Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
darf Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erheben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste!
Am vergangenen Freitag ist unser früherer Kollege und
Vizepräsident des Deutschen Bundestages Helmuth
Becker gestorben. Er wurde 81 Jahre alt.
Wer Helmuth Becker kennengelernt hat, traf auf eine
außerordentliche Parlamentarierpersönlichkeit. Becker
gehörte als Abgeordneter der SPD ein Vierteljahrhundert
dem Deutschen Bundestag an, dessen Arbeit er von 1969
bis 1994 in wichtigen und herausgehobenen Ämtern mitgeprägt hat. Im Innen- und Sportausschuss sowie im
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat er wichtige Akzente gesetzt. Insbesondere
als langjähriger Parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion ist er im Gedächtnis vieler geblieben.
„Münsterländische Gemütsruhe“ wurde ihm nicht nur
von seiner Heimatpresse bescheinigt, und in der Tat
zeichnete ihn eine wohltuend ausgleichende Art aus, womit er - nicht nur aus der Sicht des politischen Gegners seinen langjährigen Chef Herbert Wehner in der Fraktionsleitung eindrucksvoll ergänzte.
Von 1980 bis 1982 übernahm Helmuth Becker in der
Regierung Helmut Schmidt als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen auch Regierungsverantwortung - eine Aufgabe, die ihn zurück zu seinen beruflichen Anfängen
führte. Denn von 1951 bis zu seiner ersten Wahl in den
Bundestag 1969 war er als Elektroingenieur bei der Bundespost beschäftigt gewesen, wo er sich aktiv für die Interessen der Arbeitnehmer eingesetzt hatte.
Besonders am Herzen lagen Helmuth Becker die Beziehungen zu unserem östlichen Nachbarland. Über
Jahrzehnte setzte er sich in zahlreichen Initiativen und
bei ungezählten Reisen für die Versöhnung zwischen
Deutschen und Polen ein, etwa in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft und in der Deutsch-Polnischen Parlamentariergruppe - ein Engagement, für das er mit der
Ehrendoktorwürde der Universität Breslau ausgezeichnet wurde.
Wir alle, die wir mit ihm zusammenarbeiten durften,
kannten Helmuth Becker als einen Meister des politischen Pragmatismus. Er war über alle Parteigrenzen hinweg sehr geschätzt. Ein waches Gerechtigkeitsempfinden, verbunden mit der Fähigkeit zum Ausgleich und der
Bereitschaft zum Kompromiss, Zuverlässigkeit und
Hilfsbereitschaft zeichneten Helmuth Becker in besonderer Weise aus. Der Respekt und die Anerkennung, die
ihm zuteil wurden, kamen besonders 1990 zum Ausdruck: Damals wählte ihn der erste gesamtdeutsche Bundestag nahezu einstimmig - mit 97 Prozent der abgegebenen Stimmen - zu seinem Vizepräsidenten. Die Wahl
bedeutete die Krönung einer bemerkenswerten Parlamentarierkarriere.
Dem Hohen Haus blieb Helmuth Becker auch nach
seinem Ausscheiden aus dem Parlament eng verbunden,
nicht zuletzt als Präsident der Vereinigung ehemaliger
Mitglieder des Deutschen Bundestages von 1995 bis in
das Jahr 2000.
Mit Helmuth Becker verlieren wir einen leidenschaftlichen Parlamentarier, der sich bleibende Verdienste um
den Deutschen Bundestag, den Parlamentarismus und
die Demokratie in unserem Land erworben hat. Wir werden sein Andenken in Dankbarkeit und Ehren bewahren.
Ich danke Ihnen.
Bevor ich die Abgabe einer Regierungserklärung aufrufe, gibt es einige wenige amtliche Mitteilungen.
Der Kollege Ruprecht Polenz feiert heute seinen
65. Geburtstag. Dazu gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses besonders herzlich.
({1})
Bereits am vergangenen Mittwoch begingen die Kollegin Dr. Martina Bunge und der Kollege Karl
Schiewerling ihre 60. Geburtstage. Auch diesen beiden
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Jubilaren übermittle ich auf diesem Wege noch einmal
alle guten Wünsche.
({2})
Der Kollege Peter Friedrich hat am 23. Mai 2011 auf
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist der Kollege Stefan Rebmann nachgerückt. Für den am 25. Mai 2011ausgeschiedenen Kollegen Alexander Bonde hat der Kollege Harald Ebner die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Im
Namen des ganzen Hauses begrüße ich die neuen Kollegen herzlich und wünsche eine gute Zusammenarbeit.
({3})
Die CDU/CSU-Fraktion teilt mit, dass der Kollege
Ingo Wellenreuther aus dem Kuratorium der Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausscheidet. Als neues ordentliches Mitglied wird die Kollegin
Karin Maag vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen
in der Partei DIE LINKE
({4})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 30
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz ({5}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Notfallplan für die Hochschulzulassung zum
Wintersemester 2011/12 jetzt starten
- Drucksache 17/5899 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Transparenz bei Rückstellungen im Kernenergiebereich schaffen
- Drucksache 17/5901 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schnelles Internet für alle - Flächendeckende
Breitband-Grundversorgung sicherstellen und
Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen
- Drucksache 17/5902 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internet-Telefonie in Afghanistan
- Drucksache 17/5908 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({10})
Auswärtiger Ausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck ({11}), Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
- Drucksache 17/5909 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen
- Drucksache 17/5906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Claudia Roth ({14}),
Präsident Dr. Norbert Lammert
Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen- und Mädchenfußball stärken - Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitisch nutzen
- Drucksache 17/5907 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und
die Folgen für Versicherte
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Für eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland
- Drucksachen 17/4192, 17/5962 Berichterstattung:
Abgeordneter Frank Heinrich
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch
hierfür Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum G-8-Gipfel am 26./27. Mai 2011 in Deauville
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offenkundig
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({17})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute und morgen wird im französischen Deauville der
G-8-Gipfel stattfinden. Wir treffen uns dort, während
uns gleichzeitig aus Nordafrika und Teilen der arabischen Welt aufrüttelnde Bilder und Nachrichten erreichen. Die Region befindet sich im Umbruch. Politische
und gesellschaftliche Verkrustungen werden aufgebrochen. Wir werden Zeugen von Veränderungen in einer
Dimension, die wahrscheinlich auch nachfolgende Generationen als Zeitenwende in der arabischen Welt bewerten werden.
Auf den Straßen und Plätzen tunesischer und ägyptischer Städte nehmen Männer wie Frauen ihr Schicksal in
die eigene Hand. Die Menschen sind dabei, ihren Ländern und zunehmend der ganzen Region ein neues Gesicht zu geben. In Tunesien und Ägypten haben die früheren Regierungen das Vertrauen der Bevölkerung
verloren. In Libyen und in Syrien halten sich die Führungen nur noch durch rohe Gewalt gegen die eigene Bevölkerung an der Macht. In der ganzen Region ist der Wille
zur Veränderung spürbar.
Die Menschen in Kairo, Tunis, Damaskus und Sanaa
kämpfen für Freiheit, für Menschenrechte und für bessere Lebensbedingungen. In solchen Zeiten - wir in Europa wissen das seit 1989 durch eigene, wenn auch in
vielen Einzelheiten andersgeartete Veränderungen werden Partner gebraucht. Es ist deshalb eine historische
europäische Verpflichtung, den Menschen, die heute in
Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt für Freiheit
und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu
stehen. Daher wird Deutschland beim G-8-Gipfel seinen
Beitrag zum politischen Wandel und zur wirtschaftlichen
Stabilisierung der Länder in dieser Region leisten. Wir
wollen helfen, dass sie sich der Mehrparteiendemokratie,
dem Pluralismus und der Marktwirtschaft zuwenden.
Daher setze ich mich dafür ein, dass die G 8 ihre Unterstützung mit der Einhaltung genau dieser Prinzipien verbindet.
Wir wissen alle, dass ein Wandel dieser Dimension
nicht von heute auf morgen zu bewältigen ist. Mit einem
einzigen vermeintlich großen Wurf heute alle Probleme
lösen zu wollen, ist weder realistisch, noch ist es hilfreich. Nein, angesichts der Größe der Herausforderung
werden wir Geduld aufbringen und uns auch auf Rückschläge in den Reformprozessen einstellen müssen.
Denn es ist an den Völkern selbst, ihren Reformweg in
eigener Verantwortung zu gestalten.
Aber das, was wir zur Unterstützung des Wandels zu
Freiheit und Selbstbestimmung leisten können, das können und das werden wir leisten. Deshalb ist es richtig,
dass beim G-8-Gipfel nicht etwa nur über die Menschen
in den betroffenen Ländern gesprochen wird, sondern
auch mit ihnen. Ich freue mich darauf, dass in Deauville
die Premierminister von Tunesien und Ägypten an den
Beratungen teilnehmen werden. So gibt uns das die Gelegenheit zum Gespräch.
Ich möchte mich auch bei allen Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag herzlich bedanken,
die in diesen Tagen Kontakte suchen zu den betroffenen
Menschen, beispielhaft bei Volker Kauder, dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, der gerade am Wochenende mit einigen Kollegen in Ägypten war und sich dort
ein Bild von der Lage gemacht hat. Herzlichen Dank dafür! Wir brauchen diese persönlichen Kontakte.
({0})
Meine Damen und Herren, in diesen beiden Staaten,
in Ägypten und Tunesien, hat der politische Umbruch
seinen Anfang genommen. Dort ist er mit ersten Refor12606
men und Entscheidungen für Wahlen am weitesten fortgeschritten. Deshalb ist es selbstverständlich, dass auch
andere Staaten aus der Region auf unsere Unterstützung
zählen können, wenn sie sich für den Weg hin zu freien
Gesellschaften entscheiden.
Ich möchte dem Außenminister ganz herzlich danken,
der gerade in diesen Stunden im UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit anderen an einer Resolution gegen die Gewalttaten in Syrien arbeitet. Syrien ist ein Riesenproblemfall. Deshalb sollten wir alles daransetzen, die
Gewalt dort ganz eindeutig zu verurteilen.
({1})
Deutschland hat bereits im Rahmen der Transformationspartnerschaft ganz konkrete Angebote gemacht. Die
Bundesregierung wird aus bestehenden Mitteln noch in
diesem Jahr über 30 Millionen Euro speziell zur Unterstützung des demokratischen Wandels einsetzen. In den
nächsten Jahren sollen insgesamt 100 Millionen Euro
zusätzlich bereitgestellt werden.
Wir müssen dazu beitragen, dass die ersten politischen Fortschritte nicht durch wirtschaftliche Instabilität
gefährdet werden. Denn die Arbeitslosigkeit und der
Mangel an Perspektive gerade junger Menschen sind in
diesen Ländern teilweise erschreckend hoch. Die Bevölkerungszusammensetzung in diesen Ländern ist eine andere als bei uns. Ein großer Teil der Menschen ist unter
25 Jahre alt. Diese jungen Menschen suchen Hoffnung
und wirtschaftliche Perspektiven.
Wir brauchen dabei das Rad nicht neu zu erfinden.
Uns stehen schon heute mit den internationalen Finanzinstitutionen und den multilateralen Entwicklungsbanken alle erforderlichen Instrumente zur Verfügung.
Mit den Spitzen von IWF und Weltbank werden wir in
Deauville darüber sprechen, wie wir ein bedeutendes
und wirkungsvolles Maßnahmepaket schnüren können.
Ansatzpunkte gibt es in Tunesien und Ägypten auch
für ein Engagement der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung; denn der Privatsektor ist in
beiden Ländern bereits relativ gut entwickelt. Die Bank
hat den Übergangsprozess in Osteuropa nach dem Fall
des Eisernen Vorhangs erfolgreich unterstützt und
könnte an diese Erfahrung anknüpfen und in der nordafrikanischen Region unterstützend tätig werden.
Zu den drängendsten Herausforderungen in Ägypten
und Tunesien zählen die Arbeitslosigkeit und die wenig
entwickelten Ausbildungsstrukturen. Die Arbeitslosigkeit in Ägypten beträgt offiziell 9 Prozent, in Tunesien
sogar 14,4 Prozent. Deshalb setzen wir uns dafür ein,
dass die G 8 mit den Reformstaaten der Region eine sogenannte Partnerschaft für Beschäftigung schließt. Diese
soll nach unserer Vorstellung aus Berufsbildung, beschäftigungsfördernden Maßnahmen und Investitionen
bestehen. Dabei ist mir wichtig, nicht nur die Regierungen, sondern auch die Unternehmen und Gewerkschaften auf beiden Seiten einzubeziehen.
Wir wollen vor allen Dingen das Engagement der
Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft - das
muss gemeinsam geschehen - im Ausbildungsbereich
verstärken. Hierbei können wir auf frühere Initiativen
der deutschen Wirtschaft in der Region bauen. Deutschland verfügt mit dem dualen Ausbildungssystem über
ein erfolgreiches und international anerkanntes Modell
der beruflichen Bildung. Wir streben daher gemeinsam
mit der deutschen Wirtschaft an - wir werden das natürlich mit unseren Partnern besprechen -, Ägypten bei der
Schaffung von 5 000 neuen Arbeitsplätzen zu unterstützen, die Ausbildungsstrukturen zu stärken mit dem Ziel,
dass in Ägypten jährlich bis zu 10 000 Jugendliche zusätzlich ausgebildet werden können, Tunesien bei der
Qualifizierung und Vermittlung von arbeitslosen Akademikern gezielt zu unterstützen und den Aufbau eines
wettbewerbsfähigen Sektors kleiner und mittlerer Unternehmen durch Beratung und Finanzierung voranzubringen.
({2})
Dies wird uns möglich, indem wir Schuldenumwandlung in Höhe von 300 Millionen Euro auf vier Jahre gestreckt ins Auge fassen. Dann haben wir für die Programme, die bei den Menschen ansetzen, Spielräume.
Ich glaube, genau das wird jetzt in der Region gebraucht:
konkrete Hilfe für Menschen, die eine Perspektive brauchen.
({3})
Dafür werden Bundesminister Niebel und auch der Bundesaußenminister gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft die entsprechenden Gespräche in der Region führen. Wir werden dafür werben, dass diese Programme
schnell in Gang kommen; denn Zeit zählt in dieser Region.
Die Entwicklungen sind für alle eine historische
Chance, für die Menschen in Nordafrika und in der arabischen Welt, aber auch für uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass die
Chance, eine neue Partnerschaft für Demokratie und
wirtschaftliche Entwicklung zu begründen, nicht verstreichen darf.
