Herr Lanfermann, bei dieser Gelegenheit: Das Wichtigste für die Versicherten ist eine sichere Versorgung und nicht die freie Wahl zwischen den Kassen. ({3}) All dies hat zu einer weiteren großen Verunsicherung geführt, zu einem großen Imageschaden. All dies ist - das sage ich in aller Deutlichkeit - rechtswidrig. Jetzt drohen Sie mit Sanktionen gegen die Kassen und deren Vorstände. Aber ist es nicht auch ein enormer Imageschaden für die Gesundheitspolitik als Ganzes, eine Gesundheitspolitik, die seit Jahren das Solidarprinzip schwächt und auf Wettbewerb setzt? Wir erleben die Nebenwirkungen eines Denkens, das Jens Spahn kurz nach dem Schließungsbeschluss in aller Klarheit auf den Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: „Wir wollen den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Dazu gehört auch, dass erfolglose Kassen vom Markt verschwinden.“ Nur damit keine Unklarheit aufkommt: Auch wir sind nicht für einen unbegrenzten Bestandsschutz für jede Kasse, wenn sie schlecht wirtschaftet. ({4}) Aber es stünde auch der Weg der Fusion zur Verfügung. Bei der Insolvenz sind die Folgen, zum Beispiel die große Verunsicherung, die sie ausgelöst hat, wohl nicht richtig bedacht worden. ({5}) Dass viele relativ gleichzeitig bei anderen Kassen anfragen, was organisatorisch zu bewältigen ist, dass rund 50 000 City-BKK-Versicherte noch überhaupt nicht reagiert haben und dass sich die Frage stellt, in welche Kasse sie jetzt kommen, ist doch beim Beschluss der Insolvenz absehbar gewesen. Wenn Herr Montgomery mit dem einfachen Vorschlag punkten kann - der Vorschlag ist hier schon ein paar Mal genannt worden -, man möge den Versicherten ein Formular zuschicken, auf dem sie die Kasse ihrer Wahl ankreuzen könnten, dann fragt man sich, warum vorher niemand im Bundesministerium auf diese Idee gekommen ist. ({6}) Stattdessen gefällt sich Gesundheitsminister Bahr in der Pose des Rächers der Entrechteten und droht den Kassen mit Sanktionen. ({7}) Das ist ein wenig wie ein Einbrecher, der laut „Haltet den Dieb!“ ruft. ({8}) Die Wurzeln dieser Vorkommnisse liegen in der verfehlten Gesundheitspolitik. Ist das Verhalten der Kran12662 kenkassen wirklich überraschend? Wettbewerb fördert immer eigennütziges Verhalten. Wer gesetzliche Krankenkassen wie Unternehmen behandelt und behandeln will, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten handeln, sondern der Marktlogik folgen. ({9}) Menschen, die sich für die Kassen nicht rentieren, bleiben nach dieser Logik auf der Strecke. Betroffen sind vor allen Dingen alte und kranke Bürgerinnen und Bürger. Der Druck auf die Krankenkassen ist durch Ihre Politik inzwischen so groß geworden, dass sie offenbar auch Rechtsverstöße - skandalöse Rechtsverstöße - in Kauf nehmen, um nicht selbst in den Abwärtsstrudel aus Finanznot, Zusatzbeiträgen und Verlust von Versicherten zu geraten. Noch einmal - damit das klar ist -: Dieses Verhalten ist rechtswidrig und durch nichts zu entschuldigen. Es ist eindeutig ein Produkt von falschen Anreizen und einer fatalen Marktgläubigkeit. ({10}) Das Ganze hat eine lange Geschichte. Seit Jahren wird das Solidaritätsprinzip systematisch aus der gesetzlichen Krankenversicherung verdrängt. Der Wettbewerb zwischen Krankenkassen wurde von der schwarz-gelben Bundesregierung unter Kohl im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes 1992 eingeführt. Rot-Grün hat die Wettbewerbslogik beibehalten und den Finanzdruck auf die Kassen noch erhöht. Gleichzeitig wurde durch einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, den die Versicherten leisten müssen, und die Einführung und Erhöhung von Zuzahlungen die paritätische Finanzierung aufgekündigt. Die Möglichkeiten für Kasseninsolvenzen wurden 2007 unter Schwarz-Rot, also von der Großen Koalition, im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschaffen. Im selben Gesetz wurden auch die allgemeinen Beitragssätze vereinheitlicht und dafür gedeckelte Zusatzbeiträge eingeführt. Schwarz-Gelb hat den Wettbewerb als wesentlichen Ordnungsfaktor für das Gesundheitswesen in den Koalitionsvertrag geschrieben und mit ungedeckelten Zusatzbeiträgen, der Kopfpauschale, ein Instrument geschaffen, das den Preiswettbewerb zwischen den Kassen weiter anfacht, und das, obwohl klar ist, dass dies eine Politik gegen die Interessen der Menschen ist. ({11}) Das Sinus-Institut hat jüngst eine Studie durchgeführt, in der die Einstellung der deutschen Bürgerinnen und Bürger zur medizinischen Versorgung untersucht wurde, im Übrigen im Auftrag einer der Nähe zu uns mit Sicherheit völlig unverdächtigen Stiftung, nämlich der Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese Studie hat zwei wesentliche Ergebnisse hervorgebracht. Erstens. Das Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem schwindet schon jetzt; die Menschen sind verunsichert. Diese Verunsicherung wird in einen Zusammenhang mit einer radikalen Wettbewerbsrhetorik gebracht, die leider nicht nur Wettbewerbsrhetorik, sondern in der Tat auch Wettbewerbspolitik ist. Zweitens. Die Mehrheit, 80 Prozent, und zwar unabhängig vom Einkommen - hohe Einkommen und niedrige Einkommen - und unabhängig vom Alter - Junge und Alte -, gab an, dass die Solidarität als Kerngedanke der Krankenversicherung erhalten bleiben müsse. Danach müssen wir unsere Politik in Zukunft ausrichten. ({12}) Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass die Verunsicherung aus der Wettbewerbsorientierung resultiert und die Menschen eine andere, solidarisch ausgerichtete Gesundheitspolitik wünschen. Dies haben auch einige Unionspolitiker bereits kapiert. Max Straubinger zum Beispiel, ({13}) der heute bezeichnenderweise nicht hier ist, hat dies, wie ich denke, schon ein Stück weit gespürt. Er ist nämlich ein bisschen näher bei den Menschen als beispielsweise Sie, Herr Lanfermann. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Mein letzter Satz: Von dieser Bundesregierung und einem FDP-dominierten Gesundheitsministerium ist keine Wende zum Besseren zu erwarten. ({0}) Es wird Zeit für einen Politikwechsel. Es wird Zeit, dieser Regierung die Rote Karte zu zeigen. Danke. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zu diesem Debattenpunkt ist alles Wesentliche gesagt. ({0}) Ich möchte die beiden wesentlichen Facetten dieser Diskussion aus meiner Sicht zusammenfassen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir mit dieser Diskussion an die Menschen vor dem Bildschirm folgendes Signal senden: Kein einziger der Menschen, die, wie wir im Fernsehen oder auf Fotos gesehen haben, bei der AOK-Außenstelle in Berlin-Weißensee Schlange gestanden haben, ist ein Bittsteller. Nicht ein einziger der Menschen, die von der City BKK zu einer anderen Krankenkasse wechseln müssen, muss darum bitten, in eine andere Kasse wechseln zu dürfen, sondern die Menschen haben darauf einen Rechtsanspruch. ({1}) Die gewählte Krankenkasse darf ihren Antrag auf Mitgliedschaft nicht abweisen. Ihr Alter, ihr Geschlecht und ihr Gesundheitszustand dürfen dabei keine Rolle spielen. Außerdem können sich die Menschen ganz sicher sein, dass keine angefangene Behandlung in irgendeiner Art und Weise abgebrochen werden darf, sondern sie haben einen Rechtsanspruch darauf, dass die gesamte Behandlung zu Ende geführt wird und die Kosten dafür von der neuen Kasse übernommen werden. Es gibt aber eine weitere Facette dieser Bilder aus Berlin-Weißensee: Die Menschen in unserer Republik werden zunehmend verunsichert, und man hat das Gefühl, sie würden zu Bittstellern. Deswegen finde ich es ganz besonders wichtig, dass auch die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition, Frau Rawert, hier klar und deutlich sagen, was Sache ist, und nicht für einen vermeintlichen Vorteil im Wahlkampf hier in Berlin eine Hotline der Fraktion schalten und das als anwaltliche Leistung verstehen. ({2}) - Selbstverständlich, aber Sie sind nicht die Einzigen, die eine Hotline geschaltet haben; ({3}) denn zum Beispiel auch die Kassenaufsicht in Brandenburg, an die man hier in Berlin die Aufsicht abgetreten hat, hat sofort eine Hotline geschaltet und versucht, die Menschen zu informieren. ({4}) Wesentlicher Punkt ist aber: Wenn Sie sich die Versichertenstruktur der City BKK anschauen, ({5}) dann sehen Sie - das haben Sie vielleicht auch -, dass von den Versicherten hier in Berlin über die Hälfte Rentnerinnen und Rentner sind und dass von der anderen Hälfte 15 000 Menschen Leistungen nach dem SGB II oder Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Sie sehen also, dass diese Menschen wahrscheinlich einer größeren Hilfe bedürfen. ({6}) Ich finde es schon ein Stück skandalös, wie die gesetzlichen Krankenkassen im Land Berlin, aber auch in Hamburg und anderen Regionen, die immer mit diesem hehren Bild der Solidarität aufgetreten sind - wir halten zusammen -, ({7}) mit diesen Menschen umgegangen sind, dass sie sich weggeduckt haben, Außenstellen am Stadtrand eröffnet haben oder nicht ansprechbar waren. Ich glaube, dass dieser Imageschaden für die gesetzlichen Krankenkassen ganz wesentlich ist und dass mittlerweile alle erkannt haben - auch die Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherung -, dass es einen solchen Vorfall nie wieder geben darf. ({8}) - Sie haben sich entschuldigt. Ich möchte hier sagen - vielleicht auch für alle Vertreterinnen und Vertreter dieses Hauses -, dass ich nach der Schließung einer Krankenkasse nicht noch ein einziges Mal solche Bilder in unseren Zeitungen sehen möchte. Ich gehe fest davon aus, dass es einen solchen Vorgang wie den nach der Insolvenz der City BKK in Zukunft nicht mehr geben wird. ({9}) Auf der einen Seite gibt es unsere gesetzlichen Regelungen. Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass es Tricksereien hin und her gegeben hat, um Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken - dass man so über Menschen reden kann, ist auch fragwürdig - hin und her schieben zu können. Wir müssen den Finger in die Wunde legen und gemeinsam darauf achten, dass wir die Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken gut informieren, dass wir ihnen eine besondere Hilfestellung geben und dass diejenigen in den Vorständen, die hier tricksen, dafür auch bestraft werden. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, in einem Punkt sind wir uns alle hier im Hause einig: Das Verhalten einiger Krankenkassen nach der Pleite der City BKK ist inakzeptabel und skandalös. ({0}) Der Umfang und auch die Dreistigkeit, mit der gerade ältere Menschen verunsichert und letztlich abgewimmelt worden sind, sind erschreckend. Deshalb ist es auch richtig und angemessen, dass dieses Verhalten im Deutschen Bundestag mit deutlichen Worten verurteilt wird. Ebenso richtig und nachvollziehbar ist der Ruf nach Sanktionen und auch nach Maßnahmen, die den Kassenwechsel im Falle einer Kassenschließung weiter vereinfachen. Herr Minister Bahr, das reicht aber nicht. ({1}) Ganz in der Tradition Ihres Vorgängers kündigen Sie jetzt mit markigen Worten große Taten an. Doch an die Grundprobleme des Systems wagen auch Sie sich nicht. Dass an den gegenwärtigen Problemen nicht nur die gesetzlichen Kassen schuld sind, haben inzwischen auch Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen gemerkt. Der CSU-Kollege Straubinger, der heute nicht anwesend ist, scheint - das ist schon erwähnt worden - bei Fonds, Spitzenverband und Zusatzbeiträgen einiges durcheinandergebracht zu haben. ({2}) Aber zumindest hat er gemerkt, dass das Problem tiefer liegt. Denn unabhängig von dem skandalösen Fehlverhalten muss man sich fragen, wieso es nach wie vor für einige Kassen erstrebenswert ist, ältere und kranke Versicherte gar nicht erst zu versichern. Offensichtlich herrscht im System kein wohlverstandener Wettbewerb, sondern ein schädlicher Wettbewerb ({3}) um die jungen, gesunden Versicherten, während die Alten und Kranken Steine in den Weg gelegt bekommen. ({4}) Gerade deshalb haben wir unter Ministerin Schmidt den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich eingeführt. Gesunden Wettbewerb im System der gesetzlichen Krankenversicherung erreichen wir nämlich nur, wenn Kassen mit vielen kranken und älteren Versicherten keinen finanziellen Nachteil daraus haben. Die seinerzeit von der Union durchgesetzte Beschränkung des Risikostrukturausgleichs auf 80 Erkrankungen belässt aber weiterhin Anreize zur Risikoselektion aufseiten der Krankenkassen. ({5}) Genau das haben wir im Fall der City BKK noch einmal deutlich vor Augen geführt bekommen. Wir fordern deshalb die Abschaffung der Begrenzung auf 80 Erkrankungen; denn nur so können wir die falschen Anreize für die Kassen unterbinden und für einen fairen Wettbewerb sorgen, von dem auch alle Versicherten profitieren können. ({6}) Der Fall City BKK zeigt, dass es höchste Zeit ist, mit falschen Anreizen im System Schluss zu machen und dafür zu sorgen, dass der Risikostrukturausgleich weiter ausgebaut wird. Dazu habe ich weder vom Minister noch von den Koalitionsfraktionen etwas gehört. Ihr Koalitionsvertrag fordert sogar, den Risikostrukturausgleich zurückzufahren. Auch Minister Bahr zieht seit Jahren gegen den Risikostrukturausgleich zu Felde. Es ist geradezu absurd: Sie beklagen auf der einen Seite medienwirksam die Ablehnung Kranker und Alter, tun auf der anderen Seite aber rein gar nichts dafür, die Anreize zu dieser Ablehnung zu beseitigen. Auch heute haben wir nichts dazu gehört. Schlimmer noch: Sie verfolgen eine Gesundheitspolitik, die diese Anreize sogar noch verstärkt. Herr Minister, Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, der Kollaps der City BKK und das Chaos als Folge daraus sind ein ernstzunehmender Warnschuss. Das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags und die Abwälzung aller künftigen Kostensteigerungen auf die Versicherten in Form unbegrenzter Zusatzbeiträge, verbunden mit einem unzureichenden Risikostrukturausgleich, werden zu einem verschärften schädlichen Wettbewerb führen. ({7}) Junge, gesunde und flexible Versicherte werden bei steigenden Zusatzbeiträgen flüchten. Die Alten und Kranken bleiben zurück, weil sie sich mit einem Kassenwechsel aus verschiedenen Gründen schwerer tun. In der Folge geraten die betroffenen Kassen immer mehr in eine finanzielle Schieflage bis hin zur Insolvenz mit den Auswirkungen, die wir gerade bei der City BKK erlebt haben. Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie diesen Warnschuss ernst! Es ist der Hinweis auf eine Fehlentwicklung, die Sie nicht mit Strafen und Sanktionen für gesetzliche Kassen in den Griff bekommen werden, sondern nur, indem Sie die gesundheitspolitischen Fehlentscheidungen Ihres Vorgängers zurücknehmen. Danke. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lars Lindemann für die FDP-Fraktion. ({0})

Lars Lindemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004095, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde von den Vorrednern heute schon viel gesagt. Wir alle haben die Bilder gesehen. Wir alle haben das Vorgehen einhellig verurteilt. Es ist die originäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, Versicherungsschutz anzubieten. Deren originäre Aufgabe ist es auch, im Fall einer Insolvenz die Versicherten der insolventen Krankenkasse aufzunehmen. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln. ({0}) Es geht aber nicht nur um die Vorgehensweisen bestimmter Krankenkassen und ihrer Vorstände, die wir schlicht als rechtswidrig bezeichnen müssen. Zur Wahrheit gehört auch: Die Pleite der City BKK hat sich lange angedeutet. Alle Beteiligten - ich betone: alle Beteiligten - konnten sich darauf vorbereiten, sowohl die Krankenkassen als auch die Politik. Wir als politisch Verantwortliche auf Bundesebene durften darauf vertrauen, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Regeln einhalten werden, die wir ihnen gegeben haben. Interessant ist aber, dass gesetzliche Krankenkassen, die bekannt dafür sind, dass sie hohe moralische Ansprüche an alle Beteiligten im System haben, hier die Ersten sind, die dies für sich nicht mehr gelten lassen wollen. Insoweit stellt sich die Frage: Wie moralisch und wie solidarisch ist dieses Vorgehen in genau diesem Moment? ({1}) - Liebe Kollegin Rawert, es geht um den Moment. Wir von der Koalition jedenfalls werden das so nicht hinnehmen. Dieses Verhalten wird zu Konsequenzen führen, die wir gesetzlich implementieren werden. Wir werden dabei auch darauf achten, dass die Konsequenzen diejenigen treffen werden, auf die es dabei ankommt, nämlich die Vorstände der Krankenkassen und deren Verbände. Es soll sich niemand falsche Hoffnungen machen: Die Koalition wird diese Sache ganz unaufgeregt besprechen. Es geht darum, dass sich die Menschen in diesem Land auf die Wirkung der vom Gesetzgeber für den Fall einer Insolvenz geschaffenen Regelungen verlassen können, gerade vor dem Hintergrund, dass diese auch wirken müssen, wenn in Zukunft andere Krankenkassen von einer Insolvenz betroffen sind, unabhängig davon, ob es sich um kleine oder große Krankenkassen handelt. Es geht darum, einen Mechanismus, der zu einem funktionierenden System gehört - nach unserer Auffassung auch der Marktaustritt -, funktionsfähig zu halten. Der Marktaustritt von Krankenkassen und auch - das füge ich hinzu - von Leistungserbringern ({2}) muss zur positiv erlebbaren Realität in diesem Land gehören. Es kann nicht sein, dass die Beteiligten dann, wenn gesetzlich vorgesehene Fälle eintreten, versuchen, Konflikte auszutragen, die nicht dorthin gehören. ({3}) Dazu gehört ganz ohne Zweifel, dass diejenigen, die nicht in der Lage sind, unter Beachtung der gegebenen Regeln einen Beitrag zu leisten, ausscheiden müssen. ({4}) Nun sprechen Sie, liebe Kollegen von der SPD, von einem perversen Wettbewerb - so hat es Herr Kollege Lauterbach bezeichnet -, der durch die Erhebung oder die bewusste Vermeidung von Zusatzbeiträgen entsteht. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie es waren, die Zusatzbeiträge eingeführt haben, und zwar - im Gegensatz zu uns - ohne Sozialausgleich für die Versicherten. ({5}) Wir haben den Sozialausgleich - dazu stehen wir weiterhin - mit der Überlegung gekoppelt, dass der Wettbewerb darum, ob eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhebt oder nicht, zu einer Veränderung der Krankenkassenlandschaft führen kann. Wenn Sie, liebe Kollegen von der SPD, erklären, das sei nicht Ihr Ziel - das dürfen Sie -, dann hält uns das nicht davon ab, das zu tun. Aber es lässt sich eines festhalten: Der Zusatzbeitrag, den Sie eingeführt haben, war nichts anderes als der schlichte Griff in die Tasche der Versicherten ohne Sozialausgleich ({6}) und ohne Elemente, die die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems im Blick haben. Dies aber ist unser Ansatz. Insoweit kann ich Ihren Stellungnahmen etwas abgewinnen, wenn es um die Zielsetzungen geht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Krawattenfarbe entscheidend ist, dürfte ich nie eine rote tragen. Das tue ich aber gelegentlich. ({0}) Ich trage auch schon mal eine lilafarbene Krawatte. Die meisten meiner Krawatten sind gemustert. Die Krawatte, die ich gerade trage, weist auch etwas Blau auf. ({1}) Da es für die Versicherten, die gerade zuschauen, ein bisschen durcheinandergeht: Das Formular, mit dem man seinen Beitritt zu einer neuen Krankenkasse erklärt, ist supersimpel. Dort steht: „An die Krankenkasse“, und dann muss die Adresse eingetragen werden. Es heißt dort: Antrag auf Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse. Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit beantrage ich die Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse ab - in diesem konkreten Fall 1. Juli 2011. Dann muss man seine Daten angeben: Name, Vorname, Geburtsdatum, Straße, Postleitzahl und Ort. Man trägt ein Datum ein, unterschreibt das Formular und schickt es an die Krankenkasse. Wenn man glaubt, dass man dafür einen Beweis braucht, muss man es per Einschreiben schicken oder es persönlich dort einwerfen. Der entscheidende Punkt ist: Mehr Aufwand bedarf es dazu nicht. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, denjenigen in diese Krankenkasse aufzunehmen. Sie, die Krankenkasse, hat kein Wahlrecht, sich den Versicherten auszusuchen, sondern der Versicherte hat das Wahlrecht, sich die Krankenkasse auszusuchen. So einfach ist das. ({2}) Ich habe den Eindruck, dass die Krankenkassen die Philosophie, die dahintersteckt, dann, wenn es um andere geht, gerne vor sich hertragen. Vor ein paar Tagen wurde der Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung „Krankenhaus Rating Report 2011“ vorgelegt, wonach sich 12 Prozent der Krankenhäuser im Insolvenzrisiko befinden. Das haben die Krankenkassen natürlich kommentiert. Und wie haben sie es kommentiert? Ich zitiere Herrn von Stackelberg, den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes: Verluste von Krankenhäusern sind kein Indiz für eine unzureichende Finanzierungsausstattung, sondern oft ein Zeichen von strukturellen Problemen. ({3}) Darüber hinaus hat er gesagt: Verkrustete Strukturen dürfen nicht länger konserviert, sondern müssen aufgebrochen werden. Wir mahnen dringend eine strukturelle Bereinigung der Krankenhauslandschaft an. So Herr von Stackelberg. Wer so über andere redet, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen, der hat keine Ausreden mehr, wenn sich Krankenkassen so verhalten, wie sie es getan haben, indem sie Versicherte abgewimmelt haben. ({4}) Ich bin sehr dafür, dass auch die Leistungserbringer daran festhalten und wissen müssen, dass sie selbstverständlich nach Recht und Gesetz und Fachlichkeit gebunden sind, jeden Versicherten zu versorgen. Die Krankenkassen haben ja in der Verteidigung dieses Rechts eine Rolle gespielt. Genau an dieser Stelle schießen sie sich selbst ins Knie, wenn sie sich so verhalten, wie sie es jetzt getan haben, weil sie damit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit schweren Schaden zufügen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere, achten aber nicht darauf, dass man sich auch selber daran halten muss. ({5}) Es ist unentschuldbar, wenn Krankenkassen Versicherte abwimmeln, weil ihnen diese zu alt oder zu krank sind. Für ein solches Verhalten habe ich keinerlei Verständnis. Es ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch inakzeptabel. Wir erwarten von jeder gesetzlichen Krankenkasse, dass sie grundsätzlich jeden mit offenen Armen empfängt. Kleine Korrektur zu der Ausrede, die da vagabundiert hat, also zu der Aussage der AOK Berlin-Brandenburg, man habe ja hier so viele Krankenhausbetten: In Berlin hatten wir Ende 2009 573 Betten auf 100 000 Einwohner, im Bund waren es 615 Betten und in dem Bundesland Nordrhein-Westfalen beispielsweise, aus dem ich stamme, 682 Betten. Es ist aber trotzdem so, dass die City BKK hier in Berlin in Probleme geraten ist. Auch da wird zum Teil die Verantwortung auf andere Bereiche umgelenkt. Ein zentraler Punkt in der politischen Debatte scheint mir zu sein, dass wir in der Behandlung des Zusatzbeitrages - die ganze Diskussion zeigt das wieder einmal geradezu eine Neurotisierung in der Bevölkerung fördern, und zwar an allererster Stelle Sie, Herr Kollege Lauterbach. Sie erklären zum einzigen Kriterium des Krankenkassenwettbewerbs: Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden. Damit sorgen Sie für eine Haltung, die zum Beispiel der Verbraucherzentrale Bundesverband ablehnt, ({6}) weil er seinen Verbrauchern und den Versicherten zuruft, dass man nicht alleine auf den Zusatzbeitrag achten darf, sondern dass man auf das Verhältnis von Leistung und Preis achten muss. ({7}) Die Konzeption, die Sie hier vertreten, ist eine Konzeption, bei der so getan wird, als wären die Versicherten so dumm, ({8}) dass sie nicht in der Lage sind, das Verhältnis von Preis und Leistung zu erkennen. Die wichtigste Leistung einer Krankenkasse ist, dass sie in der Lage ist, das Leistungsversprechen, das sie gegeben hat, einzuhalten. Wenn sie dafür einen etwas höheren Beitrag erheben muss, ({9}) dann ist dieses Geld richtig bezahlt und der Versicherte gut beraten, bei dieser Kasse zu bleiben. Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - PrivilegieVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse rung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms - Drucksache 17/5709 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes Privilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms - Drucksache 17/4836 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 17/5957 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Judith Skudelny Dorothea Steiner b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinderlärm - Kein Grund zur Klage - zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorrang für Kinder - Auch beim Lärmschutz - Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925, 17/5957 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Paul Judith Skudelny Dorothea Steiner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Norbert Röttgen das Wort. ({2})

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr - ich hoffe und glaube, dass das für sehr viele hier im Hohen Hause gilt -, dass wir heute die zweite und dritte Lesung des Gesetzes zur Privilegierung von Kinderlärm beraten und dann im Bundestag auch beschließen werden. Ich glaube, dass dieses Gesetzesvorhaben eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Bedeutung, aber auch ganz praktische Folgen hat. Zur grundsätzlichen Bedeutung möchte ich erstens Folgendes hervorheben: Dieses Gesetz trägt dazu bei, dass sich im einfachen Recht, in den einfachen Gesetzen, die Wertordnung des Grundgesetzes verwirklicht. Gesetze müssen sich orientieren an den Werten einer Gesellschaft und insbesondere an der Wertordnung, wie sie in unserer Verfassung, im Grundgesetz, festgelegt ist. Darum möchte ich hier ganz ausdrücklich aussprechen, dass die bisherige Rechtslage, nach der das Toben, Spielen, ja natürlich auch das Lärmen von Kindern als schädliche Umwelteinwirkung aufgefasst werden kann, inakzeptabel ist, gerade auch aus der Perspektive der Wertordnung des Grundgesetzes. ({0}) Kinder haben das Recht, in ihrem Kindsein akzeptiert und toleriert zu werden. ({1}) Es gibt keine geräuschfreien Kinder. Wir wollen auch keine geräuschfreien Kinder, sondern wir wollen Kinder so, wie sie sind: spielend, Lust am Leben und Freude habend, auch tobend und lärmend. Das mag manchmal für Erwachsene anstrengend sein - das will ich als Vater von drei Kindern gern einräumen; diese Erfahrung machen wir alle -, aber es geht darum, Kinder in ihrem Kindsein zu tolerieren, zu respektieren, ja zu mögen, zu lieben, zu wollen. Das muss sich in Gesetz und Recht ausdrücken; sonst sind wir nicht ehrlich. ({2}) Darum ist diese Änderung auch im rechtspolitischen Sinne eine wirklich überfällige Korrektur. Ich glaube zweitens, dass dieses Gesetz ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal ist, ein Signal für eine kinderfreundliche Gesellschaft. Was sind die Trends in unserer Gesellschaft, über die Konsens besteht? Wir sind eine Gesellschaft, in der wir weniger werden. Wir sind eine Gesellschaft, die älter wird. Ich glaube, wir sind eine Gesellschaft, in der viele Menschen einsamer werden, nicht nur individueller; der Trend zur Vereinsamung hat inzwischen eingesetzt. In unserer Gesellschaft werden wir we12668 niger, älter und einsamer. Das sind drei große Trends in unserer Gesellschaft, die wir nicht einfach tatenlos hinnehmen dürfen. Mit einer gezielten und entschlossenen Familienpolitik müssen wir Akzente dagegen setzen; denn die Familie ist immer noch die wichtigste Lebensform, die sozialen Zusammenhalt bietet, ihn erzeugt. Darum wollen wir alles tun, was Kinder und Familien stärkt. Es ist ein Signal für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft, das wir heute in Gesetzesform an die Gesellschaft aussenden, ein Signal für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. ({3}) Drittens regeln wir ganz praktische Sachverhalte; denn mit der Neuregelung im Bundes-Immissionsschutzgesetz wie auch im Baurecht, im Bauplanungsrecht sorgen wir dafür, dass der gerichtliche Streit um die Zulässigkeit von Kinderlärm weniger wird, weil der Gesetzgeber die Normentscheidung trifft, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung darstellt. Indem der Gesetzgeber Klarheit schafft, sorgen wir dafür, dass im Einzelfall weniger Streit vor den Gerichten ausgetragen wird und auch weniger Nachbarschaftsstreitigkeiten entstehen. ({4}) - Das Baurecht fehlt nicht - aber es ist richtig, dass Sie es anmerken -, da wir im Bauplanungsrecht eine Änderung vornehmen, die vorsieht, dass nun auch in reinen Wohngebieten Kindertageseinrichtungen generell zulässig sind. Das ist eine ganz wichtige Flankierung dieser Gesetzesinitiative im Planungsrecht. Wir wollen Kindertageseinrichtungen dort, wo auch andere Menschen sind, in reinen Wohngebieten, und sie nicht zu Exklaven unserer Städte und Gesellschaften machen. Auch das ist ein wichtiges Signal, eine wichtige Entscheidung. ({5}) Ich betone ausdrücklich, dass dies ein gesellschaftspolitisch wichtiges Anliegen ist. So klein es zu sein scheint, so wichtig ist es mit Blick auf die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit, aber auch das Bemühen von Politik und Gesetzgeber, Maßnahmen zu ergreifen, die unsere Gesellschaft freundlich machen, Zusammenhalt stiften, Kindern ganz real in Kindertageseinrichtungen, aber auch zur Entfaltung ihres Kindseins Lebensraum geben. Obwohl es um wenige Veränderungen geht, hat dies eine beachtliche Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung. Es geht auch darum, eine tolerante Gesellschaft zu befördern. Toleranz wird ganz sicherlich - das ist auch wichtig bei einem Gesetz zugunsten von Kindern und ihrer Entfaltung - wechselseitig geschuldet. Es geht hier um die Toleranz älterer Erwachsener gegenüber Kindern, weil wir sie so haben möchten, wie sie sind. In gleicher Weise ist dies dann auch eine gute Grundlage, dass Kinder, junge Menschen Toleranz und Respekt gegenüber älteren Menschen, gegenüber der älteren Generation zeigen. Insofern versucht dieses Gesetz einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, die Toleranz und die Freude am Zusammenleben zunehmen. Unsere Gesellschaft braucht dies, und darum bitte ich Sie sehr um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Vogt von der SPD-Fraktion. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist sicherlich ein dankbares Thema für den Minister; denn wir sind uns bei diesem Gesetzentwurf durchaus in den wichtigen Teilen, die uns heute vorliegen, parteiübergreifend einig. Ich beginne mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem Zitat von Frank Patalong in Spiegel Online aus dem April dieses Jahres: Eigentlich sollte uns dieses Gesetz zutiefst beschämen. Er führt aus, man könne sich durchaus Gedanken darüber machen, dass es bedauerlich ist, dass man ein solches Gesetz überhaupt braucht, und man treffe diese Regelung in einem Gesetz, das eigentlich für Immissionen von Abgasanlagen und Industrieanlagen zuständig ist. Daran ist durchaus etwas, wenn man die gesellschaftliche Situation betrachtet: Man kann bedauern, dass wir dies überhaupt regeln müssen, weil sich zu viele Menschen beklagen und sogar gerichtlich gegen Kinderspielplätze oder Kindertagesstätten vorgehen. Aber entscheidend ist für uns, dass wir nicht darüber trauern, dass es solche Zustände gibt, sondern dass wir den Kindern mit diesem Gesetz Freiräume schaffen und dass wir dies parteiübergreifend tun. Vor allem sorgen wir dafür, dass für Kinderlärm eine Privilegierung gilt und er daher dem Spielen und Sich-Entfalten nicht im Wege steht. Ausdrücklich bedanke ich mich bei der Landesregierung von Rheinland-Pfalz, die mit ihrer Bundesratsinitiative im November 2009, also schon vor anderthalb Jahren, die Grundlage dafür geschaffen hat, dem Ganzen zusammen mit Anträgen der Opposition etwas Nachdruck zu verleihen. Daher kommen wir heute wenigstens in diesem einen Feld, was die Kinder betrifft, zu einer Sicherheit, wenngleich die Rechtssicherheit, wie Sie ja selbst gesagt haben, Herr Minister, erst dann gegeben sein wird, wenn, wie im SPD-Antrag vermerkt, auch das Baurecht und andere damit zusammenhängende Rechtsvorschriften geändert werden. Trotzdem möchte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf doch ein ganzes Stück hinter dem zurückbleiben, was die Realität heute erfordert. In unserer Anhörung vom 14. März 2011 hat der Sachverständige Rainer Grund vom Baurechtsamt Stuttgart dazu etwas Treffendes gesagt. Er beschreibt, wie er es nennt, die offene Flanke, die dieser Gesetzentwurf bietet. Ich zitiere aus dem Protokoll der Anhörung: Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, beschäftigt sich eigentlich nur … mit dem Kinderlärm durch Kindertagesstätten oder durch klassische Spielplätze. Im praktischen Vollzug ist das der Bereich, der am wenigsten Probleme aufwirft. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich für zutiefst bedauerlich. Auch Sie, Herr Minister, haben mit keinem Wort erwähnt, dass die Kindheit eben nicht endet, wenn man den Kinderspielplatz verlässt. Sie endet auch nicht mit 14 Jahren; das ist meistens das Höchstalter, bis zu dem man einen Kinderspielplatz nutzen darf. Vielmehr haben auch die Jugendlichen ein Recht darauf und hätten es verdient, dass Sie als Bundesregierung ihr Anliegen aufnehmen und sich zur Lobby auch von jungen Menschen machen, nicht nur zu der für Kinder bis zu 14 Jahren. ({0}) Wenn wir einerseits die Erkenntnisse aus den Anhörungen - es war nicht nur der eine Sachverständige, der solche Ausführungen gemacht hat - zugrunde legen und andererseits sehen, was uns zum Beispiel eine FDP-Kollegin im Ausschuss erläutert hat, tut sich ein Widerspruch auf. Sie sagte nämlich, der Kinderlärm bedürfe einer Regelung, denn man könne den Kindern nicht so gut sagen, dass sie still sein sollen, sie verstünden das noch nicht; Jugendlichen hingegen könnte man solche Hinweise durchaus geben. ({1}) Stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Die Kollegin Skudelny rennt in Stuttgart von Bolzplatz zu Bolzplatz und sagt den Jugendlichen, sie sollen aber bitte ein bisschen leiser sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist weltfremd, und es ist auch ganz schön albern, welche Vorstellungen Sie haben. Sie drücken sich davor, eine Lösung für ein Thema zu finden, das den eigentlichen Konflikt vor Ort schafft. ({2}) Denn wenn Jugendliche ihrer Spielfreude Ausdruck verleihen wollen, macht dies viel mehr Probleme, aber für sie ist viel weniger Lobby vorhanden. Es wäre mutig und richtig gewesen, wenn Sie auch bei diesem Gesetzentwurf nicht bei den Kindern geendet hätten. ({3}) Deshalb appelliere ich an Sie, dass Sie die vorliegenden Anträge der Opposition nicht in gewohnter Art und Weise beiseitelegen und nicht einfach sagen: Wir haben die Mehrheit, hurra, jetzt setzen wir uns einmal allein mit dem durch, was wir für richtig halten. Wir haben uns als Opposition parteiübergreifend entschieden, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Man könnte jetzt auch im Sinne einer guten demokratischen Kultur sagen: Im Gegenzug stimmen Sie den Anliegen der Opposition zu. Dazu zählt das Anliegen, eben auch Bolzplätze, Baseballanlagen, Skateranlagen und auch wohnortnahe Sportplätze einzubeziehen und vor allem gleichzustellen. Das alles ist in den Anträgen der Opposition enthalten. Ich kann Sie nur bitten: Schieben Sie das Ganze nicht auf die lange Bank. Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP aus dem Sportausschuss - vielleicht sind diese manchmal ein bisschen näher an der Realität - haben einen eigenen Antrag eingebracht, in dem Sie ausdrücklich aufgefordert werden, auch Rechtssicherheit bei der Beurteilung von Lärm der Jugendeinrichtungen zu schaffen. In diesem Sinne bitte ich Sie ganz dringend: Stimmen Sie auch den Oppositionsanträgen zu. Damit würden wir ein Gesetz verabschieden, das im Grunde genommen allen gerecht wird, Kindern und Jugendlichen. Wir hätten auch ein Stück Geschichte geschrieben, weil wir einmal nicht nur hinsichtlich des Gesetzes einig sind, sondern auch bei den dazugehörenden Anträgen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt von der FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Hamburger Landgericht hat 2005 per Gerichtsurteil die Schließung eines Kindergartens wegen Lärmbelästigung der Nachbarn angeordnet. Das Urteil empfand ich damals genauso wie heute als Skandal. Wie kann man den ganzen Tag den Lärm einer vierspurigen Straße ertragen, aber nicht für ein paar Stunden das Lachen und Toben von Kindern? Rasenmäher machen Krach, werden aber toleriert, Kindergeschrei nicht. Das Gerichtsurteil von Hamburg hat dennoch ein Gutes: Es hat eine Diskussion in Gang gebracht. Es handelte sich um einen Konflikt, der schwer nach Generationenkampf aussah. Lärm sei Lärm, egal, ob er von Kindern oder Maschinen herrührt. Für zumutbaren Lärm gebe es Obergrenzen und die müssten eingehalten werden, sagen mache. Geräusche von Kindern waren immer wieder Gegenstand von nachbarschaftlichen Streitigkeiten. Tobende Kinder mit Maschinen zu vergleichen, ist absurd. ({0}) Als Regierungskoalition haben wir versprochen, eine Änderung auf den Weg zu bringen. Dieses Versprechen lösen wir nun ein. Miriam Gruß von der FDP-Fraktion hat dieses in die Koalitionsvereinbarungen eingebracht. Jetzt wird es Gesetz. Außerdem ist es ein Signal an Familien. Es schließt nahtlos an den Ausbau der Kinderbetreuung durch die Bundesregierung an. Welchen Sinn würden neue Kitas in Wohngebieten machen, wenn die Kinder nicht auch draußen spielen dürften? Kindergeräusche stellen im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung dar. Während des Gesetzgebungsverfahrens ist klar geworden, dass auch in Bezug auf Jugendliche auf Bolzplätzen Handlungsbedarf besteht. Bolzplätze und Sportstätten sind für Jugendliche Alternativen zum Computer, eine Gelegenheit, draußen zu sein und Freunde zu treffen. Jugendliche treffen sich allerdings zu anderen Zeiten. Deshalb können wir dies nicht genauso behandeln wie die durch Kinder entstehende Geräuschkulisse. ({1}) Die Koalition wird eine Lösung entwickeln, die die Situation Jugendlicher angemessen berücksichtigt. ({2}) Ich bin auch Sprecherin für Senioren in meiner Fraktion. Deshalb habe ich natürlich auch die Interessen der Älteren vor Augen. Die neuen Regeln sollen ein Gewinn für alle sein. Daher brauchen wir einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen von Anwohnern und denen von Kindern und Jugendlichen. Deshalb legen wir Wert auf die Formulierung, dass der von Kindergärten und Kinderspielplätzen ausgehende Kinderlärm bei der Festlegung des zumutbaren Geräuschpegels privilegiert sind und er im Regelfall - ich wiederhole: im Regelfall nicht als schädliche Umwelteinwirkung gelten darf. Ausnahmen kann es also geben. Wir wollen wie Sie alle eine kinderfreundlichere Gesellschaft. Dazu gehört, dass Kinder möglichst wohnortnah draußen spielen und toben können. Das brauchen sie, körperlich wie seelisch. Noch ein Gedanke zum Begriff Lärm. Lärm wird definiert als lästig empfundener Schall. Das Lachen und Toben von Kindern ist dagegen vielmehr Ausdruck kindlicher Lebensfreude, also kein Grund zur Klage. Im Gegenteil: Kinderlärm ist Zukunftsmusik. Danke. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere mich schon, was Gerichte auch beim Lärmschutz manchmal aus Gesetzen machen. ({0}) Den Lärm von Fröschen müssen Anwohner dulden, aber Kinderlärm wurde verboten. Mit der nun von der Bundesregierung geplanten Änderung der Lärmgesetzgebung dürfen nicht nur Frösche quaken, sondern auch Kinder laut spielen. Gegen Spielplätze und Kindertagesstätten sind Lärmklagen zukünftig unzulässig. Das finden wir gut. ({1}) Aber leider gibt es ein Problem; denn nur bis zum 14. Geburtstag dürfen Kinder lärmen, weil nach dem Gesetz da die Kindheit endet. Pech für die Jugendlichen, Pech auch für Freizeitsportler: Sie müssen leise sein, die Frösche dürfen quaken. Dass Sportfeste zwischen 13 und 15 Uhr untersagt werden, dass Jugend- und Freizeitsport in enge Zeitfenster gezwungen wird, das lehnen wir ab. ({2}) Deshalb beantragt die Linke, dass für den Jugend- und Freizeitsport die erlaubten Lärmgrenzwerte um 5 Dezibel angehoben werden. Diesen Antrag haben Sie von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen jedoch im Ausschuss abgelehnt - mit der Begründung, Jugendliche und Sportler seien nicht wie Kinder, die für ihr Verhalten nichts können. Sie fördern Sportler, die nicht hörbar sind. ({3}) Prinzipiell unterstützt die Linke den Schutz vor Lärm. Aber erklären Sie mir und allen Bürgern: Weshalb lassen Sie per Gesetz einen Straßenlärm von 59 Dezibel in Wohngebieten zu, und warum darf ein Militärflugzeug nach Gesetz mit mehr als 90 Dezibel über ein Haus hinwegdonnern, wenn Sie gleichzeitig Sportgeräusche von nur 54 Dezibel verbieten? Nach Ihrem Gesetz ist Folgendes zu erwarten: Auf einem Bolzplatz spielen Kinder im Alter von 13 Jahren; gegen diese Geräusche kann man nicht klagen. Wenn aber ein 15-Jähriger mitspielt, könnte man dagegen klagen. Spielt das 8-jährige Mädchen mit ihrer Freundin Basketball, dann ist das Scheppern erlaubt. Spielt Papa mit, ist das Scheppern untersagt. Was für ein Schwachsinn! ({4}) Wie sollen die Kommunen da mit Beschwerden von Anwohnern umgehen? Sollen sie Schilder aufhängen mit der Aufschrift „Spielen an Wochenenden für Kinder erlaubt! Für Jugendliche, Eltern und Großeltern verboten!“? Ehrlich: Was soll das? Die von uns geforderte Änderung der 18. Bundesimmissionsschutzverordnung mit um 5 Dezibel höheren Grenzwerten hilft Jugendlichen, Sportlern, Vereinen und Kommunen, auf rechtssicherer Basis ihre Arbeit und Freizeit zu organisieren. So könnten Opa, Paul und Lisa auch sonntags gemeinsam Fußball spielen, und die 15-Jährigen werfen den Basketball aus Freude statt Flaschen aus Frust. ({5}) Um Ihnen die Angst zu nehmen: Auch mit der Änderung darf der Sportler noch immer nicht so viel Lärm verursachen wie der Autofahrer. Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie hier im Plenum neben dem Gesetzentwurf auch unserem Antrag zu! Zeigen Sie endlich Herz nicht nur für Kinder und Frösche, sondern auch für Jugendliche und Sportler! Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner von den Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute gemeinsam ein wichtiges Etappenziel erreichen und den Kinderlärm endlich privilegieren. ({0}) Das ist nicht nur ein wichtiges Signal für mehr Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft, sondern auch ein Meilenstein für die Kinderrechte in unserem Land. ({1}) Fakt ist aber auch - das kann ich Ihnen nicht ersparen -: Die Bundesregierung hat fast zwei Jahre gebraucht, um zwei kleine Sätze, konkret: 31 kleine Wörter, ins Bundes-Immissionsschutzgesetz aufzunehmen. ({2}) Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Zwei Jahre sind auch deswegen unbegreiflich, ({3}) weil es seit vielen Jahren ein gemeinsames Anliegen aller im Bundestag vertretenen Fraktionen ist, Klagen gegen Kinderlärm entgegenzuwirken. Der erste Beschluss dazu - nicht etwa die erste parlamentarische Initiative erfolgte im Deutschen Bundestag schon im Juli 2009. So lange ist es schon her. Ich bin mir sicher: Wenn wir von der Opposition mit Anträgen und mit der Anhörung im Umweltausschuss nicht so viel Druck gemacht hätten, würden wir heute keine Änderungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz beschließen. ({4}) Statt sich mit Gesetzentwürfen zu beschäftigen, musste die Union offensichtlich Parteifreunde wie den Vorsitzenden der Senioren-Union in Nordrhein-Westfalen wieder einfangen, für den Kinderlärm gerade keine Zukunftsmusik ist. Stattdessen sah Herr Kuckart gleich einen Generationenkonflikt ausbrechen, wenn die Ansiedlung von Kitas in Wohngebieten erleichtert würde und die lieben Kleinen dann die Senioren stören. Mit derartigen Äußerungen - das muss man einfach sagen war er in der Union nicht alleine. Ich bin froh - auch das möchte ich hier sagen -, dass sich diese Haltung in der Union nicht durchgesetzt hat. Gerade mit Blick auf den Ausbau der Kindertagesstätten - auch Frau Bracht-Bendt hat diesen Punkt angesprochen -, der dringend notwendig ist, um bis 2013 den Rechtsanspruch auf einen Platz erfüllen zu können, wurde in den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit verplempert. Die Berichte darüber, dass die Errichtung von Kindertagesstätten verhindert oder zumindest massiv behindert wurde, liegen uns allen vor. Nun würde ich gerne sagen: Was lange währt, ist endlich gut. Richtig ist: Die Einrichtungen für Kinder werden endlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz privilegiert. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen. Denn ein wichtiges Etappenziel - ich habe es schon gesagt wurde damit erreicht. Aber die notwendige Klarstellung in der Baunutzungsverordnung, die auch schon vor zwei Jahren im Parlament beschlossen worden ist, steht immer noch aus. Auch dafür gibt es eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund. ({5}) Die Koalition hat zudem eine große Chance verpasst. Sie hat die Gelegenheit nicht genutzt, eine Klarstellung auch für Bolzplätze, Skateranlagen und ähnliche Flächen vorzunehmen. Die Anhörung im Umweltausschuss hat deutlich gemacht, dass es nicht nur um Kinderlärm gehen darf, sondern dass auch immer wieder Konflikte aufgrund von Jugendlärm aufbrechen. Auch hierfür müssen wir dringend eine Regelung finden. ({6}) Um es klar zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass man den Lärm, den Jugendliche machen, pauschal ebenso wie die Geräusche, die von kleinen Kindern bzw. Kindertagesstätten ausgehen, privilegieren sollte. Es gibt aber auch keinerlei Grund, die Jugendlichen komplett zu vergessen, wie die Regierung und die Regierungsfraktionen das hier tun. ({7}) Ich hatte die Hoffnung, dass zumindest die Union ein bisschen weiter ist. Ich habe das Protokoll vom letzten März gelesen und darf zitieren, was Herr Paul in seiner Rede ausgeführt hat: Natürlich muss … den besonderen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung getragen werden, dass für den von ihnen erzeugten Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird. Wir haben im Umweltausschuss und anderen beteiligten Ausschüssen einen Vorschlag gemacht, wie man konkret auf Bolzplätze und Skaterbahnen bezogen Ver12672 besserungen für die Jugendlichen und auch mehr Rechtssicherheit für die Kommunen erreichen kann. Der Antrag ist, aus meiner Sicht völlig unbegründet, abgelehnt worden. Wo bleibt der von der CDU/CSU eingeforderte höhere Toleranzmaßstab für die Jugendlichen? Ich möchte es mit den Worten der FDP ausdrücken: Da müsste bald „geliefert“ werden. ({8}) Für Jugendliche gibt es wohnortnah, gerade innerstädtisch, viel zu wenig Aufenthaltsorte und zu wenig Flächen wie Bolzplätze für die Freizeitgestaltung oder auch den Freizeitsport. Hieran müssen wir dringend arbeiten; denn es ist wichtig, dass Jugendliche nicht an die Stadtränder verdrängt werden. Kinder und Jugendliche gehören in die Mitte der Städte und Gemeinden. Wir brauchen dringend gerade für Jugendliche mehr Möglichkeiten der Beteiligung in den Planungsprozessen; denn die Beteiligung von Jugendlichen wie auch der Anwohner im Bereich der Planung, also konkret: in den Planungsprozessen, ist letztlich der beste Lärmschutz und die beste Grundlage, Prozesse wegen Lärmbelästigung wirklich vermeiden zu können. Die heutige Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist ein wichtiger Anfang. Die Baustelle Kinderund Jugendlärm ist damit aber nicht erledigt, weder was das Umdenken in unseren Köpfen noch was die kommenden Gesetzgebungsverfahren angeht. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Paul von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Medienecho haben die Richter in Hamburg sicherlich nicht gerechnet, als sie vor sechs Jahren, also im Jahre 2005, der Klage eines Nachbarn recht gegeben haben, der gegen den Lärm aus dem Kindergarten „Marienkäfer“ geklagt hat. Es gab bundesweit und über alle Parteigrenzen hinweg einen Sturm der Entrüstung. Auch heute haben wir gesehen, dass wir uns einig sind: Kinder sind nicht nur leise, Kinder machen auch Lärm, und Kinderlärm gehört zu unserer Gesellschaft, er gehört zu unserem Alltag. Gerade wenn wir eine kinderfreundliche Gesellschaft sein wollen, müssen wir Kinderlärm hinnehmen; denn schließlich garantieren Kinder den Fortbestand unserer Gesellschaft. ({0}) Deshalb müssen der Lärm bzw. die Geräusche, die von Kindern verursacht werden, anders behandelt werden als die Geräusche von Maschinen oder Autos. Zur Vollständigkeit gehört aber auch, festzuhalten, dass Gerichtsentscheidungen gegen Kinder - wenn man die Rechtsprechung in Deutschland betrachtet - die Ausnahme bilden. Selbst in einer Stadt wie Köln, aus der ich komme, wo es auf engem Raum viele Einrichtungen gibt, hat es bisher keine einzige Gerichtsentscheidung gegeben, die gegen Kinder ausgefallen ist. Auch in anderen Bundesländern können wir eine solche Entwicklung nicht beobachten. Trotzdem haben wir als Koalition von CDU/CSU und FDP Handlungsbedarf gesehen; denn unsere Gesellschaft wird zunehmend älter. Der Lärm von spielenden Kindern gehört leider nicht mehr so zum Alltag, wie es vielleicht vor einigen Jahren der Fall war. Dementsprechend sinkt die Bereitschaft, Kinderlärm zu tolerieren. Deshalb werden Konflikte - Kinder auf der einen Seite, Ruhesuchende auf der anderen Seite - in Zukunft tendenziell zunehmen, wenn wir unser Ziel verwirklichen, dass Kinder in der Nähe ihrer Wohnung spielen dürfen bzw. einen Kindergarten besuchen. Schließlich wollen wir Familie und Beruf miteinander vereinbar machen. Deshalb haben wir ein sehr umfangreiches und ehrgeiziges Programm zum Ausbau der Kinderbetreuung auf den Weg gebracht: Bis zum Jahre 2013 werden allein für die unter Dreijährigen 750 000 Plätze eingerichtet sein. Weil wir eine wohnortnahe Betreuung auch in Wohngebieten wollen, wird sich die Zahl der Konflikte tendenziell erhöhen. Deshalb handelt die Koalition. Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir die Rechtslage ändern werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung werden wir im Lärmschutzrecht, im Bundes-Immissionsschutzgesetz, ein Toleranzgebot festschreiben, mit dem klargestellt wird, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung ist. ({1}) Meine Damen und Herren, zur Lebenswirklichkeit gehört allerdings auch, dass man den Kindern nicht in jedem Fall den Vorrang geben kann. Denn es ist völlig klar: In Einzelfällen kann der gewählte Standort für eine Kindertagesstätte schlicht und ergreifend falsch sein, zum Beispiel in der Nähe eines Krankenhauses. Deshalb haben wir uns dagegen entschieden, rigoros alle Klagemöglichkeiten abzuschneiden, wie es zum Teil hier vorgetragen und vorgeschlagen wurde. Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat, in dem auch der Rechtsschutz ein hohes Gut ist. Es gehört aber auch zur Lebenswirklichkeit, dass es sich hier - anders, als es die Diskussion der letzten Monate vielleicht vermuten lässt - gar nicht um einen Konflikt „Alt gegen Jung“ handelt. Ich habe beim Besuch einer Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis erlebt, dass die Kinder und die Senioren des benachbarten Seniorenheims seit vielen Jahren friedlich miteinander auskommen. Es hat dort sogar gegenseitige Besuche gegeben. Das sind Projekte, die wir brauchen. Es geht hier nicht um „Alt gegen Jung“, sondern darum, einen fairen Interessenausgleich zu schaffen. ({2}) Meine Damen und Herren, es wurde die Frage gestellt, warum wir nicht früher gehandelt haben. Ich darf diese Frage gerne an die Kolleginnen und Kollegen der SPD zurückgeben. Wer war denn der für den Umweltschutz und damit auch für den Lärmschutz verantwortliche Minister, als die Entscheidung zum Kindergarten „Marienkäfer“ im Jahr 2005 fiel? Das war Sigmar Gabriel. ({3}) Er hatte vier lange Jahre Zeit, um einzuschreiten. Ich sage es Ihnen: Es wäre seine Pflicht, seine Aufgabe gewesen, hier einzuschreiten, und er hat es nicht getan. Bitte sagen Sie mir nicht, die Union hätte ihn in der Großen Koalition daran gehindert, hier tätig zu werden. Nein, hier hat der Umweltminister seine Hausaufgaben schlicht und ergreifend nicht gemacht. ({4}) Wir werden unser Ziel, dass Kinder sowohl zu Hause und in der Nähe der Wohnung als auch in einer Kindertagesstätte, die in der Nähe gelegen ist, spielen dürfen, mit der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, mit der Einführung des Toleranzgebotes, festschreiben. Wir werden auch regeln, dass Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten grundsätzlich zulässig sein werden. Wir kehren damit den Grundsatz um: Bisher ist es im Bauplanungsrecht so, dass Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten grundsätzlich nicht zugelassen sind. Wir werden das mit der Bauplanungsrechtsnovelle, die noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ändern, um damit den Bau von Kindertagesstätten auch in reinen Wohngebieten zu ermöglichen. Wir wollen diese Regelung auf bestehende Bebauungspläne, in denen reine Wohngebiete festgelegt sind, ausdehnen. Die nächste Frage ist: Müssen wir das Nachbarschaftsrecht ändern, müssen wir an das Bürgerliche Gesetzbuch heran? Dazu ist zu sagen: Es gibt den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Wenn der Gesetzgeber das Toleranzgebot an einer Stelle - nämlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz - prominent regelt, dann strahlt das auch auf die anderen Rechtsgebiete aus. Wir müssen an dieser Stelle aufmerksam verfolgen, was passiert. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zivilgerichte dem Anliegen der Kinder Rechnung tragen werden. Wir sind nicht blind und wissen, dass die Probleme nicht mit dem Alter von 14 Jahren aufhören: Natürlich müssen wir etwas für Jugendliche und Heranwachsende tun. Die Koalitionsfraktionen haben gestern einen Antrag in den Sport- und in den Verkehrsausschuss eingebracht: Wir werden prüfen, ob wir die 18. BImSchV, also die Sportanlagenlärmschutzverordnung, ändern müssen, um Bolzplätze besser zu berücksichtigen. Ergebnis der Sachverständigenanhörung war aber auch, dass es einen Unterschied macht, ob es sich um Lärm von Kindern oder Lärm von Jugendlichen handelt. Er findet zum Beispiel zu anderen Zeiten statt; auch das wurde hier schon gesagt. Außerdem kann ich einem über 14-Jährigen sicherlich zumuten, eine gewisse Strecke zurückzulegen, um einen Bolzplatz zu erreichen. Das ist bei einem Kleinkind anders. Diese Tatsachen muss man berücksichtigen. Ich möchte noch kurz auf die Stellungnahme des Bundesrates und die Anträge der anderen Fraktionen, die uns vorliegen, eingehen. Der Bundesrat sagt aus meiner Sicht zu Recht, dass man auch die Kindertagespflege berücksichtigen muss. Das sehen wir auch so. Allerdings muss man berücksichtigen, dass infolge der Föderalismusreform der Bund diesen verhaltensbedingten Lärm, wenn er in der eigenen Wohnung der Tagesmutter stattfindet, nicht regeln kann. Wir müssen schauen, ob die Dinge über die Ausstrahlungswirkung zum Besseren gewendet werden können. Zum SPD-Antrag. Er hat sich zum Teil erledigt. Die schädlichen Umwelteinwirkungen haben wir ausdrücklich ausgenommen. Ein weiterer Teil erledigt sich durch die Bauplanungsrechtsnovelle. Er ist unnötig, soweit es um die BGB-Änderungen geht. Die vorgeschlagene Regelung der städtebaulichen Planung ist zwar wünschenswert, aber das ist eine ureigene Aufgabe der Kommunen. Zu dem Antrag der Linken nur eine Bemerkung: Sie fordern, dass auf Sportanlagen grundsätzlich 5 Dezibel mehr Lärm gemacht werden darf. Das hört sich erst einmal nach wenig an. Wenn Sie aber genau hinschauen, stellen Sie fest, dass die Erhöhung von 50 auf 55 Dezibel - Sie wollen ja, dass diese höheren Werte nicht nur tagsüber, sondern auch nachts und am Wochenende, also in Ruhezeiten, gelten - im Ohr desjenigen, der neben einer solchen Anlage wohnt, wie eine Verdoppelung des Lärms wirkt. Dieser Vorschlag löst keine Konflikte, nein, er würde massive neue Konflikte in dieser Gesellschaft verursachen. Das wollen wir nicht. ({5}) Zu guter Letzt zum Vorschlag der Grünen: Auf ihn trifft vieles zu, was ich zu dem Antrag der SPD gesagt habe. Teilweise ist er erledigt, teilweise wird er noch erledigt, oder es ist nicht Aufgabe des Bundes, das zu regeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Wir wollen unseren Kindern eine unbeschwerte Entwicklung ermöglichen. Dazu gehört, dass sie zu Hause und in einer Kindertagesstätte in der Nähe der Wohnung spielen können. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der Gesetzentwurf der Bundesregierung leisten dazu einen wichtigen Beitrag, gerade in einer älter werdenden Gesellschaft. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Protokolle der Kinderkommission einmal herausgesucht. Ich bin bis 2006 zurückgegangen, um zu schauen, wann wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu beschäftigen. Mir war dabei egal, wer den Vorsitz innehatte und wer Mitglied war. Im Jahr 2006 beschäftigte sich die Kinderkommission mit diesem Thema. Im Jahr 2007 beschäftigte sie sich mehrmals damit wie auch in den Jahren 2008 und 2009. Wir haben eine große Anhörung dazu durchgeführt und auch das Ministerium immer wieder eingeladen. Gerade ist gefragt worden: Warum habt ihr nichts gemacht? Meine Kolleginnen aus der Kinderkommission werden bestätigen, dass uns vom Ministerium immer gesagt wurde: Eigentlich steht alles schon im Gesetz. Es gab auch entsprechende Urteile. Das Gericht in Bayreuth zum Beispiel hat eindeutig gesagt, dass Kinderlärm Lebensäußerung ist und nicht unter die TA Lärm fällt. Manchmal haben wir in der Kinderkommission uns gefragt - Frau Golze und die anderen Kolleginnen werden das bestätigen -: Wenn es so eindeutig ist, warum funktioniert es dann nicht? Ich würde das darauf zurückführen, dass wir in der Bundesrepublik einen relativ hohen Anteil an funktionalem Analphabetismus haben, ({0}) das heißt, viele können das Gesetz einfach nicht lesen. Sie formulieren das Gesetz jetzt so, dass auch diejenigen, die nicht so gut lesen und schreiben können, das Gesetz verstehen können. ({1}) Ich bin immer dafür, dass Gesetze so formuliert werden, dass jeder sie versteht und keine Möglichkeit der Interpretation besteht, damit sie nicht so oder so ausgelegt werden können. Wir hatten gedacht, Juristen seien gut ausgebildet und könnten lesen. Dem war leider nicht so. Jetzt ist es endlich so weit, und das begrüße ich. Als ich von der Presse danach gefragt wurde, habe ich gesagt: Wunderbar, jetzt wird es klar, und zwar in jedem Bundesland und vor jedem Gericht. ({2}) Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir nun auch an die Umsetzung denken. Die UN-Kinderrechtskonvention regelt in Art. 31 das Recht des Kindes auf Freizeit. Festgeschrieben ist das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung. Diese Konvention haben wir unterzeichnet und ratifiziert; damit gilt sie auch für uns. Der Begriff des Kindes umfasst nach der UN-Kinderrechtskonvention das Alter von 0 bis 18 Jahren. Der Zeitraum bis zum 18. Lebensjahr muss also geregelt werden. In Deutschland unterscheiden wir: Der Begriff des Kindes gilt bis zum 14. Lebensjahr und der des Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Nach der Konvention müssen wir aber für die gesamte Gruppe Vorkehrungen treffen. Ich kann gut damit leben, dass Sie noch etwas Zeit benötigen, um diese Regelungen umzusetzen. Ich hoffe, Sie schaffen das. ({3}) - Doch, Sie schaffen das. Ich bin ja Pädagogin von Beruf, von daher habe ich die Hoffnung nie aufgegeben. Wir werden doch noch etwas zustande bringen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass das klappt. Wichtig ist folgender Punkt: Wir haben bereits ein Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin steht, dass wir Jugendhilfeplanung machen müssen. Einer der Punkte der Jugendhilfeplanung - das ist eine kommunale Aufgabe lautet, die Lebenswelt so zu gestalten, dass alle dort lebenden Menschen ihrem Ruhebedürfnis und ihrem Aktivitätsbedürfnis nachkommen können. Leider wird weder die Planung noch die Umsetzung so vorgenommen, wie wir es uns wünschen. Das gilt auch noch 20 Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist. Es gibt immer noch viele Gemeinden, die nach wie vor nicht so planen, dass alle Menschen gemäß ihren Bedürfnissen leben können. Ich will es einmal deutlich machen. Ich bin Kinderbeauftragte, und ich kämpfe für Kinder. Wenn aber jemand, der in einer Wohnung wohnt, die genau zur Garagengasse hin liegt, von der Nachtschicht kommt und schlafen möchte und dann ständig ein Fußball gegen die Blechtore geschossen wird, dann ist derjenige nicht mehr davon überzeugt, dass es sich bei dem Lärm um Zukunftsmusik handelt, sondern er ist furchtbar genervt, weil er nicht schlafen kann. Man muss daher die Stadt- und Siedlungsplanung so vornehmen, dass sich Kinder austoben und Menschen ihrem Ruhebedürfnis nachgehen können. Das gilt sowohl für Ältere als auch für Jüngere. Auch Kinder haben manchmal ein Ruhebedürfnis, sie wollen schlafen und ihre Ruhe haben. Ich glaube, dass wir zu wenig darauf achten, wie unsere Lebenswelt gestaltet wird. Hierzu brauchen wir aber nicht schon wieder ein neues Gesetz. Wichtig ist, dass die Gesetze, die bereits seit 20 Jahren in Kraft sind, endlich umgesetzt werden. Katja Dörner hat vorhin gesagt - und das finde ich wunderbar -: Diejenigen, die es betrifft, müssen beteiligt werden. Kinder sind nämlich nicht per se rücksichtlos, und ältere Menschen sind nicht per se kinderfeindlich. ({4}) Wir sind vielmehr kinderentwöhnt. Wir brauchen aber das Zusammenwirken beider Gruppen. Künftige Stadtplanung und Siedlungsplanung müssen so aussehen, dass die Interessen aller Gruppen gleichermaßen aufgenommen werden. Bisher - das sage ich als jemand, der lange hierfür zuständig war - sah Siedlungsplanung so aus: Wie komme ich schnell aus meinem Viertel hin zur Arbeit? Das ist pendler- und nicht familienorientiert gedacht. Wir brauMarlene Rupprecht ({5}) chen Fußläufigkeit, Freiräume, Räume der Begegnung, Räume für kleinere Kinder. Ein kleineres Kind geht nicht auf den Bolzplatz; denn dort wird es vom Ball umgeschossen. Daher wird ein kleines Kind einen anderen Spielbereich brauchen als ein großes. Wenn wir nicht von vornherein einplanen, hierfür Grundstücke freizuhalten, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn es zu Gerichtsverfahren und entsprechenden Urteilen kommt. Diese vermeiden wir jetzt zwar, ich glaube aber, viel besser wäre es, direkt bei der Planung die Belange aller zu berücksichtigen. Das heißt, in den kommunalen Gremien müssen Männer und Frauen sitzen, die Familien haben, weil die an solche Belange denken. Sie müssen diejenigen, die es betrifft, die dort leben und wohnen, mit einbeziehen. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine gut funktionierende Gesellschaft. Das sehe ich aber leider noch nicht. Der Bundestag macht oft hervorragende Gesetze. Manchmal frage ich aber: Warum haben wir diese Gesetze nur gemacht? Draußen interessiert sich doch keiner für diese Gesetze. Gelegentlich erklären mir Beamte vor Ort: Frau Rupprecht, was Sie in Berlin entscheiden, das interessiert mich gar nicht. - Ich kann Ihnen sagen, wer das war. Es war ein Beamter, der eigentlich in die Wüste geschickt gehört. Wir müssen darauf drängen, dass unsere Gesetze wie Kinder behandelt werden. Die meisten sind keine Nestflüchter, sondern Nesthocker. Wir müssen auf sie aufpassen, bis sie allein wirken können. Wir müssen auf die Wirkung auch dieses Gesetzes achten. Das heißt, wir müssen überprüfen, ob es Anwendung findet. Dazu brauchen wir eine Schulung derer, die das Gesetz umsetzen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck: Es gibt viele Bildungs- und Fortbildungswillige, aber in diesem Bereich besteht immer noch Nachholbedarf. Vielleicht schaffen wir es, dass das, was in diesem Gesetzentwurf steht, wirklich umgesetzt wird. In diesem Sinne bin ich dankbar, dass er vorgelegt wurde und dass die Situation jetzt klar ist. Ich hoffe, dass Sie die Vorschläge der Oppositionsfraktionen mit aufnehmen und dass diese zu vernünftigen gemeinsamen Anträgen entwickelt werden. Das ist mein Anliegen an dieser Stelle. Die Kraft, die wir für Auseinandersetzungen aufbringen, brauchen wir dringender für die Lösung der Konflikte und Probleme, die anstehen. In diesem Sinne: Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Judith Skudelny von der FDP-Fraktion. ({0})