Wir sehen, dass der politische Umbruch in Nordafrika
und im Nahen Osten die geopolitische Tektonik einer
ganzen Region in Bewegung bringt. Bewegung ist auch
für den Prozess zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erforderlich, und zwar eine Bewegung
in die richtige Richtung. Einseitige Maßnahmen, von
welcher Seite auch immer, führen dagegen in eine Sackgasse. Das gilt für eine Fortsetzung des Siedlungsbaus
Israels genauso wie für eine einseitige und unabgestimmte Ausrufung eines palästinensischen Staates. Ja,
man muss es so sagen: Der gegenwärtige Zustand ist
völlig unbefriedigend. Der Stillstand muss überwunden
werden. Auch wenn es noch so mühselig ist, auch wenn
es noch so viel Zeit und Geduld erfordert, am Ende führt
kein Weg daran vorbei, alles dafür zu tun, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden.
Das Ziel sind zwei Staaten: ein jüdischer und demokratischer Staat Israel und ein eigener Palästinenserstaat;
zwei Staaten, die in Frieden und Sicherheit Seite an Seite
leben. Dazu muss - das gilt auch für die jetzt zu bildende
neue Übergangsregierung in Ramallah - jede palästinensische Regierung der Gewalt abschwören und das Existenzrecht Israels anerkennen.
({4})
Deshalb unterstützen wir den Vorschlag Präsident
Obamas, ohne weiteren Zeitverlust die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen, und zwar zunächst über die
Schlüsselfragen Grenzen und Sicherheit. Mit der Regelung der Grenzfragen kann das Problem des Siedlungsbaus gelöst werden; dies ist ein wichtiges Anliegen der
Palästinenser. Mit der Regelung der Sicherheitsfragen
kann der Hauptsorge Israels begegnet werden. Wir können also das, worum es geht, in einem Satz zusammenfassen - er ist auch schon von anderen gesagt worden -:
Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt, insbesondere den Palästinensern, das ist der beste Schutz Israels.
({5})
Die internationale Gemeinschaft - ich sage das ausdrücklich auch für Deutschland - ist bereit, alles in ihren
Möglichkeiten Stehende zu tun, um Israel und den Palästinensern auf dem Weg zur Lösung ihres Konflikts zu
helfen. Dazu müssen aber die Verhandlungen beginnen
und der gegenwärtige Stillstand überwunden werden.
Meine Damen und Herren, dass Nordafrika und der
Nahe Osten derzeit im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen, ist richtig und nachvollziehbar. Das darf
aber nicht dazu führen, dass die G 8 ihr besonderes Engagement für Subsahara-Afrika aus den Augen verliert.
Es ist daher wichtig, dass wir uns in Deauville mit afrikanischen Staats- und Regierungschefs treffen, um über
zukünftige Entwicklungen in Afrika zu sprechen. Ich
halte die Partnerschaft mit Afrika für unerlässlich, um
die Beteiligung und Verantwortung der afrikanischen
Staaten im Hinblick auf die zahlreichen Krisen in Afrika
zu stärken.
Die Entwicklungspolitik gehört zu den zentralen Themen der G 8. Als bedeutendster Impulsgeber und durch
wichtige finanzielle Unterstützung hat die G 8 ihren Beitrag zur positiven wirtschaftlichen und politischen Dynamik geleistet. Im Jahr 2010 zum Beispiel wurden von
den weltweiten Entwicklungshilfeleistungen, den ODALeistungen, in Höhe von knapp 130 Milliarden US-Dollar allein durch die G 8 über 89 Milliarden US-Dollar
aufgebracht. Ich werde mich in Deauville dafür einsetzen, dass die G 8 weiterhin eine treibende Kraft bei der
Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bleibt.
Das Umfeld der Entwicklungspolitik hat sich jedoch
grundlegend verändert, nicht nur in den Empfängerländern, sondern auch in der internationalen Geberlandschaft. Dem müssen wir Rechnung tragen, und dem
trägt die Bundesregierung Rechnung. Deshalb ist es
wichtig - das macht Minister Niebel ganz eindrucksvoll -,
({6})
dass die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit - ({7})
- Ja, gut; es ist Ihnen unbenommen. Schauen Sie sich
einmal die organisatorischen Neuordnungen an. Ich
glaube, dass die Effizienz der Entwicklungshilfe in den
vergangenen Monaten wirklich entschieden besser geworden ist.
({8})
Herr Trittin, das findet übrigens auch international sehr
viel Anerkennung. Ich meine zum Beispiel die Umstrukturierung der GTZ, all das, was dort in Gang gebracht
wurde.
({9})
Ich nenne gerne die fünf Leitprinzipien:
Erstens. Wir brauchen einen neuen Schwerpunkt der
Förderung von Entwicklung, statt bloß Hilfe zu leisten.
In der Vergangenheit haben wir uns oft zu sehr auf die
Weiterentwicklung allein des Instrumentariums der Entwicklungshilfe konzentriert und anderen Rahmenbedingungen nicht ausreichend Beachtung geschenkt.
Zweitens. Die Entwicklung in Nordafrika zeigt uns,
dass eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung ohne Einhaltung der Menschenrechte und ohne
politische Beteiligung nicht möglich sein wird. Die Einhaltung der Menschenrechte ist deshalb eine unerlässliche Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung.
({10})
Drittens. Wir brauchen mehr Eigenverantwortung der
Regierungen der Entwicklungsländer. Dazu gehört für
mich ausdrücklich auch die Mobilisierung eigener Einnahmen. Die Geber wiederum müssen ihrerseits bereit
sein, mehr Raum für nationale Politiken und Programme
zuzulassen und die nationalen Institutionen zu stärken;
das ist ganz wichtig. Wenn man sich die Eigeneinnahmequoten, die einige Entwicklungsländer zu verzeichnen
haben, anschaut, muss man feststellen: Das ist absolut
nicht befriedigend. Es muss immer Hilfe zur Selbsthilfe
sein, auch was die Tragfähigkeit staatlicher Institutionen
in diesen Ländern anbelangt.
({11})
Viertens. In der Vergangenheit haben wir viel zu sehr
ausschließlich darüber geredet, wie viel Geld wir für
Entwicklung zur Verfügung stellen, und dabei den Blick
auf die Ergebnisse manchmal vernachlässigt.
({12})
Genau sie müssen aber im Mittelpunkt stehen. Denn für
die Menschen zählen nur die Ergebnisse des Handelns.
Die Finanzierung muss stärker mit den Ergebnissen ver12608
knüpft werden. Gleichzeitig wird so ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, klare Ziele und Ergebnisse zu formulieren und sie tatsächlich zu erreichen.
({13})
Fünftens. Wirtschaftliches Wachstum ist die Grundlage jedes Entwicklungsprozesses; dies hat die G 20 in
Korea ausdrücklich anerkannt. Genau dieses Verständnis
müssen wir stärken.
Meine Damen und Herren, Deauville bietet mir auch
die Gelegenheit, meinen japanischen Kollegen, den Ministerpräsidenten Kan, zu treffen. Naoto Kan wird uns
zum ersten Mal persönlich die Situation in Japan nach
dem verheerenden Erdbeben, dem furchtbaren Tsunami
und der unfassbaren Nuklearkatastrophe schildern. Die
nukleare Bedrohung durch die Schäden am Kernkraftwerk Fukushima hält unvermindert an. Die Kette
schlechter und besorgniserregender Nachrichten reißt
nicht ab. Vom ersten Moment an haben wir gespürt: Die
Ereignisse im Kernkraftwerk Fukushima, in einem
Hochtechnologieland, stellen einen Einschnitt von globaler Tragweite dar.
In Deutschland haben wir vor diesem Hintergrund beschlossen, die sieben ältesten Kernkraftwerke für drei
Monate vom Netz zu nehmen und in dieser Zeit eine Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke
vorzunehmen. Die ersten Ergebnisse der Reaktor-Sicherheitskommission liegen Ihnen vor. Die Ethikkommission
wird mir am 30. Mai 2011 ihren Bericht übergeben. Wenige Tage später werden wir die notwendigen Entscheidungen in der Bundesregierung, im Deutschen Bundestag und Anfang Juli schließlich im Bundesrat treffen.
Ich möchte hier nicht auf die derzeit laufenden Beratungen eingehen. Wohl aber müssen wir im Auge behalten, dass die Sicherheit der Nutzung der Kernenergie
nicht allein mit nationalen Entscheidungen sicherzustellen ist. Wir brauchen eine Überprüfung der Sicherheitsstandards auch auf internationaler Ebene.
({14})
Dazu besteht in der G 8 trotz aller Unterschiede bei der
Bewertung der Kernenergie ein breiter Konsens. Die G 8
muss deshalb eine führende Rolle bei der Verbesserung
der nuklearen Sicherheit einnehmen. Gerade darüber
werden wir heute und morgen beraten.
Dabei geht es um eine kritische Überprüfung bestehender und in Planung befindlicher kerntechnischer Anlagen. Auf europäische Initiative hin soll auch auf internationaler Ebene ein sogenannter Stresstest für
kerntechnische Anlagen durchgeführt werden. Ich setze
mich im Kreis der G 8 dafür ein, bei den Sicherheitsüberprüfungen höchste Standards zugrunde zu legen.
Gleichzeitig entwickeln wir die erneuerbaren Energien zu einer tragenden Säule unserer Energieversorgung. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien beschleunigt erreichen. Damit leisten wir auch
einen Beitrag dazu, die beschlossenen ehrgeizigen Klimaziele umzusetzen. Alle Industrieländer haben sich auf
der Klimakonferenz in Cancún im letzten Jahr verpflichtet, Strategien für das sogenannte Low Carbon Development umzusetzen. Die Entwicklungsländer werden dazu
ermutigt. Wir gehen voran, damit andere unserem Beispiel folgen.
Die in Cancún beschlossene Vereinbarung gibt den
Klimaverhandlungen neue Dynamik. Sie legt das Fundament für ein neues Klimaabkommen, wenngleich der
Weg dahin noch weit ist. Genauso klar ist aber auch: Um
das jetzt beschlossene 2-Grad-Ziel zu erreichen, müssen
wir weit konsequenter handeln, als das bis jetzt vereinbart wurde.
Auf dem Weg zur nächsten Konferenz in Durban in
Südafrika sind noch viele schwierige Fragen zu beantworten. Der südafrikanische Staatspräsident Zuma wird
beim G-8-Gipfel über den Stand der Verhandlungen berichten. Es ist klar: Deutschland ist und bleibt Vorreiter
in der Klimapolitik. Wir halten an unserem Ziel fest, ein
neues, umfassendes UN-Klimaabkommen zu verabschieden. Das war schon ein wichtiges Anliegen unserer
G-8-Präsidentschaft in Heiligendamm. Man muss sagen:
Der Fortschritt ist hier an manchen Stellen wirklich eine
Schnecke; aber es gibt nur die Möglichkeit, auf diesem
Weg weiterzugehen.
Meine Damen und Herren, wir werden in Deauville
auch über die aktuelle Lage der Weltwirtschaft beraten.
Der G-8-Gipfel ist ja von Anfang immer ein Weltwirtschaftsgipfel gewesen. Er ist dies auch unter französischer Präsidentschaft. Die französische Präsidentschaft
hat das Thema „Internet - Chancen und Risiken“ zu einem Schwerpunktthema gemacht. Sie hat dazu einen
großen Vorgipfel durchgeführt, dessen Ergebnisse uns
auf dem G-8-Gipfel präsentiert werden. Auf der einen
Seite sehen wir die riesigen Chancen des Internets, gerade wenn es um Demokratie, Transparenz und Informationsfreiheit geht. Auf der anderen Seite ist der Schutz
von Eigentum, auch von geistigem Eigentum, und persönlichen Rechten natürlich ein Problem.
Die Weltwirtschaft insgesamt steht besser da, als wir
das noch vor einiger Zeit erwarten konnten. Der Aufschwung festigt sich, und Deutschland leistet dazu einen
spürbaren Beitrag. Das heißt, wir können sagen: Mit all
dem, was wir politisch unternommen haben, haben wir
einen Beitrag dazu geleistet, die Weltwirtschaftskrise
schnell zu überwinden.
({15})
Unsere Wirtschaft wächst 2011 um mindestens
2,6 Prozent; die Zahlen gehen eigentlich nach oben. Die
Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt auf unter 3 Millionen sinken. Was ganz interessant ist und was
ich besonders den internationalen Partnern sagen werde:
Nachdem unser Aufschwung anfänglich sehr stark exportgetrieben war, können wir heute feststellen, dass
zwei Drittel des gesamten Wachstums durch eine wachsende Binnennachfrage zustande kommen. Das ist auch
an die Weltwirtschaft eine wichtige Mitteilung.
Wir haben aber natürlich von offenen Märkten und
von unserer Exportkraft profitiert. Es gehört zu den ungelösten Problemen, dass wir bei der Doha-Runde der
WTO bis jetzt nicht weitergekommen sind. Wir werden
das wieder besprechen. Ich kann nur sagen: Deutschland
wird sich mit aller Kraft dafür einsetzen, gemeinsam insbesondere mit Großbritannien, dass diese Doha-Runde
zum Ende gebracht wird. Freier Welthandel ist der beste
Marktmotor und Wachstumsmotor, den wir uns vorstellen können. Das ist unsere Überzeugung.
({16})
Wir werden auch über Konsolidierungsstrategien
sprechen. Deutschland hat mit der Schuldenbremse den
richtigen Weg eingeschlagen; denn nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen ist nicht möglich. Deshalb werden wir auch dies noch einmal deutlich machen.
Meine Damen und Herren, die Verantwortung für die
nationale Wirtschaftspolitik trägt jeder von uns allein.
Aber die Ergebnisse und Folgen unseres Handelns sind
weltweit spürbar, nicht nur für uns jetzt, sondern auch
für kommende Generationen. Das müssen wir stets im
Blick haben, und das muss auch der Geist der Diskussionen in Deauville sein.
In der G 8, aber genauso auch in der G 20 müssen wir
alles daransetzen, gemeinsame Lösungen für die anstehenden Probleme und Krisen zu suchen. Dafür bitte ich
um Ihre Unterstützung, und dafür werde ich bei den Diskussionen in den nächsten beiden Tagen werben.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich eröffne die Aussprache.
Erster Redner ist der Kollege Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, niemand hat Sie gezwungen,
heute Morgen eine Regierungserklärung abzugeben.
({0})
Aber ich finde, wenn Sie eine abgeben, dann hat das Parlament mehr verdient als diesen leidenschaftslosen Rechenschaftsbericht.
({1})
Vielleicht habe ich eine andere Wahrnehmung als Sie,
aber ich meine, die Welt brennt in diesen Tagen. Der arabische Teil ist in Aufruhr. Wenn mich nicht alles täuscht,
dann stehen im Nahen Osten die Zeichen wieder auf
Sturm. Pakistan treibt in einen Konflikt mit den USA.
Was ist unsere Antwort darauf? Was ist die Antwort des
größten Landes in Europa? Was Sie hier vorgetragen haben, ist Außenpolitik in Lethargie. Die Welt erwartet
mehr von uns.
({2})
Frau Bundeskanzlerin, was Sie eben vorgetragen haben, reiht sich in eine Reihe von außen- und europapolitischen Erklärungen ein, die wir in den letzten Monaten
von diesem Pult aus von Ihnen gehört haben. Es ist noch
keine sieben Monate her, als Sie hier auch über Deauville gesprochen haben. Ein Strandspaziergang mit dem
französischen Präsidenten, und ganz Europa war vor den
Kopf geschlagen. In Wahrheit sammeln Sie noch heute
die Scherben von dem Geschirr ein, das an diesem Tag
in Deauville zerschlagen worden ist. So ist es doch,
meine Damen und Herren.
({3})
Deauville ist kein Glanzpunkt der internationalen Politik. Es ist eher so etwas wie ein Menetekel für Orientierungslosigkeit in Europa geworden.
Bei Lichte betrachtet sind wir innerhalb der noch
nicht ganz letzten zwei Jahre von einer anerkannten, respektierten Führungsnation in Europa, die sich selbst die
Aufgabe gestellt hat, den täglichen Ausgleich, die Balance in Europa immer wieder neu herzustellen, zu einer
Nation geworden, die an die europäische Peripherie geraten ist. Die Kleinen in Europa sind irritiert. Sie wissen
nicht mehr, woran sie mit Europa sind, und zweifeln an
unserer Verlässlichkeit. Die Großen, Frankreich und
Großbritannien, treffen Vereinbarungen an uns vorbei.
Glauben Sie mir: Ich sage das nicht einfach so dahin.
Ich sage es, weil ich es mir anders wünschte. Aber ein
ums andere Mal kommen Sie mit demselben Ergebnis
zurück: nichts in der Hand, aber alle gegen sich.
({4})
Für unser Land geht das auf Dauer nicht. Es kostet Respekt und Ansehen, und das aufs Spiel zu setzen, steht
nicht in der Verfügungsgewalt dieser Regierung.
Wo bleibt der außenpolitische Gestaltungsanspruch
dieser Regierung? Das frage ich mich. Was haben wir
unseren Partnern und Verbündeten zu bieten? Wo gibt es
Initiativen? Wo ist das Konzept? Wo ist Bewegung in irgendeinem der Problembereiche, die Sie beschrieben haben? Wo sind die Ideen, die Bewegung auslösen? Wie
wir eben gehört haben, sind Sie in Gipfelroutinen und
Erklärungsroutinen erstarrt. Sie fahren zu dem G-8-Gipfel nach Deauville ohne einen einzigen substanziellen
Beitrag. Das haben Sie selbst eben vorgetragen. Unterstützen, beitragen, begrüßen - das waren die meistgebrauchten Vokabeln in Ihrer Regierungserklärung. Aber
genau das ist zu wenig für ein Land wie Deutschland.
({5})
Ich bin mir sicher: Sie würden mir nicht einmal in allen Punkten widersprechen. Auch Sie spüren in der Tat,
dass sich etwas verändert, auch im Verhältnis zu unseren
wichtigsten Verbündeten, insbesondere im Verhältnis zu
den Vereinigten Staaten von Amerika. Mich würde es
sehr verwundern
({6})
- passen Sie auf! -, wenn in den letzten Tagen die
Drähte zwischen Washington und Berlin bzw. Berlin und
Washington nicht geglüht hätten, wenn nicht verzweifelte Versuche stattgefunden hätten, den amerikanischen
Präsidenten wenigstens bei dieser Europareise zu einem
Abstecher nach Berlin zu bewegen. Ich weiß doch, dass
es jeden Morgen schmerzt, wenn man in diesen Tagen
die Bilder aus Irland, die Bilder aus Großbritannien, ab
heute Nachmittag die Bilder aus Frankreich und dann
aus Polen sieht, aber wieder kein Weg Obamas in die
deutsche Hauptstadt führt. Noch schmerzhafter, Herr
Kauder, muss doch sein, wenn geschrieben wird: Selbst
zu Zeiten von George Bush und Gerhard Schröder war
das Verhältnis zu den USA nicht so kraftlos und lethargisch wie heute. Die transatlantischen Beziehungen
dämmern dahin. Das ist der traurige Befund.
({7})
Schauen wir zur anderen Seite, Herr Kauder. Schauen
wir Richtung Osten. Herr Westerwelle, ich begrüße ausdrücklich das Dreiertreffen, das mit Russland und Polen
in Kaliningrad stattgefunden hat. Aber das ist natürlich
noch keine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im
Osten. In der Großen Koalition, Frau Bundeskanzlerin,
hatten wir immerhin die Kraft, so etwas wie eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg zu
bringen. Was ist aus dieser Initiative geworden? Wer
treibt dieses Thema? Auch da Routine, nichts als Routine! Ich sehe keine neuen Ideen. Bei den bestehenden
Vorhaben sehe ich jedenfalls nicht, dass mit Energie
weitergearbeitet wird. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns doch
wenigstens das seit Monaten dahindümpelnde Visathema - das steht im Grunde genommen jeder Entwicklung im deutsch-russischen Verhältnis in fast allen Bereichen entgegen - mit einer gemeinsamen Initiative aus
dem Parlament nach vorne bringen, allen Unterschieden
zum Trotz. Da muss es doch gemeinsame Interessen
zwischen den Fraktionen dieses Hauses geben.
({8})
Wenn ich von gemeinsamen Interessen spreche: Die
gibt es mit Sicherheit und erst recht im Hinblick auf den
Nahen Osten. Aber auch da stellt sich die Frage: Wo ist
der wahrnehmbare deutsche Beitrag? Ich jedenfalls kann
ihn nicht sehen. Es kann doch nicht sein, dass Deutschland sich in die Rolle des Zuhörers begibt, wenn ein
amerikanischer Präsident darum ringt, eine Friedenslösung im Nahen Osten doch noch möglich zu machen.
Da kämpft Herr Obama - Sie haben das in den letzten
Tagen gesehen - mit der Autorität seines ganzen Amtes,
und wir stehen an der Seitenlinie. Ich hoffe, dass ich
mich täusche, aber das mit Ovationen im amerikanischen Kongress begleitete Nein Netanjahus zu der Initiative Obamas könnte eine neue Runde im Nahostkonflikt
eingeläutet haben. Unsere einzige Antwort, Frau Merkel,
kann darauf nicht das angekündigte Nein zur Abstimmung über ein unabhängiges Palästina in der Generalversammlung der Vereinten Nationen sein. Das kann es
noch nicht gewesen sein.
({9})
Professionalität ist hier gefragt. Deshalb sage ich:
Man kann zum jetzigen Zeitpunkt natürlich kein Ja ankündigen; das weiß ich. Sie wissen, dass mir Israel nicht
weniger am Herzen liegt als Ihnen. Aber gerade deshalb
ist die öffentliche Festlegung auf ein Nein zum jetzigen
Zeitpunkt so etwas wie die Carte blanche für all diejenigen, die keine Verhandlungen wollen. Deshalb war das
falsch, meine Damen und Herren.
({10})
In Wahrheit gehören doch der Konflikt im Nahen Osten und die Ereignisse in der arabischen Welt ganz eng
zusammen. Ich vermute, so wird es auch auf G-8-Ebene
diskutiert. Das, was wir im Augenblick in Nordafrika erleben, ist wahrscheinlich der einschneidendste Wandel in
der internationalen Politik seit dem Fall der Mauer. Das
passiert nicht irgendwo auf der Welt, sondern an den
südlichen Grenzen der Europäischen Union, in der engsten Nachbarschaft zu Europa. Und Europa? Europa ist
außerstande, darauf eine wirklich kraftvolle Antwort zu
geben - Tage und Wochen von Sprachlosigkeit, von allgemeinen Statements. Es ist ein wenig beschämend für
Europa, dass auch hier wieder ein amerikanischer Präsident die Größe der Aufgabe, die vor uns steht, beschreiben muss, konkrete Zeichen der Unterstützung setzt. Das
zu beschreiben, was Obama vergangene Woche in seiner
Rede getan hat, wäre doch unsere Aufgabe, Europas
Aufgabe gewesen.
({11})
Zugegeben: Man kann den Vergleich für schief halten, man kann den Namen für falsch halten, aber natürlich brauchen wir etwas für den Maghreb, das die Qualität eines Marshallplans hat. Eines liegt doch auf der
Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der
Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort
den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere
Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die
Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Demokratie braucht Demokraten - das weiß aufgrund seiner
Geschichte kein Land besser als unseres. Deshalb freuen
wir uns für diejenigen, die sich dort Freiheit erkämpft
haben, für die Menschen in Tunesien, in Ägypten. Aber
es ist eben auch unser Interesse, dass die Freiheit dort
bleibt, dass der Weg in Richtung Freiheit und Demokratie dort weiter beschritten wird.
({12})
Deshalb reicht der Schutz vor Flüchtlingen, was in
den letzten Monaten in der Öffentlichkeit Europas das
beherrschende Thema war, nicht aus. Das ist keine Antwort. Was nottut, ist eine echte Entwicklungspartnerschaft mit der Maghreb-Region, ausbuchstabiert von der
Demokratisierungshilfe in europäischer Arbeitsteilung
über den Auf- und Ausbau rechtstaatlicher Verwaltungsstrukturen bis hin zur ökonomischen Entwicklung. Das
betrifft die Investitionen, die dort dringend gebraucht
werden, aber auch - auch das darf nicht tabuisiert werden - die Öffnung der europäischen Märkte für Waren
und Dienstleistungen aus der Region. Außer lauen Ankündigungen war davon nichts zu hören, und das ist eindeutig zu wenig.
({13})
Über Europa werden wir in diesem Hause bei anderer
Gelegenheit reden. Reden müssen wir - zum Beispiel
darüber, welche Folgen es hat, wenn man bei Auftritten
in Brüssel europäische Solidarität verkündet, Sorge um
das gemeinsame Ganze äußert, aber dann bei Auftritten
im Sauerland den Stammtisch bedient und Vorurteile wider besseres Wissens schürt.
({14})
Dazu wird Gelegenheit bestehen. Heute spielt ein ganz
anderer Aspekt eine Rolle.
({15})
- Das ist ein bisschen Ihr Problem.
({16})
- Ich glaube nicht.
({17})
- Warten Sie es ab.
Meine Damen und Herren, wie viel Respekt sich ein
Land in der Außenpolitik erarbeitet - hören Sie bitte zu -,
hängt nicht von der Teilnahme an Gipfeltreffen ab. Das
ist kein Gradmesser dafür. Wertschätzung kommt dann
zum Ausdruck, wenn zum Beispiel auch deutsches Personal in internationalen oder europäischen Institutionen
gefragt ist.
({18})
In Europa haben Sie, wenn ich das richtig sehe, mit
dem Verzicht auf den Posten des EZB-Präsidenten, auf
den Ihr ganzes Personalpaket zugeschnitten war, gerade
erst Ihr Waterloo erlebt. Weil das so ist, präsentieren Sie
jetzt offenbar vor lauter Angst, dass es wieder schiefgehen würde, und präsentieren damit wir als größte Volkswirtschaft in Europa keinen eigenen Kandidaten für den
IWF-Posten.
({19})
Das ist Angst, und das kann nicht die Rolle unseres Landes sein. Zuhören und begrüßen, das ist nicht das, was
wir von der Bundesregierung bei solchen Gipfeln erwarten.
({20})
Eines ganz zum Schluss. Zu Hause sind Sie im Augenblick heftig dabei, Ihre jahrelangen Irrtümer in der
Energiepolitik zu beseitigen. Was Sie im Augenblick
tun, ist nicht die Vorbereitung einer Energiewende; darauf lege ich Wert. Die Energiewende gab es bis zum
letzten Herbst. Der Atomausstieg stand im Gesetz, und
die erneuerbaren Energien sind gegen Ihren erbitterten
Widerstand durchgesetzt worden. Das war die Energiewende.
({21})
Was wir jetzt sehen, ist nicht die Energiewende, das
ist Ihre Wende, die Wende von Union und FDP, die Sie
jetzt zur nationalen Angelegenheit erklären. Das ist ein
durchsichtiger Trick. Den wird Ihnen die Öffentlichkeit
in diesem Land nicht durchgehen lassen.
({22})
Wer so etwas tut, der ringt ganz offenbar um Glaubwürdigkeit, die ihm in den letzten Monaten irgendwie
abhandengekommen ist. Wenn Sie nach den vielen Volten, nach den Pirouetten, nach den Kehrtwendungen,
über die wir in den letzten Tagen und Wochen immer
wieder gestritten haben, jetzt Glaubwürdigkeit in der
Energiepolitik zurückgewinnen wollen, dann hätte ich
doch wenigstens zu diesem Bereich heute Morgen von
Ihnen Konkretes erwartet in der Frage, was Sie im Rahmen der G 8 tun wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass
man dann eine glaubwürdige Initiative im internationalen Rahmen von G 8 startet. Wir werden - das weiß auch
ich, das wissen auch wir - nicht den Rest der Welt von
heute auf morgen davon überzeugen können, dass wir
auf Atomkraft verzichten - trotz Fukushima. Aber was
ich nach der innerdeutschen Debatte der letzten Tage
und Wochen doch erwartet hätte, das ist eine deutsche
Initiative - hier sichtbar, hier heute Morgen diskutiert zu Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraftwerken weltweit.
({23})
Stattdessen freuen Sie sich, dass Sie Ihren japanischen
Kollegen in Deauville treffen; das ist eindeutig zu wenig.
({24})
Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung heute Morgen
erlaubt einen tieferen Einblick in die deutsche Außenpolitik dieser Tage, als Sie vielleicht wollten, und das genau erfüllt nicht nur die Opposition in diesem Hause mit
Sorge.
Herzlichen Dank.
({25})
Für die FDP-Fraktion erhält das Wort nun der Kollege
Rainer Brüderle.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Steinmeier, Sie haben heftig die Regierung kritisiert. Aber was Sie und die SPD anders machen wollen,
haben Sie nicht gesagt.
({0})
Ihre größte außenpolitische Anstrengung derzeit scheint
zu sein, Ihren Konkurrenten als Kanzlerkandidaten,
Herrn Steinbrück, wegzuloben,
({1})
und nicht, konkrete Wege aufzuzeigen, wie anders gehandelt werden kann.
({2})
Meine Damen und Herren, der G-8-Gipfel in Deauville steht im Zeichen des Kampfes für die Freiheit. Die
G 8 muss sich als Wertegemeinschaft, als moralische
Autorität verstehen. Die Kraft der Freiheit bricht sich im
Norden Afrikas und im Nahen Osten Bahn. Menschen
riskieren Leib und Leben für Freiheit und Selbstbestimmung. Wir müssen diese Freiheitsbewegung mit aller
Kraft unterstützen.