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal ist es richtig schön, wenn man Arbeit leistet und diese am Ende auch gewürdigt wird. So hat Frau Vogt vorhin erwähnt, dass das, was im Gesetzentwurf zu den Bolzplätzen geschrieben wurde, richtig gut ist. Frau Vogt, vielen Dank, das habe ich dort hineingeschrieben. ({0}) Die Frage ist: Ist dieser Konflikt neu, oder schwillt ein bereits bestehender Konflikt gerade an? Wir müssen nach den Ursachen suchen. Wir haben auf der einen Seite den demografischen Wandel. Mehr ältere Menschen sind in Rente und somit zu Hause; die Rentenzeit verlängert sich, da wir alle älter werden. Wir haben auf der anderen Seite einen Wandel in den Familien. Frauen bzw. beide Elternteile sind oft berufstätig. Daher müssen die Kinderbetreuungszeiten ausgebaut werden. Der Regelkindergarten, den es vor 15, 20 Jahren gab, war von 9 bis 12 Uhr und von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Die Betreuung in den Regelkindergärten heute fängt in den allermeisten Städten schon morgens um 7 Uhr an, geht bis abends um 17, 18 Uhr und macht keine Mittagspause. Das heißt, die Konfliktfelder nehmen zu. Zudem haben wir ein anderes Umweltbewusstsein bezüglich des Flächenverbrauchs. Wir wollen unsere Städte nicht mehr nach außen wachsen lassen, sondern machen eine Verdichtung nach innen. Das heißt, Wohngebiete rücken immer näher an Sportanlagen, an Kinderspielplätze und an Kindertageseinrichtungen. Die Spannungsfelder werden schlicht und ergreifend mehr. Genau dieses Mehr an Spannungsfeldern haben wir in den letzten Jahren an der Zahl der Klagen bemerkt. Das kommt nicht von irgendwo. Ich glaube auch nicht, dass wir prinzipiell kinderfeindlicher geworden sind. Ich glaube einfach, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist. Weil wir sehen, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist und dass der gesellschaftliche Wandel nicht aufhört, sondern weitergeht, sagen wir in der Koalition: Kinder sind in der Gesellschaft erwünscht. Wir sehen die Probleme. Wir positionieren uns hier eindeutig, und wir möchten ein Zeichen für Kinder und für Eltern setzen. ({1}) Es gibt einen Unterschied zwischen Kinder- und Jugendlärm. Diesen kann ich, glaube ich, an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Ich fahre viel mit meinen beiden Kindern Zug - beide sind unter fünf Jahre alt -, zum Beispiel von Berlin nach Stuttgart. Als ich einmal nach fünfeinhalb Stunden Zugfahrt mit meinen beiden kleinen Kindern in Stuttgart zur Hauptbetriebszeit während einer Stuttgart-21-Demo ausgestiegen bin, kam mir der Lärm am Bahnhof vergleichsweise leise vor. Das lag wohl daran, dass meine Tochter, wenn ich ihr zum Beispiel sage, dass sie die gewünschte Schokolade nicht bekommt, nicht anfängt, mit mir zu diskutieren, sondern mich anbrüllt. Mein Sohn hat einmal versucht, den Passagieren in einem vorbeifahrenden Zug etwas zuzurufen. Natürlich versuche ich, in so einer Situation zu intervenieren, aber ganz im Ernst: Die Kinder kommen schneller auf die Schnapsideen, als ich intervenieren kann. Genau das ist der Unterschied zwischen Kinder12676 und Jugendlärm. Mit Jugendlichen kann ich diskutieren. Kinder kennen die Regeln nicht und können viele Regeln nicht einhalten. ({2}) Durch die Erziehung wollen wir die Kinder so weit bringen, dass sie die Regeln zumindest kennen. Jugendliche wiederum suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Ich glaube, dass jeder Jugendliche weiß, was man darf und was man nicht darf, aber ob er sich, ähnlich wie Erwachsene, daran hält, ist eine komplett andere Sache. ({3}) Sie müssen sich von den Erwachsenen ein Stück weit abgrenzen. Insofern ist es richtig, wenn sie sich zum Teil anders verhalten. Die Gleichsetzung von Kinder- und Jugendlärm halte ich für falsch. Wir müssen überlegen, wie wir mit dem Jugendlärm umgehen. Jugendliche brauchen einen angemessenen Platz in der Gesellschaft; dieser kann nicht am Rand sein. Über Bolzplätze, Skate- und Basketballanlagen haben wir schon gesprochen; aber auch Jugendhäuser können nicht am Rande der Gemeinden stehen. Auf diese Idee kommen leider viele Städte und Gemeinden. Meine eigene Kommune hat ein Jugendhaus gebaut, das außerhalb eines Gewerbegebiets lag. Man kann sich vorstellen, wie viele Jugendliche dort hingegangen sind. Am Ende musste es „eingestampft“ werden. Wir müssen überlegen: Wie sorgen wir für ein angemessenes Verhältnis? Da es immer wieder heißt: „Das ist kein Problem“, möchte ich an dieser Stelle intervenieren. Doch, das ist ein Problem. Der Umstand, dass es Ganztagsschulen gibt, führt dazu, dass sich die Freiräume der Jugendlichen in die Abendstunden verlagern. Dann, wenn die Erwachsenen nach ihrem Arbeitstag nach Hause kommen und die Füße hochlegen wollen, fangen die Jugendlichen an, ihre Freizeit zu gestalten. Ich sage nicht, dass dieses Problem nur zulasten der Jugendlichen gelöst werden kann. Ich sage nur, dass es sich um ein Spannungsverhältnis handelt. Hier müssen wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Diese Lösungen dürfen keine generelle Privilegierung sein. Sie müssen von Fall zu Fall - je nachdem, ob es um eine Sportanlage, ein Jugendhaus, eine Abendveranstaltung oder eine Musikveranstaltung geht - unterschiedlich ausgestaltet werden. Es ist unsere Aufgabe, diese unterschiedlichen Regelungen unter einen Hut zu bringen. Das wird nicht leicht werden, übrigens auch deshalb, weil die Länder an dieser Stelle ein Mitspracherecht haben. Ich möchte die Opposition ganz herzlich einladen, sich hier einzubringen. Wenn die Länder ein Mitspracherecht haben, bedeutet dies, dass wir mit den Ländern eine einvernehmliche Regelung treffen müssen. Nach allem, was ich vonseiten der Länder gehört habe, wird das nicht einfach so zu machen sein. Auch dies wird Diskussionen erfordern. Ich freue mich, dass Sie aufseiten der Länder sicherlich gut mitarbeiten werden, damit wir zügig zu einer Lösung kommen. ({4}) Das wünsche ich uns und den Jugendlichen. ({5}) Frau Dörner, Sie haben die BauNVO angesprochen. Ich habe schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema deutlich gemacht, warum wir dieses Vorhaben 2012 in Angriff nehmen: weil jede Änderung in diesem Gesetz aufbewahrt werden muss. Wenn, wie Sie so schön gesagt haben, jedes Mal, wenn wir einzelne Sätze ändern, die komplette Auflage aufbewahrt werden muss, führt dies zu einem unglaublichen Bürokratieaufwand, und das für einen Bereich, der, ehrlich gesagt, nicht das größte Problem ist, wenn es um Kinderlärm geht. Wir werden dieses Thema im Rahmen der großen Novellierung 2012 mit behandeln. Das ist dafür der richtige Platz. Sie können darauf warten. Das wird auf jeden Fall geschehen. ({6}) Man sollte nicht denken, dass das Problem, das wir im Moment haben, mit Gesetzen zu lösen ist. Ganz im Ernst: Kein Elternteil fühlt sich wohl, wenn es weiß, dass die Nachbarn eines Jugendhauses, eines Kindergartens oder eines Kinderspielplatzes, auch wenn sie nicht mehr klagen können, die Einrichtung eigentlich nicht mehr wollen. Wir sind in einer funktionierenden Gesellschaft darauf angewiesen, Toleranz zu üben. Die wichtigste Grundlage ist ein respektvoller Umgang miteinander. „Respektvoll“ heißt, wir müssen erst einmal anerkennen, dass auch der andere Bedürfnisse hat. Wir müssen verstehen, dass Kinder auch kreischen. Wir müssen verstehen, dass zum Kinderlärm nicht nur das Juchzen von Kindern, sondern auch der An- und Abfahrtsverkehr der Eltern, die ihre Kinder zum Kindergarten bringen, gehört - wenig romantisch, aber genauso zwingend. Wir müssen verstehen, dass Kinder und Jugendliche nicht nur akzeptiert werden müssen, wenn sie klein und niedlich sind, sondern auch dann, wenn sie Punkmusik hören, rotgefärbte Haare haben und vielleicht sogar noch Ohrringe tragen und tätowiert sind. Wir müssen aber auch verstehen, dass manche Leute ein erhöhtes Ruhebedürfnis haben. Erst mit diesem Verständnis können wir ein Niveau der Toleranz erreichen, das es uns auch dann, wenn die Gesetze nicht mehr greifen, ermöglicht, gelassen mit einer Situation umzugehen ({7}) und etwas zu tun, was in letzter Zeit vielleicht etwas außer Mode gekommen ist, nämlich miteinander reden. Wenn wir das schaffen, meine Damen und Herren, dann befindet sich nicht nur die Koalition mit den Oppositionsparteien, sondern auch die ganze Gesellschaft auf einem guten Weg. Das würde ich uns allen für die Zukunft wünschen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon oft gesagt worden: Über Jahre hinweg galt es in Teilen der Öffentlichkeit als völlig normal, dass Geräusche spielender Kinder als Lärm im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes behandelt wurden. In Hamburg und anderen Städten bedeutete dies, dass Kindertagesstätten aufgrund von Anwohnerklagen geschlossen werden konnten. In Wohngebieten ist es keine Seltenheit, dass das Spielen auf den Grünflächen vor Häusern für Kinder verboten ist. Unsere Städte bieten Kindern immer weniger Platz und Möglichkeiten zum freien Spielen. Deshalb unterstützt meine Fraktion den Entwurf eines Gesetzes zur Veränderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Künftig wird also klargestellt sein, dass Geräusche von Kindern nicht mit Maschinenlärm gleichzusetzen sind. Das ist nur zu begrüßen. ({0}) Das kann aber eben nur ein erster Schritt sein. Für mich als kinder- und jugendpolitische Sprecherin steht fest: Auch das Fußballspiel oder das Inlineskaten von Jugendlichen sollte und dürfte nicht mit Maschinen- oder Fluglärm gleichgestellt werden. Dass die Privilegierung durch den vorliegenden Gesetzestext nur für Kinder bis 14 Jahre gelten soll, verstößt ein weiteres Mal - Frau Rupprecht hat es gesagt - gegen die UN-Kinderrechtskonvention, die ausdrücklich bei Menschen bis zu 18 Jahren von Kindern spricht. ({1}) Demzufolge dürfte eine solche Unterscheidung gar nicht gemacht werden; denn auch für 15-, 16- und 17-Jährige gilt das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung. ({2}) Dieses offenkundige Ausklammern der Bedürfnisse von jungen Menschen zwischen 14 und 18 Jahren passt aber zum Handlungsmuster der verschiedenen Ministerien - leider auch dem des Familienministeriums. Das Hauptaugenmerk liegt seit Jahren auf den kleinen Kindern, egal ob beim Kinderschutzgesetz, das wir hier ja bald behandeln werden, bei familienfördernden Leistungen wie dem Elterngeld, das auch an kleine Kinder geknüpft ist, oder beim dringend notwendigen Ausbau der Kindertagesbetreuung. Aber Jugendpolitik? Ich frage Sie: Was passiert denn hier noch? Jugendpolitik ist für Union und FDP nur noch ein Bereich für minimale Projektförderung, aber noch eher genau die Stelle, wo der Rotstift am stärksten angesetzt wird, und das darf nicht sein. ({3}) Auch die Kinder, für deren Recht auf Spiel Sie heute werben, werden in einigen Jahren als Jugendliche vollkommen zu Recht ihr Recht auf Sport und Spiel und einen Platz dafür einfordern; denn auch zu ihrer Entfaltung gehört, dass sie Orte und Plätze für sich haben. Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert darum zu Recht - ich zitiere -: Mit der Bereitstellung von pädagogischen Orten wie Spielplätzen oder Schulhöfen ist es allein nicht getan. Es geht um die ganzheitliche Entwicklung der Städte und Gemeinden, in denen sich Kinder und Jugendliche wohl fühlen und in denen generationenübergreifendes Leben stattfindet. Für mich bedeutet das, dass es dringend gesellschaftlicher und rechtlicher Veränderungen im Status von Kindern und Jugendlichen bedarf. Der Umweg über das Bundes-Immissionsschutzgesetz hat nicht zuletzt deshalb so lange gedauert, weil sich die derzeitige Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen weiterhin massiv dagegen wehren, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Durch das Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung und die Verpflichtung zur Schaffung von kindgerechten Lebensbedingungen im Grundgesetz wäre diese Debatte deutlich vereinfacht und verkürzt worden. ({4}) Ich fordere Sie deshalb auf, auch in diesem Punkt endlich einen Schritt nach vorne zu gehen und Mut zu beweisen. Frau Skudelny, Sie haben es ja angesprochen: Auch mir ist durchaus bewusst, dass die Länderkompetenzen beim Lärmschutz und bei der Umsetzung von Baunutzungsverordnungen berücksichtigt werden müssen. Umso erfreulicher ist es, einmal ein gutes Beispiel nennen zu können. In Berlin gilt seit dem Jahr 2010: Geräusche, die von Kindern verursacht werden, sind auch juristisch als sozial adäquat und damit zumutbar zu beurteilen. Berlin war damit das erste Bundesland, in dem eine solche Privilegierung auch gesetzlich verankert wurde. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in Berlin auch Kinderrechte in der Verfassung stehen. ({5}) Ich komme zum Schluss. Das OVG Münster sagt - ich zitiere noch einmal -: Wer Kinderlärm als lästig empfindet, hat selbst eine falsche Einstellung zu Kindern … Ich finde, dem ist nicht viel hinzuzufügen. Wir gehen einen ersten Schritt in die richtige Richtung - immerhin. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Josef Göppel von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Golze, die Opposition würde glaubwürdiger, wenn sie dort angreifen würde, wo wirkliche Schwachpunkte vorliegen. Nach dem ersten Urteil von vor sechs Jahren, aus dem Jahr 2005, hat die schwarz-gelbe Koalition die Sache jetzt geregelt. Ich fände es gut und auch angemessen, wenn Sie hier sagten: Das ist jetzt ein echter Fortschritt. ({0}) - Das habe ich am Schluss leider nicht mehr gehört. ({1}) - Gut, dann stimmen Sie doch sicher mit. ({2}) - Wunderbar. ({3}) Frau Rupprecht, Ihre Rede hat mir gefallen, weil sie auf Gemeinsamkeit angelegt war. Übrigens habe ich mich gefragt, Frau Rupprecht, was mich dazu befähigt, hier zum Thema Kinderlärm zu reden. Dann ist mir eingefallen, dass ich vier Töchter und eine Enkeltochter habe und in froher Erwartung weiterer Enkelkinder bin. ({4}) - Genau. - Es ist wichtig, diese Dinge aus der Praxis heraus zu beurteilen. Es hat zwar lange genug gedauert, aber inzwischen haben Minister Röttgen und das Ministerium für Umwelt gehandelt und das Bundes-Immissionsschutzgesetz jetzt so deutlich gefasst, dass kein Richter in Deutschland es mehr falsch lesen und auslegen kann. Das ist der entscheidende Punkt. ({5}) Deswegen denke ich, dass wir für die Kinder einen echten Fortschritt bewirken. Die Beschränkung auf unter 14-Jährige ist eine juristische Grenze, und Grenzen bergen immer Probleme. Man muss aber auch darauf hinweisen, dass zum Beispiel ein 17-jähriger Jugendlicher, der mit einem Moped mit aufgebohrtem Auspuff herumfährt, von diesen neuen Vorschriften nicht Gebrauch machen kann, was sicherlich auch in Ihrem Interesse ist. Deswegen ist eine bestimmte Differenzierung sehr wohl sachgerecht und richtig. Ich denke, dass dieses Gesetz insgesamt für die Kinder und Familien in Deutschland einen echten Fortschritt bringen wird. Ich möchte noch einmal auf meine vier Töchter zu sprechen kommen und im Hinblick auf Ihre nachdenkenswerte Rede, Frau Kollegin Rupprecht sagen: Der Mobilitätsdruck, der mit unserem Wirtschaftssystem verbunden ist, erschwert den tüchtigen jungen Leute in vielen Fällen die Familiengründung und das Kinderkriegen. Damit sind Fragen verbunden, die weit über die Tolerierung von Lärm und die Planung von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen hinausgehen. Es ist eine bleibende Aufgabe, die Gesellschaft und Arbeitswelt so zu gestalten, dass Kinderwunsch und Familiengründung weiter möglich sind. Diese Aufgabe sehe ich als weit wichtiger an als die bestehende gesetzliche Regelung. Wir sind aber auf einem guten Weg. Ich bedanke mich schon jetzt für die Zustimmung der Opposition zu diesem Gesetzentwurf. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bun- desregierung sowie den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwürfe eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Pri- vilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kin- derspielplätzen ausgehenden Kinderlärms. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5957, die ge- nannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf Drucksache 17/5709 sowie der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 17/4836 zusammenzu- führen und unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange- nommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- nommen. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/5957 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der SPD auf Drucksache 17/881 mit dem Titel „Kin- derlärm - Kein Grund zur Klage“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen ge- gen die Stimmen der SPD und der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms sache 17/1742 mit dem Titel „Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- che 17/2925 mit dem Titel „Vorrang für Kinder - Auch beim Lärmschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tionsfraktionen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze ({0}) - Drucksache 17/3546 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - Drucksache 17/5298 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß ({2}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rente ab 67 vollständig zurücknehmen - Drucksachen 17/2935, 17/5298 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß ({4}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({5}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen - Arbeitsbedingungen verbessern Rentenzugang flexibilisieren - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen - Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß ({6}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffnet die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Karl Schiewerling von der CDU/CSU-Fraktion. ({7})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die umlagefinanzierte Rente in Deutschland ist für Millionen Menschen eine zuverlässige Alterssicherung. Die umlagefinanzierte Rente wurde von vielen Seiten angegriffen. Sie wurde totgeredet und als überflüssig angesehen. Man glaubte, sie durch andere Modelle ersetzen zu können. Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir - das hat hoffentlich auch der Letzte begriffen -, dass die umlagefinanzierte Rente ein Stabilitätsfaktor in Deutschland ist und Millionen Menschen ein geregeltes Einkommen zum richtigen Zeitpunkt gewährt. ({0}) Das System der umlagefinanzierten Rente wird nur funktionieren, wenn wir keinen der Partner, die daran beteiligt sind, überfordern: die junge Generation nicht, die in Zukunft auf die gesetzliche Rente angewiesen ist und in die Rentenkasse einzahlt, die jetzige Generation nicht, die die Rente erwirtschaften muss, und die Generation der Rentnerinnen und Rentner nicht, die heute auf die Rente angewiesen sind. Es ist deswegen notwendig, die Rente stabil zu halten. Innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es aber relativ wenige Stellschrauben, die wir nutzen können, um dies zu gewährleisten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen - und zwar freudig -, dass sich seit 1960 die Rentenlaufzeit von 9,9 Jahren auf nun 19 Jahre verlängert hat. Das heißt, Menschen, die damals in Rente gingen, hatten gerade neun Jahre bzw. maximal zehn Jahre etwas von ihrer Rente, während Menschen, die heute in Rente gehen, 19 Jahre etwas von ihrer Rente haben. Die Rente ist nicht geringer geworden; sie wird über einen längeren Zeitraum gezahlt. Es ist aber notwendig, die gute Entwicklung der höheren Lebenserwartung so zu berücksichtigen, dass sichergestellt ist, dass man im Alter zuverlässig eine Rente bekommt. ({1}) Wir haben nur wenige Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist, den Rentenbeitrag zu erhöhen. Das heißt, die Lohnnebenkosten steigen, und die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer werden belastet. Die zweite Möglichkeit ist, das Rentenniveau abzusenken. Das lässt sich nicht beliebig machen; denn es darf nicht passieren, dass man am 30. eines jeden Monats so wenig Rente überwiesen bekommt, dass man davon noch nicht einmal seine Miete bezahlen kann. Die dritte Möglichkeit ist, die Rentenlaufzeit zu verkürzen. Das heißt, dass die Menschen - weil sie länger leben - länger arbeiten und auch länger in die Rentenkasse einzahlen müssen. Die vierte Möglichkeit ist, den Bundeszuschuss zu erhöhen. Dieser beträgt heute schon 80 Milliarden Euro und ist der größte Posten im Etat der Bundesarbeitsministerin. Ich glaube nicht, dass das alles weiterhin beliebig nach oben dehnbar ist. Deswegen gibt es aus unserer Sicht zu der Verkürzung der Rentenlaufzeit bzw. der Verlängerung der Lebensarbeitszeit keine Alternative. Die Entscheidung, die wir in der Großen Koalition gemeinsam getroffen haben, war richtig. Wir sollten dazu stehen und keine Zweifel daran aufkommen lassen. ({2}) Natürlich muss dann auch jemand bis 67 Jahre arbeiten können. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen in der Wirtschaft und dort, wo die Menschen tätig sind, entsprechend gestaltet werden. Es ist nicht so, als hätte der Staat in dieser Frage keine Initiativen ergriffen und die Wirtschaft noch nicht begriffen, dass sie selbst vor diesen Fragen steht und diese selbst beantworten muss. Deswegen ist es gut, dass mittlerweile innerhalb der Wirtschaft ein Entwicklungsprozess eingetreten ist. Dieser hat in vielen großen Betrieben begonnen, und auch die kleinen und mittleren Betriebe sind dabei, sich darauf einzustellen. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wissen sie, dass die Menschen länger arbeiten müssen und dass sie als Betriebe immer mehr auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sind. Wir müssen ihnen helfen, dass das auch möglich ist. ({3}) Die Bundesregierung hat hierzu zahlreiche Initiativen ergriffen. Ich bin sicher, dass diese Initiativen greifen werden. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Das, was vor kurzem der Rat der Wirtschaftsweisen auf den Tisch gelegt hat, nämlich dass man ab 2060 bis 69 Jahre arbeiten soll, halte ich schlechterdings für Kaffeesatzleserei und in der jetzigen Situation für völlig kontraproduktiv und für überhaupt nicht hilfreich; denn die Rente mit 67 Jahren hat ja noch gar nicht begonnen. ({4}) Der erste Jahrgang hat damit noch gar nicht angefangen. 2012 werden die ersten Rentenjahrgänge einen Monat über ihr 65. Lebensjahr hinaus arbeiten müssen. Sie werden also mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen. Erst 2029 wird der erste Jahrgang bis 67 Jahre arbeiten müssen. Ich finde es notwendig, dies in dieser Klarheit der Bevölkerung zu sagen und daran auch nicht zu deuteln; denn Rentenpolitik ist kein Bereich, in dem man sich parteipolitische Auseinandersetzungen beliebig lang erlauben kann, weil die Menschen wissen müssen, worauf sie sich einlassen, ({5}) weil es um ihre Zukunft im Alter geht, weil es um ihre Sicherheiten geht. Sie müssen Klarheit in dieser Angelegenheit haben. ({6}) Dass wir in dieser Frage nicht auf dem falschen Weg sind, stellt nicht zuletzt das Gutachten des Sozialbeirates fest, in dem sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaftsvertreter und andere aus der Sozialwissenschaft kommende Persönlichkeiten deutlich sagen, dass dieser Weg gangbar, sinnvoll und notwendig ist, um den Menschen Sicherheit und für die Rente Planbarkeit zu geben und um die umlagefinanzierte Rente als generationsübergreifendes Solidarprinzip in unserer Gesellschaft zu erhalten. Unsere Aufgabe besteht darin, den Menschen zu sagen, dass es sich lohnt, sich dafür einzusetzen, weil wir über diesen Weg Alterseinkünfte und Alterssicherung organisieren können. Das ist die Position unserer Fraktion. Daran lassen wir nicht deuteln. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch vonseiten des früheren Koalitionspartners, der SPD, an dieser Frage nicht gedeutelt würde. Wir haben dies zusammen beschlossen, und das war der richtige Weg. Herzlichen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Karl Schiewerling, in der Tat können im nächsten Jahr die Menschen erst mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen, aber nur diejenigen, die es bis 65 Jahre schaffen. Diejenigen, die es nicht bis 65 Jahre schaffen, ({0}) werden auch nicht einen Monat länger arbeiten, weil sie arbeitslos sind, weil sie aus den Betrieben herausgedrängt worden sind, weil sie keine Beschäftigungschancen haben. ({1}) Nicht diejenigen, die mit 65 Jahren Arbeit haben, sondern diejenigen, die mit 65 Jahren keine Arbeit haben, sind das Problem. Das ist der entscheidende Punkt, der von dieser Koalition immer ignoriert wird. Karl Schiewerling, wir stehen zu diesem Gesetz, aber in seiner Gänze. In dem Gesetz steht, dass die Regierung im Jahre 2010 verpflichtet ist, zu überprüfen, wie die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Situation der Älteren ist und ob es vor dem Hintergrund geboten ist, die Rente mit 67 Jahren ab 2012 einzuführen. In Anbetracht der Realitäten kommen wir zu einem anderen Schluss als Sie: 27 Prozent der über 60-Jährigen sind in Beschäftigung. Das heißt im Klartext: Die übergroße Mehrheit der Menschen über 60 Jahre ist nicht in Beschäftigung, und sie kommt auch nicht bis 65 Jahre und einen Monat in Beschäftigung. Das ist die Realität. Die Realität ist, Karl Schiewerling, dass das Ifo-Institut eine Untersuchung bei 1 000 Betrieben gemacht und gefragt hat: Wie ist das denn mit der längeren Bindung der Älteren an euer Unternehmen? - 72 Prozent der Unternehmen haben gesagt, dass sie grundsätzlich keine längere Bindung der Älteren an ihr Unternehmen haben wollen. 72 Prozent! Gestern hat der, wie ich fand, bemerkenswerterweise sehr offen debattierende Chef der Bundesagentur uns von einer Reise erzählt, die er zu Unternehmen in Baden-Württemberg gemacht hat. Jetzt reden wir über ein Land, wo die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist. In den Unternehmen hat er die Unternehmer auf die Einstellung von über 60-Jährigen angesprochen. Fast alle Unternehmen haben ihm geantwortet: Wir stellen keine über 60-Jährigen ein. - Das ist die Realität in diesem Land. Sie wollen den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen, die Menschen länger zu beschäftigen, und die Realität ist: Der Druck wird schlicht an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergegeben. Sie werden Rentenkürzungen hinnehmen müssen. ({2}) Das ist das, was Sie völlig ignorieren. Wenn jemand, weil er in den sozialen Sicherungssystemen ist, zum Beispiel im Arbeitslosengeld-II-Bezug, vorzeitig die Rente beantragen muss - das muss er oder sie mit 63 -, dann hat er oder sie im nächsten Jahr 0,3 Prozent Rentenabschläge zusätzlich hinzunehmen, und zwar dauerhaft, für immer. Das nehmen Sie schlichtweg in Kauf. Das hat nichts damit zu tun, ob man grundsätzlich der Meinung ist, man müsse ein höheres Renteneintrittsalter einführen. Wir sagen: Die Voraussetzungen dafür, es jetzt einzuführen, sind schlichtweg gesellschaftlich nicht gegeben. - Das ist genau das, was Sie ignorieren. Deswegen sagen wir auch nicht: „Wir machen die Rente mit 67 gar nicht“, sondern wir sagen: Die Einführung muss verschoben werden, weil die arbeitsmarktund sozialpolitische Situation - das zu überprüfen, ist ja ein Teil dessen, was im Gesetz verankert ist - es zurzeit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlichtweg nicht hergibt. ({3}) Wenn wir die Einführung der Rente mit 67 verschieben würden, wäre das sozusagen beitragsneutral, weil wir maximal Vorfinanzierungskosten hätten. Aber was machen Sie? Sie halten einfach stur daran fest - das ist übrigens auch ein Problem bei dem Grünen-Antrag -, zu sagen: Wir machen es ab 2012. - Tatsächlich aber haben die, die in Zwangsrente gehen müssen, keine Chance. Sie werden mehr Abschläge hinnehmen müssen. Das nehmen Sie mit Ihrem Antrag in Kauf. ({4}) Wir sagen: Wir müssen das verschieben, um die Realitäten im Land auch tatsächlich zu verändern. Wir brauchen eine höhere Beschäftigungsquote. Wir brauchen mehr Chancen. Wir brauchen vor allen Dingen endlich auch Ihrerseits eine Antwort darauf, was wir denn mit denen machen, die schon heute nicht bis 65 arbeiten können und später auch nicht bis 67, weil sie aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind. Was machen wir mit diesen Menschen? Sie muten ihnen einfach mehr Rentenabschläge zu. Zur Erwerbsminderungsrente haben Sie überhaupt keine Antwort und lassen die Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind, schlichtweg im Stich. Das ist die Realität dieser Regierung und dieser Regierungskoalition. Meine Damen und Herren, Sie haben angekündigt, das Thema Altersarmut großartig in einer Regierungskommission zu bearbeiten. Mittlerweile soll es keine Regierungskommission mehr sein, sondern jetzt soll es eine Expertenrunde werden. Ich hoffe, Sie sind noch dabei, wenn die Ministerin Experten zusammenruft, um zu untersuchen, was man denn gegen Altersarmut machen kann. Wenn Sie so, wie es jetzt vorgesehen ist, an der Rente mit 67 festhalten, werden Sie - das garantiere ich Ihnen - das Problem der Altersarmut für einen ganz großen Teil der Beschäftigten in diesem Land noch verschärfen, ({5}) vor allen Dingen für diejenigen, die erwerbsgemindert sind. Liefern Sie an der Stelle endlich Antworten! Wo sind Ihre Initiativen, tatsächlich die Beschäftigungsquote Älterer dauerhaft zu erhöhen? Wo sind sie? Sie halten stur am höheren Renteneintrittsalter fest. Ich sage Ihnen: Sie verlagern den Druck, den Sie eigentlich auf die Unternehmen ausüben wollten, auf die, die ihre Lebenssituation nicht ändern können, und das sind die über 60-Jährigen, die in diesem Land keine Arbeit haben. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit November des letzten Jahres liegt der Bericht der Bundesregierung nach § 154 Abs. 4 SGB VI zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vor. Mir ist nicht bekannt, Herr Kollege Schaaf, dass die darin aufgeführten Fakten - ich betone zunächst einmal: die Fakten - zur demografischen Entwicklung, zur Entwicklung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer von irgendwem ernsthaft infrage gestellt würden. Was mir auffällt, ist, dass die Fakten unterschiedlich interpretiert und, wenn ich mir die Linke anschaue, teilweise sogar ignoriert werden. ({0}) - Sie sagen, Herr Kollege Birkwald, in Ihrem Antrag, die Lage am Arbeitsmarkt sei für ältere Arbeitnehmer katastrophal. Das kann ich so nicht feststellen. Ich widerspreche dem sogar nachdrücklich und sage für unsere Fraktion - ich denke, auch für die Koalition -: Die Arbeitsmarktsituation hat sich für ältere Menschen in den letzten Jahren spürbar verbessert. ({1}) Das ist ein Faktum, und das wird natürlich auch von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung getragen, die sich an 3,7 Prozent Wachstum im letzten Jahr und an 2,5 bis 3,x Prozent auch in diesem Jahr ablesen lässt. Dies trägt insgesamt dazu bei, dass auch für ältere Menschen Beschäftigungschancen gehalten werden oder neu entstehen und Perspektiven für diese Menschen begründet werden. ({2}) Was ich immer feststelle, wenn ich Ihre Anträge lese, Herr Kollege Schaaf, Herr Kollege Birkwald, also von SPD und Linken, ist: Diese Anträge beruhen aus unserer Sicht auf einer falschen Sichtweise. Sie sind von der Vorstellung geleitet, dass ein möglichst früher Renteneintritt erstrebenswert und sinnvoll sei. Ich sage: Wir brauchen da einen Mentalitätswandel. Hier müssen Sie sich in eine andere Richtung drehen und feststellen, dass es auch noch andere Wahrheiten gibt. Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Zeit von heute, in der Elisabeth Niejahr einen, wie ich finde, sehr lesenswerten Artikel mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten“ geschrieben hat. ({3}) Darin beschreibt sie Beispiele von Arbeitnehmern, die an der Regelaltersgrenze stehen. Jeder fragt für sich individuell: Warum eigentlich müssen wir aufhören zu arbeiten? Sie sagen: Wir definieren uns über unsere Arbeit, die Altersgrenze bevormundet uns, wir wollen das nicht. Das ist die andere Möglichkeit, auf den gleichen Sachverhalt zu schauen. Diese Perspektive sollte nach unserer Auffassung in Zukunft eine stärkere Rolle spielen. ({4}) Ich gönne jedem seinen Ruhestand; das ist gar nicht der Punkt. Aber mir fällt ein Widerspruch auf: Wir Sozialpolitiker reden häufig von Teilhabe. Menschen mit Behinderung sollen teilhaben, arme Menschen sollen teilhaben, junge Menschen, Migranten, all diese Gruppen sollen mehr teilhaben. Aber bei der Diskussion über ältere Menschen geht es meistens nur um die Finanzierung von Nichtteilhabe oder Nicht-mehr-Teilhabe, also darum, wie man einen Ausstieg organisiert, wie man die Menschen aus den Betrieben herausdrängt. Das ist ja oft mit der Altersteilzeit passiert; verschließen wir doch nicht davor die Augen, was in den Betrieben die Realität war. Dies müssen wir überwinden, und deswegen brauchen wir den Perspektivwechsel. Ich sage noch einmal: Viele Menschen wollen länger arbeiten. Aber sie wollen - das ist aus unserer Sicht der entscheidende Knackpunkt - flexibel den Zeitpunkt ihres Ausstiegs selbst bestimmen, gegebenenfalls auch schrittweise über Teilrentenlösungen. Viele Arbeitgeber - das ist die andere Seite des Arbeitsmarktes - erkennen zunehmend, dass ältere Arbeitnehmer wichtig sind. Aber mich hat gestern genauso wie Sie, Herr Schaaf, der Bericht berührt und schockiert, den Herr Weise über seine Betriebsbesuche abgegeben hat, wonach sich Unternehmer beklagen, sie fänden keine Facharbeiter, aber niemand im Kopf den Schalter umlegt und darüber nachdenkt, einen 55-jährigen oder 60-jährigen Arbeitnehmer noch einmal zu beschäftigen. Das müssen wir erreichen. ({5}) Das ist in vielen Fällen - ich habe gestern die Bundesarbeitsministerin auch in der Regierungsbefragung danach befragt - gar nicht einmal eine Frage des Geldes, das man dafür in die Hand nehmen muss, sondern hier ist wirklich ein Mentalitätswechsel in den Köpfen, ein Paradigmenwechsel gefordert. In den letzten Jahren und Jahrzehnten waren viele Unternehmer und leitende Angestellte in den Unternehmen stolz darauf, wenn sie eine möglichst junge Belegschaft hatten. Wir müssen dahin kommen, dass es eine Auszeichnung für einen Betrieb ist, wenn sich in der Belegschaft auch noch viele ältere Arbeitnehmer finden. Die Mischung aus Jungen und Alten, aus Erfahrung und Neugier und neuen Bestrebungen im Arbeitsmarkt kann ein Erfolgsmodell für Unternehmen sein. Ich wünsche mir, dass es Schule macht. In diesem Sinne empfinde ich Ihre Anträge als rückwärtsgewandt. Denken Sie mit uns nach vorne! Flexible Übergänge und eigene Entscheidungen der Arbeitnehmer müssen das Gebot der Stunde sein. Dafür kämpfen und arbeiten wir. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Perspektive der Linken ist die der Beschäftigten und der Betroffenen. Deswegen sage ich: Die Rente erst ab 67 muss weg, ohne Wenn und Aber. ({0}) Das ist der Kern unseres Antrags, über den wir hier heute diskutieren, und das ist auch das Ziel des Gesetzentwurfs, den die Linke vorgelegt hat. Seit vergangener Woche redet die Bundesregierung nicht mehr nur über die Rente erst ab 67; ({1}) vielmehr diskutiert Schwarz-Gelb ernsthaft den völlig unsäglichen Vorschlag der sogenannten Wirtschaftsweisen, die Rente erst ab 68 oder gar ab 69 einzuführen. Doch ein höheres gesetzliches Rentenalter bedeutet für die Friseurin oder den Gerüstbauer und die meisten Beschäftigten nicht mehr Lebensarbeitszeit oder gar mehr Rente. Die Rente erst ab 67, von der Rente erst ab 69 ganz zu schweigen, bedeutet für die Menschen deutlich weniger Rente. Das ist die bittere Konsequenz, und genau das will die Linke verhindern. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzlerin Merkel hat auf der Pressekonferenz zum Demografiegutachten des Sachverständigenrates die Frage aufgeworfen - ich zitiere -, wie wir die reale Arbeitszeit dem gesetzlichen Renteneintrittsalter besser annähern und Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen können. Zitat Ende. Das ist doch vollkommen verquer. Erst basteln Sie wirklichkeitsfremde Gesetze, und dann verlangen Sie unter Androhung drastischer Rentenkürzungen von den Menschen, dass sie sich diesen weltfremden Gesetzen anpassen müssen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Gesetze müssen realitätstauglich sein. Aber genau das ist die Rente erst mit 67 ganz und gar nicht. Deswegen muss sie weg! ({3}) Denn bereits heute klafft eine riesige Lücke zwischen dem tatsächlichen Rentenbeginn und dem gesetzlich vorgeschriebenen Rentenalter. Heute halten sich die Menschen im Durchschnitt bis gut 63 am Arbeitsmarkt. Sie schaffen es gar nicht bis zu ihrem 65. Geburtstag, wie vom Gesetz vorgesehen. Kollege Schaaf ist darauf bereits eingegangen. Die Wirklichkeit am Arbeitsmarkt sieht so aus: Wenn Sie 55 sind, Herr Kolb, haben Sie es ausgesprochen schwer ({4}) - ja, ich weiß das -, einen neuen Job zu finden. Mit über 60 ist das nahezu unmöglich. Die Fakten: 1 Million Arbeitslose sind älter als 50. Das hat der Bundesagenturchef gestern noch einmal gesagt. Bei den Erwerbslosen über 55 hat es keinen Rückgang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vorigen Jahr gegeben; dies zum Stichwort „Mentalitätswechsel“. Nur jeder Fünfte zwischen 60 und 65 schafft den Sprung aus der Arbeitslosigkeit in einen Job. Bei den 64-Jährigen schaffen es nur 10 Prozent, und nur 9 Prozent der 64-jährigen Männer haben überhaupt noch einen sozialversicherten Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es nicht einmal magere 4 Prozent. Gestern hat der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise - das ist schon ein paar Mal gesagt worden -, im Ausschuss für Arbeit und Soziales wörtlich gesagt: Niemand stellt 60-Jährige ein. Das ist leider die traurige Wahrheit, und darum ist die Rente erst ab 67 eine riesige soziale Schweinerei sondergleichen. ({5}) Meine Damen und Herren, die Bundesarbeitsministerin Frau von der Leyen behauptet immer, dass den Beschäftigten ohne die Rente erst ab 67 eine drastische Beitragserhöhung drohe. Das ist komplett falsch. Von drastischen Beitragserhöhungen kann überhaupt nicht die Rede sein. Frau von der Leyen will durch die Rente erst ab 67 verhindern, dass der Beitrag bis 2030 um einen halben Prozentpunkt steigt. Das sind bei einem Durchschnittsverdienst nicht einmal 7 Euro. Drastisch ist etwas ganz anderes, dass nämlich den Menschen die Rente gekürzt wird, weil sie sich nicht bis 65, geschweige denn bis 67 am Arbeitsmarkt halten können, sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie eben keine bezahlte Arbeit mehr haben. Jeder Monat, den sie vor dem gesetzlichen Rentenalter in Rente gehen, führt zu Rentenkürzungen. So sieht es aus. Diese Kürzungen allerdings sind drastisch, und das ist der absolut falsche Weg. ({6}) Von den Beschäftigten, die 2009 neu in Rente gingen, müssen mehr als 55 Prozent Abschläge in Kauf nehmen, im Schnitt 102 Euro, und dies bis zum Lebensende. Für über 70 Prozent der Chemiearbeiterinnen, der Bergleute und der Elektriker bedeutet das, dass ihnen die Rente gekürzt wird, nur weil sie es nicht schaffen, bis 65 zu arbeiten. Hier werden also Leute für etwas bestraft, was sie nicht verschuldet haben und was sie auch ganz und gar nicht selbst ändern können. Und dann soll die Rente erst ab 67 kommen? Nein! ({7}) Das wird von den meisten als eine Riesensauerei empfunden, zu Recht. Meine Damen und Herren, immer weniger Menschen produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr. Das wissen wir alle. Als Bismarck die Rentenversicherung einführte, brauchte es 13 Menschen im erwerbsfähigen Alter, um eine Rentnerin oder einen Rentner zu finanzieren. Heute reichen gut drei, und in 20 Jahren werden es etwas mehr als zwei sein. Also: Die steigende Arbeitsproduktivität und das Wirtschaftswachstum sind viel wichtiger für die Finanzierbarkeit der Renten als der demografische Wandel. ({8}) Ich sage Ihnen: Auch deshalb ist es möglich, auf die Rente erst ab 67 zu verzichten. ({9}) Wer jedoch den Niedriglohnsektor fördert und fordert, wer einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn blockiert und wer demografische Entwicklungen als Drohkulisse sät - das wird ja häufig gemacht -, wird vor allem eines ernten, nämlich weitere Rentenkürzungen, und er wird die Altersarmut für Millionen zur sozialen Realität machen. Wer das nicht will, muss heute gegen die Rente erst ab 67 stimmen. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist ohne Wenn und Aber gegen die Rente erst ab 67. Deswegen fordern wir mit unserem Antrag, die Rente erst ab 67 vollständig zurückzunehmen. Hier im Parlament stehen wir mit dieser Haltung allein da. In der Gesellschaft gehören wir jedoch zur großen Mehrheit all derer, die die Rente erst ab 67 ablehnen. ({11}) Alle Gewerkschaften, Herr Schiewerling, und alle wichtigen Sozialverbände sind ebenso gegen die Rente erst ab 67 wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Es wird Zeit, dass diese demokratische Mehrheit auch hier in diesem Hause endlich Gehör findet. ({12}) Ich komme zum Schluss: CDU, CSU, FDP, SPD und die Grünen kämpfen - mit Abweichungen - für die Rente erst ab 67. Aber auch aus Ihren Reihen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat es die eine oder andere nachdenkliche Stimme gegeben, ohne jedoch völlig von dem Ziel der Rente erst ab 67 abrücken zu wollen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Kritik und Ihre Bedenken tatsächlich ernst meinen, dann nutzen Sie die Chance, die Ihnen unser Gesetzentwurf bietet, und verschieben Sie wenigstens die Einführung um vier Jahre. In dieser Denkpause könnten Ihre Bedenken dann - ganz im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung - ernsthaft diskutiert werden. Ich bitte Sie eindringlich, nachdrücklich und höflich: Nutzen Sie diese Chance! ({13}) Denn dann ginge der Kelch des Kürzungsprogramms namens Rente erst ab 67 zumindest an den 1947, 1948, 1949 und 1950 Geborenen vorbei. Die sollen nämlich schon bald und nicht erst 2029 länger arbeiten oder weniger Rente erhalten. Wenn Sie einmal dabei sind: Nehmen Sie die Bedenken der arbeitenden Menschen, der Sozialverbände und aller Gewerkschaften ernst. Stimmen Sie auch unserem Antrag zu! Sagen Sie Nein zur Rente erst ab 67! Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei wichtige Vorbemerkungen: Erstens. Die Rente ab 67 wird es erst im Jahr 2031 geben. Wir fangen nächstes Jahr langsam damit an. Das zu bedenken, ist wichtig. ({0}) Zweite wichtige Vorbemerkung. Die Rente mit 67 stellt keine Rentenkürzung dar. Das Gegenteil ist der Fall. ({1}) Es ist nämlich so, dass durch die Rente mit 67 nicht nur die Beiträge sinken, sondern - das hat die Rentenversicherung vorgerechnet - auch der Rentenwert wird infolge der Rente mit 67 steigen. Das heißt, die Rente mit 67 stellt keine Rentenkürzung dar, sondern eine Rentenerhöhung. ({2}) Diejenigen, die sich gegen die Rente mit 67 wehren und sie wieder abschaffen wollen, sind die eigentlichen Rentenkürzer. Sie sitzen insbesondere in der Fraktion Die Linke. ({3}) Sie wollen eine Rentenkürzung, Sie wollen geringere Renten im Jahr 2030 als die anderen Fraktionen hier im Bundestag. Das ist die Wahrheit. Wenn Sie das richtig rechnen - ich habe das beim letzten Mal schon anhand des Kuchenbeispiels erklärt, das ja auch Sie immer gerne heranziehen -, kommen Sie zu dem Ergebnis: Es ist insgesamt mehr Rente zur Verfügung. Wenn mehr Leute länger arbeiten und es weniger Rentner gibt, dann sind nämlich die Kuchenstücke im Durchschnitt größer. Das heißt, es profitieren insbesondere die aktuellen Rentnerinnen und Rentner von der Rente mit 67; sie werden eine höhere Rente haben, wenn wir die Rente mit 67 einführen. Das fängt nächstes Jahr an und steigt dann langsam bis 2031 an. So ist die Situation. Alle Erwerbstätigen, die nach der vollständigen Einführung der Rente ab 67 im Jahr 2031 zwei Jahre länger arbeiten können, profitieren gleich doppelt, und zwar von dem höheren Rentenwert und den zusätzlichen Rentenansprüchen, die sie durch ihre längere Erwerbstätigkeit erwerben. Bei am Ende zwei Jahre längerer Erwerbstätigkeit sind dies nach heutiger Rechnung 55 Euro mehr Rente im Monat. Selbst manche Arbeitslose, nämlich die, die Arbeitslosengeld I bekommen, erhalten eine höhere Rente, weil auch im Rahmen des Bezuges von Arbeitslosengeld I Rentenbeiträge gezahlt werden und man damit entsprechend höhere Rentenansprüche erwirbt. Trotzdem ist nicht alles rosig. Es liegen noch viele Aufgaben vor uns. Wir sehen vor allen Dingen drei Großbaustellen. Es gibt durch die Rente mit 67 zwar insgesamt eine Verbesserung, aber in der Tat gibt es auch Menschen, die dadurch schlechter gestellt werden. Der Kollege Schaaf hat dies vorhin schon erwähnt. Die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die zwangsverrentet werden, werden einen Rentenabschlag in Kauf nehmen müssen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Erwerbsminderung, für die sich die Altersgrenze für die abschlagsfreie Rente im Rahmen der Einführung der Rente mit 67 erhöhen wird. Für diese Gruppen kann man vor 2012 noch etwas tun. Handeln Sie von den Koalitionsfraktionen, und verhindern Sie, dass es im nächsten Jahr für diese Personenkreise eine Rentenkürzung gibt. Wir fordern, dass die Altersgrenze für die abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente nicht angehoben wird; denn niemand bezieht freiwillig eine Erwerbsminderungsrente. Auch die Zwangsverrentung haben wir schon immer kritisiert. Wir wollen, dass sie rückgängig gemacht wird. ({4}) Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft durch die Rente mit 67 Nachteile haben. Deswegen ist es für uns besonders wichtig, dass wir mithilfe von flankierenden Maßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinem höheren Grundsicherungsbezug durch die Rente mit 67 kommt. Dies erreichen wir, indem wir die Menschen durch eine Garantierente vor Altersarmut schützen. Dadurch ist sichergestellt, dass derjenige, der lange versichert war, eine Rente über dem Grundsicherungsniveau erhält. Sie haben die Einrichtung einer Altersarmutskommission versprochen. Das ist wieder verschoben worden. Es gibt zum Thema „Bekämpfung der Altersarmut“ immer noch keine Vorschläge von Ihnen. Wir schlagen, wie gesagt, eine Garantierente vor. Sie ist für uns ein wichtiges Instrument, um Altersarmut zu verhindern. Durch die Rente mit 67 würde die Altersarmut, wenn man nichts unternehmen würde, für bestimmte Personengruppen steigen. Die Garantierente ist also eine erste wichtige Forderung von uns. Zweiter Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Auch wenn es so ist, wie ich gesagt habe, dass auch Menschen im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine höhere Rente bekommen, ist es natürlich nicht in unserem Sinne, durch die Anhebung der Regelaltersgrenze die Dauer der Lebensarbeitslosigkeit zu verlängern. Wir wollen vielmehr die Dauer der Lebenserwerbstätigkeit verlängern. Da reicht es übrigens nicht aus, wenn man nur alternsgerechte und altersgerechte Arbeitsplätze schafft. Man muss schon bei den Jungen anfangen und dafür sorgen, dass ihre Arbeitsplätze so ausgestaltet sind, dass sie tatsächlich länger am Erwerbsleben teilhaben können. Auch das ist eine wichtige Forderung von uns. Dritter Punkt. Beteiligung am Erwerbsleben ist auch Teilhabe. Da gebe ich Herrn Kolb ausnahmsweise einmal recht. ({5}) Wir wollen es ermöglichen, dass die Menschen länger am Erwerbsleben teilhaben können, ohne sich gesundheitlich kaputtzumachen. Wir wollen außerdem, dass es einen fließenden Übergang in den Ruhestand gibt, und zwar möglichst selbstbestimmt und sozial abgesichert, damit sich den Ruhestand auch diejenigen leisten können, die nur wenig verdient haben. Diese drei Punkte, also besserer Schutz gegen Altersarmut durch eine Garantierente, bessere Arbeitsmarktbedingungen sowie die Ermöglichung eines fließenden Übergangs in den Ruhestand, sind wichtige flankierende Maßnahmen, die wir alle gemeinsam auf den Weg bringen müssen. 2014 gibt es den nächsten Bericht zur Rente mit 67. Wir müssen dann schauen, wie die tatsächliche Entwicklung verläuft, wer von der Rente mit 67 profitiert hat und wer benachteiligt worden ist. Gegebenenfalls müssen wir an den Stellschrauben drehen und nachbessern, um Benachteiligungen zu beseitigen. Wir nehmen diese Berichtspflicht ernst und werden nach dem Vorliegen des Berichts schauen, wie es weitergeht. Wir sind aber dagegen, die Rente mit 67 abzuschaffen; denn insgesamt gesehen wird damit die Rente auf eine sicherere Basis gestellt, und sie bleibt nachhaltig finanzierbar. Wir müssen aber dafür sorgen, dass diejenigen, die durch die Rente mit 67 benachteiligt werden, davor geschützt werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nachgeschaut, was in den letzten Tagen und Wochen an Zeitungsüberschriften zu finden war. Ich Peter Weiß ({0}) habe folgende gefunden: „Fachkräftemangel schon heute“, „Globaler Arbeitsmarkt fast leergefegt“, „Uns gehen die Arbeitskräfte aus“ oder „Fachkräfte verzweifelt gesucht“. Irgendwie passen die Anträge der Opposition nicht zu diesen Überschriften. ({1}) Der wesentliche Punkt ist: Anton Schaaf und auch Herr Birkwald halten Reden, die man angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren hätte halten können bzw. halten müssen. Sie passen aber nicht zu dem, was in den nächsten 20 Jahren passieren wird. Derzeit gibt es in Deutschland 44 Millionen Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2050 auf 27 Millionen sinken. Man muss sich fragen: Was machen wir dann? ({2}) Wie halten wir unseren Wohlstand? Wie erhalten wir die Produktion in Deutschland aufrecht? Natürlich gibt es die Möglichkeit, Menschen aus allen Ländern der Welt nach Deutschland einzuladen, um hier zu arbeiten, und unsere eigenen Arbeitnehmer mit 55 Jahren in den Vorruhestand zu schicken. Aber das ist doch keine Lösung. Das ist volkswirtschaftlich unverantwortlich, und das ist, wie ich finde, auch menschlich unverantwortlich. Wenn die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, dann muss das zuallererst heißen: Für die Arbeitslosen und die Älteren in Deutschland muss es Chancen auf dem Arbeitsmarkt geben. Sie sind unser eigentliches Fachkräftepotenzial. ({3}) Für die Wirtschaft bedeutet das, dass sie umlernen muss. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn ein Unternehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 60 nicht mehr beschäftigt und gleichzeitig bei der Politik anklopft und fordert, wir sollten die Türen öffnen, um Fachkräfte von außen hereinzulassen. ({4}) Nein, die Sache muss anders laufen. Es muss in deutschen Betrieben möglich sein, bis 65 bzw. 67 Jahre zu arbeiten, bevor Fachkräfte von außen hereingeholt werden. ({5}) In den nächsten 20 Jahren geht es nicht um die Rente mit 65 oder mit 67. Vielmehr geht es um die Frage: Wird es die deutsche Wirtschaft verstehen, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass das Arbeiten bis 67 möglich ist, und zwar so, dass es einem Freude macht? Darum muss es gehen. ({6}) Ein weiterer Punkt. Erfreulicherweise steigt die Lebenserwartung der Deutschen. Ein 60-jähriger Mann hat heute im Schnitt noch 20 Jahre vor sich, fünf Jahre mehr als die 60-Jährigen im Jahr 1960. ({7}) Bei den Frauen sind es sogar sechs Jahre mehr. Alle Prognosen besagen: Die Lebenserwartung steigt weiter. Ich möchte Sie Folgendes fragen: Bei der Rente geht es um ein Solidarsystem; es geht um Solidarität zwischen Jungen und Alten. Was ist daran zu kritisieren, wenn die künftigen Rentnerinnen und Rentner, die die Chance haben, deutlich länger Rente zu beziehen als die früheren und heutigen Rentnerinnen und Rentner, länger in die Rentenversicherung einzahlen? Das derzeit geltende Gesetz sieht eine Regelaltersgrenze ab 67 ab dem Jahr 2029 vor. Das heißt, dass diejenigen, die im Jahr 2029 und 2030 in Rente gehen und zwei Jahre länger gearbeitet haben als die heutigen Rentnerinnen und Rentner, trotzdem noch länger Rente beziehen werden als die heutigen Rentnerinnen und Rentner. Das System der gesetzlichen Rentenversicherung beruht auf Solidarität, und es ist solidarisch, dass man länger einzahlt, wenn man länger Rente beziehen kann. ({8}) Das längere Arbeiten bleibt nicht ohne Effekt. Herr Strengmann-Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen: Länger in die Rentenkasse einzuzahlen, bedeutet auch, dass man höhere Rentenleistungen erhält; es handelt sich nicht um eine Rentenkürzung. Noch einmal: Die Rente mit 67 ist kein Rentenkürzungsprogramm, sondern ein Rentenerhöhungsprogramm. Das ist die richtige Darstellung. ({9}) Kürzlich haben uns die Wirtschaftsweisen in einem Sondergutachten angesichts der Veränderungen im Altersaufbau der Gesellschaft, die zwangsläufig auf uns zukommen, dringend dazu geraten, an der Erhöhung der Regelaltersgrenze bei der Rente festzuhalten. Sie haben gesagt, ohne die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters drohe ein dramatischer Anstieg der Staatsschulden mit massiven Lasten für künftige Generationen. Um es also klar und deutlich zu sagen: Die Rechnung, die zwei Oppositionsfraktionen hier aufmachen, wird letztendlich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland teurer und schmerzhafter als all die Aspekte der Erhöhung der Regelaltersgrenze, zu denen man Bedenken vortragen kann. Das ist die Wahrheit, die Sie leider verschweigen und die uns die Wirtschaftsweisen ins Stammbuch geschrieben haben. Peter Weiß ({10}) Allerdings haben die Wirtschaftsweisen noch etwas anderes gemacht: Sie haben versucht, eine Prognose für die weitere Zukunft aufzustellen, und in diesem Zusammenhang eine weitere Erhöhung des Rentenalters vorgeschlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, zu solider Politik gehört, dass wir mit den Zahlen rechnen, die uns vorliegen: mit den Zahlen der bereits geborenen Kinder. Wir sollten keine Berechnungen mit Zahlen zu Menschen durchführen, die es noch nicht gibt, die noch gar nicht leben und in Zukunft geboren werden könnten. ({11}) Deswegen muss ich klar und deutlich sagen: Es ist gut, dass uns die Wirtschaftsweisen sagen, dass die Erhöhung der Regelarbeitsgrenze notwendig und wichtig ist, um in Zukunft den Wohlstand zu erhalten und die Kosten für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch höher zu treiben; aber sie sollten die Finger von Weissagungen lassen, die man - wenn man Weissagungen mag vielleicht von Damen mit einer Glaskugel bekommt. So etwas sollte nicht in einem Gutachten der Wirtschaftsweisen stehen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Weiß, Sie wären dann zum Ende gekommen?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, das tue ich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das ist gut.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe keinerlei Ansatzpunkte dafür, dass wir von der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abgehen sollten. Vielmehr glaube ich, dass wir in 20 Jahren feststellen werden, dass wir das Richtige für mehr Wohlstand und mehr Rente der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gemacht haben. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema ist, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze ab 2012 vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerechtfertigt ist; das ist der Kern der Auseinandersetzung. Ich will zunächst einmal auf ein paar Vorredner eingehen. - Herr Kolb, Sie schauen so neugierig. Sie kommen mit Sicherheit noch dran. ({0}) Zunächst einmal zu Herrn Schiewerling. Sie haben die verschiedenen Stellschrauben bei der Rente genannt. Das war alles schön und gut; man könnte Ihre Beschreibung der Stellschrauben unterschreiben. Dann haben Sie gefragt: Wer wäre denn für Beitragssatzerhöhungen? Es ist völlig unstreitig, dass der Beitragssatz ohne die Rente mit 67 in der Endphase maximal 0,5 Prozentpunkte höher wäre; das wird von niemandem bestritten. ({1}) Ich sage Ihnen: Wenn Sie in der Bevölkerung abstimmen ließen, ob sie bereit wäre, einen geringfügig höheren Beitrag zu zahlen, oder sie für die Rente mit 67 ist, dann könnte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen, wie die Abstimmung ausgeht. ({2}) - Herr Kolb, jetzt machen Sie den ersten Fehler in der Debatte. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb zulassen, Herr Schreiner? - Sie möchten das? Verstehe ich Sie da richtig?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte. Er muss zwar nicht, aber er soll.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Herr Kollege Schreiner, für die Zulassung der Zwischenfrage. - Warum hat Franz Müntefering überhaupt den Vorschlag gemacht, dass die Regelaltersgrenze auf 67 erhöht werden soll, wenn das alles so easy ist?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich schlage vor, ihn das selbst zu fragen. ({0}) Ich nehme an, es war ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen. ({1}) Ich war nicht dabei. Deshalb kann ich Ihnen da nicht mit Details dienen. Wenn Sie an Einzelheiten interessiert sind, würde ich Ihnen vorschlagen, sich an den Betreffenden selbst zu wenden. Ich glaube, das wäre sinnvoll. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich frage noch, ob eine Zwischenfrage von Herrn Straubinger zugelassen wird.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auf eine Frage von Herrn Straubinger habe ich schon gewartet. Er wird schon ganz unruhig.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön. Danach können wir fortfahren.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Beitragssatzerhöhung um 0,5 Prozentpunkte als unproblematisch betrachten und sagen, dass das jeder hinnehmen würde, frage ich mich, warum die SPD-Fraktion das mit der vorgezogenen Abführung der Sozialversicherungsbeiträge zu rot-grüner Zeit anders gehandhabt hat. Das ist schließlich nur zustande gekommen, weil der Rentenversicherungsbeitragssatz ansonsten um 0,5 Prozentpunkte hätte angehoben werden müssen. Warum hat die SPDFraktion seinerzeit nicht für eine Anhebung um 0,5 Prozentpunkte gestimmt? ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war gerechtfertigt, weil es eine unterschiedliche Handhabung bei Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmerbeitrag gab. ({0}) Im Übrigen war der Kern des Ganzen die Absenkung der Lohnnebenkosten. Das ist ein Thema, über das wir lange diskutieren können. Zurück zu den Stellschrauben, die Herr Schiewerling angesprochen hat. ({1}) - Man kann eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte mich aber auf die Kernpunkte konzentrieren. - Herr Schiewerling, Sie haben eine zentrale Stellschraube verschwiegen: Was müssten wir unternehmen, um denjenigen, die heute mit 63 Lebensjahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden - das ist der Durchschnitt -, eine Erwerbsarbeit bis zum 65. Lebensjahr zu ermöglichen? ({2}) Das ist die entscheidende Stellschraube, um die es eigentlich geht. In diesem Zusammenhang müssten wir nicht nur über die Arbeitgeber reden und sagen, dass wir die Wirtschaftskapitäne in die Pflicht nehmen wollen - auch das wäre erforderlich -, sondern wir müssten dann auch darüber reden, welche politischen Maßnahmen in den nächsten Jahren notwendig oder sogar zwingend sind, um dieses Problem zu lösen. ({3}) Wenn alle Beschäftigten in Deutschland aufgrund der Arbeitsbedingungen das 65. Lebensjahr gesund im Beruf erreichen könnten, können Sie, glaube ich, mit jedem in diesem Haus über die Sinnhaftigkeit einer Arbeitszeitverlängerung reden. Solange wir diese Situation aber nicht haben und Millionen von Beschäftigten Angst vor einer Arbeitszeitverlängerung haben, geht das nicht. ({4}) Herr Kolb hat Frau Niejahr zitiert, die einen Artikel in der Zeit mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten!“ geschrieben hat. ({5}) Sie schreibt im Übrigen viele Artikel in der Zeit. Bei einer Redakteurin der Zeit kann ich mir vorstellen, dass sie länger arbeiten könnte. Das ist gut möglich. Ich kann mir das auch bei Hochschulprofessoren vorstellen. Ich nehme Sie einmal mit in meinen Wahlkreis. Fragen Sie dort einmal Krankenschwestern, die Nacht- und Schichtarbeit machen, ({6}) oder Arbeiter in der Stahl-, der Automobil- oder der Chemieindustrie, die Wechselschicht machen, ob sie dieser Idee etwas abgewinnen können. Fragen Sie die einmal! ({7}) Die Menschen haben, je nach beruflichem Hintergrund, völlig verschiedene Sichtweisen. Wir haben eine Reihe von Berufen in Deutschland, bei denen ohne jedes Problem eine Arbeitszeitverlängerung möglich wäre. Im Übrigen ist das auf freiwilliger Basis schon jetzt möglich. ({8}) Es gibt sogar Zuschläge. ({9}) Ein weiterer Punkt von Herrn Schiewerling war, dass eine lange parteipolitische Auseinandersetzung über das Thema Rente nicht wünschenswert ist. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Die Frage ist aber, warum die Koalitionsfraktionen den Gesetzesvorbehalt, die sogeOttmar Schreiner nannte Bestandsprüfungsklausel, nicht ernst nehmen. Das ist die entscheidende Frage. ({10}) Sie nehmen sie nicht ernst. Diese Vorbehaltsklausel besagt nichts anderes, als dass die Bundesregierung von 2010 an alle vier Jahre darüber zu berichten hat, ob die Beschäftigungsentwicklung und die Situation älterer Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt ein Festhalten an der Rente mit 67 erlauben. ({11}) - Der Bericht ist so eindeutig und in Teilen manipulativ. ({12}) Das will ich Ihnen an zwei Punkten kurz belegen, Herr Kolb, weil Sie von Fakten gesprochen haben. Sie können hier über die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation Älterer reden, wie Sie wollen. Richtig ist, dass es teilweise eine geringfügige Verbesserung der Arbeitsmarktsituation gibt. Das ist nicht zu bestreiten. ({13}) Das hängt mit der demografischen Entwicklung und dem verschärften Druck, Arbeit anzunehmen, zusammen. Dafür gibt es also verschiedene Gründe. Der entscheidende Punkt ist aber, dass sich die Situation der älteren Beschäftigten in puncto Arbeitslosigkeit im Großen und Ganzen nicht verbessert hat. ({14}) Dafür will ich Ihnen ein paar Beispiele nennen. Bei den 63-Jährigen beträgt die Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 12 Prozent und bei den 64-Jährigen ganze 5,7 Prozent. Die Frage lautet: Was passiert mit den anderen? Wo landen die eigentlich? Heute ist mehrfach Präsident Weise von der Bundesagentur für Arbeit zitiert worden. Dieses Zitat will ich ausdrücklich wiederholen, weil ich mir das mitgeschrieben habe. ({15}) - Das ist ein guter Mann, das unterschreiben wir. Er ist jedweder Parteinahme unverdächtig. - Gestern hat Präsident Weise ausgeführt ({16}) - das ist egal; für mich ist er Präsident -: Ich bin viel in Betrieben unterwegs. Niemand stellt einen 60-Jährigen ein. Das ist ausgeschlossen. - Wenn der Präsident der Bundesagentur für Arbeit sagt, niemand in Deutschland stelle einen 60-Jährigen ein, wie stellt sich denn dann die Arbeitsmarktlage der älteren Menschen in Deutschland dar? ({17}) Er hat auch gesagt: Die einzige Altersgruppe, bei der die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht gesunken ist, ist die der 55-Jährigen und Älteren. - Was wollen Sie eigentlich noch mehr? Die Beschäftigungslage der älteren Männer und Frauen in Deutschland ist nach wie vor desaströs. Vor diesem Hintergrund ist eine Anhebung der Regelaltersgrenze bei der Rente nichts anderes als eine verkappte weitere Rentenkürzung. ({18}) Dafür werden Sie zu Recht Ihre Quittung erhalten. Ich habe gesagt: Der Bericht der Bundesregierung ist manipulativ. Diesen Vorhalt will ich mit einem letzten Beispiel belegen. Die Bundesregierung schreibt zur Bestandsprüfungsklausel - wörtliches Zitat -: Mit der durchschnittlichen Lebenszeit verlängert sich vor allem die Zeit eines gesunden und leistungsfähigen Alters. Das ist eine sehr positive Darstellung. Die gleiche Bundesregierung hat im letzten Jahr, also nur wenige Monate vorher, in Beantwortung einer Großen Anfrage Folgendes geschrieben: Die körperlichen Anforderungen haben sich seit Mitte der 1980er-Jahre kaum verändert. … Eine deutliche Zunahme findet sich dagegen bei den psychischen Anforderungen. Das heißt, die Gesamtbelastung der Beschäftigten in Deutschland ist in den letzten knapp 30 Jahren konstant geblieben; sie hat sich eher verschlechtert, jedenfalls nicht verbessert. Wer vor dem Hintergrund einer nach wie vor unzureichenden Situation auf dem Arbeitsmarkt