Deshalb ist es richtig, den alten Machthabern ihre
Grundlagen zu entziehen. Die EU hat zu Recht ein Einreiseverbot und Vermögenssperren über den syrischen
Präsidenten verhängt. Die EU hat zu Recht starke Zeichen gesetzt und in Bengasi ein Verbindungsbüro eröffnet, wie es Außenminister Westerwelle auch für
Deutschland getan hat. Die EU verschärft zu Recht die
Sanktionen gegen den Iran und andere Unrechtsregime.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Staatsterrorismus
Freiheiten mit Füßen tritt. Wer brutal seine eigene Bevölkerung in Geiselhaft nimmt, muss mit harten Maßnahmen rechnen. Da muss Deutschland stehen, da muss
Europa stehen, da muss die G 8 stehen.
({3})
In Tunesien und Ägypten können die Menschen die
Kraft der Freiheit schon stärker spüren. Freiheit ohne
Marktwirtschaft ist nicht denkbar. Wir müssen und können helfen, die dortigen Kommandowirtschaftsstrukturen auf Marktwirtschaft umzustellen. Wenn wir dies
nicht schaffen, gibt es eine Abstimmung mit den Füßen.
Eine ungesteuerte Migration ist nicht im Interesse der
Europäischen Union. Wir müssen rasch Angebote für
partnerschaftliche Zusammenarbeit auf den Weg bringen, wie es das Bundeswirtschaftsministerium und das
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit getan
haben.
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ist ein gutes Instrument. Sie hat beim Fall des
Eisernen Vorhangs und bei der Osterweiterung geholfen;
sie kann jetzt in Nordafrika helfen. Deutschland und die
osteuropäischen Mitgliedstaaten haben besondere Erfahrungen mit Transformationsprozessen. Wir sollten deshalb das Wissen früherer Manager und vielleicht auch
pensionierter und aktiver Beamter mit einbringen und
Projektteams bilden, die diesen Prozess vor Ort konkret
unterstützen können, und zwar im Interesse dieser Länder, aber auch im Interesse von Deutschland und Europa.
({4})
Das Leitprojekt Desertec, das nicht nur eine Zusammenarbeit im Energiesektor darstellt und eine Brücke zu unseren Nachbarn in Nordafrika schlagen kann, ist ein Zeichen, dass wir es mit der Hilfe ernst meinen, zu
Marktstrukturen, zu Entwicklungsprozessen und zu
Chancen der Freiheit vor Ort zu kommen.
Freiheitsbewegungen brauchen eine Ergänzung durch
freien Handel. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht auf den
Doha-Prozess, auf die Welthandelsrunde, hingewiesen.
Da müssen einige Gipfelteilnehmer auch in Kauf nehmen, dass es im Agrarsektor und in der Textilindustrie
vielleicht Probleme gibt, und sich dazu durchringen,
dass die Welthandelsrunde noch ein Erfolg wird. Marktzugang und Verbesserung des Welthandels sind eine
Chance, Armut zu bekämpfen. Freiheitsbewegungen
brauchen Ergänzung durch freien Handel.
({5})
Die G 8 sollte den Generalsekretär der WTO, der Welthandelsorganisation, beauftragen, ein Kompromisspapier zu erarbeiten. Das ist die einzige Chance, den Prozess noch zu retten. So hat man es auch bei der UruguayRunde mit Erfolg gemacht.
Inzwischen ist das Kraftzentrum der Weltwirtschaft
die G 20; die G 8 ist das nicht mehr wie in der Vergangenheit. Zur G 20 gehören China, Indien und Brasilien.
Damit die G 8 nicht eines Tages zu einem Veteranentreffen wird, muss Europa wieder mehr Power entfalten und
mehr Kraft einbringen. Nicht Europa aufzuhübschen,
sondern es aufzufrischen, ist die Aufgabe. Deshalb müssen wir uns für den gemeinsamen Markt, offene Grenzen
und eine starke Währung in Europa einsetzen, auch
wenn wir nicht für jede Maßnahme, die notwendig ist,
sofort den Beifall aller Nachbarn bekommen. Es gilt
jetzt, das Richtige zu tun, damit Europa den richtigen
Weg geht, wieder stärker wird und mehr Gewicht einbringen kann. Es geht nicht darum, kurzfristig den Beifall von einigen zu bekommen.
({6})
Das Aussetzen des Schengener Abkommens wäre ein
Zeichen der Schwäche, kein Zeichen der Stärke. Europa
muss zu seinen Werten stehen und sie verteidigen; Europa darf nicht zur Festung werden. Offene Grenzen und
freier Verkehr sichern die Zukunftsfähigkeit Europas.
Ein starkes Europa ist deutsche Staatsräson, und auch
die Stabilität der Währung, des Euros, ist deutsche
Staatsräson. Die Menschen in Deutschland haben zweimal Währungsschnitte erleben müssen. Deshalb sitzt das
Empfinden um Geldwertstabilität quasi im Gencode unseres Landes. Diese Stabilität ist ein tiefes Anliegen der
Menschen, und sie ist auch notwendig, damit Europa
sich richtig entwickeln kann.
In der Marktwirtschaft steuert man Produktion und
Entscheidungsprozesse über die Knappheitsgrade, die in
Preisen widergespiegelt werden. Wenn die Preise nicht
stimmig sind, steuern wir falsch. Deshalb ist der deutsche Kampf um einen richtigen Rahmen beim ESM, bei
der Entwicklung des Euros so entscheidend, auch wenn
dies nicht sofort - ich wiederhole es - Beifall von jedem
bringt.
Dies ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Stabiler
Geldwert ist für die Gerechtigkeit notwendig; Inflation
ist eine soziale Ungerechtigkeit. Deshalb muss Deutschland diesen klaren Kurs des ESM beibehalten. Der europäische Stabilitätsmechanismus darf kein neokeynesianischer Weichmacher werden.
({7})
Ich erinnere an Folgendes: Es war Gerhard Schröder,
der den Euro als „kränkelnde Frühgeburt“ bezeichnet
hat. Das möchte ich all denen ins Stammbuch schreiben,
die uns Europopulismus vorwerfen. Herr Schröder hat in
seiner Regierungszeit versucht, zu erreichen, dass sich
seine Prophezeiung erfüllt. Es war Rot-Grün, das die
Aufweichung der Maastricht-Kriterien möglich gemacht
hat, und es war Rot-Grün, das Griechenland in die EuroZone aufgenommen hat. Das ist die Wahrheit.
({8})
Die griechischen Berechnungen zur Erfüllung der
Maastricht-Kriterien beruhten nicht auf Pythagoras, sondern eher auf Alexis Sorbas.
({9})
Rot-grüne Währungspolitik fasst man am besten folgendermaßen zusammen: Note in Sparen: 4 bis 5; Note in
Statistik: 5 bis 6. Schwarz-Gelb macht das anders.
({10})
- Oberlehrer? Sie wollen doch dem deutschen Wesen
Geltung verschaffen; das haben wir doch gerade gehört.
Alle Welt soll sich nach deutschen Kriterien entwickeln
- das hat Herr Steinmeier doch vorgetragen -, sei es in
der Energiepolitik oder in der Wirtschaftspolitik. All das
soll von Deutschland bestimmt werden. Er ist der deutsche Oberlehrer, der lehrt, dass am deutschen Wesen die
Welt genesen soll.
({11})
Schwarz-Gelb macht das anders. Für uns ist Deutschland der Währungshüter in der Europäischen Union.
Hinsichtlich Griechenlands ist mittlerweile von der sanften Umschuldung die Rede. Die griechischen Wirtschaftszahlen sprechen für sich. Da braucht man nicht
Pythagoras; da genügt Adam Riese.
Der Bundesfinanzminister hat Bedingungen für eine
sanfte Umschuldung genannt, etwa die Beteiligung privater Gläubiger. Ich sage: Der Bundesfinanzminister hat
die FDP-Fraktion an seiner Seite, wenn er eine sanfte
Umschuldung hart, aber fair umsetzt.
({12})
Meine Damen und Herren, Deauville kann und muss
das Signal der Freiheit sein. Man kann sie nicht unterdrücken. Man kann sie verzögern, aber nicht verhindern.
Wir haben in unserer Nachbarschaft, im Nahen Osten, in
der arabischen Welt, eine Entwicklung, von der wir vor
kurzem nicht zu träumen gewagt hätten. Deshalb gilt es
jetzt, Farbe zu bekennen, Partnerschaft auszuüben, mit
dabei zu sein, klare Positionen zu beziehen, im Dialog
die Möglichkeiten zu schaffen, damit die Wünsche und
Vorstellungen Realität werden. Dazu muss man aber
auch den Mut haben, in Europa selbst Fesseln abzulegen,
indem man hier die Behinderungen der europäischen
Entwicklung beseitigt, indem man auf das Beispiel setzt,
dass eine Wertegemeinschaft, wie sie die Europäische
Union ist, erfolgreich wirtschaftliche Kraft entfalten
kann und dass unser Weg, unser Modell in Europa überzeugend ist. Die Entwicklungen in Nordafrika und anderen Regionen der Welt, diese Freiheitsbewegungen, wären ohne das Beispiel des europäischen und auch des
deutschen Weges, mit Freiheit Kraft zu entfalten und dadurch Arbeit und Zukunft zu schaffen, nicht auf den Weg
gekommen. Wir haben mit unserem Beispiel die Kraft
der Freiheit freigesetzt. Deshalb sind wir aus Überzeugung dabei, dies in die Realität umzusetzen.
Herr Kollege Steinmeier, dabei sollten alle mitmachen. Das ist ein Thema, das sich nicht für Parteitagsoder Wahlkampfreden eignet, sondern hier muss das Parlament solidarisch hinter der Kanzlerin stehen. Sie hat
einen klaren Weg aufgezeigt. Die Regierungsfraktionen
unterstützen sie dabei. Ich bin sicher, sie wird auch mit
guten Ergebnissen aus Deauville zurückkommen.
Deauville bietet die Chance, dass wir in der Technologie,
in der Freiheitsbewegung, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vorankommen.
Ohne Armutsbekämpfung wird die Freiheitsbewegung auf Dauer keinen Erfolg haben. Deshalb ist es notwendig, das Richtige zu tun. Man kann nicht für jede
Maßnahme jeden Tag Beifall bekommen. Entscheidend
ist, dass am Schluss eines Entscheidungsprozesses das
richtige Ergebnis steht, dass wir die richtige Einstellung
haben, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen, dass
wir für die richtigen Werte kämpfen und arbeiten. Nicht
kurzfristiger Beifall, sondern klarer Kurs ist das, was wir
in Europa, was wir in der Welt brauchen. Dafür steht
diese Regierung.
({13})
Das hat sich bei der hervorragenden Wirtschaftsentwicklung Deutschlands gezeigt. Das ist der Markenkern
der schwarz-gelben Regierung.
({14})
- Ja, die ganze Welt beneidet uns um diese wirtschaftliche Entwicklung.
({15})
Die Einzigen, die lachen, sind die, die nicht ertragen
können, dass eine deutsche Regierung erfolgreich ist.
Das sind Sie!
({16})
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, erinnere ich noch
einmal an den Überbau der Regierungspolitik der
schwarz-gelben Koalition: Kurs halten, durchsetzen,
nicht irritieren lassen. Das setzt sich durch. Klare Orientierung bringt Erfolg.
({17})
- Ach, die SPD hat ja so viele Probleme. Schreien Sie
mal nicht so laut. Sie sind ja froh, wenn Sie noch Juniorpartner der Grünen sind.
({18})
Also: Kopf hoch! Wir halten weiter Kurs. Freuen Sie
sich, dass Sie in Deutschland dabei sein dürfen.
({19})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, ich habe Ihnen wie immer gerne zugehört.
Zum Inhalt sage ich besser nichts. Ich habe aber eines
festgestellt: Nur in unserer Altersgruppe kommt wirklich
Leidenschaft hoch.
({0})
Das war deshalb so angenehm, weil Ihre Rede, Frau
Bundeskanzlerin, völlig leidenschaftslos war. Das hing
übrigens auch mit dem Inhalt zusammen.
Das Problem beim G-8-Gipfel besteht ja schon darin,
dass Sie dort wesentliche Entscheidungen für die ganze
Erde treffen wollen. Ich frage mich immer: Mit welcher
Legitimation?
({1})
Wer hat eigentlich acht Regierungschefs und Präsidenten
berufen, Entscheidungen für die ganze Erde zu treffen?
Sie lassen die Schwellen- und Entwicklungsländer aus.
Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Mit welchen Themen wollen Sie sich beschäftigen?
Mit der Lage der Weltwirtschaft und mit den demokratischen Bewegungen in Tunesien, in Libyen, in Ägypten,
in Syrien, im Jemen und in Bahrain. Letzteres ist wirklich ein in jeder Hinsicht interessantes, aufwühlendes
und spannendes Thema. Ich sage hier im Namen der
Linken, dass wir all den demokratischen Bewegungen in
diesen Ländern größte Sympathie und unsere Solidarität
entgegenbringen.
({2})
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat entschieden, in Libyen Krieg zu führen. Die NATO-Staaten
tun das. Diese Regierung hat vernünftigerweise dafür
gesorgt, dass sich Deutschland der Stimme enthalten hat.
Ich hätte mir gewünscht, dass sie sogar mit Nein gestimmt hätte. Aber immerhin, sie hat sich der Stimme
enthalten und damit nicht Ja gesagt und nimmt an diesem Krieg auch nicht teil.
Ich habe festgestellt, dass jetzt zwei Länder ständig
den Krieg kritisieren, nämlich China und Russland, die
aber vergessen, zu erwähnen, dass sie Vetomächte sind.
Wenn sie es nicht gewollt hätten, wäre der Beschluss des
Sicherheitsrates überhaupt nicht zustande gekommen.
({3})
Jetzt erleben wir, dass schwerste Luftangriffe geflogen werden. Dabei werden auch unschuldige Menschen
getötet. Die Kriegslogik dominiert. Der Krieg wird immer härter. Von Anfang an haben wir bei diesem Krieg
wie auch bei den anderen Kriegen gesagt: Krieg löst
keine Probleme; er schafft nur neue Probleme. Das wird
jetzt täglich in Libyen bewiesen.
({4})
Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen: Die
Grünen und die SPD hätten für den Krieg gestimmt.
Cem Özdemir hat mir bei Hart aber fair ganz klar gesagt, er hätte im Sicherheitsrat mit Ja gestimmt.
Die fünf großen Friedensforschungsinstitute in
Deutschland haben jetzt ein Friedensgutachten 2011 vorgelegt. Darin sagen sie: Es gibt eine unkalkulierbare Eskalation des Krieges. Sie fordern sofortige Verhandlungen ohne Vorbedingungen, um die Gewalt zu beenden.
Ich habe eine weitere Frage. Die Regierung in Libyen
hat viele unschuldige Demonstranten erschossen. Aber
das macht doch auch die Regierung in Syrien, das macht
auch die Regierung im Jemen, und das macht auch die
Regierung in Bahrain. Warum kommen Sie eigentlich
nur bei Libyen auf die Idee, Bomben zu werfen, aber bei
den anderen Ländern nicht? Wenn Bomben den Demonstranten angeblich helfen - das bezweifle ich energisch;
aber das scheint Ihre Auffassung zu sein; Cem Özdemir
hat klar gesagt, er sei für diesen Krieg gewesen -, warum
gilt das dann nicht für die anderen Länder?
Hier kommen mir doch üble Gedanken, und zwar dergestalt, dass Libyen viel Öl hat. Syrien und Jemen haben
kein Öl. In Bahrain liegt ein strategisch wichtiger Militärstützpunkt der USA. Daraus erklärt sich die unterschiedliche Herangehensweise. Das ist höchst unglaubwürdig. Krieg darf nie das Mittel unserer Politik werden.
({5})
In Bahrain sind saudi-arabische Truppen einmarschiert und schießen dort auf Demonstranten. Ich habe in
diesem Zusammenhang eine Frage ans Fernsehen. Ich
sehe Bilder aus dem Jemen, ich sehe Bilder aus Syrien,
und ich sehe viele Bilder aus Libyen, aber nie Bilder aus
Bahrain. Warum eigentlich sollen unsere Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer nicht sehen und erfahren,
was dort passiert?
Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine andere Politik auch
in Bezug auf Nordafrika und in Bezug auf die arabische
Welt. Die Unterstellung, die es früher immer gab, arabische Völker wollten keine Demokratie, ist jetzt widerlegt. Überall gibt es starke demokratische Bewegungen,
die wir unterstützen müssen. Ich sage noch etwas: Wer
endlich Frieden im Nahen Osten will, muss die Zweistaatenlösung unterstützen. Wir brauchen einen lebensfähigen Staat Palästina und einen sicheren Staat Israel.
Wer das eine oder das andere nicht will, will auch keinen
Frieden im Nahen Osten.
({6})
Hier hat Herr Steinmeier völlig recht, Frau Bundeskanzlerin: Es geht nicht, dass Sie sich bei dieser Frage
- Sie haben hier nur ganz beiläufig die Rede Obamas erwähnt - heraushalten. Nein, wir müssen sagen: Es ist
richtig, der Staat Palästina muss in den Grenzen von
1967 gegründet werden. Wenn es einen Gebietsaustausch gibt, dann muss er zwischen Israel und Palästina
vereinbart werden. Wer jetzt diesen Weg nicht gehen
will, der schadet nicht nur den Palästinenserinnen und
den Palästinensern, der bringt auch den Israelis keinen
Frieden. Deshalb brauchen wir für beide Völker diesen
Weg.
({7})
Wir müssen auch unsere Rüstungsexportpolitik neu
durchdenken; ich komme wieder einmal darauf zurück.
Mit Genehmigung der Bundesregierung gab es Rüstungsexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen
Euro, an Ägypten im Wert von 144 Millionen Euro, an
Bahrain im Wert von 184 Millionen Euro und an SaudiArabien im Wert von 441 Millionen Euro, und zwar in
der Zeit von 2006 bis 2009. Der Spitzenreiter sind übrigens die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie bekamen
Rüstungsexporte im Wert von 846 Millionen Euro.
Ich sage es noch einmal ganz klar: Die libysche Armee hat gegen Demonstranten aus dem eigenen Volk
auch mit deutschen Waffen gekämpft. Die saudische Armee kämpft mit deutschen Waffen in Bahrain gegen Demonstrantinnen und Demonstranten.
Wir haben jetzt einen Antrag eingebracht, die Rüstungsexporte in diese Länder zu verbieten. Ich bin sehr
gespannt, wie Ihre Fraktionen darüber entscheiden. Wir
werden darüber namentlich abstimmen lassen, weil mich
interessiert, ob wir immer noch keine Schlussfolgerungen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben und tatsächlich noch Geschäfte mit Krieg machen wollen, anstatt endlich damit aufzuhören.
({8})
Nun wollen Sie weiter über die Lage der Weltwirtschaft sprechen. Das ist übrigens ohne China sehr
schwer; ich weiß gar nicht, wie Sie das machen wollen.
Außerdem gehören auch Länder wie Brasilien und Indien dazu; aber das lasse ich einmal weg. Es gibt zwei
Themen, die Sie erörtern wollen, nämlich zum einen die
weltweiten Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen
und zum anderen die gigantische öffentliche Verschuldung von Staaten auch infolge der Finanz- und Bankenkrise. Da sind wir wieder beim Thema Griechenland.
Griechenland ist am Rande der Zahlungsunfähigkeit,
kurzum: am Rande der Pleite. Nun hatten Sie doch lauter
Maßnahmen beschlossen und haben gesagt, sie seien alle
so genial und damit seien alle Probleme gelöst. Nun sind
die Probleme aber nur verschärft worden. Wann nehmen
Sie das denn einmal zur Kenntnis und korrigieren diese
Politik?
Was wären denn die alternativen Wege, die wir diesbezüglich gehen könnten? Ich halte nichts davon, dass
Sie immer wieder versuchen, Griechenland - genauso
wie Spanien, Portugal, Irland und andere Länder - unter
Druck zu setzen, indem Sie sagen: Es muss Sozialabbau
betrieben werden; die Löhne müssen gesenkt werden;
das ganze öffentliche Eigentum muss verkauft werden.
Ich glaube, dass das nicht geht. Ich glaube auch, dass
man einen Staat so gar nicht sanieren kann; denn Sie sorgen damit dafür, dass die Steuereinnahmen ständig zurückgehen. Das heißt, Griechenland wird dadurch nur
noch - wenn es eine Steigerung von „pleite“ gäbe „pleiter“.
({9})
Genau diesen falschen Weg gehen Sie bei all diesen
Staaten.
({10})
- Ja, was denn? Bei Griechenland ist es ganz einfach:
Die sollen jetzt die Flughäfen, die Seehäfen, die Telefongesellschaften, die Post verkaufen.
({11})
Wenn man das alles privatisiert, dann gehört der öffentlichen Hand gar nichts mehr. Glauben Sie ernsthaft, dadurch die Probleme Griechenlands lösen zu können?
Ganz im Gegenteil: Sie verschärfen damit die Probleme.
({12})
Es kommt aber etwas hinzu: Weder die Bevölkerung
Griechenlands noch die Bevölkerung Spaniens ist bereit,
sich das bieten zu lassen. Werfen Sie doch einmal einen
Blick nach Spanien! Wer von Ihnen will mir eigentlich
sagen, was dabei herauskommt? Wer von Ihnen kann
überhaupt einschätzen, welche gesellschaftspolitischen
Entwicklungen dort stattfinden? Wenn diese Länder aber
in immer tiefere Krisen geraten, dann doch auch
Deutschland. Wir müssen endlich einen anderen Weg für
Europa und für unser Land finden; das will ich Ihnen
gerne sagen.
({13})
Ihr Weg ist klar. Sie sagen: Alles privatisieren, Löhne
runter, Renten runter, Sozialleistungen runter! Sie meinen, dadurch würde Griechenland gesund werden. Was
Sie erzählen, ist albernes Zeug; das Gegenteil ist richtig.
Wir müssen folgende Wege gehen:
Erstens. Es fängt damit an, dass wir einen riesigen
Exportüberschuss auch im Verhältnis zu Griechenland
haben; wir sind Vizeweltmeister beim Export. Warum
sind wir Vizeweltmeister? Ich kann es Ihnen sagen: Weil
nur in Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn
Jahren um 4,5 Prozent gesenkt worden sind, weil nur in
Deutschland die Realrenten in den letzten zehn Jahren
um 8,5 Prozent gesenkt worden sind, weil hier so viel
privatisiert worden ist. Dadurch sind wir im Angebot billig geworden. Das aber hat Griechenland mit ruiniert;
denn es kann sich nicht mehr mit der Abwertung seiner
Währung wehren, weil wir gemeinsam mit Griechenland
den Euro haben. Wir müssen einmal begreifen, dass wir
einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung haben. Da
muss man anders miteinander umgehen, als Sie das getan haben.
({14})
Zweitens. Wir brauchen einen Marshallplan. Ich sage
Ihnen einmal, was die EU hatte: Sie hatte einen Sozialund Strukturfonds für ärmere Regionen. Darüber bekommen auch heute noch die ostdeutschen Bundesländer,
Berlin und Bremen Geld; aber dieser Fonds läuft im
Jahre 2013 aus. Frau Bundeskanzlerin, wo bleibt denn
Ihre Initiative, um klarzustellen, dass wir in der Europäischen Union wieder einen Solidaritätsfonds benötigen,
und zwar einen Fonds, der noch größer ist und auch anderen Ländern helfen kann. Im Übrigen sind auch die
ostdeutschen Länder, Berlin und Bremen nach wie vor
darauf angewiesen. Es gibt aber keine Initiative dazu; da
wird einfach dichtgemacht.
Hier kann ich einen zweiten Schritt nennen. Die Europäische Zentralbank darf Kredite nur an Privatbanken
vergeben, nicht an Staaten. Sie müssen sich doch einmal
überlegen, welch ein Gipfel der Unverschämtheit da
stattfindet: Die Deutsche Bank erhält von der Europäischen Zentralbank einen Kredit für 1,25 Prozent Zinsen,
kauft mit diesem Geld für die Dauer von zehn Jahren
Staatsanleihen bei Griechenland und erhält dann
17 Prozent Zinsen. Das ist ein Reibach, der von der Europäischen Union organisiert und von der Bundesregierung genehmigt wird. Warum sagen Sie denn nicht:
„Gut, dann ändern wir den Vertrag; die EZB - meinetwegen gründet man auch eine andere Bank - kann Direktkredite zu günstigen Zinsen an Griechenland vergeben“? Das wäre eine Hilfe für das Land und nicht der
Weg, den Sie hier beschreiten.
({15})
Herr Kollege Gysi.
Ich bin gleich fertig.
Ich sage nur noch: Im Übrigen gibt es in Griechenland auch Milliardäre und Millionäre. Sie werden steuerlich so herangezogen wie in Deutschland, nämlich so gut
wie gar nicht. Auch das ist ein falscher Weg. Sie denken
immer nur an die Beschäftigten. Die sollen zur Kasse gebeten werden.
Sie selber wollen die Schulden, die in der Finanzkrise
angehäuft wurden, abbauen. Dazu wollten Sie eine Finanztransaktionsteuer einführen. Die hat Herr Schäuble
aber gerade beerdigt. Dann haben Sie noch gesagt: Die
Brennelementesteuer ist wichtig.
({0})
Die haben Sie aber auch beerdigt. Ich sage Ihnen, wer
das Ganze bezahlt: die Arbeitslosen.
({1})
Mit dieser Politik kommen Sie nicht durch. Das werden
Sie auch bei den nächsten Wahlen erleben.
({2})
- Natürlich. Sie haben das Elterngeld gestrichen. Sie haben Mittel für weitere Maßnahmen gestrichen. Sie haben
in gigantischem Maße gekürzt.
Lieber Herr Kollege Gysi.
Die Kollegen reizen mich, Herr Präsident, immer
wieder zu erwidern.
Das ist ja wahr.
Aber ich verstehe Sie, Herr Präsident. Sie wollen auf
die Zeit achten.
Wenn die wechselseitige Begeisterung zwischen Ihnen und Volker Kauder nur von mir zu stoppen ist, dann
muss ich das jetzt halt tun. Es ist vorbei.
Sie haben recht, Herr Präsident, aber Sie müssen zugeben: Seine Begeisterung für mich nimmt ständig zu.
Danke schön.
({0})
Nun kann der Kollege Volker Kauder diese Begeisterung höchstselbst am Podium des Deutschen Bundestages zum Ausdruck bringen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der G-8-Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat ein
Schwerpunktthema, Herr Gysi. Dazu haben Sie nichts
gesagt, weil Sie zu Menschenrechten und Religionsfreiheiten kein richtiges Verhältnis haben.
({0})
Der Gipfel in den nächsten zwei Tagen hat neben
Menschenrechten ein weiteres zentrales Thema, auf das
der Kollege Brüderle hingewiesen hat und zu dem Sie
auch nichts sagen können, nämlich Freiheitsbewegungen
von Menschen, die eine neue Perspektive wollen. Das
sind die Hauptthemen, um die es bei diesem Gipfel geht.
Der Fraktionschef der SPD, Herr Steinmeier, hat
heute gesagt, die Bundesregierung habe keinen richtigen
Plan.
({1})
Ich wäre da ganz vorsichtig - ich weiß nicht, wo Herr
Steinmeier sitzt; da hinten sitzt er -; denn die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben schon
sehr früh, unmittelbar nach den Ereignissen in Nordafrika, in der EU die Transformationspartnerschaft auf
die Tagesordnung gesetzt.
({2})
Noch bevor der amerikanische Präsident das Wort in den
Mund genommen hat, hat diese Bundesregierung das
Thema in Europa auf die Tagesordnung gesetzt.
({3})
Das Amt trübt zwar manchmal den Blick, Herr
Steinmeier, aber trotzdem muss man fair bleiben und die
Wahrheit sagen. Europa hat gleich den richtigen Weg
eingeschlagen. Wenn wir diese Transformationspartnerschaft jetzt angehen, werden wir sehen, was wirklich erforderlich ist.
Der Kollege Polenz war vor einer Woche mit einer
Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Ägypten;
ich war am vergangenen Wochenende zu politischen Gesprächen in Kairo. Dort haben wir einen ganz anderen
Eindruck gewonnen als den, den Herr Steinmeier an diesem Rednerpult zum Ausdruck gebracht hat. Die Menschen setzen auf Europa, und sie setzen vor allem auf
Deutschland. Sie haben gesagt: Das Wichtigste, was wir
jetzt brauchen, ist Bildung, weil wir dadurch eine Perspektive bekommen. Mehr als 50 Prozent der jungen
Menschen in Ägypten sind Analphabeten. Die Menschen sagen: Wir haben ohne Bildung keine Perspektive.
Im Zusammenhang mit Bildung fällt ihnen vor allem ein
Land ein, und das ist Deutschland mit seinem dualen
Ausbildungssystem, auf das sie setzen.
({4})
Deswegen ist es völlig richtig, wenn die Bundeskanzlerin sagt: Das wird ein Schwerpunkt sein.