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und bei nach wie vor in weiten Teilen problematischen Anforderungen in der Berufswelt das Renteneintrittsalter erhöht, ist leicht von Sinnen. Schönen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Birkwald, Sie können so häufig, wie Sie wollen, darum herumreden. Ich glaube aber, jedem Bürger ist es angesichts einer durchschnittlich gestiegenen Lebenserwartung von 30 Jahren seit Einführung des Regelrenteneintrittsalters von 65 Jahren einsichtig, dass es gut und Johannes Vogel ({0}) vernünftig ist, zwei dieser geschenkten 30 Jahre im Erwerbsleben zu verbringen. Alles andere leuchtet niemandem ein, Herr Kollege. ({1}) Sie von den Linken sind wenigstens konsequent; Sie bleiben sich in Ihrer Ablehnung der Rente ab 67 treu. Ich halte das zwar für völlig falsch, aber es ist zumindest konsequent. Interessanter finde ich eigentlich immer wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, was Sie hier veranstalten. Als Sie vorhin, Toni Schaaf, auf Ihren Positionswechsel hingewiesen wurden - Sie führen das immer so mit Verve aus -, kam der Hinweis von den Linken, man könne ja dazulernen. Ich glaube, Sie haben nicht dazugelernt, wenn Sie plötzlich gegen die Rente mit 67 sind. Interessant ist aber vor allem, wie Sie dieses angebliche Dazulernen begründen. Sie sagen, die erforderlichen Bedingungen seien heute nicht gegeben. Man muss doch einmal an die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für die Älteren erinnern, seitdem - und das allein ist relevant - auf Initiative der SPD in der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt wurde. ({2}) Damals hieß es, darauf könne man stolz sein. Heute ziehen Sie sich zurück. Werfen wir einen Blick auf das, was sich in den letzten zehn Jahren getan hat. Die Arbeitslosigkeit bei den Älteren hat sich halbiert. Es gibt über 1 Million mehr sozialversicherungspflichtige Stellen. In den letzten fünf Jahren - lieber Kollege Schaaf, das wissen Sie so gut wie ich - ist gerade bei den Älteren, und zwar bei den 55- bis 60-Jährigen und den 60- bis 65-Jährigen, die Zahl der Erwerbstätigen stark angestiegen, und zwar um 35 bis 40 Prozent. ({3}) Vor diesem Hintergrund behaupten Sie allen Ernstes, die Situation habe sich schlechter entwickelt, als Sie damals annehmen konnten. Das glaubt Ihnen niemand. Jeder weiß: Sie wollen einfach nicht mehr zu dem stehen, was Sie gemacht haben. Dafür sind wir nicht zu haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({4}) Eines ist richtig: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist noch nicht so, dass wir uns ausruhen könnten. Es ist nicht so, dass wir nichts dafür tun müssten, die Erwerbsquote von Älteren weiter zu erhöhen. Darauf hat der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in der Tat hingewiesen. ({5}) Er wird sich aber, glaube ich, nicht gerne als Kronzeuge gegen die Rente ab 67 anführen lassen. Wir können ihn ja einmal bei seinem nächsten Besuch im Ausschuss fragen. Ich bin mir sehr sicher, dass ich weiß, wie er antworten wird. Lieber Kollege Toni Schaaf, Sie haben völlig recht: Die Leute müssen Jobs haben, und dafür müssen wir politisch etwas tun. Ich kann Ihnen sagen: Wir tun etwas. Ich nenne Ihnen drei Punkte. Das Erste ist, dass die Politik das Signal aussendet, dass Ältere am Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wir wollen, dass Ältere in den Unternehmen mit ihrer Qualifikation anerkannt werden. ({6}) Dazu muss man zuallererst nicht nur die Frühverrentungsanreize beenden - das haben wir getan -, sondern auch zur Verlängerung des Lebensalters stehen und sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen. Kommen wir zum zweiten Punkt. Wir müssen natürlich auch etwas im Bereich Flexibilität tun; das ist völlig richtig. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Erwerbskarrieren der Menschen unterschiedlich sind. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Rente mit 65 oder mit 67, sondern darum, wie flexibel man sein Erwerbsleben beenden und in Rente gehen kann. Herr Kollege Schreiner, Sie haben als Beispiel die Chemiearbeiter angeführt. Die IG BCE wirbt zum Beispiel für eine Teilrente. Wissen Sie, was ihrer Meinung nach das Wichtigste ist, was wir dafür tun müssen? Wir müssen die Zuverdienstgrenzen derjenigen, die früher in Rente gehen, beseitigen. ({7}) Das ist übrigens interessanterweise FDP-Programmatik. ({8}) Es ist es richtig, dass diese Regierungskoalition in Gesprächen ist, die Zuverdienstgrenzen fallen zu lassen, damit wir bei der Flexibilisierung vorankommen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lehrieder zulassen?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vom Kollegen Lehrieder immer gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Vogel, Sie haben gerade ausgeführt, dass wir den Wert der Arbeit auch älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger höher schätzen müssen. Können Sie uns sagen, wann die sogenannte 58er-Regelung ausgelaufen ist, die gerade sehr vielen Mitbürgern im Alter zwischen 58 und 65 signalisiert hat, dass wir sie gar nicht mehr brauchen?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie meinen die geförderte Altersteilzeit, Herr Kollege? ({0}) - Er meint die Frühverrentungsanreize? ({1}) - Natürlich weiß ich das, Frau Kollegin Mast. ({2}) Ich weiß, wann sie ausgelaufen ist und dass die SPD vor einigen Monaten gefordert hat, die Regelung zur geforderten Altersteilzeit zu verlängern, dass gerade Sie die Frühverrentungsanreize weiterführen wollten und wir in der Regierungskoalition uns entschieden haben, das nicht zu tun. ({3}) Ich möchte, da meine Redezeit abgelaufen ist, nur noch einen Punkt ausführen, und zwar das Dritte, das wir tun müssen. Wir müssen in die Qualifikation der Älteren investieren, um denjenigen, die jetzt am Arbeitsmarkt noch weniger nachgefragt werden, eine Chance zu geben. ({4}) - Nein, Herr Kollege Kurth. Wissen Sie, was wir im Rahmen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente gemacht haben? Das könnten Sie einmal würdigen. ({5}) Wir haben die Förderung der Qualifikation beschäftigter Arbeitnehmer - ich nenne das einmal prophylaktische Arbeitsmarktpolitik - endlich dauerhaft auf eine Rechtsgrundlage gestellt. ({6}) So sieht es aus. Programme wie WeGebAU, die wir alle kennen, sind eben nicht mehr befristet, sondern gehören dauerhaft zur Politik der Bundesagentur für Arbeit. Das ist der Paradigmenwechsel, den wir in der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet haben. Daran sollten Sie konstruktiv mitarbeiten, anstatt immer nur zu meckern, Frau Kollegin Pothmer, ({7}) und sich an der Förderung der Frühverrentungspolitik und der Rückabwicklung von Errungenschaften zu beteiligen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine Kurzintervention des Kollegen Schaaf.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Vogel, wenn man immer Unwahres behauptet, wird es nicht wahrer. Ich weiß genau, dass die Union damals im Wahlkampf die Rente mit 67 gefordert hat, bevor wir dann in der Großen Koalition darüber verhandelt haben. Es war eine Idee der Union, und wir hatten einen Koalitionsvertrag. Selbstverständlich sind Sozialdemokraten gegenüber Verabredungen treu; das ist keine Frage. Franz Müntefering hat nur den Endpunkt der Rente mit 67 vorgezogen und das im Januar 2006 angekündigt, was große Wellen geschlagen hat. Aber der Sozialdemokratie die Urheberschaft für die Rente mit 67 in die Schuhe zu schieben, ist gänzlich falsch. Das ist der erste Punkt. ({0}) Der zweite Punkt: Frühverrentung. Manchmal scheint es mir, dass Sie die Realitäten absolut verweigern wollen. Wenn wir uns die insgesamt in Anspruch genommene Altersteilzeit anschauen, sehen wir, dass zwei Drittel davon nicht geförderte Altersteilzeit war und nur ein Drittel gesetzlich geförderte Altersteilzeit. Ich sage Ihnen, was der Unterschied ist. Die nicht geförderte Altersteilzeit ist nach wie vor sozialverträgliche Arbeitsplatzvernichtung. Die geförderte Altersteilzeit war daran gekoppelt, dass der Arbeitsplatz erhalten bleibt; bei dieser Geschichte ist „Jung für Alt“ herausgekommen. ({1}) Die nicht geförderte Altersteilzeit wird nur von großen Betrieben genutzt. Die geförderte Altersteilzeit wurde auch von kleinen und mittelständischen Betrieben genutzt, die sie jetzt nicht mehr nutzen können. Was das mit der Abschaffung der Anreize zur Frühverrentung zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Denn zwei Drittel der Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird, macht die nicht geförderte Altersteilzeit aus. Diese findet nämlich immer noch statt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie möchten antworten, Herr Vogel? ({0}) - Bitte schön.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich möchte gerne antworten. - Lieber Kollege Toni Schaaf, erst einmal Folgendes: Ich will die Union, unseren geschätzten Koalitionspartner, gar nicht aus der positiven Verantwortung für die Rente mit 67 entlassen. ({0}) Dass da kein falscher Eindruck aufkommt: Ich finde es sehr gut, dass unser geschätzter Koalitionspartner an dieser richtigen Entscheidung mitgewirkt hat. ({1}) - Ja, Kollege Straubinger. Die FDP sagt: Wir müssen auch flexibilisieren. - Das bleibt richtig. Das müssen wir noch gemeinsam machen. Lieber Toni Schaaf, der Punkt ist: Es wurde eben ganz bewusst von Ihnen so dargestellt, als sei es die Koalitionstreue gewesen, die die Sozialdemokratie geradezu gezwungen habe, der Rente mit 67 unter Schmerzen zuzustimmen. ({2}) Ich war damals nicht dabei; das wissen Sie. Aber als interessierter Zeitungsleser hat sich mir in der letzten Legislaturperiode der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht der Fall war. Nach allem, was mir die Kollegen erzählt haben, hat sich dieser Eindruck bestätigt. Sie sollten sich nicht davonstehlen, ({3}) wenn es um positive Errungenschaften in diesem Land geht, zu denen Sie einen Beitrag geleistet haben. Der Punkt ist: Sie kneifen, statt zu dem zu stehen, was Sie Gutes erreicht haben. Nun zum Thema Altersteilzeit, lieber Toni Schaaf. Mit der geförderten Altersteilzeit senden wir das Signal, dass wir wollen, dass die Leute früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Man hätte darüber diskutieren können, ob das gut ist, wenn es sich um wirkliche Altersteilzeitmodelle handelt. Ich habe eben gesagt, dass ich die Teilrente und Ähnliches für vernünftig halte; das wünsche ich mir. Wenn aber auf Kosten der Solidargemeinschaft, der Beitragszahler, 90 Prozent derjenigen, die die geförderte Altersteilzeit in Anspruch genommen haben, das Blockmodell nutzen und früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden und wenn diejenigen, die das tun, nicht etwa die schwer arbeitenden Metall- und Chemiearbeiter, sondern vor allem Personen, die Bürotätigkeiten ausüben, sind, ({4}) dann kann ich nur sagen: Diese Politik ist gescheitert. Sie hat das falsche Signal an die Gesellschaft gesendet, nämlich das Signal, dass die Menschen früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden sollen. ({5}) Genau dieses Signal wollen wir nicht senden. Es wäre schön, wenn Sie zu einer vernünftigen Politik zurückkehren und uns dabei unterstützen würden. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren fast jede Woche über die Rente mit 67 bzw. die Bewältigung der demografischen Herausforderung. Ich muss feststellen, dass die linke Opposition in diesem Hause offensichtlich nicht dazulernen will. ({0}) Natürlich ist es richtig, nicht die Tatsachen auszublenden, dass die Lebenserwartung steigt und die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bis zum Jahr 2029 durchschnittlich drei Jahre länger leben werden. Dies wird für all unsere sozialen Sicherungssysteme eine Herausforderung darstellen. Die linke Seite dieses Hauses, aber auch die SPD meint, dass man dieses Problem nicht beachten muss. Die SPD möchte die richtige Entscheidung, die Rente mit 67 einzuführen, und zwar schrittweise bis zum Jahr 2029, beginnend ab dem Jahr 2012, die sie seinerzeit in unserer gemeinsamen politischen Arbeit mit herbeigeführt hat, aussetzen. Die Linksfraktion möchte die Rente mit 67 sogar ganz abzuschaffen. ({1}) Das kann nicht der richtige Weg zur Bewältigung der demografischen Herausforderung sein. Die Linken lehnen die Rente mit 67 grundsätzlich ab, und die SPD rückt von ihren früheren Erkenntnissen ab. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den damaligen Bundesarbeitsminister Franz Müntefering würdigen. Er hat damals richtig gehandelt, auch gegen den Zeitgeist. ({2}) Natürlich ist es für die Menschen angenehmer, früh in Rente zu gehen und eine möglichst hohe Rente zu beziehen. Das geht aber zulasten der Jungen in unserer Gesellschaft. Sie haben letztendlich die Lasten zu tragen, was eine Überforderung der Jungen ist. Von den Jungen hat aus der linken Fraktion heute keiner gesprochen, aber man kann das ja auch nicht erwarten. Die Union und die FDP haben den demografischen Faktor aufgrund der demografischen Entwicklung schon 1997 in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt. Die SPD unter Lafontaine hat in ihrer Verblendung dann einen Wahlkampf dagegen geführt und damit sicherlich auch einige Prozentpunkte hinzugewonnen. Danach wurde dieser demografische Faktor, obwohl er richtig war, wieder abgeschafft. Gerhard Schröder hat später bekannt, dass dies sein größter Fehler in der Rentenpolitik war. Zumindest die SPD-Fraktion sollte sich heute vor Augen führen, dass es ein Fehler ist, richtige Entscheidungen entweder immer wieder hinauszuzögern oder wieder zurückzunehmen. Der Kollege Ottmar Schreiner hat versucht, darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen angeblich nicht gegeben sind, weil die Beschäftigungslage für die älteren Bürger nicht ausreichend ist. Jetzt gebe ich auch aufgrund der gestrigen Ausschusssitzung zu, dass es eine Herausforderung ist, 1 Million Menschen über 55 Jahre, ({3}) die arbeitslos gemeldet sind, wieder in Arbeit zu bringen. Gleichermaßen möchte ich in dieser Debatte aber durchaus auch auf die Entwicklung der Beschäftigung von Älteren hinweisen. Wir können anhand der Statistik der Bundesagentur für Arbeit feststellen, dass im Juni 1999 gut 548 000 Menschen im Alter von 60 bis 65 Jahren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis waren. Diese Zahl ist angestiegen. Im Juni letzten Jahres vermerkten wir, dass fast 1 124 000 Menschen zwischen 60 und 65 Jahren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind. Das zeigt sehr deutlich die Verbesserung, die bei der Beschäftigung von älteren Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land eingetreten ist. ({4}) Herr Kollege Schreiner, dies wird in besonderer Weise durch diese Zahlen der Beschäftigungsstatistik belegt. Sie haben beklagt, dass die Bundesregierung hier einen richtigen Bericht abgegeben hat, der durch das Gesetz auch gefordert wird. Sehr deutlich zeigt sich die Steigerung der Beschäftigung Älterer in den Zahlen: Im März 2007 waren fast 800 000 Ältere beschäftigt. Im März 2008 waren gut 847 000 Ältere in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Im März 2009 waren es knapp 959 000, und im März des letzten Jahres waren es 1 078 877. Das zeigt sehr deutlich: Die Beschäftigung der älteren Bürgerinnen und Bürger in diesem Land nimmt zu. Deshalb ist es auch verantwortbar, die Rente mit 67 in Gang zu setzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Straubinger.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden das tun und deshalb Ihre Anträge, die mehr dem Populismus anstatt der Sache dienen, ablehnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frank Heinrich hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Stunde des Austauschs der verschiedensten Argumente möchte ich kurz drei der Schlagworte rekapitulieren, die ich mir aufgeschrieben habe. Es sind viele Zahlen genannt worden. Eine der Zahlen ist mir besonders in Erinnerung. Sie betrifft mich und viele von Ihnen, Sie oben auf den Tribünen betrifft sie wahrscheinlich überdurchschnittlich mehr. Es geht um die gestiegene Lebenserwartung - dies kam in den Zahlen vor, die Herr Schiewerling am Anfang genannt hat und um die noch steigende Lebenserwartung. In der Berliner Morgenpost hieß es gestern, die durchschnittliche Lebenserwartung der Berliner Bevölkerung werde in den nächsten 20 Jahren gegenüber heute weiter deutlich steigen, bei Männern im Schnitt um 6,1 Jahre und bei den Damen um 4,8 Jahre. Das heißt, wenn man diese Mathematik noch weiter fortsetzt wie vorhin, dann werden wir noch stärker profitieren und die Lebenserwartung wird noch weiter steigen. Wir werden aber nicht in demselben Maße mehr arbeiten müssen, wie unsere Lebenserwartung steigt. Das hat auch, wie es der letzte Redner angesprochen hat, mit Solidarität zu tun. Denn dann müssen wir als Politiker dieses Landes selbstverständlich die gesamte Breite darstellen statt nur diejenigen, die möglicherweise länger arbeiten müssen. Mein Jahrgang ist der erste, der davon betroffen ist. Dann geht es um einen Querschnitt aller, die in Deutschland davon betroffen sind, auch die Jugend. Es ist generell eine sehr gute Nachricht, dass wir länger leben werden, aber sie treibt möglicherweise die Kosten oder trägt Herausforderungen an uns heran, die wir nicht nur auf die Schultern anderer verteilen dürfen. ({0}) Ich zitiere aus dem Antrag der Linken: In Verbindung mit der gesetzlich festgeschriebenen Absenkung des Rentenniveaus wird die Rente erst ab 67 zu einer Welle von Altersarmut führen. Das ist eine Mathematik, die wir so nicht mittragen können. Erstens wird es keine Absenkung des Rentenniveaus geben. Das ist vorhin zweimal widerlegt worden. ({1}) Zweitens gilt: Wenn wir davon ausgehen, dass es eine Herausforderung ist und wir möglicherweise dadurch einen Rückgang des Wohlstands befürchten müssen, dann müssen wir dagegen vorgehen, aber nicht nur bei denen, die dann im Ruhestand sind oder in den Ruhestand gehen sollen. Diese Herausforderung ist eine Folge des demografischen Wandels. Die Rente mit 67 ist eine Antwort darauf. Es ist nicht die Ursache, wie Sie es beschreiben. Herr Kolb, Sie haben den Begriff Mentalitätswandel eingeführt, den ich bemerkenswert finde. Ich erinnere mich an den Ruck, der durch Deutschland gehen sollte. Tatsächlich geht es um einen Ruck oder Mentalitätswandel aller Beteiligten statt nur eines Teil des Parlaments oder derjenigen, die möglicherweise dafür oder dagegen sind. Damit kommen wir zu dem Begriff der Teilhabe, den sowohl Sie, Herr Kolb, als auch Sie, Herr StrengmannKuhn, genannt haben. Der Begriff war auch Gegenstand einer Fachtagung 2008 zum Thema „Behinderung und Alter: Gesellschaftliche Teilhabe 2030“. Das ist das Stichdatum, ab dem die ersten von uns volle zwei Jahre länger arbeiten sollen. Wenn wir uns, gesund und jung geblieben, 2030 fragen würden, wie die gesellschaftliche Teilhabe aussieht, zu welchen Ergebnissen würden wir dann kommen? Diese Umfrage würde mich interessieren. Mir hat gestern eine Person auf diese Frage geantwortet: „Ich würde sagen, Rente mit 67 frühestens.“ Bei mir war dieser Tage eine Besuchergruppe zu Gast. Eine Frau antwortete mir auf diese Frage: „Natürlich möchte ich gerne länger arbeiten.“ Natürlich ist damit die Herausforderung verbunden, die notwendigen Arbeitsplätze zu organisieren. Das haben wir bereits gehört. ({2}) Aber wir haben die nötige Zeit, um das zu arrangieren, mit Flexibilität und verschiedensten Maßnahmen, die nicht nur, aber auch von der Politik ausgehen müssen. ({3}) Wir reden immer von Teilhabe, sowohl was Behinderung als auch Alter angeht. Dann muss auch die Teilhabe an Beschäftigung und Arbeit möglich sein. Das wollen wir einleiten. Das ist uns wichtig. Erwerbsarbeit ist auch sinngebend und erfüllend. Das ist also ein sozialer und ökonomischer Grund. Ein dritter Begriff - damit komme ich zum Schluss ist der Fachkräftebedarf, der übrigens nicht nur jetzt bevorsteht und den Menschen Angst macht, sondern bis 2030 noch kulminieren wird. Das Know-how der Alten ist nicht verzichtbar. Wir können als Gesellschaft nicht auf diesen Zuwachs an Know-how verzichten. Ich möchte als Entgegnung zu Ihnen, Herr Schaaf und Herr Schreiner, aus einem weiteren Antrag von Ihnen zu diesem Thema zitieren: Die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre hat einen deutlichen Anstieg der Erwerbstätigkeit Älterer bewirkt, der sich auch in einem steigenden durchschnittlichen Rentenzugangsalter ausdrückt … Das ist der Status quo. Jetzt haben wir 20 Jahre Zeit, diese Linie im Koordinatensystem fortzuführen. ({4}) Wenn meine Altersgruppe ungefähr dann in den Ruhestand geht, werden wir dieses Problem gelöst haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5298, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3546 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende Fraktion. Die übrigen Fraktionen waren dagegen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rente ab 67 vollständig zurücknehmen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5298, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2935 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat dagegen gestimmt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/5297. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3995 mit dem Titel „Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen - Arbeitsbedingungen verbessern Rentenzugang flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4046 mit dem Titel „Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP, SPD und Linke, dagegen Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich niemand. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes - Drucksache 17/5761 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 17/5960 Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs, über den wir später namentlich abstimmen werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit - das sind 311 Stimmen - erforderlich ist. Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich müssten wir heute über Verwaltungsfragen sprechen; denn die Entscheidung über die Sache haben wir bereits im März getroffen. Die christlich-liberale Koalition hat damals den Weg für eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit geebnet. Leider wurden wir damals nicht von der Opposition unterstützt. Ich bedauere das nach wie vor sehr. Aber durch unseren Beschluss kann die Bundesregierung jetzt eine Lohnuntergrenze einführen. Voraussetzung ist nur ein Antrag der Tarifpartner. ({0}) Dann gilt übrigens ein tariflicher Mindestlohn für die gesamte Branche. Es wird zukünftig nicht mehr darauf ankommen, ob der Betrieb seinen Sitz im Ausland oder im Inland hat, ob es sich um Verleihzeiten oder um verleihfreie Zeiten handelt oder welchem Arbeitgeberverband der Betrieb bzw. welcher Gewerkschaft der Arbeitnehmer angehört. Nein, es gilt dann ein tariflicher Mindestlohn für alle. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. ({1}) Eigentlich sollte es heute nur um technische Fragen gehen: Wer ist für die Kontrolle zuständig? Wie hoch sind Bußgelder und Strafen? Was hat ein inländischer Arbeitgeber nachzuweisen? Welche Meldepflichten muss ein ausländischer Verleihbetrieb erfüllen? Wie viele neue Planstellen müssen geschaffen werden? Eigentlich geht es also um reine Verwaltungsfragen. Aber darüber sprechen wir eigentlich doch nicht; denn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nutzen die Gelegenheit einmal mehr, um eine Generaldebatte über die Zeitarbeit vom Zaun zu brechen, gewürzt nach Ihrem Lieblingsrezept: ganz viel Emotion, eine Prise Ideologie und bloß keine Fakten. ({2}) Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine prekäre Beschäftigung. Tatsache ist, jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem normalen Arbeitsverhältnis. Auch wenn er beim Kunden arbeitet, ist er doch beim Zeitarbeitsunternehmen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in der Regel übrigens unbefristet. Er hat geregelte Arbeitszeiten, Kündigungsschutz, Anspruch auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Nur die Arbeitsorte wechseln häufiger, wie übrigens auch bei Fernfahrern, Bauarbeitern und vielen anderen. Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine Sackgasse. Tatsache ist, die Zeitarbeit war und ist gerade für die Schwächsten am Arbeitsmarkt eine Brücke in den Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der neu eingestellten Zeitarbeitnehmer waren davor arbeitslos. Rund 15 Prozent wechseln übrigens später zu den Kunden, mit steigender Tendenz. Das ist jetzt auch von dem neuen Präsidenten des Bundesarbeitgeberverbandes der Personaldienstleister beklagt worden, der wie folgt zitiert wird: Wir verlieren viele Mitarbeiter, weil sie von den Kundenunternehmen … abgeworben werden. Auch dies ist eine Tatsache. Drei Viertel der Übernommenen wären übrigens ohne den vorherigen Einsatz in der Zeitarbeit nicht eingestellt worden. Sie behaupten, Stammbelegschaften würden durch Zeitarbeitnehmer ersetzt. Fakt ist, nur 2 Prozent der Kunden bauen Personal ab und stellen Zeitarbeiter ein. Das ist ein reines Randphänomen. Alle diese Zahlen sind übrigens belegt, sei es durch die Bundesagentur für Arbeit, sei es durch das IAB, sei es durch Berichte der Bundesregierung. Sie hingegen, liebe Frau Müller-Gemmeke, ignorieren diese Tatsachen. Das ist Politik à la Vogel Strauß: ab mit dem Kopf in den Sand, nur nichts hören, nur nichts sehen. Wenn Sie keinen Sand in den Augen hätten, hätten Sie die brandneue Studie der IW Consult lesen können und müssen. Darin wird der Zeitarbeit eines bescheinigt: Sie ist der Treiber für Flexibilität und Wachstum am Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft. Die Zeitarbeiter waren und sind eine Stütze des Aufschwungs. Obwohl weniger als 3 Prozent in der Branche arbeiten, erwirtschafteten sie 15 Prozent des Wirtschaftswachstums, also überproportional viel. Darüber hinaus retteten sie Stammbelegschaften; denn die Kunden konnten durch Stornierung von Aufträgen an Zeitarbeitsunternehmen kurzfristig auf Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, wo es wieder aufwärtsgeht, ist die Kernmannschaft noch da, und Auftragsspitzen können wieder abgefedert werden. Deswegen kommt die Studie auch zu dem Ergebnis - ich zitiere und bitte, zuzuhören -: Die Zeitarbeit hat den Unternehmen geholfen, die Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Massenentlassungen zu meistern, und hat die für den nachfolgenden Aufschwung benötigten Personalressourcen schnell bereitgestellt. Die Krise hätte ohne Zeitarbeit wahrscheinlich schwerwiegendere Folgen für die deutsche Wirtschaft gehabt und länger angedauert. ({3}) Weiter heißt es: Gerade diejenigen Unternehmen, die den Aufschwung tragen, sind besonders stark auf die … Zeitarbeit angewiesen. … Damit stärken die Unternehmen, die Zeitarbeit einsetzen, nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland. Damit steht fest - durch Studien belegt -: Gemeinsam mit der Kurzarbeit hat erst die Zeitarbeit das deutsche Wunder am Arbeitsmarkt in der Krise möglich gemacht. Bestätigt wird diese Wirkung auch durch die Bundesagentur für Arbeit. Nach den neuesten Zahlen sorgt die Zeitarbeitsbranche derzeit für etwa jede dritte neue Stelle am Arbeitsmarkt. Es stimmt also: Treiber für den Arbeitsmarkt. Deshalb war es mehr als gerecht, dass wir als Gesetzgeber uns der Branche besonders intensiv widmeten. Wir haben die Voraussetzungen geschaffen, schwarzen Schafen wie Schlecker das Handwerk zu legen, übrigens wir in der christlich-liberalen Koalition. Wir haben die EU-Zeitarbeitsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt, wir in der christlich-liberalen Koalition. Wir haben den Weg für eine Lohnuntergrenze geebnet. So sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor Lohndumping aus dem Ausland gewappnet. ({4}) Wir bereiten weitere Anträge vor. Wir wollen die Bezeichnung „Leiharbeit“ ersetzen; denn damit werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tagtäglich hart arbeiten, diskriminiert. Kein Begriff eignet sich weniger für die Beschreibung der Zeitarbeit; ({5}) denn Leihe ist Überlassung von Sachen, Zeitarbeitnehmer sind aber keine Sachen, sondern Menschen, die tagtäglich hart arbeiten. Wir müssen auch auf ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts reagieren und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz um eine Klausel für die Zeitarbeit ergänzen. Dort, wo ein allgemein verbindlicher Branchenmindestlohn gilt, soll er auch für die Zeitarbeit gelten. Wir werden weiter dafür sorgen, dass die klassische Zeitarbeit zukünftig nicht mehr durch Umgehung diskreditiert wird. Wir haben diese Aufgabe den Tarifvertragsparteien ins Stammbuch geschrieben. Sie haben Zeit, darauf zu reagieren. Wenn sie nicht reagieren, sind wir gefordert, übrigens deshalb gefordert, weil seinerzeit Rot-Grün durch die damalige unbegrenzte Öffnung der Höchstüberlassungsdauer genau diese Schein-Zeitarbeit erst provoziert hat. Es war Rot-Grün - ich betone das im Rahmen der Hartz-III-Gesetzgebung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Connemann.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren von der Opposition, vor diesem Hintergrund können Sie natürlich noch weiter den Kopf in den Sand stecken. Sie können sich aber auch endlich die Augen reiben, handeln und unserem Gesetzentwurf zustimmen. Dafür wären wir Ihnen sehr dankbar. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Connemann, ich frage mich: In welchem Sonnensystem bewegen Sie sich? Sind Sie überhaupt in der Milchstraße? ({0}) Auf jeden Fall befinden Sie sich nicht auf dem Boden der Realität der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Frau Connemann, Sie sagen, Sie hätten die EU-Zeitarbeitsrichtlinie europarechtskonform umgesetzt. Hören Sie sich Professor Düwell an! Er sagt: Das ist eindeutig nicht der Fall. Sie hätten beispielsweise eine eindeutige Begrenzung bei der Dauer der Leiharbeit vornehmen müssen. Das ist aber nicht geschehen. ({2}) Sie heben die Arbeitsmarktfunktion der Leiharbeit hervor. Sie müssten an sich auch die Untersuchung des IAB kennen, in der es heißt, dass die Leiharbeit allenfalls ein schmaler Steg in Arbeit ist. Aber wir diskutieren heute über etwas anderes. Es gibt drei Kategorien von Gesetzentwürfen. Bei der ersten Kategorie kann man sagen: Diese Gesetze sind großartig. Es gibt eine Kategorie zwei. Da sagt man: besser als nichts. Dann gibt es eine Kategorie drei. Da kann man nur sagen: einfach Humbug. Wir diskutieren heute wieder über Verbesserungen für Leiharbeitnehmer. Konkret geht es darum, SanktionsAnette Kramme und Kontrollmechanismen aus dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch für die Leiharbeit tauglich zu machen. Sie halten sich dabei - das müssen wir Ihnen zugestehen an die Verabredungen, die im Rahmen der Regelsatzverhandlungen getroffen worden sind. ({3}) Aber Sie nehmen nur eine Umsetzung eins zu eins vor. Kein Jota mehr! ({4}) Es ist das absolute Minimum, was Sie uns hier vorlegen. Dabei gibt es Besonderheiten in der Leiharbeit, zumal die Leiharbeit jetzt grenzüberschreitend stattfindet. Dabei wissen wir: Leiharbeit ist Leidarbeit. Drei Viertel aller Leiharbeitnehmer arbeiten unter der Niedriglohnschwelle. 60 Prozent der Leiharbeitnehmer haben eine schlechtere Bezahlung als Stammarbeitnehmer auf exakt dem gleichen Arbeitsplatz. Jeder achte Leiharbeitnehmer erhält Aufstockungsleistungen nach dem SGB II. ({5}) Natürlich begrüßen wir, dass es jetzt endlich zu einer Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz kommt, wobei wir natürlich hoffen, dass es etwas mehr Engagement der Arbeitsministerin gibt, damit diese Lohnuntergrenze tatsächlich schnell greifen kann. ({6}) Selbstverständlich begrüßen wir, dass es Meldepflichten für Entleiher gibt, die Leiharbeiter von ausländischen Verleihern beschäftigen. Wir sind natürlich auch dankbar dafür, dass es Kontroll- und Sanktionsmechanismen gibt. Aber es bleiben einige problematische Fallkonstellationen. Nehmen wir Folgendes an: Eine ausländische Leiharbeitsfirma kommt in die Bundesrepublik Deutschland. Das ist genau der Fall, für den wir jetzt - so Ihre Auffassung - die Lohnuntergrenze gebildet haben. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stellt fest, dass der Mindestlohn dort nicht gezahlt wird. Es ist gut und richtig, dass diese ausländische Leiharbeitsfirma ohne Weiteres eins auf den Deckel bekommen wird. Aber der Mindestlohn für den individuellen Leiharbeitnehmer ist damit noch lange nicht durchgesetzt. Vielmehr muss der Mindestlohnanspruch im Ausland vollstreckt werden. Nach dem, was wir bei den Prozessen gegen die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit festgestellt haben, bin ich mir ganz sicher: Es wird insgesamt nicht sehr viele Prozesse geben; es wird eine Reihe von Leiharbeitnehmern und Leiharbeitnehmerinnen geben, die leer ausgehen werden. Angesichts dessen frage ich Sie: Warum haben Sie nicht ähnlich wie bei einem anderen Rechtsgedanken eine Entleiherhaftung eingeführt, sodass die Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen hier in der Bundesrepublik Deutschland klagen und vollstrecken können? ({7}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben einen weiteren Ansatzpunkt: Wir werden mehr ausländische Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik Deutschland haben. In Berlin gibt es eine Beratungsstelle, die uns im Übrigen in der Sachverständigenanhörung Schauerliches berichtet hat. An sich ist es doch legitim und in höchstem Maße nachvollziehbar, dass wir Menschen, die keine Kenntnisse vom deutschen Rechtssystem haben, mit einer Beratung zur Verfügung stehen. Auch da tut sich leider überhaupt nichts. Ein zusätzliches Problem, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit angelegt. Ich will nicht sagen, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit schlecht arbeitet. Im Gegenteil: Wir sind angetan von dem, was dort in den letzten Jahren bewirkt worden ist. Dort sind 6 500 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tätig. Aber wir müssen auch eines sehen: Wir haben dieser Behörde dadurch immense zusätzliche Aufgaben übertragen, dass es immer mehr Mindestlöhne in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Allein wegen der Leiharbeit werden 900 000 Arbeitsverhältnisse zusätzlich überwacht werden müssen. Angesichts dessen sage ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Union: Es ist schäbig, dort in den nächsten zwei Jahren lediglich eine Personalaufstockung von 100 Planstellen vorzunehmen. Dies nützt nichts, wird aber dazu führen, dass Lohndumping keine Schranken gesetzt wird und dass es tatsächlich stattfinden wird. Die IG BAU hat gesagt, dass wir tatsächlich etwa 4 800 zusätzliche Stellen brauchen, um effektiv zu kontrollieren. Bereinigen wir das und sagen wir, dass eine ordentliche Portion dazukommen muss; dann werden wir stärker sein. ({8}) Ihrerseits ist leider nicht klar geregelt worden, was geschieht, wenn ein Leiharbeitnehmer mit der neuen Lohnuntergrenze in einem Betrieb arbeitet, für den ein anderer Mindestlohn gilt. Es wäre so einfach gewesen, dafür eine Regelung in den Gesetzentwurf aufzunehmen, die besagt, der Leiharbeitnehmer bekomme im Zweifel den höheren Mindestlohn. Aber auch das ist Ihrerseits unterblieben. Liebe Kollegen und Kolleginnen, im Endergebnis werden wir die Probleme in der Leiharbeit nur dann lösen, wenn einige essenzielle Sachen geregelt werden. Dazu gehört, dass wir endlich die gleiche Bezahlung für die gleiche Arbeit durchsetzen. Anderenfalls werden weiterhin sinnvolle Stammarbeitsplätze vernichtet und in die Leiharbeit abgedrängt. Sie werden damit bewirken, dass der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik weiter wächst - mit verheerenden volkswirtschaftlichen Folgen für die Zukunft. Des Weiteren ist es sinnvoll, dass Leiharbeitsverhältnisse nicht mehr befristet durchgeführt werden können. Ihre, die vorherige Regierung in Nordrhein-Westfalen hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem festgestellt worden ist, dass eine Synchronisierung zwischen Arbeitsverhältnissen und Auftragsdauer stattfindet. Das kann und darf in der Leiharbeit nicht sein. Ein allerletzter Punkt. Die Betriebsräte in den Entleiherbetrieben brauchen endlich mehr Mitbestimmungsrechte. Betriebsräte müssen mit darüber entscheiden können, ob Leiharbeiter im Betrieb sind, wie lange sie im Betrieb sind, in welchen Abteilungen sie dort tätig sind und welche Tätigkeiten sie dort konkret ausführen. Meine Damen und Herren von der Union, Sie werden sich noch ein ganzes Stück bewegen müssen, damit die Probleme der Leiharbeit, einem prekären Arbeitsverhältnis, gelöst werden. In diesem Sinne: Strengen Sie sich an! ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Kramme, es ist schade, dass Sie sehr oft, wenn Sie an dieses Rednerpult gehen, über das nörgeln müssen, was die Regierungskoalition macht. Heute hätten Sie Grund gehabt, uns zu loben; das kann ich hier nicht anders sagen. Den drei Kategorien, die Sie genannt haben, müssten Sie eine vierte hinzufügen, nämlich die der Notwendigkeit eines Gesetzes. Das heute zu verabschiedende Gesetz ist notwendig, damit wir die Verabredungen umsetzen können, die wir mit Ihnen getroffen haben. ({0}) Natürlich können Sie jetzt hier Krokodilstränen weinen und sagen, dass sei nur die Eins-zu-eins-Umsetzung einer Verabredung. Für mich ist es schon wichtig, dass man, wenn man etwas verabredet, wenn man sein Wort gibt, dies hinterher eins zu eins umsetzt. ({1}) Das ist wichtig für die Verlässlichkeit, für das Vertrauen bei der Zusammenarbeit in der Politik, und zwar über die Grenzen zwischen Regierungskoalition und Opposition hinweg. Das, was wir heute machen, ist also gut und notwendig. Diese Debatte ist vielleicht sachlicher als andere. Sie haben trotzdem versucht, ein paar Punkte aufzuzeigen, über die wir uns hier streiten können und sollen. Nachdem die Kollegin Connemann Funktion und Bedeutung der Zeitarbeit hier wirklich eindrucksvoll beschrieben hat, will ich noch einmal sagen: Auch wir bekennen uns zu dem Instrument der Zeitarbeit. Auch nach der Krise gilt: Keine andere Branche hat so viele Arbeitsplätze geschaffen wie die Zeitarbeitsbranche. Frau Kollegin Kramme, ich muss Ihnen sagen: Die Befürchtung, am Ende einer Entwicklung würden alle Arbeitsverhältnisse in deutschen Landen nur noch Zeitarbeitsverhältnisse sein, ist wirklich unbegründet. Das können Sie auch aktuell sehen, wenn Sie sich einmal anschauen, was im Bereich der Zeitarbeit passiert. Da stellt man fest: Es gibt Grenzen des Wachstums. Die Zeitarbeitsbranche klagt plötzlich darüber, dass sie keine Arbeitnehmer mehr findet. Warum ist das im zweiten Jahr eines mittlerweile erfreulicherweise länger andauernden Aufschwungs so? Weil die Unternehmen selbst wieder Perspektiven sehen, weil sie in der Lage sind, in der eigenen Stammbelegschaft neue Stellen zu begründen, und weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vorher in der Krise über eine Zeitarbeit versucht haben, die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu schaffen, jetzt die Wahl haben. Sie können wieder zu denjenigen Unternehmen gehen, die vorher Zielunternehmen der Zeitarbeit gewesen sind. Beim konjunkturellen Auf und Ab wird es immer Phasen geben, in denen die Zeitarbeit besondere Bedeutung hat, und andere Phasen, in denen die Beschäftigung in den Zieleinsatzbranchen Oberhand gewinnt. Ihre Sorgen sind also vollkommen unbegründet; das sage ich hier deutlich. ({2}) Wir haben seit Beginn dieser Regierungskoalition konsequent daran gearbeitet, dass Zeitarbeit auf der einen Seite möglich ist, dass aber auf der anderen Seite Grenzüberschreitungen verhindert werden und wirksam bekämpft werden können. ({3}) Das war auch beim Fall Schlecker so. Dieser Fall war der Auslöser dafür, dass wir die erste Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes auf den Weg gebracht haben. Wir haben dann nachgehalten und auf aktuelle Entwicklungen reagiert. Zeitweise wurden die Beratungen zu diesem Gesetz durch die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss überlagert. Aber am Ende ist meines Erachtens etwas herausgekommen, mit dem man sehr zufrieden sein kann. Wir haben zugestimmt - auch das bitte ich Sie einmal anzuerkennen -, dass es eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit geben wird. Ob und in welchem Umfang sie notwendig sein wird, muss man abwarten. Wir haben gestern mit Herrn Weise darüber diskutiert. Er meinte, es sei für eine Antwort noch ein bisschen zu früh. In der Tendenz kann man feststellen: Ganz so groß wird der Ansturm aus Osteuropa nicht sein, wie es manche mit Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt angekündigt hatten. Das alles wird man sehen. Heute werden Kontrollinstrumente in das AÜG eingebaut, damit die Verabredungen hinsichtlich der Lohnuntergrenze wirksam kontrolliert werden können. Ich muss Ihnen sagen: Alles das halte ich für sinnvoll. Es ist eine geordnete Entwicklung, die wir mit dem Ziel betreiben, Zeitarbeit als Flexibilitätsinstrument Nummer eins oder vielleicht Nummer zwei - darüber kann man streiten - neben der befristeten Beschäftigung für die UnterDr. Heinrich L. Kolb nehmen in Deutschland zu erhalten. Das wird für uns auch künftig wichtig sein. Sie haben das Thema Equal Pay angesprochen. Jawohl, das haben wir früh thematisiert, auch als FDP. Ich bin gespannt, wie die Unternehmen jetzt mit dem Auftrag umgehen, den wir ihnen gegeben haben. Wir haben es ja in den Wochen, fast Monaten, in denen wir im Vermittlungsausschuss verhandelt haben, erlebt, wie die Unternehmen und hier vor allen Dingen die Zeitarbeitsbranche immer wieder gesagt haben: Lasst uns das machen. Wir können das viel besser als ihr. - Jetzt sind umgekehrt die Unternehmerinnen und Unternehmer der Zeitarbeitsbranche am Zuge. Jetzt wollen wir eine Lösung in Form von Zeitkorridoren oder Ähnlichem sehen, wie der Lohn der Zeitarbeitnehmer hin zu Equal Pay entwickelt wird. Wir sind da gespannt und werden uns überraschen lassen. Ich will noch sagen: Wir haben - auch das ist nicht ganz unwesentlich - eine Verlängerung der Frist für die Antragstellung für Hilfen aus dem Bildungspaket mit in dieses Paket aufgenommen. Wir unterstützen diesen Schritt nachdrücklich. Wir sind der festen Überzeugung, die Bildungschancen von Kindern sollten nicht an Fristen scheitern. Nachdem in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses der Wunsch geäußert wurde - übrigens auch von der A-Seite und den kommunalen Spitzenverbänden -, dass man die Kommunen das Ganze machen lassen soll, haben wir ihnen das ermöglicht. So wird jetzt verfahren. Wir stellen fest, dass dieser Prozess ein wenig länger dauert, als es der Fall gewesen wäre, wenn das die BA selbst gemacht hätte. Wir reagieren flexibel auf diesen Umstand und sind bereit, die entsprechenden Fristen zu verlängern. Wichtig ist, dass am Ende jungen Menschen aus Hartz-IV-Familien Bildungschancen eröffnet werden. Auch das wollten wir ja mit dieser Reform erreichen. Wir wollen nämlich keine Verfestigung von Hartz IV, sondern wir wollen dafür sorgen, dass solche Kreisläufe durchbrochen werden, dass junge Menschen sich qualifizieren können und die gleichen Chancen haben, unabhängig von dem Haushalt, in den sie hineingeboren werden. Das ist unser Ziel. Deswegen haben wir auch diesen Punkt in das Gesetz aufgenommen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Insgesamt, Frau Kollegin Kramme, handelt es sich um ein notwendiges, aber auch um ein gutes Gesetz. Sie sollten zustimmen. Dafür werbe ich bei Ihnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Connemann, wenn es Ihnen so wichtig ist, wie etwas bezeichnet wird, dann möchte ich vorschlagen, um zu einer präziseren Sprachregelung zu kommen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einfach in Arbeitnehmermietgesetz umzubenennen und Leiharbeitnehmer nicht mehr Leiharbeitnehmer, sondern Mietarbeitnehmer zu nennen. Damit hätten wir präzise Begrifflichkeiten. ({0}) Ansonsten ist zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als die zweite Beerdigung des Gleichheitsgrundsatzes bei der Entlohnung von Leiharbeitnehmern. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist jetzt gesetzlich passé. Leiharbeitnehmer können jetzt nur noch auf ihre Gewerkschaften hoffen. Gesetzlichen Schutz und staatliche Unterstützung bekommen sie nicht. Ich habe heute in der Berliner Zeitung gelesen, dass meine Gewerkschaft, die IG Metall, den Arbeitgebern ein Ultimatum mit dem Ziel gestellt hat, endlich darüber zu verhandeln, wie Lohnverbesserungen bei Zeitarbeitnehmern erreicht werden können. Ich persönlich bin stolz auf meine Gewerkschaft; denn sie ist wenigstens weiterhin an dem Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ dran. Genau das tut diese Bundesregierung nicht. ({1}) Diese Bundesregierung weiß meines Erachtens überhaupt nicht, was Gleichheit und Gerechtigkeit im Betrieb bedeuten. Eine dunkle Ahnung, was es vielleicht bedeuten könnte, bekommt man, wenn man sich vor Augen führt, was im Rahmen der Diskussion über Equal Pay am Equal-Pay-Tag gemacht wurde: Die Unterschriftenlisten wurden ja gestern offiziell übergeben. In diesem Zusammenhang fragt man sich zunächst einmal, wieso die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Verband deutscher Unternehmerinnen hier als Mitunterstützer auftreten. Wer hat die Mitglieder dieser Verbände gehindert, in ihren Betrieben gleichen Lohn für Frauen bei gleicher Arbeit einzuführen? Wieso brauchen Arbeitgeber noch eine extra Aufforderung? Sie können das doch einfach machen. ({2}) Die zweite Frage ist: Warum verabschieden wir in Deutschland Gleichstellungsgesetze und regeln gleichzeitig die Ungleichheit in allen anderen Fällen? Frauen verdienen 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Leiharbeitnehmer verdienen bis zu 50 Prozent weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Der Mindestlohn in der Leiharbeit beträgt im Westen 7,79 Euro und im Osten 6,89 Euro. Das ist nicht akzeptabel. ({3}) Wir diskutieren nachher über die Angleichung der Renten in Ost und West. Sie zementieren in Ihrem Gesetzentwurf die Ungleichheit bei den Leiharbeitern. Ich habe den Eindruck, Sie haben nicht wahrgenommen, was in den Tarifverträgen steht. Diese Ungerechtigkeit wird nämlich auf Ihre Initiative hin per Gesetz festgeschrieben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kolleginnen und Kollegen könnten möglicherweise wahrnehmen, dass wir jetzt inmitten der Debatte sind, und sie könnten ihre Nebengespräche vielleicht auf später verschieben. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es ist, wenn man vor einer namentlichen Abstimmung spricht und das Gefühl hat, es interessiert niemanden. ({0}) Zurück zum Thema Ungleichbehandlung von Menschen im Betrieb. Ich rechne einmal hoch, was die Entlohnung nach Tarif bedeutet: Ein Leiharbeitnehmer im Westen verdient nach Ihrem Vorschlag für einen Mindestlohn 1 181 Euro brutto, und ein Leiharbeitnehmer im Osten verdient 1 045 Euro brutto. Angesichts dieser Zahl ist die Gefahr groß, zum Aufstocker zu werden. Von diesem Einkommen auf nahezu Sozialhilfeniveau kann man nicht leben. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel. ({1}) Dieser Ungleichheit per Gesetz können wir im Grunde genommen nicht zustimmen. Wir als Linke werden uns in der namentlichen Abstimmung enthalten. Wir werden also nicht gegen Mindestlöhne stimmen; denn sie schützen in der Tat deutsche Arbeitnehmer und ebenfalls die Arbeitgeber in der Leiharbeit vor ausländischer Unterbietungskonkurrenz. Die Linke steht aber weiterhin zu dem Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“. Wo wir können, werden wir Gewerkschaften und andere in ihren Forderungen nach einer gleichen Entlohnung unterstützen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich bitte noch einmal, der Freude über die bevorstehende namentliche Abstimmung etwas stiller Ausdruck zu verleihen, als das bisher der Fall ist. Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/ Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Connemann, im Gegensatz zu Ihnen werde ich jetzt zu dem Gesetzentwurf reden. Wir begrüßen, dass die Kontrolle der Lohnuntergrenze in der Leiharbeitsbranche bei den Behörden der Zollverwaltung angesiedelt wird. Das gewährleistet, dass die Lohnuntergrenze effektiv und vor allem professionell kontrolliert wird - zumindest theoretisch. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss aber immer mehr Mindestlöhne kontrollieren, und auch die Zahl der Leiharbeitskräfte ist wesentlich höher als im Gesetzentwurf angegeben. Wir fordern eine realistische Personalaufstockung, damit die Theorie auch zur Praxis wird. ({0}) Wenn man den Schutz der Beschäftigten wirklich ernst nimmt, dann erkennt man: Wirkungsvolle Kontrollen der Lohnuntergrenze sind spätestens seit der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Lappalie, sondern elementar wichtig. Überhaupt nicht einverstanden sind wir aber mit der Ausgestaltung der Kontrollen hinsichtlich der sogenannten Drehtürklausel. Nach dem großen Schlecker-Skandal haben Sie, die Regierungsfraktionen, mit großem medialen Aufwand diese Drehtürklausel auf den Weg gebracht. Wenigstens die Leiharbeitskräfte, die zuvor beim Entleihbetrieb regulär angestellt waren, sollen nun Equal Pay erhalten. Das ist eh schon eine dürftige Regulierung. Umso wichtiger wären wirkungsvolle Kontrollen. ({1}) Mit diesem Gesetzentwurf übertragen Sie die Kontrolle auf die Bundesagentur für Arbeit und eben nicht auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, wie übrigens von der BA selbst angeregt wurde. Damit bleibt die Regelung in der Praxis ein zahnloser Tiger. Die Bundesagentur für Arbeit ist nicht gerade für besonders wirkungsvolle Kontrollen bekannt. Sie kann nicht gezielt kontrollieren; es fehlen ihr auch Ermittlungsbefugnisse. Anders sieht es bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit aus, die jederzeit Betriebsstätten betreten darf und auch Personen befragen kann. Der Schutz von Leiharbeitskräften und echte Regulierungsbemühungen sehen also anders aus. ({2}) Wir sehen bei der Bundesagentur für Arbeit einen Zielkonflikt. Einerseits soll sie die Leiharbeit kontrollieren. Andererseits ist sie wegen ihrer Vermittlungstätigkeit auf ein gutes Verhältnis zu den Leiharbeitsunternehmen angewiesen. Das widerspricht sich. Wir finden das äußerst problematisch. ({3}) Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, dass alle Kontrollen auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit übertragen werden. Unter dem Strich werden durch den Gesetzentwurf an manchen Stellen effektive Kontrollen verhindert. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. ({4}) Ich vermute, dass die Regierungsfraktionen die Reform der Leiharbeit mit der heutigen Abstimmung als abgeschlossen ansehen. Ich kann nur sagen: Sie, die Regierungsfraktionen, haben sich lediglich von der öffentlichen Empörung über den Schlecker-Skandal treiben lassen und kosmetische Korrekturen vorgenommen. Das Ergebnis der sogenannten Reform ist deshalb halbherzig und reicht bei weitem nicht aus. ({5}) Wir Grüne bleiben nicht wie Sie auf halbem Wege stehen. Die Lohnuntergrenze ist uns zu wenig; denn verbessert wird nicht die Situation der Leiharbeitskräfte. Wir fordern weiterhin gleichen Lohn für gleiche Arbeit, einen Bonus in Höhe von 10 Prozent, die Wiedereinführung des Synchronisationsverbotes und mehr Rechte für Betriebsräte. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden nicht lockerlassen; denn Leiharbeitskräfte haben ein Recht auf faire Entlohnung und ein Mindestmaß an Sicherheit. ({6}) Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern und Zukunftschancen eröffnen. Daran orientiert sich grüne Politik. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Paul Lehrieder spricht für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0}) Einige Kollegen werden der Rede im Stehen folgen. Das wird bestimmt eine Besonderheit sein.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zum Schluss Ihrer Rede haben Sie die Vermutung geäußert, dass für die Regierungskoalition nach Ihrer - leider irrigen Auffassung mit dem Thema Zeitarbeit Schluss sei. Dem ist nicht so. Wir haben noch ein Problem zu lösen, und zwar Equal Pay. ({0}) Wir stehen im Wort. Sie werden sehen, dass wir auch für dieses Problem eine Lösung finden werden. ({1}) Wir werden die Entwicklungen ein Jahr lang beobachten. Dann werden wir sehen, ob die Tarifvertragsparteien zu einer Lösung kommen oder ob wir selber etwas tun müssen. ({2}) Heute, rund 14 Tage nach der ersten Beratung, befassen wir uns abschließend mit dem Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes. Darin wird deutlich, dass unsere Politik, die Politik der christlich-liberalen Koalition, keine Politik der leeren Worte ist. Wir halten unser Wort. Wir setzen unsere Versprechen zügig um und handeln dort, wo Handlungsbedarf besteht. ({3}) Ich möchte ganz bewusst darauf hinweisen, dass wir im Bereich der Leiharbeit allein im Jahr 2011 über die Drehtürklausel, über die Einführung eines Mindestlohns und nunmehr mit dem heutigen Gesetz über die Überwachung der Einhaltung des Mindestlohnes auch in der Leiharbeit richtige Gesetze, Arbeitnehmerschutzgesetze, verabschiedet haben. Gerade habe ich mir meine Stimmkarten abgeholt. Ich habe mir zwei blaue Karten geholt. Bei den Grünen sehe ich ein paar weiße Karten. Im linken Block des Hauses sehe ich etliche rote Karten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie immer die Arbeitnehmerrechte - völlig zu Recht - hochhalten: Noch ist es Zeit, Ihre Karten zu tauschen. Gehen Sie an die Fächer! Holen Sie sich blaue Karten, wenn es Ihnen mit dem Arbeitnehmerschutz ernst ist. ({4}) Durch die Öffnung der Grenzen am 1. Mai dieses Jahres - vor nunmehr gut drei Wochen - bestand im Bereich der Leiharbeit Handlungsbedarf. Gerade in dieser Branche galt es, Lohndumping zu verhindern. Deshalb haben wir am 24. März dieses Jahres auch einen branchenspezifischen Mindestlohn für die Zeitarbeit eingeführt und werden heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für einen wirkungsvollen Kontroll- und Sanktionsmechanismus stimmen. Die erwartete Einwanderungswelle europäischer Arbeitnehmer blieb aus. Wir wurden nicht - wie von einigen Kollegen in diesem Hause, gerade aus der Opposition, als Zerrbild an die Wand gemalt - von ganzen Kohorten arbeitswilliger Mitbürger aus osteuropäischen Ländern überrollt. Allerdings ist es den neuen Regelungen für die Leiharbeit zu verdanken, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit als große Chance zu sehen ist: als Mittel gegen den Fachkräftemangel, als Maßnahme gegen die in vielen Handwerksbranchen bereits existierende Azubi-Lücke und als willkommenes Arbeitskräftepoten12702 zial mit Blick auf derzeit immerhin über 1 Million offene Stellen in Deutschland. Meine Damen und Herren, ich wünsche unserer Arbeitsministerin, Frau von der Leyen, an dieser Stelle gute Besserung; ich hoffe, dass die Hand gut verheilt, damit sie tatkräftig, wie wir es von ihr kennen, weiterarbeiten kann. ({5}) Frau von der Leyen stellt ganz deutlich heraus: Die Frage ist nicht, ob wir es zulassen, dass Arbeitskräfte zu uns kommen; vielmehr ist die Frage, ob sie trotz der Sprachbarriere nach Deutschland kommen wollen, wenn sie noch fünf andere Angebote haben. Gehen Sie einmal nach Warschau, Stettin oder Prag und schauen Sie, welche Sprachkurse dort angeboten werden, ob es mehr Deutsch- oder Englischkurse sind. Überlegen Sie sich dann, ob wir tatsächlich die Chance haben, qualifiziertes Personal - wir brauchen es sicherlich auch in Zukunft aus diesen Ländern zu bekommen. ({6}) Wir müssen uns um Fachkräfte in unserem Land bemühen. Nach Hochrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden wir bereits im Jahr 2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte zu wenig haben. Bei der Lösung dieses Problems ist es wichtig, dass wir uns in erster Linie auf Potenziale im Inland konzentrieren. Dazu gehört ein vernünftiges Ausschöpfen der Potenziale des Alters - wir haben beim vorherigen Tagesordnungspunkt zur Rente mit 67 darüber geredet -, der Frauenerwerbstätigkeit - da haben wir in Deutschland noch ein großes Arbeitskräftepotenzial -, der Arbeitslosigkeit bzw. Langzeitarbeitslosigkeit, wo wir einiges tun können, aber sicherlich auch der Zuwanderung. Jedoch werden wir unseren Bedarf nicht vollständig über die Potenziale im Inland decken können. Wir brauchen ausländische Fachkräfte in unserem Land, und zwar bereits jetzt, wo wir, wie ich bereits ausgeführt habe, auf 1 Million offene Stellen verweisen können. Kommen wir zurück zur Leiharbeit. Wir sind in einer Zeit angelangt, in der wir jede arbeitende Hand in der Bevölkerung brauchen, in der wir jeder Hand die Möglichkeit geben müssen, zu arbeiten. Wir werden heute mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs das Richtige zur Verbesserung der Kontrollmechanismen in der Leih- und Zeitarbeit auf den Weg bringen. Mein Appell geht nochmals an die Opposition: Tauschen Sie ganz schnell Ihre Stimmkarten. Es ist ein gutes Gesetz. Stimmen Sie dem Gesetz zu! Sie tun damit etwas Verantwortungsvolles für die Bevölkerung in unserem Lande, für die Zuschauer auf der Tribüne und an den Fernsehgeräten. Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die deutschen Arbeitnehmer und für die zu uns kommenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahr.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin am Ende meiner Rede. - Ich bedanke mich für Ihr geduldiges Zuwarten und wünsche Ihnen jetzt eine weise Entscheidung bei der namentlichen Abstimmung. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp- fungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/5960, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5761 anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Gegenstimmen hat es nicht gegeben. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent- halten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit - das sind 311 Stimmen - erforder- lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Im An- schluss daran erfolgt eine einfache Abstimmung über ei- nen Entschließungsantrag. Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab- stimmung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? - Dann schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab- stimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze wieder einzunehmen, damit ich bei der nächsten Abstim- mung den Überblick behalten kann. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5963. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Frak- tion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. 1) Ergebnis Seite 12704 D Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 4 auf: 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleiches Rentenrecht in Ost und West - Drucksachen 17/5207, 17/5961 Berichterstattung: Abgeordnete Silvia Schmidt ({1}) ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland - Drucksachen 17/4192, 17/5962 Berichterstattung: Abgeordneter Frank Heinrich Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke wird später namentlich abgestimmt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({3})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir das Thema Rente aufgreifen. In zweiter und dritter Lesung behandeln wir heute die Anträge der Grünen und der Linkspartei. Ich möchte die Haltung der CDU/CSU-Fraktion und der Koalition beschreiben: Wir befinden uns auf dem Weg. Sie wollen zwar, dass wir schneller vorankommen, fest steht aber, dass wir auf dem Weg sind. Der Koalitionsvertrag ist an dieser Stelle eindeutig. Fraktionsübergreifend wollen wir ein einheitliches Rentensystem einführen. Jedoch ist dies - das habe ich bereits in den vorherigen Sitzungen gesagt - eine sehr komplexe, äußerst sensible Materie. Es gilt, die Interessen von Jung und Alt - das hatten wir in der vorherigen Debatte -, Ost und West, Stadt und Land zu berücksichtigen. Das lässt sich nicht auf eine reine Ost-West-Thematik reduzieren. Derzeit besteht ein System, das sich in einem guten Gleichgewicht befindet, zumindest ein sehr gutes Fundament darstellt. Das geltende Rentenrecht und die umlagefinanzierte Rente sind durch die Einheit erst möglich geworden. Der gegenwärtige Stand sieht so aus: Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den Löhnen. Der Rentenwert Ost nähert sich in dem Maße dem Rentenwert West an, in dem sich die Verdienste der Beschäftigten in Ost und West annähern. Der Durchschnittslohn Ost hat mittlerweile 85 Prozent des Durchschnittslohns West erreicht. In Klammern füge ich hinzu: Daran gibt es zwar viel zu kritisieren, das ist heute aber nicht Gegenstand der Debatte. Demgegenüber hat sich der aktuelle Rentenwert Ost bereits bis auf 89 Prozent an den Rentenwert West angenähert. Das ist aber immer noch zu wenig; deshalb machen wir uns auf den Weg. Die Entgeltberechnung im Osten war mit der Hoffnung auf konstantere Lohnsteigerungen verbunden. Ich erinnere mich, dass ich um die Wendezeit mit Freunden darüber diskutiert habe. Damals war ich der festen Überzeugung, dass wir 15 Jahre brauchen, bis wir die Lohnangleichung sowie als Folge davon die Rentenangleichung erreicht haben. Die Lohnsteigerung ist jedoch ins Stocken geraten. Die Angleichung wird daher notwendig. Die Gleichbehandlung von Ost und West steht für uns im Vordergrund. Darum wird der Wille, einheitliche Rentenwerte einzuführen, auch im Koalitionsvertrag erklärt. Auf dem Weg dahin wollen wir konsensorientiert vorgehen. Ich möchte aus einer Regierungspressekonferenz zitieren, die vor kurzem zu diesem Thema stattgefunden hat. Ich zitiere Herrn Staatssekretär Seibert: Wenn man etwas gleich Gutes an diese Stelle setzen will, dann bedeutet dies, dass möglichst alle mit im Boot sein müssen, damit es für die eine oder andere Seite nicht zu Nachteilen kommt. Diesen Konsens, diese Kompromissbereitschaft, dieses gemeinsame Vorgehen ins Werk zu setzen, ist ein größeres Vorhaben, an dem fortlaufend gearbeitet wird. Die Schlussfolgerung daraus ist - an dieser Stelle lese ich weiter -: Vielmehr gilt es, mit ostdeutschen Ministerpräsidenten zu reden, aber auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zu berücksichtigen. Es bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses und einer gesamtgesellschaftlichen Bereitschaft, da gemeinsam voranzugehen. Das beschreibt, in welcher Breite und mit welcher Sensibilität wir dieses Thema angehen müssen, damit es - nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in diesem Land - akzeptiert wird. ({0}) Das Ziel ist die Angleichung des Rentenwertes, ohne die Bestandsrenten zu mindern und ohne die bereits erarbeiteten Anwartschaften zu verschlechtern. Deshalb ist das Anliegen berechtigt. ({1}) Danke, dass Sie für dieses einheitliche Recht Sorge tragen. Danke für dieses gerechtfertigte Anmahnen. Aber wir sind auf dem Weg; deshalb nehme ich dazu Stellung. Danke für einige der Vorschläge in Ihrem Antrag. Von diesen halten wir weit mehr als von den Vorschlägen und Anträgen, die wir von der linken Seite des Parlaments bekommen. Es geht dabei zum einen um die Anhebung des aktuellen Rentenwerts Ost und der Beitragsbemessungsgrenze Ost auf die Höhe der Westwerte und zum anderen um die Reduzierung der Hochwertungsfaktoren für die Ermittlung der in Ostdeutschland in der Vergangenheit erworbenen Entgeltpunkte, aber so, dass sich die daraus resultierenden Rentenansprüche nicht ändern. Es darf am Schluss keine Benachteiligung entstehen, auch nicht auf Westseite. Wir wollen eine einheitliche Berechnung der Entgeltpunkte für die Zukunft und den Wegfall der Hochwertung der Ostentgelte. Das, was Sie als Linke in Ihrem Antrag vorschlagen, ist nicht mit uns zu machen. Sie fordern eine Angleichung des Rentenwertes Ost an den Rentenwert West und gleichzeitig die Beibehaltung der Hochwertung. ({2}) Das würde zu neuen gravierenden Ungerechtigkeiten und sehr weitreichenden Verwerfungen führen. Das können wir nicht verantworten. ({3}) Ich möchte noch kurz ansprechen, dass wir baldmöglichst zu einem einheitlichen Rentensystem kommen wollen. Wir denken, dass es schon aus politischen Gründen - wir leben in einem vereinigten Land, in dem der Grundsatz existiert, dass wir ein einheitliches Rechtssystem haben - nicht bei der Regelung bleiben darf, die wir im Moment haben. Deshalb stimmen wir dem Vorschlag der Grünen nicht zu. Wir haben ein Problem mit diesem einen Begriff, der in Ihrem Vorschlag genannt wird. Darüber haben wir diskutiert. Bezüglich der Garantierente sind wir noch nicht ganz nah bei euch. Ich möchte dazu Folgendes sagen: Wir sind für eine gleiche Berechnung der Rentenwerte mit gleichen Rentenpunkten und möchten und werden ein eigenes Konzept ({4}) inklusive Zeitplan in dieser Legislaturperiode vorlegen. Wir haben von der Mitte der Legislaturperiode gesprochen; diese ist im September erreicht. Das heißt, dann werden Sie von uns hören. ({5}) Das Konzept wird ausgewogen, nah am Konsens und finanziell durchdacht sein. Wir werden heute die beiden vorliegenden Anträge aus den genannten Gründen ablehnen. ({6}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich darf die Aussprache kurz unterbrechen, um Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, Drucksachen 17/5761 und 17/5960, bekannt zu geben: abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 450, Enthaltungen 124. Zur Annahme des Gesetzentwurfes ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit, das sind 311 Jastimmen, erforderlich. Der Gesetzentwurf hat die erforderliche Mehrheit erhalten. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 574; davon ja: 450 enthalten: 124 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Eberhard Gienger Michael Glos Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({7}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({8}) Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer olms Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({9}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({10}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({11}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({12}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({13}) Anita Schäfer ({14}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({15}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({16}) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({17}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Bernd Siebert Johannes Singhammer Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({18}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({19}) Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Kai Wegner Marcus Weinberg ({20}) Peter Weiß ({21}) Sabine Weiss ({22}) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({23}) Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({24}) Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({25}) Kerstin Griese Michael Groß Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({26}) Hubertus Heil ({27}) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({28}) Frank Hofmann ({29}) Dr. Eva Högl Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({30}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({31}) Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Petra Merkel ({32}) Dr. Matthias Miersch Andrea Nahles Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Mechthild Rawert Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Stefan Rebmann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({33}) ({34}) Axel Schäfer ({35}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({36}) Werner Schieder ({37}) Silvia Schmidt ({38}) Carsten Schneider ({39}) Swen Schulz ({40}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Christoph Strässer Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Waltraud Wolff ({41}) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({42}) Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke olms Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({43}) Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({44}) Sibylle Laurischk Sabine LeutheusserSchnarrenberger Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({45}) Michael Link ({46}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({47}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({48}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({49}) Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Johannes Vogel ({50}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({51}) Enthalten DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Katja Kipping Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Michael Leutert Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({52}) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({53}) Volker Beck ({54}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({55}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Markus Kurth Undine Kurth ({56}) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller ({57}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({58}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Dr. Valerie Wilms Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({59}) Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8 fort. Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der SPD-Fraktion. ({60})

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 5 Millionen ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen erkennen die unglaubliche, gewaltige Leistung der Herstellung der Einheit durchaus an. Für diese unglaubliche Leistung sind sie ausgesprochen dankbar. Aber es geht auch um Gerechtigkeit. Es geht um die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse, um die Anerkennung der Lebensarbeitszeit. Das Angleichungsgebot des Art. 30 Abs. 5 Satz 3 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 zielt auf die Angleichung der Rente in den alten und neuen Ländern und damit auf die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse für die Rentner und Rentnerinnen über die Angleichung der Löhne und Gehälter. ({0}) Gerade in den letzten Jahren ist die Angleichung der Löhne und Gehälter zum Stillstand gekommen. Der Unterschied im Lohnniveau zwischen Ost und West ist größer als der Unterschied im Lohnniveau in den alten Ländern zwischen Nord und Süd. Die fehlende Tarifbindung im Osten verhindert, dass die Angleichung wie im öffentlichen Dienst und in einigen wenigen tarifgebundenen Branchen fortgesetzt wird. Im Osten arbeiten immerhin noch 40 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnbereich und viele ohne Tarifbindung. ({1}) Die Höherwertung der ostdeutschen Durchschnittslöhne ist deshalb nach wie vor wichtig, ({2}) auch um dem Ziel des Einigungsvertrages gerecht zu werden. Unterschiedliche Rentenwerte sind nicht mehr vermittelbar. Sie führen seit Jahren zu Ungerechtigkeiten. Den Ostdeutschen fehlen 11 Prozent ihrer Rente; für den sogenannten Eckrentner Ost sind das 139 Euro im Monat. Es kann niemand erwarten, dass man auf dieses Geld verzichtet. Eine Lösung dieses Problems ist schwierig. Sie wird auch nicht über Nacht erfolgen. Aber jedes weitere Jahr ohne Angleichung und ohne unterstützende Maßnahmen wie Mindestlohn und aktive Arbeitsmarktpolitik im Osten kostet uns viel Geld. ({3}) Es geht um die Lebensarbeitsleistung und die unterschiedlichen Lebensverläufe, ganz besonders um die der Frauen. Was kann schnell getan werden? Zum Beispiel - ich habe es schon beim letzten Mal gesagt -: dieselbe Anrechnung und Bewertung der Kindererziehungszeiten, der Pflege und des Wehr- und Zivildienstes. Ich habe auch schon einmal gesagt: Niemandem kann heute noch erklärt werden, warum die Versicherungszeiten unterschiedlich bewertet werden. Pflege ist in Ost und West gleich, Kindererziehung ebenso. Damit wären wir mit Sicherheit einen Schritt weiter. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man kann die Debatte zur Rentenangleichung nur auf der Basis der Alterseinkommen führen; denn die Rente als Säule der Alterssicherung ist in den alten Bundesländern völlig anders aufgestellt als im Osten. ({4}) Zur Gruppe der westdeutschen Rentner, vor allem der Männer, zählen auch Beamte und Selbstständige. Sie haben zum Teil nur kurze Versicherungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und beziehen ihr wichtigstes Alterseinkommen aus anderen Systemen wie der Beamtenversorgung, der berufsständischen Versorgung und der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Über die Hälfte der Männer in den alten Ländern mit einer monatlichen Rente von unter 300 Euro bezieht gleichzeitig eine Beamtenpension. Betriebsrenten sind in der jetzigen Rentnergeneration im Osten kaum vorhanden. In den alten Ländern haben nur 7 Prozent der Frauen und über 30 Prozent der Männer eine betriebliche Altersvorsorge; Tendenz steigend, auch im Osten. In den neuen Ländern gibt es kaum Nebeneinnahmen, weder aus Vermietung oder Verpachtung noch aus Zinsen. Hier leben fast alle Rentner und Rentnerinnen ausschließlich von der gesetzlichen Rentenversicherung. So viel zum aktuellen Stand. Wir kennen natürlich die Vorwürfe, die nicht nur die Presse, sondern auch der Bundesrechnungshof erhebt. Es heißt, dass Beschäftigte, die bereits jetzt 100 Prozent des Westniveaus verdienen, durch die Höherwertung in Zukunft profitieren. Das ist richtig. Würde man aber den Höherwertungsfaktor generell wegnehmen und nur eine rein formale Angleichung durchführen, würden sich alle Rentner und Rentnerinnen dagegen wehren; denn dann müssten sie generell auf 11 Prozent ihrer Rente verzichten. Das kann man, wenn man Gerechtigkeit will, nicht hinnehmen. ({5}) Herr Sellering, der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, sagte kürzlich in einem Interview mit der Schweriner Volkszeitung zu dem Vorschlag Ihrer Partei: Das ist ein gefährlicher Vorschlag, der unter dem Deckmantel einer Angleichung die Benachteiligung der Ostdeutschen bei der Rente dramatisch vergrößern würde. ({6}) Auch der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Herr Haseloff, hat aufgezeigt, dass er zum Beispiel den Versuch der FDP in Baden-Württemberg in dieser Richtung verhindert hat. Er hat es so begründet: Noch immer tragen die Ostdeutschen stärker die Folgelasten aus der deutschen Geschichte. Sicherlich müssen wir irgendwann dazu kommen, die Rentenberechnungen in Ost und West anzugleichen und die Systeme zu vereinheitlichen. Beide sind kluge Männer. Ich möchte Sie nur daran erinnern: Wir hatten den 17. Juni 1953. Arbeiter in Ostdeutschland haben sich gegen Panzer gestellt. Ich erinnere an die Opfer der Mauer, ich erinnere an die Opfer der Stasi, und ich erinnere Sie an die friedliche Revolution. Wir können also nicht nur jeden Jahrestag feiern und sagen, wie wichtig das für unsere Geschichte war, ({7}) sondern die Bürger und Bürgerinnen, die Rentner und Rentnerinnen erwarten auch Respekt, Anerkennung, Gerechtigkeit und vor allem Demokratie, für die sie eingetreten sind. Ich gebe den Ministerpräsidenten völlig recht: Sie können den Bestandsrentnern eine Angleichung nicht ohne Verbesserung anbieten. Es gab in der DDR eben keine Möglichkeit, die Renten aufzuwerten. Ich habe das gerade erzählt: Wir hatten eine Diktatur. Es war ausgesprochen schwierig, hier noch etwas zu tun. Diese Menschen kann man also auch verstehen. Für mich enthält der Antrag der Linken natürlich ein sehr sympathisches Modell, das muss ich so sagen, ({8}) aber das wird sehr viel kosten, und das muss man durchrechnen. Ich möchte nur noch kurz anmerken, was unsere Ideen sind: Wir sind der Meinung, dass die Rentenangleichung bis zum Auslaufen des Solidarpakts im Jahre 2019 abgeschlossen sein muss. Das ist eine lange Zeit; ich weiß. Wir müssen die Lebensarbeitsleistung der Menschen in den neuen Bundesländern anerkennen, und wir wollen auch die zukünftigen Rentner und Rentnerinnen nicht belasten. Wir werden auf alle Fälle - auch das habe ich schon einmal gesagt - den Vorschlag eines Härtefallfonds einbringen, und zwar bis zur Sommerpause. Gleichzeitig wollen wir die Zeiten der Kindererziehung, der Pflege, des Wehr- und Zivildienstes schnellstmöglich anpassen. Auch hierzu werden wir Anträge vorlegen. Daneben arbeitet die Alterssicherungskommission in unserem Parteivorstand. Ottmar Schreiner als Vorsitzender sucht hier mit nach Lösungen. Herr Heinrich, Sie haben recht: Es ist nicht alles leicht. Das ist ein mühseliges Unterfangen, und man kann den Vätern der Einheit nicht vorwerfen, dass sie diese Rentenangleichung nicht gewollt haben. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist, dass wir endlich auch die Löhne in den neuen Bundesländern angleichen. Wir dürfen uns nicht noch einmal solche Fehlentwicklungen leisten wie zum Beispiel die, den Mitarbeitern in der Pflege in den neuen Bundesländern nur 7,50 Euro und in den alten Bundesländern 8,50 Euro anzubieten. Dadurch haben wir hier im Voraus schon wieder eine neue Ungerechtigkeit geschaffen, was sich später natürlich auch in den Renten niederschlagen wird. ({9}) Das darf nicht sein. Wir brauchen einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Ost und West. ({10}) Die Rentenversicherung alleine wird dieses Problem nicht lösen. Wir wissen, das ist eine Frage der Gerechtigkeit, wir wissen, das ist eine Frage der Einheit, und wir wissen, das ist auch eine Frage der Steuermittel. Wir basteln Rettungsschirme für die einen, und natürlich haben die Bürger und Bürgerinnen auch die Erwartung, dass man auch Rettungsschirme für die anderen errichtet. Ich danke Ihnen vielmals. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir in dieser Legislaturperiode, also bis zum Jahr 2013, ein einheitliches Rentensystem einführen werden. ({0}) Viele Menschen warten darauf, und es gibt auch viele Stimmen, die skeptisch sind, ob das gelingen kann. Ich aber bin zuversichtlich und spreche für meine Kollegen der Bundestagsfraktion und auch für die Kollegen der Union, wenn ich sage, dass wir diese Skepsis durch unser Handeln werden widerlegen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, wir werden Ihrem Antrag heute trotzdem nicht zustimmen; denn darin sind einige Überlegungen enthalten, die wir nicht teilen. Darauf gehe ich am Ende meiner Rede gerne noch ein. Ich möchte daran erinnern, dass wir als FDP-Bundestagsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt haben, der eine Vereinheitlichung des deutschen Rentenrechts zum Ziel hatte. Inhalt war - das halten wir auch weiterhin für richtig -, dass in ganz Deutschland ein einheitliches Rentenrecht eingeführt wird: mit einem einheitlichen Rentenwert, einheitlichen Entgeltpunkten und einer einheitlichen Beitragsbemessungsgrenze. Ausgehend von einem bestimmten Stichtag würden sich dann alle Renten, in Ost und West, entsprechend der Entwicklung des einheitlichen Rentenwerts anpassen. Jeder Euro Rentenbeitrag würde ab diesem Stichtag im ganzen Bundesgebiet den gleichen Rentenanspruch bedeuten. ({1}) Bisherige Ansprüche und Regelungen würden selbstverständlich unberührt bleiben. Ich bin sehr froh, dass das Ziel der Schaffung eines einheitlichen Rentenrechts Eingang in unseren Koalitionsvertrag gefunden hat und dass wir das Thema in dieser Legislaturperiode umsetzen werden; denn es besteht, wie gesagt, in der Tat Handlungsbedarf. Über 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist es an der Zeit, dass wir die deutsche Einheit auch im Rentenrecht verwirklichen. ({2}) Die aktuelle Gesetzgebung führt dazu, dass sich Versicherte in Ost und West gleichermaßen benachteiligt fühlen. Die Versicherten im Westen sind wegen der Hochwertung der im Osten gezahlten Beiträge um über 18 Prozent unzufrieden und fühlen sich dadurch benachteiligt. Die Versicherten im Osten fühlen sich durch den niedrigeren Rentenwert benachteiligt. Zwar wurden die Renten in den neuen Bundesländern durch die Wiedervereinigung und das Rentenüberleitungsgesetz enorm aufgewertet; allerdings liegt auch heute noch der sogenannte Rentenwert Ost rund 12 Prozent unter dem Rentenwert West. Das bedeutet, dass ein Jahr durchschnittlicher Rentenbeitrag im Westen noch über 12 Prozent mehr Wert hat als in den neuen Bundesländern. ({3}) Daraus ergibt sich, dass der sogenannte Eckrentner - ein Versicherter, der 45 Jahre lang mit Durchschnittsbeiträgen in die Rentenversicherung eingezahlt hat - im Westen eine Standardrente bzw. eine Eckrente in Höhe von 1 224 Euro erhält, im Osten jedoch nur von 1 085,85 Euro. Diese Standardrente bzw. Eckrente ist aber nicht mit der Durchschnittsrente zu verwechseln. Die Durchschnittsrente - auch dazu möchte ich etwas sagen - ist im Osten zwar um etwa 100 Euro höher als im Westen; das hat jedoch auch historische Gründe. In den alten Bundesländern ist eine größere Zahl von Kleinstrenten eingerechnet. Das sind Renten von Menschen, die nur kurze Zeit Mitglied der Rentenversicherung waren und danach beispielsweise selbstständig wurden oder in den Beamtenstatus gekommen sind. Diese Menschen sorgen für eine Reduzierung der Durchschnittsrente, sind aber in der Regel im Alter gut versorgt. Solche Kleinstrenten gibt es in den neuen Bundesländern jedoch bis heute kaum. Der Grund dafür ist, dass in der ehemaligen DDR alle Menschen im Angestelltenstatus arbeiteten und daher auch komplett von der deutschen Rentenversicherung erfasst werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wie vorhin bereits erwähnt, liegt Ihr Antrag nicht allzu weit von unseren Vorstellungen entfernt. ({4}) Ihrem Vorschlag einer Garantierente werden wir aber unsere Zustimmung nicht geben können. ({5}) Ihnen schwebt ein anderes Rentenrecht vor, als wir es seit Jahrzehnten sehr erfolgreich und mit hoher Anerkennung seitens der Bevölkerung haben. Die Einführung einer Garantierente würde das Äquivalenzprinzip verletzen und zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Das und damit auch Ihren Antrag lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Birkwald von der Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Eines möchte und muss ich vorab klarstellen: Bei der Angleichung der ostdeutschen Renten an das Westniveau geht es um Gerechtigkeit und nicht um Almosen. ({0}) Es muss gelten: Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie wollen ein gleiches Rentenrecht für Ost und West einführen und möchten damit Gerechtigkeit schaffen. Gut gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht; denn Ihr Vorschlag zur Umsetzung ist leider schlecht. ({1}) In Wahrheit festigt Ihr Vorschlag das bestehende Zweiklassensystem des Rentenrechts, und das ist ungerecht. Dem wird die Linke auf keinen Fall zustimmen. ({2}) Nach Ihrem Vorschlag würden alle bisherigen ostdeutschen Rentenpunkte so in westdeutsche Rentenpunkte heruntergerechnet, dass der tatsächliche Rentenanspruch um keinen Cent steigt. ({3}) Damit blieben die bisher erworbenen Rentenanwartschaften - auch bei der jungen Generation - bei gleicher Lebensleistung dauerhaft um 11 Prozent gekürzt. Was ist denn daran gerecht? Gar nichts! ({4}) Die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau war ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Das ignorieren Sie völlig, und das ist nicht akzeptabel. Ihr Denkfehler liegt klar auf der Hand. Sie, lieber Kollege Strengmann-Kuhn, haben gegenüber der BildZeitung davon gesprochen, dass ja die Osteinkommen denen im Westen nahezu angeglichen seien. Das ist falsch; die Kollegin Schmidt hat darauf bereits hingewiesen. Die Friseurin in Dresden verdient noch immer deutlich weniger als die Friseurin in Köln. Sie haben gegenüber diesem Blatt auch behauptet, es gebe ja auch keinen Ausgleich zwischen Bayern und Schleswig-Holstein. Mit Verlaub, das ist ignorant. Sie lassen dabei nämlich schlicht außer Acht, dass selbst Brandenburg als einkommensstärkstes ostdeutsches Bundesland bei den Löhnen und Gehältern deutlich abgeschlagen hinter Schleswig-Holstein als dem einkommensschwächsten westdeutschen Bundesland zurückfällt. Das sind die Tatsachen. Wenn Sie diese Tatsachen weiter verdrehen, heizen Sie die Neiddebatte zwischen Ost und West weiter an. Das können Sie doch nun wirklich nicht wollen. ({5}) Bleiben Sie also bitte bei den Tatsachen! Die Grünen müssen endlich lernen, die Lebenswirklichkeit der Menschen in Ostdeutschland und ihr Empfinden ernst zu nehmen. ({6}) Die Ausgangslage ist ja bekannt. Wenn zum 1. Juli die Renten um 1 Prozent steigen, bleibt der aktuelle Rentenwert für Ostdeutsche mit 24,37 Euro weiterhin um 11 Prozent geringer als der Rentenwert für Westdeutsche mit 27,47 Euro. ({7}) Das hat bittere Folgen: Nach 45 Jahren durchschnittlichem Verdienst erhalten Ostdeutsche 140 Euro weniger Rente als Westdeutsche. Im Klartext heißt das: Die wirtschaftliche Lebensleistung der Ostdeutschen wird in der Rentenversicherung schlechter bewertet als die der Westdeutschen, und das schon seit über 20 Jahren. Doch statt zu handeln, betreiben seit der Wiedervereinigung alle Bundesregierungen Sankt-Nimmerleins-Politik. Erinnern wir uns: Die Angleichung war ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Die Linke will, dass es jetzt endlich eingelöst wird. ({8}) Die Linke greift mit dem vorliegenden Antrag eine Lösung auf, die von den Gewerkschaften Verdi, GEW, Transnet, der Gewerkschaft der Polizei und den Sozialverbänden Volkssolidarität, dem Sozialverband Deutschland und dem Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner und Hinterbliebenen entwickelt worden ist und überzeugend vertreten wird. Nach unserem Vorschlag muss eine gerechte Angleichung erstens zu einer deutlichen Verbesserung für alle heutigen Rentnerinnen und Rentner führen; ({9}) denn die Alterseinkünfte sind im Osten 18 Prozent geringer als im Westen. ({10}) Das liegt vor allem daran, dass die gesetzliche Rente bei den Ostdeutschen mehr als 90 Prozent ihres gesamten Alterseinkommens ausmacht. Zweitens. Die Hochwertung der ostdeutschen Löhne und Gehälter muss - darauf wurde eben hingewiesen als pauschaler Nachteilsausgleich beibehalten werden, und das, obwohl sich die Tariflöhne angleichen. Warum? Knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Ostdeutschland arbeitet nämlich ohne Tarifvertrag, und die durchschnittlichen Löhne und Gehälter liegen an der Saale und der Oder nach wie vor ein Viertel unter denen am Rhein und an der Isar. Außerdem müssen Ostdeutsche für einen fast gleichen Lohn oft länger arbeiten und auf im Westen übliche Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld oder Weihnachtsgeld verzichten. Die bloße Angleichung der Tariflöhne sagt also nichts über die tatsächliche Ungleichbehandlung aus. Ohne eine Hochwertung würde der Eckrentner Ost - dieser ist eben vom Kollegen Kober erwähnt worden - heute nur knapp 700 Euro Rente erhalten. Das geht nicht. ({11}) Drittens. Die Angleichung soll bis 2016 abgeschlossen sein. Die Linke, Verdi, die Volkssolidarität und andere schlagen dafür einen steuerfinanzierten, stufenweise steigenden Zuschlag vor. Viertens. Die Angleichung der Renten im Osten an das Westniveau darf nicht gegen eine vernünftige Lohnund Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland ausgespielt werden. Die Rentnerin in Cottbus ist nicht weniger wert als der Rentner in Kiel. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Richtig, Herr Birkwald, der Rentenwert Ost liegt immer noch deutlich unter dem Rentenwert West, nämlich ab 1. Juli bei 24,37 Euro im Vergleich zu 27,47 Euro. Dieser Zustand muss so schnell wie möglich beseitigt werDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn den, weil er ungerecht ist und von den Ostdeutschen zu Recht als diskriminierend empfunden wird. ({0}) Sie haben jedoch verschwiegen, dass Sie das nicht schnell beseitigen wollen, sondern sich fünf Jahre Zeit lassen wollen, um diese Lücke zu schließen. Bei der SPD ist das noch viel schwammiger. Da war davon die Rede, man müsse erst einmal abwarten, bis sich die Löhne angeglichen hätten. Das ist das Warten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei der CDU heißt es: Wir haben uns auf den Weg gemacht. - Die Ministerin hat jedoch bisher noch nichts vorgelegt, und auch die Koalitionsfraktionen haben noch nichts vorgelegt. Ich sehe diesen Weg noch nicht. Wenn unser Antrag dazu führt, dass sich die Prozesse bei Ihnen beschleunigen - das fänden wir sehr richtig -, dann hat es sich gelohnt, diesen Antrag einzubringen. ({1}) Für uns sind folgende Dinge wichtig: Erstens. Der Rentenwert Ost muss auf den Rentenwert West angehoben werden, und zwar so schnell wie möglich. Zweitens. Wir wollen einen Vorschlag machen, der finanzierbar und schnell umsetzbar ist, damit wir dieses Ziel erreichen. Drittens. Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten entstehen. Viertens. Mitbedacht werden muss, dass schon jetzt die Altersarmutswelle anfängt zu rollen, und zwar insbesondere im Osten Deutschlands. Vor kurzem wurde eine neue Studie vorgelegt, die zeigt, dass die Rentenansprüche der Neurentnerinnen und -rentner seit ein paar Jahren sinken. Insbesondere im Osten wird das besonders der Fall sein. Deswegen ist uns die Forderung nach Einführung einer Garantierente sehr wichtig, weil dies insbesondere die Rentnerinnen und Rentner im Osten vor Altersarmut schützt. ({2}) Zu unserem Vorschlag: Erstens. Wir schlagen vor, den Rentenwert Ost auf den Rentenwert West zum nächstmöglichen Zeitpunkt anzuheben. Das ist, wenn man die Umsetzung bei der Rentenversicherung mit berücksichtigt, wahrscheinlich zum 1. Juli 2012 möglich. Wir wollen nicht so lange warten wie die Linke. ({3}) Zweitens. Die derzeitigen Rentenansprüche sollen erhalten bleiben. Hier gibt es einen Unterschied zu den Linken, den bereits Matthias Birkwald aufgezeigt hat. Wir sind nicht der Meinung, dass man ausschließlich im Osten eine Schippe drauflegen kann ({4}) und die dortigen Renten einseitig um 10 Prozent erhöhen sollte. ({5}) Dies würde neue Ungerechtigkeiten hervorrufen. Wer im Westen wenig verdient, würde nicht einsehen, warum er bei gleichem Lohn nicht den gleichen Rentenanspruch hat. Wer im Westen viel, 4 000 Euro, verdient, würde erst recht nicht einsehen, einen geringeren Rentenanspruch zu haben als jemand, der im Osten 4 000 Euro verdient. Deswegen sagen wir: Wenn wir den Rentenwert Ost auf den Rentenwert West anheben, dann kann man in der Tat auf die Hochwertung der Entgeltpunkte in Ostdeutschland verzichten, weil der Unterschied mittlerweile nur noch marginal ist. Wenn man die Zahlen nimmt, die ab dem 1. Juli 2011 gelten, dann beträgt der Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von 30 000 Euro im Jahr 38 Cent. Das ist der Vorteil, den wir sozusagen den Ostdeutschen wegnehmen wollen. Aber damit schaffen wir endlich gleiche Verhältnisse in Ost und West. ({6}) Ich habe viele Zuschriften erhalten, in denen die ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen, dass sie es als diskriminierend empfinden, dass bei ihnen die Entgeltpunkte so berechnet werden, dass dies zu einem Aufschlag führt. Denn auch die Menschen in Ostdeutschland wollen endlich so behandelt werden wie die im Westen und nicht als Erwerbstätige zweiter Klasse. ({7}) - Ich habe doch gerade gesagt, dass, was den Rentenanspruch angeht, der Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von ungefähr 30 000 Euro im Jahr 38 Cent beträgt. Das steigt dann mit höherem Einkommen an. Sie machen einen Vorschlag, wonach alle Renten erhöht werden sollen, unabhängig von der Rentenhöhe. Das heißt, Sie sehen mehr Rente auch für die Reichen vor. Das finden wir nicht sinnvoll. Wir meinen nicht, dass jemand, der 4 000 Euro im Osten verdient, höhere Rentenansprüche haben sollte als jemand, der 4 000 Euro im Westen verdient. ({8}) In diesem Einkommensbereich gibt es schon jetzt meistens gleiches Geld für gleiche Arbeit. ({9}) Richtig ist, dass die Durchschnittseinkommen im Osten nach wie vor geringer sind. Aber da muss man an den Ursachen ansetzen. Wir brauchen endlich einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen Branchentariflöhne. Wir brauchen mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, damit endlich auch im Osten tatsächlich genauso viel bezahlt wird wie im Westen. Wir müssen die Gewerkschaften und Arbeitgeber auffordern, endlich mit dem Unsinn aufzuhören, die Tarife für Ost und West ungleich zu gestalten. Wir brauchen da endlich gleiches Recht für West und Ost. ({10}) Das brauchen wir nicht nur bei den Löhnen, sondern auch in der Rente. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden weiter Druck machen für ein gleiches Rentenrecht in Ost und West. Wir werden auch weiter Druck machen für eine bessere Armutsbekämpfung - in Ost- und Westdeutschland. Insbesondere die Ostdeutschen würden von einer Garantierente, wie wir sie vorschlagen, profitieren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln den Antrag der Grünen zum Rentenrecht in Ost und West. Wenn ich mir Ihren Antrag so anschaue, dann sehe ich, wie krampfhaft versucht wird, Gerechtigkeit zu formulieren, eine Form von Gerechtigkeit, mit der wir uns hier seit Jahren beschäftigen, eine Gerechtigkeit, die 3 Millionen ostdeutsche Rentner und 20 Millionen Rentner bundesweit betrifft. Betrachte ich mir Ihren Antrag, dann muss ich sagen: Er steht für mich - sicher zu Recht - unter dem Motto „Schnelligkeit statt Qualität“. ({0}) - Dazu komme ich noch, keine Sorge. Im Koalitionsvertrag haben wir als christlich-liberale Koalition vereinbart, noch in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West einzuführen. ({1}) Die christlich-liberale Koalition wird den Demografiebericht der Bundesregierung abwarten, der Ende des Jahres vorliegen und uns die entscheidenden Zahlen zum Sozial- und Rentensystem liefern wird. ({2}) Wir rechnen damit, dass wir gegen Ende des Jahres zu einer Entscheidung kommen werden. Ich warne im Interesse der betroffenen Rentner vor undurchdachten Entscheidungen und Schnellschüssen. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern haben genauso hart gearbeitet wie ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern. Das sollten wir dabei nicht vergessen. Die betroffenen Rentner fragen sich zu Recht, nicht nur in den neuen Bundesländern, warum es nach 20 Jahren der deutschen Einheit noch immer unterschiedliche Rentenwerte gibt. ({3}) Die Zusammenführung der Rentensysteme ist eine große sozialpolitische und solidarische Leistung gewesen. Allein im Jahr 2009 gab es über die Rentenversicherungssysteme einen Transfer in Richtung Osten in Höhe von 14,9 Milliarden Euro. Es wird oft kritisiert, dass die Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern eine höhere Anzahl an Entgeltpunkten sammeln. Man muss dabei aber bedenken, dass der Rentenwert Ost um 12,1 Prozent unter dem Rentenwert West liegt. Gleicht man den Rentenwert nun aber an das westdeutsche Niveau an, würde die Höherbewertung der Entgeltpunkte wegfallen. Die Folge: Zukünftige Rentner, die heute relativ wenig verdienen, könnten das Nachsehen haben. Sicher hatten wir Anfang der 90er-Jahre angenommen: Die Rentenwerte gleichen sich über die Jahre allein durch die Lohnentwicklung an. Betrachten wir die Realität der Lohnentwicklung in Ost und West, sieht es natürlich ganz anders aus. Ich möchte hier nur ein Beispiel nennen - Frau Schmidt hat es schon erwähnt, und Herr Strengmann-Kuhn hat auch darauf hingewiesen -: Die Tarifpartner haben in der Pflege einen Stundenlohn von 8,50 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten vereinbart. Wir müssen darauf hinwirken, dass die Lohnentwicklung und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, die heute noch deutliche Unterschiede im Vergleich zu Baden-Württemberg oder Bayern aufweisen, sich in den nächsten Jahren verbessern. ({4}) Je besser sich die Löhne in den neuen Bundesländern entwickeln, desto schneller geschieht die Rentenanpassung. Bei der Diskussion zur Rentenanpassung gehen die meisten Rentner davon aus, dass eine Rentenangleichung auch eine Rentenerhöhung bedeutet. Für einige Bürger wird dies zutreffen. Wird der Rentenwert angeglichen, wird es Gewinner und ebenso Verlierer geben. Das ist so. Als ostdeutsche Christdemokratin wünsche ich mir natürlich, dass es möglichst keine Verlierer gibt, auch wenn die Zahl der Gewinner vergleichsweise kleiner werden könnte. Deshalb müssen wir zum Ende des Jahres den Bericht der Bundesregierung, der dann vorliegen wird, genau prüfen und hier, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, noch vor Ende der Wahlperiode Klarheit schaffen. Es besteht kein Zweifel, dass die Situation für die Betroffenen alles andere als befriedigend ist. Die christlichliberale Koalition hat sich ebenso gründlich wie ausgiebig Zeit genommen, die Verfassungsgerichtsurteile im SGB II und bei Hartz IV umzusetzen. Von daher die EinHeike Brehmer ladung an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, sich zu beteiligen, ({5}) wenn wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorlegen werden, und sich nicht wie bei der HartzIV-Gesetzgebung zum Bildungs- und Teilhabepaket einfach aus der Verantwortung zu stehlen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem Antrag fordern Sie die radikale Angleichung der Ost- an die Westrente; Sie sind wieder ganz vorn mit dabei. Bekanntlich haben Sie sich ja wie keine andere Partei das Banner der sozialen Gerechtigkeit über den Kaminsims gehängt. ({7}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kehren Sie erst einmal Ihren eigenen Hof, bevor Sie dem kleinen Mann vermeintliche Gerechtigkeit versprechen. ({8}) In der Rentenangleichung wären Ihnen die ehemaligen DDR-Bürger dankbar dafür, wenn Sie einfach einen Teil des Geldes aus dem SED-Parteivermögen für die Rentenkasse zur Verfügung stellten. ({9}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Kurth von der FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über das Rentenrecht Ost bzw. West. Ich halte hier fest: Nach der Wende stand Deutschland vor der großen Herausforderung, zwei unterschiedliche Sozialsysteme miteinander zusammenzuführen. Dazu gehörten die Rentensysteme in beiden Teilen Deutschlands. Diesen Kraftakt haben wir innerhalb kurzer Zeit zumindest im Hinblick auf diese Thematik geschafft, und darauf können wir auch stolz sein. ({0}) In der DDR gab es - Sie erinnern sich - ein völlig marodes Sozialsystem; die Altersvorsorge war abgeschrieben. Dieses System wurde in einer riesigen Kraftanstrengung ersetzt. Die West- und Ostdeutschen haben gemeinsam das marode Rentensystem der DDR überwunden und in ein gesamtdeutsches überführt. ({1}) Ich erinnere Sie an die erbärmliche Rentenhöhe in der DDR: durchschnittlich 400 bis 500 DDR-Mark. ({2}) Zudem war es kaum jemandem möglich, Finanz- oder Sachwerte für das Alter anzusparen. Nach der Wende stiegen die Renten erheblich. Auch das ist ein Punkt, auf den man ruhig einmal stolz sein kann. ({3}) Nicht vergessen werden darf - auch das ist wichtig, wenn wir über Rentner und Rente reden -: das bessere Sozialsystem, das bessere Gesundheitssystem, das bessere Rentensystem und eine bessere Versorgung im Pflegefall. Dies hat konkrete Auswirkungen zum Beispiel auf die Lebenserwartung. Dass sich die Lebenserwartung der Ostdeutschen in den letzten 20 Jahren massiv erhöht hat, ist auch eine Folge des Rentensystems. ({4}) Das sind doch alles Erfolgsgeschichten, die an dieser Stelle auch einmal erwähnt werden müssen. Dass es Erfolgsgeschichten sind, wollen Sie nicht hören; das tut mir leid. Trotzdem sind es Erfolgsgeschichten. Zur Vollendung der deutschen Einheit gehört nun auch, dass wir überall in Deutschland das gleiche Rentenrecht haben werden. Das ist eine Anstrengung, die auch diese Bundesregierung leisten wird. Aber keine Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir im Grundsatz diese Unterschiedlichkeit haben. Dies ist und bleibt ein Erbe der sozialistischen Planwirtschaft. ({5}) Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den Löhnen. Das heißt, die Renten sind auch davon abhängig, wie die Verdienstmöglichkeiten der Beschäftigten im Osten sind. Wenn 40 Jahre lang Großbetriebe komplett kaputtgewirtschaftet wurden, wenn der Mittelstand zerschlagen wurde, wenn Kleinstbetrieben kaum Luft gelassen wurde, was glauben Sie, was man 20 Jahre später an Wirtschaftskraft und Entlohnung aufbauen kann? ({6}) Sie haben eines der größten Verbrechen in diesem Teil Deutschlands begangen und Schaden angerichtet. Jetzt beschweren Sie sich, dass diejenigen, die versuchen, Ihr Feuer zu löschen, das Feuer nicht schnell genug löschen. So geht es auch nicht. ({7}) Weil man in der DDR kaum vorsorgen konnte, weil man nur eine niedrige Rente in Aussicht hatte, weil es übrigens auch keinen großen Unterschied zwischen Ar12714 Patrick Kurth ({8}) beitern und Akademikern gab, wurden einst die Ostrentenpunkte aufgewertet. Das ist eine Schwierigkeit, die wir ebenfalls ansprechen müssen. Es geht nicht nur um Rentenauszahlung, sondern auch um die Bewertung der Punkte. Dies muss mit abgearbeitet werden. Dazu bedarf es keiner überhasteten Arbeit, sondern dazu bedarf es der Genauigkeit. ({9}) Das wird diese Koalition in dieser Legislaturperiode leisten. Sehr herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich nun das Wort dem Kollegen Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Anfang halte ich ebenso wie der Kollege gerade eben fest, dass sich das Rentensystem, wie wir es nach der Wiedervereinigung für Deutschland geschaffen haben, dem Grundsatz nach bewährt hat. Ich danke den Bürgerinnen und Bürgern für 20 Jahre Solidarität im Rentensystem, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Das war ein echter Kraftakt in unserem Land, und meines Erachtens muss das heute auch einmal gesagt werden. ({0}) Ja, wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das Rentensystem in dieser Legislaturperiode anzugleichen. Aber dass diese Angleichung im Detail schwierig ist und dass es hierbei zwischen dem Vorschlag der Grünen oder aber der vermeintlich großen Gerechtigkeit der Linken große Differenzierungsprobleme gibt, haben die Vorrednerinnen und Vorredner schon sehr deutlich gemacht. ({1}) Wir haben eine Hochwertung der Entgeltpunkte im Osten. Diese müssten wir dann im Sinne der Gerechtigkeit abschaffen. ({2}) Wir müssten den Umrechnungsfaktor angleichen. Es gibt also viele Probleme und Punkte im Detail, die ich jetzt nicht alle wiederholen möchte. Angesichts der Komplexität und angesichts der Schwierigkeit dieser Materie dürfen wir das Problem der zwischen Ost und West möglicherweise bestehenden Ungerechtigkeit nicht in einer emotionalen Debatte angehen. Wir dürfen auch keine Schnellschüsse machen. ({3}) - In diesen 20 Jahren - der Kollege hat es eben deutlich gemacht - ist sehr viel geleistet worden. Ich glaube, dass man darauf stolz sein kann und dies auch hier in aller Deutlichkeit sagen darf. ({4}) Deswegen ist es nicht redlich, hier von Ungerechtigkeit zu reden; vielmehr geht es darum, in einem langfristigen Prozess diese Gleichheit zu schaffen. Darum sind wir mit unserer Ministerin bemüht. Wir sind sicher, dass wir hier zu einem richtigen, sinnvollen und ausgewogenen Ergebnis kommen, nämlich zu einer gerechten Lösung zwischen West und Ost, zwischen Ost und West, innerhalb des Systems. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Glei- ches Rentenrecht in Ost und West“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/5961, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5207 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange- nommen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4. Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5962, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4192 abzulehnen. Wir stim- men nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Schriftführer vollzählig an den Urnen? - Das scheint der Fall zu sein. Ich bitte Sie, abzustimmen. Die Abstimmung ist eröffnet. Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm- karten eingeworfen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführerin- nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be- kannt gegeben.1) Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte Sie, wieder die Plätze einzunehmen. 1) Ergebnis Seite 12716 C Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({0}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1937 ({2}) vom 30. August 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 17/5864 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle. ({4})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt die UNIFIL-Mission zum Schutz der libanesischen Küste. Dieser Schutz der libanesischen Küste ist aus unserer Sicht aber keine Daueraufgabe der Staatengemeinschaft und auch keine Daueraufgabe für uns. Damit der Libanon diese Aufgabe schultern kann, haben wir im vergangenen Jahr nach einer umfangreichen Debatte auch hier im Deutschen Bundestag umgesteuert. Das geänderte Mandat setzt den Schwerpunkt auf die Ausbildung der libanesischen Marine. In diesem Jahr bleiben wir auf dem Kurs, den wir im letzten Jahr neu eingeschlagen haben. Heute ist der Libanon in der Lage, mit Radaranlagen die Küsten zu überwachen. Das ist ein Erfolg unserer Unterstützung und wird auch die Sicherheit für die Handelsmarine erhöhen und damit die Versorgung der Menschen im Libanon verbessern. Deswegen möchte ich vorab und zuallererst allen Frauen und Männern, allen Soldatinnen und Soldaten danken, die bei UNIFIL so viel erreicht haben und die unter sehr großer persönlicher Entbehrung diesen Einsatz als stabilisierenden Faktor in der Region tragen. ({0}) Noch braucht der Libanon unsere Hilfe. Wir setzen weiter auf Ausbildung und Training, weil wir uns damit eine Perspektive auf Beendigung des Einsatzes erarbeiten können. Unser Engagement bleibt eingebettet in unsere Arbeit für dauerhaften Frieden und demokratische Stabilität in der ganzen Region. Glaubwürdigkeit, Wohlwollen und Vertrauen werden uns entgegengebracht. Es kommt nicht von ungefähr, dass alle Parteien - Israel, der Libanon und insbesondere die Vereinten Nationen um eine Fortsetzung unseres Beitrages zu UNIFIL gebeten haben. Wir erleben, anknüpfend an die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin von heute Morgen, natürlich eine historische Zäsur in der arabischen Welt. Gerade in diesen Tagen und in diesen Monaten ist diese Zäsur natürlich der Hintergrund, vor dem diese Debatte stattfindet. In dem Streben nach mehr Freiheit, mehr Demokratie und größerem persönlichen Wohlstand in der arabischen Welt liegt auch eine große Chance für uns Europäer. Es ist die Chance auf ein neues Kapitel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ende der Diktaturen in Tunesien und in Ägypten gibt Hoffnung. In anderen Teilen der Region überwiegt aber immer noch Besorgnis. Auch im Libanon - darum kann man nicht herumreden - ist die Lage in den letzten Monaten nicht einfacher geworden. Seit Januar ist das Land ohne Regierung. Eine Regierungsbildung ist nicht in Sicht. Die Situation der Menschen in den palästinensischen Flüchtlingslagern bleibt angespannt. Bei der Grenzfestlegung mit Syrien herrscht Stillstand. Noch immer versuchen die Regierungen in Syrien und im Iran, den Libanon zu dominieren. Hinweise auf Waffenlieferungen an die Hisbollah sind erdrückend eindeutig. Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme als Grundlage für die Entscheidung des Deutschen Bundestages gehört also nicht nur das, was unsere Frauen und Männer an Erfolgen erreicht haben, sondern natürlich auch eine kritische Würdigung der Umstände einschließlich der politischen Entwicklungen, die uns alle in diesem Hause unzweifelhaft beunruhigen. Ich denke, man muss diesen Punkt hier ausdrücklich ansprechen, weil man sonst nicht zu einer abgewogenen Entscheidung kommen kann. Der Eindruck, das sei ein leichter Einsatz, der Eindruck, alles sei in Ordnung und alles auf bestem Wege, täuscht. Dies anzunehmen, wäre fahrlässig. Wir müssen auch die Schwierigkeiten dieses Einsatzes, insbesondere auch die politischen Schwierigkeiten dieses Einsatzes, sehen. ({1}) Was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, ist nicht nur ein Drama und schrecklich für die Menschen, die für Freiheit auf die Straße gehen und Repression und Unterdrückung erleiden, sondern das, was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, hat auch viel Störpotenzial für den Libanon. Anfang der Woche haben wir in Brüssel eine entschlossene Antwort auf die fortgesetzte Repression der syrischen Führung gegen das eigene Volk gegeben. Die Sanktionen sind zweistufig beschlossen worden, übrigens auch in Einklang mit unseren Partnern, den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die Erklärung der G 8 in Deauville lässt an Deutlichkeit nichts vermissen, was die entsprechende Kritik an dem syrischen Präsidenten und der syrischen Führung angeht. Die Sanktionen sind beschlossen und werden dementsprechend auch wirken, weil sie zielgerichtet beschlossen worden sind. Die Unterdrückung des syrischen Volkes ist eine Herausforderung der europäischen Wertegemeinschaft. Präsident Assad und sein engerer Zirkel sind in der Europäischen Union derzeit nicht willkommen. Ihre Konten bleiben eingefroren. Wenn Menschen- und Bürgerrechte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft verhöhnt werden, dann muss die europäische Wertegemeinschaft eine unmissverständliche Antwort geben. Europa hat in dieser Woche gezeigt, dass es ernst ist und dass wir es ernst meinen, wenn es um den Einsatz für Freiheit und Menschenrechte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geht. ({2}) Zum Schluss möchte ich allerdings auch sagen, dass der Dreh- und Angelpunkt für die gesamte Region die Fortschritte im Nahost-Friedensprozess sind. Dieser Konflikt überlagert seit Jahrzehnten sämtliche Beziehungen in der Region. Die Ereignisse des vorletzten Wochenendes haben gezeigt, wie schnell an der Grenze zwischen Israel, Libanon und Syrien Konflikte in Gewalt münden. Wir begrüßen, dass sich Präsident Barack Obama wieder sehr persönlich in den Nahost-Friedensprozess eingeschaltet hat. Wir sind uns in der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten einig, dass eine Friedenslösung im Nahen Osten nur die Zwei-StaatenLösung sein kann. Ich will nicht wiederholen, was die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen dazu gesagt hat. Ich will zum Schluss nur noch eine Ergänzung machen. Es ist ein Fenster der Gelegenheit, vielleicht ist es auch ein historisches Fenster der Gelegenheit, dass der arabische Frühling neue Chancen für den Nahost-Friedensprozess fördert. Es gilt aber auch umgekehrt: Der NahostFriedensprozess ist entscheidend für den Erfolg des arabischen Frühlings. ({3}) Dieser gegenseitige Zusammenhang muss gesehen werden. Das ist die Nachricht, die wir an alle Beteiligten geben. Einseitige Schritte, also weder der Siedlungsbau noch einseitige Ausrufungen, sind nicht der richtige Weg. Rückkehr zum Verhandlungstisch, direkte Gespräche - das ist es, was wir jetzt brauchen, und das ist es, was die Bundesregierung unterstützt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor wir mit der Aussprache fortfahren, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“ geben: abgegebene Stimmen 566. Mit Ja haben gestimmt 503, mit Nein 63, Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 566; davon ja: 503 nein: 63 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({1}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Eberhard Gienger Michael Glos Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({6}) Dr. Stefan Kaufmann Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({7}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({8}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Thomas Rachel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({9}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck olms Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({10}) Anita Schäfer ({11}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({12}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({13}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({14}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Bernd Siebert Johannes Singhammer Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({15}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({16}) Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Kai Wegner Marcus Weinberg ({17}) Peter Weiß ({18}) Sabine Weiss ({19}) Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Lothar Binding ({20}) Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({21}) Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({22}) Kerstin Griese Michael Groß Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({23}) Hubertus Heil ({24}) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({25}) Frank Hofmann ({26}) Dr. Eva Högl Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({27}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({28}) Steffen-Claudio Lemme Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({29}) Dr. Matthias Miersch Andrea Nahles Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Mechthild Rawert Stefan Rebmann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({30}) ({31}) Axel Schäfer ({32}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({33}) Werner Schieder ({34}) Silvia Schmidt ({35}) Carsten Schneider ({36}) Swen Schulz ({37}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Christoph Strässer Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Waltraud Wolff ({38}) Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Vizepräsident Dr. Hermann Otto S Daniel Bahr ({39}) Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({40}) Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({41}) Sibylle Laurischk Sabine LeutheusserSchnarrenberger Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({42}) Michael Link ({43}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({44}) Burkhardt Müller-Sönksen olms Dr. Martin Neumann ({45}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({46}) Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Johannes Vogel ({47}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({48}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({49}) Volker Beck ({50}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({51}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({52}) Monika Lazar Nicole Maisch Agnes Malczak Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({53}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Dr. Valerie Wilms Nein DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Katja Kipping Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Michael Leutert Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({54}) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Müller ({55}) ({56}) Als nächstem Redner erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktion.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika haben sich tiefgreifend verändert. Mit Sympathie und Begeisterung, aber auch mit angehaltenem Atem verfolgen wir, was in Ägypten und Tunesien geschieht. Wir schauen aber auch mit großer Sorge nach Libyen, Syrien und in den Jemen. Wir streiten auch darüber, was die richtige Antwort auf das Verhalten dieser gewalttätigen Regime ist. Wir verfolgen gespannt die Entwicklung im notwendigen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern. Herr Außenminister, wir unterstreichen, was Sie zum Schluss gesagt haben: Jetzt öffnet sich zum wiederholten Male ein Fenster der Gelegenheit, um endlich zu einer Lösung zu kommen. Meine Forderung ist, neben diesen aktuellen Brennpunkten nicht die Länder zu vergessen, die gerade nicht im Fokus stehen. Dazu gehören zum Beispiel Marokko und Algerien, aber auch der Libanon. Insofern steht die Verlängerung der UNIFIL-Mission in einem größeren Zusammenhang. UNIFIL ist ein Baustein der Stabilität im Libanon und der regionalen Stabilität für die Nachbarn des Landes. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung in der Region geleistet. Die Mission ist beispielhaft für eine langfristige und präventive Friedenspolitik. Sie vollzieht sich ohne große Schlagzeilen. So gilt auch heute mein Dank allen Soldatinnen und Soldaten der gesamten Mission, die sich seit 2006 an diesem Einsatz beteiligt haben, aber sich auch auf die kommenden Einsätze im Rahmen der UNIFIL-Mission vorbereiten. ({0}) Sie leisten eine wichtige Arbeit für den Frieden, die in der Öffentlichkeit abseits der vielen Brennpunkte viel zu wenig gewürdigt wird. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion hatte bei UNIFIL immer eine klare Linie: Das politisch Machbare, aber auch das militärisch Mögliche, was für die Sicherung des Friedens im Nahen und Mittleren Osten geleistet werden kann, findet unsere Zustimmung, unabhängig davon, ob wir an der Regierung sind oder in der Opposition. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat 2006 keine Minute gezögert, eine positive Antwort auf die Anfrage von UNGeneralsekretär Kofi Annan nach einer deutschen Beteiligung an UNIFIL zu geben. Wir erinnern uns: Die zentrale Aufgabe der maritimen Komponente von UNIFIL ist es, Waffenschmuggel von Seeseite zu unterbinden sowie die Streitkräfte des Landes in die Lage zu versetzen, diese Aufgabe bald selbstständig zu übernehmen. Dies war dringlich und ist nun angesichts der instabilen innenpolitischen Lage im Libanon und der Schwächung der staatlichen Strukturen durch den Krieg im Sommer 2006 umso dringlicher. Die Mission hat ihre Aufgabe von 2006 bis heute in vorbildlicher Weise erfüllt. Damit ist sie aber noch nicht am Ende; denn die eigenen Fähigkeiten der libanesischen Armee sind noch nicht ausreichend, um ohne die internationale Präsenz auszukommen. Auch wurde der Waffenschmuggel, wie schon gesagt, nur an der Seeseite unterbunden; der Schmuggel über die Landgrenze mit Syrien stellt in der Tat ein weiteres großes Problem dar. Schon unter der letzten Bundesregierung mit SPD-Beteiligung wurde deshalb unter anderem eine enge Zusammenarbeit im Zollbereich begonnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier nicht immer auf das Schwanken und Herumeiern der FDP in der Opposition bis 2009 bei der Haltung zu UNIFIL eingehen; das ist nach wie vor kein Ruhmesblatt für die Liberalen. Ich frage Sie aber heute: Warum ist die Bundesregierung, warum sind die FDP-Fraktion und die Unionsfraktion im Falle Libanons für einen Einsatz der Marine zur Verhinderung von Waffenschmuggel, im Falle Libyens aber dagegen? Wir erinnern uns schmerzlich an den Abzug deutscher Marinekontingente und die bis dahin nie dagewesene Aufkündigung der Bündnissolidarität im Falle Libyens. Ich frage noch einmal: Was kann sinnvoller sein, als illegale Waffenlieferungen zu unterbinden? ({1}) In beiden Fällen, bei der Mission im Libanon und der Mission in Libyen, gibt es ein eindeutiges Mandat des UN-Sicherheitsrates. Es ist mit keinem Argument zu begründen, dass sich die Bundeswehr an dem einen Einsatz beteiligt, aber die Bundesregierung den anderen Einsatz gegen Waffenlieferungen an das Regime Gaddafis ablehnt. Ich will hier gar nicht von der Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat in dieser Frage sprechen. Letztlich kann ich der Bundesregierung nur bescheinigen: Sie wenden doppelte Standards an. Genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, entspricht aber nicht unserem langfristigen Ziel der Verrechtlichung von internationalen Beziehungen. Es schwächt die Rolle Deutschlands in der Weltgemeinschaft. Das ist nun wirklich kein ermutigendes Zeichen deutscher Außenpolitik. Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen wurde die Debatte über die Nahostpolitik von zwei lang erwarteten Reden geprägt: Zunächst hat US-Präsident Barack Obama eine, wie ich finde, richtungsweisende Rede gehalten und eindringlich Verhandlungen als Weg zur Zwei-Staaten-Lösung gefordert. Als Grundlage empfahl er die Grenzen von 1967, auf die auch VN-Resolutionen Bezug nehmen. Der israelische Ministerpräsident hat dies wenige Tage später in seiner Rede vor dem Kongress zurückgewiesen. Zwar sprach er von der Bereitschaft zu großzügigen Zugeständnissen an die Palästinenser, blieb dabei aber vage und zugleich in allen Kernpunkten möglicher Verhandlungen kompromisslos. Worin besteht der Bezug dieser Vorgänge zu UNIFIL? Erstens in der geografischen Nähe, zweitens in der großen Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten im Libanon leben, drittens in dem Zwischenfall an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon im August des vergangenen Jahres, bei dem vier Menschen starben, und schließlich in den ebenfalls tödlichen Grenzzwischenfällen vor nur gut zehn Tagen, als es an verschiedenen Grenzen Israels zu Auseinandersetzungen mit Grenztruppen kam. All diese Punkte zeigen, wie eng die Stabilität des Libanons mit der Sicherheit Israels verbunden ist. Da verwundert es nicht, dass Israel nach wie vor die Präsenz auch deutscher Truppen in der Region ausdrücklich begrüßt. Dies ist neben dem eigenen Interesse an der Stabi12720 lität in der Region insgesamt ein gewichtiger Grund für unsere Zustimmung zu diesem Antrag. ({2}) Vor kurzem hat der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Michael Williams, Deutschland und auch Berlin besucht. Er hat auch mit Parlamentariern gesprochen. Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an diesen Gesprächen teilgenommen haben, wissen, dass Michael Williams ausdrücklich unterstrichen hat, wie wichtig diese UNIFIL-Mission ist. Sie ist nämlich auch ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Vereinten Nationen in der sich stark verändernden Region weiter präsent sind. Es ist wichtig, dass in dieser veränderten Umgebung die Fahnen der Vereinten Nationen wehen und weiterhin ein deutscher Beitrag geleistet wird. Dieser Beitrag ist, wie ich finde, viel wichtiger, als die relativ kleine Zahl von 300 deutschen Soldatinnen und Soldaten das vielleicht vermuten lässt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister, Dr. Thomas de Maizière. ({0})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Gloser, über Libyen diskutieren wir ein anderes Mal. Heute diskutieren wir über Libanon und Israel. In der Sache ist nur noch zu ergänzen, dass das Mandat hinsichtlich der Höhe im Vergleich zum laufenden Jahr unverändert bleibt. Ich schließe mich dem hier allseits ausgesprochenen Dank an die Soldatinnen und Soldaten an, beziehe mich auf die Ausführungen unseres Außenministers, die ich inhaltlich voll teile, und bitte um Ihre Zustimmung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Was die Dauer der Rede angeht, sollten Sie sich das zum Beispiel nehmen, Kollege Gehrcke. - Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Respekt, Herr Verteidigungsminister. Ich weiß nicht, ob das eine besondere Variante war, ob das eine besondere Finte war oder ob das künftig Ihr Stil sein wird. ({0}) Ich finde es spannend, das herauszubekommen. Das war eine überraschende Wendung. Allen Respekt! Das hat mir Spaß gemacht. ({1}) - Und Ihnen erst einmal. Jetzt zur Sache. Ich hoffe, dass das, was ich jetzt ausführen werde, Ihnen nicht so viel Spaß macht. Das wird man dann ja sehen. ({2}) Ich möchte daran erinnern, dass bei den Debatten über das UNIFIL-Mandat Gregor Gysi, Norman Paech, der damals hier Abgeordneter war, und ich selbst immer wieder betont haben, dass das UNIFIL-Mandat notwendig war, um den Waffenstillstand hinzubekommen. ({3}) Ohne das Mandat hätte es den Waffenstillstand nicht gegeben. Ich war während des Krieges in Beirut. Ich habe gesehen, wie die Raketen dort eingeschlagen sind. Ich habe gesehen, dass man nicht aus der Stadt herauskam. Ich habe gesehen, dass sich die Reichen nach Syrien absetzen konnten und insbesondere die Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern katastrophal war. Viele Menschen hatten überhaupt keine Chance, die Stadt zu verlassen. All das hat mir die Notwendigkeit vor Augen geführt, dass das abgeschlossen wird. Ich will hinzufügen: Ich bin froh, dass der Waffenstillstand bis heute gehalten hat. Er ist zwar fragil und wurde immer wieder gebrochen, im Wesentlichen hat er aber gehalten. Die Situation im Libanon, in Syrien und dem gesamten Raum ist schwieriger geworden. Keiner kann eine Garantie abgeben, dass es beim Waffenstillstand bleiben wird. Ich bin entsetzt über die Auseinandersetzungen in Syrien und darüber, wie die Regierung unter Präsident Assad mit den Demonstranten umgeht. Wer gegen das eigene Volk mit Waffen vorgeht, verwirkt den Anspruch, für das Volk sprechen zu dürfen. Das muss unbedingt betont werden. ({4}) Ich will jetzt keine Libyen-Debatte starten, sehr geehrte Herren Minister. Sie wissen aber ganz genau, dass eine solche Resolution im Weltsicherheitsrat heute nicht noch einmal verabschiedet würde. Die Erklärungen Russlands, Chinas, Brasiliens und anderer Staaten besagen eindeutig, dass sich diese Länder getäuscht fühlen. Sie wissen, dass es derzeit keine Chance gibt, aus einem Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, irgendwie herauszukommen. Es hat sich erneut bestätigt: Krieg ist kein Mittel, um politische Probleme zu lösen. ({5}) Jetzt komme ich zum Mandat selber. Zunächst habe ich begründet, warum das Mandat überhaupt erteilt wurde. Jetzt will ich Ihnen erklären, warum wir nicht zugestimmt haben. Für mich gibt es drei sehr ernsthafte Argumente dagegen. Ein Argument ist streckenweise von der FDP, sogar bis in die Regierung vertreten worden. Das macht es nicht besser, aber auch nicht schlechter. Erstes Argument. Es war nicht notwendig, ein Kapitel-VII-Mandat zu erteilen. Es gab die grundsätzliche Bereitschaft beider Konfliktparteien, sich auf das Mandat einzulassen. Man hätte in der klassischen Form von Blauhelm-Einsätzen auf Grundlage eines Kapitel-VIMandates vorgehen können. Das ist leider ausgeschlagen worden. Das habe ich immer für einen großen Fehler gehalten, und ich halte es heute noch für einen großen Fehler. Zweites Argument. Wir hatten vorgeschlagen, auf der Landseite die Truppen auf beiden Seiten der Grenzen zu stationieren. Das hätte die Neutralität der Vereinten Nationen stärker unterstrichen. Drittes Argument. Ich möchte nicht, dass deutsche Soldaten in dieser Region eingesetzt werden. Das richtet sich nicht gegen die Soldaten. Ich kann mir verschiedene Szenarien vorstellen, wie deutsche Soldaten in diese Auseinandersetzung einbezogen werden. Ich möchte nicht, dass solche Szenarien Realität werden. Das war für mich das wichtigste Argument dagegen. Andere hingegen waren bereit, hier zuzustimmen. Es gibt eine ganz bestimmte deutsche Geschichte. Diese ist gestern hier in eigenartiger Art und Weise debattiert worden. Ich ziehe aus der deutschen Geschichte die Lehre, dass deutsche Soldaten in dieser Region nicht mehr tätig werden sollen. ({6}) Ich bitte Sie, zumindest das zu akzeptieren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour vom Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! UNIFIL - das ist gerade auch vom Kollegen Gehrcke gesagt worden - ist vom ersten Tage an ein Erfolg gewesen. Die Mission hat den Frieden gesichert und mitgeholfen, vor allem den Süden Libanons zu stabilisieren, wenn wir auch von einer echten Stabilität noch weit entfernt sind. Ich möchte mich selbstverständlich nicht nur dem Dank an die Soldatinnen und Soldaten anschließen, sondern auch deren Angehörigen danken, die monatelang von ihren Geliebten getrennt werden. Herzlichen Dank für diese Toleranz. ({0}) Wir haben die UNIFIL-Mission immer unterstützt, auch deswegen, weil sie tatsächlich geholfen hat, den Krieg zu beenden. Ohne den Beschluss der Vereinten Nationen als die rechtliche Grundlage für diesen Einsatz und ohne den Einsatz selbst, den wir mit beschlossen haben, wäre dieser Krieg nicht zu Ende gegangen, und es hätte den Waffenstillstand nicht gegeben. Noch einmal zum Mandat: Man kann natürlich Kritik am Mandat äußern, das werde ich auch gleich tun. Die Zielsetzung des Mandates aber ist für mich und die Mehrheit meiner Fraktion immer wieder Grund gewesen, dem zuzustimmen. Die Situation in der Region, auch im Libanon, verändert sich jedoch. Sinn der Außenpolitik ist es, diese Dynamik zu begreifen und mitzugestalten. Wir bekommen aber ein Mandat vorgelegt, das die Veränderungen in der Region nicht berücksichtigt. Das ist enttäuschend. Dabei hat sich so vieles verändert - Herr Außenminister, Sie haben es eingangs selbst gesagt -: die Situation an den Grenzen - vor wenigen Tagen haben wir es erlebt -, die Debatte in den USA, die Reden der vergangenen Tage, der Waffenschmuggel, der zwischen dem Libanon und Syrien weiterläuft. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass der UN-Generalsekretär alle Staaten auffordert, sich verstärkt im Süden Libanons zu engagieren. Ein weiteres Beispiel: Der Generalsekretär sagt, man brauche mindestens neun Schiffe, um eine Mission erfolgreich auszuführen. Derzeit gibt es nur acht Schiffe. Das ist auch auf die von Deutschland ausgehende Reduktion zurückzuführen. All diesen Veränderungen gehen Sie nicht nach. Sie werden dem nicht gerecht. Ich gebe zu: Man braucht dafür Energie. In der deutschen Außenpolitik erkenne ich zurzeit wenig Energie. Das sieht man zum Beispiel daran, dass man bei Libyen für große Verwirrung gesorgt hat. Man hat gesagt, dass man eine humanitäre Aktion durchführen will, und am Ende stellte sich heraus, dass niemand diese verlangt hatte. Das ist Kompensationsaußenpolitik. Diese macht keinen Sinn und wird der großen Veränderung, die wir zurzeit in der Welt erleben, nicht gerecht. Es ist enttäuschend, wenn die Deutschen die LeadFunktion, die wir innehatten, wie eine heiße Kartoffel behandeln und am Ende Brasilien die Lead-Funktion von den Italienern übernimmt, unter anderem auch deswegen, weil die Deutschen sich dermaßen aus der Verantwortung gezogen haben. Das ist besonders pikant, Herr Verteidigungsminister, weil Sie sich in der letzten Woche in Ihrer großen Rede auf die Brasilianer als Beispiel für diejenigen Länder bezogen haben, die Auslandseinsätze aus globaler Perspektive betrachten. Sie haben gesagt, aus unserem Wohlstand entstehe Verantwortung. Wie kann es dann sein, dass die Brasilianer da, wo wir uns aus der Verantwortung stehlen, die Verantwortung übernehmen müssen? Es ist auch pikant, wenn im Zusammenhang mit der Ausbildung gesagt wird - das hat der Außenminister heute wieder getan -, dass die Deutschen sich jetzt verstärkt um die Ausbildung der libanesischen Streitkräfte kümmern wollen, damit dieser Einsatz am Ende des Tages überflüssig wird, und wenn gleichzeitig die militärische Ausbildungshilfe für den Libanon von 2009 auf 2010 von der Priorität 1 in die Priorität 2 herabgestuft wird. Das kann man begründen; Sie tun es aber nicht. Das alles ist von vorne bis hinten nicht kohärent; das ist sehr bedauerlich. Das alles ist Dienst nach Vorschrift. Wenn man sich anschaut, wie sich die Welt verändert, wie diese Region gerade auf dem Kopf steht und welch eine Dynamik - diese birgt auch große Risiken in sich - in der gesamten Region derzeit besteht, dann wissen wir, dass wir eine Außenpolitik brauchen, die gestaltet und die nicht das tut, was Sie tun, nämlich Dienst nach Vorschrift. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Viele Besucherinnen und Besucher, unter anderem auch eine Schülergruppe, haben mich am heutigen Tag gefragt, wie der Parlamentsalltag gestaltet ist. Als ich dann berichtet habe, dass wir hier auch Bundeswehrmandate verlängern und wie wir über Mandate diskutieren, hat mich eine Schülerin gefragt, wieso wir das nicht einfacher oder besser organisieren, da dies wie ein Routinevorgang wirkt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich großen Wert darauf lege, dass wir den Parlamentsvorbehalt hier im Deutschen Bundestag, selbst wenn es sich um ein Mandat handelt, das weitestgehend unstrittig ist, natürlich nicht in einem Ritual abhandeln, sondern diesen tatsächlich ernst nehmen. Das zeigen wir zum Beispiel bei dem Afghanistan-Mandat, das wesentlich umstrittener ist, indem wir den Fortschrittsbericht und andere Unterlagen hinzuziehen, um unsere Entscheidungsfindung abzusichern. Ich möchte all denjenigen, die ihren Dienst leisten, und vor allen Dingen ihren Angehörigen sagen, dass ich ihnen sehr dankbar bin - das ist auch schon von den vorherigen Rednern gesagt worden -, dass sie diesen wichtigen Beitrag leisten und damit dazu beitragen, dass unser Land ein hohes Ansehen genießt. ({0}) Die Sicherheit vor der Küste Libanons muss gewährleistet werden. Dabei geht es darum, den Waffenschmuggel einzugrenzen, aber auch darum, die Fachleute der libanesischen Armee und Marine auszubilden, damit sie einen eigenen Beitrag zur Sicherheit leisten können. Diese zwei Punkte nehmen wir ernst und setzen wir in dieser Legislaturperiode um; so steht es auch im Koalitionsvertrag. Wir haben vereinbart, dass wir auf eine schrittweise Reduzierung des deutschen Beitrages zur Maritime Task Force hinwirken wollen. Mit dem Mandat haben wir die Zahl der maximal einzusetzenden Soldaten von 800 auf 300, also um über 60 Prozent, gesenkt. Der Auftrag aus dem August 2006 zur Ausbildung ist bei weitem noch nicht erfüllt und muss deshalb weiter ausgeführt werden. Das UNIFIL-Mandat - selbst wenn es in seinem Entstehen, auch hier in Deutschland, sehr umstritten war leistet, wie ich schon sagte, einen wichtigen Beitrag zur Steigerung des Ansehens der Bundeswehr und natürlich auch zur Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft. Ich möchte daran erinnern, dass dieses Mandat gerade auch innerhalb der Europäischen Union sehr positiv begleitet wird. Allein schon die Vielzahl derjenigen, die sich an dieser Mission beteiligen, zeigt, dass es ein funktionierendes Mandat ist. Seit 2006 leisten 15 Länder entweder größere oder kleinere Beiträge zur UNIFIL Maritime Task Force, von Belgien bis Bangladesch, von Italien bis Indonesien. Ich glaube, dies ist nicht nur im Hinblick auf das Ansinnen von UNIFIL wichtig, sondern auch ein wichtiger Beitrag zu den operativen Fähigkeiten, die die Bundeswehr und die internationale Gemeinschaft brauchen. Die Lage im Libanon und in der Region insgesamt ist keineswegs so positiv, wie ich das UNIFIL-Mandat gerade dargestellt habe; es ist nur ein sehr kleiner Beitrag zur Stabilisierung und zur Sicherheit. Im Libanon ist die Situation sehr schwierig. Dort werden Christen bedroht. Dies wollen wir ändern; das ist ein besonderes Anliegen unserer Fraktion. Ich möchte deshalb die Gelegenheit nutzen, nicht nur über den maritimen Teil der Sicherheit im Libanon zu reden, sondern auch über das, was sonst noch im Land passiert. Am 27. März dieses Jahres explodierte in Zahle, im Osten des Libanon, vor einer Syrisch-Orthodoxen Kirche eine Bombe. Es war nur Glück, dass die 2 Kilo TNT an diesem Sonntag nur einen Sachschaden angerichtet haben. Aber dieser Vorfall zeigt, auch wenn er bei weitem nicht so spektakulär wie andere Vorfälle in der Region ist, dass die Situation im Libanon gerade für bedrohte Minderheiten nach wie vor problematisch ist. Daran wird deutlich, dass auch über das UNIFIL-Mandat hinaus die Sicherheit und Stabilität im Libanon sowie der Schutz der Zivilbevölkerung, insbesondere vor unmenschlichem Kalkül und brutalen Methoden, wichtige Anliegen des Deutschen Bundestags und damit unserer Verantwortungsträger sein sollten. ({1}) Wir können bei solchen Geschehnissen nicht tatenlos zusehen. Hier ist aber nicht in erster Linie militärisches, sondern vor allem politisches Engagement gefragt. Die Bundesregierung bemüht sich sehr, in dieser Region Pflöcke einzuschlagen. Der Deutsche Bundestag hat mehrere Reisen in die Region durchgeführt und ist an exponierter Stelle tätig. Die Bundeskanzlerin beispielsweise hat heute die Reise unseres Fraktionsvorsitzenden nach Ägypten erwähnt. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch eine größere Delegation des Auswärtigen Ausschusses Tunesien und Ägypten besucht hat. Damit haben wir verdeutlicht, dass wir auch in der derzeitigen unruhigen Phase in der arabischen Welt versuchen, enge Bande zu knüpfen und eine wichtige Rolle zu spielen, wenngleich dies im Spannungsverhältnis zwischen der Staatsräson der Sicherung des Existenzrechts Israels einerseits und der Erwartungshaltung vieler junger Menschen in der arabischen Welt andererseits ein sehr schwieriges Unterfangen ist. Ich glaube, dass Sie alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrer politischen Arbeit wichtige Beiträge zu dem, was wir im militärischen Bereich erfolgreich tun, leisten. Wir müssen deutlich machen, dass diese Region für uns sehr wichtig ist. Der Deutsche Bundestag muss sich insgesamt viel stärker um diese Region bemühen, als es noch vor längerer Zeit der Fall war. Wir dürfen dieses Thema nicht alleine den Mittelmeer-Anrainerstaaten überlassen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5864 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten - Drucksache 17/5897Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vereinten Nationen haben sich zur Jahrtausendwende richtige, wichtige und ehrgeizige Ziele gesetzt, die acht sogenannten Millenniumsziele bzw., ins Deutsche übersetzt, die Jahrtausendentwicklungsziele der Vereinten Nationen. Das erste Ziel: Die Vereinten Nationen wollen Hunger und Armut bekämpfen; bis zum Jahr 2015 streben sie eine Halbierung der Armut an. Das zweite Ziel besteht darin, bis zum Jahr 2015 allen Kinder auf der Erde eine Grundschulbildung zu ermöglichen. Das dritte Ziel ist die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen. Das vierte Ziel ist die Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel bis zum Jahr 2015. Das fünfte Ziel ist die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter und die Senkung der Müttersterblichkeit um 75 Prozent bis 2015. Das sechste Ziel ist die Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen schweren Krankheiten. Das siebte Ziel ist die ökologische Nachhaltigkeit. Das achte Ziel sind der Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung und faire und gerechte Weltwirtschaftsstrukturen. Ich habe diese Ziele ganz bewusst am Anfang hier noch einmal genannt, weil ich glaube, dass nicht alle, die uns heute zuschauen, diese acht Ziele kennen. Deswegen ist es richtig und gut gewesen, dass die damalige Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul 2005 in Deutschland eine deutsche Millenniumkampagne mit ins Leben gerufen hat, die es auf UN-Ebene schon gab und durch die hier in Deutschland gemeinsam mit vielen Nichtregierungsorganisationen in der Bevölkerung dafür geworben wurde, diese Ziele bekannt zu machen; denn wir können in der Entwicklungszusammenarbeit nichts erreichen, wenn nur wir als Fachleute wissen, worum es geht. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, bei den Bürgerinnen und Bürgern Verständnis dafür zu wecken und sie mitzunehmen. Die Mehrheit der Deutschen ist dann auch bereit, Steuergelder dafür auszugeben, dass Menschen aus Hunger und Armut befreit werden. Die Kampagne hat erfolgreich gearbeitet. Seit 2005 hat sie etliche Aktionsbündnisse initiiert und unterstützt. Ich nenne einmal beispielhaft das Aktionsbündnis Rheinland-Pfalz, länderübergreifende Aktionsbündnisse in Hessen und Thüringen, die Klimaschutz+ Stiftung und die Jugendinitiative „Chasing the Dream“. Ein Erfolg der Kampagne ist auch, dass mittlerweile über 80 Städte und Kreise in Deutschland die Millenniumserklärung der Städte und Gemeinden in Deutschland unterzeichnet haben, darunter auch Hanau in meinem Wahlkreis. Es war eine wichtige Aktion der Kampagne, eine Städtetour durchzuführen. Herr Hoppe, Sie erinnern sich: Als Sie Vorsitzender des Ausschusses waren, standen Millenniumstore vor dem Reichstag, durch die wir die Bedeutung dieser acht Ziele auch noch einmal sichtbar machen konnten. Es gab eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, mit VENRO, mit der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und mit Oxfam, um nur einige zu nennen, die sich dort eingebracht haben. Wir konnten viele pro12724 minente Unterstützer gewinnen, auch Fußballspieler, zum Beispiel Philipp Lahm und eine ganze Reihe mehr. Viele Bürgerinnen und Bürger haben unzählige Stunden in Eine-Welt-Läden und in Bürgergesprächen über diese Ziele diskutiert und eine ganz hervorragende Arbeit geleistet. An dieser Stelle möchte ich all denen, die diese Kampagne geführt haben, auch Renée Ernst, ein herzliches Dankeschön für ihre Arbeit aussprechen. ({0}) Wenn so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger eine so erfolgreiche Arbeit machen, dann könnte man ja meinen, dass der Bundesentwicklungsminister voranschreitet, diesen Menschen dankt und sagt: Es sind jetzt noch ein paar Jahre bis zum Jahr 2015, eure tolle Arbeit führe ich fort. - Das wäre eigentlich das Logischste der Welt. Was aber macht dieser Entwicklungsminister? Was macht Herr Niebel? Herr Niebel sagt: Eure Arbeit ist schön und gut, aber Geld gibt es nicht mehr dafür. Ende Juni 2011 stelle ich die Finanzierung ein, und ihr könnt sehen, wo ihr bleibt. Herr Minister, deshalb wundert es mich schon sehr, dass Sie heute Vormittag erstmals zur Verleihung des Walter-Scheel-Preises für Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit eingeladen haben. ({1}) Es ist sehr sinnvoll, so einen Preis zu stiften; das will ich gar nicht Abrede stellen. Sie haben heute unter anderem Prominente ausgezeichnet, die alle eine gute Arbeit geleistet haben, wie Ulrich Wickert und Nia Künzer, die Weltmeisterin im Fußball. ({2}) - Herr Kollege, andere haben die Auszeichnung viel eher verdient. - Es wurden dort auch prominente Unternehmer wie Dr. Michael Otto ausgezeichnet. Wie kann man aber so einen Preis ins Leben rufen und gleichzeitig Tausenden Ehrenamtlichen in Deutschland im Prinzip die Tür verschließen und sagen: Ihr bekommt nichts, aber Prominente zeichne ich aus? Herr Niebel, das ist schäbig. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, dass Sie diese Kampagne weiter finanzieren. Sie sollten auch den vielen Tausenden ehrenamtlichen Bürgerinnen und Bürgern endlich Anerkennung aussprechen, statt sie im Regen stehen zu lassen. ({3}) Ich möchte aus dem Offenen Brief der Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutschland zitieren, der uns heute erreicht hat. In dem Schreiben an Sie, Herr Niebel, heißt es: Die Eine Welt Landesnetzwerke haben diese Entscheidung bei ihrem gestrigen Treffen diskutiert und können sie überhaupt nicht nachvollziehen. Wir halten sie für ein falsches politisches Signal und eine schwere Enttäuschung für diejenigen, die mit viel Zeit, Energie und großem persönlichen Einsatz für eine gerechtere Welt und die Umsetzung der Millenniumsziele ihren Beitrag leisten. Das konterkariert ihre oft betonte Wertschätzung des bürgerlichen Engagement ins Gegenteil. ({4}) Ich kann Sie nur auffordern, Herr Minister: Kehren Sie um! Liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, egal welcher Fraktion Sie angehören, stimmen Sie unserem Antrag zu! Denn es kann nicht sein, dass Strukturen, die seit 2005 geschaffen wurden, jetzt auf einmal kaputtgehen, weil die Finanzierung ausbleibt. Denn wir haben die Ziele noch längst nicht erreicht. Die Begründung des Ministeriums ist ein Hohn. Das Ministerium hat geschrieben, die Finanzierung der Kampagne werde jetzt eingestellt, weil das Ziel erreicht sei. Jeder, auch die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne, sollte sich ehrlich fragen, ob er über die acht Ziele Bescheid gewusst hat. Denn das war das Ziel der Kampagne. Der Minister behauptet, alle Bürger in Deutschland kennen die acht Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, sodass er kein Geld mehr für entsprechende Werbung ausgeben muss. Das glauben Sie doch selbst nicht. Es gibt noch sehr viel zu tun. Denn wir sind leider noch weit davon entfernt, bis zum Jahr 2015 diese wichtigen Ziele zu erreichen. Dafür wird selbstverständlich auch Geld gebraucht. Auch deswegen war es richtig, dass die Initiatoren und Mitstreiter der Kampagne Ihnen, Herr Minister, kritisch gesagt haben, dass Ihre Politik in die falsche Richtung geht. Denn Sie können nicht die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit stagnieren lassen und in der mittelfristigen Finanzplanung sogar kürzen wollen und gleichzeitig behaupten, Sie hielten sich an diese Versprechen. Ich glaube nicht, dass Sie das, was als Grund für die Einstellung der Kampagne genannt wurde, nämlich dass alle Menschen in Deutschland diese Ziele kennen, ernsthaft glauben. Das sind vielleicht 10 bis 20 Prozent, wie wir aus Untersuchungen wissen. Sie wollten vielmehr eine kritische Kampagne mundtot machen, die den Finger in die Wunde gelegt hat, nämlich dass Sie das Ministerium letztlich nur noch als Einrichtung zur Außenwirtschaftsförderung verstehen, statt sich im Interesse der ärmsten Menschen an die Versprechen zu halten, die Deutschland bei den Vereinten Nationen und in Europa gegeben hat. Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Die Millenniumkampagne darf nicht sterben. Sie muss weitergehen und bis zum Jahr 2015 dafür sorgen, dass Menschen auf der ganzen Welt Chancen haben und aus Hunger und Armut herauskommen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sabine Weiss von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhalten wollen. Es geht heute in dem SPD-Antrag um die Forderung, die deutsche UNMillenniumkampagne zu erhalten. Herr Raabe hat das bereits ausgeführt. Die UN-Millenniumkampagne gliedert sich in eine nationale und eine internationale Kampagne. Die nationale deutsche Kampagne sollte das Bewusstsein für die Millenniumsziele in Deutschland schärfen, die internationale Kampagne das Bewusstsein in den Entwicklungsländern. Die Förderung für die deutsche UN-Millenniumkampagne läuft nun aus. Für die internationale Kampagne wird derzeit eine Fortsetzung der Förderung geprüft. Entwicklungspolitische Themen standen bisher bei uns nicht immer vordergründig in dem Verdacht, die Menschen auf die Straße zu locken. Viel zu weit weg vom alltäglichen Leben hier, in immerhin einem der reichsten Industrieländer der Welt, schienen Themen wie die Bekämpfung des Hungers und der Malaria. Dieses alte Klischee ist gottlob heute falsch. ({0}) Wie falsch es ist, haben die erfolgreichen Aktionen und Kampagnen der deutschen UN-Millenniumkampagne, aber auch der Kampagne von VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ und Kampagnen anderer Aktionsgruppen gezeigt. Mehr als 100 000 Menschen sind schon deutschlandweit an einem Wochenende für ein entwicklungspolitisches Thema wie beim „Stand Up“-Wochenende im Jahr 2008 auf die Straße gegangen. Laut VENRO haben mehr als 740 000 Menschen in Deutschland bereits ihre Stimme gegen die weltweite Armut erhoben. Die deutschen Kampagnen haben damit etwas geschafft, wovon viele andere Veranstalter und Organisatoren von Kampagnen nur träumen können. Die deutsche Bevölkerung macht mit - so haben wir es jetzt gesehen - im Kampf gegen die weltweite Armut und für mehr globale Gerechtigkeit. Sie beteiligt sich aktiv, prangert die weltweite Ungerechtigkeit an und leistet ihren Beitrag, um das Problem der weltweiten Armut zu bekämpfen. Dies ist sicherlich auch der deutschen UNMillenniumkampagne zu verdanken. Gemeinsam mit der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und vielen anderen zivilgesellschaftlichen Aktionsgruppen hat sie in den vergangenen sechs Jahren immer wieder den Finger tief in die Wunde gelegt. Durch ihren hartnäckigen Einsatz haben die Kampagnen die Aufmerksamkeit auf das, wie ich finde, dringendste Problem in unserer Welt, nämlich die weltweite Armut, gerichtet. Sie haben dafür gesorgt, dass das Elend des Hungers, fehlende Bildung und die Geiselhaft, in die Krankheiten wie HIV/Aids und Malaria ganze Länder genommen haben, bei uns eben nicht in Vergessenheit geraten. Sie haben aber auch uns Politikerinnen und Politiker immer wieder an unsere Versprechen und unsere Verantwortung erinnert sowie konsequentes Handeln angemahnt. Dafür bin ich dankbar; denn der öffentliche Druck, die Anstrengungen im Kampf gegen die weltweite Armut weiter zu verstärken, ist eine wichtige Unterstützung für uns Entwicklungspolitiker. So können wir das Thema in den Fraktionen, im Bundestag und im Wahlkreis immer wieder ganz oben auf der Agenda platzieren. Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Kampagnen die Menschen in Deutschland erreicht und berührt. Sie haben wichtige Aufklärungsarbeit geleistet über die Millenniumsentwicklungsziele und damit über das Versprechen, dass eine bessere und gerechtere Welt auch tatsächlich möglich ist. Fast könnte man jetzt sagen: Mission erfolgreich erfüllt. - Aber so einfach können wir es uns natürlich nicht machen. Zu groß sind noch die Herausforderungen bei der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele, trotz aller Erfolge. Solange nach wie vor fast 9 Millionen Kinder unter fünf Jahren jährlich an zumeist vermeidbaren oder behandelbaren Ursachen sterben, solange 72 Millionen Kindern im Grundschulalter ihr Recht auf Bildung verwehrt bleibt und solange schätzungsweise 1 Milliarde Menschen unterernährt sind, so lange sollte und muss ein Aufschrei der Empörung angesichts dieses Skandals durch uns und die gesamte Bevölkerung gehen. ({1}) Da Empörung allein aber noch keinen Hungernden satt macht, keinem Kind eine Zukunft gibt und keine werdende Mutter vor einem vermeidbaren Tod bei der Geburt bewahrt, ist es damit natürlich nicht getan. Unsere Empörung muss einhergehen mit rationalen Überlegungen, was wir, die Entwicklungs- und Schwellenländer sowie die Zivilgesellschaft besser machen können und besser machen müssen. Um die Millenniumsziele zu erreichen, müssen alle Akteure ihre Bemühungen weiter konsequent verstärken. Die Zeit drängt, und wir müssen besser werden. Um die Millenniumsziele zu erreichen, brauchen wir die öffentliche Aufmerksamkeit in den Industrienationen, aber auch besonders in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Nur wer die Millenniumsentwicklungsziele kennt und über die einzelnen Ziele Bescheid weiß, kann Druck auf alle Beteiligten ausüben, die Anstrengungen für die Erreichung der Ziele zu verstärken. Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat die deutsche Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft über die Millenniumsziele informiert und mobilisiert. Die För12726 Sabine Weiss ({2}) dervereinbarung läuft nun - das wissen wir seit sechs Jahren - zum 30. Juni dieses Jahres aus und wird auch nicht verlängert werden. Auch wenn es nie genug öffentliche Aufmerksamkeit, öffentliches Interesse und öffentlichen Druck für die Millenniumsziele geben kann, so finde ich es dennoch konsequent, dass diese Förderung nun ausläuft. ({3}) Die deutsche Kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Mittlerweile gibt es viele zivilgesellschaftliche Aktionsgruppen, die diese Lücke bestens füllen können, weil sie, um es plastisch zu sagen, schon lange das gleiche Feld beackern. Beispielsweise schafft es die Kampagne von VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ höchst erfolgreich und in beeindruckender Art und Weise, die Öffentlichkeit, Prominente und auch Politiker im Kampf gegen die Armut zu mobilisieren. Wir reden doch immer alle davon, dass wir Doppelstrukturen und Ineffizienzen vermeiden wollen. Wenn wir das wirklich ernst meinen, dann sollten wir das, was wir in den Partnerländern fordern, auch gefälligst hier in Deutschland tun. Denn wie heißt es so schön? - Kehre immer erst vor deiner eigenen Tür. Die deutsche Millenniumkampagne hat gute Arbeit geleistet, ihre Aufgaben erfüllt. Das BMZ hat die Kampagne mit insgesamt 3,3 Millionen Euro unterstützt. Nun aber haben sich andere Kampagnen und Aktionsgruppen etabliert, die die Aufgaben erfolgreich weiterführen und ausbauen werden. Die Mittel, die bisher in die deutsche UN-Millenniumkampagne geflossen sind, können nun an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden. Mangelnde Effizienz und nicht optimaler Mitteleinsatz sind doch nach wie vor das Problem in der Entwicklungszusammenarbeit. An dieser Stelle macht das BMZ wieder einmal ernst mit den Forderungen nach mehr Effizienz und eben weniger Doppelstrukturen, und das ist richtig so. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Weiss, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sascha Raabe?

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Weiss, Sie haben darauf hingewiesen, dass man die Mittel effizient verwenden und darauf hinwirken muss, dass es bei der Öffentlichkeitsarbeit keine Doppelstrukturen gibt. Das war Ihr Kernargument dafür, dass die finanzielle Förderung der Kampagne eingestellt wird. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass in diesem Jahr der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums um mehr als 300 000 Euro erhöht wurde, man aber den Ehrenamtlichen die Gelder für ihre Öffentlichkeitsarbeit streicht? Ist die Öffentlichkeitsarbeit eines Ministers mehr wert als die von Tausenden Ehrenamtlichen, die sich Tag für Tag in Kirchen und Nichtregierungsorganisationen weltweit für die Bekämpfung von Hunger und Armut einsetzen? ({0})

Sabine Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004187, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Dr. Raabe, sicherlich ist der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit nicht ausschließlich für den Minister, sondern auch für das Ministerium und für die Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland gedacht. ({0}) Gerade die Tatsache, dass die Mittel um 300 000 Euro aufgestockt werden, zeigt doch, wie viel Wert im BMZ weiterhin auf Kampagnen, auf die Entwicklungszusammenarbeit und damit auf die Menschen in den Entwicklungsländern gelegt wird. ({1}) Ich hoffe, dass die deutsche Förderung der internationalen UN-Millenniumkampagne weitergeführt werden kann; denn der Schlüssel zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele liegt in den Entwicklungsländern selbst. Dort müssen die Weichen richtig gestellt werden. Nur durch gemeinsames Handeln von Regierungen, Zivilgesellschaften und dem Privatsektor wird eine nachhaltige Entwicklung und Verbesserung möglich sein. Aber gerade in den Entwicklungsländern gibt es teilweise große Informationsdefizite über die Millenniumsziele an sich, über den aktuellen Umsetzungsstand und über die Anstrengungen der nationalen und internationalen Akteure zu deren Erreichung. Bedauerlicherweise - das wissen wir alle - ist es auch noch nicht in alle Winkel dieser Welt vorgedrungen, dass die Millenniumsentwicklungsziele Grundrechte widerspiegeln, die jedem Menschen zustehen müssen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, das zivilgesellschaftliche Engagement in den Entwicklungsländern zu mobilisieren und zu unterstützen. Hier leistet die internationale UN-Millenniumkampagne wichtige Aufklärungsarbeit. ({2}) Es ist aber auch an uns Politikern, die Bedeutung der Millenniumsentwicklungsziele und der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder in den Wahlkreisen und hier in Berlin zu thematisieren. Wir Entwicklungspolitiker müssen unsere eigene Kampagne gegen die weltweite Armut ins Leben rufen. Zusammengefasst: Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Zivilgesellschaftliche Kampagnen werden weiter für den Kampf gegen die weltweite Armut trommeln, hier in Deutschland und mit unserer Unterstützung in den Entwicklungsländern. Ein Auslaufen der Förderung ist folgerichtig, und daher lehnen wir den Antrag „Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“ ab. Wie ich eingangs sagte: Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhalten wollen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Weiss, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem heutigen Geburtstag. ({0}) Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heike Hänsel von der Fraktion Die Linke. ({1})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag reagiert heute auf die Tatsache, dass die Bundesregierung die Gelder für die deutsche UN-Millenniumkampagne - das wurde hier schon mehrmals erwähnt - gestrichen hat. So kurz nach dem Bilanzgipfel, der letztes Jahr bei den Vereinten Nationen stattgefunden hat - Bilanz: zehn Jahre Millenniumserklärung -, auf dem es wieder viele Versprechungen von der Bundesregierung gab, ist das, finde ich, ein Affront und eine Geringschätzung der Arbeit von vielen Initiativen und vielen Menschen. Das ist inakzeptabel. ({0}) Ich frage mich: Warum wurden die Gelder gestrichen? Um wie viel Geld geht es? Es geht um jährlich 500 000 Euro. Hier gab es schon verschiedene Vergleiche, etwa mit Imagekampagnen, die die Bundesregierung veranlasst. Zum Beispiel wurden letztes Jahr 3 Millionen Euro für eine Anzeigenkampagne für einen neuen Gesetzentwurf ausgegeben. Im Verhältnis dazu ist es völlig unverständlich, dass diese 500 000 Euro gestrichen werden. Deshalb halte ich die Begründung, die das Ministerium gegeben hat, die hier wiederholt wurde, auch von der Kollegin Weiss, die Ziele bei der Aufklärung seien erreicht, schlichtweg für vorgeschoben. Wir wissen, dass die Kampagne kritisch gearbeitet und überprüft hat, was die Zusagen der Bundesregierung angeht, was internationale Versprechen angeht, die gegeben wurden. Da ist die Bilanz zur Erfüllung schlecht. Erst die Hälfte der bis 2015 zugesagten Mittel wurde zur Verfügung gestellt. Da liegt die Bundesregierung weit zurück. Das hat die Kampagne kritisiert. Ich glaube, Herr Niebel, das ging Ihnen schlichtweg gegen den Strich. Deswegen schaffen Sie hier einen Präzedenzfall und zeigen, dass solche Kampagnen nicht mehr unterstützt werden. Das ist nicht demokratisch. ({1}) Ich möchte noch auf einen anderen Satz zurückkommen, den Sie in der Begründung gegeben haben. Den halte ich für viel entscheidender. Das Ministerium hat nämlich geschrieben: Der Schlüssel für das Erreichen der Millenniumsziele liegt in den Entwicklungsländern selbst. - Darauf möchte ich schon noch mit ein paar Sätzen eingehen. Das ist für mich nämlich ein bezeichnender Satz, der die politische Ausrichtung der Bundesregierung in der Entwicklungszusammenarbeit sehr deutlich beschreibt. Sie drehen den Spieß jetzt um. Die Verantwortung für Hunger, für Armut, für Unterentwicklung wird nun einseitig den Ländern des Südens zugeschoben, und Stück für Stück wird die Verantwortung der westlichen Industriestaaten dadurch zurückgenommen, sowohl finanziell als auch politisch. So geht es nicht. ({2}) Die Kanzlerin hat es heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genauso gesagt: mehr Eigenverantwortung der Regierungen in den Entwicklungsländern. Vor allem hat sie eigene Einnahmen der Entwicklungsländer gefordert. Sehr interessant finde ich das. Gleichzeitig fordert nämlich die Bundesregierung in ihrer Rohstoffstrategie systematisch den Abbau zum Beispiel von Schutzzöllen in den Rohstoffländern. Das sind aber ganz große Einnahmequellen. Diese wollen Sie systematisch abbauen. Das zeigt, dass hier eine Logik vorherrscht, die von Doppelmoral geprägt ist. ({3}) Sie wollen schlichtweg die Verantwortung den Entwicklungsländern zuschieben und sich selbst Stück für Stück zurücknehmen. ({4}). Dies betrifft auch die Handelsstrukturen der Europäischen Union und Deutschlands, die nach wie vor verhindern, dass endlich gerechte Preise für Produkte aus den Ländern des Südens gezahlt werden können, und die auch systematisch verhindern, dass Konzerne nicht mehr auf Kosten von billigen Arbeitskräften und unter Ausnutzung von miesesten Arbeitsbedingungen ihre Profite machen können. Dies verhindern Sie durch Ihre Handelspolitik. Da sind wir in der Verantwortung. Die westlichen Industriestaaten haben hier Verantwortung für Armut, für Hunger, für Unterentwicklung. Da können Sie sich nicht davonstehlen. ({5}) Genau diese Ausbeutungsstrukturen müssen wir bekämpfen. Wir müssen sie aber eben auch hier bewusst machen. Was sind die Ursachen von Armut? Wir tragen mit unserem Lebensstil zur Armut bei. Der Reichtum hier basiert zum großen Teil auf der Armut der Menschen weltweit, und dafür brauchen wir umfassende Aufklärung. ({6}) Dafür müsste in meinen Augen die Millenniumkampagne kritischer und politischer werden. ({7}) Um dieses Bewusstsein hier weiter zu fördern, brauchen wir auch Geld. Das sind die grundsätzlichen Fragen, und deshalb unterstützen wir auch den Antrag. Wir brauchen viel mehr Aufklärung über diese weltweiten Zusammenhänge. So, wie Sie es machen, Herr Niebel, geht es nicht. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Leibrecht für die FDP-Fraktion. ({0})

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die deutsche UN-Millenniumkampagne über sechs Jahre hinweg durchaus wertvolle Arbeit geleistet hat, um die deutsche Öffentlichkeit mit kreativen Aktionen über die UN-Millenniumsziele zu informieren und Unterstützung für die Erreichung dieser Ziele zu gewinnen - wir brauchen heute ganz andere Wege, um die Menschen im Land für dieses wichtige Thema zu gewinnen. ({0}) Die FDP-Fraktion wird dem Antrag der SPD zum Erhalt dieser Millenniumkampagne nicht zustimmen, und ich erkläre Ihnen auch gerne, warum das so ist: Das BMZ hat die deutsche UN-Millenniumkampagne seit 2005 mit insgesamt 3,3 Millionen Euro gefördert. Diese Ausgaben hatten in der Vergangenheit durchaus ihre Berechtigung. Die Entwicklungszusammenarbeit ist bei vielen Bürgern im Land jedoch kein unumstrittenes Politikfeld und braucht gerade darum auch mehr Öffentlichkeit. Es ist unerlässlich, dass wir unsere Ziele und unser Handeln gegenüber den Bürgern immer wieder erklären und sie für Fragen der Entwicklungspolitik sensibilisieren. Sicherlich hat die deutsche UN-Millenniumkampagne mit dazu beigetragen, dass das Thema der Jahrtausendentwicklungsziele in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile stärker verankert ist. Dass heute in der deutschen Öffentlichkeit über diese wichtigen Entwicklungsziele gesprochen und diskutiert wird, liegt aber weniger an Werbekampagnen, sondern vielmehr an der erfolgreichen Arbeit des BMZ und an Minister Niebel. ({1}) - Ja, früher hat doch kein Mensch außerhalb der deutschen Entwicklungscommunity trotz solcher teuren Kampagnen etwas von den Jahrtausendentwicklungszielen gewusst, geschweige denn, dass man etwas darüber erfahren hat, was das BMZ aktiv getan hat, um diese Ziele zu erreichen. Wir haben heute, was die deutsche Entwicklungszusammenarbeit anbetrifft, eine viel breitere und wesentlich besser informierte und vor allem interessierte Öffentlichkeit. Das Thema MDGs findet in den Medien statt, aber auch bei vielen Veranstaltungen von Nichtregierungsorganisationen, in Schulen, bei den Kirchen und den politischen Stiftungen. Fristete die Entwicklungszusammenarbeit früher eher ein Mauerblümchendasein und wurde über diese Jahrtausendentwicklungsziele wenig berichtet, so sind diese Themen heute sehr viel tiefer im Bewusstsein der Menschen hier im Lande verankert. Indem Entwicklungspolitik nicht mehr quasi hinter verschlossenen Türen stattfindet, sondern immer transparenter wird, nimmt sie die Öffentlichkeit auch mit. Wir haben gestern zum Beispiel im Ausschuss über den Entwurf der Entwicklungskampagne des BMZ gesprochen. Dabei legte Dirk Niebel kein vorab beschlossenes Papier vor, sondern ganz bewusst ein Konzept, das als Diskussionsgrundlage für die kommenden Monate dient. Jetzt hat jeder die Chance, sich bis November konstruktiv einzubringen. Schon jetzt gibt es viele öffentliche Veranstaltungen zu diesem Thema. Es sind gerade solche Veranstaltungen von Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteuren, die weitaus besser als teure Öffentlichkeitskampagnen über die Fortschritte bei diesen MDGs informieren. ({2}) Die deutsche UN-Millenniumkampagne war von Anfang an zeitlich bis zum 30. Juni 2011 begrenzt. Ich halte es für gut und sinnvoll, dass wir diese Ausgaben in Zukunft sparen und das Geld in die Projektarbeit in Entwicklungsländern stecken. Dort wird es sehr viel dringender benötigt. In den vergangenen Jahren haben sich rund um die deutsche UN-Millenniumkampagne viele Initiativen gegründet, die sich für die Erreichung dieser Ziele aktiv einsetzen. Diese Initiativen finden seit dem Regierungswechsel im BMZ einen Ansprechpartner, der das entwicklungspolitische Engagement der Zivilgesellschaft wesentlich unterstützt. ({3}) Damit haben wir genau das erreicht, was wir immer wollten: dass sich auch aus der Gesellschaft heraus Projekte und Initiativen entwickeln, die sich für die Erreichung dieser Jahrtausendentwicklungsziele in Deutschland engagieren. Damit keine Missverständnisse entstehen, meine Damen und Herren: Die Millenniumserklärung und deren Ziele sind Richtschnur für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Eine verantwortungsvolle Politik muss auf den effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Finanzmittel achten, vor allem in Zeiten knapper Kassen. Ich bin sehr froh, dass sich das BMZ diesem Grundsatz verpflichtet sieht und auf gute Arbeit, nicht aber auf teure Werbekampagnen setzt. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Völlig klar, der Antrag der SPD findet unsere Zustimmung, voll und ganz. Gar nicht klar ist, was die Bundesregierung bewogen hat, ausgerechnet beim deutschen Zweig der UN-Millenniumkampagne den Rotstift anzusetzen. Ich habe den Reden heute aufmerksam zugehört; es waren eigentlich gute Reden, die eher Argumente für die Fortsetzung der Unterstützung gebracht haben. ({0}) Die Schlussfolgerung ist für mich nicht nachvollziehbar. Man sagt: Die Kampagne hat gut gearbeitet. - Viele von uns haben an Aktionen mitgewirkt. Sascha Raabe hat hier bereits die acht Millenniumstore, die vor dem Reichstag aufgestellt wurden, noch einmal in Erinnerung gerufen. Viele haben Veranstaltungen in den Wahlkreisen gemacht. Es ist immer und immer wieder neu notwendig, auf die globalen Herausforderungen hinzuweisen, für die Erreichung der Millenniumsziele zu werben. Das ist doch nicht erreicht. Man kann doch nicht sagen: Auftrag erfüllt, das Kind kann laufen, jetzt brauchen wir das nicht mehr zu unterstützen. Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die Millenniumsziele zu erreichen. Gerade bei der Bekämpfung des Hungers geht die Entwicklung in die falsche Richtung; die Zahl der Hungernden steigt wieder. Auch bei der Bekämpfung von Müttersterblichkeit und Kindersterblichkeit gibt es eben nicht die Erfolge, die notwendig wären. Dafür gibt es viele Gründe. Deshalb erschließt es sich mir nicht, dass wir nicht auch die entwicklungspolitische Bildungsarbeit engagiert und couragiert fortsetzen und die erfolgreiche Millenniumkampagne weiterhin unterstützen. Ist es etwa die unliebsame Kritik der Millenniumkampagne an der Bundesregierung und an uns allen? Das wäre nicht in Ordnung; denn wir brauchen diese mahnenden Worte. Ich erinnere daran, dass die Millenniumkampagne nicht nur diese Bundesregierung für die Nichterfüllung der Versprechen kritisiert hat, sondern auch die Vorgängerregierung. Dieser Kritik müssen wir uns stellen. Sie wissen, jeder von uns weiß, dass zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit noch eine große Lücke klafft. Deshalb sollten wir uns auch weiter von der Millenniumkampagne anspornen lassen. Ich wünsche mir sehr - das habe ich auch heute Morgen schon im Rahmen der G-8-Debatte gesagt -, dass die Initiative, die aus allen fünf Fraktionen des Parlaments heraus entstanden ist, endlich die Versprechen zu erfüllen und schon in den nächsten Haushaltsberatungen genügend Mittel für Entwicklungsfinanzierung und humanitäre Hilfe bereitzustellen, Ergebnisse zeitigt, dass diese Kampagne vielleicht sogar noch vor der Sommerpause tatsächlich zu einem entwicklungspolitischen Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels hier in diesem Parlament führt, so wie die Briten es uns vorgemacht haben. Sie bitten uns inzwischen ja, nicht nachzulassen; denn sie werden jetzt durch die Boulevardpresse unter Druck gesetzt. Weil Großbritannien dabei ist, das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, während andere vergleichbare Industrienationen in Europa nicht mitziehen, fragt die dortige Presse: Warum sollen wir Briten es alleine machen? - Wir würden den Briten also in den Rücken fallen, wenn wir uns jetzt keinen Ruck gäben und weitere Schritte in diese Richtung unternehmen würden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregierung, die Streichung dieser Gelder wäre ein Eigentor. Es ist jetzt schon ein Imageschaden entstanden. Diese Kampagne steht auch nicht in Konkurrenz zu VENRO oder zu anderen Kampagnen. Hier findet vielmehr eine Solidarisierung statt, und es werden von allen Seiten Briefe des Inhaltes verschickt: Tut das bitte nicht! Wir brauchen überall, von Flensburg bis Passau, viele Kampagnen und Aktionen, die die Notwendigkeit des Erreichens der Millenniumsziele deutlich machen. Nehmen Sie diese unsinnige Kürzung zurück! Lassen Sie uns gemeinsam einen Konsens für die Entwicklungsfinanzierung finden! ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5897 mit dem Titel „Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/ CSU und FDP gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({2}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksache 17/5706 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Guido Westerwelle das Wort. ({4})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bitte erlauben Sie mir, dass ich, bevor ich die Einbringung des Mandates begründe, anlässlich eines besonderen Ereignisses eine Bemerkung vorab mache: Ratko Mladic wird des Völkermordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt und seit fast 16 Jahren als Kriegsverbrecher gesucht. Seine Festnahme ist eine sehr gute Nachricht für die Gerechtigkeit in Europa. ({0}) Ich habe soeben dem serbischen Präsidenten Tadic zu dem Erfolg gratuliert und auch dazu, dass jetzt die Aufarbeitung des Unrechts der Balkankriege erfolgen kann, weil die Voraussetzungen dafür nunmehr gegeben sind. Serbien löst mit der Verhaftung von Ratko Mladic eine langjährige Forderung der Europäischen Union und auch des Chefanklägers des Internationalen Jugoslawien-Tribunals ein. Aber so groß der Erfolg ist, wir müssen jetzt in dieser Stunde auch an die Opfer und an die Familien der Opfer des Massakers von Srebrenica denken. Ihr mutmaßlicher Peiniger kann jetzt zur Verantwortung gezogen werden. Die Festnahme von Mladic schafft eine weitere Grundlage für eine friedliche Zukunft der gesamten Balkanregion. Ich möchte noch einmal mit Nachdruck unterstreichen: Aus Sicht der Bundesregierung haben alle Länder des westlichen Balkans eine europäische Perspektive. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Status des Kosovo ist geklärt. Die Grenzen im westlichen Balkan sind gezogen. Im Juli des vergangenen Jahres, also nach der letztmaligen Mandatierung durch den Deutschen Bundestag, hat der Internationale Gerichtshof bestätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Einklang mit internationalem Recht erfolgte. Kosovo hat im vergangenen Jahr sicherlich Fortschritte gemacht. Wer sagt: „Politisch ist im letzten Jahr viel passiert, aber verändert hat sich wenig“, der sagt aus unserer Sicht nur die halbe Wahrheit. Zwar mussten im vergangenen Jahr die Parlamentswahlen in einigen Wahlkreisen wiederholt werden. Entscheidend ist aber, dass die Wahlen insgesamt friedlich und geordnet verlaufen sind. Entscheidend ist, dass Unregelmäßigkeiten in rechtsstaatlicher Weise aus der Welt geschafft werden konnten. Auch die Reaktion auf das, was dort festgestellt worden ist, ist wichtig und bedeutsam. Die Bürgerinnen und Bürger im Norden Kosovos haben sich mit ihrem Wahlboykott vor allem selbst geschadet. Sie berauben sich der Chance, die Politik Kosovos mitzugestalten. Die Serben im Süden des Landes sind viel weiter. Ihre Wahlbeteiligung lag höher als bei früheren Wahlen. Für den Süden sind die Wahlen ein Beispiel dafür, dass die Trennlinien zwischen den Ethnien poröser und durchlässiger werden, als radikale Kräfte immer wieder behaupten. Die Verfassung der Republik Kosovo reserviert von 120 Sitzen zehn Sitze für die serbische Minderheit; 13 serbische Kandidaten wurden gewählt. Für andere Minderheiten reserviert die Verfassung ebenfalls zehn Sitze; zwölf Minderheitenvertreter wurden gewählt. Heutzutage wird im Kosovo eben nicht nur nach ethnischen, sondern zunehmend auch nach politischen Gesichtspunkten entschieden. Wenn man bedenkt, dass sich im Februar erst zum dritten Mal der Tag der Unabhängigkeitserklärung Kosovos gejährt hat, dann muss man sagen, dass dies bemerkenswerte Fortschritte sind, die in dem politischen Zusammenhang unseres Mandats heute nicht unberücksichtigt bleiben sollten. ({2}) Richtig ist, dass seit der letzten KFOR-Debatte zwei Staatspräsidenten zurücktreten mussten. Richtig ist aber auch, dass das politische Vakuum nicht zu Unfrieden und Gewalt führte. Die Verfassung wurde eingehalten. Alle politischen Akteure haben die Entscheidung des Verfassungsgerichts respektiert. Es ist ein Zeichen für eine positive Entwicklung im Land, dass die Selbstheilungskräfte der Institutionen funktionieren. Noch sind viele Konflikte ungelöst; auch das festzustellen, gehört zu einer angemessenen und umfassenden Lagebeurteilung dazu. Diejenigen, die dort gewesen sind und Gespräche geführt haben, können aus diesen Gesprächen von vielen Ängsten und Unsicherheiten berichten. Die Lage im Norden Kosovos bleibt angespannt. Das Problem der Parallelstrukturen ist nicht gelöst. Der Schutz der serbisch-orthodoxen Klöster bleibt eine hochsensible Sicherheitsfrage. Das erfordert auch weiterhin den Rückhalt durch KFOR. Die kosovarischen Sicherheitskräfte übernehmen schrittweise mehr Verantwortung. Schon jetzt garantiert die lokale Polizei die Sicherheit von sechs der neun besonders schutzwürdigen serbischen Kulturdenkmäler. Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr weiter stabilisiert. Eine Reduzierung der internationalen Militärpräsenz und damit auch der Kräfte der Bundeswehr ist möglich. Es ist die zweite Reduzierung seit Antritt dieser Bundesregierung. Im letzten Jahr sank die Mandatsobergrenze von 3 500 Soldatinnen und Soldaten auf 2 500. Jetzt reduzieren wir in dem Antrag, den wir Ihnen vorlegen, erneut, und zwar auf 1 850 Kräfte. ({3}) Es soll aber auch hinzugefügt werden: Kosovo wird noch viele Jahre auf Unterstützung auch durch die Europäische Union angewiesen sein. Das hat auch der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission im Dezember 2010 deutlich gemacht. Die Kommission hat auch Fortschritte in der Justiz und beim Kampf gegen organisierte Kriminalität angemahnt. Noch häufen sich Klagen über die politische Beeinflussung der Gerichte. Noch ist Kosovo von europäischen Standards weit entfernt. Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten der EURechtsstaatsmission EULEX, die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Vorwürfen, die die Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarates erhoben haben, zu führen. Die Führung Kosovos hat ihre Unterstützung bei der Aufklärung angekündigt. Wir werden sie natürlich an ihren Taten messen. Dies ist ein langjähriges Engagement, auch ein langjähriges militärisches Engagement. Aber wir sehen, dass es gut war, Ausdauer zu haben und sich der Verantwortung zu stellen. Wir wollen nie vergessen, wie die Lage Mitte und auch noch Ende der 90er-Jahre gewesen ist. Manche fragen: Was geht uns das an? Spätestens dann, wenn man sich daran erinnert, wie viele Hunderttausende von Flüchtlingen aus der Region seinerzeit nach Deutschland gekommen sind, weiß man, dass Kosovo nicht irgendwo ist und dass nicht irgendwelche anderen betroffen sind. Das sind wir selbst; das ist Europa. Deswegen ist es richtig, dass dieser Einsatz auch unter den veränderten Umständen mit den veränderten Rahmendaten fortgesetzt wird. Wir bitten um Ihre Zustimmung. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Groschek für die SPDFraktion.