Ich möchte anregen, dass wir uns innerhalb der Bundesregierung mit der Frage beschäftigen, was wir tun
können, um Auslandsschulen auszubauen und sie in die
Lage zu versetzen, mehr Menschen auszubilden. Im Übrigen, lieber Herr Kollege Brüderle, sage ich zu dem
Thema Fachkräfte, über das wir häufig diskutieren: Die
jungen Leute, die in deutschen Auslandsschulen ausgebildet worden sind, sind die besten Fachkräfte, die wir
dann auch holen können.
({5})
Schulen und Perspektiven sind zwei Punkte, die miteinander verbunden werden müssen. Das brauchen wir
jetzt in Nordafrika.
({6})
Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, dass sie
morgen auch den ägyptischen Ministerpräsidenten trifft.
Wir haben uns in Ägypten mit jungen Muslimen, mit
Vertretern der Muslimbrüder und jungen koptischen
Christen getroffen. Dort ist man sich grundsätzlich darüber einig, dass an erster Stelle nicht eine bestimmte
Religionszugehörigkeit steht, sondern der Wunsch, dass
Ägypter Ägypten voranbringen.
Das hindert uns natürlich nicht daran, die Situation in
Ägypten genauer zu betrachten - dazu muss an den beiden Tagen in Deauville ein klares Wort gesagt werden -:
Es gibt in Ägypten ein Sicherheitsvakuum. Die koptischen Christen machen sich zu Recht Sorgen um ihre Sicherheit. Es hat erneut Angriffe auf koptische Christen
und Kirchen gegeben. Der jetzige Ministerpräsident darf
in Deauville nicht nur sagen: Wir brauchen diese oder
jene Hilfe. Er muss vielmehr bereit sein, koptische
Christen vor Übergriffen zu schützen. Das Sicherheitsvakuum darf nicht zulasten der Christen in Ägypten gehen.
({7})
Natürlich nehmen wir die Entwicklung, die in Ägypten stattgefunden hat, wahr. Wir sollten dennoch nicht
die Augen vor der Wirklichkeit verschließen. Es ist völlig klar, dass man sich dort noch viele Jahre auf dem
Weg zu einer Demokratie, wie wir sie uns vorstellen, befindet. Deswegen sind der Rechtsstaatsdialog und der
Politikdialog mit Ländern wie Ägypten von großer Bedeutung.
Wir werden feststellen, dass alle Muslime, auch die
moderaten, als Grundsatz formulieren: Ägypten wird ein
Staat sein, in dem die Grundlagen der Scharia die
Grundlagen des Rechts sind. Da sollten wir uns keiner
Täuschung hingeben; das wird auch in einer neuen Verfassung genau so formuliert werden. Umso wichtiger ist
es, dass wir sagen: Eine solche Rechtssituation darf nicht
dazu führen, dass eine starke Minderheit - die Christen
machen immerhin 10 Prozent der Bevölkerung in Ägypten aus - bei einer solchen Entwicklung unter die Räder
kommt. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen müssen wir immer wieder ganz genau hinschauen.
({8})
In Deauville wird auch die Situation im Nahen Osten
ein wichtiges Thema sein. Auch hier muss ich sagen:
Herr Kollege Steinmeier, Sie irren sich total, was die Zusammenarbeit in Europa und mit den Amerikanern anbelangt. Aus Ihrer Zeit als Außenminister wissen Sie doch
ganz genau, dass ohne Amerika eine Klärung der Situation im Nahen Osten gar nicht möglich ist. Nach dem
Motto zu verfahren: „Die Bundesregierung soll das Problem im Nahen Osten lösen“, ist Kinderträumerei und
hat mit der Realität ganz und gar nichts zu tun.
({9})
Es bleibt dabei, dass wir unseren Einfluss ausüben
müssen. Eine gewisse Sorge bereitet es, wenn man die
jungen Menschen in Nordafrika - Christen und Muslime über die Situation vor Ort reden hört. Diese jungen Menschen sagen: Das, was uns dazu gebracht hat, auf die
Straße zu gehen - bessere Perspektiven im Leben zu haben, für Freiheit zu streiten -, das fühlen wir auch bei
den jungen Palästinensern. Deswegen erwarten wir, dass
auch sie eine Perspektive erhalten.
Ich kann nur sagen: Die Sorgen Israels sind groß im
Hinblick auf die Situation in Nordafrika. Israel sollte darauf eine Antwort geben, und zwar dahin gehend, dass
man nach einer Friedenslösung sucht. Sich abzuschotten,
macht überhaupt keinen Sinn. Das werden die neuen
jungen Bewegungen in Nordafrika nicht hinnehmen.
Deswegen müssen wir als Deutsche den Transformationsprozess begleiten. Nur zu sagen, wie es Netanjahu
tut: „Wir machen weiter wie bisher“, wird diese junge,
starke, nach Freiheit strebende Generation in Nordafrika
nicht zufriedenstellen.
({10})
Weil wir die Sorgen Israels teilen, weil das Existenzrecht Israels eine feste Größe für uns in der deutschen
Politik ist, müssen wir mit unseren israelischen Freunden darüber sprechen, wie sich die Situation verändert
hat und wie wir zu Lösungen kommen, die eine Befriedung dieser ganzen Region herbeiführen können. Eine
Befriedung wird nur zu erreichen sein, wenn Menschen,
die jungen Leute in Nordafrika, das Gefühl haben, dass
sich etwas für sie in ihrem Land tut. Im Augenblick richten viele, die besonders stark sind, die eine gewisse
Grundausbildung haben, den Blick nach Europa. Das ist
ein großes Problem in dieser Region; denn genau diese
Menschen werden in ihrem Land gebraucht. Deswegen
ist es richtig und notwendig, dass wir Hilfe anbieten.
Ich glaube, wir müssen über die Ausgestaltung der
Strukturfonds in Europa reden. Wir haben in Griechenland und auch in Portugal gesehen, dass es nicht immer
sinnvoll ist, noch eine Autobahn und noch eine Brücke
zu bauen. Vielleicht müssen diese Strukturfonds in Bildungsfonds umgewandelt werden, um jungen Menschen
Perspektiven zu geben. Nicht nur in Brücken, sondern in
die Köpfe muss investiert werden, auch durch Strukturfonds.
({11})
Wir haben also allen Grund, die Entwicklung in
Nordafrika mit Zuversicht zu betrachten, aber auch mit
dem klaren Bewusstsein, dass eine Begleitung der Entwicklung dort noch viele Jahre notwendig sein wird. Vor
allem haben wir, finde ich, die Aufgabe, deutlich zu machen, dass wir darauf achten werden, dass die Christen in
diesem Land ihren Glauben leben und ihre Perspektiven
verwirklichen können. Wir dürfen, wenn wir die Menschenrechte ernst nehmen, nicht zulassen, dass starke
oder auch schwächere Minderheiten unter die Räder
kommen; das müssen wir allen sagen. Wir akzeptieren
natürlich, dass ein Land, in dem 90 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, dort einen Schwerpunkt seiner Politik sieht, aber Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten
für Christen und Muslime. Wir werden dafür streiten,
und wir werden nicht schweigen, wenn Christen verfolgt
werden.
({12})
Ich bitte darum, dass dies an den kommenden Tagen in
Deauville deutlich gemacht wird.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, die G-8-Treffen der letzten Jahre
haben regelmäßig mit großen Zusagen für Afrika geendet. Große Summen wurden jedes Mal versprochen.
Fünf Jahre nach Gleneagles, direkt vor Beginn des
nächsten Gipfels, hätte ich mir eine ehrliche Bilanz der
Umsetzung gewünscht.
({0})
Sie haben hier leider um das Problem der fehlenden
Zahlungen herumgeredet. Die internationale Hilfsorganisation ONE hat vor kurzem eine Umsetzungsbilanz
vorgelegt. Diese fällt nicht gut aus, für die G 8 nicht und
besonders für Deutschland nicht. Deutschland hat demnach seine Zusagen für Subsahara-Afrika nur zu 23 Prozent erfüllt. Schlechter war nur noch Italien. Dass es
auch in schwierigen Zeiten anders geht, das zeigen die
USA, Kanada oder Japan. Diese Länder haben ihre Ziele
mehr als erfüllt. Ich kann nur sagen: Wer große Versprechungen macht und sie dann nicht einhält, wird seiner
internationalen Verantwortung nicht gerecht. Dieser Vertrauensbruch schadet dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit Deutschlands.
({1})
Jetzt steht die Unterstützung für wichtige Länder in
Nordafrika und der arabischen Welt auf der internationalen Tagesordnung. Den mutigen Menschen dort, die für
die Freiheit aufgestanden sind, gehören unsere Hochachtung und Solidarität; da sind sich hier alle einig. Gerade
die Staaten der G 8 haben hier eine Bringschuld, weil
wir alle die autoritären Regime dort viel zu lange gestützt haben, um vermeintliche Stabilität zu erreichen.
Jetzt, im Vorfeld, ist zu lesen, es werde eher ein Gipfel der Signale; das heißt auf Deutsch: ein Gipfel der
nicht ganz konkreten Versprechen. Ich frage Sie: Was
nützt all das Gerede über eine Art Marshallplan für Tunesien und Ägypten, wenn noch nicht einmal klar ist,
dass der EU-Markt für diese Länder weiter geöffnet
wird? Wenig.
({2})
Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass sich die Bundesregierung ganz konkret für eine Marktöffnung in allen G-8-Ländern einsetzt. Wenn Sie das tun, dann haben
Sie in diesem Punkt unsere volle Unterstützung.
({3})
Auch eine Änderung der Flüchtlingspolitik gegenüber
Nordafrika ist notwendig. Hier regiert in Europa gerade
die blanke Schäbigkeit. 850 000 Menschen sind bisher
allein aus Libyen in die Nachbarländer geflohen. Nur
25 000 davon sind nach Italien, nach Europa geflohen;
das sind gerade einmal 3 Prozent. Anstatt nun zu überlegen, wie man diesen Menschen helfen kann, wird über
innereuropäische Grenzkontrollen diskutiert. Das ist
schlicht und einfach beschämend.
({4})
Deutschland sollte hier mit großzügigen Aufnahmeangeboten international voranschreiten.
Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Die
Länder des demokratischen Aufbruchs in Nordafrika
brauchen eine umfassende Unterstützung, die ihre wirtschaftliche Situation verbessert und nicht als westliche
Bevormundung daherkommt. - Dazu gehört ein freier
Warenverkehr in die Europäische Union und in die anderen G-8-Länder; das gilt insbesondere für landwirtschaftliche Produkte aus Nordafrika. Dazu gehören
großzügige Möglichkeiten für die Menschen aus Nordafrika, in der Europäischen Union zu lernen und, zumindest zeitweise, zu arbeiten. Sie müssen mit der Visaverweigerungspolitik, die Sie in diesem Zusammenhang
betreiben, aufhören.
({5})
Dazu gehören auch gezielte finanzielle Hilfen durch
die G 8. Die USA haben Ägypten gerade einen Schuldenerlass in Höhe von 1 Milliarde Dollar zugesagt.
Deutschland ist der zweitgrößte bilaterale Gläubiger
Ägyptens. Auch Sie sollten ganz konkret einen Schuldenerlass zusagen.
In eine solche Agenda gehört ebenso eine umfassende
Energiepartnerschaft für erneuerbare Energien, die auch
der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Ein solches Paket wäre eine angemessene Reaktion auf die Umbrüche
in dieser Region. Leider scheint die Bundesregierung
hier als Treiber auszufallen.
Ich begrüße das Engagement der Bundesregierung
und der Bundeskanzlerin zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, das Eintreten für eine ZweiStaaten-Lösung und die Forderung nach Friedensverhandlungen. Präsident Obama hat erklärt, dass eine Lösung in den Grenzen von 1967 in Verbindung mit einem
vereinbarten Gebietsaustausch beruhen muss. Ich hätte
mir gewünscht, dass Sie diese Position heute ausdrücklich und vor allem wörtlich unterstützt hätten, gerade angesichts der Äußerungen von Ministerpräsident Netanjahu in Washington.
({6})
Auf der Tagesordnung des Gipfels steht auch das
Thema „nukleare Sicherheit“. Drei Viertel aller Atomkraftwerke weltweit stehen in den Staaten der G 8. Es
liegt ganz wesentlich in den Händen dieser acht Staaten,
endlich die Konsequenzen aus der furchtbaren Katastrophe in Fukushima zu ziehen. Frau Merkel hat noch einmal die Tragweite der Katastrophe von Fukushima betont. Sie sollte aber auch dementsprechend handeln.
Steigen Sie schnellstmöglich und endgültig aus der
Atomkraft in Deutschland aus, und hören Sie auf, mit
Hermesbürgschaften, also deutschen Steuergeldern, den
Export von Atomtechnologie zu unterstützen!
({7})
Wir erwarten, dass Sie in Deauville klare Worte an
Ihre Kolleginnen und Kollegen richten, dass es die viel
beschworene nukleare Sicherheit nicht gibt und der Ausstieg aus der Atomkraft deswegen notwendig ist. Ihr
Verhalten in Deauville in dieser Frage ist für uns auch
ein Test mit Blick auf Ihre Glaubwürdigkeit hier in
Deutschland.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nun freuen wir uns, dass der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses seinen heutigen Geburtstag mit einer
Rede im Plenum des Deutschen Bundestages für die
CDU/CSU-Fraktion schmücken möchte.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für die freundlichen
Glückwünsche.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat in seiner Rede
kritisiert, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung so oft von Zuhören, von Beitragen und von
Unterstützen gesprochen hat. Ich bin gerade aus Tunis
und Kairo zurückgekommen, wo wir in der vergangenen
Woche mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses gewesen sind. Die neuen Kräfte dort, die Menschen,
die auf dem Tahrir-Platz so mutig demonstriert und Kopf
und Kragen riskiert haben und weiter riskieren, erwarten
genau das von uns, nämlich, dass wir zuhören, dass wir
beitragen und dass wir unterstützen.
({0})
Sie sagen zu Recht: Das ist unsere Revolution. Wir wollen nicht länger bevormundet werden - weder von unserer Regierung noch vom Westen.
Deshalb war die Kritik, es sei hier zu wenig aktiv und
mit eigenen Vorschlägen vorgegangen worden, meines
Erachtens völlig neben der Sache. Mit einer besserwisserischen Hoppla-jetzt-komme-ich-Außenpolitik würden
wir den Erwartungen und Hoffnungen der arabischen
Freiheitsbewegung überhaupt nicht gerecht werden.