Michael Groschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004044, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, Herr Außenminister: KFOR ist seit 1999 zu einer Erfolgsgeschichte vernetzter Sicherheitspolitik geworden. Anders als das bei anderen Mandaten der Fall ist, ist das wirklich überprüfbar, nachvollziehbar und im Ergebnis unzweifelhaft. Deshalb gebührt unser Dank den Soldatinnen und Soldaten, aber auch allen anderen Einsatzkräften; denn hier gibt es ein vorbildliches Zusammenwirken aller. Man muss daran erinnern, was am Beginn des Einsatzes stand: Der Versuch von Staatenbildung - was angesichts grausamer Kriegsverbrechen und Vertreibung immer wichtiger wird - und ethnische Konflikte, die wir in Europa für unmöglich gehalten hätten. Wenn wir heute in die Region blicken, finden wir einen befriedeten Süden und einen Norden, der halbwegs sicher ist und nur noch relativ wenig Eskalationspotenzial birgt. Deshalb noch einmal: Allen Beteiligten ein herzlicher Dank für diesen Jahrzehnte dauernden Einsatz im Kosovo und in Serbien. ({0}) Wir haben am Wochenende vernehmen können, beispielsweise im NDR, dass sich ein Teil unserer Soldatinnen und Soldaten über Langeweile im Einsatz beklagt. Wenn das den Tatsachen entspricht, dann ist auch das ein Erfolgsindiz. Soldatinnen und Soldaten, die sich im Einsatzgebiet langweilen, sind allemal besser dran als diejenigen, die um Leib und Leben fürchten müssen. Auch deshalb ist der Einsatz der KFOR eine Erfolgsgeschichte der Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam in unterschiedlichen Regierungskonstellationen verantwortet haben. Ja, wir ziehen uns Stück um Stück zurück. Wir reduzieren das Mandat von ursprünglich 6 000 Bundeswehrsoldaten auf maximal 1 850 Soldaten. Unsere Zustimmung zu dem Mandat ist gewiss, weil auch wir sehen, dass die KFOR und unsere Streitkräfte im Grunde nur noch die Überlebensversicherung im Hintergrund bilden. Im Vordergrund stehen die nationale Polizei, die paramilitärische Miliz und das, was EULEX als internationale Polizeimacht bieten kann. Die schrittweise Übergabe der Verantwortung an die kosovarische Seite kann man nur begrüßen. Die Republik Kosovo sagt selbst: Bitte bleibt, ein Restrisiko wollen wir mit eurer Hilfe abdecken, weil unsere eigene Kraft und Staatlichkeit noch nicht ausreichen. - Trotzdem ist es für uns eine grundlegende Erkenntnis, dass nachhaltiger Frieden nicht durch das Militär gesichert werden kann, sondern nur durch Demokratie und Wohlstand. Wenn man Demokratie und Wohlstand als Grundlage nimmt, dann weiß man, dass nur Europa die Alternative zu Vertreibung und Zerstörung ist. Bei diesem langen Marsch des Kosovo und Serbiens nach Europa haben auch Sozialdemokraten Blutzoll gezahlt. Es war ein sozialdemokratischer Ministerpräsident, der von wirren Nationalisten in Serbien ermordet wurde, weil er seine Nation mutig nach Europa führen wollte. Solche Männer und diesen Geist wollen wir stärken. Wir würden uns gerade heute von der Bundesregierung, Herr Außenminister - nicht in Ihrer Rede, aber in der Rede, die die Bundeskanzlerin heute Morgen gehalten hat -, mehr Mut zu Europa wünschen, mehr Bekenntnis zu und Aktivität für Europa. In dieser Hinsicht haben wir heute vieles vermisst. Wir hatten das Gefühl, dass Teile der Regierung und der Regierungskoalition nicht bestrebt sind, die Stammtische zu überzeugen, sondern sich nach wie vor von ebendiesen über den Tisch ziehen lassen. Das ist sehr bedauerlich. ({1}) Mut macht dagegen die private Initiative in vielen Bereichen, unter anderem die Investitionsabsicht des ansonsten viel gescholtenen RWE: 350 Millionen Euro sollen in den nächsten Jahren in Wasserkraft in Serbien investiert werden. Das ist eine sehr sinnvolle Investition, die wir ausdrücklich begrüßen, weil sie die nachhaltige Entwicklung in der Region fördert. Investitionsbereitschaft setzt aber auch Investitionssicherheit voraus. Da hapert es noch an manchem. Ich darf daran erinnern, dass beispielsweise der WAZ-Konzern in einer Kumpanei von Politik und Wirtschaft auf dem Feld der Medienwirtschaft übelst ausgebootet werden sollte. Das ist das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit. Da muss in Serbien und der Region noch nachgearbeitet werden, wenn wir die Investitionen mobilisieren wollen, die wir brauchen, um die Region nach vorne zu bringen. Für uns endet die Verantwortung eben nicht mit dem Abzug der letzten Soldatin oder des letzten Soldaten. Vielmehr bekennen wir uns zu dem Prinzip, die Entwicklung weiter zu fördern. Da muss die Politik - gerade wir, für die die Perspektive Europa alternativlos ist - einen Beitrag dazu leisten, beiden Seiten zu helfen, sich aus ihrer Opferrolle zu emanzipieren. Wer immer nur mit dem Blick des Opfers auf den Nachbarn schaut, hat nicht die Kraft und die Fähigkeit, nach vorne zu blicken, über den Horizont zu schauen und mutig in Richtung Europa zu gehen. Ich finde schon, dass gerade heute, wo Mladic in Haft genommen wurde, ein Tag ist, um sich zur Europäisierung und zu einer Teilhabe beider Staaten im Rahmen der Europäischen Union zu bekennen. Der Weg dorthin ist lang; das wissen wir. Ich will diese Gelegenheit nutzen, um einen sicherheitspolitischen Punkt anzusprechen, der uns in dieser Woche im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ beschäftigt hat: die Streubombenverminung Serbiens. Ein serbisches Opfer hat sehr eindrucksvoll geschildert, wie es als Bombenentschärfer mit der Streubombenmunition in Kontakt gekommen ist und körperlich versehrt wurde. Wir konnten in der Zeit nachlesen, auf wie skandalöse Weise beispielsweise unsere staatlichen Zuschüsse zur RiesterRente missbraucht werden, um in die Produktion von verbotener und geächteter Streubombenmunition zu investieren. Hier beginnt unsere Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung: Wir müssen gemeinsam nicht nur fordern, das Streubombenverbot juristisch durchzusetzen und abzusichern, sondern wir müssen die Produktion von Streubomben dadurch auch praktisch verunmöglichen, dass wir ein Verbot von Investitionen in die Produktion dieser grässlichen Waffen erwirken. Das wäre ein Ausrufezeichen, welches wir uns von dieser Bundesregierung wünschen würden. ({2}) In diesem Sinne: Jede Unterstützung für das Mandat. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Thomas de Maizière. ({0})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Geschichtliche Entwicklungen vollziehen sich in Geschichten und Namen: Der Außenminister hat an Mladic, seine Verbrechen und seine Verhaftung erinnert. Herr Groschek hat an Herrn Djindjic erinnert, der ermordet worden ist. Auch ich will mit einer Geschichte beginnen, aber mit einer schönen: Vor rund zwei Wochen, am 10. Mai, wurde das Erzengelkloster im Bistrica-Tal bei Prizren von der Kosovo Force an die kosovarischen Sicherheitsbehörden übergeben, als sechstes von insgesamt neun serbischen Kulturgütern. Diese Übergabe hatte für das deutsche Kontingent eine ganz besondere, auch emotionale Bedeutung, war es doch die Bundeswehr, die dieses Kloster über viele Jahre zu schützen hatte. Bei den schweren Unruhen im März 2004 mussten unsere Soldaten nämlich die wenigen dort ansässigen serbischen Mönche evakuieren, um sie so vor Schlimmerem zu bewahren. Das Kloster selbst erlitt schwerste Schäden. Der Wiederaufbau ist zwischenzeitlich abgeschlossen, auch mithilfe der Bundeswehr. Die kleine Geschichte über das Kloster erzählt eigentlich die ganze Geschichte dieses Einsatzes. Seit diesen Unruhen ist es auch dank der Präsenz von KFOR nie wieder zu Ausschreitungen solchen Ausmaßes gekommen. Es gibt sie noch, die gelegentlichen Zwischenfälle; Sie haben darauf hingewiesen. Die Lage im Norden des Kosovo bleibt gespannt. Aber insgesamt hat sich die Sicherheitslage im Kosovo nachhaltig stabilisiert. Zur Stunde versehen im Kosovo noch rund 1 000 deutsche Soldaten ihren Dienst bei KFOR. Wir werden dieses Kontingent zeitnah auf 900 Soldatinnen und Soldaten reduzieren. Da fragt man sich: Warum erbitten wir ein Mandat von höchstens 1 850, wenn es doch nur 900 sind? Die Antwort besteht darin, dass wir 500 in Deutschland in Reserve stehende Soldaten eines Operational-Reserve-Force-Bataillons bereithalten - das ist mit den Kosovaren abgestimmt -, damit man, wenn es zu Unruhen käme, schnell eingreifen könnte. Der Rest bezieht sich auf Personalüberhänge bei Kontingentwechseln und Ähnliches. Die Reduzierung von derzeit möglichen 2 500 auf mögliche 1 850 Soldatinnen und Soldaten steht in vollem Einklang mit der laufenden Absenkung der Gesamtstärke von KFOR. Es ist schon gesagt worden - ich unterstreiche das -: Die Strategie ist erfolgreich. Sie mündet zunehmend in politische Aktivitäten. Natürlich - der Außenminister hat darauf hingewiesen - müssen die kosovarische Regierung und auch die serbische Regierung einen Beitrag dazu leisten, insbesondere mit Blick auf die Grenz- und Statusfragen, die sie haben. Aber wir wünschen uns natürlich auch - ich sage das heute aufgrund der netten Stimmung, in der wir sind, ganz zurückhaltend - mehr rechtsstaatliche Fortschritte, gerade im Kosovo. Das gehört dazu. An diesem Erfolg der internationalen Gemeinschaft - daran will ich heute einmal erinnern - haben insgesamt 110 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 im Einsatz mitgewirkt. Manche Doppelzählung ist dabei, weil manche mehrfach im Einsatz waren; das weiß ich durchaus. Auf die genaue Zahl kommt es nicht an. Aber diese Zahl macht deutlich, um welche Dimension es geht: In zehn Jahren haben dort weit über 100 000 verschiedene deutsche Soldaten ihren Einsatz geleistet. Ihnen sowie den zivilen Mitarbeitern bei UNMIK und EULEX sei auch von mir an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung ({0}) Unsere Soldaten leisten eine gute Arbeit. Ich war im März vor Ort und habe mich selbst davon überzeugt. Wir sind dort hochgeschätzt bei unseren Partnern, bei der kosovarischen Regierung und der Opposition, also auf allen Seiten. Deshalb wird Deutschland nun zum dritten Mal in Folge und zum sechsten Mal insgesamt den Kommandanten, den COMKFOR, also den Chef von KFOR insgesamt, für ein weiteres Jahr stellen. Ich glaube, das ist eine Auszeichnung. ({1}) Wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich über die Unterstützung dieses Hohen Hauses und bitte in der zweiten Lesung um Zustimmung zur Mandatsverlängerung. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Inge Höger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als zwölf Jahre ist die NATO schon im Kosovo präsent. In vielen Bereichen des Landes ist die Lage heute verheerender als vor Beginn des NATO-Krieges. ({0}) Die verschiedenen internationalen Akteure, besonders die NATO und die EU, haben neben militärischen Aktionen auch in zivilen, polizeilichen und wirtschaftlichen Bereichen in das Land eingegriffen. Die Situation in dieser Balkanregion hat sich dadurch grundlegend verändert. Verbessert hat sie sich nicht, im Gegenteil. ({1}) Vor der NATO-Intervention war es vor allem die schlechte ökonomische Situation, die neben dem serbischen und albanischen Nationalismus die Lage im Kosovo destabilisiert hat. Obwohl es im ehemaligen Jugoslawien eine Art Länderfinanzausgleich zur Unterstützung des Kosovo gab, lag das Einkommen dort pro Kopf nur bei etwa der Hälfte dessen, was im Rest Jugoslawiens erzielt wurde. Nach zwölf Jahren Besatzung liegt das Einkommen im Kosovo nun bei weniger als einem Viertel dessen, was in Serbien verdient wird, ({2}) und die Schere geht zunehmend weiter auseinander. Etwa die Hälfte der Menschen im Kosovo ist arbeitslos. Mehr als ein Drittel lebt in Armut, ({3}) und beinahe 20 Prozent leben in extremer Armut. Diese Menschen müssen von weniger als 94 Cent pro Tag leben. ({4}) Sie können ja versuchen, mit 94 Cent pro Tag auszukommen. Angesichts dessen ist klar, dass die im Mandatsantrag erwähnte „weitestgehende“ Ruhe bestenfalls oberflächlich ist. Hier zeigt sich überdeutlich: Das Mantra der Bundesregierung, Sicherheit sei die Voraussetzung für Entwicklung, funktioniert nicht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn die Menschen eine Entwicklungsperspektive haben, dann wird auch die Sicherheitslage besser. ({5}) Doch genau hier haben die Besatzer auf ganzer Linie versagt. Die ethnische Spaltung des Landes hat sich in den letzten zwölf Jahren verfestigt. Es sind zwar nahezu alle kosovo-albanischen Flüchtlinge in das Land zurückgekehrt, von den 230 000 serbischen Flüchtlingen aber gerade einmal 15 000. Davon mussten 4 000 bei den Unruhen 2004 erneut fliehen. Für Roma sieht die Lage noch schlechter aus. Sie werden im Kosovo verfolgt. Für diese Bevölkerungsgruppe ist die Lebenssituation ziemlich aussichtslos. Trotzdem finden nach wie vor Sammelabschiebungen aus Deutschland statt. Eine humane Politik sieht anders aus. ({6}) Institutionen, die mit westlicher Hilfe im Kosovo aufgebaut wurden, haben wenig zur Demokratisierung beigetragen. Für die Privatisierungen ist beispielsweise die Kosovo Trust Agency zuständig. Sie hat mit zur Ausbreitung von Korruption beigetragen. Der Sonderermittler des Europarates, Dick Marty, gibt der KFOR und auch der Bundeswehr wesentliche Mitschuld an der Ausbreitung von organisierter Kriminalität, von Menschenhandel und illegalen Organtransplantationen. ({7}) Eine solche Mitschuld ist in Untersuchungen und Berichten nachgewiesen worden. Die internationale zivile und militärische Präsenz ist mit dafür verantwortlich, dass Bordelle mit Zwangsprostituierten gute Geschäfte machen. ({8}) Das sieht auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung so. Diese Studie berichtet übrigens auch davon, dass die kosovarische Bevölkerung in der internationalen Präsenz „überhebliche Protektoratsherren“ sieht. Die Linke fordert ein Ende der NATO-Besatzung. Die frei werdenden Gelder könnten dann zur Verbesserung der Situation der Menschen vor Ort eingesetzt werden. ({9}) Vor allem aber ist die Einsicht nötig, dass die bisherige Kosovo-Politik ein grundlegender Fehler war. Das vorliegende Mandat führt nur weiter in die politische Sackgasse. Die Linke lehnt die Mandatsverlängerung ab. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Präsenz deutscher Soldaten im Kosovo beruht auf der UN-Sicherheitsresolution 1244 aus dem Jahr 1999. Nicht nur Russland, auch Serbien hat seinerzeit der Stationierung der internationalen Truppen zugestimmt. Die völkerrechtliche Legitimität ist damit im Gegensatz zur vorangegangenen nicht UN-mandatierten NATO-Intervention unstreitig. ({0}) Das Überzeugendste an diesem Einsatz aber ist, dass er sich konsequent selbst überflüssig macht. Erfreulich ist die Reduzierung der Truppen von ursprünglich 50 000 Soldaten auf jetzt 5 500, davon noch 900 deutsche. Die weitere Reduzierung ist geplant. Die Multinational Battle Groups wurden aufgelöst und durch Monitoring Teams ersetzt. Der Flugbetrieb der Bundeswehr wurde eingestellt, und die Hubschrauber wurden zurückverlegt. Die größten Herausforderungen für die 2 Millionen Einwohner des Kosovo sind nicht militärischer, sondern polizeilicher und rechtsstaatlicher Natur. Dieser Tatsache tragen der schrittweise Abzug der Truppen und die Übertragung der Aufgaben auf die Kosovo Police Force Rechnung. Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Trotz eines gewissen Wirtschaftswachstums liegt die Jugendarbeitslosigkeit nach offiziellen Angaben bei über 60 Prozent. Die ethnische Teilung verursacht nach wie vor Spannungen. Die meisten der 200 000 Kosovo-Serben leben in der Region um Mitrovica mit eigenen Verwaltungsstrukturen. Korruption und mafiose Strukturen prägen das Machtgefüge im Kosovo. Bei einer Fahrt durch das Land springt einem sofort die unerklärlich große Zahl von Baustellen ins Auge. Man fragt sich, warum all die Hotels und Tankstellen nie fertig werden und als Bauruinen die Landschaft verschandeln. Die Antwort: Drogenhandel und Geldwäsche sind die vorherrschenden Einnahmequellen. ({1}) Besorgniserregend ist darüber hinaus der Ausbau der Kosovo Security Force zu einer milizartigen Streitkraft, obwohl diese ursprünglich allein für Evakuierung, Brandbekämpfung und Minenräumung eingerichtet wurde. Eine solche bewaffnete Miliz kann leicht zur Keimzelle neuer bewaffneter ethnischer Auseinandersetzungen werden. Umso bedauerlicher ist es, dass diese 2 000 Kräfte gerade erst mit 900 deutschen G-36-Gewehren von Heckler & Koch beliefert worden sind. Der verständliche Wunsch nach Ruhe und Frieden im Land darf nicht dazu führen, dass die organisierte Kriminalität, die bis in die Regierung hineinreicht, verschont bleibt. ({2}) Die europäische Rechtsstaatsmission EULEX muss dafür alle erforderliche Unterstützung bekommen, auch wenn Ermittlungserfolge bei der Korruptionsbekämpfung gelegentlich Demonstrationen und Widerstand hervorrufen. EULEX ist die größte zivile Mission der EU mit 1 400 Polizisten, 50 Richtern, 30 Staatsanwälten und 76 Zollbeamten. Von dem Erfolg dieser Arbeit wird abhängen, ob sich das Kosovo eines Tages in die EU integrieren lassen wird. ({3}) Auch müssen Kosovo und Serbien Wege einer pragmatischen Annäherung finden, wenn sich für beide eine europäische Perspektive auftun soll. Hoffnung macht die von Serbien mitgetragene UN-Resolution vom Oktober letzten Jahres, in der genau dies gefordert wird. Hoffnung macht natürlich auch die heutige Verhaftung des gesuchten Kriegsverbrechers Ratko Mladic. Schließen möchte ich mit einem Appell an die Bundesregierung, die Abschiebung der Roma in das Kosovo zu beenden. ({4}) Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg, hat die Lebensbedingungen der abgeschobenen Roma im Kosovo als humanitäre Katastrophe bezeichnet. Die Hälfte der 12 000 ausreisepflichtigen Roma ist jünger als 18. Zwei Drittel von ihnen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Viele von ihnen sprechen weder serbisch noch albanisch, und nur die wenigsten haben die Chance, im Kosovo eine Schule zu besuchen. Ein Drittel dieser Kinder in den Lagern haben laut Grundrechte-Report nicht genug zu essen. Erinnern wir uns an die Rede von Zoni Weisz am 27. Januar dieses Jahres hier im Bundestag und an unsere VerantKatja Keul wortung und Verpflichtung gegenüber den Roma und Sinti Europas. ({5}) Beenden Sie die Abschiebung der Roma in das Kosovo! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 verabschiedete, sprach das Generalsekretariat der Vereinten Nationen von einer Tragödie im Kosovo. Davon sind wir heute Gott sei Dank weit entfernt. Deshalb fand ich es unmöglich, dass hier gerade diejenigen, die einen wichtigen Beitrag zu dieser Stabilisierung geleistet haben, als Besatzer bezeichnet worden sind. Ich glaube, das war ein Missgriff, der in dieser Debatte nichts verloren hatte. ({0}) Es ging damals für die Kosovaren um ihr Überleben. Elf Jahre später hat sich viel zum Guten gewendet. Vor elf Jahren haben die Vereinten Nationen uns angesichts einer humanitären Tragödie den Auftrag gegeben, ein sicheres Umfeld für alle Menschen im Kosovo zu schaffen. Wir erinnern uns: Deutschland hat es sich nicht leicht gemacht, bei diesem Einsatz mitzumachen und Verantwortung zu übernehmen. Vor elf Jahren beschloss der Deutsche Bundestag ein Mandat mit einer Obergrenze von 8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem Mandat mit 8 500 Mann vom 12. Juni 1999 und dem Mandat mit 1 850 Mann, das heute zur Rede steht, ist ersichtlich. Der zivil-militärische Friedenseinsatz hat Erfolg gezeigt. Deshalb dürfen wir heute davon ausgehen, dass KFOR mit maximal 1 800 deutschen Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Vor diesem Hintergrund kann niemand behaupten, die Männer und Frauen der Kosovo Force hätten in den elf Jahren nicht viel erreicht. Die internationale Gemeinschaft musste diese Tragödie stoppen. Die Präsenz ist weiterhin notwendig. Wir investieren damit auch in die Zukunft Europas. Den Erfolg stellte kürzlich auch die Neue Zürcher Zeitung fest, die schrieb: Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebrochen: Mehr und mehr Serben nehmen am politischen Leben teil, profitieren von den Minderheitenrechten und -quoten und spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der Politik in Kosovo. Dies ist letztendlich ein Verdienst unserer politischen Initiativen, insbesondere der Initiativen, die unser Außenminister in den vergangenen zwei Jahren gestartet hat. Diesen Erfolg möchte ich hier nicht unerwähnt lassen. ({1}) Wie steht es um die Sicherheit? Generalmajor Erhard Bühler, der deutsche Kommandeur der KFOR-Truppen, hat am 22. April dieses Jahres die Aufgabe so beschrieben - ich zitiere erneut -: „Für mich ist es wichtig, Aufgaben der KFOR auf die Behörden des Kosovo zu übertragen, insbesondere an die Kosovo Police. Es ist kein Geheimnis, dass ich eine hohe Meinung von der Kosovo Police habe.“ - Dies ist tatsächlich ein großer Erfolg und zeigt, dass wir - nach der kosovarischen Polizei und den Polizisten von EUPOL - nur noch die dritte Linie der Sicherheit garantieren. Wir leisten einen wichtigen Beitrag als Absicherung für den Fall, dass es wieder zu größeren Problemen kommt. Minister de Maizière hat vorhin das sehr anschauliche Beispiel des Schutzes der Mönche und Schwestern in den Klöstern genannt. Dies zeigt, wie wichtig dieser Einsatz war und welch hohen symbolischen Stellenwert einzelne Maßnahmen der Bundeswehr im Kosovo hatten. Dies ist aus meiner Sicht ein historisch ganz wichtiger Punkt. Ich weise noch einmal darauf hin, dass in der Geschichte sehr dramatische und schlimme Dinge auf dem Balkan geschehen sind, für die Deutschland verantwortlich war, dass Deutschland an dieser Stelle aber eine gute Spur hinterlassen hat. Dafür bin ich den deutschen Soldatinnen und Soldaten außerordentlich dankbar. ({2}) Ich möchte diese Debatte nutzen, um unser Engagement in der gesamten Region des Balkans auch über dieses Mandat hinaus deutlich zu machen. Die Fortschritte sind bereits angesprochen worden. Natürlich wird es weiterhin wichtige Themen geben, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Die Zukunft der Region insgesamt liegt unserer Meinung nach innerhalb der Europäischen Union. Dies betrachte ich auch als eine Vision für die Europäische Union; nicht kurzfristig, aber langfristig ist dies ein wichtiger Schritt. Auch Serbien sieht seine Zukunft, wie wir aus vielen Gesprächen wissen, in der EU und hat am 22. Dezember 2009 einen Beitrittsantrag gestellt. Dafür bedarf es natürlich einer echten EU-Perspektive. Die Voraussetzung dafür ist die Klärung des Verhältnisses zwischen dem Kosovo und Serbien. Serbien hat sein Anliegen im Hinblick auf eine rechtliche Bewertung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit gutem Recht vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorgetragen; das steht Serbien frei. Der verantwortungsvolle Umgang der Serben mit der Antwort des IGH hat uns die Hoffnung gegeben, dass allen klar ist: Es geht ernsthaft darum, dass Serbien und das Kosovo ihre Konflikte friedlich lösen und letztlich als gute Nachbarn zusammenleben. Dazu bedarf es allerdings weiterer Schritte, und bis dahin ist es noch ein langer Weg. Gestern mussten wir leider die Meldung lesen, dass Serbiens Präsident Tadic das Gipfeltreffen zwischen Präsident Obama und den Staatschefs aus Ost- und Südeuropa in Warschau boykottieren möchte. Der Grund sei, dass auch die Präsidentin des Kosovo eingeladen ist. Wenn das stimmt, muss man sagen: Das ist der falsche Weg. Dies bedarf zwar keiner Geißelung, aber des Hinweises, dass wir uns das so nicht vorstellen. Wir halten es für den richtigen Weg, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und die Gemeinsamkeiten zu betonen. Das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass wir in den vergangenen Monaten sehr gute Gespräche mit serbischen Politikern geführt haben. Insofern hat mich die gestrige Meldung überrascht und gleichzeitig enttäuscht. ({3}) Unsere Fraktion wirbt für die Verlängerung dieses Mandats. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5706 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern - zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen streichen - Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000 Berichterstattung: Abgeordneter Volkmar Vogel ({1}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunternehmen neu ausrichten - Drucksachen 17/4698, 17/5124 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Götz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({3})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema „Altschuldenentlastung für die Wohnungsunternehmen in den neuen Bundesländern“ begleitet uns schon seit der Wiedervereinigung. Die Altschulden sind eine Last aus der DDR-Zeit, die es gemeinsam zu schultern galt und die wir zurzeit gemeinsam schultern. Die Umstellung von einer staatlich zentral gesteuerten Planwirtschaft auf die Erfordernisse der sozialen Marktwirtschaft hat viele Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vor enorme Herausforderungen gestellt. Ohne die Städtebauförderung im Allgemeinen und die Altschuldenregelungen im Besonderen wären viele Wohnungsunternehmen seinerzeit nicht überlebensfähig gewesen. Die Unionsfraktion will an der bewährten Struktur des Wohnungsmarktes, bestehend aus kommunalen, genossenschaftlichen und privaten Wohnungsunternehmen, festhalten. ({0}) Die Altschuldenhilfe trägt Sorge dafür, dass dies, zumindest für Teile, auch möglich ist. Das empirica-Gutachten, auf das sich insbesondere die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezieht, zeigt, dass die Maßnahmen zur Altschuldenregelung gewirkt haben und noch immer wirken. Bisher haben über 300 Unternehmen eine Bewilligung für zusätzliche Altschuldenhilfe erhalten. Von den 1,1 Milliarden Euro, die dafür bereitgestellt worden sind, stehen bis 2013 noch circa 180 Millionen Euro zur Verfügung. Mit Blick auf die Zeit nach 2013 wollen wir von der christlich-liberalen Koalition nach Lösungen suchen, damit der Prozess des Stadtumbaus nicht ins Stocken gerät. Dazu wollen wir den vorgesehenen Bericht aus dem BMVBS zum Stadtumbau Ost, die Evaluierung des Stadtumbaus Ost, im nächsten Jahr, im Jahre 2012, abwarten. Dann werden wir die aktuelle Situation prüfen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen auch für die Altschuldenhilfe ziehen, aber weniger mit Blick auf die wirtschaftliche Situation der WohnungsunternehVolkmar Vogel ({1}) men, sondern mehr mit Blick auf die wohnungspolitische Situation der Akteure und Unternehmen, die sich aktiv in die Stadtentwicklung in den Kommunen einbringen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jahren hat sich die wirtschaftliche Lage der ostdeutschen Wohnungsunternehmen stetig und merklich verbessert mit der Folge, dass die Altschulden keine wesentlichen Auswirkungen mehr auf die ostdeutsche Wohnungswirtschaft haben. ({3}) - Ich komme dazu, Herr Hacker. - Dabei ist Folgendes zu sehen: Die allermeisten Unternehmen im Osten haben nämlich ihre Hausaufgaben gemacht, und das verdient unsere Anerkennung. Sie haben ihre eigene Verwaltung konsolidiert, durch Sanierung attraktiven Wohnraum geschaffen, der auch nachgefragt wird, angemessene Mietpreiserhöhungen durchgeführt, was nicht immer leicht war, und natürlich auch Wohnungsbestand verkauft. Die allermeisten Wohnungsunternehmen sind diesen schwierigen Weg gegangen und haben es aus eigener Kraft geschafft, nicht mehr durch Altschulden in ihrem Fortbestand gefährdet zu sein. Im Koalitionsvertrag haben Christdemokraten und Liberale vereinbart, Investitionen in den Innenstädten zu fördern. So sollen durch den Stadtumbau Ost die Innenstädte aufgewertet und die Sanierung der Altbausubstanz gestärkt werden. Durch das empirica-Gutachten, das uns vorliegt und das wir sehr intensiv ausgewertet haben, wird diese Idee bestätigt. Allerdings ist zu beachten, dass Investitionen in die Innenstädte nicht in direktem Zusammenhang mit der Altschuldenregelung im Osten stehen, sondern ein Thema der Städtebauförderung insgesamt sind. Mein Kollege Peter Götz wird nachfolgend nähere Ausführungen dazu machen. Da uns als Union die bewährte Struktur aus kommunalem, genossenschaftlichem und privatem Wohnungseigentum wichtig ist, möchte ich erwähnen, dass insbesondere in den Innenstädten viele private Immobilienbesitzer vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie die kommunale Wohnungswirtschaft. ({4}) Auch sie sind seit 1990 hohe Verbindlichkeiten eingegangen und haben mit ihrem Engagement zu einer erheblichen Aufwertung und Verbesserung der Situation der Innenstädte in den ostdeutschen Bundesländern beigetragen. ({5}) Ich selber komme aus Ostthüringen. Der größte Teil meines Wahlkreises ist ländlich geprägt. Da die Einwohnerzahl insgesamt sinkt, wird insbesondere auch der ländliche Teil meines Wahlkreises betroffen sein. So zeichnet sich ab, dass der Leerstand in den kleinen Städten und auch in den Dörfern bedrohlich wachsen wird. Hier werden wir nach Lösungen suchen müssen, die jenen Hausbesitzern helfen, die Investitionen vorgenommen und so zu einer erheblichen Aufwertung ostdeutscher Städte und auch Gemeinden beigetragen haben. Dass wir auch in diesem Bereich eine Lösung finden, ist mir persönlich wichtig; denn ich möchte nicht, dass sich am Ende, wie in der DDR, nur der Staat um die Gestaltung des Lebens- und Wohnumfeldes in den Städten und Dörfern kümmert. ({6}) Privates Engagement im Bereich des Wohnens muss unterstützt und gefördert werden. Nur so werden wir dafür Sorge tragen, dass wir langfristig einen ausgewogenen und attraktiven Wohnungsmarkt in Deutschland behalten. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Vogel, Sie haben hier ein Lied gesungen, das zum Teil mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung steht. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass in den letzten zwei Jahrzehnten viel geleistet worden ist. Aber es geht heute um die Problematik Altschuldenentlastung. Ich stelle nicht infrage, dass wir die Vielgestaltigkeit des Wohneigentums in den neuen Ländern erhalten und weiterentwickeln wollen und dass private Grundstückseigentümer an den staatlichen Fördermaßnahmen beteiligt werden sollen. Das ist alles unbestritten. Heute geht es konkret um die Altschuldenproblematik, ({0}) und es geht um die Städtebauförderpolitik dieser Bundesregierung im Allgemeinen. ({1}) - Darum geht es im Allgemeinen, Herr Döring; denn die Politik der Bundesregierung ist nicht von nachhaltigen Anstrengungen bei der Lösung stadtentwicklungspolitischer Themen in den neuen Ländern geprägt. ({2}) Das kann man weder von der Bundesregierung noch von der schwarz-gelben Koalition in diesem Hause sagen. Damit geben Sie, wie ich finde, ein sehr wichtiges Pfund auf, das in der Städtebauförderung in Deutschland viele Jahre prägend war. Daraus konnten wir die guten Ergebnisse erzielen. Ich erinnere nur daran, dass Sie die Programme „Stadtumbau Ost“ und „Soziale Stadt“ abgewertet haben. Das weiß jeder. Das sagen Ihnen alle Wohnungsunternehmen. Dafür werden Sie kritisiert. ({3}) - Jetzt komme ich zur Altschuldenhilfe, Herr Döring. Bei der Altschuldenhilfe zeigen Sie nicht einen einzigen Ansatz. Sie haben selber ein Gutachten in Auftrag gegeben, das Ihnen konkrete Hinweise zur Entwicklung einer Politik gibt. Dieses Gutachten negieren Sie. Damit ist beides in Verbindung zu bringen; denn wir müssen Abriss und Sanierung als Einheit sehen. ({4}) Abriss und Sanierung sind zwei Seiten einer Medaille. Diese beiden Seiten nehmen Sie nicht wahr. Wir sind dafür, dass wir weiter Abriss und Aufwertung vornehmen. Für uns sind neben den Innenstädten, die in den nächsten Jahren sicherlich eine bedeutende Rolle spielen werden, auch die Plattenbaugebiete weiterhin wichtig, weil wir wohnungspolitisch betrachtet noch Jahrzehnte weiter mit ihnen leben müssen. ({5}) - Das ist auch nicht das Thema, Frau Müller. Das Thema ist, dass wir dort helfen müssen, wo noch mehr getan werden muss. Wir haben aus der DDR-Zeit die schon erwähnten Altschulden übernommen. ({6}) Derzeit liegen immer noch 7,6 Milliarden Euro Altschulden auf den ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Es gab sicherlich unterschiedliche Aktivitäten. Damit haben Sie recht, Herr Vogel. Dass das AltschuldenhilfeGesetz enorm geholfen hat, bestreitet die SPD auch nicht. Ich sage nur: Gerade vor dem Hintergrund, dass letzte Woche die Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen einen Hilferuf an die Bundesregierung gerichtet haben, müssen wir jetzt aktive Politik machen, Herr Mücke. Haben Sie den mitbekommen? - Sie haben sich in den Haushaltsberatungen dankenswerterweise kräftig ins Zeug gelegt und wollten die Städtebaufördermittel ein bisschen aufstocken. Aber leider ist nicht viel dabei herausgekommen. - Noch einmal zurück zu dem Appell aus Berlin-Brandenburg, lieber Herr Staatssekretär Mücke. ({7}) Der Hilferuf aus Berlin-Brandenburg, der von den Ministern anderer Länder und auch von den Wohnungsunternehmen unterstützt wird, Herr Döring, lautet im Wesentlichen: Im Jahr 2016 könnte jede siebte Wohnung in Berlin-Brandenburg unbewohnt sein. ({8}) - Damit komme ich zu Ihnen, Frau Müller. Wir machen doch in der SPD keine nach Ost und West sortierte Wohnungspolitik. Es gibt eine andere Fraktion, die das vielleicht in der Vergangenheit konnte; aber heute kann sie das auch nicht mehr. ({9}) - Ja, Frau Bluhm, genau Sie. Sie konnten in der Vergangenheit Ost und West schön differenziert darstellen. Das gelingt Ihnen heute nicht mehr. Sie haben nun auch Kolleginnen und Kollegen aus dem alten Bundesgebiet. Ich bin sehr gespannt, wie die Kollegen zu einem solchen Ost-West-Denken stehen, das uns eigentlich im 21. Jahr der deutschen Einheit fremd werden sollte. Aber bleiben wir bei den Altschulden. Wie gesagt, 2010 war jede zwölfte Wohnung unbewohnt. Hier ist ein enormer Anstieg zu befürchten. Jede leerstehende Wohnung belastet die Wohnungsunternehmen jedes Jahr mit 3 500 Euro für Tilgung und Zinsen. Das ist ein Strick, der die Unternehmen einschnürt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die starke Abwanderung aus den neuen Ländern. Insbesondere mobile junge Menschen wandern ab. Das können wir nur bedingt beeinflussen, Stichwort „demografische Entwicklung“. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme. Darauf müssen sich die Unternehmen mittel- und langfristig einstellen. Sie müssen sanieren, attraktive Wohnungen schaffen und vor allen Dingen - ich will den Fokus auch auf die alten Menschen in den neuen Ländern richten für altersgerechte Wohnsubstanz sorgen. Das alles geht nur, wenn wir bei der Altschuldenhilfe vorankommen. Wir weisen mit unserem Antrag konkret den Weg, wie man das Problem lösen kann. Diesen können Bund und Länder gemeinsam gehen. Frau Kollegin Bluhm, unser Weg sieht ein bisschen anders aus als Ihrer. Wir streichen nicht einfach die Altschulden. Das war auch nicht Politik der letzten 20 Jahre. Wir können heute eine lange Diskussion über das Zustandekommen der Altschulden - das hatte etwas mit der Währungsumstellung, den Sparguthaben und dem Einsatz dieser Sparguthaben in der DDR zu tun - führen. Aber das würde keinem Wohnungsunternehmen und auch keinem Mieter in den neuen Ländern helfen. Wir müssen vielmehr Lösungen suchen und finden und dann Beschlüsse fassen, die konkret helfen. Unsere Lösung sieht wie folgt aus: Wir fordern in unserem Antrag den Bund auf, jetzt Gespräche mit den Ländern aufzunehmen. Herr Mücke, dieser Appell richtet sich an die Bundesregierung. Wir fordern, dass die Regierung dem Deutschen Bundestag eine abschließende Regelung zur Beschlussfassung vorlegt, die eine bessere Finanzausstattung der Städtebauförderung sowie eine bessere Förderung der energetischen Sanierung und des altersgerechten Umbaus vorsieht. Herr Götz, wir haben vielleicht in den nächsten Wochen noch Gelegenheit, darüber intensive Gespräche zu führen. ({10}) Herr Vogel, Sie haben an Ihren Koalitionsvertrag erinnert. Aus diesem will ich jetzt nicht zitieren. Aber ich erinnere Sie daran, dass Sie dort die konkrete Verpflichtung eingegangen sind, eine Lösung zu finden, die dafür sorgt, dass die Wohnungsunternehmen nicht durch den Leerstand gefährdet werden. Das, was Sie hierzu im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, ist richtig. ({11}) Dieses Versprechen sollten Sie jetzt einlösen, Herr Döring; denn ansonsten werden die Folgekosten die Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern - das haben wir nach 1990 gesehen - überrollen. Wir sind bei ungefähr 30 Milliarden Euro gestartet. 1994 waren es bereits 50 Milliarden Euro. Die Hilfe war zwar richtig, kam aber zu spät. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben in dieser Woche gezeigt, dass Sie lernfähig sind. Dafür möchte ich Ihnen ein Kompliment aussprechen. ({12}) - Herr Vogel, das ist mir schon öfter aufgefallen. Aber Sie sollten das hier auch vertreten. Herr Götz, Sie haben sich bei der Privilegierung von Kinderlärm in Kitas bewegt. ({13}) Obwohl Sie unseren ersten Antrag zu diesem Thema im Bundestag in dieser Legislaturperiode abgelehnt haben, haben Sie nun eine Regelung vorgelegt, der wir zustimmen konnten. Die kleinen Differenzen, die es gab - diese waren für uns nicht ganz unwichtig -, will ich noch einmal in Erinnerung rufen. Aber das hat am Ende das Erreichen des großen Ziels nicht beeinträchtigt. Sie haben innerhalb kürzester Zeit eine Kehrtwende in Ihrer Energiepolitik vollzogen und befürworten nun den Atomausstieg, ohne dass sich die technischen Bedingungen in den deutschen Atomkraftwerken verändert haben. Ich traue Ihnen Kraft und Mut zu, bei der Altschuldenproblematik ebenso zu agieren. Ich rufe Ihnen zu: Bringen Sie den Mut auf, den letzten notwendigen Schritt bei der Entlastung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen von Altschulden zu gehen! Lösen Sie jetzt Ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag ein! Sie haben jetzt die Chance, unserem Antrag zuzustimmen. Meine Damen und Herren von der Koalition, bitte steigen Sie in das Boot! ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion. ({0})

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim „Stadtumbau Ost“ soll die Aufwertung von Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz gestärkt und der Rückbau der technischen und sozialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden. Der Erfolg des Programms soll nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsunternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand gefährdet werden. Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende des letzten Jahres gab es insgesamt 780 000 Wohnungen in Deutschland, die leer standen, Tendenz steigend. Das heißt, 3,7 Prozent, also fast 4 Prozent des deutschen Wohnraums waren nicht vermietet. Das ist marktökonomisch ein Problem, volkswirtschaftlich und vor allem sozial. Aber dieser Leerstand muss differenziert betrachtet werden, um am Ende zu einer differenzierten Lösung zu gelangen. Die Analysen der Marktforschung sagen uns natürlich mehr: Von den 780 000 Wohnungen sind 380 000 Wohnungen in Ostdeutschland leer. Das sind 6,6 Prozent im Vergleich zu 2,7 Prozent im Westen. Damit scheint das Sorgenkind ausgemacht: Betroffen sind vor allem die sozialistischen Plattenbausiedlungen, betroffen sind die Rechtsnachfolger der DDR-volkseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Diese Unternehmen leiden erstens am Leerstand, an einer unattraktiven Wohnsubstanz und zweitens an der Kreditlast der Planwirtschaft. Aber auch das ist wieder nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig zeigen Studien, dass sich die Leerstandsquoten Ost und West seit 2001 annähern. Das ist die Sach- und Faktenlage. In dem wissenschaftlichen Gutachten im Auftrag des BMVBS - das ist schon mehrfach hier angeklungen wurde der Wohnungsmarkt untersucht. Es kommt zu einem Ergebnis. Das Ergebnis ist unter anderem begrüßenswert: Die Ertragslage der ostdeutschen Wohnungsunternehmen hat sich im Wesentlichen verbessert. Diese Gutachten wurden übrigens vom GdW und von Haus & Grund begleitet. Das Gutachten besagt weiter: Noch nie ging es der ostdeutschen Wohnungswirtschaft so gut. ({0}) Für 200 Wohnungsunternehmen stehen bis 2013 noch rund 170 Millionen Euro bereits bewilligte Mittel zum Abruf bereit. Die Frage ist nun: Soll die Altschuldenhilfe über das Jahr 2013 hinaus fortgeführt werden? ({1}) - 2013 gibt es ja noch Mittel. Man muss erst einmal abrufen. Aber darauf komme ich jetzt zu sprechen, Herr Kollege Hacker. Kolleginnen und Kollegen, seriös kann ich Ihnen darauf heute, vor dem Sommer des Jahres 2011, keine verbindliche Antwort geben. Vielmehr vertrete ich die Auffassung, dass wir uns in 2012 die Situation in den Petra Müller ({2}) ostdeutschen Ländern erneut ansehen müssen, den Abrufungsstand der Mittel betrachten und danach seriöse Entscheidungen treffen. Fakt ist: Die Altschulden machen heute gut 20 Prozent der langfristigen Verbindlichkeiten der Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland aus. Damit gefährden die Altschulden diese Unternehmen nicht. Dementsprechend ist es für eine Fortführung des Stadtumbaus nicht zwingend notwendig, die Altschuldenhilfe nach 2013 weiter fortzuführen; denn sie werden bis dahin abnehmen. Zudem erfolgen zurzeit in Ost und in West weitere Abrisse, ganz einfach aus betriebswirtschaftlichen Gründen, weil damit die Leerstandskosten reduziert werden. Es werden auch sanierte Gebäude abgerissen. Das sind ganz normale Vorgänge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich an dieser Stelle nicht falsch. Als fast einzige Rednerin zu diesem Thema komme ich nicht aus dem Osten. Die Problematik der Altschuldenhilfe habe ich sehr wohl verstanden. Aber ich möchte Sie darum bitten, das empirica-Gutachten ohne Vorbehalte und ohne Vorurteile zu lesen. In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, sich zu bemühen, die Altschuldenhilfe fortzuführen. Sie können sicher sein: Bemühen werden wir uns. Die christlich-liberale Koalition wird mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ weiterhin erfolgreich und kontinuierlich die Probleme der Städte und Gemeinden lösen. ({3}) Kurz ist es eben bei meinen Vorrednern schon angeklungen: Diese Probleme resultieren nicht aus den Altschulden; sie resultieren aus den momentanen Wandlungsprozessen. ({4}) Diese sind in ganz Deutschland zu beobachten. Ich rede von Schrumpfungsprozessen im Osten genauso wie im Westen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Schrumpfungsprozesse in den nächsten Jahren durch die ganze Republik fortsetzen werden. Das hat etwas mit der Bevölkerungsentwicklung und mit dem demografischen Wandel zu tun. Diese Tatsache müssen wir für ganz Deutschland akzeptieren. Städtebaulich und politisch ist das selbstverständlich zu begleiten, aber es ist 20 Jahre nach der deutschen Einheit einfach Normalität. ({5}) Stärkung der Innenstädte, Nahverdichtung, Rückbau von Splittersiedlungen, das ist langfristig der einzig gangbare Weg. Deshalb sollten wir in puncto Altschulden auch über eine Kopplungsregelung nachdenken: Es wird eine Altschuldenhilfeentlastung gewährt, wenn ein Unternehmen Wohngebäude ab dem Baujahr 1949 oder 1950 abreißt und den Entlastungsbetrag in die Sanierung von Wohngebäuden in den Innenstädten, die nämlich gestärkt werden müssen, investiert. Auch das ist übrigens ein Ergebnis des Gutachtens. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend ganz schnell noch eine Bemerkung machen. Alles will finanziert werden, auch die Altschuldenhilfe. Angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidierung räumen wir der Städtebauförderung und damit dem „Stadtumbau Ost“ absolute Priorität ein. ({7}) Der „Stadtumbau Ost“ erreicht einen großen Adressatenkreis, ({8}) wirkt spezifisch und punktgenau und erhält den Kommunen und Regionen heimatbezogene Gestaltungshoheit. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die Anträge lehnt die FDP-Bundestagsfraktion ab. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Müller, früher habe ich immer Herzklopfen bekommen, wenn ich hierher musste, weil ich so aufgeregt war, hier zu reden. Heute habe ich Herzklopfen bekommen, als ich Ihrer Rede folgen musste, aber nicht deshalb, weil sie so gut war, sondern deshalb, weil sie mich beschämt. Ich verzeihe Ihnen das aber, weil Sie eben nicht aus den neuen Bundesländern kommen. ({0}) Mehr als ein Jahr ist es schon her, dass wir uns hier im Plenum mit dem Thema Altschulden befasst haben. Seitdem hat es eine Reihe von Debatten, Expertengesprächen, Anhörungen und neuen Anträgen gegeben, zuletzt ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten, das hier mehrfach angesprochen wurde, dazu wieder Stellungnahmen und noch eine Anhörung. Im Ergebnis sind wir bisher keinen Millimeter weitergekommen. Dabei haben Sie selbst in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass der Stadtumbau in den neuen Bundesländern nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme gefährdet werden soll. Aber genau das tun Sie. Entgegen allen im vergangenen Jahr eingeholten Expertenmeinungen, entgegen den Stellungnahmen aus der Wohnungs- und ImmobilienHeidrun Bluhm wirtschaft, entgegen den Forderungen der ostdeutschen Bauminister, vieler Kommunalpolitiker, des Deutschen Städtetages, entgegen auch den Schlussfolgerungen Ihres eigens in Auftrag gegebenen Gutachtens „Altschuldenhilfe und Stadtumbau“ ignoriert diese Bundesregierung hartnäckig die Realität in vielen ostdeutschen Städten, ({1}) die ohne Altschuldenentlastung der Wohnungsunternehmen den notwendigen Stadtumbauprozess zukünftig nicht mehr werden schultern können und deswegen in eine neue Abwärtsspirale kommen, nachdem sie die erste so halbwegs überlebt haben. ({2}) Sie feiern heute auch noch, dass es ihnen heute etwas besser geht, aber Sie sorgen dafür, dass es ihnen morgen wieder schlechter geht. ({3}) Die demografische Entwicklung, speziell in Ostdeutschland, produziert dort eine neue Leerstandswelle. ({4}) Wachsender Leerstand verschärft die wirtschaftliche Situation vieler Wohnungsunternehmen und schwächt ihre Kreditwürdigkeit, und auch das wissen Sie. Leerstehende Häuser, selbst in besten Innenstadtlagen, suchen heute Investoren und halten die Mieter nicht vom Wegzug ab. ({5}) Dass ein CSU-Politiker aus Traunstein das nicht verstehen kann oder will, ist vielleicht noch verständlich, aber wenn ein CDU-Politiker aus dem Wahlkreis Greiz - Altenburger Land oder Politiker aus der FDP aus den neuen Bundesländern das nicht sehen können, sind sie blind oder für die Probleme ihres Wahlkreises nicht offen. ({6}) Das Streichen der noch verbliebenen 7,6 Milliarden Euro Altschulden - so beziffert sie das Gutachten des Bauministeriums - könnte ein eigenes Konjunkturprogramm sein. ({7}) Wie bei der Städtebauförderung würde die so gewonnene Investitionskraft der Wohnungsunternehmen ein Vielfaches an Investitionsvolumen mobilisieren und nicht nur den Stadtumbau schlechthin am Leben erhalten, ({8}) sondern zugleich ein Grundstock an Eigenkapital für den dringend notwendigen ökologischen und barrierefreien Umbau des Wohnungsbestandes und für die ebenso notwendige Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus sein. ({9}) Die Begründung, warum eine Streichung der Altschulden angeblich nicht möglich sein soll, ist wirklich abenteuerlich. Ich zitiere hier den Minister Ramsauer aus der Leipziger Volkszeitung vom Februar dieses Jahres: Angesichts der Haushaltskonsolidierungsvorgaben sieht die Bundesregierung gegenwärtig die Priorität bei der Finanzierung der Städtebauförderung. Ich habe das dreimal gelesen und mir dann überlegt, doch zu lachen. Eigentlich müsste man über so viel Verlogenheit des Fachministers weinen. Meine Damen und Herren, den Antrag der SPD lehnen wir ebenfalls ab, und bei dem der Bündnisgrünen werden wir uns enthalten, weil beide die Bundesregierung beauftragen wollen, eine neue bzw. andere Fortführung für die Altschuldenentlastung zu finden. Dieses Grundvertrauen haben wir nicht. Dafür bietet die Linke eine Lösung: Streichen Sie die Altschulden! ({10}) Die Bundesregierung hat bisher nichts vorgelegt und wird es auch nicht tun. Der Fachminister kann es einfach nicht. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Altschuldenhilfe war lange ein wohnungswirtschaftliches Instrument. Es ging also darum, bestimmten Wohnungsunternehmen das Überleben zu sichern. Ich sehe die Altschuldenhilfe heute aber als städtebauliches Instrument. Wer will, dass das Programm „Stadtumbau Ost“ erfolgreich sein soll, der muss die Altschuldenhilfe über das Jahr 2013 hinaus verlängern. ({0}) Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ziele des Programms „Stadtumbau Ost“: Die Sanierung der Altbausubstanz soll verstärkt werden und eine Aufwertung der Innenstadtbereiche stattfinden. Gleichzeitig - das ist auch ein Beschluss des Bundestages - sollen weitere 200 000 bis 250 000 Wohnungen vom Markt genommen werden. Wenden wir uns dem empirica-Gutachten zu: Dort wird deutlich, dass Unternehmen, die abgerissen haben, solche Unternehmen waren, die die Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten. 90 Prozent der Abrisse waren Abrisse von Unternehmen, die Altschuldenhilfe in Anspruch genommen haben. Rückbaupotenziale - so steht es auch in dem Gutachten - haben aber im Wesentlichen nur noch die Unternehmen, die bisher keine Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten. ({1}) Das sind rund zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Wenn sie nicht von Altschulden entlastet werden, werden sie nicht zurückbauen; denn sie bleiben schließlich auf diesen Schulden sitzen. Dies erklärt auch die rückläufigen Abrisszahlen und berührt damit natürlich auch die Frage, ob das Ziel des Stadtumbaus Ost an dieser Stelle erreicht werden kann. Waren 2005 noch 60 000 Wohnungseinheiten rückgebaut worden, waren es im vergangenen Jahr gerade noch 13 000. Es ist klar, dass angesichts des demografischen Wandels in Ostdeutschland weiterer Rückbau notwendig ist. ({2}) Insbesondere in den Schrumpfungsregionen Ostdeutschlands befinden sich die Wohnungsunternehmen, die besonders stark von den Altschulden betroffen sind. Dies sollten wir bei der Debatte beachten. Hier liegt eine doppelte Belastung vor: einerseits angesichts schrumpfender Märkte geringere Mieterlöse und andererseits drückende Altschulden, die summa summarum zu einer Investitionsbremse führen. Wir wollen aber, dass sich alle Unternehmen an der energetischen Sanierung und an dem Thema barrierefreies und altengerechtes Wohnen beteiligen. ({3}) Dies gelingt ihnen nicht, wenn sie keine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür vorfinden. Das empirica-Gutachten macht meines Erachtens einen sehr intelligenten Vorschlag. Es sagt nämlich, alle Unternehmen könnten künftig Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen, und der Entlastungsbeitrag wird eins zu eins in die Altbaubestände in den Innenstädten investiert. Wir schlagen zusätzlich vor: oder auch in Quartiere, die gemäß entsprechender integrierter Stadtentwicklungskonzepte dauerhaft für die Wohnraumversorgung notwendig sind. Ein solcher Vorschlag wird in der Wohnungswirtschaft begrüßt. Dort sagt man, man wolle das Geld nicht in den Schuldendienst stecken, sondern investieren. Dies wollen wir natürlich auch. Wenn man sich die volkswirtschaftlichen Aspekte anguckt, erreichen wir damit natürlich auch eine Hebelwirkung, wie es bei der Städtebauförderung der Fall ist. Zu den Kosten: Uns ist auch klar - ich sitze im Haushaltsausschuss -, 7,6 Milliarden Euro wird man angesichts der Haushaltsrahmenbedingungen nicht berappen können. Für eine Verlängerung der Altschuldenhilfe steht in Rede, dass sie bis 2016 zu neuen Kosten von 600 Millionen Euro führt. Das bedeutet, dass alle Rückbaumaßnahmen mit Altschuldenhilfe erfolgen und dass es innerhalb von fünf Jahren möglich ist, dieses Volumen von 200 000 bis 250 000 Wohneinheiten zurückzubauen. Das halte ich für nicht mehr realistisch, auch angesichts der momentanen Rückbauzahlen. Es wird also ein wesentlich längerer Zeitraum in Anspruch genommen werden müssen. Entsprechend ist dann auch die Belastung durch die Gewährung einer Altschuldenhilfe geringer. 79 Millionen Euro stehen in diesem Haushaltsjahr für die Altenschuldenhilfe bereit. Wenn man davon ausgeht, dass man den weiteren Rückbau über einen längeren Zeitraum als bis 2016 strecken muss, dann wird deutlich, dass keine neuen Haushaltsbelastungen existieren, sondern dass man sozusagen das Niveau der bisher gezahlten Altschuldenhilfe in dieser Höhe wird fortschreiben können. Im Koalitionsvertrag - das ist schon zitiert worden wird klar gesagt: Der Erfolg des Stadtumbaus Ost soll nicht durch die ungelöste Altschuldenproblematik gefährdet werden. Aber genau das droht unserer Ansicht nach. Ich frage mich, wozu wir ein Gutachten machen lassen, wenn die darin formulierten Empfehlungen nicht aufgegriffen werden. Ich habe auch kein Verständnis, wenn Lösungen auf dem Tisch liegen, dass wir das weiter beobachten und noch einmal evaluieren. Das ist nicht die Schlussfolgerung, die man aus dem Gutachten ziehen kann. Zudem brauchen die Unternehmen langfristige Planungssicherheit. Sie ist unter der Bedingung der ungeklärten Frage, wie es mit der Altschuldenhilfe weitergeht, nicht gegeben. Die Ostministerpräsidenten haben sich klar geäußert. Sie treten für die Fortführung der Altschuldenhilfe ein, also für eine Anschlussregelung. Das können wir heute beschließen, meine Damen und Herren, denn dazu liegt ein Antrag von uns vor. Ich freue mich, wenn Sie diesem Antrag zustimmen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unstritPeter Götz tig: Zahlreiche Städte und Gemeinden sind von einem nachwirkenden demografischen und wirtschaftlichen Strukturwandel betroffen. Das gilt vor allem im Osten unseres Landes. Mit dem 2002 aufgelegten Programm „Stadtumbau Ost“ konnte viel zur Stabilisierung, Rückgewinnung und Sicherung des Lebensumfeldes der Menschen erreicht werden. Die Altschuldenhilfe war dabei eine wichtige Unterstützung. Sie gab den begünstigten Wohnungsunternehmen - ich betone, den begünstigten Wohnungsunternehmen - einen sehr positiven Schub. Die Entlastung von Altschulden hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften sowie die kommunalen Wohnungsgesellschaften heute erheblich besser dastehen als jemals zuvor in ihrer Geschichte. Viele von uns erinnern sich noch: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende des Sozialismus in der DDR vor 20 Jahren lagen die Altschulden bei über 30 Milliarden Euro. ({0}) Davon hat der Steuerzahler bis heute mehr als die Hälfte übernommen. Ich meine, diese großartige Solidarleistung der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft sollten wir zunächst einmal dankbar anerkennen. ({1}) Diesen Dank an den deutschen Steuerzahler verbinde ich auch gerne mit einem Dank an die vielen deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen, die durch ihr Engagement die Wohnqualität in den Städten und Gemeinden maßgeblich aufgewertet haben. Kombiniert mit Fördermitteln vor allem aus dem Programm „Stadtumbau Ost“ wurde in vielen ostdeutschen Kommunen die Innenentwicklung zu einem echten Erfolgsmodell. So hat dieses Programm circa 400 Städten und Gemeinden bei der Bewältigung des Strukturwandels sehr geholfen. Mein Kollege Vogel, aber auch meine Kollegin Müller haben darauf hingewiesen. Nur noch einmal zur Erinnerung, Frau Kollegin Bluhm: In der Vergangenheit wurden die Fördermittel für die Altschuldenhilfe mehrmals - ich betone: mehrmals - auf über 1,1 Milliarden Euro aufgestockt, und bislang sind, was vorhin auch gesagt worden ist, die Gelder überhaupt nicht in diesem Umfang abgerufen. Es ist richtig, dass wir in nächster Zeit einige Fragen beantworten müssen. Die erste Frage lautet: Gibt es nach dem Auslaufen der Befristung ab 2013 - nur zur Erinnerung: Wir befinden uns im Jahr 2011 - einen Anschluss? Die zweite Frage ist: Wie sieht dieser Anschluss gegebenenfalls aus? Herr Kollege Hacker, zu Ihrer Beruhigung: Sie können davon ausgehen, dass wir eine gute Lösung finden werden. ({2}) Das wiederholt zitierte empirica-Gutachten kam übrigens zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Altschuldenentlastung für den Erfolg des Programms „Stadtumbau Ost“ nicht zwingend erforderlich ist. Für uns in der Union geht es in Zukunft primär um städtebauliche Kriterien und weniger um Kriterien für Unternehmen; denn sonst müssten wir zu Recht auch der Frage nachgehen, was mit den vielen privaten Eigentümern geschieht, die keine Altschuldenentlastung erhalten haben. Nach dem Ergebnis des empirica-Gutachtens hat sich die Ertragslage ostdeutscher Wohnungsunternehmen - auch das ist unstrittig - wesentlich und kontinuierlich verbessert. Deshalb ist es nur konsequent, wie dort vorgeschlagen wurde, den Schwerpunkt auf die Sanierung der Altbauten in den Innenstädten zu legen. Dies kommt unseren Zielen - Herr Kollege Hacker, Sie hatten vorhin dieses Thema angesprochen -, die wir uns in diesen Tagen im Zusammenhang mit der energetischen Stadtsanierung gesteckt haben, weit entgegen. Wir wollen und sollten unsere Förderkulisse bei den Städtebauförderprogrammen neu definieren. Deshalb wollen wir erreichen, dass wir die Städtebauförderung im kommenden Jahr auf dem diesjährigen Niveau von 455 Millionen Euro verstetigen. Wichtig ist dabei, dass der eindeutige Schwerpunkt auf die Innenentwicklung unserer Städte und Gemeinden gelegt wird. Wir, das heißt Bund, Länder und Gemeinden, müssen in gemeinsamer Anstrengung gute Rahmenbedingungen für urbanes Leben in den Orts- und Stadtteilzentren setzen und die Städte und Gemeinden dabei nach Kräften unterstützen. Neben den zunehmend wichtiger werdenden Themen der energetischen Sanierung dürfen wir auch die Baukultur nicht aus den Augen verlieren. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns unsere vielen Programme genau anschauen und prüfen, wie wir insgesamt die Effizienz steigern können. Der Stadtumbau wird dabei auch in Zukunft eine ganz wichtige, entscheidende Rolle spielen, und zwar - das sage ich bewusst im Osten, aber auch im Westen unseres Landes. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung erhält Kollegin Heidrun Bluhm. ({0})

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Döring hat während meiner Rede mit seinem Zwischenruf zumindest suggeriert, dass ich persönliche wirtschaftliche Interessen haben könnte, mich für die Streichung der Altschulden einzusetzen. ({0}) Ich erkläre hiermit, dass ich bisher weder ein Wohnungsunternehmen der ostdeutschen Wohnungswirtschaft geleitet habe noch eins gekauft habe. Ich erkläre hiermit, dass ich von Altschulden selbst nirgendwo belastet bin und dass ich nur und ausschließlich parteipolitisch, meinem Fachgebiet entsprechend, mit meiner Sachkompetenz für die ostdeutschen Bundesländer hier für meine Fraktion gesprochen habe. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5000. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1154 mit dem Titel „Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei- den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom- men. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1148 mit dem Ti- tel „Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunterneh- men streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- men. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- tel „Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunter- nehmen neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5124, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4698 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften - Drucksachen 17/4984, 17/5392 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) - Drucksache 17/5953 ({1}) - Berichterstattung: Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Dr. Christel Happach-Kasan Friedrich Ostendorff b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen - Drucksachen 17/5377, 17/5953 ({3}) Berichterstattung: Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Dr. Christel Happach-Kasan Friedrich Ostendorff Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittelsicherheit ist ein hohes Gut. Die christlich-liberale Koalition hat bewiesen: Wir handeln schnell und entschlossen, wenn es darum geht, Sicherheitslücken zu schließen. Zum Jahreswechsel 2010/11 wurden durch kriminelle Machenschaften Futtermittel mit Dioxin verunreinigt. Der Dioxinskandal hat eine große mediale Welle verursacht und die Verbraucher verunsichert. Wie wir heute alle wissen, bestand glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt eine gesundheitliche Gefahr für die Menschen. Die Behörden haben länderübergreifend schnell, konsequent und umsichtig reagiert. Bereits im Januar hat sich Frau Bundesministerin Ilse Aigner mit den Ländern auf den „Aktionsplan Verbraucherschutz in der Futtermittelkette“ verständigt und wichtige Anstrengungen zum Thema auf EU-Ebene initiiert. Die Bundesregierung hat im März eine Rechtsverordnung auf den Weg gebracht, die die Futtermittelkontrolle ausweitet, eine Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe einführt und eine Trennung der Produktionsströme für technische und nichttechnische Fette vorschreibt. Heute beraten und entscheiden wir über Änderungen im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch mit dem Ziel, weitere wichtige Punkte des Aktionsplans umzusetzen. Gleichwohl möchte ich schon anmerken, dass kriminelle Energie auch damit nicht gänzlich verhindert, aber durch das Engerziehen des Netzes deutlich eingedämmt werden kann. ({0}) Hier die wichtigsten Inhalte, verbunden mit dem Dank an Frau Aigner und das BMELV für die rasche Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs: Künftig müssen Lebensmittel- und Futtermittelhersteller sowie Laboratorien gesundheitsbedenkliche Stoffe, die sie in untersuchten Lebens- oder Futtermitteln festgestellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Die Meldepflicht besteht unter anderem für Dioxine und Furane. Dioxinprobleme können durch dieses Monitoring somit früher als bisher erkannt und Gegenmaßnahmen können schneller eingeleitet werden. Eigenkontrollen haben sich allgemein in der Wirtschaft etabliert und bewährt. Ich möchte darauf hinweisen, dass auch dieser Dioxinskandal durch die Eigenkontrolle eines Unternehmens aufgedeckt wurde. Wichtig ist dabei allerdings schon, dass die Unternehmen aufgrund der Kontrollergebnisse nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden. Vorschnell veröffentlichte Eigenkontrollergebnisse, die sich häufig auf Vorprodukte beziehen, würden zu einer erheblichen Verwirrung führen. Die Sanktionsmöglichkeiten des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzes werden deutlich ausgeweitet. Dies wird durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen erreicht: Der Bußgeldrahmen wird verdoppelt. Vorsätzliche Verstöße werden als Straftat geahndet, und schwere Verstöße werden künftig sogar mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe belegt. Und dies ist gut so. ({1}) Ich möchte in Erinnerung rufen: Der Dioxinskandal führte bei Verbrauchern verständlicherweise zu starker Verunsicherung und Kaufzurückhaltung. Der damit einhergehende Preisverfall war ein schwerer Schlag für die Unternehmen der gesamten Land- und Ernährungswirtschaft. Besonders betroffen waren landwirtschaftliche Familienbetriebe. Zeitweilig waren fast 5 000 Höfe gesperrt. So etwas darf sich auf keinen Fall wiederholen. Die Opposition sollte solche Vorfälle bitte nicht dazu missbrauchen, die herkömmliche Landwirtschaft infrage zu stellen und eine ökologische Agrarwende herbeizureden. ({2}) Wir alle wissen genau: Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Die wichtigsten Botschaften an unsere Verbraucher müssen jetzt lauten: Unsere Landwirtschaft ist in der gebotenen Vielfalt unverzichtbar, um die Verbraucher mit bezahlbaren Lebensmitteln zu versorgen. Deutsche Lebensmittel sind weltweit mit die sichersten; die Kontrollen sind dicht und streng. Absolute Sicherheit vor kriminellen Machenschaften gibt es nicht. Kaufen Sie bewusst ein. Stärken Sie zum Beispiel mit einem gezielten Griff ins Lebensmittelregal die heimische Produktion. Eine abschließende Bitte an die Opposition. Gefährden Sie durch überzogene Forderungen nicht die Nahrungsmittelproduktion in deutschen Landen. Dies kann zu empfindlichen Fehlentwicklungen und zu Produktionsverlagerungen führen, wie wir das im Bereich der Hühnerhaltung erlebt haben. ({3}) Sonst sind am Ende die Verbraucher, die wir alle doch schützen wollen, die Verlierer. ({4}) Die Koalition lässt es nicht zu, dass schwarze Schafe das Ansehen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft schädigen. Es geht auch um den Erhalt der Betriebe und um die dazugehörigen Arbeitsplätze. Darüber hinaus schützen wir die Gesundheit der Verbraucher und stärken ihr Vertrauen in deutsche Lebensmittel. Ich bitte Sie: Stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befassen uns heute abschließend in zweiter und dritter Beratung mit der Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches. Es gibt zwei Punkte aus dem 14-Punkte-Plan, die die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern vor vier Monaten im Zuge des Dioxinskandals vereinbart hat. Ich möchte betonen: vor vier Monaten. Es wurde nämlich behauptet, man sei fix gewesen. Zur Verdeutlichung: Es ist bereits vier Monate her. ({0}) Mit der Gesetzesänderung wird die Meldepflicht für private Labore festgeschrieben. Künftig müssen sie bedenkliche Mengen an gesundheitsgefährdenden und daher nicht erwünschten Stoffen, die sie in untersuchten Lebens- und Futtermitteln feststellen, an die zuständigen Behörden melden. Ferner werden die Lebens- und Futtermittelunternehmen verpflichtet, den zuständigen Behörden ebenfalls Ergebnisse der Eigenkontrollen mitzuteilen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Gesetzesinitiative ausdrücklich, weil sie Teil des schon Anfang des Jahres von uns vorgelegten Aktionsplanes gewesen ist, den die Bundesregierung in weiten Teilen übernommen hat. ({1}) Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunternehmen, Ergebnisse der Eigenkontrollen an die zuständigen Behörden zu melden, ist ein Fortschritt. Allerdings sind noch weitere strenge Kontrollen von Futterfetten vorzuschreiben, und die Hersteller müssen verpflichtet werden, jede Charge beproben zu lassen. ({2}) Die Futtermittelfette sind als Haupteingangsquelle der fettlöslichen Dioxine besonders sensibel; sie sind deshalb schärfer zu überwachen. Auch muss eine offene und vollständige Deklaration aller Futtermittelinhaltsstoffe umgesetzt werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass nur sichere Bestandteile in die Futtermittelkette gelangen können. Mit der Meldepflicht für die privaten Labore werden diese ganz besonders in die Informationskette des aufzubauenden Frühwarnsystems einbezogen; ihnen wird eine neue Beteiligungsrolle zugeschrieben. Die Meldepflicht bedeutet auch eine neue Herausforderung hinsichtlich der Gestaltung der Aufträge der Unternehmen an die Labore; denn bisher waren die Labore oft nicht unterrichtet, was mit den Stoffen, die sie zur Beprobung bekommen hatten, tatsächlich passieren sollte. Das wird sich künftig, wenn die Labore in die Mitteilungskette einbezogen werden, deutlich ändern müssen. Auch war bisher die Beurteilung der Ergebnisse nicht Teil des Laborauftrages. Vielmehr ging es ausschließlich um die Mitteilung der Untersuchungsergebnisse. Die notwendige Rechtsverordnung, die jetzt dieses Gesetz untermauern soll, ist besonders wichtig. Wir erwarten deswegen eine Vorlage dieser Rechtsverordnung noch vor der Sommerpause; denn die Labore sind verunsichert. ({3}) - Genau, vor der Sommerpause 2011; davon gehe ich aus. - Die Labore wissen in der Regel nicht, wie sie das Gesetz umzusetzen haben. Die Bundesregierung bleibt die Vorlage schuldig. Eines ist klar und wichtig: Dieses Gesetz beschreibt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem 14-Punkte-Plan. Mit den ergriffenen Maßnahmen, die hier heute zur Beschlussfassung stehen, wird keine bessere Information der Verbraucherinnen und Verbraucher verwirklicht. Die Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit wird nicht deutlich erhöht. Der Verwaltungsvollzug wird nicht effizienter. Der Informationsfluss zwischen Gemeinden, Ländern und Bund wird nicht effektiv und wirksam verstärkt. Dazu sind weitere Maßnahmen erforderlich, auf deren Vorlage wir noch warten. Die Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes muss endlich erfolgen. In der Novelle muss geregelt werden, dass sämtliche Untersuchungsergebnisse der betrieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Untersuchungsergebnisse in aufgearbeiteter Form in einer Datenbank veröffentlicht werden. ({4}) Um die aktive Information der Verbraucherinnen und Verbraucher über Grenzwertüberschreitungen zu gewährleisten, müssen die Behörden verpflichtet werden, Untersuchungsergebnisse von sich aus zu veröffentlichen. Hierzu ist § 40 LFGB in das Verbraucherinformationsgesetz zu integrieren und die Sollvorschrift in § 40 LFGB in eine Istvorschrift umzuwandeln. Die Abwägungsklausel ist zu streichen. Auf einer Internetseite sind Ross und Reiter sehr deutlich zu benennen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung ist auch noch die Vorlage einer Positivliste schuldig. Diese soll auf europäischer Ebene verbindlich festgelegt werden; das ist richtig. Aber wir unterstützen ganz ausdrücklich die Forderung, die die Bundesländer der Bundesregierung gestellt haben: Wenn wir auf der europäischen Ebene zu keiner Lösung kommen, dann muss es eine nationale Lösung für die Positivliste geben. Wir unterstützen die Bundesländer auch darin, zu sagen: Wenn eine Umsetzung in Europa bis Sommer 2011 nicht möglich ist, dann erwarten wir eine nationale Regelung und bitten die Bundesregierung, diese hier vorzulegen. Eine besondere Herausforderung besteht auch und gerade bei der Schaffung von Haftungsregelungen. Die Landwirte, die letztendlich die Opfer und Leidtragenden des Dioxinskandals waren, sind beträchtlich zu Schaden gekommen; dieser Schaden ist bisher nicht abgegolten. Deshalb brauchen wir hier schnellstmöglich und dringend Vorschläge, wie eine Haftungsregelung in Zukunft aussehen kann. ({6}) Es ist vernünftig, wenn die Bundesregierung jetzt sagt: Wir wollen uns mithilfe einer Studie weiter beraten lassen. Ich warne aber davor, hier zu viel Zeit ins Land gehen zu lassen. Bisher hat es nicht einmal eine Vergabe gegeben. Wir können uns aber vorstellen, dass ein neuer Skandal kommt, vielleicht auch in geringerer Dimension. Dann hätten wir jedoch nichts auf den Weg gebracht. Insofern gehen wir davon aus, dass der Bundesregierung die richtige Zeitschiene sehr wohl bekannt ist: Es muss zügig gehandelt werden. ({7}) Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auch auf, die Umstände des Dioxinskandals zum Anlass zu nehmen, einen Gesetzentwurf zur Regelung des Informantenschutzes vorzulegen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die zuständigen Behörden über Missstände im eigenen Betrieb informieren, müssen gesetzlich vor Benachteiligungen geschützt werden. Bereits in der öffentlichen Anhörung des Verbraucherausschusses am 4. Juni 2008 ist die Notwendigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung deutlich geworden. Wir brauchen eine gläserne Produktion und eine funktionierende Verbraucherinformation. Leider schützt die Koalition die Futtermittelpanscher und nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({8}) Sie schlägt nämlich vor, dass die Öffentlichkeit von Grenzwertüberschreitungen nichts erfährt, solange die so produzierten Erzeugnisse nicht in den Verkehr gelangen. Wir wollen das nicht. ({9}) Deshalb schlagen wir in unserem Entschließungsantrag eine Veröffentlichungspflicht vor. Aus unserer Sicht sieht so eine vernünftige Verbraucherpolitik aus. Wir bitten daher um Unterstützung unseres Entschließungsantrags. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des heute vorliegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs kommen wir einen ganz bedeutenden Schritt weiter bei der Umsetzung des 14-PunktePlans, den die Bundesregierung und die Länder gemeinsam beschlossen haben: unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel und Transparenz für den Verbraucher. Die überwiegende Zustimmung, jetzt auch vonseiten der SPD, bestätigt, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind. Das ist, glaube ich, gut. Zum Jahreswechsel ist entdeckt worden, dass ein Betrieb Futterfette, die den zulässigen Höchstgehalt an Dioxin überschritten hatten, an 25 Futtermittelwerke weiterverkauft hat. Es muss herausgestellt werden: Dieser Betrieb hat kriminell gehandelt. ({0}) Das ist das Problem, mit dem wir es im Augenblick zu tun haben. Wir haben es nicht mit einem Skandal, sondern mit dem kriminellen Handeln eines Betriebes zu tun. In der Folge sind knapp 5 000 landwirtschaftliche Betriebe gesperrt worden. Wir müssen sehen, dass diese Betriebe wirtschaftliche Folgen zu tragen hatten. Es kam zu einem Preisverfall bei Eiern und Schweinefleisch, der die wirtschaftliche Situation dieser Betriebe erheblich belastet hat. Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht festgestellt: Es bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Daher, Frau Tack, geht es an diesem Punkt nicht um Verbraucherschutz. Die Verbraucher waren nicht gefährdet. ({1}) Es geht vielmehr darum, dass wir es den Betrieben erschweren, kriminell zu handeln, und dass wir die Folgen kriminellen Handelns eingrenzen. ({2}) Es handelt sich also nicht um einen Skandal. Verbraucherschutz heißt im Übrigen: Wenn eine Gefahr besteht, dann muss gewarnt werden. Wenn keine Gefahr besteht, dann sind die Behörden aufgerufen, zu beruhigen. Auch wenn es keine Gefahr gegeben hat, sind wir uns alle darüber einig, dass Handeln geboten ist. Futtermittel sind Lebensmittel für Tiere. Abfallentsorgung durch den Tiermagen wollen wir nicht. Aber wir wissen auch: Kein Gesetz schützt vor kriminellem Handeln. Kriminelles Handeln muss erschwert werden; deswegen dieser Gesetzentwurf. Wir müssen verantwortlich arbeitende Betriebe schützen. Das erreichen wir mit einer Meldepflicht für Labore, die jetzt eingeführt werden soll. Wir erhalten ein Dioxin-Monitoring, das uns in Zukunft besser in die Lage versetzt, zu beurteilen, in welchen Regionen es Probleme gibt und in welchen nicht. Dioxine sind langlebige Umweltgifte. Ihr Entstehen kann nicht vollständig verhindert werden. Aber wir können feststellen, dass seit 1990 der Dioxingehalt in unseren Lebensmitteln gesenkt worden ist und heute nur noch ein Drittel des damaligen Wertes beträgt. ({3}) Mein Kollege hat zu Recht herausgestellt, dass das Fehlverhalten dieses Betriebes nur wegen der Eigenkontrollen eines Futtermittelwerkes entdeckt worden ist. Deswegen muss unsere Konsequenz lauten, dass wir die Eigenkontrollen stärken. ({4}) Der Weg, den die SPD uns vorschlägt - Betriebe an den Pranger stellen und Denunziantentum fördern -, ist genau der falsche Weg. Das dürfen wir nicht tun. Damit bekommen wir keine Eigenverantwortung. Ich wiederhole: Was Sie von der SPD vorschlagen, ist genau der falsche Weg. ({5}) Wir wissen, dass die Produzenten die Verantwortung für ihre Produkte tragen. Diese Verantwortung kann ihnen niemand abnehmen. Wir wissen auch, dass Lebensmittelkontrollen das Ziel haben, Fehlverhalten aufzudecken und das Eigeninteresse der Unternehmen an der Qualität ihrer Produkte zu stärken. Anfang dieses Jahres hat man versucht, moderne Landwirtschaft mit dem kriminellen Fehlverhalten eines Betriebes in Schleswig-Holstein in Verbindung zu brin12748 gen. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen; er war schlicht und ergreifend falsch. Betroffen waren vor allem kleine Betriebe, die das Futter für ihre Tiere selbst gemischt haben. Moderne Landwirtschaft schont die Natur, vermeidet Arbeitsunfälle - ein, wie ich meine, ganz wichtiges Thema - und produziert qualitativ hochwertige Lebensmittel. Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen: Bei dem Dioxinvorfall sprechen wir von einer kriminellen Handlung, die dazu geführt hat, dass eine Reihe landwirtschaftlicher Betriebe existenziell gefährdet wurde. Die Verbraucherinnen und Verbraucher befanden sich zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Gefahr. Gleichzeitig wird landauf, landab über die Belastung von Gemüse mit EHEC-Bakterien diskutiert. Hier handelt es sich um eine reale Gefahr. Inzwischen gibt es über 500 Erkrankungen und möglicherweise einige Todesfälle. Dieses Syndrom gefährdet die Menschen und kann langfristige Gesundheitsschäden zur Folge haben. Als Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz müssen wir uns davon freimachen, jeglichen sogenannten Skandalen hinterherzulaufen. Stattdessen müssen wir die Menschen vor den realen Gefahren schützen. Reale Gefahren im Lebensmittelbereich, liebe Kolleginnen von der SPD-Fraktion, sind insbesondere Hygienemängel sowie Belastungen von Lebensmitteln mit Bakterien. Gegen diese Gefahren hilft nur das Einhalten von Hygienevorschriften. Die Lebensmittelhygiene gilt für den Bereich der Produktion, betrifft aber auch jeden einzelnen Haushalt. Ich bitte Sie herzlich: Schützen Sie die Menschen vor den realen Gefahren und diskutieren Sie nicht die vermeintlichen Gefahren. Das nimmt den Menschen Lebensqualität und Vertrauen. An dieser Stelle will ich ganz deutlich die Vorwürfe vonseiten der SPD und der CDU/CSU gegenüber dem Robert-Koch-Institut zurückweisen. Wir brauchen Fachbehörden, die fachlich arbeiten und ihr fachliches Wissen der Öffentlichkeit mitteilen. Das hat das Robert-Koch-Institut zu Recht getan. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit, wenn Sie weiterhin Lebensmittel aus deutscher Produktion genießen; denn sie sind ausgesprochen gut. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karin Binder für die Fraktion Die Linke. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherheit unserer Lebensmittel ist keine Geheimsache. Mögliche Schadstoffbelastungen sind keine Betriebsgeheimnisse. ({0}) Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht, zu erfahren, was in ihrem Essen ist und wie die Lebensmittel erzeugt wurden. Nur ein offener Umgang mit Informationen über den Herstellungsprozess und die Bestandteile unserer Lebensmittel sorgt letztendlich für einen sauberen Teller. Das ist für mich die zentrale Lehre aus dem Dioxinskandal Anfang dieses Jahres. Zur Verbesserung der Sicherheit unserer Lebensmittel hatten sich Bund und Länder auf einen 14-Punkte-Plan verständigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf geht zwar in die richtige Richtung, aber leider nur einen winzig kleinen Schritt. Die Koalition greift in ihrem Gesetzentwurf lediglich 2 von 14 Punkten dieses Plans auf und setzt damit nur einen Bruchteil der erforderlichen Maßnahmen um. Die Linke hatte schon frühzeitig einen umfassenden Antrag zur Bewältigung des Dioxinskandals vorgelegt. Zur Vorsorge und Vermeidung ähnlich gelagerter Fälle müssen wir die richtigen Lehren aus dieser böswilligen Panscherei ziehen. Es gilt, die Ursachen zu bekämpfen, statt an den Symptomen herumzudoktern. ({1}) Herr Kollege Gehring, die Eigenkontrolle hat sich bewährt. Ich frage Sie nur, wie? Ein anderer Betrieb hat darauf aufmerksam gemacht, dass etwas falsch läuft. Das hat nicht die Eigenkontrolle bewirkt. Die Eigenkontrollen müssen klaren Regelungen unterworfen werden. Vor allem müssen die Daten gemeldet werden, damit sofort reagiert werden kann. Wir brauchen die Verpflichtung der Labore. ({2}) Es braucht eine verbindliche Verpflichtung. Es braucht dazu auch ein Register und eine Akkreditierung dieser Labore. ({3}) Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Betriebe aus dem Staub machen, indem sie ausländische Labore beauftragen, die unseren Gesetzen nicht unterworfen sind. ({4}) - Das steht nicht in Ihrem Gesetzentwurf. ({5}) Ich will auf drei Punkte näher eingehen. Erstens. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die unter der Koalition von SPD und Grünen eingeleitete Reduzierung staatlicher Kontrollen und der vermeintliche Ersatz durch Eigenkontrollen der Betriebe nach deren Regeln funktioniert nicht. Dieses Experiment hat das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher gekostet. Die Linke möchte deshalb eine betriebliche Zertifizierung nach strengen gesetzlichen Vorgaben. Diese müssen für die gesamte Erzeugungskette, vom Stall bis zur Ladentheke, gelten. ({6}) Die daraus entstehenden Kosten sind auf die beteiligten Branchen umzulegen. ({7}) Zweitens: Meldepflichten für die Labore ohne Hintertürchen. Im Gesetzentwurf der Regierung wird eine Meldepflicht für die Überschreitung von Grenzwerten oder unerlaubten Zusatzstoffen auf die privaten Labore beschränkt. Wir möchten eine Ausweitung der Meldepflicht auch auf private Zertifizierungssysteme, zum Beispiel auf QS, das Prüfsystem Qualitätssicherung. ({8}) Register und Ähnliches habe ich schon angesprochen. Aber auch die Frage, wie die Unternehmen und Labore überwacht werden sollen, wurde uns bisher nicht beantwortet. Die Kontrollbehörden der Länder sind schon heute überfordert. Einige Bundesländer befinden sich bereits in einer Haushaltsnotlage und werden weiter zu Einsparungsmaßnahmen gezwungen. In einem internationalen Futtermittelmarkt und einer globalisierten Lebensmittelindustrie ist deshalb eine finanzielle Beteiligung des Bundes an diesen zusätzlichen Aufgaben der Länder unerlässlich. Drittens. Wissen ist Verbrauchermacht. Die wichtigste Frage bleibt: Wie erfahren Verbraucherinnen und Verbraucher von Schadstoffbelastungen bei Lebensmitteln? Die richtige Antwort könnte das Verbraucherinformationsgesetz liefern. Hier sollte eine Pflicht zur Veröffentlichung durch die verursachenden Unternehmen, aber auch eine aktive Informationspflicht der damit befassten Behörden verankert werden. Nur dann können wir wirklich von Verbraucherschutz reden. Aber nach allen bisherigen Anzeichen ist leider zu vermuten, dass Frau Aigner ihrem Ruf treu bleibt und über Ankündigungen nicht hinausgeht. Wir sagen nach wie vor: Den Behörden gemeldete Daten und Ergebnisse der Laboruntersuchungen der Betriebe sind keine Betriebsgeheimnisse, sondern wichtige Verbraucherinformationen. Das muss Bestandteil des Verbraucherinformationsgesetzes werden. Nur so wird Verbraucherschutz verbessert. Ich danke für ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 14 Punkte umfasst der Dioxinaktionsplan, der nach dem Dioxinskandal im Januar dieses Jahres zwischen den Bundesländern und Ministerin Aigner vereinbart wurde. Drei Punkte wollen Sie jetzt, nach vier Monaten, endlich umsetzen. Viele andere Punkte, darunter so zentrale Ziele wie die verbindliche staatliche Positivliste für Futtermittel, die Transparenz für Verbraucher und die Produkthaftung, werden weiterhin nicht umgesetzt. Zur Positivliste für Futtermittel erklärte Frau Aigner gestern, man sehe in Deutschland die etablierte Positivliste der Wirtschaft als sinnvolles und vertrauensbildendes Instrument an und setze sich ansonsten für eine EUweite Liste ein. Da Frau Aigner mit der Positivliste, wie wir alle wissen, in Brüssel gescheitert ist, bedeutet das doch, dass es keine verbindliche Positivliste geben wird, stattdessen die unverbindliche und ungenügende Liste der Wirtschaft. Damit sind Sie an diesem entscheidenden Punkt gescheitert. Die Transparenz für Verbraucher verschieben Sie auf die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, die Sie schon zigmal verschoben haben, weil Sie sich in der Koalition nicht einigen. Würden Sie es mit der Information der Verbraucher ernst meinen, müssten Sie heute unserem Änderungsantrag zustimmen. ({0}) Durch die Schaffung eines neuen § 40 Abs. 1 a im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch schlagen wir Grünen eine gesetzliche Grundlage vor, um nachgewiesene Rechtsverstöße unter Nennung des Namens des jeweiligen Unternehmens veröffentlichen zu können. ({1}) Das ist genau das, was Sie von der Koalition gestern im Ausschuss für den Gastronomiebereich vorgeschlagen haben. ({2}) Meine Damen und Herren, was gilt bei Ihnen mehr: das Wort der Ministerin, die am 19. Januar dieses Jahres an diesem Pult sagte: „Wir sind zu Transparenz verpflichtet“, oder das Wort von Frau Happach-Kasan von der FDP, die gestern im Agrarausschuss sagte: „Wir machen nichts, was nicht im Interesse der Unternehmen ist“? ({3}) Ihr Problem ist: Sie machen keine Politik für die Verbraucher und keine Politik für die Bäuerinnen und die Bauern, sondern nur Politik für die Industrie. Ich möchte aus AGRA-EUROPE vom 9. Mai dieses Jahres zitieren: Der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes …, Manfred Nüssel, baut bei den Neuerungen im Futtermittelrecht nach der überstandenen Dioxin-Krise auf den Einfluss führender Agrarpolitiker der CDU. Vor Agrarjournalisten in Berlin nannte Nüssel dabei vergangene Woche konkret den agrarpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, FranzJosef Holzenkamp, ({4}) den Abgeordneten Johannes Röring sowie den Staatssekretär … Peter Bleser. ({5}) Nicht zuletzt bei ihnen hofft er auf ein offenes Ohr für die Belange der Branche. Natürlich, Herr Nüssel, haben diese Herren ein offenes Ohr für die Branche. Schließlich sind sie in vielfältiger und einzigartiger Weise Teil dieser Branche. Das Problem von Frau Aigner ist, dass sie von Agrarfunktionären eingekesselt ist, die jeden positiven Ansatz blockieren, egal ob beim Verbot der Käfighaltung von Hühnern, beim Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden, bei der Kampagne „Wahrheit und Klarheit“, bei der Charta für Landwirtschaft oder beim Dioxin-Aktionsplan. Jegliche Initiative der Ministerin wird von den eigenen Leuten geblockt, boykottiert oder verwässert. Meine Damen und Herren von der Koalition, solange bei Ihnen Funktionäre der Agrarindustrie das Sagen haben, ({6}) werden Sie keinen einzigen Lebensmittelskandal aufklären, nichts zur Abschaffung der Massentierhaltung zustande bringen, keinen einzigen Missstand in der Landwirtschaft beheben und weiterhin Agrarpolitik für die Agrarindustrie und nicht für die Bäuerinnen und Bauern machen. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat unsere Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan zu einer Kurzintervention das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit zu einer Kurzintervention. Lieber Kollege Ostendorff, ist es nicht so, dass wir gemeinsam festgestellt haben, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher beim diesjährigen Dioxinvorfall nicht gefährdet waren? Ist es nicht auch so, dass wir gemeinsam festgestellt haben, dass bäuerliche Betriebe, die das Futter selbst mischen, die also Getreide produzieren und Futterfette einmischen, um eine gesunde Ernährung der Tiere zu gewährleisten, durch diesen Vorfall besonders geschädigt worden sind? Sind wir uns nicht einig, dass es wichtig ist, die gut und sorgfältig arbeitenden landwirtschaftlichen Betriebe im Lande vor kriminellem Handeln zu schützen? Ist es nicht richtig, dass der Schutz genau dieser mittelständischen landwirtschaftlichen Betriebe auch im Interesse einer Politik, die sich für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland einsetzt, sein muss? Ich dachte, wir wären uns in diesen Punkten einig. Ich bin etwas enttäuscht, Herr Kollege Ostendorff, dass Sie als Landwirt nicht das Interesse der Landwirte, die ordentlich arbeiten, im Fokus haben, sondern stattdessen eine Skandalisierung betreiben, wie es auch die Medien getan haben. Dies hat im Ergebnis dazu geführt, dass eine Menge landwirtschaftlicher Betriebe durch die Vorfälle in Schleswig-Holstein in ihrer Existenz gefährdet worden sind. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nun darf ich das Wort zur Gegenrede erteilen. Bitte schön, Herr Kollege.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist für Mitglieder kleiner Fraktionen, denen nur eine kurze Redezeit zur Verfügung steht, immer wieder erfreulich, auf diesem Wege die Gelegenheit zu bekommen, eine zweite Rede zu halten. ({0}) Frau Happach-Kasan, wenn Sie mir bei den vielfältigen Gelegenheiten, bei denen wir über dieses Thema diskutiert haben, zugehört hätten, dann hätten Sie gehört, dass ich in jeder Rede, die ich halte, deutlich mache - das habe ich auch heute getan -, dass ich in genau den Punkten, die Sie angesprochen haben, anderer Meinung bin als Sie. Ich sage: Hier ging es um einen Betrieb in SchleswigHolstein, der Futterfette herstellt und kriminell gehandelt hat. Dieser Betrieb hatte sehr große Futtermühlen als Abnehmer. Mir als praktizierendem Landwirt ist nicht bekannt, dass kleine Bauern besonders viel Mischfutter kaufen. Meine These ist, dass kleinbäuerliche Betriebe ihr Getreide in der Regel selbst mahlen und nicht Kunden von Futtermittelmischwerken sind und nicht in großem Stile Futtermittel aus Futtermittelmischwerken beziehen. Ihre Logik erschließt sich mir nicht. Ich glaube, hier müssen Sie genauer zuhören. Ich bin an diesem Punkt immer sehr entschieden und klar. Ich sage: In der Realität ist es genau umgekehrt. Die Verbraucher waren nicht gefährdet. Nein, es ist zum Glück niemand akut erkrankt. Das behauptet auch niemand. Es ist mir nicht bekannt, dass es irgendeine wissenschaftliche Quelle gibt, die besagt: Wenn du deinem Körper Dioxin zuführst, dann wirst du akut krank, wie das jetzt beim EHEC-Bakterium der Fall ist, wenn es das HUS auslöst. Mein Wissensstand ist bisher - Frau Happach-Kasan, Sie sind Wissenschaftlerin; ich bin Praktiker und habe nie studiert -, dass Dioxin im Fettgewebe angereichert wird. Wenn Sie anderer Meinung sind, dann wäre es interessant, nach dieser Sitzung zu erfahren, welche Erkenntnisse Sie diesbezüglich gewonnen haben. Mein Erkenntnisstand ist: Es wird im FettgeFriedrich Ostendorff webe angereichert, und natürlich ist irgendwann eine Schwelle erreicht, ab der der Mensch akut gefährdet ist. Wir wollen hier aber nicht skandalisierend reden, wie Sie das tun. ({1}) Ich glaube, das müssen wir sehr seriös abarbeiten. Es gilt, diese Einträge von Umweltgiften zu minimieren. Ich glaube, die Gesellschaft ist in der Vergangenheit vielleicht etwas leichtfertig mit Stoffen wie Dioxin umgegangen. Ich denke, dass wir allen Bauern und Bäuerinnen, deren Betriebe ohne ihr eigenes Verschulden gesperrt wurden und die ihre Produkte am Markt nicht absetzen konnten, natürlich allen Schutz geben müssen; denn sie brauchen unser aller Solidarität. Das ist völlig unbestritten. ({2}) Das müssen wir endlich anpacken. Wir hätten erwartet, dass es Vorschläge dafür gibt, wie solchen Betrieben, die ohne Not in eine wirtschaftliche Existenzgefährdung geraten sind und geächtet werden, weil sie gesperrt sind - das bleibt ja nicht verborgen -, in Zukunft wirksam geholfen werden kann, sodass sie, wenn sie Futtermittel am Markt beziehen, sicher sein können, dass diese Futtermittel sauber sind und die Branche das Ihrige tut, um die Haftung zu übernehmen, falls es bei diesen Futtermitteln zu Auffälligkeiten kommt. Die Branche, die Sie mit Ihren Vorschlägen fördern wollen, macht sich einen schlanken Fuß und übernimmt eben keine Verantwortung. Die betroffenen Bäuerinnen und Bauern sind völlig alleine mit ihren Nöten, mit ihren Sorgen und auch mit dem wirtschaftlichen Misserfolg, der damit natürlich einhergeht.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Ostendorff. Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan, Sie haben das Angebot zum persönlichen Gespräch gehört. Da wir bis kurz vor Mitternacht fertig werden, besteht sicher noch die Gelegenheit dazu, bevor wir für morgen zur nächsten Sitzung einladen. ({0}) Als Nächster hat der Kollege Johannes Röring für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Herr Kollege. ({1})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade festgestellt, dass die Verdopplung der Redezeit noch längst nicht zur Verdopplung der Erkenntnisse führt. ({0}) Im Januar dieses Jahres mussten wir alle im Rahmen der Dioxinkrise miterleben, dass das Fehlverhalten eines Einzelnen bundesweit große Verunsicherung und große Schäden ausgelöst hat. Die Verbraucherinnen und Verbraucher waren in höchstem Maße verunsichert und wussten nicht, welche Lebensmittel am Ende noch sicher waren. Die Produzenten dieser Lebensmittel, die Landwirte, standen völlig unverschuldet am Pranger. Viele Teilnehmer der Produktionskette waren von den Folgewirkungen betroffen. Auch wenn das Thema Dioxin mittlerweile weitestgehend aus der medialen Berichterstattung verschwunden ist, haben sowohl die direkt als auch die indirekt betroffenen Landwirte die finanziellen Folgen der Krise hart gespürt. Nach einer aktuellen Analyse der Dow Jones News sind die marktbedingten Preisrückgänge durch diese Krise auf etwa 100 Millionen Euro zu beziffern. Damit wir eine ähnliche Situation nicht wieder erleben müssen, haben wir schnell gehandelt. ({1}) An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal ein klares Wort zur Medienberichterstattung, aber auch zum Verhalten der Opposition sagen. Wie hier in teils unverantwortlicher Weise Ängste geschürt wurden, war mehr als unanständig und nicht angebracht. ({2}) Es wurde pauschalisiert und verleumdet und sogar die Landwirtschaft selbst angegriffen. Man hat versucht, aus Opfern Täter zu machen. Das war ein starker Schlag in das Gesicht unserer Bäuerinnen und Bauern, ({3}) die sich tagtäglich - das möchte ich an dieser Stelle betonen - mit großer Verantwortung um ihre Tiere kümmern. Dieses Verhalten möchte ich deutlich verurteilen. Die Zahl der anwesenden Agrarpolitiker der Opposition zeigt, wie wichtig Sie unsere Bäuerinnen und Bauern nehmen: Ihre Reihen sind sehr schwach besetzt. ({4}) Die Fakten zeigen, dass die Behörden der Länder, der Bund, aber auch die EU schnell und gut zusammengearbeitet haben und das durch die Wirtschaft aufgebaute System der Transparenz und Rückverfolgbarkeit gegriffen hat. Sie haben den Futtermittelskandal aufgedeckt. Viele Betriebe haben schon vorher Eigenkontrollen durchgeführt und machen dies auch heute noch. Der Ursprung und vor allen Dingen die Wege der Futtermittel sind sehr schnell aufgedeckt worden. Im Gegensatz zur Opposition haben wir nicht Effekthascherei und Populismus betrieben. ({5}) Wir haben direkt nach Bekanntwerden der Vorfälle gehandelt. Im Zentrum des Aktionsplans steht nämlich, dass wir die Sicherheitsstandards der Futtermittelkette weiter erhöhen und die Melde- und Kontrollpflichten verschärfen wollen. Wir wollen also - das betone ich ausdrücklich - das bestehende System verbessern und weiterentwickeln. ({6}) Mit der heute zu beschließenden Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches werden wir nur wenige Monate nach der Entwicklung des Aktionsplans erste Teile gesetzgeberisch umsetzen. Wir wollen eine zuverlässige Kontrolle aller Glieder der Lebensmittelproduktionskette. Sowohl die Verbraucher als auch insbesondere die Beteiligten der Wertschöpfungskette inklusive der Bäuerinnen und Bauern brauchen auf allen Ebenen Sicherheit hinsichtlich Qualität und Herkunft der Produkte.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege Röring, wir haben die Chance zu einer Zwischenfrage von der linken Seite, den Sozialdemokraten. Würden Sie sie zulassen? Sie müssen das nicht.

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, Kollege Priesmeier.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bitte schön.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Röring, stimmen Sie mir zu, dass durch das Verhalten des damaligen niedersächsischen Staatssekretärs anlässlich des Besuches der Ministerin in Oldenburg und den Erkenntnisstand, den er zu dem damaligen Zeitpunkt hatte, die Krise, die Sie in wesentlichen Teilen der Opposition anlasten, in besonderer Weise befördert worden ist? Wenn Sie mir nicht zustimmen, dann bitte ich Sie, das zu begründen. - Vielen Dank.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das war die Zwischenfrage unseres Kollegen Priesmeier. - Bitte schön, Herr Kollege Röring.

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Wilhelm Priesmeier, ich stimme dieser Erkenntnis nicht zu; denn wir haben - das habe ich eben deutlich gemacht - gerade durch die Eigenkontrollen im System sehr schnell die Herkunft dieser Futterchargen nachvollzogen und erkannt. Das wäre vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen. Dass es in einem System, wie wir es kennen, zu kriminellem Handeln kommt, werden wir auch durch die schärfsten gesetzlichen Maßnahmen letzten Endes nie unterbinden können. Deswegen sind wir dabei, es praxisgerecht und vernünftig weiterzuentwickeln. ({0}) Die Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs wird nun konkret. Die Meldepflicht der privaten Laboratorien ist vorgeschrieben. Die Eigenkontrolle wird verstärkt berücksichtigt. Ein Punkt, der meines Erachtens andiskutiert, aber noch nicht umgesetzt worden ist, ist die Versicherungspflicht für Futtermittelunternehmer zum Schutz aller Partner in der Kette. Hinsichtlich der neuen Vorgaben zur Eigenkontrolle möchte ich gerne auf die öffentliche Anhörung Bezug nehmen, die wir zu diesem Thema durchgeführt haben. Dort haben uns viele Experten bestätigt, dass bereits heute ein hohes Maß an verantwortungsbewusster Eigenkontrolle durch die Unternehmen vorhanden ist. Wir fügen deshalb der Kontrollkette nur eine sinnvolle Informationspflicht hinzu, die bedeutet, dass alle Lebensmittel- und Futtermittelhersteller Ergebnisse von Eigenkontrollen zu Dioxinen den zuständigen Behörden mitteilen müssen. Weitere, darüber hinausgehende Mitteilungsverpflichtungen der Unternehmen lehnen wir deutlich ab, da wir Vorverurteilungen verhindern wollen, um nicht unnötigerweise Unternehmensexistenzen und - damit einhergehend Arbeitsplätze zu gefährden. ({1}) Wer das noch nicht richtig verinnerlicht und verstanden hat, der muss sich nur die Ereignisse dieser Tage anschauen. Wer gestern Abend und heute Morgen die Meldungen zu der Frage, woher das gefährliche Bakterium kommt, verfolgt hat, der hat mitbekommen, was verfrühte Meldungen und Vorverurteilungen bewirken können. Das hat Konsequenzen für den Handel. Unschuldige Gemüseerzeuger aus Norddeutschland haben erhebliche Probleme und beklagen Millionenschäden an einem Tag. Heute war zu hören, dass die Behörden nach intensiven Bemühungen aufgedeckt haben, woher die Gefahr kommt. Es waren am Ende - ich glaube, ich sage damit nicht zu viel - grüne Gurken. ({2}) Ich hoffe, dass ich niemandem zu nahegetreten bin. Ich möchte das nur als Beispiel nennen, um deutlich zu machen, wie schnell Vorverurteilungen ganze Produktionszweige in Gefahr bringen können. ({3}) Ich sage noch einmal: Die Lebensmittel in Deutschland waren noch niemals von so hoher Qualität und so sicher wie in der heutigen Zeit. Wir wollen, dass das auch in Zukunft so bleibt. Der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft soll man vertrauen können. Qualität und Sicherheit sind Markenzeichen dieser Branche. Ich denke, dass durch die nun zu beschließenden gesetzlichen Vorgaben dies weiter zu verdeutlichen ist. Wir als Regierungskoalition haben gezeigt, was schnelles und sachorientiertes Handeln bedeutet ({4}) und dass wir erfolgreiche Politik machen können. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Johannes Röring. Tagesordnungspunkt 13 a: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 ({0}), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/4984 und 17/5392 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5958 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5959. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Tagesordnungspunkt 13 b: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 ({1}), den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5377 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? Die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953 ({2}) empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio- nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegen- probe! - Keine. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis d auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Versorgung der privat Versicherten im Basis- tarif sicherstellen - Drucksache 17/5524 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gesetzliche Krankenversicherung für Solo- Selbstständige bezahlbar gestalten - Drucksachen 17/777, 17/5566 - Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Lanfermann c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Private Kranken- und Pflegeversicherung - Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe- dürftige - Drucksachen 17/780, 17/5630 - Berichterstattung: Abgeordnete Karin Maag d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versicherten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II - Drucksache 17/548 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({5}) - Drucksache 17/5629 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe keinen Widerspruch. Ich verzichte auf die Ver- lesung der einzelnen Namen; die Namen liegen uns vor, Vizepräsident Eduard Oswald und die entsprechenden Reden sind beim Protokoll ein- gegangen1). Tagesordnungspunkt 14 a: Es wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5524 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. - Alle sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 14 b: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussfassung auf Drucksache 17/5566, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/777 mit dem Titel „Gesetzliche Krankenversicherung für Solo-Selbstständige bezahlbar gestalten“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! Linksfraktion. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 14 c: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5630, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/780 mit dem Titel „Private Krankenund Pflegeversicherung - Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebedürftige“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 14 d: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5629, den Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versicherten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/548 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes - Drucksache 17/3122 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6}) - Drucksache 17/5930 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth Marco Buschmann 1) Anlage 3 Jens Petermann Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor.

Dr. Stephan Harbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004049, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten und beschließen heute in zweiter und dritter Lesung das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes. Es dient der Umsetzung der Richtlinie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, die Änderungen bereits bestehender Richtlinien ({0}) hinsichtlich der Berichts- und Dokumentationspflichten bei Verschmelzungen und Spaltungen von Gesellschaften vorsieht. Die heute zu beschließenden Änderungen des Umwandlungsrechts stellen einen weiteren wichtigen Baustein im Rahmen der kontinuierlichen Fortentwicklung des Unternehmensrechts in Deutschland dar. Der vorliegende Gesetzentwurf, an dem im Rahmen des parlamentarischen Beratungsverfahrens mehrere wichtige Änderungen vorgenommen wurden, leistet einen Beitrag zur weiteren Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Denn Unternehmen werden bei Umwandlungen künftig von Einsparungen profitieren und mit einem geringeren Verwaltungsaufwand konfrontiert als bisher. So können künftig etwa die Prüfung der Sacheinlagen und des Verschmelzungsvertrags durch denselben Sachverständigen vorgenommen werden. Eine Zwischenbilanz wird künftig dann entbehrlich sein, wenn alle Anteilsinhaber sämtlicher beteiligter Rechtsträger durch notariell beurkundete Erklärung darauf verzichten oder ein Halbjahresfinanzbericht gemäß § 37 w des Wertpapierhandelsgesetzes veröffentlicht wurde. Daneben können Aktionären mit ihrer Einwilligung Unterlagen in Zukunft auf dem Wege elektronischer Kommunikation übermittelt werden. Auf eine Versendung in Papierform kann verzichtet werden. Konzernverschmelzungen werden dadurch vereinfacht, dass bei Konzernverschmelzungen auf eine Aktiengesellschaft bei 100-prozentiger Beteiligung die Notwendigkeit eines Verschmelzungsbeschlusses nicht wie bisher nur hinsichtlich der Beschlussfassung bei der übernehmenden Aktiengesellschaft, sondern auch bei der übertragenden Kapitalgesellschaft entfällt, wenn der übernehmenden Aktiengesellschaft sämtliche Anteile der übertragenden Aktiengesellschaft gehören. Den berechtigten Interessen an einer Unterrichtung des Betriebsrats über geplante Konzernverschmelzungen wird dabei durch eine vom Rechtsausschuss angeregte gesetzliche Klarstellung Rechnung getragen. Ein wichtiges Element des vorliegenden Änderungsgesetzes zum Umwandlungsrecht ist die Einführung des verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out. Gehören der übernehmenden Gesellschaft mindestens 90 Prozent des Grundkapitals einer übertragenden Aktiengesellschaft, kann die Hauptversammlung der übertragenden Aktiengesellschaft einen Squeeze-out-Beschluss fassen. Während der allgemeine aktienrechtliche Squeeze-out eine mindestens 95-prozentige Beteiligung voraussetzt, ist der verschmelzungsrechtliche Squeeze-out - wie von der Richtlinie vorgesehen - bereits ab einer 90-prozentigen Beteiligung möglich. Zu Recht war darauf hingewiesen worden, dass der vorgelegte Regierungsentwurf die Möglichkeit eröffnet hätte, bei nur 90-prozentiger Beteiligung zunächst in Ausübung der neu geschaffenen gesetzlichen Regelung einen verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out durchführen zu können, ohne sodann auch die Verschmelzung durchzuführen. Dieser Umgehungsmöglichkeit ist aus Gründen der inhaltlichen Konsistenz der Rechtsordnung nunmehr durch vom Rechtsausschuss beschlossene Änderungen ein Riegel vorgeschoben worden. Wenngleich mit den vorliegenden umwandlungsrechtlichen Änderungen die von der Richtlinie eröffneten Möglichkeiten an allen Stellen in rechtspolitisch überzeugender Weise umgesetzt wurden, besteht im Umwandlungsrecht weiterer Handlungsbedarf, der im Rahmen der hier anstehenden Richtlinienumsetzung thematisch nicht tangiert war. Als wichtige rechtspolitische Herausforderungen des Umwandlungsrechts, die im vorliegenden Gesetzentwurf nicht behandelt werden, seien exemplarisch nur drei genannt: Erstens besteht weiterhin eine rechtspolitisch kaum zu rechtfertigende Ungleichbehandlung der Aktionäre des übertragenden und des übernehmenden Rechtsträgers bei der Rüge des Umtauschverhältnisses im Rahmen von Verschmelzungen. Zweitens sind etwaige Ausgleichsleistungen an Aktionäre, die durch das Umtauschverhältnis übervorteilt werden, nach derzeitiger Rechtslage nur in Form von Geldleistungen, nicht jedoch in Form von Anteilsgewährungen möglich. Die letztere Option wäre aber deshalb sinnvoll, weil sie Liquiditätsdruck von Unternehmen nähme, die an Umwandlungsvorgängen beteiligt sind. Drittens wird man kritisch zu hinterfragen haben, ob die Notwendigkeit einer aufwendigen Hauptversammlung in allen Fällen der Ausgliederung wirklich sachgerecht ist. Diese Fragen in den kommenden Monaten aufzugreifen, stünde dem Gesetzgeber nach unserer Überzeugung gut zu Gesicht. Wir freuen uns auch insoweit auf ähnlich konstruktive Beratungen, wie wir sie bei den Erörterungen im Hinblick auf das heute zu verabschiedende Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes erleben durften.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir verabschieden hier einen Gesetzentwurf von immenser Tragweite für das Wirtschaftsleben - und wir verabschieden ihn vollkommen ohne öffentliche Begleitmusik. Eigentlich sollte einen das wundern. Genau eine Berichterstattung im „Handelsblatt“ habe ich gefunden, ansonsten nichts, was rauscht im Blätterwald. Sicher, der Gesetzentwurf setzt zuallererst europäische Vorgaben aus dem Herbst 2009 um - gerade noch fristgerecht übrigens, bis Ende Juni 2011 war Zeit. Und er ist alles in allem handwerklich solide gemacht. Trotzdem: Einen intensiven Blick ist er wert. Die Regelungen für die Spaltung und Verschmelzung von Unternehmen werden stark verändert. Das hat große Auswirkungen auf Konzernverschmelzungen und alle davon Betroffenen: die Entscheiderinnen und Entscheider in den beteiligten Unternehmen, die Aktionärinnen und Aktionäre und nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kundinnen und Kunden. Es sollte darum nicht nur ein Spezialthema für ein paar Unternehmensjuristen sein. Wenn Politik zum Ziel hat, die Chancen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu erhöhen, indem die Investitionsfähigkeit und Innovationskraft der privaten Wirtschaft gestärkt werden, dann ist ein modernes, praktikables Umwandlungsrecht ein Baustein dazu. Und das Umwandlungsrecht wird mit dieser Novelle in der Tat von ein paar bürokratischen Hürden entschlackt. Die Konzernumwandlung wird entlang den EU-Vorgaben straffer und kosteneffizienter. Unnötige Berichtsund Informationspflichten werden gestrichen, Kostenersparnisse unter anderem dadurch eröffnet, dass auf Zwischenbilanzen verzichtet werden kann oder dass im Falle einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft dieselben Sachverständigen mit der Prüfung sowohl der Sacheinlagen als auch des Verschmelzungsvertrages beauftragt werden können. Alles gut also? Bessere, stringentere Lösungen, bei denen die Wirtschaft auch noch bares Geld spart, begrüße ich. Vereinfachung darf aber nicht so weit gehen, dass als „Nebenwirkung“ die Rechte wichtiger Gruppen unter den Tisch zu fallen drohen, wie es mit der Unterrichtung der Betriebsräte fast passiert wäre. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte geregelt werden, dass ein Verschmelzungsbeschluss des Anteilsinhabers der übertragenen Kapitalgesellschaft dann nicht erforderlich ist, wenn sich das gesamte Stammgrundkapital einer übertragenen Kapitalgesellschaft in der Hand einer übernehmenden Aktiengesellschaft befindet. Damit war quasi der Anknüpfungspunkt für die Betriebsratszuleitung „weggespart“. Der Zeitpunkt, wann die Betriebsräte zu unterrichten sind, hätte sich nicht mehr exakt bestimmen lassen. Darauf hatte der DGB hingewiesen. Wir Sozialdemokraten haben diesen Punkt aufgenommen, ihn auch bei der Expertenanhörung in den Fokus gerückt und eine Klarstellung erreichen können. Dieses Versäumnis des Gesetzgebers ist also dank sozialdemokratischen Engagements erfolgreich eingefangen worden. Gerade wenn Verfahren einfacher und übersichtlicher werden sollen, ist es extrem wichtig, die Unterrichtungspflichten der Vertretungsorgane sorgsam auszutarieren. Da dürfen wir uns keinen Lapsus leisten. Denn hier geht um zentrale Transparenzfragen, um das Miteinander von Unternehmensführung und Mitarbeitervertretung. Wie wichtig diese Fragen sind, hat uns die Finanz- und Wirtschaftskrise ja wohl wirklich überdeutlich vor Augen geführt. Beispiel zwei: der Squeeze-out. Der Gesetzentwurf verändert die rechtlichen Anforderungen bei der Verschmelzung und Spaltung unter der Beteiligung von Aktiengesellschaften; insbesondere geht es um die Verschmelzung von 100-prozentigen Tochtergesellschaften mit der Muttergesellschaft. Die zentrale und für die PraZu Protokoll gegebene Reden xis bedeutendste Regelung ist der neu gestaltete Squeeze-out. Wir verändern die Vorgaben, nach denen der Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Aktiengesellschaft erzwungen werden kann. Auch hier geht es um Wirkungen und Nebenwirkungen. Mit Blick auf die Regelungen zum Squeeze-out muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass die neue Regelschwelle von jetzt 90 Prozent nicht dadurch ausgehebelt werden kann, dass ein Squeeze-out nach § 62 UmwG-E durchgeführt und auf die anschließende Verschmelzung verzichtet wird. Das Wirksamwerden des Sqeeze-out an eine Eintragung der Konzernverschmelzung zu binden, war notwendig. Diese Hintertür haben wir im Rechtsausschuss zugeschlagen. Das war wichtig. So bleibt das Fazit: Der Prozess der Konzernverschmelzungen wird durch einen sachgerechten Gesetzentwurf erleichtert. Meine Fraktion wird ihn mittragen.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bereits im Jahre 2007 hat sich der Europäische Rat darauf verständigt, die Verwaltungslasten für Unternehmen bis zum Jahre 2012 um 25 Prozent zu verringern. Zu diesem Zweck haben die europäischen Institutionen die Umwandlungsrichtlinie Richtlinie 2009/109/EG auf den Weg gebracht, mit dem Ziel, den Verwaltungs- und Kostenaufwand aufgrund von Veröffentlichungs- und Dokumentationspflichten auf ein Minimum zu beschränken. Die FDP-Bundestagsfraktion teilt das Ziel, Unternehmen und insbesondere den Mittelstand von überflüssigen Bürokratielasten zu befreien. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf in der Fassung, den er durch die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen bekommen soll, als konsequente Umsetzung dieser Zielvorgabe. Durch den heute zu beratenden Regierungsentwurf für das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsrechts und den Änderungsantrag der Regierungskoalitionen soll die Richtlinie 2009/109/EG in nationales Recht umgesetzt werden. Schon der Regierungsentwurf vom 7. Juli 2010 hat in verschiedenen Bereichen eine Erleichterung bedeutet. Zum Beispiel ermöglicht der Entwurf die Übermittlung von Dokumenten auf elektronischem Wege. Des Weiteren kann die Prüfung der Sacheinlagen und des Verschmelzungsvertrages zukünftig durch denselben Sachverständigen erfolgen. Wichtige Änderungen im Umwandlungsrecht ergaben sich jedoch aus dem erweiterten Berichterstattergespräch vom 9. Februar 2011. Für die konstruktive Mitarbeit möchte ich mich daher bei den Berichterstattern aller Fraktionen bedanken und insbesondere bei den angehörten Sachverständigen für ihre hilfreiche Unterstützung. Die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Kollegen Lischka und Frau Kollegin Hönlinger, verlief sehr sachkundig und konstruktiv. Zwei wichtige Ergebnisse möchte ich dabei herausstellen: Zum einen war im Regierungsentwurf vorgesehen, die Unterrichtungspflicht im deutschen Recht nicht nur auf die Aktiengesellschaft zu beschränken, sondern auf Unternehmen sämtlicher Rechtsformen auszuweiten. Der Regierungsentwurf setzte hier also europäisches Recht nicht eins zu eins um, sondern schickte sich an, Berichtspflichten anlässlich einer Richtlinienumsetzung auszuweiten. Wir haben hier auf eine Umsetzung eins zu eins bestanden. Denn die Ausweitung von Berichtspflichten steht im Widerspruch zum erklärten Ziel der Richtlinie, nämlich Unternehmen von bürokratischen Informationspflichten zu entlasten. Entlastung erreicht man aber nicht durch Ausweitung, sondern nur durch Beseitigung oder Vermeidung von Informationspflichten. Die wohl wichtigste Änderung erfährt der Regierungsentwurf auf Initiative der Koalitionsfraktionen durch die Stärkung des sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem erleichterten Squeeze-out anlässlich einer Verschmelzung und der dazu erforderlichen Verschmelzung selbst. Das war erforderlich, da der konzernrechtliche Squeeze-out anlässlich einer Verschmelzung unter erleichterten Bedingungen erfolgen kann als andere Formen des Squeeze-out. Hier war man sich in der Fachwelt einig, dass sich Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten für die erhöhten Vorgaben eines regulären Squeeze-outs ergeben. Für meine Fraktion stand es auch nie zur Debatte, die Voraussetzungen für Squeeze-out allgemein abzusenken. Denn es geht hier um Eigentumspositionen von Aktionären. Das ist nicht nur angesichts von Art. 14 GG ein hohes Gut. Damit spielt man nicht. Hier haben die Koalitionsfraktionen im Zusammenspiel mit den Sachverständigen, die wir dazu gehört haben, einen Weg gefunden, um diese Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten auszuschließen. So wird der erleichterte Squeeze-out anlässlich einer Verschmelzung erst mit der Eintragung des Verschmelzungsbeschlusses wirksam. So kann nicht einfach ein erleichterter Squeeze-out wirksam durchgeführt werden, ohne nicht auch die Verschmelzung durchzuführen, um derentwillen man das Privileg erleichterter Voraussetzungen erhält. Zum anderen erhalten wir aber die Vorteile des Instruments. Denn es ist dennoch möglich, im Zusammenhang mit einer Verschmelzung den von der Richtlinie geforderten Squeeze-out bei einer 90-prozentigen Tochtergesellschaft durchzuführen. Insgesamt ist das Ergebnis ein guter Schritt in die richtige Richtung: die Entlastung der Unternehmen von Bürokratie und Kosten. Ich werbe hier daher um Ihre Zustimmung!

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Änderungen des hier vorliegenden Umwandlungsgesetzes betreffen insbesondere die Veröffentlichungs- und Dokumentationspflichten jedes an der Verschmelzung oder Spaltung beteiligten Rechtsträgers sowie die Erleichterung eines Squeeze-out, also den Ausschluss eines Gesellschafters. Wenn wir dem Gesetz zustimmen, dann nicht, weil wir den zugrunde liegenden Vorgängen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind. Von Markus M. Ronner stammt der Satz: „Das Zeitalter der Fusionen hat Unternehmer als bloße Übernehmer entlarvt. Und mancher hat sich dabei übernommen.“ Zu Protokoll gegebene Reden Als Finanzpolitiker finde ich die Einschätzung zutreffend, wonach eine Fusion der Zusammenschluss von zwei Unternehmen zum Abbau von Verlusten sei, die sie alleine nie gehabt hätten. Regelmäßig sind diese Vorgänge mit einem Personalabbau verbunden, wie es der jüngste Fall bei der Verschmelzung der Dresdner Bank und der Commerzbank gezeigt hat. Der konzernweite Personalabbau betraf hierbei 9 000 Vollzeitstellen, davon rund 6 500 in Deutschland. Daher ist für uns entscheidend, dass mit der vorliegenden Gesetzesänderung keine Verschlechterung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einhergeht und die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nicht beschnitten werden. Die Ergänzungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E legen den Fristbeginn für die Unterrichtung des Betriebsrates über die Verschmelzung fest. Nunmehr ist spätestens mit Abschluss des Verschmelzungsvertrages die Verpflichtung zu erfüllen, diesen dem Betriebsrat zuzuleiten. Die Änderungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E knüpfen das Wirksamwerden des Übertragungsbeschlusses nunmehr an die Eintragung des Verschmelzungsbeschlusses in das Handelsregister. Damit ist sichergestellt, dass ein konzernverschmelzungsrechtlicher Squeeze-out, der bei 90 Prozent möglich ist, gegenüber dem sonstigen aktienrechtlichen Squeeze-out bei 95 Prozent nicht missbraucht wird, indem eine Verschmelzung angedacht wird, ein Squeeze-out durchgeführt wird und die Verschmelzung sodann scheitert. Die letzten Änderungen, die nach der Anhörung erfolgten und auf Hinweise der Sachverständigen zurückgehen, begrüßen wir daher. Ebenfalls begrüßen wir, dass das BMJ sich auf die notwendigen Umsetzungen aus der Änderungsrichtlinie für Verschmelzungen und Spaltungen beschränkt hat und nicht, wie von einigen Sachverständigen verlangt wurde, eine Reihe weiterer Vorschläge, die damit nur mittelbar im Zusammenhang stehen, aufgenommen hat. Der konzernverschmelzungsrechtliche Squeeze-out bei 90 Prozent ergibt sich zwingend aus der umzusetzenden Richtlinie. Insoweit ist dies zwar aus dem Blickpunkt des Gesellschaftsrechts nicht befriedigend, es dürfte jedoch kein rechtlicher Handlungsspielraum verbleiben, die Schwelle auf 95 Prozent hochzusetzen. Bei einer künftigen Reform des Umwandlungsrechts wäre zu überlegen, wie die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt werden können. Der Sachverständige Ernst Büchele hatte in der Anhörung vorgeschlagen, das übernehmende Unternehmen zu verpflichten, für eine Übergangszeit von etwa fünf Jahren eine Beschäftigungsgarantie abzugeben. Würde diese nicht eingehalten, wäre eine je nach Dauer der Beschäftigung gestaffelte Ausgleichszahlung in ein Sondervermögen zu leisten, das die Kreditanstalt für Wiederaufbau verwaltet. Die damit gesammelten Mittel dürfen nur verwendet werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, entweder innerhalb von bestehenden oder erst noch zu gründenden Unternehmen. Dazu können auch reine Beschäftigungsgesellschaften gehören, die Arbeitnehmer so lange aufnehmen, bis sie am regulären Arbeitsmarkt wieder untergekommen sind oder das - nahende - Rentenalter erreichen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beraten heute das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes. Das Umwandlungsgesetz regelt die Umwandlung von Rechtsträgern, die ihren Sitz in Deutschland haben. Insbesondere geht es dabei um Ver- schmelzungen, Spaltungen, Formenwechsel sowie Ver- mögensübertragungen von gesellschafts-, vereins- oder genossenschaftsrechtlich organisierten Rechtsträgern. In dem Dritten Gesetz zur Änderung des Umwandlungs- gesetzes führen wir EU-rechtliche Vorgaben in das deut- sche Recht ein. Wir Grünen haben uns an diesem Ge- setzgebungsprozess konstruktiv beteiligt. Der Hauptpunkt, der mit dieser Gesetzesänderung vorgenommen wird, ist die Absenkung des Squeeze-out. Unter einem Squeeze-out ist ein unter Zwang vollzoge- ner Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak- tiengesellschaft zu verstehen. Das bedeutet: Wenn ein Aktionär - direkt oder über von ihm abhängige Unter- nehmen - mindestens 95 Prozent des Grundkapitals ei- ner Aktiengesellschaft hält, kann er die restlichen Aktio- näre gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aus dem Unternehmen drängen. Mit dem Gesetzentwurf sen- ken wir die Squeeze-out-Schwelle entsprechend der eu- ropäischen Vorgaben auf 90 Prozent. Uns ist bewusst, dass eine Absenkung der Squeeze- out-Schwelle nicht unproblematisch ist. Dieser Zwangs- ausschluss der Minderheitsaktionäre stellt einen erheb- lichen Eingriff in die eigentumsrechtliche Position der Minderheitsaktionäre dar. Schon jetzt zeigt sich die Rechtsprechung zunehmend großzügig. Beispielsweise hält sie auch Fälle für unbedenklich, in denen der Hauptaktionär die für den Zwangsausschluss der Minderheitsaktionäre erforderliche Beteiligungsquote von 95 Prozent erst durch ein Wertpa- pierdarlehen erreicht hat. Vor diesem Hintergrund begrü- ßen wir, dass der Regierungsentwurf den Schwellenwert von 95 Prozent für den ,,normalen“ gesellschaftsrechtli- chen und übernahmerechtlichen Squeeze-out unangetas- tet lässt. Für den Zwangsausschluss im Zusammenhang mit einer Konzernverschmelzung im Aktienrecht müssen wir hingegen die Absenkung des Schwellenwertes auf 90 Prozent im Gesetz etablieren, da dieses den europa- rechtlichen Vorgaben entspricht. Begrüßenswert ist zu- dem, dass mit diesem Gesetzentwurf die Transparenz für Aktionäre erhöht wird. Mit der Einführung des neuen § 64 Abs. 1 des Umwandlungsgesetzes schreiben wir die Unterrichtungspflicht über Vermögensänderungen auch für Verschmelzungen von Aktiengesellschaften fest. Bis- her gab es diese Verpflichtung nur bei Spaltungen von Aktiengesellschaften. Abschließend ist hervorzuheben, dass wir mit diesem Gesetzentwurf im Hinblick auf die Vorbereitung einer Hauptversammlung Bürokratie abbauen. Überflüssige Kosten werden für Unternehmen minimiert. Durch die Gesetzesänderung können die die Hauptversammlung vorbereitenden Unterlagen den Aktionären auf elektro- nischem Wege zugeleitet werden. Das bedeutet nicht nur eine erhebliche Ersparnis an Papier und Zeit, sondern kommt auch unserer Umwelt zugute. Wir Grünen unter- stützen daher das Gesetzesvorhaben. Zu Protokoll gegebene Reden

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/5930, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3122 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Das ist einstimmig. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({0}), Marieluise Beck ({1}), Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken - Drucksache 17/5910 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin Müller ({5}), Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen - Drucksachen 17/4043, 17/5307 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Michael Roth ({6}) Michael Link ({7}) Dr. Diether Dehm Manuel Sarrazin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in dieser Debatte ist unsere Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben das Wort. Bitte schön, Kollegin Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Kofi Annan 1999 nach den Ereignissen von Srebrenica und Ruanda von allen UNO-Mitgliedstaaten eine Kultur der Prävention einforderte, da schien es fast, als hätte die Weltgemeinschaft einmal verstanden. Auf dem Weltgipfel 2005 sagte sie nicht nur der Armut den Kampf an; sie versprach bedrohten Menschen mit dem Konzept der Responsibility to Protect auch mehr Schutz vor Kriegsgewalt und die Stärkung von Menschenrechten und Demokratie. Wir haben in Deutschland unter Rot-Grün 2004 den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ und den Ausbau ziviler Instrumente wie das ZIF, den Zivilen Friedensdienst oder auch zivik beschlossen. Wir hatten damals eine klare Vision, nämlich: Deutschland will und muss vor allem eines sein: zivile Friedensmacht in der Welt. Heute müssen wir feststellen, dass ausgerechnet jetzt, da Deutschland im Sicherheitsrat sitzt und zivile Krisenprävention gefragt ist wie nie, zum Beispiel in Tunesien, in Ägypten oder im Sudan, die zivile Krisenprävention vor sich hindümpelt. Das, finden wir, ist nicht hinnehmbar. ({0}) Die zivile Krisenprävention ist antriebslos, weil es keine erkennbare friedens- und sicherheitspolitische Gesamtstrategie der Bundesregierung gibt. Ich nehme einmal das Beispiel der Bundeswehrreform, die zwar breit diskutiert wird, aber völlig losgelöst vom Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ ist. Der Vorrang „Zivil vor Militär“ kommt dabei unter die Räder. Die Schieflage zwischen Zivil und Militär bei der Mittelvergabe verschärft sich weiter. Der Begriff der vernetzten Sicherheit, von dem Sie immer reden, verkommt dabei zur Floskel. Am Ende wird das Militär das Zivile nur noch stärker dominieren. Das, finden wir, ist eine falsche Entwicklung. ({1}) Zivile Krisenprävention ist auch führungslos - so könnte man sagen -, weil nämlich der zuständige Ressortkreis weder politische Macht noch eigene Ressourcen hat, und sie ist orientierungslos, weil zum Beispiel der Beirat, den es immerhin gibt, zu einem Alibigremium verkommen ist. Das ist die Bilanz der Tätigkeit der hochrangigen Fachleute, die da sitzen. Wir meinen: Das muss sich ändern. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht, in dem wir konkrete Vorschläge dazu machen, wie wir die zivile Krisenprävention wieder ins Zentrum der deutschen Außenpolitik rücken können und wie wir endlich eine internationale Vorreiterrolle bei der zivilen Krisenprävention gewinnen oder zurückgewinnen können. Was ist erforderlich? Wir müssen zunächst einmal den Aktionsplan zu einem nationalen zivilen Planziel weiterentwickeln - das klingt technisch, aber das ist das, Kerstin Müller ({2}) was die Europäische Union von uns schon seit längerem erwartet -, weil wir sonst nicht die nötigen Instrumente haben, um beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Konfliktländern angemessen dabei zu sein. Dem müssen Sie sich stellen. Meiner Meinung nach tun Sie das nicht. Ein paar Beispiele: Warum ist Deutschland als größtes Land in der EU noch nicht einmal in der Lage, auch nur annähernd die bereits 2004 zugesagten 900 Polizisten für Friedensmissionen oder auch ausreichendes Personal für den EAD zur Verfügung zu stellen? Warum ist Deutschland als drittgrößter Beitragszahler der UNO mit weit weniger als 2 Prozent Personalanteil - das alles hat das ZIF wunderbar aufgelistet - in UNO-Friedensmissionen vertreten? Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständlich, warum Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, heute unserem Antrag zum EAD nicht zustimmen können. So würde man an dieser Stelle einmal ein Stück vorwärtskommen. ({3}) Wichtig ist auch, dass die vorbeugende Diplomatie und die Konfliktvermittlung gestärkt werden. Dazu haben Sie sich schon 2009 im EU-Rat verpflichtet; aber passiert ist nichts. Jetzt, als dies bei den Umbrüchen in der arabischen Welt notwendig war, war zum Beispiel die Europäische Union nicht in der Lage, schnell Vermittler vor Ort zu entsenden. Etwas, was ganz wichtig ist, haben wir auch auf den Reisen des Unterausschusses zu hören bekommen und gesehen: Wir müssen viel vorausschauender und systematischer Personalpools für Polizei-, Verwaltungs- und Rechtsstaatsexperten aufbauen, die wir dann in EU-Missionen, UNO-Missionen oder auch zur Afrikanischen Union entsenden können. Dabei sind auch Frauen gefragt, wie es die Sicherheitsratsresolution 1325 verlangt. Wichtig ist auch, eine Lageanalyse zu entwickeln. Dazu sind ressortübergreifende Frühwarnsysteme erforderlich. Aber auch das gibt es bisher nicht; da ist selbst die Afrikanische Union weiter, wie wir sehen konnten. ({4}) - Ja, die haben das, wir haben es noch nicht. Schließlich muss auch der Beirat ein klares Mandat erhalten, damit künftig bei Early Warning die Expertise der Zivilgesellschaft auch tatsächlich einbezogen wird. Ich glaube, dass unsere Instrumente wirkungslos bleiben, wenn der politische Wille nicht da ist. Das heißt, der Ressortkreis muss politische Entscheidungskompetenz erhalten, er muss politisch hoch angesetzt sein, er braucht einen Mr. oder eine Mrs. Krisenprävention, und er muss endlich so etwas wie Ressourcenpooling machen können, wie wir es von anderen Ländern, zum Beispiel von Großbritannien, schon längst kennen. Ich komme zum Schluss. Ich höre schon: Na ja, aber wir haben doch jetzt den Unterausschuss für zivile Krisenprävention. Ich kann nur sagen: Das ist ein Instrument des Parlaments. Geht man auf die Website des Auswärtigen Amtes zur zivilen Krisenprävention, um zu sehen, was die Bundesregierung macht, kommt als Erstes der Unterausschuss. Der Unterausschuss ist ein Parlamentsausschuss. Ich finde es ja schön, dass die Bundesregierung darauf stolz ist. Aber das Handeln des Unterausschusses, in dem wir natürlich gern engagiert mit Ihnen zusammenarbeiten, ersetzt nicht das Handeln der Bundesregierung, das wir von ihr erwarten. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. - Jetzt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Roderich Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich Kiesewetter. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Müller, es ist ja schön, wie engagiert Sie die Dinge anpacken. ({0}) Sie wollen immer das Zivile in das Zentrum der Außenpolitik rücken. Aber ich denke, es ist auch wichtig, das in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. ({1}) Es geht nicht, immer nur Pläne zu fordern oder Pläne zu entwickeln. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Papieren nennen, die meiner Fraktion wichtig sind und für die wir gearbeitet haben. Eine so umfassende Sicherheitsstrategie, wie Sie sie mit Ihrem Antrag einbringen, haben wir bereits im Mai 2008 verabschiedet, Frau Kollegin Müller. ({2}) Ich will auf etwas anderes hinaus. Es geht darum, den Gedanken der zivilen Krisenprävention in die Köpfe zu pflanzen. Wir haben eine Institution in Deutschland, die dazu durchaus geeignet wäre; das ist die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Sie ist stark vom Verteidigungsministerium und vom Auswärtigen Amt geprägt, hat Gutes geleistet und die Sicherheitspolitik in Deutschland vorangebracht. Es wäre eine geeignete Maßnahme - dies schlagen wir vonseiten unserer Fraktion vor -, die Bundesakademie auszubauen, sie mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbinden und dort auch ein Forum für den zivilen Friedensdienst anzubieten. Das ist ein konkreter Vorschlag, der von den vielen Papierplänen weggeht. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um umfassende Sicherheit. Der Ansatz vernetzter Sicherheit war im letzten Jahrzehnt gut. Umfassende Sicherheit greift weiter. Wir werden in den nächsten zehn Jahren Entwicklungen erleben - wir sehen es gerade in Nordafrika -, die zeigen, dass im Zusammenhang mit dem Sicherheitsbegriff auch soziale Sicherheit eine Rolle spielt. Umfassende Sicherheit bedeutet nicht nur Krisenvorund -nachsorge, sondern schließt sowohl die zivilen Friedensdienste als auch Fragen der Entwicklungspolitik ein. Es geht eben weiter als das, was bisher im Fokus Ihrer Kritik war. Sicherheitsvorsorge und Krisenbewältigung sind also kein Selbstzweck, sondern ein ganz entscheidender Punkt, den sich auch die Europäische Union auf ihr Panier geschrieben hat. Ich nenne ein Beispiel dafür: Die neue Europäische Nachbarschaftspolitik, über die wir gestern im Europaausschuss und vor einiger Zeit auch im Auswärtigen Ausschuss gesprochen haben, leistet einen wesentlichen Beitrag. In den Jahren 2007 bis 2013 stellt die Europäische Union über 11 Milliarden Euro für die Nachbarschaftspolitik zur Verfügung. Für uns, die Union, ist Nachbarschaftspolitik - ich glaube auch für die gesamte Koalition zu sprechen - zivile Krisenvorsorge. Dies bedeutet, dass wir Deutschen allein 500 Millionen Euro jährlich zusätzlich leisten, weil wir in der Europäischen Union einen Anteil von 28 Prozent an diesen 11 Milliarden Euro zu tragen haben. Dazu kommt Entwicklungspolitik als wichtiger Eckpfeiler der zivilen Krisenprävention. Für den Bundeshaushalt 2012 ist eine Steigerung des BMZ-Plafonds um fast 114 Millionen Euro vorgesehen. Für die Förderung des Demokratisierungsprozesses in Nordafrika und im Nahen Osten werden dem Auswärtigen Amt zusätzlich 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auch das ist ganzheitliche Außenpolitik. So viel zu Ihrer Kritik, die Mittel würden gekürzt. Offiziell sind sie - das kann man nachlesen - auf der Höhe von 2007, inoffiziell sogar ein Vielfaches höher. Ich glaube, ich habe das deutlich herausgestellt. Wichtig ist doch, dass wir Konflikte frühzeitig erkennen. Wir brauchen das Frühwarnsystem - darin sind wir uns einig - und müssen Mittel ziviler und entwicklungspolitischer Krisenprävention aufgreifen. Dabei geht es nicht nur um die Förderung guter Regierungsführung, sondern auch um die diplomatische Vermittlung und die Mediation. Dazu kommen die Krisennachsorge und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio, in der Regel mit einem Mandat der Vereinten Nationen. Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus, und wir alle wissen: Erfolgreiche Politik lebt in allererster Linie von der Betrachtung der Wirklichkeit. Wo die militärische Unterstützung der Krisenbewältigung unausweichlich wird, müssen militärische Mittel mit Instrumenten ziviler und polizeilicher Konfliktbewältigung zusammenwirken. Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird sicherlich erweitert werden; umfassende Sicherheit streben wir an. Dazu gehört auch menschliche Sicherheit. Dies müssen wir wirksam umsetzen. Uns in der Fraktion treibt es wirklich um, die Wirksamkeit der Mittel ziviler Krisenprävention noch weiter zu verbessern. Ich möchte das an einer Reihe von Punkten darstellen. Erstens kommt es darauf an, egal um welche Art von Mission es sich handelt, ob zivil, polizeilich oder militärisch, dass wir in der Ausbildung, in der Vorbereitung Expertise für kulturelle Befindlichkeiten vermitteln. Das haben wir in Afghanistan intensiv gelernt. Zweitens sind politische Ziele bereits im Vorfeld auch im VN-Mandat festzulegen. Erfolg und Misserfolg einer Mission müssen evaluierbar sein. Das bedeutet, wir brauchen Benchmarks, die im Vorfeld festgelegt werden müssen. Drittens. Jeder Einsatz sollte jährlich auf unsere nationalen Interessen hin überprüft werden. Wir brauchen folglich eine föderale - andere nennen sie nationale - Sicherheitsstrategie, deren Umsetzung wir auch jährlich im Parlament diskutieren sollten. Die Umsetzung wird sicherlich ein interessanter Punkt, Frau Müller und Frau Bulmahn, in unserem Unterausschuss. Ich komme zum vierten Punkt. Zur rechtzeitigen Aufdeckung von Krisen ist ein Frühwarnsystem erforderlich, zu dem auch Nichtregierungsorganisationen einen wesentlichen Beitrag leisten können. In diesem Zusammenhang könnten wir Ihrem Antrag inhaltlich folgen; das können wir aber in nur sehr wenigen Punkten. Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausgebildetem Personal schaffen. Sie beklagen, dass sich so wenige Frauen bewerben. Aber es ist ja auch so: Wenn nur 15 Prozent der Bewerber Frauen sind und dann für 20 Prozent der Stellen Frauen ausgewählt werden, spricht das für die Qualität der Frauen. Ich sehe hierin keine Benachteiligung. Machen Sie Werbung, damit sich endlich mehr Frauen bewerben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Konzept der zivilen Krisenprävention ist zwar klar und wurde vielfach auf dem Papier bekräftigt. Wichtig ist aber - damit habe ich auch eingeleitet -, dass sechstens das vernetzte Denken in den Köpfen von Diplomaten, Soldaten, Referenten der Fachministerien und im Friedensdienst verankert ist. Dazu brauchen wir mehr Vernetzung des konzeptionellen Denkens und gemeinsame Schulungen oder Ausbildungen. Die umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller Akteure, aber auch Kooperation und Absprache der zivilen Partner untereinander wie auch mit der lokalen Bevölkerung sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete internationale Plattform sind Regionalkonferenzen; national sollten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik aufwerten. Über diesen Ansatz sollten wir intensiv nachdenken, weil wir damit auf bestehende Ressourcen bauen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Antrag enthält zwar einige interessante Ansätze, die wir vertiefen könnten; aber die Fundamentalkritik, die er enthält, können wir überhaupt nicht teilen. Ich habe heute deutRoderich Kiesewetter lich gemacht, wie eine konstruktive, umfassende, ganzheitliche Sicherheitspolitik aussehen kann. Herzlichen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. - Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Edelgard Bulmahn. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe als junge Abgeordnete hier im Deutschen Bundestag erlebt, wie über die schrecklichen Ereignisse in Srebrenica und Ruanda diskutiert wurde. Ich habe auch die Hilflosigkeit erlebt, die viele Kolleginnen und Kollegen, ich selber auch, damals dabei empfunden haben. Deshalb bin ich sehr froh, dass die internationale Staatengemeinschaft aus diesen schrecklichen Ereignissen die richtigen Konsequenzen gezogen hat, nämlich einmal die Konsequenz, der zivilen Krisenprävention ein erheblich größeres Gewicht in ihrer Politik zu geben, und auch die Konsequenz, rechtzeitig Maßnahmen der zivilen Krisenprävention einzusetzen. Diesen Prinzipien trägt sie Rechnung, indem sie rechtzeitig Verantwortung auf sich nimmt, um zum Beispiel Völkermord zu verhindern. Vor zehn Jahren hat die damalige rot-grüne Bundesregierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ die Weichen dafür gestellt, dass auch die deutsche Außenund Sicherheitspolitik ausdrücklich darauf abstellt, internationale und innerstaatliche Konflikte friedlich zu lösen. Ein weiterer Meilenstein war der Aktionsplan aus dem Jahr 2004. Die Prävention von Gewalt und Krieg und die zivile Konfliktbearbeitung sollten - das war das Ziel - grundsätzlich Vorrang gegenüber militärischen Interventionen haben. Mit dem Aktionsplan wurden die Voraussetzungen und die Strukturen dafür geschaffen, zum Beispiel das ZIF. Diese Strukturen, die wir mithilfe des Aktionsplans geschaffen haben, finden international hohe Anerkennung. Hier wird auch sehr wirkungsvolle Arbeit geleistet. Für viele Nichtregierungsorganisationen bildet der Aktionsplan übrigens den Rahmen, in dem sie ihre wichtige und notwendige Arbeit durchführen und ausbauen können. Ein weiteres wichtiges Zeichen war die Einrichtung des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ in dieser Legislaturperiode. Mithilfe dieses Unterausschusses ist erstmals eine kontinuierliche parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle sichergestellt. Auch das ist ganz wichtig und eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass zivile Krisenprävention wirklich die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält, die sie braucht. ({0}) Die Arbeit im Unterausschuss - ich denke, das kann ich für alle Kolleginnen und Kollegen sagen - ist konstruktiv und auch zielgerichtet. Dennoch dürfen wir nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen - ich denke, das müssen wir uns auch selbst immer wieder sagen -, der Versuchung erliegen, alle Fragen, Probleme und Strategien ziviler Konfliktlösung ausschließlich im Unterausschuss zu behandeln, sodass sich die anderen Ausschüsse, sei es der Auswärtige Ausschuss oder der Verteidigungsausschuss, oder auch das gesamte Parlament überhaupt nicht mehr mit diesen Fragen befassen. Das wäre eine falsche Entwicklung. Vielmehr müssen wir beides tun. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir heute Abend eine Debatte über die Ziele und Instrumente ziviler Krisenprävention führen. Ein Blick auf die Uhr, ganz offen gesagt, macht aber auch deutlich, dass die parlamentarische Aufmerksamkeit noch ausbaufähig ist. ({1}) Ausbaufähig, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor allen Dingen auch das Engagement der Bundesregierung. ({2}) Sie hat es leider versäumt, in ihrer Außenpolitik der zivilen Krisenprävention die prioritäre Rolle, die sie haben muss, zu geben. Ihr kommt derzeit diese prioritäre Rolle nicht zu. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Bundesregierung die zivile Krisenprävention finanziell ausbluten lässt. Fast ein Drittel der Mittel für Krisenprävention, Friedenssicherung und Konfliktbewältigung - meine Kollegin hat darauf hingewiesen - ist schlichtweg weggefallen. Man kann natürlich auch so Schwerpunkte setzen - keine Frage. Aber diese Schwerpunkte zeigen in die falsche Richtung. ({3}) Zu Recht haben deshalb die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute in ihrem diesjährigen Friedensgutachten die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung in wirklich ungewöhnlich scharfer Form kritisiert. Sie fordern mit Nachdruck Vorrang für zivile Strukturen ein. Die Stichworte, die hier genannt werden, lauten: Krisenprävention, Konfliktanalyse, Konfliktbearbeitung, nachsorgende Konfliktbearbeitung und Diplomatie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen - das trifft auf Parlamentarier aller Fraktionen zu -, dass es zwar nicht überflüssig ist, in Sonntagsreden die Bedeutung ziviler Krisenprävention zu betonen und zu unterstreichen - das ist sogar gut -, aber auch nicht ausreichend ist, wie es so schön heißt. ({4}) Eine gute Politik zeichnet sich eben dadurch aus, dass bei Entscheidungen am darauffolgenden Montag der zi12762 vilen Krisenprävention tatsächlich Vorrang eingeräumt wird. Das geht aber nicht, ohne dass dafür eine Basis geschaffen wird. In diesem Zusammenhang müssen wir leider auch über das Geld reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, sorgen Sie dafür - da haben Sie ganz bestimmt die Unterstützung der Opposition -, dass die Mittelausstattung für die Bereiche der zivilen Krisenprävention und auch für die Entwicklungshilfe 2012 wieder deutlich verbessert wird ({5}) und dass sie in der mittelfristigen Finanzplanung - auch das ist wichtig - mit den gebotenen Zuwächsen abgesichert wird. Zivile Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung erfordern nämlich einen langfristigen Ansatz. Sie können keine Kurzatmigkeit vertragen; das muss man einfach so klar und deutlich sagen. Wenn sie kurzatmig betrieben werden, dann zeigen sie keine Wirkung. Hier bedarf es also einer langfristigen Verlässlichkeit. ({6}) Mehr Verlässlichkeit und politische Durchschlagskraft sind im Übrigen auch in der personellen und inhaltlichen Begleitung dieses Themenbereiches dringend erforderlich. Der Ressortkreis ist sinnvoll - das wird niemand bestreiten -, aber nicht ausreichend; das muss ich auch an dieser Stelle sagen. Ein Staatssekretärsausschuss, wie ihn die SPD-Fraktion und auch Bündnis 90/ Die Grünen in ihrem Antrag vorgeschlagen haben, ist sinnvoll; denn damit wird ein Gremium geschaffen, das mit echten und finanziellen Entscheidungskompetenzen ausgestattet ist. Genau das brauchen wir. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Koalitionsfraktionen sich diesem Vorschlag anschließen würden. Es ist für niemanden von Nachteil, wenn er gute Vorschläge aufgreift. Man sollte sich in der Politik nicht genieren, dies zu tun. ({7}) Wie gesagt, ich hoffe sehr, dass die Koalitionsfraktionen diesen Vorschlag aufgreifen. Über den Vorschlag, den Sie, Herr Kollege Kiesewetter, gemacht haben, nämlich die Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu einem Zentrum für zivile Krisenprävention auszubauen, sollten wir im Unterausschuss diskutieren. ({8}) Es ist aber sicherlich richtig, dass dies keine Alternative ist zu dem Vorschlag, den ich vorhin gemacht habe; denn beide Vorschläge beinhalten unterschiedliche Zielsetzungen. Wir werden sicherlich noch mehrere Schritte unternehmen müssen, damit wir das Ziel erreichen, der zivilen Krisenprävention ein größeres Gewicht zu verleihen. Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärtigen Amt, eine wichtige Schnittstelle, muss aus seinem Schattendasein herausgeführt werden. Auch das ist richtigerweise angesprochen worden. Es reicht, ganz offen gesagt, nicht aus, dass dieser Beirat Informationen von der Bundesregierung erhält. Wir müssen das Potenzial und die Kompetenzen, die im Beirat vorhanden sind, besser nutzen. Dazu gehört auch, dass der Beirat eine gestalterische Rolle spielt. Ich will ausdrücklich sagen, dass sich die Forderungen, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf den Ausbau ziviler Krisenprävention in ihrem Antrag formuliert hat, in weiten Teilen mit Forderungen in unserem Antrag, den wir im Januar dieses Jahres in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, decken. Wir werden ihn daher mit allen Kräften unterstützen. Ich hoffe, dass wir für die Beratungen über beide Anträge im Ausschuss und Unterausschuss eine gute Grundlage haben und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir haben Ihnen zu danken. - Jetzt spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte schön, Kollege Joachim Spatz. ({0})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie der SPD-Antrag, der hier vor einigen Wochen eingebracht worden ist, enthält auch der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einige bedenkenswerte Ansätze. Das ist kein Zufall; denn die meisten Themen fußen auf Ergebnissen, die wir im Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ gemeinsam erarbeitet haben. Diese Anträge greifen gewissermaßen dem vor, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollen nämlich im Herbst dieses Jahres einen Bericht vorlegen und eine Agenda mit Blick auf das, was noch zu tun ist, beifügen. Eines der Themen ist die mangelnde Aufmerksamkeit, die das Thema zivile Krisenprävention in der Öffentlichkeit genießt. Der ehemalige Kollege Nachtwei sagt zu diesem Thema, wir sollten mehr Konflikt wagen. Ich hoffe, dass diese Vorgabe, ein Stück weit Konflikt zu wagen - auch wenn er in der Sache nicht deutlich besteht -, dem Analyseteil des Antrags der Grünen geschuldet ist; denn einige Punkte, die dort erwähnt werden, kann man eher unter einen typischen Oppositionsreflex subsumieren und nicht unter eine tatsächliche Analyse dessen, was geschieht. Ich nenne Ihnen drei Beispiele. Erstens. Es wurde gesagt, dass es noch nie so viele Friedensmissionen der VN gab. Unser Beitrag rangiere auf Rang 43. Die ganze Wahrheit ist, dass Bangladesch mit 10 800 Soldaten, Pakistan mit 10 700 Soldaten oder Nigeria mit 5 800 Soldaten vertreten sind. Über die Gründe will ich mich ausschweigen, jeder kann sie sich denken. ({0}) Es gehört zur ganzen Wahrheit, festzustellen, dass der Einsatz für manche Länder vielleicht attraktiver ist. Wir sind diejenigen, die möchten, dass Kräfte aus sich in der Region befindenden Ländern entsprechende VN-Missionen bedienen und nicht immer nur die Europäer oder die Amerikaner. Man kann nicht fordern und am selben Tag kritisieren, dass wir unser Engagement an dieser Stelle zurückfahren. ({1}) Im Übrigen gehört zum Gesamtbild auch, dass wir an Aktionen der UN beteiligt sind, auch wenn es sich nicht um VN-Mandate handelt. Der zweite Punkt sind die Mittelkürzungen im Auswärtigen Amt. Natürlich werden Sie immer diejenigen, die in der Koalition für dieses Thema einstehen, im Ressourcenwettbewerb auf Ihrer Seite haben; aber es kann nicht sein, dass wir die zivile Krisenprävention haushaltsstellengenau diskutieren. Vielmehr dürfen gerade diejenigen, die einen ressortübergreifenden Ansatz für sinnvoll halten, nicht vergessen, dass wir eine erhebliche Mittelaufstockung im zivilen Teil des Afghanistan-Einsatzes zu verzeichnen haben und auch in den NordafrikaEinsatz erheblich mehr Geld investieren. Wenn wir die Haushaltsstellenlogik für eine Sekunde beiseitelassen und den umfassenden Ansatz betrachten, dann wird deutlich, dass wir sehr viel mehr als bisher in diesen Bereich investieren. Mein dritter Punkt ist die vernetzte Sicherheit. Eines verstehe ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht - wenn man einmal von der Diskussion, die einige in der NGO-Szene zu dem Begriff „vernetzte Sicherheit“ und seiner Problematik führen, absieht -: Es geht doch nicht, dass Sie in Ihrem Antrag an verschiedenen Stellen auf der einen Seite behaupten, die Bundesregierung wolle dem Primat des zivilen Ansatzes nicht zum Durchbruch verhelfen, und auf der anderen Seite die militärische Zurückhaltung in Libyen kritisieren. Das passt nicht zusammen. ({2}) Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, dass man, wenn man den Grundsatz der Responsibility to Protect hochhält - wenn man dies anders beurteilt als die Bundesregierung, dann kann man das tun -, nicht im selben Atemzug kritisieren kann, dass wir das Primat des Zivilen nicht zur Umsetzung bringen. Das passt nicht zusammen. ({3}) In der weiteren Beratung werden wir natürlich die guten Aspekte, die in den vorliegenden Anträgen vorhanden sind, berücksichtigen, auch beim Thema Kapazitätsaufbau. Das sei sehr wohl anerkannt. Aber bei den Themen Polizei, Verwaltung oder Justizaufbau müssen wir natürlich dicke Bretter bohren. Das alles wird nicht so schnell funktionieren, wie es auch in den USA, die das an vielen Stellen vorgemacht haben, nicht funktioniert hat, ohne dass es einen entsprechenden Ressourcenwettbewerb im Kongress gegeben hat. Diejenigen, die sich für das Thema interessieren, werden den Ressourcenwettbewerb gerne mitmachen, um für das gemeinsame Ziel der zivilen Krisenprävention einen noch stärkeren Beitrag zu leisten und eine noch größere Aufmerksamkeit in Deutschland zu erreichen. Danke schön. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! 28 Kriege und 126 weitere Gewaltkonflikte erschüttern in diesem Moment unseren Planeten. Diese vielen Konflikte erfordern ganz dringend von uns, zu überlegen, was wir dazu beitragen können, dass sie ohne Gewalt bearbeitet und gelöst werden. ({0}) Deswegen ist die Stärkung der zivilen Konfliktbearbeitung ein wichtiges Anliegen, insbesondere für eine Friedenspartei wie die Linke. Die Grünen schlagen nun viele einzelne Maßnahmen vor, die zum Teil in die richtige Richtung weisen: Erstens wollen Sie den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ weiterentwickeln und ihn mit klaren Zielvorgaben, Strategien und einem Zeitplan versehen. Das ist, um es einmal mit den Worten der Kollegin Bulmahn zu sagen, „sinnvoll …, aber nicht ausreichend“. Ohne eine klare Abgrenzung zu militärischen Maßnahmen bleiben der Aktionsplan und Ihr Antrag leider nur Fassade. ({1}) Zweitens. Auch den systematischen Aufbau ziviler Ressourcen, wenn es zum Beispiel um Richter oder Verwaltungsfachleute für zivile Missionen geht, unterstützen wir. Wir sind allerdings dagegen, Polizeimissionen etwa in Afghanistan als schlecht verkappten Ersatz für Militäreinsätze zu benutzen, nur weil sie vielleicht politisch leichter durchzusetzen sind. Ich hoffe, da habe ich Sie an unserer Seite. Denn einen solchen Missbrauch von Polizistinnen und Polizisten lehnt die Linke ab. ({2}) Drittens haben wir im letzten Jahr die schwarz-gelben Kürzungen der Mittel im Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung gemeinsam scharf kritisiert. Auch die Linke fordert mehr Mittel für zivilgesellschaftliche Initiativen in der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Aber die Mittel für die schwarz-gelbe Bundeswehrreform, für die Ihr Parteivorsitzender Cem Özdemir schon seine Unterstützung zugesagt hat, liebe Frau Müller, können nicht mehr für anderes, Sinnvolleres ausgegeben werden. Das muss auch einmal gesagt werden. Bei einem solchen Sammelsurium politischer Forderungen wie in Ihrem Antrag muss man schon einmal genauer hinschauen, vor allem, um zu erkennen, was fehlt. Mich hat zum Beispiel gewundert, dass Sie gar nichts zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und den Rohstoffkonflikten sagen. Gerade jetzt, wo die sudanesische Armee in die Erdölprovinz Abyei einmarschiert ist, liegt das Thema bei solch einem Antrag doch auf der Hand. ({3}) Die allermeisten Konflikte haben doch wirtschaftliche Hintergründe, für die die Bundesrepublik und die EU mit ihrer Außenwirtschaftspolitik mitverantwortlich sind. Wir hatten einmal einen Bundespräsidenten - ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern -, der das ganz offen ausgesprochen hat und dann gehen musste. Was wir brauchen, ist eine konsequente Krisenprävention durch gerechtere globale Wirtschaftsbeziehungen und sozialökologischen Umbau. ({4}) Last, not least: Der Knackpunkt bei der Glaubwürdigkeit friedlicher und ziviler Außenpolitik ist für die Linke der Gewaltverzicht, der in Ihrem Antrag leider gar nicht vorkommt. Ich sage es auch mit Blick auf die Position von SPD und Grünen zum Libyen-Krieg: Wer - unter welchem Vorwand auch immer - Kriege führt, der kann meiner Ansicht nach keine glaubwürdige Friedenspolitik machen. ({5}) Sie schreiben selbst, dass es im Zusammenhang mit dem „Schutz der Zivilbevölkerung“ und „der Bekämpfung nichtstaatlicher Gewaltakteure“ „schier unlösbare Dilemmata“ gibt. Ja, genauso ist es doch: Krieg ist kein Schutz vor Gewalt; Krieg bedeutet immer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Das sehen wir in Afghanistan, in Libyen und überall da, wo die NATO Kriege führt. ({6}) Gerade deswegen ist die zivile Konfliktbearbeitung so wichtig. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, hier müssen Sie sich entscheiden, was Sie wollen: zivile Konfliktbearbeitung nur als Feigenblättchen für Militäreinsätze oder als echte Alternative zu einer Politik der Gewalt. Sie kritisieren den Begriff der vernetzten Sicherheit nur halbherzig. Sie tun so, als hätten die NGOs ein Wahrnehmungsproblem, wenn sie diesen Begriff kritisieren; man müsse ihn nur klarer formulieren und besser kommunizieren. Nein, das sehe ich nicht so. ({8}) Dieser Begriff weist in die ganz falsche Richtung. Das ganze Konzept gehört auf den Müllhaufen. Ich bitte Sie da um Unterstützung. ({9}) Ich komme zum Schluss. Treten Sie bitte mit uns gemeinsam dafür ein, dass der Gewaltverzicht zum Leitbild deutscher Außenpolitik wird und die zivile Konfliktbearbeitung zu seinem Instrumentenkasten. Dabei hätten Sie uns an Ihrer Seite. Wir lassen Ihnen aber keine Mogelpackungen durchgehen. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler von der Fraktion Die Linke. - Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Alois Karl. Bitte schön, Kollege Alois Karl. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag der Grünen, der auch die friedenspolitischen und präventiven Aufträge des Europäischen Auswärtigen Dienstes berührt. Wenn man schon etwas länger im Haus tätig ist, weiß man, dass sich dieser Antrag in eine Reihe von Anträgen eingliedert, die in regelmäßigen Abständen eingebracht werden. Man kann sie als Gutmenschenanträge bezeichnen. Wahrscheinlich sind sie Ausdruck Ihrer Tradition als Friedensbewegung. Man könnte meinen, wir hörten Versatzstücke aus Redebeiträgen, die bei Ostermärschen gehalten wurden. Heute soll es also um den Europäischen Auswärtigen Dienst gehen. Die Außenpolitik Europas soll auf die Friedensbemühungen, auf friedenserhaltende Maßnahmen reduziert werden. Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, die ausgeglichene Besetzung der Positionen durch Männer und Frauen und Gender-Mainstreaming sollen weltweit eingeführt werden. Liebe Frau Müller, die Vorgeschichte des Europäischen Auswärtigen Dienstes stützt Ihre Forderungen allerdings nicht. Der Auswärtige Dienst ist vor ungefähr einem halben Jahr eingerichtet worden und hat die Arbeit aufgenommen. Er soll ermöglichen - das ist die Intention -, dass Europa mit einer Stimme spricht. Der vielstimmige Chor Europas, von dem früher immer die Rede war, soll aufhören, zu existieren. Der Spruch aus Amerika, Europa solle eine Telefonnummer haben, ist uns in Erinnerung. Das wollten wir mit der Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes in die Wege leiten. Wir wollen keine Doppelstrukturen. Wir wollen die Koordinierung der zivilen, aber auch der militärischen Aufgaben im Europäischen Auswärtigen Dienst zusammenführen. Wir wissen, dass es gemeinschaftliche Verteidigungsbemühungen geben muss. Das zeigt sich daran, dass der Europäische Auswärtige Dienst Aufgaben der gemeinschaftlichen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik übernommen hat und der Militärstab hinzugekommen ist. Sicherheitspolitische Aufgaben ergeben sich weltweit, also über Europa hinaus. Der Balkan-Konflikt, der Kosovo, Bosnien-Herzegowina und afrikanische Staaten fordern uns. Auch das gehört zur europäischen Außenpolitik. Hierzu gehören aber auch die humanitären Aufgaben, die Beachtung der Menschenrechte und der freie und faire Handel, gerade auch in der Außenwirtschaftspolitik. Warum die Kollegin der Linken, die das Feld leider schon räumen musste, in diesem Zusammenhang gesagt hat, dass der Konflikt im Südsudan die Außenwirtschaftspolitik in einer schändlichen Weise beeinträchtigt, bleibt ihr Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Konflikt, der sich um das Öl im Südsudan dreht, anderen zugutekommt, zum Beispiel den Chinesen, und es dabei in gar keiner Weise um deutsche Interessen geht. Ich meine, dass die Aussage, dass Gewalt gegen die Zivilbevölkerung auch durch unser Handeln ausgelöst wird, völlig verkehrt ist. Da sollten sich die Linken zurückhalten und vielleicht einmal darüber nachdenken, wie das 1968 bei dem Einmarsch in die Tschechoslowakei war, welche Gewalt damals gegen die Zivilbevölkerung verübt worden ist. ({0}) Militärische Mittel sind die Ultima Ratio. Das wissen wir. Wir wissen auch, dass die Menschenrechte Gegenstand der auswärtigen Politik in Deutschland und Amerika sind. Rein ziviles Handeln ist in der Außen- und Sicherheitspolitik aber nicht möglich. Wir wissen, dass wir noch einen weiten Weg zu einer abgestimmten europäischen Außenpolitik vor uns haben. Das wird klar, wenn wir uns das Vorgehen im Zusammenhang mit dem Libyen-Konflikt anschauen: Frankreich und Großbritannien haben im Sicherheitsrat für die militärische Operation gestimmt. Deutschland hat zwar dagegen gestimmt, unterstützt aber die humanitären Einsätze und hilft bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Der EAD ist noch nicht so weit. Das wissen wir. Das unglückliche Auftreten Europas im Zusammenhang mit Libyen liegt möglicherweise auch daran, dass die Dominanz der Hohen Vertreterin, Lady Ashton, noch im Verborgenen blüht. Möglicherweise liegt es nicht nur an der verborgenen Dominanz, sondern vielleicht auch an der verborgenen Kompetenz. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Weg ist klar. Wir möchten, wie es der Kollege Roderich Kiesewetter gesagt hat, in Europa eine vernetzte und umfassende Sicherheitspolitik leisten. Uns ist klar, dass eine einseitige Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik nicht zum Erfolg führen kann. Die Koalition hat schon vor Jahresfrist einen entsprechenden Antrag eingebracht und durchgesetzt. Darin heißt es, dass die Kunst guter Politik darin besteht, den zivilen und militärischen Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik den richtigen Stellenwert zukommen zu lassen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Herr Kollege, jetzt haben Sie es geschafft. Sie haben eine Zwischenfrage hervorgerufen. Würden Sie die zulassen?

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. Die Kollegin kann dann gleich eine Kurzintervention machen. Da der Antrag der Grünen die Bedeutung des Zusammenspiels der zivilen und militärischen Aspekte verkennt, ist diesem Antrag schon allein aus diesem Grunde kein Erfolg beschieden. Ich denke, wir lehnen ihn mit großer Mehrheit ab. Mehr ist mit diesem Antrag leider nicht zu machen. Ich danke herzlich. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Alois Karl. - Jetzt zu einer Kurzintervention unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ich habe dem Kollegen Karl direkt gesagt, dass ich den Saal kurz verlassen musste. Von daher ist Ihre Bemerkung eine ziemliche Zumutung. ({0}) Ich möchte mich jetzt nicht auf die ganze Rede beziehen, sondern nur auf die Schlusspassage, insbesondere auf den Satz, in dem Sie gesagt haben, dass diese Koalition das Zusammenspiel von militärischen und zivilen Instrumenten besonders in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Offensichtlich haben Sie nach zehn Jahren Afghanistan-Krieg immer noch nicht gemerkt, dass wir uns mit den militärischen Mitteln in eine Sackgasse begeben. Ich möchte Sie als Bundesregierung auffordern, daraus endlich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Sie sollten die zehn Jahre Afghanistan-Krieg auswerten, bewerten und schließlich feststellen, dass alle uns verkündeten politischen Ziele dieses militärischen Einsatzes nicht erreicht worden sind und der Einsatz gescheitert ist. Sie sollten jetzt auf die zivile Konfliktbearbeitung setzen, und zwar in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und dem Europäischen Auswärtigen Dienst. Sie sollten dem Einsatz eine zivile Grundlage geben. Der fatale Weg der Unterordnung des Zivilen unter das Militär, des Missbrauchs von humanitären Hilfsorganisationen für militärstrategische Ziele, der Konditionie12766 rung von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für militärstrategische Ziele muss aufgegeben werden. Sie müssen sich auf einen neuen Weg machen. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Alois Karl, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auf Ihre Rede, so bedeutend sie auch war, bin ich in meiner Rede nicht eingegangen, da Sie vorhin leider weg mussten. Sie sprechen in Ihrer Kurzintervention ein ganz anderes Thema an. Dazu möchte ich Ihnen in aller Klarheit sagen: Die Intervention in Afghanistan wurde unter der Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer eingeleitet. Wir mussten sie jetzt weiterführen. ({0}) In unserer Regierungszeit werden die deutschen Soldaten Afghanistan verlassen. Ich sage Ihnen noch etwas: Der zivile Einsatz in Afghanistan hat dazu geführt, dass Hunderttausende von Mädchen erstmals eine Schule besuchen können. ({1}) Das ist ein ziviler Aspekt des Einsatzes in Afghanistan. Wenn wir heute Tausende von Polizisten ausbilden, um damit Afghanistan in die Lage zu versetzen, das Heft des Handelns dort selbst in die Hand zu nehmen, dann bedeutet das eine hervorragende Perspektive für das geknechtete Land, das über Jahrhunderte nicht selbst über sich bestimmen konnte. Ich meine, dass sich der Einsatz, wenn sich diese Ziele alsbald realisiert haben, gelohnt hat. Ich gratuliere und danke allen, die dort ihre schwere und schwierige Arbeit machen. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen herzlichen Dank. - Ich glaube, wir stimmen überein, dass ich die Aussprache jetzt schließe. Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5910 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5307, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4043 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 17: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({1}), Gisela Piltz, Manuel Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe ({2}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe ({3}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809 Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Gerold Reichenbach Hartfrid Wolff ({4}) Frank Tempel Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Ich verzichte auf die Verlesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. Sie sind damit einverstanden.