Freiheit, Würde, Arbeit: Dafür sind Jung und Alt,
Männer und Frauen überall in der arabischen Welt auf
die Straße gegangen, und sie tun das noch - oft, wie zum
Beispiel jetzt in Syrien immer wieder, unter Einsatz ihres
Lebens. Wir bewundern diesen Mut, wir teilen diese
Werte, wir hoffen und wollen helfen, soweit wir können,
damit diese Bewegung auch Erfolg hat. Dem arabischen
Frühling müssen ein Sommer und eine Ernte folgen, es
darf keine neue Eiszeit geben.
({1})
Freiheit, Würde, Arbeit: Die Menschen in Tunesien
und in Ägypten wollen frei und in Würde leben. Sie wollen eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem
die hohe Jugendarbeitslosigkeit drückt hier besonders.
Deshalb ist es genau der richtige Ansatz, dass jetzt auf
dem G-8-Gipfel auch auf Vorschlag der Bundesregierung hierauf ein Schwerpunkt gesetzt wird.
Alle Gesprächspartner in Tunis und Kairo haben uns
gesagt, dass für den Erfolg der arabischen Revolution
neben der Schaffung demokratischer Institutionen und
rechtsstaatlicher Strukturen vor allen Dingen die Wirtschaft entscheidend ist. Deshalb ist es auch gut, dass Tunesien und Ägypten an dem G-8-Gipfel teilnehmen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden: Wir wollen das
partnerschaftlich auf Augenhöhe miteinander besprechen.
Man darf aber nicht übersehen: Die beiden Ministerpräsidenten stehen einer Übergangsregierung vor. Es
sind eher technokratische Regierungen, wobei die Legitimation in Tunesien sicherlich ein beträchtliches Stück
höher ist als im Augenblick in Ägypten. Tunesien ist insgesamt auf einem guten Weg. Dort kann man die Hoffnung haben, dass die Überleitung in demokratische Institutionen gelingt. Bei Ägypten muss man leider sagen:
Das ist noch nicht ganz sicher.
Die Bundeskanzlerin hat zu Recht gesagt: Mehrparteiensystem, marktwirtschaftliche Strukturen und
Rechtsstaat - davon wollen wir unsere Hilfe abhängig
machen. Ich möchte nur darauf hinweisen - das muss
auch auf dem G-8-Gipfel ein Thema sein -: In Ägypten
gilt noch immer der Ausnahmezustand. In Ägypten urteilen Militärgerichte über Demonstranten, und sie verhängen Gefängnisstrafen von drei bis fünf Jahren.
Es gibt in Ägypten - das ist hier von fast niemandem
kommentiert worden - ein Parteiengesetz zur Registrierung neuer Parteien, wonach man nicht nur 5 000 Mitglieder braucht - darüber lässt sich ja noch reden -, sondern diese Mitglieder müssen sich auch notariell
registrieren lassen, ihre Namen werden in den größten
Tageszeitungen Ägyptens veröffentlicht, und sie müssen
eine Geldsumme zahlen.
Welchen Mut es erfordert, sich in einem solchen Land
für eine neue Partei zu entscheiden und mit dem eigenen
Namen dafür einzustehen, wenn man vielleicht noch die
Sorge haben muss, dass daraus die nächste Internierungsliste wird, wenn die Sache nicht so gut ausgeht, wie
man es sich erhofft, können diejenigen nachempfinden,
die sich öfter mit Systemen beschäftigen, die noch keine
Demokratien sind. All das muss, finde ich, auch auf dem
Gipfel angesprochen werden.
Der Militärrat hält in Ägypten nach wie vor das Heft
in der Hand und lässt sich nicht in die Karten schauen.
Hier ist Transparenz gefordert. Notwendig ist auch mehr
Klarheit in der Frage, wie der Übergang organisiert werden soll. Es hat keinen Sinn, Geld in die alten ägyptischen Strukturen zu geben. Das will ich an dieser Stelle
festhalten.
({2})
Das Besondere an der arabischen Revolution ist Analysen zufolge: Es gibt keinen Führer. Es gibt keine Partei. Es gibt kein Programm. - Das ist jetzt ein Problem.
Man war sich einig in den Forderungen nach einem
Rücktritt von Ben Ali und Mubarak und darin, künftig in
Würde und Freiheit leben zu wollen. Das heißt, keine
Repression, keine Korruption und kein Nepotismus
mehr.
Aber wie kommt man dahin? Hier setzt die Beratungsaufgabe ein. Dabei leisten die Stiftungen hervorragende Arbeit. Davon haben wir uns überzeugt. Auch das
Goethe-Institut hat in beiden Ländern seine Programme
so umgestellt, dass es für die Entwicklung in Richtung
Demokratie und Rechtsstaat hilfreich ist.
Die Frage ist nun: Was hilft wirtschaftlich? Man muss
wissen, dass es in Ägypten einen gigantischen Wasserkopf gibt: Über 45 Prozent der Beschäftigten sind im öffentlichen Dienst. Das bedeutet einen Wust an Bürokratie und jede Menge Möglichkeiten zum Handaufhalten
und zur Korruption, etwa wenn es um Genehmigungen
geht. Man muss mit der Regierung auch darüber sprechen, wie man sich hier Änderungen vorstellt.
Aber es gibt eine Möglichkeit, wie im Grunde jeder
dazu beitragen kann, dass es in Tunesien und Ägypten
wirtschaftlich wenigstens wieder etwas aufwärtsgeht,
und zwar durch den Tourismus. Der Tourismus hat nicht
nur den Vorteil, dass von dieser Branche ein Großteil der
Wirtschaft abhängt. Selbst wenn vielleicht das eine oder
andere Hotel in falschem Besitz ist, gibt es über die Beschäftigung in der Tourismusbranche auch einen Trickledown-Effekt, der allen Menschen in diesen Ländern zugute kommt.
Deshalb wäre es sehr wichtig, dass wir uns auch darüber Gedanken machen - das richte ich auch an Ernst
Hinsken -, wie wir zum Tourismus in Richtung Tunesien
und Ägypten ermutigen können, damit er wieder in die
Gänge kommt. Denn die Sicherheitsprobleme, die zur
Zurückhaltung geführt haben, sind, glaube ich, gelöst.
Hier kann jeder, dem die arabische Revolution am
Herzen liegt, einen eigenen Beitrag leisten. Er hat auch
einen Vorteil: Es geht in schöne Länder.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Rolf Mützenich ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe mich auf diese Debatte gefreut; denn
ich glaube, es ist notwendig, dass wir seitens des deutschen Parlaments den Bürgerinnen und Bürgern etwas
von der Verunsicherung über die tiefgreifenden Umbrüche nehmen, die in der arabischen Welt stattfinden. Umbrüche führen immer zu Verunsicherung. Deswegen
brauchen wir diese Debatte.
In der Tat hätte ich mir von der Bundeskanzlerin mehr
klare Worte und eine mutigere Rede zu diesen Umbrüchen erwartet, insbesondere dass sie auch auf die Chancen statt nur auf die Risiken hingewiesen hätte. Das
muss man von einer Regierungschefin erwarten können.
Insbesondere ist das im Kontrast zu der Rede von Präsident Obama deutlich geworden, der gesagt hat, was für
ein Potenzial durch die Umbrüche gerade an unseren europäischen Außengrenzen möglicherweise auf uns rückwirken wird. Ich glaube, das ist das große Versäumnis
auch Ihrer Fraktion. Das ist ein entscheidender Kontrast:
Diese Bundeskanzlerin denkt nicht mehr wie ihre Vorgänger in europäischen Kategorien, was Maßnahmen
und Chancen angeht, sondern sie hat nur noch ihre lokalen Interessen und ihre Parteiinteressen vor Augen. Ich
finde, das darf eine Bundeskanzlerin und Regierungschefin nicht tun.
({0})
Ich gebe Herrn Polenz recht: Man darf nicht blauäugig sein. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Risiken.
Aber Eigennutz und insbesondere mangelnde Selbstkritik wären genau das Falsche. Der Kollege Kauder hat gesagt: Wir setzen das auf die Tagesordnung. - Das nur auf
die Tagesordnung zu setzen, reicht eben nicht. Man muss
konkret beschreiben, wie man die Chancen nutzen will.
Insbesondere darf man mit den mutigen und jungen
Menschen in den arabischen Ländern nicht nur im Dialog sein. Man muss ihnen auch mit Würde und Respekt
- genau das verlangen sie auf ihren Demonstrationen begegnen. Daran mangelte es in der heutigen Regierungserklärung. Auf Würde und Respekt ist die Bundeskanzlerin nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht eingegangen. Das ist schade.
({1})
Es gibt große Chancen, aus denen wichtige Entwicklungen entstehen. Man sollte nicht nur die Demonstrationen zur Kenntnis nehmen, sondern auch darauf achten,
was darauf folgt. So hat zum Beispiel die ägyptische
Staatsanwaltschaft Anklage gegen den ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mubarak erhoben. Auch das ist ein
mutiger Schritt. Die ägyptische Gesellschaft ist auf einem guten Weg, wenn Recht und Gesetz beachtet werden und vormalige Potentaten zur Verantwortung gezogen werden. Ich glaube, das ist genau das, was die
Menschen erwarten. Hier müssen wir gerade auf europäischer Ebene unterstützend tätig werden.
Ich appelliere an die europäischen Länder, nicht nur
die Risiken, sondern auch die Chancen deutlich zu machen. Insbesondere die Sicherheitsrisiken, die in den vergangenen Jahren immer wieder aufgetreten sind - ich
nenne als Beispiel nur den internationalen Terrorismus -,
können besser eingegrenzt werden, wenn freiere, sozialere und gerechtere Gesellschaften unmittelbar an den
Außengrenzen Europas aufgebaut werden.
({2})
Dafür brauchen die dort lebenden Menschen keine Ratschläge, sondern Zeit und Unterstützung.
Man kann über die Entscheidung der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Sicherheitsratsresolution 1973 zu Libyen - das geht quer durch das Haus unterschiedlicher Auffassung sein. Aber ich bin entsetzt,
dass Herr Minister Niebel, ein Kabinettsmitglied, nach
der Sicherheitsratsresolution unseren Bündnispartnern
niedere Beweggründe vorgeworfen hat, als es darum
ging, diesen Beschluss umzusetzen. Ich finde es fatal,
dass die Bundeskanzlerin hier nicht widersprochen hat.
Das zeigt den tiefen Fall der deutschen Außenpolitik.
({3})
Herr Gysi, Sie haben Verschwörungstheorien mit einem marxistisch anmutenden Vokabular aufgestellt.
Auch ich habe meine Ausbildung zum Beispiel in Falken-Lagern genossen. Aber so tief darf man nicht fallen.
Wer, wenn nicht Gaddafi, war denn der beste Bündnispartner der sogenannten westlichen Welt, wenn es um Öl
und Flüchtlinge ging? Wenn Ihre Logik zutreffen würde,
würden Sie sich selbst widersprechen. Das gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu. Hören Sie auf, irgendwelche
Verschwörungstheorien aufzustellen! Die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs versucht,
Anklage gegen Gaddafi wegen Völkermordes und Missachtung der Menschenrechte zu erheben. Genau um diesen Punkt wird die Auseinandersetzung geführt.
({4})
Ich persönlich habe die Entwicklung in Syrien vollkommen falsch eingeschätzt. Ich habe gedacht, dass Assad mehr Mut besitzt und eine Reformbewegung in der
an Traditionen orientierten syrischen Gesellschaft mit
unterschiedlichen Ethnien und Religionen zulässt. Ich
bekenne mich selbstkritisch zu meinen Fehleinschätzungen der Vergangenheit. Deswegen betone ich, dass es
richtig ist, dass die Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union bei den Sanktionen gegen Syrien vorangegangen ist und versucht, im Sicherheitsrat einen entsprechenden Beschluss herbeizuführen.
Wir haben noch nicht über unsere möglichen Antworten diskutiert. Ich glaube - das hat gestern der Kollege
Hoyer im Auswärtigen Ausschuss sehr deutlich gemacht -,
dass wir, wenn wir bei der Agrarpolitik nicht umsteuern,
den Mittelmeerländern keine Perspektiven bieten können. Gleichzeitig - auch das habe ich in der Rede der
Bundeskanzlerin vermisst - brauchen wir ein klares Wort
zu den Flüchtlingen, zu der dortigen Situation und dazu,
dass die Reformstaaten Tunesien und Ägypten unter den
Flüchtlingen am meisten zu leiden haben. Das hätte an
dieser Stelle gesagt werden müssen. Dies anzuerkennen,
würde nach meinem Dafürhalten die Reformbewegungen
in den Transformationsländern am besten unterstützen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Europa und
gerade in Deutschland sollten uns vor Augen führen,
welche Instrumente wir entwickelt haben und uns zur
Verfügung stehen, mit denen bereits Mauern eingerissen
und Gegensätze überwunden wurden. Hierzu kann die
sozialdemokratische Außenpolitik mit ihren Instrumentarien „Wandel durch Annäherung“, „gemeinsame Sicherheit“ und „Entspannungspolitik in Zeiten neuer
Spannungen“ eine Menge beitragen. Ich plädiere für den
Dialog: nicht nur mit den Ländern, die auf Transformation setzen, sondern auch mit den Regierungen, die versuchen, diesen Reformprozess auch von ihrer Situation
her zu beurteilen, wie dies zum Beispiel in Marokko und
Jordanien der Fall ist. Das wäre der angemessene Weg.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der nun bevorstehende G-8-Gipfel ist der erste
seit Beginn der Unruhen in der arabischen Welt. Es treffen sich acht der weltweit führenden Wirtschaftsnationen. Sowohl der Kommissionspräsident als auch der
Ratspräsident sind dabei. Wir haben die Chance, dass
von diesem Gipfel ein starkes Signal ausgeht, dass die
Demokratiebewegungen, die Freiheitsbestrebungen in
den Ländern der arabischen Welt nachhaltig unterstützt
werden.
Es ist aber bei weitem noch nicht absehbar, welche
Entwicklung diese Länder nehmen werden, denn wir haben es mit ganz unterschiedlichen Szenarien zu tun.
In Tunesien und Ägypten sind die früheren Machthaber gestürzt. Es beginnt die Aufarbeitung dieser Vergangenheit auch auf gerichtlichem Wege. Man versucht,
demokratische Strukturen und rechtsstaatliche Verfahrensweisen zu etablieren. Es werden Fahrpläne für verfassunggebende Versammlungen und Wahlen aufgestellt.
Dies gibt Anlass zur Hoffnung, aber wir müssen noch
eine Menge tun, damit diese Entwicklung unumkehrbar
wird.
Daneben stellen wir in Ländern wie Libyen, Syrien,
Jemen und Bahrain fest, dass die Machthaber mit roher
Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Das
sind untragbare Zustände.