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sprechen heute über zwei Anträge: über den Antrag der Koalitionsfraktionen „Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten“ und über den Antrag der Fraktion Die Linke. Beide Anträge beruhen auf der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: „Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: Die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe.“ Diese Mitteilung der EU-Kommission an das Europäische Parlament und den Rat soll Grundlage sein - für einen effektiveren Katastrophenschutz. Damit wird eine doppelte Zielsetzung verfolgt: Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausgebaut werden, und zweitens soll für den Katastrophenfall ein europäisches Notfallabwehrzentrum als neue Plattform für den Informationsaustausch und somit eine verstärkte Koordinierung auf EU-Ebene eingerichtet werden. Aber bei allem Verständnis für Bemühungen um Verbesserungen der Teufel steckt wieder mal im Detail: Bereits im Februar dieses Jahres befasste sich der Deutsche Bundestag mit einem Antrag der Fraktion Die Linke. Bis heute hat sich unsere Auffassung zu diesem Antrag nicht geändert, sodass ich, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, auf das bereits im Februar Gesagte verweisen kann. Nun zum Antrag der christlich-liberalen Koalitionsfraktionen, der im Grundsatz die Vorschläge der Kommission, eine effektivere und effizientere Katastrophenabwehr zu entwickeln, unterstützt. Wer wollte das nicht! Als grundsätzliche Maßnahmen dafür sind vorgesehen: die Entwicklung von sogenannten Referenzszenarien für die wichtigsten Arten von Katastrophen, die weitere Inventarisierung bestehender nationaler Ressourcen - auch im Bereich Transport und Logistik - und die damit verbundene Beschleunigung bei der Mobilisierung. Dazu gehört es auch, die Instrumente des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe besser miteinander zu verbinden. Wir hoffen, dass die daraus erwarteten Synergieeffekte auch die Arbeit der Vereinten Nationen unterstützen. Eine grundsätzlich bessere Zusammenarbeit verschiedener europäischer Einrichtungen kann nur begrüßt werden. So befürworten wir die engere Verzahnung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe und die verstärkte Koordinierung zwischen dem Beobachtungs- und Informationszentrum - bekannt unter dem Namen Monitoring and Information Center, kurz MIC - und der Krisenstelle für humanitäre Hilfe, ECHO. Aber die Schaffung einer neuen EU-Einsatzzentrale in Form eines unabhängigen und weisungsgebundenen europäischen Notfallabwehrzentrums müssen wir ablehnen. Dies würde Art. 196 AEUV widersprechen und ist zudem auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst. Eine derartige „EU-Einsatzzentrale“ würde im Übrigen dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich später noch eingehen werde. Um dem europäischen Gemeinschaftsgedanken aber Rechnung zu tragen, wird auch die verbesserte Sichtbarmachung der EU-Hilfen - in Form von Beschriftung auf Transportgütern und Bekleidung - als positiv erachtet. Es sollten aber die nationalen Symbole der Entsendestaaten weiterhin Erwähnung finden. Auch wenn dies, oberflächlich betrachtet, als unbedeutend für die effektivere Katastrophenabwehr erscheint, so haben die Bürgerinnen und Bürger der EU ein Recht auf genaue, umfassende Informationen über die Reaktionen der Europäischen Union im Katastrophenfall. Aber, da nichts so gut ist, dass es nicht noch besser werden könnte, unterstreicht der Antrag der Koalitionsfraktionen mehrere Forderungen des Deutschen Bundestages gegenüber der Kommission. Die Ziele der Europäischen Union sind klar: Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Katastrophenschutzes, Förderung einer schnellen und effizienten Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Katastrophenschutzstellen und Verbesserung der Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf internationaler Ebene. So nachzulesen im Art. 196 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen der Zusammenarbeit deutlich markiert werden. So finden wir in Abs. 2 des Art. 196 AEUV den Hinweis auf die Selbstständigkeit und das bereits erwähnte Subsidiaritätsprinzip. Dort heißt es - ich zitiere: Das Europäische Parlament und der Rat erlassen, unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die erforderlichen Maßnahmen zur Verfolgung der Ziele des Absatzes 1. Die Einhaltung des Substitutionsverbotes und die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips sind unabdingbar. Zur Verdeutlichung: Das Substitutionsverbot meint, dass EU-Maßnahmen nicht an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten treten dürfen, sie nicht ersetzen dürfen. Flankiert wird das Verbot vom besagten Subsidiaritätsprinzip, das bedeutet, dass auf EU-Recht nur zurückzugreifen ist, wenn keine nationalen Vorschriften bestehen. Will heißen: zuerst immer die kleine Einheit. Dieses Prinzip ist eine der wesentlichen Verhaltensregeln, die sich der Staatenbund 1992 mit dem Maastrichter Vertrag auferlegt hat. Wir kennen es aus vielen Bereichen. Deutschland ist mit seinem dezentralen Katastrophenschutzsystem sehr gut aufgestellt. Die Feuerwehren, die vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, die auf ehrenamtlichen und überwiegend kommunalen und regionalen Strukturen beruhen, haben sich in der Vergangenheit stets bewährt. In Deutschland engagieren sich über 1,36 Millionen Menschen ehrenamtlich im Katastrophenschutz. Zu einer verantwortungsbewussten Daseinsvorsorge des Staates aber gehört die Schaffung einer flächendeckenden Struktur im Katastrophenschutz; dies ist eine Kernaufgabe. Viele Hilfsorganisationen - Malteser, Johanniter, DRK, ASB, um nur einige zu nennen - und auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk genießen Zu Protokoll gegebene Reden im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf. Und das sehr begründet! Hier werden Kompetenz und die Verbindung zwischen Haupt- und Ehrenamt besonders deutlich sichtbar. Die Helferinnen und Helfer beweisen das täglich in ihren inländischen und ausländischen Einsätzen. Diesen Freiwilligen können wir dankbar sein, ja, wir können stolz auf sie sein! Anspruch und Ausgangsbasis darf sicherlich der hohe deutsche Standard sein. Wenn in einem anderen Mitgliedstaat dieser allerdings nicht erreicht wird, so ist es zunächst Aufgabe dieses Staates, durch eigene Anstrengungen aufzuschließen. Das bedeutet: Die EU muss koordinierend darauf hinwirken, dass die Lücken durch die Mitgliedstaaten selbst geschlossen werden. Es darf also durch die EU zu keiner „Vergemeinschaftung“ der Defizite der Mitgliedstaaten im Katastrophenschutz kommen. Ich betone aber, dass sich Deutschland seiner solidarischen Rolle in der Europäischen Gemeinschaft bewusst ist und sich der Verantwortung nicht entziehen will und auch nicht wird. Deutschland hat mit seinen Nachbarstaaten und weiteren Ländern bilaterale Hilfeleistungsabkommen geschlossen. Diese bilateralen Nothilfemechanismen sind regelmäßig zuerst zu aktivieren, bevor auf die Katastrophenschutzinstrumente der EU insgesamt zurückgegriffen wird. Dies ist zurzeit auch gängige Praxis. Ich betone erneut: Eine von den Mitgliedstaaten unabhängige, eigenständige Katastrophenabwehr auf EUEbene lehnen wir ab. Die Verantwortung hat bei den Mitgliedstaaten zu verbleiben. Auch bei der Errichtung eines Ressourcenpools muss das volle Verfügungsrecht und insbesondere das Letztentscheidungsrecht über den Einsatz der Ressourcen bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Nicht zuletzt die Ereignisse in Japan haben erneut - und das sehr schmerzlich - verdeutlicht, dass Katastrophen keine ausschließlich nationalen Angelegenheiten sind. Weltweit hat sich die Zahl der Katastrophen zwischen 1975 und heute auf das Fünffache - von 78 auf knapp 400 - erhöht. Allein in Europa waren in den letzten 20 Jahren mehr als 29 Millionen Menschen von Naturkatastrophen betroffen. Dass die Abwehr von Katastrophen keine allein nationale Aufgabe ist, ist allen Beteiligten bewusst. Wir müssen alle handeln, dies aber im Rahmen von nationalem und europäischem Recht. Abschließend fasse ich zusammen und zitiere aus unserem Antrag: Die Bundesregierung ist - erstens - aufgefordert, die Stellungnahme der Koalitionsfraktionen als Grundlage für die Verhandlungspositionen zu künftigen Rechtsänderungsvorschlägen im Rahmen der Europäischen Katastrophenabwehr zu nutzen; 2. bei allen Überlegungen und Maßnahmen zum Ausbau des europäischen Katastrophenschutzes auf die Beachtung des Substitutionsverbots und des Subsidiaritätsprinzips hinzuwirken; 3. Maßnahmen zu unterstützen, die das Gemeinschaftsverfahren effizienter und effektiver machen sowie die Mobilisierung der verfügbaren Ressourcen beschleunigen, bei gleichzeitiger Förderung der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten. Ich darf Sie bitten, der Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu folgen.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst möchte ich für meine Fraktion klarstellen, dass der europäische Koordinierungsmechanismus bei internationalen Einsätzen intensiv mit dem Koordinierungsmechanismus der Vereinten Nationen zusammenarbeiten muss. Bei internationalen Einsätzen außerhalb der EU ist der Koordinierungsmechanismus der Vereinten Nationen verbindlich, Europa ist hier nur unterstützend tätig. Zu begrüßen ist, dass wir durch die vorliegenden Anträge heute über den Katastrophenschutz und die humanitäre Hilfe auf EU-Ebene diskutieren. Trotz aller notwendigen Kritik an den vorliegenden Kommissionsmitteilungen bedeuten diese Vorlagen in keiner Weise eine drohende Militarisierung der europäischen Außenpolitik und der europäischen Katastrophenhilfe. Neben den durchaus richtigen Ansätzen im Koalitionsantrag erwarten wir, dass die Bundesregierung zügig ein eigenes Konzept für das im Lissabonner Vertrag festgeschriebene humanitäre Freiwilligencorps vorlegt. Teil dieses Konzeptes muss es sein, die in Deutschland bewährten Freiwilligenstrukturen in der humanitären Hilfe, die durch das THW, das DRK, die Feuerwehren sowie eine weitere große Zahl nicht staatlicher Hilfsorganisationen geprägt sind, mit ihrem Potenzial und ihrer Kompetenz vernünftig einzubinden. Auch hier darf auf europäischer Ebene kein Parallel- oder Konkurrenzmechanismus geschaffen werden. Unsere Befürchtung ist, dass die Bundesregierung abwartet und die entsprechenden Konzepte von anderen europäischen Ländern in deren Sinne gestaltet und vorgelegt werden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten treten für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe ein, und dies sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte hier nur an einige Initiativen, etwa die unter Rot-Grün vorgenommene Einrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe oder auch die von der Großen Koalition fortgesetzte Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durch das Zivilschutzergänzungsgesetz erinnern. Da bekannt ist, dass Katastrophen und Krisen nicht vor Ländergrenzen haltmachen, und wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationaler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der internationalen Instrumente ein, auch auf europäischer Ebene. Dabei haben wir immer betont, dass sich das subsidiäre Prinzip im Bereich des Katastrophenschutzes bewährt hat und auch für die europäische Ebene gelten muss. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefahren und Herausforderungen muss es im Interesse aller europäischen Länder sein, zuerst die örtlichen und Zu Protokoll gegebene Reden nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu stärken und auszubauen. Darüber hinaus ist es für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entscheidend, angesichts der Herausforderung und der Größe drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten des Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Anstrengungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Stärkung der Katastrophenprävention heißt auch stärkere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen und Steuerungssysteme. Die Zunahme internationaler Krisenherde erfordert eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten der Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zu denen auch Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr gehören. Ich erinnere nur an die wichtige Rolle, die das Deutsche Rote Kreuz und andere zivile Hilfsorganisationen oder die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielt haben, spielen und spielen werden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind bereits in der Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, die zivile gegenüber der militärischen Komponente bei der Bewältigung von Krisenlagen zu stärken, und dies nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch im Rahmen der internationalen Mechanismen. Wir stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte nur daran erinnern, dass alle Pläne, die es in der CDU/ CSU zu einer stärkeren Militarisierung des Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei der Föderalismusreform I als auch in der Großen Koalition am klaren Widerstand der Sozialdemokratischen Partei gescheitert sind. Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amtshilfe den Katastrophenschutz unterstützen können, so wie dies unser Grundgesetz vorsieht, und dies gilt nicht nur im Inland, sondern auch in der humanitären Hilfe im Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeiten kommen, und gerade in sogenannten komplexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch für internationale Unterstützungsmechanismen. Aber Subsidiarität muss bestehen. Und hier ist der Antrag der Linken eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. In bestimmten Lagen ist die zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen angewiesen. Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und im Speziellen auf den Lufttransportbereich zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern auch eine Schmälerung der zur Verfügung stehenden Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte. Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäischen und internationalen Rahmen auch, die Besonderheiten anderer europäischer Länder zu respektieren. Die Nutzung von militärischen Mitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenannten Osloer Leitlinien geregelt, auf die das Dokument 15614/10 ausdrücklich Bezug nimmt. Und diese Osloer Leitlinien umfassen eben nicht nur militärisches Gerät und Einrichtungen wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern auch Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu denen nach der Definition dieser Leitlinien auch das Technische Hilfswerk gehört. Die Bundesrepublik Deutschland wird künftig nicht auf den Einsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitären Hilfe und bei Katastrophen im Ausland verzichten. Viele Länder beneiden uns um unseren zivilen Katastrophenschutz. Deshalb werden wir ihn auch weiterhin stärken.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am besten geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt werden. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des Staates. Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zusammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den Zentralisierungsabsichten der EU. Das gezierte antimilitärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht nicht unserem Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wie der Antrag der Linken zu Recht ausdrückt, ist auch davor zu warnen, die Sichtbarkeit der EU-Hilfen als Selbstzweck zu verfolgen. Bei der Katastrophenabwehr kommt es in erster Linie auf das Vorhandensein leistungsfähiger und effizienter Katastrophenabwehrkapazitäten in den Mitgliedstaaten an. Die Bereitstellung eigener Ressourcen auf EUEbene einschließlich der operativen Verfügungsgewalt der Kommission über diese Ressourcen würde die Mitgliedstaaten aus ihrer Eigenverantwortung entlassen, statt diese zu fördern; das wäre kontraproduktiv. Zudem würde sie gegen Art. 196 AEUV verstoßen. Die Unterstützung und Ergänzung durch die EU darf sich danach allein auf die Tätigkeit der Mitgliedstaaten beziehen. Für eine parallele Zuständigkeit der Union gibt es keine Rechtsgrundlage. Basis für gemeinsame Einsätze sind daher allein die Ressourcen der Mitgliedstaaten. In der Bundesrepublik Deutschland sind für den operativen Bereich maßgeblich die Länder zuständig. Im dezentralen deutschen Katastrophenschutzsystem spielen vor allem die Feuerwehren sowie viele nicht staatliche Hilfsorganisationen eine Rolle, die auf bewährten ehrenamtlichen und überwiegend kommunalen und regioZu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) nalen Strukturen beruhen. Das Technische Hilfswerk steht regelmäßig auch bei Katastrophen im inner- und außereuropäischen Ausland zur Verfügung. Es ist nicht Aufgabe der EU, eine eigene Katastrophenabwehr neben derjenigen der Mitgliedstaaten aufzubauen. Dies würde nicht zuletzt die hervorragenden ehrenamtlichen Kräfte des Bevölkerungsschutzes in Deutschland in ihrer Arbeitsweise maßgeblich beeinträchtigen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Am vergangenen Sonntag, dem 22. Mai, eröffnete die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine Ashton, eine Vertretung der EU in der libyschen Stadt Bengasi. Diese wird in demselben Gebäude untergebracht sein wie die Vertretung der Vereinten Nationen und zahlreiche internationale Organisationen, darunter auch das Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA, der UN. Von dessen Zustimmung hängt die Durchführung der EU-Militärmission EUFOR Libya ab, die gegenwärtig vorbereitet wird. Offiziell soll dieser Einsatz humanitäre Ziele verfolgen, aber auch Bodentruppen, unter anderem aus der European Battlegroup, beinhalten. Wie praktisch, dass sich der Europäische Auswärtige Dienst, EAD, der diesen Einsatz vorbereitet, in Bengasi bereits mit der humanitären Organisation, die ihm das Plazet erteilen soll, ein Dach teilt. Viele humanitäre Organisationen haben sich jedoch sehr deutlich gegen einen solchen geplanten Militäreinsatz der EU gewandt, weil sie unter diesen Bedingungen ihre Arbeit kaum fortsetzen könnten. Sie nehmen der EU auch ganz zu Recht ihre humanitäre Zielsetzung nicht ab, weil die EU zugleich Flüchtlinge aus Libyen brutal zurückweist und ertrinken lässt. Die Linke schließt sich hier den Ärzten ohne Grenzen an, die vor einer Woche in einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU schrieben: Einerseits erheben die EU-Staaten den Anspruch, mit dem Eingreifen in den Krieg Zivilisten zu schützen. Andererseits schließen sie gleichzeitig die Grenzen für die Opfer dieses Krieges - unter dem Vorwand, einen massiven Zustrom illegaler Einwanderer verhindern zu müssen. Ihre vermeintliche Humanität hört spätestens an den EU-Außengrenzen auf und ist an Ihrem Umgang mit schutzsuchenden Menschen erkennbar. Statt immer nur zu schießen, sollten Bundesregierung und EU endlich anfangen, tatsächlich zu helfen, indem man Schutzsuchende aufnimmt. Wie katastrophal die Folgen eines militärischen Einsatzes zur humanitären Hilfe sein können, hat sich Anfang der 1990er-Jahre in Somalia gezeigt. Das Scheitern dieses Konzeptes bei der UN-Mission UNOSOM und dem US-Einsatz „Restore Hope“ hat Folgen bis heute. Fast 9 Millionen Menschen am Horn von Afrika sind nach Angaben des World Food Programme, WFP, von Lebensmittellieferungen abhängig. Am 18. Mai warnten Hilfsorganisationen vor einer weiteren Verschärfung des Hungers in Somalia aufgrund ausbleibender Regenfälle und fehlender finanzieller Mittel. Etwa 53 Millionen US-Dollar würden benötigt, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch was tut die EU? Sie finanziert aus den Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds einen sinnlosen Häuserkampf zwischen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM, und Milizen in Mogadischu, der jährlich 500 Millionen US-Dollar verschlingt. Das alles hat sehr viel mit der Mitteilung der Kommission zu europäischem Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu tun; denn all diese Maßnahmen werden vom EAD koordiniert. Dieser soll zukünftig eine noch zentralere Rolle bei Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe spielen und - so die EU-Kommission - die „Kohärenz zwischen der Katastrophenabwehr einerseits und möglichen politischen und sicherheitspolitischen Elementen“ verbessern. Der EAD hat aber den Zweck - das hat die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament am 10. März 2010 sehr deutlich gesagt -, den europäischen Zugriff auf die weltweiten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte zu verbessern und gegen die aufstrebenden Schwellenländer zu verteidigen. Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe verkommen somit zum bloßen Instrument imperialer Machtpolitik. Die Begriffe „Schutz“, „Hilfe“ und „Humanität“ verlieren damit, wie durch die in ihrem Namen durchgeführten bzw. anvisierten Regime Changes in Côte d’Ivoire, immer weiter an Legitimität und Substanz. Schutzbedürftige werden von der Bundesregierung und der EU instrumentalisiert, und fast könnte man argwöhnen, dass die deutschen und europäischen Außenpolitiker von CDU bis SPD und von Grünen bis FDP auf die nächste Katastrophe warten, um unter dem Deckmantel des Katastrophenschutzes intervenieren zu können. Im Sahel beispielsweise hat in den vergangenen Jahren eine Katastrophe die andere abgelöst. Dürren folgten heftige Regenfälle und hinterließen fast 10 Millionen Menschen abhängig von Lebensmittellieferungen. Auch wenn diese Wetterphänomene in dieser Region nicht neu sind, liegt ein Zusammenhang mit dem Klimawandel und damit auch mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise nahe. Wie reagierte hier die EU? Die Außenbeauftragte Ashton hat vor wenigen Wochen ihren Entwurf für eine Sahel-Strategie vorgelegt. Von den vorangegangenen Dürren ist hierin nicht die Rede, dafür umso mehr von Terrorismus und organisierter Kriminalität, die auch Pipelines und die Sicherheit der Bürger in der EU gefährden würden. Not und Hunger der Bevölkerung scheinen in diesem Papier nur insoweit eine Rolle zu spielen, als sie den „Nährboden“ für Terrorismus bereiten würden. Die Notwendigkeit von Hilfslieferungen wird hier nicht durch das Gebot der Menschlichkeit oder der Solidarität begründet, sondern dadurch, dass damit das Vertrauen in den Staat gestärkt und der Einfluss der Islamisten zurückgedrängt werden könnte. Das finde ich abscheulich; dies ist ein menschenverachtendes Dokument! Im Kern geht es in der Sahel-Strategie jedoch darum, die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den Sahel-Staaten - allesamt keine Staaten, die man als Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Rechtsstaaten bezeichnen könnte - zu fördern und diese polizeilich und militärisch aufzurüsten. 700 Millionen Euro unter anderem aus dem „Instrument für Stabilität“ sind hierfür vorgesehen. Aus dem Europäischen Entwicklungsfonds sollen weitere Mittel mobilisiert werden: fast 1 Milliarde Euro für Regierungen, die aus Militärputschen hervorgegangen sind, und für deren Streitkräfte, welche die eigentliche Macht im Staate darstellen. Das ist eine Nachricht, die sehr wohl verstanden wurde: Vergangene Woche haben die Außenminister Algeriens, Nigers, Malis und Mauretaniens in Bamako zugesagt, bis zu 75 000 Soldaten für den Krieg gegen den Terror bereitzustellen. Die Nachricht kam auch bei der jeweiligen Opposition an, die bereits eindringlich vor einer weiteren Militarisierung des Sahel warnt. 1 Milliarde Euro und 75 000 Soldaten gegen 300 mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer, das ist unglaubwürdig. Offensichtlich geht es hier um die militärische Stabilisierung autoritärer Regime. Finanziert werden soll diese aus denselben Töpfen, die in der Mitteilung der Kommission dem Katastrophenschutz und der humanitären Hilfe dienen sollen. Damit entlarvt sich endgültig, was hier unter Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu verstehen ist. Die Linke lehnt nach wie vor die Unterstützung von autoritären Regimen ab! Im Gegensatz zu allen anderen hier vertretenen Fraktionen lehnt die Linke das Konzept der vernetzten Sicherheit, das den Vorschlägen der Kommission zugrunde liegt, ab. Die Linke ist ebenso gegen die Instrumentalisierung humanitärer Hilfe für sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen wie gegen die zunehmende Militarisierung des Bevölkerungsschutzes innerhalb der EU, die beide untrennbar mit diesem Konzept verbunden sind. Die Linke ist für die strikte Trennung von militärischen und zivilen Kapazitäten und den konsequenten Abbau Ersterer zugunsten Letzterer. Nur durch den Ausbau rein ziviler und unabhängiger Kapazitäten des Bevölkerungsschutzes und deren möglichst bevölkerungsnahe - das heißt kommunale und föderale Kontrolle kann ihre Instrumentalisierung verhindert und ihre Effizienz gewährleistet werden. Denn der Schutz und die Hilfe für Menschen in Not ist kein Mittel zum Zweck, sondern reiner Selbstzweck - und so muss es auch bleiben.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir begrüßen den Vorstoß der Europäischen Kommission für Verbesserungen der Zusammenarbeit im Katastrophenschutz. Menschen unmittelbar, schnell und wirksam Soforthilfe bei Katastrophen zukommen zu lassen, ist ein vorrangiges Ziel der Solidargemeinschaft EU. Die Katastrophe von Fukushima hat uns einmal mehr und auf ganz brutale Weise aus dem täglichen Verdrängen der Möglichkeit einer derartigen, vorher in diesem Ausmaß für uns alle unvorstellbaren Katastrophe gerissen. Schmerzhaft vor Augen geführt wurde uns, in welchem Ausmaß unser gewohnter Alltag durch katastrophische Entwicklungen bedroht ist, die zudem oftmals in vielerlei Hinsicht menschengemacht und damit grundsätzlich vermeidbar erscheinen. Und so muss nach Fukushima auch für den Katastrophenschutz gelten: Business as usual geht nicht mehr. Wer von einer veränderten Sachlage bei der Bewertung der Atompolitik ausgeht, wie dies die Bundesregierung nunmehr von sich behauptet, muss auch beim Katastrophenschutz konsequent sein. Die Risiken von Großschadenslagen - das hat Japan gezeigt - können kumulativ eintreten, und sie sprengen alle unsere bisherigen Übungs- und Einsatzszenarien. An die Politik gewendet gilt hier stets die Frage: Haben wir alles Menschenmögliche getan, um die etwaigen Folgen derartiger Katastrophen bestmöglich abzumildern oder sie gar im Vorfeld zu verhindern? Das Undenkbare denken und Vorsorge treffen, darin besteht die Herausforderung des Bevölkerungsschutzes, auch wenn und gerade weil wir wissen: Katastrophen sind per se das zumeist nicht Planbare, das Unvorhersehbare. Und: Das Ereignis selbst muss noch nicht automatisch zu einer Katastrophe werden. Tatsächliche Katastrophen, die im Grunde genommen ja nichts anderes sind als die Überforderung einer Gesellschaft, mit einer bestimmten Bedrohung adäquat umzugehen, entstehen oftmals erst durch das Zusammenspiel vielfältiger Faktoren, von denen die einen mehr beeinflusst, die anderen weniger beeinflusst werden können. Sicher ist: Die Vulnerabilität unserer modernen Gesellschaften auf einem möglichst geringen Niveau zu halten, ist wohl die größte Herausforderung für den Katastrophenschutz. So wissen wir alle: Der technologische Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits ermöglicht er uns, frühzeitig potenziell katastrophale Entwicklungen einzuschätzen und sie zu bekämpfen, andererseits sind die Folgen einer erst einmal eingesetzten Katastrophe durch die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von kritischen Infrastrukturen hoch. Wir wissen: Für eine möglichst effektive Begegnung der Auswirkungen eines potenziell katastrophalen Ereignisses ist eine koordinierte Vorgehensweise aller hieran Beteiligten von immenser Bedeutung. Wir wissen auch: Katastrophen kennen keine Grenzen. Daher begrüßen wir es, dass die EU mit ihrer Mitteilung Vorschläge für notwendige Einzelschritte einer verbesserten EU-Krisenabwehr vorgelegt hat. Anstrengungen in dieser Richtung reichen bereits einige Jahre zurück, darunter hervorzuheben insbesondere der Barnier-Report. Der Ansatz der Kommission ist in seinen wesentlichen Punkten zu begrüßen. Besonders wichtig und hervorzuheben ist, dass die Katastrophenvorsorge seitens der Kommission auch als primäre Prävention von Risikoherden mitgedacht wird und hier weitere konkrete Schritte angekündigt werden. Denn wir müssen vor allem an die Ursachen von Krisen, an die Risikoherde ran. Als gutes Beispiel hierfür mag die neueste TAB-Studie des Deutschen Bundestages dienen, die mit Blick auf das besonders gefährliche Szenario breitflächiger und länger andauernder Stromausfälle eine Abkehr von zentralisierten Stromnetzen und eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien empfiehlt, mit denen robustere dezentrale Stromnetze auch in Katastrophenfällen aufrechterhalten werden können. Gleichwohl gilt der alte Spruch, wonach bei aller Prävention die nächste KataZu Protokoll gegebene Reden strophe bestimmt kommen wird, auch hier bei uns in einem vermeintlich besonders sicheren und gut organisierten Gemeinwesen. Sie wird uns auf dem falschen Fuß erwischen, und sie wird natürlich - verzeihen Sie mir diese von vielen schon als Phrase empfundene Wendung - vor allem eines nicht machen, nämlich an nationalen Grenzen innehalten. Diese Erfahrung kennen wir zur Genüge bei den typischen Hochwasserkatastrophen, die unser Land immer wieder treffen. Zum Glück kennen wir sie noch nicht für anders gelagerte Fälle, zum Beispiel Terroranschläge mit katastrophischen Auswirkungen, oder gar Atomkatastrophen. So unwahrscheinlich diese Möglichkeiten immer noch vielen erscheinen mögen, die Aufgabe des Katastrophenschutzes muss diese Szenarien aufnehmen und verarbeiten. Genau deshalb ist es überhaupt nicht zureichend, wenn die Koalitionsfraktionen beantragen, weiterhin nahezu ausschließlich auf nationale Bewältigungs- und Koordinationskapazitäten der Mitgliedstaaten zu setzen und der Europäischen Union lediglich eine reaktive Rolle zuzuweisen. Damit wird einmal mehr eine Herangehensweise im Bevölkerungsschutz perpetuiert, die noch immer meint, gesetzliche Aufgabenverteilungen und Befugnisse zum Maßstab für die Bewertung der Realität sprich: konkrete Krisenszenarien nehmen zu können. Als trauriges Ergebnis zu besichtigen ist unter anderem deshalb ein nationales System des Krisenmanagements, das sich keinem Laien mehr erschließt und bei einer schweren Katastrophe vermutlich völlig unzureichende Koordinierungsleistungen erbringen würde. Umgekehrt hingegen würde ein Schuh draus, denn erst in der konkreten Auswertung realistischer Krisenszenarien und Übungen erschließt sich induktiv der Bedarf bei den Bewältigungsstrukturen. Die Vorschläge der Kommission sind ein schlüssiger Schritt für die Bewältigung grenzüberschreitender Szenarien hier bei uns in Europa, aber auch für den Einsatz von EU-Mitteln in Drittstaaten. Einig sind wir uns hier im Bundestag offenbar, was die Notwendigkeit der Planung auch auf EU-Ebene für bestimmte Szenarien, die Inventarisierung von nationalen Ressourcen und die beschleunigte Mobilisierung der Ressourcen angeht. Die Sorge der Linken, dass die Pläne der Kommission eine Militarisierung des Bevölkerungsschutzes einläuten könnten, teilen wir nicht. Auch wir würden derartige Entwicklungen selbstverständlich ablehnen. Die Mitteilung bekennt sich jedoch eindeutig zu den Oslo-Leitlinien und damit zu dem Grundsatz, dass nur im absoluten Ausnahmefall eine entsprechende Heranziehung militärischer Kräfte infrage kommt. Die Zusammenlegung der Krisenstellen des MIC, Monitoring and Information Centre, und der GD ECHO, Generaldirektion Humanitäre Hilfe der Europäischen Kommission, ist konsequent, weil es zahlreiche Überschneidungen zwischen den Katastrophenschutzanforderungen und der humanitären Hilfe - Schutz und Versorgung, die über Erstversorgung hinausgeht - gibt und es aus unserer Sicht durchaus Sinn macht, die notwendige Vorbereitungs- und Planungsarbeit von den rein reaktiven, auf die Ad-hoc-Zurufe der Mitgliedstaaten angewiesenen Maßnahmen zu lösen, um so die rasche und effiziente Handlungsfähigkeit in Notfällen aufzubauen und zu gewährleisten. Die Behauptung der Koalitionsfraktion, damit würde das bundesdeutsche bewährte System der Präsenz von Millionen von Helferinnen und Helfern in der Fläche infrage gestellt, teilen wir explizit nicht, zumal sie auch nicht näher begründet wird. Vielmehr wird unser bewährtes System insbesondere der ehrenamtlichen Mitarbeit in einer Vielzahl von Hilfsorganisationen weiterhin neben und kumulativ zu den Koordinierungsaufgaben auf nationaler wie auch europäischer Ebene zur Anwendung kommen. Den Einwand der fehlenden Rechtsgrundlage für eine derartige Verbindung bereits bestehender und zulässiger Kompetenzen sehen wir nicht, wenn bei der rechtlichen Ausgestaltung entsprechend präzise festgelegt wird, worin die konkreten Aufgaben und Befugnisse liegen können und sollten. Fragen des Bevölkerungsschutzes sind mit einer besonders hohen Verantwortung verbunden und geben Anlass, von kurzfristigen politischen Überlegungen abzusehen sowie auch bei bestimmten abstrakteren Leitlinien des eigenen politischen Handelns Vorsicht walten zu lassen. Mögen die oft vorgetragenen Bedenken hinsichtlich eines sich verselbstständigenden Ausbaus des europäischen Agenturwesens in Einzelfällen durchaus ihre Berechtigung haben, so dürfen diese doch nicht zu einer pauschalen Ablehnung notwendiger und in der Sache gerechtfertigter Erweiterungen europäischer Handlungsmöglichkeiten führen. Die Vorbereitung auf und die Unterstützung bei Katastrophen, die an unseren Landes- wie auch Staatsgrenzen nicht haltmachen und deren Bewältigung außerordentliche Anstrengungen erfordern, zählt zu diesen notwendigen Erweiterungen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/5809. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5194 mit dem Titel „Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten“. Es handelt sich hier um eine Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4672 zu der eben genannten Mitteilung der Kommission. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! Vizepräsident Eduard Oswald Fraktion Die Linke. Enthaltungen somit keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes - Drucksache 17/5894 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Mir sind eine Reihe von Rednerinnen und Rednern gemeldet. Ich gehe der Reihenfolge nach vor. Erste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin Philipp. ({1})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle wissen es: Kaum ein Gesetz verlässt den Deutschen Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Weil jetzt und heute schon feststeht, dass es eine Anhörung zum Stasi-Unterlagen-Gesetz geben wird, die wir als CDU/CSU-Fraktion besonders ernst nehmen werden, weil die Betroffenen dort in großer Anzahl anwesend sein werden und angehört werden sollen, weil wir jetzt schon Änderungsbedarf kennen, der aus den Fraktionen angemeldet wurde, und weil wir in einer so sensiblen Angelegenheit wie der des Umgangs mit Stasiunterlagen auf eine breite Mehrheit in diesem Hohen Hause hoffen, ({0}) wären wir bereit gewesen, unsere Reden heute zu Protokoll zu geben, so wie es im Übrigen im Ablaufplan vorgesehen war. Auch der Verlauf der Beiratssitzung am Montag dieser Woche war ein so eindeutiger und einstimmiger Beweis des Vertrauens für Roland Jahn über alle Parteigrenzen hinweg - ich unterstreiche das ganz ausdrücklich; alle wissen, warum ich das tue -, dass dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen ist, außer dass man Roland Jahn vielleicht ermuntern könnte und sollte, auf seinem Weg fortzuschreiten. ({1}) Meine Damen und Herren, jedem, der es bisher noch nicht wusste, sage ich: In einer Aktuellen Stunde am 28. Januar 2010 wurde besonders deutlich, dass die Überprüfungsfristen im Stasi-Unterlagen-Gesetz würden verlängert werden müssen. Denn im Brandenburger Landtag, der im September 2009 gewählt worden war, hatten 7 von 88 Abgeordneten eine Stasivergangenheit, entweder als offizielle oder als inoffizielle Mitarbeiter. ({2}) Diese 7 Abgeordneten waren von der Linksfraktion. Ein Abgeordneter wurde daraufhin sogar aus der Linksfraktion ausgeschlossen - etwas, das wir Ihnen gestern in einem anderen Zusammenhang nahegelegt hatten, anscheinend aber erfolglos. So weit die Vergangenheit, von der manche vielleicht schon glaubten, man müsse sich damit in dieser Hinsicht nicht mehr befassen. Auch heute, da wir in erster Lesung die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beraten, gibt es in Brandenburg wieder eine Stasidiskussion. Ich finde sie eigentlich empörend. Der Justizminister, Dr. Volkmar Schöneburg von der Linkspartei, ({3}) musste Anfang Mai dieses Jahres bekannt geben, dass bei 13 Brandenburger Richterinnen und Richtern eine haupt- bzw. nebenamtliche Stasitätigkeit bekannt sei oder bekannt gewesen sei. Mehr noch: Bei insgesamt 152 Angehörigen der Brandenburger Justiz gibt es Hinweise auf eine frühere Stasitätigkeit. ({4}) Die sich daraus ergebende Konsequenz, alle Richterinnen und Richter auf eine frühere Stasitätigkeit hin zu überprüfen, zieht der Justizminister nicht einmal in Betracht. ({5}) Ich zitiere aus einem Interview mit dem brandenburgischen Justizminister, zu lesen in der Märkischen Allgemeinen vom 18. Mai dieses Jahres: Ich halte das - er meint eine Überprüfung für unverhältnismäßig. Es kann nicht darum gehen, allein die Neugierde zu befriedigen. ({6}) Befriedigung von Neugier? Man kann es gar nicht glauben. Welche Auffassung vom Richteramt spricht aus einer solchen Aussage, welcher Anspruch an den eigenen Stand? Welche - ich formuliere es einmal etwas locker Dickfälligkeit - „mangelnde Sensibilität“ beschreibt es zu wenig - in Bezug auf die Integrität des öffentlichen Dienstes und der Richterschaft in Besonderheit spricht daraus? Glauben Sie, dass die Opfer dafür Verständnis haben? Glauben Sie, dass es in einem Rechtsstaat akzeptabel ist, wenn ein Richter, der nach einem Bericht des RBB-Magazins Klartext zu DDR-Zeiten Haftbefehle ge12774 gen Ausreisewillige erlassen hat, sein Amt ausüben kann? ({7}) Konkret ging es um den Fall der Filmemacherin Sibylle Schönemann und ihres Mannes. Beide waren für die DEFA tätig und stellten einen Ausreiseantrag. Mit der Begründung „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ wurden die beiden inhaftiert. Den beiden damals sechs- und achtjährigen Töchtern wurde bei der Festnahme der Eltern gesagt, sie seien am Nachmittag zurück. ({8}) Die Familie sah sich nach einem Jahr im Westen wieder. Die Familie war freigekauft worden. Der Richter, der damals die Haftbefehle erlassen hat, ist heute immer noch als Richter in Potsdam tätig. Ich finde das unglaublich. ({9}) Das ist eigentlich unzumutbar, nicht nur für Stasiopfer, sondern auch für jeden anderen, der dort vor Gericht steht. ({10}) Da spricht ein Justizminister von Unverhältnismäßigkeit, wenn Richterinnen und Richter überprüft werden sollen, und von Neugier. Ist es nicht eher unverhältnismäßig, die Biografien der vielen Stasiopfer zu missachten und zu verdrängen? Nicht nur bei der Brandenburger Justiz, sondern auch bei der Brandenburger Polizei kamen aktuell drei Stasifälle ans Licht. Aber auch dies bleibt wohl ohne Konsequenzen. Die Menschen sind irritiert, die Opfer empört und erneut verletzt. Dieser Justizminister, so meinen wir, ist untragbar. ({11}) Meine Damen und Herren, warum novellieren wir das Stasi-Unterlagen-Gesetz nun schon zum achten Mal? Abgesehen davon, dass die Chronologie dieses Gesetzes sehr interessant ist, zeigt sie deutlich, wie sensibel mit diesem Gesetz auf unterschiedliche Entwicklungen reagiert wurde, indem man es aktualisierte, das heißt novellierte. Unser Kollege Hartmut Büttner hat bereits am 14. November 1991 im Deutschen Bundestag angedeutet, dass es bei den Novellierungen immer wieder um Anpassungen an die Realität gehen wird. Ich habe leider nicht genug Zeit, das ausführlicher vorzutragen, aber im Wesentlichen geht es um folgende Neuerungen: Erstens. Die Überprüfungsfrist soll bis zum 31. Dezember 2019 verlängert werden. Zweitens. Der überprüfbare Kreis soll erweitert werden. Drittens. Auch für nahe Angehörige soll der Zugang zu den Akten Verstorbener und Vermisster erleichtert werden. Meine Damen und Herren, ich habe eben darauf hingewiesen, dass wir für die bereits anberaumte Anhörung sehr offen sind. Deswegen kann ich mich an dieser Stelle kurzfassen. Ich möchte damit schließen, dass der SPD-Vordenker Egon Bahr jüngst wieder einmal einen Schlussstrich gefordert hat. Seine Rede zum 75. Geburtstag des ehemaligen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe ist so unglaublich, dass man einfach fassungslos davor steht. Zu den unglaublichen Passagen gehört auch seine Beurteilung des Bemühens von Roland Jahn, nach einer Lösung für die 47 ehemaligen Stasimitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde zu suchen. Wir sollten Roland Jahn bei seiner Suche nach Lösungen unterstützen, statt ihn mit böswilligen Unterstellungen zu beleidigen. ({12}) Wie gesagt: Wir hoffen diesmal auf einen breiten Konsens bei der Novellierung und meinen, dass wir das den Opfern schuldig sind. Vielen Dank. ({13})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Philipp. Ich will jetzt Folgendes geschäftsleitend sagen: Der Kollege Wolfgang Thierse hat seine Rede für die Sozial- demokraten zu Protokoll gegeben. Des Weiteren haben unser Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und auch die Frau Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen ihre Reden zu Protokoll gege- ben1). Auf Wunsch der Fraktionsgeschäftsführung der Linken weise ich darauf hin, dass sie wegen Krankheit hier nicht anwesend sein kann. ({0}) Somit machen wir jetzt in der Reihenfolge weiter, die mir vorliegt. - Das Wort hat jetzt zunächst der Kollege Reiner Deutschmann für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Reiner Deutschmann. ({1})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Aufarbeitung des Stasi- unrechts ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Leis- tungen infolge der friedlichen Revolution von 1989. Ich bin stolz darauf, dass es gelungen ist, die Akten der Stasi im Interesse der Opfer, aber auch im Interesse der Bür- gerinnen und Bürger und vor allen Dingen auch der Nachwelt zu sichern und aufzuarbeiten. Inzwischen liegt es 21 Jahre zurück, dass beherzte Frauen und Männer mit der Besetzung der Stasizentrale 1) Anlage 4 in Berlin-Lichtenberg und anderer regionaler Stasieinrichtungen, wie beispielsweise auch in Leipzig und Erfurt, die Akten sicherten. Garant für die Aufarbeitung der damals gesicherten Akten ist das 1991 beschlossene und heute zur Novellierung vorliegende Stasi-Unterlagen-Gesetz. Der darin geregelte sehr sensible und transparente Umgang mit den Akten entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen. Wenn bei der Aufarbeitung in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Großes geleistet wurde, so besteht doch noch immer ein riesiger Handlungsbedarf bei der Erschließung der Akten. Mit der uns heute vorliegenden Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verlängert die christlich-liberale Koalition eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzes bis zum Jahre 2019. Die Überprüfung von Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes und anderer sensibler öffentlicher Bereiche bleibt damit möglich. Zugleich haben wir uns ganz bewusst entschlossen, den überprüfbaren Personenkreis wieder auszuweiten, nachdem er 2007 eingeschränkt worden ist. Warum tun wir das? Es geht nicht darum, den zuletzt geschätzten über 90 000 offiziellen und über 150 000 inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit ein erfolgreiches Berufsleben und ihren Platz in der Gesellschaft zu verwehren. Wir wollen nur nicht, dass ehemalige Stasimitarbeiter in sensible Positionen des öffentlichen Dienstes und anderer staatsnaher Einrichtungen gelangen können. ({0}) Die Staatssicherheit hat Karrieren verhindert, Existenzen vernichtet und Lebensläufe negativ beeinflusst. Was die Stasi ihren Opfern anzutun in der Lage war, kann man sehr gut im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in der jetzigen Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen erleben. Es ist den Opfern nicht zuzumuten, dass die Täter ungehindert in der öffentlichen Verwaltung des wiedervereinigten Deutschland Karriere machen, während die Opfer bis heute unter den Folgen der Drangsalierung zu leiden haben. ({1}) Wie aktuell das Thema ist, zeigen die jüngsten Stasifälle aus Brandenburg. Meine liebe Kollegin Beatrix Philipp hat dazu ja schon einiges im Detail erläutert. Hier ist es über Jahre hinweg versäumt worden, diese Dinge aufzuarbeiten. Ich denke, es ist manches nachzuholen. Man kann Herrn Platzeck nur empfehlen, endlich tätig zu werden. Aber auch in den alten Bundesländern herrscht Nachholbedarf. Schließlich waren dort 3 000 IM für die Auslandsspionageabteilung tätig, und zwar insbesondere in Bundesministerien und Bundesbehörden. Viele von ihnen leben heute unenttarnt. Für uns bleibt klar: In der Aufarbeitung darf nicht zwischen Ost und West unterschieden werden. Diese Novellierung darf als bewusstes Signal der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP, verstanden werden, dass es zur Aufarbeitung des Stasiunrechts keine Alternative gibt. Auch in diesem Sinne stellen wir uns voll und ganz hinter Roland Jahn. Mit uns wird es keine Schlussstrichdebatte geben. Danke. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Rainer Deutschmann. - Jetzt spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Wanderwitz. ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Margit Funk, Anne Gabel, Hanni und Helmi Geyer, Elisabeth Garske, Jutta Giersch, Helgard Göttert, Margot Jann, Magda Müller, Martel Oerthel, Sigrid Seime und Maria Stein kennen Sie vielleicht nicht - noch nicht. Diese Frauen sind die Gründungsmitglieder des Frauenkreises der ehemaligen Hoheneckerinnen, der sich am 26. April 1991 gegründet hat. Warum spreche ich das heute an? Ich glaube, die meisten von uns wissen, was sich abgesehen davon, dass es ein Ortsteil einer schönen erzgebirgischen Stadt in meinem Wahlkreis ist, alles hinter Hoheneck verbirgt, nämlich das berüchtigte Frauenzuchthaus der ehemaligen DDR, in dem viele Tausend der über 180 000 politischen Gefangenen der ehemaligen DDR jahrelang gesessen haben. 34 000 von ihnen sind im Übrigen für rund 3,5 Milliarden DM freigekauft worden: organisierter Menschenhandel der SED. ({0}) - Ich denke, den Zuruf „Und der Bundesrepublik!“ von einer Kollegin, den ich eben gehört habe, können wir gerne ins Protokoll aufnehmen. Dem brauchen wir nicht mehr viel hinzuzufügen, um deutlich zu machen, dass Sie immer noch nichts verstanden haben. ({1}) Wir haben am 13. Mai - das war am Freitag der vorvergangenen Woche - einen Festakt zum 20. Jahrestag der Gründung des Frauenkreises in Hoheneck begangen, unter anderem im Beisein unseres Bundespräsidenten, der eine beeindruckende Rede gehalten hat, wie auch vieler der betroffenen Frauen, die dort anwesend waren, und auch im Beisein unseres Stasiunterlagenbeauftragten, Roland Jahn, und des ARD-Vorsitzenden und SWRIntendanten Peter Boudgoust. Er war dort, weil am 9. November um 20.15 Uhr der große SWR-Fernsehfilm Hoheneck war gestern ausgestrahlt wird. Auf der Homepage des SWR findet sich eine Kurzzusammenfassung: Carola Weber erschrickt bis ins Mark, als sie den neuen Kollegen ihres Mannes Jochen zum ersten Mal hört - diese Stimme kennt sie aus der schlimmsten Zeit ihres Lebens. Carola ist überzeugt, dass Dr. Limberg Arzt im Dienst der Stasi war und sie während ihrer Haftzeit im DDR-Frauengefängnis Hoheneck misshandelte. Carola konfrontiert den Arzt mit ihrer Erinnerung, doch Limberg streitet ab. Getrieben von dem Bedürfnis, ein Bekenntnis des Arztes zu hören, versucht Carola alles, um Limbergs Identität zu beweisen. Eine Geschichte aus dem wahren Leben der ehemaligen DDR. Besonders bedrückend finde ich den Teil, der nach der friedlichen Revolution spielt und den es leider so auch nicht nur einmal gegeben hat. Deswegen möchte ich heute der ARD herzlich für dieses Programm am 9. November danken, ({2}) zu dem mehr als nur der Spielfilm gehört. Beispielsweise wird noch eine Dokumentation über Hoheneck gezeigt, und es sollen Diskussionen stattfinden. Erinnerung darf nie zu Ende sein. Denn zum einen sind die Täter unter uns und viele noch immer unerkannt. Zum anderen ist es für zukünftige Generationen wichtig - gerade das ist das Anliegen der Frauen von Hoheneck -, nicht zu vergessen und die richtigen Lehren aus den Problemen der Vergangenheit zu ziehen. Die Opfer fühlen sich häufig - Kollegin Philipp hat das schon angesprochen - allein gelassen, unverstanden, nicht ausreichend rehabilitiert und vor allen Dingen im Verhältnis zu den Tätern nicht hinreichend gewürdigt. Das alles ist völlig verständlich. ({3}) Der politischen Verantwortung, in der sich viele in diesem Haus stehen sehen, kommen wir unter anderem mit der vorliegenden Novelle nach; auch das hat Beatrix Philipp schon angesprochen. Roland Jahn steht dieser Tage in der Kritik. Er hat heute der Leipziger Volkszeitung ein, wie ich finde, schönes Interview gegeben. Auf die Frage, warum er aus der Beschäftigung der 47 ehemaligen Stasimitarbeiter bei der Stasi-Unterlagen-Behörde ein so großes Thema macht, hat er eine beeindruckende und einfache Antwort gegeben: „Ich verstehe die Sicht der Opfer.“ Ich denke, dem ist nichts mehr hinzuzufügen. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. - Jetzt spricht für die Fraktion der Freien Demokraten unser Kollege Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick Kurth. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich sehr herzlich bedanken, dass wir noch zu so später Stunde über dieses Thema reden. Ich finde es wichtig und richtig, dass wir darüber eine Aussprache führen. Formal gesehen würden wir in dieser Legislaturperiode noch einmal über die Staatssicherheit reden, nämlich dann, wenn die nächsten Lesungen anstehen. Ich gehe aber davon aus, dass wir noch mehrfach über das Thema reden werden. Es wird genügend Anlass dafür geben. Das Thema ist trotz der vielen anderen Themen so wichtig, weil die Stasi-Unterlagen-Behörde und das Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Erfolgsgeschichte sind. Wir wissen um die Entstehung und die Diskussionen, aber auch um die Befürchtungen und die Kritik, die die Stasi-Unterlagen-Behörde über die Jahre begleitete. Aber als Zwischenresümee können wir ziehen, dass es sich hier um eine Erfolgsgeschichte handelt. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht im Mittelpunkt, genauso wie die Opferaufklärung, Gewissheit für diejenigen zu schaffen, die mutig waren, aber auch für Unschuldige. Wir wollen verstehen, wie dieser Geheimdienst funktionierte. Über die Jahre kommt immer mehr ans Tageslicht. Die Sicherung von Akten und Beweisen ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Eine solche Aufarbeitung hätte es bereits nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Nazidiktatur, geben müssen. Sie hat es nun nach der SED-Diktatur gegeben. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, meine Damen und Herren von der Linken, hätten wir eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt, sondern das, was wir in den 50er-Jahren gemacht haben, wiederholt. Ich finde es richtig, dass wir, das Parlament, der Stasi-Unterlagen-Behörde und dem Stasi-Unterlagen-Gesetz Rückhalt geben. ({0}) Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat mithilfe des StasiUnterlagen-Gesetzes rechtsstaatlich sehr sauber und für die Opfer nachvollziehbar gut gearbeitet. Die Zahlen der Opfer, die sich jetzt melden, mehren sich; denn die Betreffenden haben das Erlebte endlich verarbeitet. Zahlreiche Akten sind noch nicht aufbereitet und nicht wiederhergestellt. Die Aufdeckung zahlreicher Stasifälle, die wir immer wieder erleben, geht nicht zuletzt auf das Wirken der Stasi-Unterlagen-Behörde zurück. Die furchtbare Geschichtsvergessenheit der Linken spricht für sich. Wenn aber Herr Wiefelspütz von der SPD, der sein gesamtes Leben und seine politische Karriere auf einem freiheitlichen System aufgebaut hat, den Stasi-Unterlagen-Chef Jahn, der für genau diese Freiheit gekämpft hat und dafür von der Uni geworfen, von seiner Familie getrennt, inhaftiert und unter Zwang ausgewiesen wurde, einen Menschenjäger und einen Eiferer mit Schaum vor dem Mund nennt, ({1}) dann muss ich sagen, dass eine Grenze erreicht ist, die nicht zu tolerieren ist. ({2}) Patrick Kurth ({3}) Auf die Geschichte der Stasi und auf das DDR-Unrecht kann niemand stolz sein. Auf die Aufarbeitung und die Bearbeitung der Stasiaktivitäten können wir Deutschen alle sehr stolz sein. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Erfolgsgeschichte der Unrechtsaufarbeitung fortgeführt werden kann. Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre zahlreiche Teilnahme. Danke schön. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/5894 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und weiterer Abgeordneter Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nach- haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ - Drucksache 17/5885 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Alle Reden sind, so sagt mir die Verwaltung, zu Pro- tokoll gegeben worden. Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Sie sind also damit einverstanden.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5885 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Die Revision der OECD-Leitsätze für multi- nationale Unternehmen als Chance für einen stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei- 1) Anlage 5 terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen - Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Serkan Tören Volker Beck ({1}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen liegen uns vor.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Verbraucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem etwas nicht passt, zum Beispiel, wenn einem nicht gefällt, mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden große, meist global agierende Konzerne ihre Waren produzieren und verkaufen. Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meistens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Daran kann man nichts ändern!“ Gleichzeitig gibt es aber auch die Verbraucher, die ihre geballte Verbrauchermacht einsetzen und Macht auf große Konzerne und manchmal sogar ganze Länder ausüben - wenn sie sich zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu protestieren, was ihnen missfällt. Verbraucherproteste und -boykotte, meist unterstützt durch das Engagement politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu geführt, dass Unternehmen ihre Produktionsmethoden überdacht und geändert haben. Ich möchte zwei Beispiele nennen, in der sich die westliche Verbrauchermacht durchgesetzt hat. Beispiel Südafrika: in den 80er-Jahren demonstrierten viele empörte Menschen überall auf der Welt gegen das grausame Apartheidregime in Südafrika, das Schwarze wie Menschen zweiter Klasse behandelt und oft grausam unterdrückt hat. In Deutschland riefen vor allem evangelische Frauenverbände dazu auf, südafrikanische Waren konsequent zu meiden. Mit Erfolg: Viele Verbraucher beteiligten sich an diesem sogenannten Früchteboykott. Viele Waren aus Südafrika blieben bei den Händlern liegen. Bis in die 90er-Jahre flammten die Proteste immer wieder auf. Weltweite Demonstrationen und massive Wirtschaftssanktionen brachten Südafrika schließlich an den Rand des Staatsbankrotts. Beispiel FCKW: Ende der 80er-Jahre machten Wissenschaftler als Ursache für das 1985 entdeckte Ozonloch sogenannte Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz: FCKW, aus. Dieses Treibgas wurde vorwiegend in Kühl12778 schränken und Spraydosen verwendet. Und wieder zeigten Verbraucher und Aktivisten ihren Einfluss. Sie mieden FCKW-haltige Produkte konsequent. GreenpeaceAktivisten in Deutschland besetzten ein Werk von Hoechst, einem der größten FCKW-Produzenten weltweit. Die Verbraucherproteste hatten Erfolg: Kühlschränke durften kein FCKW mehr enthalten, und auch Spraydosen ließen sich bald nur noch „ohne Treibgas“ verkaufen. 1989 wurde die Produktion von FCKW EUweit verboten. Jetzt ist es wieder an der Zeit, dass die deutschen Verbraucher sich gegen multinationale Konzerne wehren, denn fast monatlich hören wir in den Medien, dass Textilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum der deutschen Textilproduktion, auf die Straße gehen und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Landes, in denen auch zahlreiche westliche Firmen, wie zum Beispiel H & M und Levi Strauss, produzieren lassen, protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Versammlungsrechte massiv einschränken. Ganz klar gesagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wie wir sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzeptabel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtlichen Grundsätze unserer westlichen Industriegesellschaft. Richtig verstandene Unternehmensverantwortung deutscher und internationaler Unternehmen muss sich an den tatsächlichen Produktionsbedingungen in unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verantwortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deutschen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unternehmensverantwortung positiv auch für die Arbeitsbedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unternehmen muss erst einmal bewusst gemacht werden, welchen wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunternehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die neue Form des „Social Business“ einen Mehrwert für jedes Unternehmen hat. Manche haben diesen Weg bereits kräftig eingeschlagen. Ich möchte an dieser Stelle unter anderem die Otto AG, Puma, hessennatur oder Adidas nennen. Diese Unternehmen haben bei dem CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stiftung Warentest positiv abgeschnitten. Gerade die Otto AG, ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis Hamburg-Wandsbek, spielt eine besondere Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von „Social Business“ mit dem Friedensnobelpreisträger Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangladesch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich akzeptable Arbeitsbedingungen, erfüllt. Diesen Schritt unternimmt die Otto AG gerade unter dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social Business“Vorhaben in Afrika, Vorhaben, bei denen für Baumwollfarmer Know-how-Transfer geleistet wurde, damit sie zukünftig effektiver anbauen können, Vorhaben, bei denen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschenrechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit diesem Thema beschäftigt, gerade das Engagement solcher Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervorzuheben. Dieser Weg des positiven Hervorhebens oder im Gegenteil des öffentlichkeitswirksamen An-den-PrangerStellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK geschehen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben dürfen, und würde mir wünschen, dass gerade auch die Grünen positive Leuchtturmprojekte als Chance sehen, sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu organisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verantwortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deutschen Mittelstand immer wieder grundsätzlich moralisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Dies sollte sich die Opposition endlich mal hinter die Ohren schreiben. Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unseren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den internationalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders auf die Bemühungen der Arbeitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht, mit dem Aktionsplan CSR einen neuen Benchmark für die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen. Ziel der Initiative ist, verstärkt kleine und mittelständische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleichzeitig soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerkennung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bundesregierung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will. Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vorgetragen, und damit ist klar, welchen Weg die Bundesrepublik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft die Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in meiner Fraktion, auch in dem gesamten Haus, sehr unterschiedliche Auffassungen von Sinn und Zweck der Leitlinien, bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Verbesserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die Bundesregierung die Überarbeitung der Leitsätze mit der OECD weiter aufgeschlossen vorantreibt. Es ist zu beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige Instrument sind, das die Förderung globaler Unternehmensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leitlinien sein - gerade auch was die Vorbildfunktion gegenüber anderen Partnern betrifft. Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/ CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Diskussionsprozess angesprochen werden müssen: Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in eiZu Protokoll gegebene Reden nem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausgeweitet werden können. Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen, die nicht nachhaltig wirtschaften, von staatlichen Förderinstrumenten eine Zeit lang ausgeschlossen werden. Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit dort entstehenden Interessenkonflikte dürfen nicht sein und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will. Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes für Geschädigte gegenüber den internationalen Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Ausland ins Spiel. Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungsverhandlungen verankern muss. Grund ist, dass oftmals deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine Handhabe haben, Sozialstandards in den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es auch nicht gerecht, wenn deutsche und internationale Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationalen Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen, ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort ermöglicht, Recht erst mal im eigenen Land zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO, die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger und rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in den Partnerländern nicht ernst genommen, da die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass wir auch hier einen neuen internationalen Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung erkennen müssen. Wir müssen internationale Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR erhält. Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwischen importierenden deutschen und internationalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung nimmt sich dieser Maxime an. Es ist der moralische Anspruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen.

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

2011 ist ein wichtiges Jahr, was die Verantwortung globaler Unternehmen für soziale, ökologische und vor allem menschenrechtliche Fragen anbelangt. Die OECD-Leitsätze, die Erklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik sowie der UN Global Compact stecken hierfür den Rahmen ab. Die OECD-Leitsätze gelten in diesem Kontext als das am weitesten reichende Instrument zur Stärkung der Unternehmensverantwortung. Die OECD-Leitsätze beinhalten Vorgaben zur Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards, zur Korruptionsbekämpfung, zur Steuerehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz. Für die Mitgliedstaaten der OECD sowie für elf weitere Staaten, die sich den Leitsätzen angeschlossen haben, sind diese Vorgaben verbindlich. Sie müssen über sogenannte Nationale Kontaktstellen die Leitsätze implementieren, deren Einhaltung überwachen sowie Beschwerden über mögliche Verstöße gegen die Leitsätze entgegennehmen. Das bedeutet, dass die Leitsätze für die weltweite Tätigkeit aller multinationalen Unternehmen gelten, die in diesen Staaten beheimatet sind. Für Unternehmen allerdings sind sie freiwillig, das heißt, die Leitsätze sind rechtlich nicht bindend. Sie beziehen sich außerdem nur auf Unternehmen aus den Unterzeichnerstaaten und erfassen damit eine ganze Reihe von international agierenden Unternehmen nicht. Die Leitsätze verfügen außerdem über keinerlei Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen die selbst auferlegten Standards seitens der Unternehmen - sieht man von einer möglichen Rufschädigung für das Unternehmen einmal ab. Und bei einem strittigen Verlauf eines Beschwerdeverfahrens gibt es keinerlei Revisionsmechanismen für die Opfer. Dies wirkt sich besonders gravierend bei Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen aus. Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen haben darüber hinaus die häufig mangelhafte Umsetzung der Leitsätze kritisiert. Daher eröffnet die Überarbeitung der OECD-Leitsätze die große Chance, sie zu einem schlagkräftigen Instrument der globalen Unternehmensverantwortung - besonders hinsichtlich der menschenrechtlichen Verantwortung - zu machen. Wir begrüßen es als SPD daher außerordentlich, dass die überarbeiteten Leitsätze ein eigenes Kapitel über Menschenrechte haben werden. Wir wünschen uns, dass die Einhaltung der Menschenrechte in diesem Zusammenhang für Unternehmen gleichsam zur Pflicht erhoben wird. Die Nationalen Kontaktstellen, NKS, die Anlaufpunkte für Beschwerden gegen Unternehmen, sollen unseren Vorstellungen nach zu unabhängigen Gremien umgestaltet und auf Mindeststandards verpflichtet werden. Auf diesem Weg sollen gravierende Qualitätsunterschiede zwischen den NKS verschiedener Nationen verZu Protokoll gegebene Reden mieden und Beschwerden vor einem neutralen Gremium im Sinne der Opfer behandelt werden. In diesem Zusammenhang spielt auch der sogenannte Investment Nexus eine entscheidende Rolle: Beschwerden vor den NKS können mit dem Hinweis auf einen fehlenden direkten Investitionsbezug häufig abgewiesen werden. Auf diese Weise werden die Zulieferbetriebe oft von den Leitsätzen nicht erreicht. Wir wünschen den Wegfall des Investment Nexus, damit die Schutzwirkung der Leitsätze für mögliche Opfer von Menschenrechtsverletzungen insgesamt erhöht wird. Gleichzeitig sind wir uns aber bewusst, dass eine solche Forderung nur praktikabel ist, wenn das jeweilige Unternehmen konkrete Einwirkungsmöglichkeiten auf seine Zulieferbeziehungen hat. Wir fordern weiter, dass Verstöße gegen die Leitsätze für Unternehmen zukünftig Konsequenzen haben sollen. Denkbar wäre ein zeitweiliger Ausschluss von Exportgarantien oder die grundsätzliche Koppelung der Leitsätze ({0}) an die Vergabe staatlicher Kredite, Bürgschaften und anderer staatlicher Unterstützungsmaßnahmen für Auslandsinvestitionen. Verbessert werden sollten darüber hinaus die Offenlegungspflichten für multinationale Unternehmen. Hier sollten die Leitsätze zukünftig eine länderbezogene Rechnungslegungspflicht fordern, damit problematische Transaktionen - zum Beispiel über Steueroasen - sichtbar werden. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich dafür einzusetzen, dass Staaten, die nicht Mitglied der OECD sind, sich den Leitsätzen für multinationale Unternehmen anschließen, das Menschenrechtskapitel auch den Stand der internationalen Diskussion widerspiegelt, die Lieferkette so weit wie möglich in den Geltungsbereich der Leitsätze integriert wird, die Kernarbeitsnormen der ILO eingehalten werden, die Arbeit der NKS unabhängig und auf einheitliche Mindeststandards verpflichtet wird, eine juristische Berufungsinstanz und ein Sanktionsmechanismus für die Leitsätze geschaffen werden, länderbezogene Rechnungspflichten in den Leitsätzen verankert und die Akzeptanz und die Bekanntheit der Leitsätze erhöht werden. Dann können die Leitsätze tatsächlich ihre Schutzfunktion für die Menschenrechte in global tätigen Unternehmen voll entfalten.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In der heutigen abschließenden Beratung der Beschlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten Antrag der Fraktion der SPD und den Antrag der Fraktion Die Linke. Aus Sicht der FDP sind die Anträge weder substanziiert noch bieten sie inhaltlich etwas Neues. Worum geht es genau? Es wurden die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines Revisionsverfahrens überprüft. Bei diesen Leitlinien handelt es sich um den weltweit einzigen multilateralen und umfassend anerkannten Kodex zur Förderung globaler Unternehmensverantwortung. Der Abschluss des Verfahrens ist für Mitte 2011 geplant. Die SPD nimmt dies zum Anlass für einen Antrag, der folgende Kernforderungen enthält: Die Leitsätze sollen im Rahmen der Revision verschärft werden, indem Sanktionsmöglichkeiten für den Fall ihrer Verletzung vorgesehen sind. Für die Nationalen Kontaktstellen, welche in Deutschland beim BMWi angesiedelt sind, sollen einheitliche Mindeststandards gelten. Der bisherige Geltungsbereich der OECD-Leitsätze soll über den Investitionsbezug hinaus ausgeweitet werden. Ferner soll bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze geworben werden. Diesen Forderungen der SPD ist aus Sicht der FDP wie folgt zu entgegnen: Die christlich-liberale Koalition strebt an, die OECD-Leitsätze in erster Linie zu verbreiten, statt zu vertiefen. Bislang haben sich alle 31 OECDStaaten und 12 weitere Industrienationen zu den OECDLeitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung in Staaten, die einen hohen Anteil an Unternehmen aufweisen, welche etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger Schritt. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang China und Indien. Eine Vertiefung bzw. Verschärfung der Leitsätze würde von einem Beitritt abschrecken und darüber hinaus Unternehmen aus Staaten, die den OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnachteile verschaffen. Sanktionsmöglichkeiten stellen eine deutliche Verschärfung der OECD-Leitsätze dar, die für das Ziel kontraproduktiv sind, ihre Akzeptanz zu erhöhen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermutigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze sind die Kompetenzen, die Organisation und die Anbindung der Nationalen Kontaktstellen ohnehin ein zentraler Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung der SPD hinfällig. Die christlich-liberale Koalition strebt in den derzeitigen Revisionsverhandlungen an, den Investmentnexus beizubehalten. Das heißt, Beschwerden können nur dann zugelassen werden, wenn ein direkter Investitionsbezug nachweisbar ist. Dies ist vor dem Hintergrund des Ziels, eine Verbreitung der OECD-Leitsätze anzustreben, auch nur logisch und daher sachgerecht. Die Forderung der SPD nach dem Werben bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze widerspricht den zentralen Forderungen des SPD-Antrags nach einer Verschärfung der OECD-Leitsätze und ist daher nicht schlüssig. Der Antrag der SPD wird daher von der FDP abgelehnt. Vollkommen abstrus sind zum Teil die Forderungen der Linken in ihrem Antrag. So fordert die Linke unter anderem, dass in der EU ansässige Unternehmen „wahrheitsgemäße Informationen über die Auswirkungen ihrer aktuellen und geplanten Geschäftstätigkeit auf Menschen und Umwelt veröffentlichen sollen“; Forderung 7. Aus Sicht der FDP ist dies vehement zurückzuweisen. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Informationen ist vielleicht in einer Planwirtschaft realisierbar. Unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs ist dies jedoch völlig weltfremd, insbesondere wenn über geplante Geschäftsaktivitäten Auskünfte offengelegt werden müssen. Im Lichte dieser Ausführungen ist der Antrag der Linken abzulehnen. Zu Protokoll gegebene Reden

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit der Debatte über die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen greift der Deutsche Bundestag endlich die Forderungen vieler entwicklungspolitischer Organisationen nach Überarbeitung der seit 1976 geltenden Leitsätze auf. Schon 1976 haben die entwicklungspolitischen Organisationen darauf hingewiesen, dass durch die fehlende Verbindlichkeit der Leitsätze die Gefahr besteht, dass es zu keiner substanziellen Veränderung der Arbeit der multinationalen Unternehmen kommen wird. Diese Befürchtungen der entwicklungspolitischen NGOs haben sich leider bestätigt. Die Fraktion Die Linke unterstützt die Aussage des UN-Sonderbeauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte, John Ruggie, der in seinem Abschlussbericht von einer „Regelungslücke“ bezüglich internationaler Unternehmen spricht. Organisationen wie Germanwatch weisen zu Recht darauf hin, dass „die Umsetzung der OECD-Leitsätze in Deutschland, insbesondere bei der Bearbeitung von Beschwerdefällen, enorm verbesserungsbedürftig ist“. So haben in Deutschland Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften seit der Revision der Leitlinien im Jahr 2000 bislang elf Beschwerden eingereicht. Von diesen Beschwerden waren Firmen wie Adidas, Bayer, Continental, Ratiopharm sowie Siemens und Daimler-Chrysler betroffen. Von der deutschen Kontaktstelle, NKS, wurden von diesen elf vorgetragenen Fällen lediglich drei Beschwerden angenommen. Diese restriktive Arbeit der deutschen Kontaktstelle zeigt eine nicht akzeptable und äußerst restriktive Interpretation der OECD-Leitsätze durch die deutsche Nationale Kontaktstelle. Für die Fraktion Die Linke ist deutlich, dass die OECD-Leitsätze nur dann zu einem wirksamen Instrument gegen unternehmerisches Fehlverhalten weiterentwickelt werden können, wenn sie verbindlich festgeschrieben werden und klare Anforderungen an nationale Kontaktstellen enthalten. Zurzeit müssen wir feststellen, dass selbst bei schwerem unternehmerischem Fehlverhalten durch transnationale Konzerne eine konkrete Verurteilung dieses Verhaltens durch die Nationalen Kontaktstellen häufig nicht stattfindet. Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeitsund Sozialstandards verbunden werden muss. Wir wollen erreichen, dass durch solche verbindlichen Anforderungen an Umweltschutz- und Verbraucherschutzkriterien alle Betroffenen gegen unternehmerisches Handeln vorgehen können, wenn die vorgeschriebenen Standards nicht eingehalten werden. Auch wollen wir erreichen, dass menschenrechtliche Forderungen als einklagbarer Bestandteil unternehmerischen Handelns beachtet werden müssen und alle Unternehmen, die gegen menschenrechtliche Standards verstoßen, mit konkreten Sanktionen rechnen müssen. Hierfür wollen wir die OECDLeitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Einhaltung von Menschenrechten in multinationalen Unternehmen weiterentwickeln. Nur unser Antrag fordert, dass hierfür eine fundamentale Veränderung der bisherigen Rechte von Betroffenen notwendig ist. Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist eine deutlich bessere personelle Ausstattung der Nationalen Kontaktstellen. Bisher stehen riesige Abteilungen und Anwaltskanzleien von Großkonzernen einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kontaktstellen gegenüber. Wir wollen die Chancengleichheit zwischen Kontaktstellen und transnationalen Konzernen verbessern. Bislang ist die deutsche NKS im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen angesiedelt. Dies halten wir für eine unabhängige Überprüfung von transnationalen Unternehmen für nicht angebracht. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig organisiert werden. Wir wollen erreichen, dass die Nationalen Kontaktstellen paritätisch zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen besetzt werden. Nur wenn es gelingt, unabhängige Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften und NGOs als gleichberechtigte Mitglieder in die nationalen Kontaktstellen zu integrieren, ist eine bessere, von Regierungsinteressen unabhängigere Kontrolle der transnationalen Unternehmen durchsetzbar. Notwendig ist auch die Durchsetzung der Forderung, dass multinationale Unternehmen für die Verstöße ihrer Subunternehmen und Zulieferer haften müssen. Alle selbständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe müssen in den Geltungsbereich der Leitsätze fallen und die bisherige Beschränkung der Leitsätze auf grenzüberschreitende Investitionstätigkeiten, auf alle Investitionen und Lieferbeziehungen der multinationalen Unternehmen erweitert werden. Die Leitsätze werden erst dann eine größere Wirksamkeit erzielen, wenn Betroffene die Möglichkeit erhalten, bei Zuwiderhandlungen von Unternehmen ihre Forderungen individuell vor den jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen. Dies setzt voraus, dass alle Bürgerinnen und Bürgern einen ungehinderten und kostenfreien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhalten, auch wenn sie keine EU-Bürgerinnen und -Bürger sind. Die Linke möchte die Chance nutzen, mit der Revision der OECD-Leitsätze einen wirklich qualitativen Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegenüber multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Bisher sieht es jedoch so aus, dass sich die Bundesregierung einem solchen qualitativen Schritt verweigert.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Fürth habe ich seit geraumer Zeit viel mit einem deutschen Vorzeige- unternehmen zu tun. Adidas - ein Global Player im Sportartikelbereich, der laut Selbstaussage auch in den Bereichen Umwelt und Soziales richtungsweisend sein möchte, „um das Leben der Menschen zu verbessern“. „Adidas is all in“ - so der Slogan des Unternehmens. Auch die Arbeitsstandards und die Bezahlung? Man muss ja nicht gleich davon ausgehen, dass man es bei ei- ner internationalen Aktiengesellschaft mit einer karitati- ven Einrichtung zu tun hat. Erschreckend ist jedoch, wie weit im Falle Adidas die Selbsteinschätzung von der Wirklichkeit entfernt liegt. Gerade einmal 72 Cent Stun- Zu Protokoll gegebene Reden denlohn verdienen die Näherinnen und Näher in der Fa- brik „Ocean Sky“, einer Adidas-Zulieferfabrik in El Sal- vador. Selbst mit Prämien kommen die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht über 175 Euro im Monat. Und das bei einem Unternehmen, das seinen Umsatz im ersten Quar- tal 2011 um über 22 Prozent auf 3,27 Milliarden Euro steigern konnte. Hier geht es nicht mehr um Betriebs- wirtschaft! Das ist menschenunwürdig! Aber das Problem geht weit darüber hinaus, dass ein Unternehmen den eigenen Standards nicht gerecht wird. Das Problem ist ein strukturelles. Seit 1976 gelten in Deutschland und in allen anderen 30 OECD-Mitglied- staaten die sogenannten Leitsätze für multinationale Un- ternehmen. Allerdings zeigen diese bislang kaum Wir- kung. Sie sind in keiner Form bindend, sondern basieren auf der freiwilligen Selbstverpflichtung der jeweiligen Konzerne. Es gibt weder die Möglichkeit, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, noch die, Fehlverhalten mit Sanktionen zu bestrafen. Ganz offensichtlich reicht es nicht, sich auf den guten Willen und das moralische Ver- antwortungsbewusstsein der Unternehmer zu verlassen oder lediglich mit der Veröffentlichung von Fehlverhal- ten zu drohen. Wir freuen uns, dass die OECD-Leitsätze seit der ge- rade abgeschlossenen Überarbeitung ein eigenes Men- schenrechtskapitel erhalten haben. Das ist aber kein Grund zum Ausruhen. Jetzt beginnt die Arbeit erst! In der Vergangenheit wurde deutlich, dass, selbst wenn Menschenrechtsverstöße ans Licht kamen, keiner- lei Maßnahmen ergriffen wurden. Eigentlich war die so- genannte Nationale Kontaktstelle, NKS, eingerichtet worden, bei der Missachtungen der Leitsätze gemeldet werden können. Allerdings stellte sich die NKS als äu- ßerst nachsichtiges, um nicht zu sagen, den Leitsätzen gegenüber gleichgültiges Organ heraus, das über Jahre hinweg einen Großteil der Beschwerden lapidar zurück- wies. Das jüngste Beispiel stammt vom Ende des letzten Jahres, als verschiedene NGOs Beschwerde gegen das Unternehmen Otto Stadtlander GmbH einreichten, da dieses Baumwolle aus Usbekistan bezog, die von Kin- dern geerntet wurde. Die Reaktion der NKS war nichts- sagend. Ich möchte an die Adresse die Bundesregierung sagen: Wir beobachten diese Vorgänge, und Sie können sicher sein, wir lassen hier nichts einfach unter den Tisch fallen! Die Kontaktstelle muss grundlegend reformiert wer- den. Sie ist alles andere als unabhängig. Während an- dere Länder, wie beispielsweise die Niederlande, ihre Kontaktstelle mit Experten aus unterschiedlichen Fach- bereichen besetzen, ist das deutsche Pendant im Wirt- schaftsministerium angesiedelt, und dort zu allem Über- fluss auch noch im selben Referat, das für die Außenwirtschaftsförderung zuständig ist. Das ist eine unsägliche Konstruktion und programmiert Interessen- konflikte vor, die bisher zum Nachteil der Beschwerde- führer gelöst wurden. Diese Konstruktion zeigt auch, dass ein ernsthafter Wille, bei Beschwerden zu einer fai- ren Lösung zu kommen, nicht vorhanden ist. Eine weitere Schwachstelle der Leitlinien besteht da- rin, dass sich Unternehmen regelmäßig hinter dem Ar- gument verstecken, dass es unmöglich sei, die gesamte Produktionskette zu überwachen. Gerade multinationale Konzerne verweisen auf die schier endlosen Netzwerke aus Tochter- und Zulieferfirmen, sodass die Leitlinien sich bis dato nur auf einen recht eng gefassten Investi- tionsbezug, Investment Nexus, anwenden lassen. Dies ist praktisch ein Freifahrschein für all jene, die jenseits al- ler ethischen Bedenken menschenunwürdige Beschäfti- gungsverhältnisse in aller Welt schaffen. Ein Aspekt ist mir zum Abschluss noch besonders wichtig. Wir, die Politik und die öffentliche Verwaltung, stehen auch ganz direkt in der Pflicht. Der Bund, die Länder und Kommunen kaufen jedes Jahr Waren für viele Milliarden Euro ein. Allein die deutschen Kommu- nen kommen jedes Jahr auf Beträge zwischen 250 und 300 Milliarden Euro. Hier müssen wir sofort agieren. Bei Unternehmen, die die OECD-Leitsätze nicht beach- ten, darf die öffentliche Hand nicht einkaufen! Faire Be- zahlung und menschenwürdige Arbeitsplätze sind Men- schenrechte.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/5756. Der Aus- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung, den Antrag der Fraktion der Sozialdemo- kraten auf Drucksache 17/4668 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koali- tionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialde- mokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfrak- tion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen.1) Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4669. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck ({1}), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendli- che stärken - Drucksachen 17/4546, 17/4954 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Tauber Florian Bernschneider Jörn Wunderlich 1) Anlage 2 Vizepräsident Eduard Oswald Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist nun das zweite Mal, dass wir uns in diesem Hause mit der Lebenssituation schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendlicher beschäftigen. Ich darf mich zunächst einmal für die sachliche Atmosphäre bedanken, in der wir in der zurückliegenden Ausschusssitzung über das Thema diskutieren konnten. Ich denke, dieser Stil ist dem Thema angemessen. Einig waren wir uns, dass sich in den letzten Jahren das gesellschaftliche Klima homosexuellen und transsexuellen Menschen gegenüber positiv gewandelt hat. Viele Prominente aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bekennen sich heute offen zu ihrer Homosexualität. Die Sorgen und Nöte von Schwulen und Lesben finden Beachtung und sind Gegenstand des öffentlichen Diskurses und alltäglicher Betrachtungen. Mit großer Übereinstimmung haben die Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen den Wandel nachgezeichnet, den die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, wodurch sie Diskriminierungen schrittweise abbauen konnte. Auch die christlich-liberale Regierung ist seit dem Regierungsantritt diesen Weg konsequent weitergegangen und hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um die Gleichstellung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Menschen zu verbessern. Ich möchte dies im Einzelnen nicht noch einmal wiederholen; die Bilanz unserer Regierung lässt sich dem Plenarprotokoll zur vorausgegangenen Debatte entnehmen. Es erscheint mir vielmehr geboten, zwei aus meiner Sicht zentrale Aspekte an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen. Wer trotz aller getroffenen Maßnahmen und des beschriebenen Wandels Diskriminierung erfährt, der wird durchaus zu Recht sagen, dass ihm die bisherigen Schritte nicht reichen. Ob Sticheleien, böse Worte und verächtliche Kommentare gegenüber homosexuellen Menschen je ganz aus unserer Gesellschaft verschwinden werden, bleibt abzuwarten, ja ist vielleicht sogar fraglich. Entscheidend ist etwas anderes: Entscheidend ist, dass die Gesellschaft dies nicht mehr akzeptiert. Was diese grundsätzliche Akzeptanz und Anerkennung betrifft, sind wir - so meine ich - einen großen Schritt vorangekommen in den letzten Jahren. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass sich Toleranz und Respekt nicht verordnen lassen. Sie muss bewusst gelebt werden - von jedem Einzelnen. Dabei helfen selten Gesetze, sondern eher Vorbilder. Nicht selten wird Politikern in der Jugendpolitik vorgeworfen, sie machen es sich gerne allzu leicht, indem sie die Verantwortung für die gesellschaftliche Implementierung von Verhaltensweisen auf die Schulen abwälzen. Das mag in manchen Fällen richtig sein. Richtig ist aber auch: Ohne die tatkräftige Unterstützung, ohne die Courage jedes einzelnen Lehrers und jeder einzelnen Lehrerin sind alle Bemühungen der Politik wertlos. Vielmehr sollte man all jene, die sich allzu leicht der bekannten homophoben Ausdrücke bedienen, einmal fragen, ob sie sich denn bewusst sind, was sie eigentlich von sich geben. Es ist nämlich mehr als zweifelhaft, dass dies der Fall ist. Es bringt meiner Meinung nach mehr, im täglichen Umgang - jeder an seiner Stelle - deutliche Grenzen aufzuzeigen, wenn Homophobie zutage tritt, anstatt auf abstrakter Ebene in Aktionismus zu verfallen. Und vor allen Dingen muss in der Schule über die Themen Homosexualität und Transsexualität gesprochen werden. Auch würde es uns weiterbringen, wenn bei den Schülerinnen und Schülern ein entsprechendes Bewusstsein geweckt werden könnte, um noch immer bestehende Argumentationsmuster, die darauf basieren, dass der homosexuelle Lebensstil ein Affront gegen die Gesellschaft ist, zu erkennen und in der Diskussion offen zu entlarven. Machen wir uns dabei nichts vor: Eine Gesellschaft, in der die Diskriminierung von Homosexuellen und Transsexuellen vollständig der Vergangenheit angehört, ist ein Generationenwerk. Dass es sich lohnt, weiterzumachen, zeigt die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren. Ich bin der Bundesregierung in diesem Zusammenhang sehr dankbar dafür, dass dieser Bereich nach wie vor umfassend gefördert wird und trotz aller notwendigen Sparbemühungen keine Kürzungen bei der Förderung stattgefunden haben. Die Hoffnung auf eine weitgehend tolerante und von gegenseitigem Respekt geprägte Gesellschaft werden wir nur dann umsetzen können, wenn wir jungen Menschen schon frühzeitig dabei helfen, tradierte Argumentationsmuster zu entlarven und ein Problembewusstsein für Diskriminierungen zu schaffen. Einer der größten Problemkreise ist aus meiner Sicht nach wie vor der Bereich der muslimischen Jugendlichen. Homophobe Einstellung gehören hier vielfach zur Normalität. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen deutet dies ja ganz vorsichtig an. Diese Vorsicht finde ich nicht angebracht. Den Betroffenen hilft es eher, die mitunter nach wie vor krassen Einstellungen auch deutlich zu benennen und anzuprangern. Gibt es bei vielen Menschen mittlerweile wenigstens das Bewusstsein, Vorurteile für sich zu behalten, weil die Gesellschaft sie nicht mehr toleriert, ist es bei dieser Gruppe nicht selten noch ein Zeichen von „Stärke“, „hart und brutal“ gegen Homosexuelle aufzutreten und vorzugehen. Dies darf unsere Gesellschaft auf keinen Fall hinnehmen; das sind wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Das, was in anderen Ländern der Welt nach wie vor noch immer möglich ist, darf in Deutschland nicht passieren. Dies sicherzustellen, ist auch Aufgabe der Politik. Die christlich-liberale Regierung ist sich dieser Verantwortung sehr bewusst. Daran gibt es keinen Zweifel. Ich habe bereits im Rahmen der zurückliegenden Debatte ausführlich Stellung dazu genommen, weshalb wir dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht zustimmen werden. Ich möchte mich bei der Begründung nicht wiederholen, zumal sich an dem Antragstext seit der letzten Befassung nichts geändert hat. Auch bleibt unsere grundsätzliche Kritik an der Aussage der Zu Protokoll gegebene Reden Grünen in dem Antrag, dass die Bundesregierung mit Ignoranz und Desinteresse homosexuellen Jugendlichen gegenüberstehe. Den Nachweis für diese vermessene Aussage sind Sie bislang schuldig geblieben. Es wird Ihnen auch nicht gelingen, denn sie hat mit der Realität einfach nichts zu tun. Auch wäre es dringend nötig gewesen, in Ihrem Antrag bei der Frage der Kulturhoheit der Länder nachzubessern. Viele der in dem Antrag gemachten Forderungen fallen schlichtweg nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Hier wäre etwas mehr Sorgfalt nötig gewesen. Auch wenn wir uns auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft nicht in der Frage des „Wie“ in allen Details einig sein mögen, denke ich jedoch, dass es großer Konsens der demokratischen Fraktionen dieses Hauses ist, so schnell wie möglich dahin zu kommen, im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang unterschiedliche Lebensentwürfe anerkannter zu machen. Dies ist eine erfreuliche Übereinstimmung, zu der es in einer freien und demokratischen Gesellschaft keine Alternative gibt.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist ein wichtiges Anliegen, gegen Benachteiligung und Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung anzugehen. Hier sehe ich einen breiten Konsens im Hinblick auf den Grundtenor des Antrags, den wir heute debattieren. In der Unionsfraktion stehen wir darüber in einem guten, konstruktiven Gedankenaustausch mit dem Verband LSU, Lesben und Schwule in der Union. Ich nutze gerne die Gelegenheit, LSU und vor allem dem Bundesvorsitzenden Alexander Vogt dafür zu danken, dass sie als fester Bestandteil der schwul-lesbischen Community dazu beitragen, dass in der Union die Anliegen und die Sichtweise von homosexuellen oder transsexuellen Menschen authentisch eingebracht und geschildert werden können, und - genauso wichtig dass sie auch in der anderen Richtung dem einen oder anderen Vorurteil gegenüber der Haltung der Union entgegentreten. Schwul bzw. lesbisch und konservativ? Das muss kein Gegensatz sein. Ich weiß, dass das nicht immer ganz einfach ist, wenn sich LSU-Mitlieder zum Beispiel auf dem CSD mit eigenem Stand als CDU-Mitglied outen. Aber das ist gut so! Ich möchte an den Anfang stellen, dass wir eine Gesellschaft wollen, in der jeder Mensch in seiner individuellen Einzigartigkeit mit gleicher und unbedingter Wertschätzung angenommen wird - mit gerade den Fähigkeiten, den Defiziten, den Anlagen und eben auch mit der sexuellen Orientierung, die ihm mitgegeben worden ist. Wir wollen ein Klima, in dem Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung unbefangen miteinander umgehen und dass dieses Thema dabei nicht alle anderen Themen überlagert. Ich weiß auch, dass das noch nicht erreicht ist. Es gibt immer wieder gelegentlich ein unpassendes und ärgerliches Schenkelklopfen, überflüssige Anspielungen, blöde Witze. Das dürfen wir nicht durchgehen lassen. Wer das mitbekommt - im privaten Kreis, im Beruf, in der Politik, wo auch immer - muss dem entgegentreten. Das muss nicht immer mit Drama sein; aber einfach sagen oder zeigen, dass man das nicht mag, dass das nicht witzig, nicht cool ist, das muss schon sein. Wo es zu solchen Äußerungen oder Kommentaren kommt, kann man als Erwachsener damit zumeist umgehen. Aber für Jugendliche, die mitten in der Phase der Selbstfindung stecken und solche Äußerungen plötzlich auf sich beziehen, die mit Beleidigungen und Mobbing konfrontiert werden, stellt das eine extreme Belastung dar. Wir sehen mit großer Sorge die hohen Selbstmordraten bei Jugendlichen, die eine homosexuelle Orientierung bei sich feststellen. Es ist bedrückend, dass sie offenbar allein aus diesem Grund eine solch extreme Belastung empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg sehen als den Freitod. Es ist bedrückend, dass es die Gesellschaft dann nicht geschafft hat, die unbedingte Wertschätzung jedes Menschen in seiner Einzigartigkeit zum Ausdruck zu bringen, auf die ein jeder einen Anspruch hat. Jeder junge Mensch, der sich in dieser Phase der Selbstfindung befindet und Hilfe braucht, muss hier Unterstützung finden. Das ist ein gemeinsames Anliegen, das ja auch dem Antrag zugrunde liegt, den wir heute debattieren. In vielen Punkten beschreibt der Antrag zu Recht die schwierige Lage von Jugendlichen in dieser Situation. In einem hat der Antrag jedoch nicht recht, und schon deshalb kann dem auch nicht zugestimmt werden: Die Bundesregierung zeigt keineswegs Ignoranz und Desinteresse, wie dort formuliert ist. Mit der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und schwule Jugendliche“, Drucksache 17/2588, hat sie eine ausführliche Bestandsaufnahme vorgelegt, die aufzeigt, dass in diesem Bereich bereits umfangreich gefördert und unterstützt wird. Die Bundesregierung unterstützt über das Förderinstrument Kinder- und Jugendplan des Bundes, aber auch über den gemeinsamen Haushaltstitel der Abteilungen Familie, Chancengleichheit und Ältere Menschen eine Vielzahl von Projekten und Initiativen zugunsten schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendlicher, angefangen bei Konferenzen, Handreichungen und Fortbildungen bis hin zur Verbandsförderung des Jugendnetzwerk Lambda e. V., dem lesbischschwulen Jugendverband in Deutschland. Die Arbeit der Verbände trägt aus meiner Sicht besonders dazu bei, die Benachteiligung von gleichgeschlechtlichen Jugendlichen abzubauen und ein Klima von gegenseitiger Anerkennung und Respekt zu schaffen. Lambda e. V. erhält bereits seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans Fördermittel, die für das Jahr 2011 sogar aufgestockt wurden. Auch im Bereich der sportlichen Bildung haben Aktivitäten zugunsten von lesbischen, schwulen und transsexuellen Jugendlichen bereits heute einen hohen Stellenwert. So sind Veranstaltungen gegen Homophobie im Fußballsport regelmäßiger Bestandteil des Programms der vom Bundesfamilienministerium und dem Deutschen Fußballbund geförderten Koordinationsstelle „Fanprojekte“. Auch in den anderen Jugendbildungssparten findet sich vergleichbares Engagement. Zu Protokoll gegebene Reden In den Medien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Sexualaufklärung und Familienplanung sind interessierende Themen wie sexuelle Orientierung, Coming- out usw. bereits heute angemessen berücksichtigt und finden selbstverständliche Berücksichtigung sowohl bei den Jugendlichen als auch bei den Eltern. In allen Aufklärungsangeboten, vor allem in ihren Broschüren, verfolgt die BZgA einen den Selbstwert stärkenden Ansatz und wendet sich ausdrücklich gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Zur Prävention von Suizidversuchen und Suiziden fördert das Bundesgesundheitsministerium Initiativen des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, NASPRO, bei dem sich eine Arbeitsgruppe speziell mit der Thematik Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen befasst. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Thema Homosexualität gerade in jüngster Zeit umfangreich sowohl aus zeitgeschichtlicher als auch aus sozialund politikwissenschaftlicher Perspektive gewürdigt. Besonders schwierig ist sicher die Situation für Heranwachsende mit muslimischem Migrationshintergrund. Gerade hier sind homosexuellenfeindliche Einstellungen wesentlich stärker verbreitet als in der deutschen Vergleichsgruppe. Zu diesem Ergebnis kam die vom Bundesfamilienministerium geförderte Studie „Lebenssituationen von Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ im Auftrag des Lesben- und Schwulenverbandes, LSVD. Die Studie zeigt, dass sich viele Lesben und Schwule mit Migrationshintergrund in Deutschland zwar gut integriert fühlen und das gesellschaftliche Klima gegenüber Homosexuellen hier als positiver als in ihren Herkunftsländern erleben. Innerhalb ihrer Familien und Migrationscommunities allerdings erfahren sie mehr Diskriminierung und verzichten deshalb oft auf ein offenes homosexuelles Leben. Homosexuelle ohne Migrationshintergrund hatten der Studie zufolge ein positiveres Selbstbild und eine höhere Lebenszufriedenheit und mehr soziale Unterstützung. An dieser Stelle müssen auch Verbände wie zum Beispiel der Zentralrat der Muslime in Deutschland mithelfen, indem sie auch einen Beitrag zur Aufklärung gegen Homosexuellenfeindlichkeit leisten. Über die Anregung, interkulturelle Angebote für homosexuelle Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Nationalen Aktionsplan aufzunehmen, werden wir sicher diskutieren. Die verschiedenen Angebote und Beiträge haben bisher auf vielfältige Weise mitgeholfen, dass sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positiven gewendet hat, wie der Antrag ja auch feststellt. Auf diesem Weg muss es weitergehen.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Januar haben wir bereits im Plenum über den vorliegenden Antrag der Grünen „Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken“ debattiert. Im zuständigen Familienausschuss wurde deutlich, dass die Vertreter der christlich-liberalen Koalition auch bei diesem Thema meinen, die Hände nun in den Schoß legen zu können, und darauf verweisen, Schwulen und Lesben gehe es heute schließlich so gut wie nie. Schauen wir uns die Situation einmal an: Der unsägliche § 175, der so viel Leid und Ungerechtigkeit über homosexuelle Männer brachte, ist aus dem Strafgesetzbuch getilgt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Homosexualität aus ihrem Katalog psychischer Krankheiten entfernt. In Deutschland hat die rot-grüne Bundesregierung mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft schwulen und lesbischen Paaren die Möglichkeit geschaffen, ihrer Beziehung einen rechtlichen Rahmen zu geben. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, verbietet ausdrücklich jegliche Benachteiligung aufgrund der sexuellen Identität. Daher stimme ich der Einschätzung der Regierungsfraktionen in diesem einen Punkt durchaus zu: Die rechtliche Gleichstellung und der Schutz vor Diskriminierung für Lesben, Schwule und Transsexuelle - gleich welchen Alters - war noch nie so weit gediehen wie jetzt. Obwohl noch einige wichtige Schritte zur völligen Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe fehlen - ich nenne hier nur die Beispiele Adoption und Steuerrecht -, können wir dank einer guten rot-grünen Antidiskriminierungspolitik feststellen: Es hat sich sehr viel zum Positiven gewandelt! Aber dies reicht nicht. Denn die tatsächliche Lebenssituation von gesellschaftlichen Minderheiten lässt sich nicht nur mit Blick auf bestehende Gesetze oder Statistiken alleine bestimmen. Was wir brauchen, ist eine breit angelegte Studie, die uns ein realistisches Bild der Lebenswirklichkeit von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendliche vermittelt. Wie der Presse aktuell zu entnehmen war, hat sich der Kollege Jens Spahn von der CDU an seine Parteifreundin Kristina Schröder gewandt und sie als zuständige Ministerin an das Thema erinnert. Nun soll offenbar eine Machbarkeitsstudie klären, ob eine bundesweite Untersuchung durchgeführt werden soll. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, und ich denke, eine Bundesregierung, die sich im Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben hat, für Chancengerechtigkeit für alle - unabhängig von der individuellen sexuellen Orientierung - zu sorgen, sollte ebenfalls ein besonderes Interesse daran haben! Denn eines ist klar: Rechtliche Gleichstellung und wirksamer Antidiskriminierungsschutz ist das eine, gelebte und erlebte Toleranz und Gleichberechtigung im Alltag das andere! Und dennoch: Gesetzliche Regelungen sind unverzichtbar und wichtig. Denn sie setzen den Rahmen, damit eine Kultur der Akzeptanz und des Respekts von Minderheiten weiter reift und gestärkt wird. Daher bedaure ich es sehr, dass Union und FDP die Chance ausgeschlagen haben, sich einem breiten Bündnis zur Ergänzung des Art. 3 unseres Grundgesetzes anzuschließen, um über alle Parteigrenzen hinweg zu zeigen, dass Lesben und Schwule ausdrücklich in den Diskriminierungsschutz unserer Verfassung aufgenommen werden sollten. Das wäre gerade im Hinblick auf die Lebenssituation der jungen Menschen, über die wir heute diskutieren, ein wichtiges Signal! Zu Protokoll gegebene Reden In der Frage, wie wir lesbische, schwule oder transsexuelle Jugendliche stärken können, darf es kein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern geben. Gerade beim zentralen Bereich Schule und Bildung können wir als Bundespolitiker vorrangig an die Länder appellieren, sich des Themas der sexuellen Vielfalt couragierter anzunehmen, als das heute teilweise noch der Fall ist. Denn noch allzu oft kommt es in der Schule zu Beschimpfungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen und Jungen werden gemobbt, von der Klassengemeinschaft ausgeschlossen oder sogar tätlich angegriffen. Hier müssen wir ansetzen! Dazu brauchen wir Schulen, die für Lehrende und Lernende einen diskriminierungsfreien Raum garantieren. Mein Heimatland NRW zeigt mit dem Projekt „Schule ohne Homophobie - Schule der Vielfalt“ ebenso wie Berlin mit der Initiative „Berlin steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“, welche konkreten Verbesserungen im Bildungsbereich möglich und nötig sind, um wirksamen Antidiskriminierungsschutz an Schulen zu verankern. Dazu brauchen wir zum einen engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die das Thema ({0}) Vielfalt und Diversity positiv und nicht etwa ausschließlich im Kontext Aufklärung oder HIV-Prävention behandeln. Dabei dürfen wir auch nicht aus dem Blick verlieren, dass nicht nur Jugendliche auf dem Weg zu ihrer selbstbewussten sexuellen Identität Unterstützung und Beratung benötigen. Genauso gibt es schwule Lehrer oder lesbische Lehrerinnen, die vor der Frage stehen, ob sie sich vor Schülern oder Kollegium „outen“ sollen, oder die nicht wissen, wie sie mit mehr oder weniger offenen Anfeindungen umgehen sollen. Doch erst, wenn schwule Lehrer und lesbische Lehrerinnen selbstverständlich und offen mit ihrer Homosexualität umgehen können, sehen Schülerinnen und Schüler, dass dies ebenso normal ist wie Heterosexualität. Neben der Schule brauchen Jugendliche natürlich auch noch andere Anlaufstellen. Neben dem Internet als wichtiger Informationsquelle ist eine kompetente Vertrauensperson in der Nähe unerlässlich. Hier sind sowohl die Länder in der Pflicht als auch der Bund. Wir wollen, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes auch in Zukunft finanziell gut ausgestattet bleibt, um neben ihrer Aufklärungs- und Beratungstätigkeit vor allem auch die Vernetzung mit Beratungsstellen vor Ort weiter voranbringen zu können. Außerdem steht die Bundesregierung in der Pflicht, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus um das Problemfeld Homophobie zu erweitern und das Thema Akzeptanz von Homo-, Bi- und Transsexualität im Nationalen Integrationsplan zu verankern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine bunte Gesellschaft, in der Vielfalt als Bereicherung und Normalität wahrgenommen wird.

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute entscheiden wir abschließend über den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche zu stärken. Das ist ein wichtiges Anliegen und verdient unsere volle Unterstützung. Insbesondere fordert Bündnis 90/Die Grünen eine umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit. Hier sind die Gelder, die für schwule und lesbische Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgegeben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und Jugendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro, die die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgegeben hat. Ganze 186 Millionen Euro gibt die Bundesregierung dagegen insgesamt für den Kinder- und Jugendplan aus. Der hier vorliegende Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, man habe bereits die Mittel für die schwule und lesbische Jugendarbeit erhöht, indem die Mittel für das Projekt Lambda um 7 Prozent im Jahr 2011 erhöht worden seien. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt außerordentlich, dass die Mittel für das Projekt Lambda um 2 000 Euro erhöht worden sind. Aber damit ist natürlich nicht der Forderung Genüge getan, eine umfassende Förderung von schwuler und lesbischer Jugendarbeit zu gewährleisten. Wer eine umfassende Förderung will, der muss Geld in die Hand nehmen, und zwar einen angemessenen und gerechten Betrag. Was wäre nun angemessen und gerecht? Auch wenn ich jeden Tag an dem Kunstwerk von Thomas Locher vorbeigehe, das mich und alle anderen Politiker ironisch mahnt „Gerecht ist nur die Gerechtigkeit“, so sind doch 2 000 Euro mehr keine gerechte Verteilung der Mittel. Wenn man von einer niedrigen Rate von schwulen und lesbischen Jugendlichen ausgeht - und die niedrigste Schätzung bewegt sich hier bei 5 Prozent -, dann müssten etwa 900 000 Euro für schwule und lesbische Jugendarbeit ausgegeben werden. Das ist jedoch nicht der Fall. Stattdessen fehlen in diesem Bereich diese Mittel, und das, obwohl es schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche in unserer Gesellschaft schwer haben. Oft sind sie sich ihrer sexuellen Orientierung noch nicht sicher und werden gehänselt, gemobbt und drangsaliert, oder sie werden sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugendlichen müssen vor Diskriminierung wirksamer geschützt werden. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartner und -partnerinnen, die beraten und helfen können. Insbesondere brauchen wir aber Programme, die die Akzeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken. Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können, soll in einer breit angelegten bundesweiten wissenschaftlichen Studie zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bundestagsfraktion auch schon damals unterstützt haben. Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Studie ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssituation von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um daraus Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung abzuleiten. Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskriminierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den Zu Protokoll gegebene Reden Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an einem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Beitrag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbüchern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbildung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie Schulungen zur Vorgehensweise bei und zum Umgang mit diskrimierenden Situationen und diskriminierendem Verhalten von Schülern und Schülerinnen. Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und intersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert werden. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachteiligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die rechtliche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich eine klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen. Wir brauchen ein öffentliches und deutliches Bekenntnis, dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität eine ungleiche Behandlung unter keinen Umständen rechtfertigen können. Dafür brauchen wir eine Änderung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, die bereits in den Ausschüssen von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden sind. Die abschließende Lesung steht hier noch aus. Aber schon heute ist klar, dass wir in dieser Frage wieder einmal nicht vorankommen. Es ist absolut unverständlich, warum die schwarz-gelbe Koalition in dieser Frage so zögerlich ist, zumal wir seit 2009 in der EU-Grundrechtscharta den Diskriminierungsschutz für Lesben, Schwule und Transgender verankert haben.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute abschließend beraten, richtet unser Augenmerk auf die Lebenssituation von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen, und das zu Recht. Es ist nicht zu bestreiten, dass Homosexuelle und Transsexuelle - unabhängig von ihrem Alter - noch immer Benachteiligungen ausgesetzt sind, auch wenn gleichstellungs- und gesellschaftspolitisch schon viel erreicht wurde. Wir müssen nicht allzu weit zurückgehen, um uns dies zu vergegenwärtigen. Ich möchte Sie nur an den § 175 StGB erinnern, der sexuellen Kontakt zwischen Männern unter Strafe stellte. Im Volksmund sprach man statt von Homosexuellen gar von „175ern“. Und auch heute treffen offen lebende Homosexuelle und Transsexuelle noch auf Vorbehalte. Deshalb ist es nach wie vor unsere Aufgabe, gegen die Diskriminierung von gleichgeschlechtlich orientierten Mitgliedern unserer Gesellschaft vorzugehen und anzuarbeiten. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP nimmt sich dieser Aufgabe an. Die durch uns erreichte Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und Erbschaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht belegt dies eindrucksvoll. Zugleich senden wir mit diesen Rechtsänderungen ein klares Signal für mehr gesellschaftliche Liberalität und Vielfalt in unsere Gesellschaft hinein. Seit der ersten Beratung des vorliegenden Antrages hat sich auch einiges getan. So hat unsere liberale Justizministern, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, endlich erreicht, wozu weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot in den letzten Jahren imstande waren: In diesem Jahr werden 10 bis 15 Millionen Euro für die Gründung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung als Startkapital bereitgestellt. Das ist ein wichtiger, aber auch überfälliger Schritt, für den sich meine Fraktion seit langem mit Nachdruck eingesetzt hat. Die Stiftung wird sich unter anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Lesben und Schwulen wenden und durch Bildung und Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung entgegenwirken. Im Zuge dieser Aufgabe wird die Fortbildung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren in der Schul- und Jugendarbeit mit Sicherheit zu den Aufgaben der Stiftung gehören. Dies ist uns Liberalen besonders wichtig, weil wir hier an einem Punkt ansetzen, der die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen tatsächlich erreicht. Wo findet denn ein Großteil der Sozialisierung Jugendlicher statt? Wo spielt sich ein Großteil ihres Lebens ab? Richtig, in der Schule. Deshalb ist es der Bundesregierung und insbesondere meiner Fraktion ein Anliegen, gerade in diesem Umfeld dafür zu sorgen, dass diejenigen, die täglich mit Jugendlichen zu tun haben - Lehrer, Pädagogen, Jugendarbeiter - stärker sensibilisiert werden und das nötige Handwerkszeug erhalten, um noch besser gegen die Diskriminierung von homosexuellen und transsexuellen Jugendlichen vorgehen zu können. Aber wir müssen auch bei diesem Thema ehrlich miteinander umgehen. Aktuell wird ja über das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungswesen diskutiert, auch in meiner Partei. Unabhängig davon, wie diese Diskussionen ausgehen, steht trotzdem außer Frage, dass der Bund nicht alles leisten kann. Für das Schulwesen sind und bleiben in erster Linie die Länder zuständig. Daher muss ich den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen auch sagen, dass Sie sicherlich in ihrem Antrag viele gute Forderungen aufführen, aber dass Sie sich hier in vielen Punkten leider den falschen Adressaten ausgesucht haben. Wenn Bildungspolitik einen höheren Stellenwert erhalten und im Umfeld von Bildungseinrichtungen mehr für die Gleichstellung von homosexuellen und transsexuellen Jugendlichen erreicht werden soll, müssen wir - und damit meine ich ausdrücklich die Mitglieder aller Fraktionen - die Länder und unsere Kollegen in den Landesparlamenten stärker in die Verantwortung nehmen. Nur um es Ihnen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen - ich hatte bereits in der ersten Lesung des Antrages darauf hingewiesen -: Uns Liberalen ist es zwischen 2005 und 2010 in NRW trotz harter Sparpolitik gelungen, Zu Protokoll gegebene Reden Fördermittel für die schwul-lesbische Selbsthilfe zu erhalten. Aus diesen Mitteln wurde unter anderem das Schulaufklärungsprojekt SCHLAU NRW finanziert. Damit haben wir bewiesen, dass es selbst in einer schwierigen Finanzlage möglich ist, eigene Schwerpunkte zu setzen. Darüber hinaus möchte ich betonen, dass der Bund seine Aufgaben im Rahmen des Kinder- und Jugendplanes hervorragend wahrnimmt. Die Förderung von Projekten, Programmen und Institutionen, die sich für die Gleichstellung und Unterstützung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen, sind schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bundes, und sie werden es auch bleiben. Zum Jahr 2011 wurden beispielsweise die Mittel für den Jugendverband Lambda um 7 Prozent erhöht, was dies nochmals unterstreicht. Im Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen schwingt der Vorwurf mit, dass sich diese Regierung nicht um homosexuelle und transsexuelle Jugendliche bzw. Homosexuelle und Transsexuelle insgesamt kümmere. Ihr dem Thema völlig unangemessenes Auftreten im Zuge der Ausschussberatung des Antrages hat dazu beigetragen, dass sich dieser Eindruck bei mir, aber sicherlich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen verfestigt hat. Daher möchte ich diese Möglichkeit nutzen und nochmals öffentlich klarstellen, dass sich die FDP unvermindert für gesellschaftliche Vielfalt und die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Transsexuellen einsetzt. Auf Erfolge im Inland, wie die längst überfällige und notwendige Unterstützung der MagnusHirschfeld-Stiftung, die die Grünen in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt haben, habe ich schon hingewiesen. Ich möchte Ihren Blick aber auch auf die Außenpolitik lenken. So sind es Liberale wie Entwicklungsminister Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle, die international Flagge zeigen und klar gegen Homophobie eintreten. Das Auswärtige Amt fördert in diesem Jahr erstmals zwei Schwulen- und Lesbenprojekte im Ausland. Im Fall Malawis wurde wegen Strafverschärfungen gegen Homosexuelle erstmals Entwicklungsgelder durch das zuständige Ministerium eingefroren - ein Novum. In Uganda wurde die Entwicklungshilfe für die kommenden Jahre an die Bedingung geknüpft, dass Pläne im ugandischen Parlament zur Verschärfung der Homosexuellengesetze nicht realisiert werden. Unter Rot-Grün, mit dem ehemaligen Außenminister Josef Fischer, über dessen Rückkehr auf die politische Bühne als Kanzlerkandidat hinter vorgehaltener Hand diskutiert wird, hat es ein solch entschiedenes Eintreten für die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlich orientierter Menschen im Ausland jedenfalls nicht gegeben. All dies beweist: Die Gleichstellungspolitik ist in guten Händen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der vorliegende Antrag ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man diskriminierte Jugendliche konkret unterstützen kann. Diskriminierungen jeglicher Art sind in einem demokratischen Staat nicht hinnehmbar. Hier sind wir ein erhebliches Stück vorangekommen. In der ersten Lesung teilten alle Parteien die Intention des Antrags und bestätigten, dass Handlungsbedarf besteht. Doch die Vertreter der Regierungskoalition verwiesen lapidar auf die Verantwortung der Länder und Kommunen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, stellen Sie sich Ihrer Verantwortung, und lassen Sie lesbische, schwule, transsexuelle, transgender und intersexuelle Jugendliche nicht im Regen stehen! Diskriminierte junge Menschen benötigen unsere Hilfe. Die Diskriminierung junger Menschen schreibt in deren Biografie eine bleibende Lebenserfahrung ein. Statt des Wegschiebens von Verantwortung benötigen sie konkrete Unterstützung. In dem Antrag wurde auf die konkret nutzbaren Handlungsspielräume auf Bundesebene hingewiesen. Wir benötigen eine gesamtgesellschaftliche Strategie. Diese Strategie müssen wir hier entwickeln und koordinieren. Dies ist unsere Aufgabe. Es darf nicht sein, dass nur einzelne Länder und Kommunen Notfallhilfe anbieten, positive Beispiele, die isoliert dastehen wie ein Fels in der Brandung. Ein Beispiel für das konkrete Handeln vor Ort ist das letzten Monat in Berlin eröffnete Zentrum „Queer leben“. Es ist Europas erstes Zentrum für queer lebende und transidente Jugendliche. Bei der Eröffnung stellte die Leiterin Mari Günther klar, dass die Notwendigkeit zur Einrichtung dieses Zentrums vorhanden ist. Jugendliche Menschen aus ganz Deutschland wandten sich an Beratungsstellen in Berlin. Sie flüchteten vor ihren Eltern, sie wandten sich anonym an Sozialberater oder waren obdachlos. Sie berichteten von schwerwiegenden Ausgrenzungen in der Schule, durch Verwandte und Eltern sowie Bekannte. Die zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums haben es rund um die Uhr mit schwerwiegenden Problemen zu tun. Jugendliche werden gemobbt, drangsaliert und auch geschlagen, nur weil sie scheinbar anders sind. Das Land Berlin hat hier eine konkrete Hilfe geleistet, und sie ist dringend notwendig. Homophobie und Transphobie sind kein vorübergehendes Phänomen. Es sind sehr reale Ängste einer Mehrheitsbevölkerung, die gegenüber den Betroffenen in Abwehr und Ausgrenzung münden. Es ist nicht hinnehmbar, dass bedrohte Jugendliche verängstigt der Schule fernbleiben, dass sie an der Schule keine Ansprechpartner für ihre Probleme finden, dass sie aus der elterlichen Wohnung flüchten, da die Eltern sie nicht akzeptieren, nur wegen ihrer Sexualität bzw. ihrer Geschlechtlichkeit. Wir müssen die Betroffenen konkret unterstützen. Wir müssen Strukturen schaffen, sodass Eltern, Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler Ängste abbauen. Schwul, lesbisch, transsexuell, transgender und intersexuell sollten weder hier noch in der Gesellschaft Beschreibungen sein, vor denen man sich fürchtet. Die sexuelle Vielfalt ist eine Realität, und sie ist eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft. Hier muss der Bundesgesetzgeber seine Verantwortung wahrnehmen. Wir werden diesem Antrag zustimmen, denn die Zu Protokoll gegebene Reden Betroffenen verdienen nicht warme Worte, sondern konkrete Unterstützung.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es freut mich, dass wir mit unserem Antrag eine bun- desweite Debatte über die Lebenslage von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen anstoßen konnten. Ich bin stolz darauf, dass die rot-grüne Regie- rung in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen die Bekämpfung von Homophobie als Querschnittsaufgabe aktiv angeht und im Landesjugendplan die Unterstüt- zung schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendli- che absichert. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jah- ren auf den ersten Blick offener und toleranter geworden - nicht zuletzt durch das unermüdliche Engagement der lesbisch-schwulen Bürgerrechtsbewegung und durch rot-grüne Reformen wie die eingetragene Lebenspart- nerschaft. Auf den zweiten Blick bleibt das Coming-out für viele junge Schwule und Lesben auch im Jahr 2011 ein belastender und schwieriger Prozess, weil sie damit Ablehnung oder Anfeindungen riskieren - in der Fami- lie, in der Schulklasse oder im Ausbildungsbetrieb. Schwule und lesbische Jugendliche leiden in beson- derer Weise unter Vorurteilen, Ausgrenzung und Mob- bing und brauchen daher dringend Unterstützung und Solidarität. Mir ist unverständlich, wie dies von Teilen der Union weiterhin ignoriert werden kann. Wenn „du schwule Sau“ zur meistgenutzten Beschimpfung auf un- seren Schulhöfen zählt, dann sind wir meilenweit davon entfernt, dass alle ohne Angst verschieden sein können und Vielfalt wertgeschätzt wird. Alle Jugendlichen ver- dienen Respekt und haben ein Recht auf beste Bedingun- gen für ein selbstbestimmtes und diskriminierungsfreies Aufwachsen. Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportstät- ten, Vereine und Verbände müssen daher endlich aller- orts zu Orten ohne Homophobie werden. Geradezu alar- mierend ist das vielfach höhere Suizidrisiko von schwulen und lesbischen Jugendlichen im Vergleich zu ihren heterosexuellen Altersgenossen. Die Bundesregie- rung hat uns trotzdem mehrfach mitgeteilt, dass sie hierzu „keinen Handlungsbedarf“ sieht. Wir halten das für einen gesellschaftspolitischen Skandal. Obwohl vom Bundestag schon 2005 beschlossen, gibt es immer noch keine Studie, die ein umfassendes Ge- samtbild über die Lebenslagen homosexueller Jugendli- cher liefert. Die beiden zuständigen CDU-Jugendminis- terinnen sind in dieser Hinsicht sechs Jahre lang untätig geblieben. Ich fordere Ministerin Schröder auf: Erleben Sie end- lich Ihr jugendpolitisches Coming-out, und werden Sie aktiv! Sie müssen Ministerin für alle Jugendlichen in diesem Land sein, nicht nur für die heterosexuelle Mehr- heit. Es wäre schön, wenn infolge unserer Initiativen end- lich ein Umdenken beginnen würde. Frau Schröder ant- wortete mir dieser Tage, dass die Regierung eine Mach- barkeitsstudie zur Studie prüfe. Wir hoffen, dass sie dabei bald zu einem positiven Ergebnis kommt und den Widerstand gegen eine fundierte Datenbasis aufgibt. Eine breit angelegte bundesweite wissenschaftliche Stu- die zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher muss neben einem aktuellen Gesamtbild auch Hand- lungsempfehlungen zur Überwindung homosexuellen- feindlicher Einstellungen beinhalten. Hierbei sollten un- ter anderem Formen und Orte der Diskriminierung, gesundheitliche Belastungen und die Verbreitung homo- phober Einstellungen eine Rolle spielen. Es darf nicht sein, dass schwule, lesbische und trans- sexuelle Jugendliche ausgeblendet bleiben. Damit sie als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft aner- kannt und akzeptiert werden, bedarf es eines umfangrei- chen Handlungs- und Aktionsplans von Bund und Län- dern. Unser Antrag zeigt hierzu verschiedene wirksame Maßnahmen auf: Es ist unerlässlich, eine umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit zu ver- ankern und die wenigen sowie mit mickrigen 200 000 Euro völlig unterfinanzierten Angebote im Kinder- und Jugendplan des Bundes systematisch auszubauen. Ju- gendliche benötigen bundesweit flächendeckend Bera- tungsstellen, in denen sie konkrete Unterstützung, An- sprechpartner und Vertrauenspersonen finden. Gegen Herabwürdigungen und Mobbing braucht es nachhal- tige Präventionsstrategien, die gemeinsam mit den Län- dern ergriffen werden müssen. Wir brauchen in allen Bundesländern verbindliche Rahmenrichtlinien, damit in Bildungs- und Jugendeinrichtungen die Vielfalt der sexuellen Identitäten vermittelt wird. Lehrer und Ju- gendleiter müssen in ihrem Studium und in Weiterbil- dungen für sexuelle Vielfalt und den Umgang mit Homo- sexualität sensibilisiert werden. Auch die verschiedenen Medien bis hin zu Schulbuchverlagen sind dazu aufge- fordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden und unter anderem über die Vielfalt der Fami- lienformen, verschiedene sexuelle Identitäten sowie die Geschichte der Homosexuellenverfolgung und -bewe- gung in Deutschland zu informieren. Der nationale Inte- grationsplan ist um interkulturelle Angebote zu den The- men sexuelle Vielfalt sowie Homo- und Transphobie zu erweitern. Dazu gehören auch Angebote für schwule und lesbische Jugendliche mit Einwanderungsge- schichte, deren Familien zum Beispiel aus Herkunftslän- dern mit Homosexuellenverfolgung stammen. Sie sind als Migranten und Homosexuelle von doppelter Diskri- minierung bedroht - das muss sich endlich ändern. Not- wendig sind zudem zusätzliche zielgruppengerechte In- formationen und Angebote für alle Jugendlichen und ihre Angehörigen. Dafür müssen in der Bundeszentrale für politische Bildung, der Bundeszentrale für gesund- heitliche Aufklärung, dem Bundesfamilienministerium sowie den schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechts- verbänden Ressourcen zur Verfügung gestellt und krea- tive Strategien gegen Homophobie etabliert werden. Es gibt also noch viel zu tun, damit sich Jugendliche problemlos und sorgenfrei outen können. Die Bundes- regierung muss sich den genannten Herausforderungen endlich bewusst werden und dementsprechend handeln!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4954, den Vizepräsident Eduard Oswald Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/4546 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio- nen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Regierungsbank weise ich darauf hin, dass wir gerne die Abstimmungen konzentriert zu Ende führen wollen. Ich wollte damit nur darauf aufmerksam ma- chen, dass die Regierungsbank noch besetzt ist. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Bollmann, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zeitnahe Information des Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsordnung - Drucksache 17/5898 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Marco Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wertstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung - Drucksachen 17/5484, 17/5886 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Horst Meierhofer Dorothea Steiner Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, liegen bei uns vor. Sie sind damit einverstanden.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Antrag der SPD „Zeitnahe Information des Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung“ kann kurz und knapp festgehalten werden: Niemandem ist verboten, sich bei den Beteiligten über ebendiese Ergebnisse des sogenannten Planspiels kundig zu machen, und ganz sicher werden weder die Bundesregierung noch die Länder noch die Kommunen noch die Verbraucher- und Umweltverbände noch die Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft noch der Handel und die Industrie die Auskunft darüber verwehren, wie sie diesen Prozess und die Ergebnisse beurteilen. Zudem ist das BMU für die SPD auch nach dem Abgang des Kollegen Gabriel nach wie vor auskunftsbereit, gerade in der Abteilung Abfallwirtschaft, wie wir alle annehmen dürfen. Ist es nicht überhaupt vornehmste Aufgabe der Parlamentarier, sich nicht alles von der Regierung vorsetzen zu lassen, sondern eigene Bewertungen vorzunehmen, um diese der Regierung mitzuteilen als den Willen der vom Volk gewählten Vertreterinnen und Vertreter? Und ist dies nicht noch weit mehr die Aufgabe der Opposition, zumal aus den Reihen der beantragenden Fraktion mit dem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier und dem Parteivorsitzenden Gabriel, gerade zwei ehemalige Kabinettsmitglieder, einer zudem mit unmittelbarer Verantwortung als hier zuständiger Umweltminister? Offen gesprochen verstehe ich die Befassung des Parlaments in Form eines Antrages hier nicht. Es gibt wirklich wichtigere und gehaltvollere Anträge als die Bitte um bereits gegebene Information wie im zuständigen Fachausschuss des Parlaments, die sicherlich unter dem neuen Bundesumweltminister Röttgen weit offener gehandhabt wird als unter seinem Vorgänger Gabriel und dessen Staatssekretären. Zur Sache selbst darf ich anführen, dass ich über erste Kenntnisse und Bewertungen des Planspiels beim UBA in Dessau aus diesen Tagen schon verfüge - und dass ich mir diese Informationen als Teil meiner parlamentarischen Arbeit geholt habe, so wie dies andere sicherlich auch tun können. Dass neben den politisch realistischen und praktisch umsetzbaren beiden Modellen beim Planspiel zur Wertstofftonne auch noch die „Wolkenschieber-Modelle“ einer Vollprivatisierung oder Vollkommunalisierung geprüft werden sollen, reiht sich in diese seltsame Antragstellung der SPD ein. Warum sollen wertvolle Ressourcen und viel Zeit von Experten und Betroffenen in die Evaluierung von Modellen gesteckt werden, die mutmaßlich nie zum Tragen kommen? Als Abgeordneter mit einem vollen Kalender verstehe ich sehr gut, dass von den Beteiligten aus den Modellen diejenigen für ein Planspiel ausgewählt wurden, die eine Basis für eine zukünftige Regelung zum Wohle aller bilden können. Dass es dabei ein „Hauen und Stechen“ um Platzvorteile bei der Verteilung von Wertstoffen geben wird, ist angesichts der veränderten Rohstoffbasis und der zu erwartenden Gewinne und zähen Verteidigung von Marktpositionen keine Überraschung mehr; das haben wir jedes Mal erleben müssen, wenn wir bei der Verpackungsverordnung im Dschungel der Interessen von Handel, Kommunen und Entsorgern die Kämpfe um den Müll und dessen möglichst preisgünstiger Entsorgung gesehen haben. Während die einen die anderen bei den Preisen drücken, um Margen zu optimieren, und die anderen um ihre angestammten oder angestammt geglaubten Plätze in der Stoffstromwirtschaft kämpfen, muss niemand befürchten, dass der Bundestag und diese Bundestagsmehrheit eine vollstaatliche oder marktradikale Lösung tragen werden. Wir werden im Umweltausschuss, mit den Ländern und Kommunen sowie mit den Betroffenen und Beteiligten den bereits begonnen Dialog eng halten, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kommen. Allerdings rate ich zu Sachlichkeit statt zu Panik: Das Planspiel ist ein Plan und ein gedankliches Spiel, keine Ergebnisvorwegnahme. Entscheiden wird nicht eine Abteilung im BMU, sondern der Bundestag gemeinsam mit dem Bundesrat. Wie wir alle wissen, bilden das BMU in seiner neuen Führung und zudem unser föderaler Mechanismus solide Grundlagen dafür, dass zur Panik über angeblich nicht erfolgende Unterrichtung nun in der Tat kein Grund besteht. Die Erörterungen lassen sich nach meinen Informationen gut an, bei bekannt unterschiedlichen Positionen der Beteiligten. Nichts Neues unter der Sonne in Dessau. Bis Jahresende wird jeder, der wissen will, wie es wirklich war, dies auch wissen können - inklusive der Kolleginnen und Kollegen von der Partei, die bis vor kurzem noch den Bundesumweltminister stellte. Ich wünsche uns allen den Fleiß und die Gelassenheit, um dies ohne große Anträge auf Selbstverständlichkeiten im Plenum zu erreichen. Ich helfe gerne dabei mit, dass alle den notwendigen Informationsstand erhalten.

Gerd Bollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003508, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Umsetzung und Durchführung des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung verwundert mich sehr. Im Rahmen der 5. Novelle der Verpackungsverordnung wurden die unterschiedlichsten Möglichkeiten, insbesondere bezüglich Organisation und Zuständigkeit, kontrovers diskutiert. Genau wie bei der heutigen Diskussion um das Kreislaufwirtschaftsgesetz vertraten Kommunen und öffentlich-rechtliche Entsorger einerseits und Teile der privaten Entsorgungswirtschaft andererseits unterschiedliche Positionen. In der teilweise heftig geführten Diskussion gab es aber einen Konsens: Sämtliche Modelle sollten in einem Planspiel vorbehaltlos untersucht werden. Alle Beteiligten haben sich in den damaligen Gesprächen dafür ausgesprochen, dass alle, auch unkonventionelle, neue Modelle überprüft werden sollen. Dies hatte das Bundesumweltministerium damals zugesagt. Das Gegenteil ist aber jetzt passiert. Das Bundesumweltministerium hatte Gutachten über vier mögliche Modelle zur Zuständigkeit einer Wertstofftonne vergeben. Beim Planspiel werden aber nur zwei Modelle untersucht. Die Gutachter stellten zum Modell 4, Wertstofftonne in kommunaler Trägerschaft, fest, dass dieses Modell eine Überlegung zu einer grundlegenden Neuorientierung der Abfallwirtschaft darstellt. Daher, so die Gutachter, müsse es noch weiter konkretisiert und geprüft werden. Und genau dies müsste in dem Planspiel passieren. Neue Wege sollten überprüft werden und nicht nur die Auswirkungen eines Weiter-so, verbunden mit weiteren Privatisierungen. In der jetzt durchgeführten Form ist das Planspiel keine vorurteilsfreie Prüfung, sondern ein Placebo, mit welchem Teile der Regierungsparteien ihre Privatisierungspläne in der Entsorgungswirtschaft tarnen. Es ist ähnlich wie bei der Novelle der Kreislaufwirtschaft und des Abfallrechts. Öffentlich wird erklärt, die Daseinsvorsorge der Kommunen soll gestärkt werden, in Wirklichkeit findet genau das Gegenteil statt. Meine Damen und Herren von FDP und Union, es ist Ihr gutes Recht, sich für eine weitere Privatisierung der Hausmüllentsorgung einzusetzen. Aber dann sagen Sie ehrlich, was Sie anstreben. Hören Sie auf, zu behaupten, Ihre Pläne in der Abfallpolitik führen zu einer Stärkung der kommunalen Zuständigkeit. Noch ein kurzes Wort zu unserem zweiten Antrag zur zeitnahen Information des zuständigen Ausschusses über die Ergebnisse des Planspiels. Eigentlich sollte dies selbstverständlich sein. Die bisherigen Äußerungen aus dem Ministerium lassen mich aber das Gegenteil befürchten. Ich hoffe jedoch, dass Sie alle einem Antrag, welcher die Rechte des Parlaments einfordert, zustimmen werden.

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die SPD zeigt mit dem Antrag nur allzu deutlich ihre Scheinheiligkeit: Der Titel ihres Antrags lautet: „Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Werstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung“. Vorurteilsfrei sind sie nicht, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Vor Wochen schon ließ die SPD-Fraktion über eine Pressemitteilung verlautbaren, die künftige Wertstofftonne gehöre in kommunale Zuständigkeit. Sie erwarten mit Ihrer Forderung, dass die Regierung ohne politische Vorgaben ein Planspiel umsetzt und sich nach Beendigung des Planspiels für den sinnvollsten Weg entscheidet. Hiergegen ist ja erst einmal nichts einzuwenden. Nur: Lassen Sie sich an Ihrem Maßstab messen. Sie haben für sich ja schon längst entschieden, wo Sie hinwollen, und zwar ganz unabhängig vom Ausgang von Gutachten, ganz unabhängig von Ressourcenschonung, von mehr Recycling, von mehr Innovationen und ganz unabhängig von der Existenz unseres Mittelstandes. Sie sind dermaßen von Ihrer fixen Idee einer Rekommunalisierung getrieben, dass Sie maßlos über das Ziel hinausschießen. Drei Gutachten hat das Bundesumweltministerium im Vorfeld dieses Planspiels erstellen lassen: Das erste war eine Evaluierung der Verpackungsverordnung, das zweite handelt von der idealen Zusammensetzung einer Wertstofftonne, und das dritte dreht sich um die Möglichkeit der Finanzierung. Im ersten Gutachten wurden zwei empfohlene Modelle für ein mögliches Planspiel vorgeschlagen. Nach dem ersten Modell fällt die Wertstofftonne in die kommunale Hand, nach dem zweiten wird über die Produktverantwortung die Wertstofftonne dem Markt frei zugänglich gemacht. Nun gibt es jede Menge Mischformen, je nachdem, ob öffentlich-rechtliche oder private Entsorger für Erfassung, Sortierung und Finanzierung zuständig sein. Genau diese Mischformen waren nun Gegenstand des letzten Gutachtens, weshalb es naturgemäß zu mehr untersuchten Modellen kam. Das Planspiel konzentriert sich nun auf die beiden Varianten kommunale bzw. private Trägerschaft der Wertstofftonne. Insofern ist selbst die von Ihnen präferierte Lösung Gegenstand des Planspiels. Wir machen damit etwas, was Sie uns umgekehrt sicherlich niemals zugestanden hätten. Zu Protokoll gegebene Reden Ich halte unabhängig davon Ihre Position und totale Befürwortung einer Rekommunalisierung für den falschen Weg in der Abfallpolitik. Erkennen Sie endlich an, dass gerade auch die breit aufgestellte mittelständische Entsorgungswirtschaft für den rasanten Schub im Recycling verantwortlich ist. Hier sind viele kreative, innovative und neue Ideen angesiedelt. Fast alle Sortieranlagen sind in privater Hand. Schlagen Sie nicht den Weg ein, all diese Erfolge kaputtzureden, indem Sie meinen, mit den Kommunen durch Ihr Verhalten schlagkräftige Verbündete und Stimmen zu gewinnen. Es besteht jedenfalls eine Notwendigkeit, das System zu reformieren. Eine Lösung kann nur darin bestehen, einen vernünftigen Ausgleich zwischen kommunalen und privaten Interessen, aber auch zwischen Ressourcenschonung und möglicherweise entgegenstehenden ordnungspolitischen Bedenken zu finden. Uns geht es primär allerdings darum, das System zukunftsfest zu machen. Im Fokus muss dabei die maximal mögliche Wiederverwertung stehen: Weg vom Verbrauch, hin zum Gebrauch. Das Denken in Kreisläufen müssen wir stärken. Der erste Schritt dabei kann nur sein, möglichst viele Materialien aus der Verbrennung herauszubekommen und dem Recycling zuzuführen. Wann ist dies der Fall? Dies ist der Fall, wenn wir über eine einheitliche Wertstofftonne 600 000 Tonnen jährlich mehr in der Wiederverwertung haben. Dabei schaffen wir Einheitlichkeit und Transparenz, indem wir die gelben Tonnen und Säcke abschaffen und eine auf Ressourcenschutz ausgerichtete Wertstofftonne aufstellen. Wie wir die Wertstofftonne organisieren und finanzieren, ist dann natürlich die entscheidende Frage, um die bloße Menge auch tatsächlich in eine hohe Recyclingqualität umzusetzen. Und um das zu erreichen, brauchen wir Wettbewerb und keine Monopole. Wir wollen eine faire Gleichbehandlung. Eigens dafür ist auf unser Drängen die neutrale Stelle in die Gesetzesbegründung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz gekommen. Nur das schafft Wettbewerb. Wettbewerb schafft Umwelt- und Ressourcenschutz. Daraus folgen Marktführerschaft und Arbeitsplätze. Übrigens: Wenn die Kommunalunternehmen das bessere Angebot machen, werden sie auch den Zuschlag erhalten. Von einer „kommunalfeindlichen“ Haltung sind wir meilenweit entfernt; das läge mir als Stadtrat ohnehin fern! Mit Ihrem Denken, sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, sind Sie alle nur davon beseelt, sich gegenseitig in scheinbaren Wohltaten gegenüber den Kommunen zu überbieten. Wir machen einen schwierigen Gesetzgebungsprozess durch, in dem die Interessen der Kommunen genau wie alle anderen Interessen Berücksichtigung finden, und lassen uns vom gesellschaftlichen Interesse leiten. Einen derartigen Ansatz kann ich bei Ihrem Antrag leider nicht erkennen.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die EU-Abfallrahmenrichtlinie legt den Schwerpunkt auf die Abfallhierarchie. Dies bestimmt, dass man erstens Abfall vermeidet. Geht dies nicht, folgt eine nächste Stufe, die beinhaltet wiederverwenden, abgestuft folgen stofflich verwerten und thermisch verwerten und als letze Möglichkeit entsorgen. Damit sollen zukünftig Kunststoffe, Metalle, Elektronikschrott und andere Abfälle einer besseren Verwertung zugeführt werden, Die aktuellen Verwertungsquoten zeigen auch in Deutschland: Hier besteht noch ein beträchtliches Potenzial. Zur Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie setzt die Regierung auf Wertstofftonnen. Es soll das beste System gefunden werden. Scheinbar objektiv wurden vier Modelle der Sammlung, der Verwertung und der Trägerschaft diskutiert. Keines der Modelle betrachtete jedoch ein System, welches die Verantwortung in öffentlicher Hand sieht. Drei rein privatwirtschaftliche Modelle wurden betrachtet und ein Modell mit kommunaler Beteiligung. Jetzt wurde die Betrachtung auf zwei Modelle reduziert, FDP-mäßig blieben nur rein private Modelle übrig. Gegen diese Reduzierung der Betrachtung steht der Antrag der SPD. Das duale System ist ein Erfolg, deshalb muss die Wertstofferfassung privatisiert werden. So die Regierung. Für wen ist das duale System ein Erfolg? Für den Bürger - nein. Statt mit der Müllgebühr die Entsorgung zu bezahlen, zahlt er diese jetzt bereits an der Ladentheke. Zusätzlich zu den Gewinnen aus der Thekengebühr kassieren die privaten Entsorger gute Gewinne aus der Verwertung der Verpackungen. Jetzt sollen noch die Wertstoffe aus den Mülltonnen in die Wertstofftonnen und damit zu den privaten Entsorgern. Die Einnahmen für diese zusätzlichen Wertstoffe kassiert wer? Klar, die privaten Entsorger. Die Müllabfuhr bleibt jedoch bei den Kommunen. Bisher flossen die Erlöse aus verwertetem Müll an die Kommunen und senkten die Müllgebühren. In meinem Thüringer Wahlkreis beträgt die Entlastung zum Beispiel durch Altpapier und Metallschrottverkauf etwa 10 Prozent. Fehlen den Kommunen die Wertstoffe im Abfall, so werden die Müllgebühren trotz geringerer Müllmenge steigen. Das alte Spiel läuft - Gewinne werden privatisiert, Verluste zahlen die Bürger. Das lehnt die Linke ab. Wir befürworten dagegen die Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie mit kommunaler Verantwortung. Die Erfassung aller Abfälle und Wertstoffe liegt dann in der Hand der Kommunen. Dies geschieht über die bereits eingeführten Systeme für den gelben Punkt für Papier, Glas und Restmüll. Zusammen mit dem gelben Punkt werden zukünftig auch alle anderen Kunststoffabfälle von Kommunen erfasst. Metalle werden bereits heute sicher aus dem Restmüll aussortiert. Da muss man nichts Neues, Teures erfinden. Für Elektronik ist ein Pfandsystem einzurichten. Kaufe ich ein Mobiletelefon, dann bezahle ich zum Beispiel 5 Euro Pfand. Dieses Pfand erhalte ich bei der Abgabe des Gerätes in kommunalen Wertstoffhöfen zurück. Diese entscheiden dann, ob sie selbst oder Dienstleister die Entsorgung entsprechend der Abfallhierarchie übernehmen. Mit unserem System verbleiben die Gewinne Zu Protokoll gegebene Reden aus den Wertstoffen bei den Kommunen und damit bei den Bürgern. Für die Linke gehört die Abfallwirtschaft als Teil der Daseinsfürsorge zur öffentlichen Hand. Es wurden den Konzernen schon viel zu viele öffentliche Aufgaben überlassen, die dann ihre Profite auf Kosten der Bürger maximierten. Weil der Antrag der SPD zum Planspiel aber immerhin ein Modell unter Beteiligung der Kommunen einbezieht, stimmen wir mit Enthaltung. Den Antrag der SPD nach einer möglichst zeitnahen Veröffentlichung der gewonnen Informationen unterstützen wir. Wir meinen: Transparenz ist eine der Grundvoraussetzungen für eine Demokratie überhaupt. Um es nicht zu Missverständnissen kommen zu lassen: Wir unterstützen damit nicht das Planspiel, sondern ausschließlich die Forderung nach Einhaltung demokratischer Gepflogenheiten.

Dorothea Steiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004166, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine moderne Abfallpolitik muss an Ressourceneffizienz und hohen ökologischen Anforderungen ausgerichtet sein. Nur so kann die deutsche Vorreiterrolle in Abfallwirtschaft und -technologien in Europa und der Welt langfristig erhalten und ein Innovationsschub für die deutsche Wirtschaft hin zu einer stärkeren Ressourcenorientierung erreicht werden. Wir müssen weg von einer Einwegwirtschaft, die der Erde in großen Mengen Rohstoffe entnimmt und diese nicht wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückführt. Die Auswirkung dieser Wirtschaftsweise ist vor allem aus Sicht des Umweltund Klimaschutzes fatal. Es braucht Regelungen, die sowohl bei den Verpackungen als auch bei den Produkten selbst ansetzt. Die Verpackungsverordnung kämpft jedoch seit Jahren mit gravierenden Problemen. Ziel der Produktverantwortung ist es eigentlich, hohe Recyclingstandards in Verantwortung der Hersteller zu erreichen. Die jetzige Praxis ist nicht nur sehr teuer, sie erreicht zudem weder hohe ökologische Standards bei der Wiederverwertung der Verpackungen noch ist wirklich nachvollziehbar, was letztlich mit den Verpackungen geschieht. Immer weniger Verpackungen werden lizenziert - was mit dem Rest passiert, ist völlig unklar. Auch die diversen Müllskandale der letzen Jahre und unzählige Gerichtsverfahren zeigen: Hier besteht dringender Handlungsbedarf durch bessere gesetzliche Regelungen. Dass die Verpackungsverordnung dringend und umgehend novelliert werden muss, steht für mich außer Frage. Dabei soll nach Vorstellungen der Bundesregierung auch die Einführung der Wertstofftonne festgeschrieben werden. Wir fordern seit langem die zeitnahe flächendeckende Entwicklung einer leicht verständlichen und somit verbraucherfreundlichen Wertstoffsammlung in Deutschland. In diesem Zusammenhang ist es für mich völlig unverständlich, warum die Überlegungen der Bundesregierung zur Wertstofftonne nicht bereits viel weiter fortgeschritten sind. Schon im Koalitionsvertrag wurde die Prüfung der Einführung der Wertstofftonne versprochen. Es gibt wertvolle Erfahrungen aus Pilotprojekten in zahlreichen Städten und Kommunen. Diese wurden jedoch nie systematisch ausgewertet, um zu sehen, welches Modell sich am besten bewährt. Die Einführung der Wertstofftonne könnte und müsste meiner Ansicht nach bereits im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz geregelt werden, das sich derzeit im Bundesrat befindet. Im Gesetzentwurf steht bisher nur eine Ermächtigungsgrundlage. Der Vorschlag zur zukünftigen Ausgestaltung der Verpackungsverordnung soll nach Vorstellung der Bundesregierung auf Grundlage des Planspiels des Umweltbundesamtes erarbeitet werden. Es steht für mich völlig außer Frage, dass die Ergebnisse des Planspiels umgehend an den Bundestag weitergeleitet werden müssen, wie von der SPD in ihrem Antrag gefordert. Denn über die neue Verpackungsverordnung wird nicht alleine die Bundesregierung entscheiden, sondern auch der Bundestag. Frühzeitige Information ist für mich daher eine Selbstverständlichkeit. Auch ist völlig klar: Das Planspiel muss alle Optionen der Wertstoffsammlung prüfen - nicht nur die der Bundesregierung genehmen -, also auch: Erfassung aller Wertstoffe - auch Verpackungen - unter kommunaler Kontrolle. Ergebnisoffenes Planspiel muss heißen: Alle Möglichkeiten werden geprüft. Sonst ist das Ergebnis wenig aussagekräftig. Ich würde aber noch weiter gehen als die SPD in ihren Anträgen und fragen: Warum sollen so viele wichtige Entscheidungen zur Zukunft der Abfallpolitik per Regierungsverordnung festgelegt werden und nicht im Abfallgesetz, wo sie einem demokratischen Prozess mit Beteiligung unterliegen würden? Diese Frage wird uns sicherlich auch bei unseren Diskussionen zum neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz beschäftigen. Der Bundesumweltminister verspricht immer gerne einen Aufbruch hin zu mehr Ressourceneffizienz. Die Einführung der Wertstofftonne ist nur ein Beispiel, wo es die Bundesregierung aber völlig verschlafen hat, rechtzeitig praktikable und ambitionierte Konzepte zu erarbeiten, die mehr wertvolle Rohstoffe in die Wirtschaft zurückführen. So werden Chancen für mehr Umwelt- und Klimaschutz leichtfertig vertan. Wir können gespannt sein auf die kommenden Monate, in denen das neue Abfallrecht in Bundestag und Bundesrat debattiert wird.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5898 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie alle sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Tagesordnungspunkt 22 b. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5886, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5484 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? Vizepräsident Eduard Oswald - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens - Drucksache 17/5775 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Reden werden zu Protokoll genommen; so war es auch in der Tagesordnung ausgewiesen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Syrer haben keine Angst mehr. In den Städten Hama, Banias, Homs und Latakia gehen sie auf die Straße, um gegen das sozialistische Baath-Regime unter Baschar al-Assad zu demonstrieren. Sie tun dies in aller Öffentlichkeit - sie demonstrieren für ihre Freiheit vor der Weltöffentlichkeit. In der zentralsyrischen Stadt Hama fanden in den ersten drei Februarwochen im Jahr 1982 schwere Häuserkämpfe zwischen der syrischen Armee und der rebellierenden Bevölkerung statt. Das Baath-Regime unter Präsident Hafis al-Assad rächte sich an den Aufständischen, indem die Stadt erst mit Granaten beschossen und dann die Stadtteile von Bulldozern eingeebnet wurden. Obwohl das Hama-Massaker weltweite Aufmerksamkeit fand, gelang es dem syrischen Regime, die Zahlen der Opfer und den genauen Hergang zu verschleiern. Auch Hafis al-Assads Sohn Baschar al-Assad will heute seine Macht sichern, indem er wie sein Vater Sicherheitskräfte in die aufständischen Städte schickt. Sie sollen die friedlichen Demonstrationen auflösen. Doch ihm gelingt es nicht, den Einsatz der Sicherheitskräfte zu verschleiern. Das Verhalten der Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler gegen die Bevölkerung wird heute dokumentiert durch Tausende Tweets, durch Fotos und Filme, die mit Mobiltelefonen aufgenommen werden. Sie sind ein Zeugnis für die Angst des Regimes vor der eigenen Bevölkerung, vor den Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten. Die Bilder und Filme zeigen gleichzeitig, dass die Syrer keine Angst mehr haben. Wir sehen, dass der Aufbruch in der arabischen Welt auch vor dem Polizeistaat Syrien nicht haltmacht. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verfolgen das Vorgehen des sozialistischen Baath-Regimes in Syrien mit großer Sorge. Wir verurteilen das gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung die Wahrung der Menschenrechte auf das Schärfste einfordern. Das syrische Regime muss sofort die Übergriffe gegen Demonstranten einstellen. Diejenigen, die für die Toten und Verletzten verantwortlich sind, müssen sich vor Gericht verantworten. Doch die Demonstrationen und die Reaktion des Baath-Regimes können nicht dazu führen, den deutsch-syrischen Vertrag über die Rückkehr von syrischen Staatsbürgern aufzukündigen oder auszusetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung der Bundesregierung, dass gegenwärtig aus asylpolitischer Sicht die allgemeine Lage in Syrien nicht neu beurteilt werden muss. Es gibt gegenwärtig keine Anhaltspunkte, dass Rückkehrer von den syrischen Behörden als oppositionelle Regimegegner betrachtet werden. Die Sicherheitsapparate des Regimes richten sich gegen die aufständische, innerstaatliche Opposition. Wir wissen, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Syrien von staatlichen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund der Abschiebung befragt werden. Danach wird ihnen die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten gestattet. Es gibt lediglich Berichte, dass in vereinzelten Fällen Rückkehrer für die Dauer einer Identitätsüberprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten werden. Die Pflichten zur Ausreise durchzusetzen, gehört zu den zentralen Aufgaben der Ausländerbehörden in den Bundesländern und Kommunen. Es ist notwendig, dass die Bundesrepublik die Zuwanderung nach Deutschland steuert und Ausländer zu einer Rückkehr bewegt, die sich entweder illegal in unserem Land aufhalten oder bei denen absehbar ist, dass sie kein Recht haben, auf Dauer in Deutschland zu leben. Dies dient in allererster Linie der Integration der rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer. Aus diesem Grunde hat die Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse daran, dass Ausländer in ihre Heimatstaaten zurückkehren, die nicht nur unseren Staat über viele Jahre hohe Sozialausgaben gekostet haben, sondern die auch ein Kriminalitätsrisiko darstellen. Wir haben ein nicht geringes Interesse daran, dass diese Menschen - unter Beachtung der humanitären und Menschenrechtsstandards - wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren. Um es deutlich zu sagen: Oppositionelle oder politisch Verfolgte, die in Deutschland politisches Asyl beantragt haben, müssen nicht nach Syrien zurückkehren. Grundsätzlich gilt, dass Ausländer Asyl in der Bundesrepublik erhalten, wenn ihnen in ihrer Heimat die politische Verfolgung, konkrete Gefahren für Leib und Leben oder die Folter drohten. In der Überprüfung eines Asylantrages berücksichtigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg immer auch die allgemeine Menschenrechtslage im dem jeweiligen Herkunftsland. Auch ausreisepflichtige syrische Staatsbürger - also Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde - sind in Deutschland ohne eine Aussetzung oder gar eine Aufkündigung des Abkommens ausreichend geschützt. Denn die zuständigen Behörden in den Bundesländern und in den Kommunen vergewissern sich in jedem einzelnen Fall, ob aufgrund der aktuellen Lage in Syrien eine Abschiebung nach dem Aufenthaltsgesetz ausgesetzt werden muss. Die Zustimmung des Bundesinnenministeriums ist erst dann einzuholen, wenn ein Bundesland einen Abschiebungsstopp von mehr als sechs Monaten anordnen will. Doch hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei einer Eskalation der humanitären oder politischen Situation in Syrien die Kompetenzen, auch kurzfristig Entscheidungen über die Rückkehrpflicht nach Syrien auszusetzen. Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist schlicht erschreckend, wenn man die Auslandsseiten der Tageszeitungen aufschlägt oder die Nachrichten einschaltet und sieht, wie die Menschen bei friedlichen Demonstrationen für mehr Demokratie in Syrien angegriffen, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet werden. Menschenrechtsorganisationen gehen heute davon aus, dass in Syrien seit Anfang März, also dem Beginn der Demonstrationen, über 1 000 Menschen getötet wurden. Die meisten Demonstranten waren dabei unbewaffnet. Zudem werden circa 8 000 Menschen nach Aussagen der syrischen Opposition vermisst. Das nenne ich mehr als nur eine Zuspitzung der Situation in Syrien. Von daher begrüßen wir als SPDFraktion ausdrücklich den vorliegenden Antrag der Grünen, das seit Januar 2009 bestehende Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und Syrien unverzüglich auszusetzen und Abschiebungen nach Syrien sofort zu stoppen. Angesichts der Bilder, die uns aus Syrien täglich erreichen, ist das in meinen Augen mit sofortiger Wirkung umzusetzen. Wir brauchen jetzt eine eindeutige Botschaft an die Regierung in Damaskus. Systematische Menschenrechtsverletzungen, wie sie in Syrien geschehen, dürfen wir nicht hinnehmen. Daher begrüße ich das Engagement deutscher Diplomaten, gemeinsam mit Großbritannien, Frankreich und Portugal eine Resolution in den UN-Sicherheitsrat einzubringen, die das Verhalten des syrischen Regimes scharf verurteilt. Gleichzeitig muss aber auch das Rückübernahmeabkommen ausgesetzt werden; sonst macht sich Deutschland angesichts der jetzigen diplomatischen Bemühungen auf internationaler Ebene wieder einmal unglaubwürdig. Einerseits setzen wir uns für eine Resolution ein, andererseits schieben wir aber nach Syrien ab - wohl wissend, was an Qual und möglicher Folter dort bevorsteht. Deutschland benötigt hier eine eindeutige Linie. Darum unterstützen wir den vorliegenden Antrag und können Sie von den Koalitionsfraktionen nur auffordern, nachzuziehen. Denn auch die EU hat bereits Konsequenzen gezogen und für Präsident Baschar al-Assad ein Einreiseverbot in die EU und obendrein die Sperrung seiner Konten veranlasst - höchste Zeit auch für Deutschland, zu handeln. Angesichts von Massakern an Demonstranten oder der Inhaftierung von Menschenrechtsaktivisten dürfen in unseren Augen Abschiebungen aktuell nicht durchgeführt werden. Wenn ich allein an einen Artikel von heute aus dem „Tagesspiegel“ denke, in dem beschrieben wurde, wie syrische Sicherheitskräfte von Augenzeugen dabei beobachtet wurden, mit Leichen gefüllte Container im Meer versenkt zu haben, oder dass bereits erste Massengräber in der Unruheprovinz Daraa entdeckt wurden, wird mir schlecht. Wir können nicht sehenden Auges syrische Staatsbürger zurückschicken und sie diesen Gewalttätigkeiten, Verhaftungen und Tötungen aussetzen. Angesichts der aktuellen Menschenrechtslage und der ungeklärten weiteren Entwicklung sind Abschiebungen derzeit nicht zu verantworten. Gleichzeitig stellt sich für mich aber auch die Frage, ob und inwiefern die Innenministerien der Länder von der Möglichkeit Gebrauch machen, Abschiebungen vorübergehend auszusetzen, bis sich die Lage vor Ort geklärt hat. Da würde mich einmal interessieren, wie hier die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den Ländern im Konkreten aussieht. Die Entwicklung in Syrien wie in den anderen von Unruhen erschütterten nordafrikanischen Staaten macht uns aber auch noch etwas anderes sehr deutlich, nämlich: Deutschland darf nicht wegschauen, wenn Hunderttausende auf der Flucht sind. Derzeit sind insbesondere Tunesien und Ägypten vom Flüchtlingsstrom betroffene Staaten, die dringend unsere Unterstützung beim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau benötigen. Deutschland steht in der Verantwortung. Ein starkes Signal wäre jetzt, ein Resettlement-Programm aufzulegen. Das wäre ein gutes Signal, auch an die Demokratiebewegungen in Nordafrika, dass Deutschland sie nicht im Stich lässt.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vor Jahresfrist habe ich an dieser Stelle festgestellt: Die Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben; die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausgesetzt. Dies hat die Bundesregierung ebenso wie ihre Vorgängerin deutlich benannt. Inzwischen hat sich die Lage dramatisch verschärft. Die syrische Regierung bekämpft ihr eigenes Volk. Deshalb hat der Bundesinnenminister den zuständigen Ländern empfohlen, derzeit nicht nach Syrien abzuschieben. Mehr kann auch eine „Aussetzung des Abkommens“ nicht bewirken. Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des Bundesinnenministers. Das Abkommen war bereits in Zeiten der Verhandlung heftiger Kritik ausgesetzt. Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen nach Syrien schon früher generell abgelehnt. Die Vorgängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier hat sich dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden. Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instrument des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu effektivieren. Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blankoschecks für die Ausländerbehörden; vielmehr ist weiterhin - wie immer - genau zu prüfen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Gewährung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur Ausreise verpflichtet ist. Für einen Abschiebestopp sind in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig. Zu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) Generelle Abschiebestopps können auch nur ein letztes Mittel für eine besonders eskalierte Situation sein. Der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise aufgrund der in Syrien tatsächlich zugespitzten Situation die Länder gebeten, von Abschiebungen nach Syrien derzeit abzusehen. Wir werden selbstverständlich die Menschenrechtslage in Syrien weiterhin kritisch und regelmäßig beobachten und, wenn nötig, entsprechend reagieren. Die Grünen fordern wie schon in ihrem letzten diesbezüglichen Antrag, dass das Schicksal der bisher nach Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung aufgeklärt wird und der Bundestag darüber unterrichtet wird. Das ist selbstverständlich und, soweit bislang möglich, auch schon geschehen, und es gibt keinen Grund, dies nicht auch fürderhin zu tun. Auch wünschen die Grünen zum wiederholten Male, die Bundesregierung möge die Erkenntnisse über den Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Anerkennungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu ist erneut zu sagen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien in die Bewertung mit einbezogen. Ob das permanente Wiederholen von sachlich unstrittigen und gegenstandslosen Anträgen sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Inhaltlich sind das Schaufensterforderungen, die durch den Bundesinnenminister im Ergebnis längst berücksichtigt werden und keiner weiteren Erörterung bedürfen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jeden Tag erreichen uns derzeit neue Schreckensmeldungen aus Syrien. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sind dort seit Anfang März 900 Menschen von Sicherheitskräften des Regimes ermordet worden. 9 000 sitzen in Gefängnissen, wo ihnen Folter und Misshandlung drohen. Derzeit ist nicht absehbar, wie die Eskalation zwischen dem Regime in Damaskus und der Opposition ausgehen wird. Leider ist diese Entwicklung alles andere als überraschend. Folter, Misshandlungen und das Verschwindenlassen von missliebigen Personen sind in Syrien schon seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Unter dem Siegel der nationalen Einheit werden insbesondere die Kurdinnen und Kurden im Nordosten des Landes entrechtet. Hunderttausende haben keine Staatsangehörigkeit; sie werden enteignet und vertrieben. Opposition dagegen wurde schon immer mit den Mitteln eines Geheimdienstund Folterstaates unterdrückt. Das alles hat aber die Bundesregierung nicht davon abgehalten, mit diesem Staat ein Abkommen über die sogenannte Rücknahme von Menschen aus Syrien - ob mit oder ohne Staatsangehörigkeit -, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten, abzuschließen. Die Logik dahinter: Wer in Deutschland nicht als Flüchtling anerkannt wurde, der braucht auch keine Befürchtungen zu haben, nach seiner Rückkehr verfolgt zu werden. Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigen die zahlreichen Beispiele von abgeschobenen Syrerinnen und Syrern und staatenlosen Kurdinnen und Kurden aus Syrien, die nach ihrer Abschiebung vom Sicherheitsdienst inhaftiert, zum Teil auch gefoltert wurden. Abschiebungen nach Syrien sind also schon immer ein Malus in der Menschenrechtsbilanz der Bundesregierung. Zu dieser Feststellung kommt auch ein aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Das Gericht hat mit Urteil vom 6. Mai dieses Jahres die Abschiebung eines Kurden wegen der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten. Das Gericht stützt sich auf mehrere Argumente: Schon vor Beginn der aktuellen Auseinandersetzungen sei es in Syrien zu willkürlichen Verhaftungen gekommen, wobei sich kein Verfolgungsmodus erkennen lasse. Mit anderen Worten: Bei keinem der ausreisepflichtigen Menschen aus Syrien in Deutschland lässt sich mit Sicherheit sagen, dass sie im Einzelfall vor Verfolgung sicher sind. Das Gericht führt weiter aus, dass sich die Lage nach Ausbruch der Unruhen noch weiter verschärft hätte, der Kläger in diesem Fall also noch mehr als zuvor aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seines in Deutschland betriebenen Asylverfahrens gefährdet sei, Opfer willkürlicher Verhaftung und menschenrechtswidriger Behandlung in der Haft zu werden. Vor diesem Hintergrund will ich für die Fraktion Die Linke ganz klar sagen: Die einfache Aussetzung des Rückübernahmeabkommens reicht nicht aus; es muss umgehend gekündigt werden. Und selbst das reicht nicht aus. Wie aus den Zahlen hervorgeht, die meine Fraktion bei der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage erfragt hat, finden nur die Hälfte aller Abschiebungen nach Syrien auch tatsächlich unter Rückgriff auf das Abschiebeabkommen statt. Demnach scheint es so zu sein, dass gerade die Staatenlosen auf dem üblichen Wege ins Flugzeug gesetzt und nach Damaskus verfrachtet werden. Einen ausreichenden Schutz gibt es nur, wenn die Betroffenen ein Bleiberecht erhalten. Denn allen, die ja als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind, droht bei einer Rückkehr das gleiche Schicksal, wie es das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil beschrieben hat. Der Antrag der Grünen geht an dieser Stelle aus unserer Sicht nicht weit genug. Auch die anderen Forderungen des Antrags beschreiben nur, was bereits getan wird oder wozu die Behörden ohnehin verpflichtet sind. So soll das Bundesamt in seiner Entscheidungspraxis berücksichtigen, wie der Umgang mit Abgeschobenen in Syrien ist. Das reicht nicht aus. Das Bundesamt braucht die klare politische Ansage, dass Menschen aus Syrien einen Schutzbedarf haben. Sie haben ein Recht auf eine sichere Bleibeperspektive in Deutschland, wo mehr als zwei Drittel von ihnen seit über sechs Jahre leben. Dafür wird sich die Linke weiterhin einsetzen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Menschenrechtssituation in Syrien spitzt sich dramatisch zu. In den letzten Wochen demonstrierten in zahlreichen Städten in Syrien Zehntausende gegen Präsident al-Assad. Dabei kam es auch zu Massakern mit vielen Toten und Verletzen, weil syrische Sicherheitskräfte friedliche Demonstranten angegriffen haben. Zu Protokoll gegebene Reden Viele Oppositionelle wurden inhaftiert. Ihnen drohen Verhöre, Folter und langjährige Haftstrafen. Menschenrechtsorganisationen berichten von mehr als 1 000 Toten, die die Brutalität des syrischen Regimes gegen Oppositionelle bisher gefordert hat. Vor diesem Hintergrund ist es ein menschenrechtlicher Skandal, dass das Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Arabischen Republik Syrien über die Rückführung von illegal aufhältigen Personen weiterhin in Kraft ist. Der vorliegende Antrag fordert daher die sofortige Aussetzung des Abkommens, den Erlass eines förmlichen Abschiebungsstopps für syrische Staatsangehörige und unterstreicht die Notwendigkeit, Erkenntnisse über das Schicksal Abgeschobener bei Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge endlich zu berücksichtigen. Die bisher vom BMI ergriffenen Ad-hoc-Maßnahmen sind der Situation nicht angemessen: Das Bundesministerium des Innern hatte in einem Rundschreiben an die Bundesländer am 28. April 2011 einen Entscheidungsstopp für Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verkündet und weiter erklärt, Abschiebungen nach Syrien seien derzeit nicht „ratsam“. Dies ist kein formaler Abschiebungsstopp, sondern nur eine windelweiche Empfehlung, die überdies nicht gewährleistet, dass die entstehenden Zeiten des Aufenthaltes für die Betroffenen zum Beispiel im Fall künftiger Bleiberechtsregelungen berücksichtigt werden. Schon in der Vergangenheit wurden abgeschobene syrische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr routinemäßig festgenommen und vom syrischen Geheimdienst verhört. Dies musste auch die Bundesregierung in Antworten auf parlamentarische Anfragen zugeben. Umso größer ist die Gefahr für Abgeschobene in der derzeitigen Situation. Angesichts der verstärkten Repression in Syrien können Abschiebungen dorthin längst nicht mehr verantwortet werden. Statt halbherziger Regelungen in einzelnen Bundesländern bedarf es eines klaren Signals vonseiten des Bundes: Das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen ist unverzüglich auszusetzen, und Abschiebungen nach Syrien sind bundesweit sofort zu stoppen. Besonders zu kritisieren ist der von der Bundesregierung verhängte Entscheidungsstopp für Entscheidungen bei syrischen Asylantragstellern. Was soll denn bitte schön noch passieren, damit auch bei der Bundesregierung ankommt, dass das syrische Regime die Menschenrechte mit Füßen tritt? Denn das brutale Vorgehen der syrischen Regierung gegen jedwede Opposition ist doch die Fortsetzung einer langjährigen Politik, die schon immer geprägt war von intensiven Geheimdienstaktivitäten, willkürlichen Inhaftierungen und Folter. Ein bloßer Entscheidungsstopp über Asylanträge ist deshalb nicht akzeptabel. Syrische Asylbewerberinnen und Asylbewerber brauchen jetzt Schutz und eine Perspektive. Bündnis 90/Die Grünen haben schon früh vor den Gefahren für Abgeschobene gewarnt und darauf hingewiesen, dass abgeschobene Personen nach ihrer Ankunft in Syrien Gefahr laufen, inhaftiert und misshandelt zu werden ({0}). Zwischenzeitlich ist die Liste der betroffenen Personen länger geworden. Die Beratungen über unseren erneuten Antrag können ein Anstoß für die Regierungskoalitionen sein, ihre Haltung zur Menschenrechtssituation in Syrien endlich zu ändern. Ich hoffe sehr, dass es im weiteren parlamentarischen Verfahren gelingt, dass die Bundesregierung adäquate Regelungen trifft, darunter den notwendigen förmlichen Abschiebungsstopp und die Aufhebung des Entscheidungsstopps für Asylanträge aus Syrien.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5775 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie alle sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Man wird es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen. ({0}) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Mai 2011, 9 Uhr, ein und würde mich freuen, Sie alle hier wieder begrüßen zu dürfen. Die Sitzung ist geschlossen.