Darüber hinaus ist es bislang in einer Reihe von Ländern, zum Beispiel in Jordanien und Saudi-Arabien, mit
politischen Zugeständnissen gelungen, Proteste zu vermeiden; eine Strategie, die erfolgversprechend erscheint.
Die dortigen Machthaber müssen wohl keinen unmittelbaren Sturz befürchten, aber der Handlungsbedarf ist
gleichwohl hoch.
Meine Damen und Herren, wir stellen fest, dass es in
diesen Staaten eine sehr heterogene Entwicklung gibt, je
nachdem, wie legitim die Herrschaftsformen sind, welche Rolle das Militär spielt und Ähnliches. Es gibt aber
in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sphäre
auch übereinstimmende Aspekte, die diese Entwicklungen kennzeichnen: Es handelt sich um Volkswirtschaften, die international kaum wettbewerbsfähig sind. Beispielsweise tätigt der Nahe Osten ohne die Ölexporte
Geschäfte mit dem Ausland in einem Umfang, der sich
in etwa auf dem Niveau der Exporte der Schweiz befindet. Es gibt eine hohe Arbeitslosigkeit, eine junge Bevölkerung, der es an wirtschaftlicher Perspektive mangelt,
sowie veraltete Bildungssysteme.
Diese länderübergreifenden Defizite müssen für uns
der Ansatzpunkt sein, Hilfe zu leisten. Die USA und
auch die Europäische Union haben erste Schritte unternommen, die Vereinigten Staaten beispielsweise einen
Schuldenerlass für Ägypten in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro. Bei Schulden Ägyptens in Höhe von 190 Milliarden Euro ist das zwar überschaubar, aber immerhin.
Es handelt sich ja nicht nur um eine finanzielle Unterstützung, sondern es ist auch eine Anerkennung für die
Oppositionsbewegung, für die Jugendbewegung, die den
Wandel in diesem Land eingeleitet hat.
Wir als Europäische Union haben die Chance, die Europäische Nachbarschaftspolitik endlich vom Kopf auf
die Füße zu stellen. Wir brauchen keine FunktionärstrefThomas Silberhorn
fen, in denen man keine Antenne für das entwickelt, was
sich in den Gesellschaften vor Ort tut, sondern wir müssen bilateral den Kontakt so pflegen, dass wir mitbekommen, welche Entwicklungen stattfinden, um wirklich
helfen zu können. Wir brauchen maßgeschneiderte Lösungen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik und
nicht den Instrumentenkasten, den man über jedes dieser
Nachbarländer stülpt.
Wir leisten enorme finanzielle Hilfe, aber das allein
wird nicht reichen; wir brauchen den direkten Kontakt zur
Bevölkerung. Deswegen begrüße ich, dass es nun gelingt,
dass wir unter dem Stichwort „Mobilitätspartnerschaft“
Reiseerleichterungen gewähren, Zugang zum Arbeitsmarkt gewähren, Beschäftigungsförderung betreiben,
Berufsbildung nach unseren Erfahrungen exportieren.
Das alles kann dazu beitragen, dass eine selbsttragende
Entwicklung stattfindet, die am Ende auch demokratische
Strukturen fördert.
Wir müssen sehr deutlich machen, dass wir jetzt auf
der Seite der Freiheitsbewegungen stehen, dass wir Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern wollen, aber
wir müssen auch zu sichtbaren Ergebnissen kommen;
denn Demokratie wird nach meiner Einschätzung nur
dann eine Chance haben, wenn sie sich als handlungsfähig erweist, wenn deutlich wird, dass mit den neuen
Strukturen die Probleme des Landes tatsächlich besser
gelöst werden können, als das vorher der Fall war. Deswegen müssen wir auch die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg in diesen Ländern legen.
In der Nahostpolitik tut sich jetzt ein Fenster auf, das
wir tunlichst nutzen sollten. Ich glaube, dass die Entwicklung in der arabischen Welt jetzt nicht als Vorwand
für einen Stillstand im Friedensprozess genommen werden darf, sondern im Gegenteil jetzt ganz konkrete Ergebnisse angestrebt werden sollten. Präsident Obama hat
sich dazu bekannt, die Grenzen von 1967 als einen Ausgangspunkt für eine Friedenslösung zu nehmen. Er übernimmt damit den Standpunkt, den die Europäische
Union seit langem vertritt. Aber es ist klar, dass Regelungen zum Gebietsaustausch das Ergebnis von Verhandlungen sein müssen, wie in anderen offenen Fragen
auch: Sicherheitsgarantien für Israel, Rückkehrmöglichkeit für Flüchtlinge. Wir sollten jetzt darauf dringen,
dass ohne Vorbedingungen zügig Gespräche stattfinden
und dass nicht durch einseitige Erklärungen mögliche
Verhandlungen belastet werden. Das gilt sowohl für die
Ausrufung eines palästinensischen Staates wie für den
Ausbau der jüdischen Siedlungen.
Ich glaube, dass es jetzt nicht klug wäre, auf Zeit zu
spielen. Den Umbruch in der arabischen Welt, der Auswirkungen haben wird, der die Gewichte in der Region
verändern wird, sollten wir nutzen, um auch zu einer gemeinsamen Friedenslösung zwischen Israel und den Palästinensern zu kommen. Die jüngste Zusammenarbeit,
das Versöhnungsabkommen zwischen Fatah und Hamas,
sollte kein Hindernis sein. Es sollte nicht als solches verstanden werden, sondern als eine Chance; denn Israel hat
bisher beklagt, dass es keinen Ansprechpartner gibt. Die
Hamas sollte nicht isoliert werden, aber es muss auch
klar sein, dass wir Erwartungen an sie richten. Es ist eine
Bringschuld der Hamas, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und sich von Radikalisierung und Extremismus loszusagen.
Herr Kollege Silberhorn.
Wenn uns das gelingt, dann in der Tat kann eine
Zwei-Staaten-Lösung auf dem Verhandlungsweg ein
Hoffnungsschimmer sein. Ich wünsche, dass auch der
G-8-Gipfel jetzt ein Signal setzt, bei diesem Prozess voranzukommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
Beginn kurz etwas Grundsätzliches: Die G 8 ist ein Auslaufmodell - zumindest müsste sie es sein -, weil die
Musik zunehmend in der G 20 spielt.
({0})
Doch auch die darf mit Skepsis betrachtet werden, weil
es nicht ausreicht, den Klub der Reichen um die Neureichen zu erweitern. Auch der G 20 fehlt die Legitimation.
Deshalb wünschen wir uns in der internationalen
Strukturpolitik, in der Global Governance einen Reformprozess, der auch die Rolle der Vereinten Nationen
stärkt. Am Ende könnte dabei zum Beispiel eine G 25
herauskommen, eng verzahnt mit den Vereinten Nationen, in der es sowohl ständige als auch nichtständige
Mitglieder gibt, die von verschiedenen Ländergruppen
gewählt werden;
({1})
denn auch die Repräsentanten der ärmeren Entwicklungsländer müssen beteiligt werden, wenn es darum
geht, die Weichen für die Weltwirtschaft zu stellen. Es
ist unwürdig, sie nach Belieben des jeweiligen Gastgeberlandes am Katzentisch Platz nehmen zu lassen.
Nach dieser Grundsatzkritik und der Zukunftsvision
ein paar Worte zum bevorstehenden Gipfeltreffen: Ich
wünsche mir sehr, dass die G-8-Regierungschefs bei ihren Beratungen zum Thema „Nordafrika und Mittelmeerraum“ die Kraft haben, mehr Selbstkritik zu üben.
Man feiert jetzt die Demokratiebewegung auf dem
Nachbarkontinent, hat aber allzu lange Bündnisse mit
Despoten geschmiedet und ihnen sogar die Waffen geliefert, die jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt werden.
Hat man aus den Fehlern gelernt? Wenn man sich
jetzt die Gästeliste anschaut, dann darf das bezweifelt
werden. Wir haben gerade gestern im Entwicklungsausschuss intensiv über massive Menschenrechtsverletzungen und Landgrabbing in Äthiopien diskutiert. Doch
Premier Meles Zenawi wird nach wie vor von der G 8
hofiert.
Zu den vielen leeren Versprechungen bezüglich der
Entwicklungsfinanzierung ist hier schon einiges gesagt
worden. Ich will das jetzt auch nicht weiter anprangern,
sondern ich halte es für besser, gemeinsam in die Zukunft zu schauen und die Bundesregierung und den Finanzminister zu ermutigen: Haben Sie eigentlich schon
wahrgenommen, wie viel Unterstützung und Rückenwind Sie aus diesem Parlament haben könnten, wenn Sie
sich einen Ruck gäben und schon für den Haushalt 2012
deutlich mehr finanzielle Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe bereitstellten?
({2})
Nach dem heutigen Stand haben 349 Parlamentarier
aus allen fünf Bundestagsfraktionen einen Aufruf der
Entwicklungspolitiker zu einem entwicklungspolitischen
Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels unterschrieben. Es gibt also eine zumindest dokumentierte
klare Mehrheit hier im Parlament, den schönen Worten
endlich Taten, das heißt auch ganz konkret, andere Haushaltszahlen folgen zu lassen. Das wäre ein starkes Signal, wenn es wirklich klappen könnte, noch vor der
Sommerpause zu diesem fraktions- und parteiübergreifenden entwicklungspolitischen Konsens zu kommen,
und zwar auch gegenüber Afrika, dem Nachbarkontinent. Das würde unsere Glaubwürdigkeit stark steigern.
({3})
Sibylle Pfeiffer ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
der G-8-Gipfel geplant wurde, hat noch niemand gewusst, welche Veränderungen und gesellschaftlichen
Umbrüche in Nordafrika stattfinden werden. Lieber Kollege Hoppe, wenn zu diesem Zeitpunkt ein G 25 oder ein
G 20 oder G 7 oder was auch immer geplant worden
wäre, wäre es nicht anders. Wichtig ist doch, dass wir
über das Thema reden und eine Möglichkeit finden, die
Menschen vor Ort zu unterstützen. Wenn es darum geht,
Selbstkritik an der Zusammenarbeit mit wem auch immer zu üben, lieber Kollege Hoppe, dann sage ich Ihnen:
Wir können uns unsere Partner manchmal nicht aussuchen. Manchmal müssen wir über Schatten springen, die
wir vielleicht auch als Schatten erkennen. Aber um den
Menschen zu helfen, ist es manchmal vielleicht richtig,
einfach etwas zu tun.
({0})
Wenn es um Selbstkritik geht, dann sollten wir alle
einfach ein bisschen ruhig sein. Ich will gar nicht darüber reden, wer mit wem in der großen weiten Welt gut
Freund ist, wer mit wem in einem Zelt gesessen hat und
Ähnliches. Ich glaube, da geben wir uns alle nichts. Es
ist jetzt der falsche Zeitpunkt, darüber lange zu diskutieren.
Vor einiger Zeit haben wir hier schon einmal über die
Entwicklung in Tunesien und Nordafrika insgesamt gesprochen. Wir haben damals bewundert, was dort geschah. Ich bin heute noch voll der Bewunderung und zolle
all den jungen Menschen meinen Respekt, die diese gesellschaftlichen Umbrüche in Gang gesetzt haben. Aber
mit einem kleinen bisschen Stolz sage ich, dass wir als
großer entwicklungspolitischer Geber auch etwas dazu
beigetragen haben. Wir haben rechtzeitig mit unseren
Partnerländern entsprechende Strukturen vor Ort aufgebaut, sei es Verkehrsinfrastruktur, seien es Krankenhäuser
oder Schulen. All dies ist schon einmal die Basis für eine
freiheitliche gesellschaftliche Entwicklung. Insofern ist
Entwicklungspolitik nicht nur eine vorbeugende Maßnahme, sondern sie kann auch im Nachhinein helfen. Vorbeugend ist die Entwicklungspolitik, weil sie - ich glaube,
wir Entwicklungspolitiker sollten in diesem Punkt selbstbewusst genug sein - Frieden und Sicherheit in der Welt
vielleicht nicht in vollem Umfang gewährleistet, aber zumindest in Gang setzt.
Die deutsche Entwicklungspolitik ist hervorragend
aufgestellt, zum einen durch ihre Durchführungsorganisationen, aber zum anderen durch ihre massive Unterstützung der politischen Stiftungen und der Kirchen sowie
der Vielzahl und Vielfalt der Nichtregierungsorganisationen. Gerade die politischen Stiftungen, gerade die Kirchen haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu unterrichten,
sie zu informieren und sie zu stärken, gesellschaftspolitische Veränderungen zu unterstützen, sofern sie da sind,
oder sie vielleicht sogar in Gang zu setzen, um die Entwicklungszusammenarbeit zum Erfolg zu führen.
Der Kampf für Freiheit verdient immer unsere Unterstützung. Deshalb ist die Frage: Wie richten wir unsere
Entwicklungszusammenarbeit aus, und wie kann die
Neuausrichtung der jetzigen Bundesregierung zum Beispiel in den Ländern Nordafrikas wirksam sein? Ich
setze sehr darauf, dass eine Erholung der gesellschaftlichen Strukturen, eine Stabilisierung der demokratischen
Bewegung nur über den wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen ist. Wenn wir den jungen Menschen durch Arbeitsplätze und Ausbildung Perspektiven eröffnen, dann ist
das richtig und gut. Deshalb begrüße ich sehr, dass vor
allen Dingen die DIHK und der BDI mit den vorhandenen Unternehmen vor Ort Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen wollen.
Aber wir können in der Entwicklungszusammenarbeit
noch mehr leisten: Wir können Unternehmensgründungen vor Ort unterstützen. Das gelingt uns gut mit Startups, wie wir es neudeutsch nennen, mit Unternehmensund Existenzgründungsdarlehen und Ähnlichem. Das alles können wir unterstützen.
Wir Entwicklungspolitiker wissen allerdings, dass wir
ohne die Mitnahme der Gesellschaft vor Ort und ohne
die Kooperation mit den entsprechenden Regierungen
kein Stück weiterkommen. Deshalb ist das, was jetzt in
Deauville geschieht - dabei hat die Frau Bundeskanzlerin unsere volle Unterstützung -, ein ganz wichtiger
Schritt. Ein Kommuniqué der G 8 mit den Ländern Nordafrikas auf Augenhöhe, wobei deren Verantwortung genauso eingefordert wird, wie wir unsere Verpflichtungen
eingehen - seien es Zusagen, seien es die Mittelbereitstellung und Ähnliches -, das ist der richtige Weg. Nur
in Kooperation werden wir erfolgreich sein. Wir alleine
können es nicht schaffen, aber sie allein auch nicht. Deshalb bieten wir unsere Unterstützung beim Aufbau von
industriellen, von ökonomischen Strukturen an, die die
Freiheit unterstützen, die aber auch den jungen, zurzeit
perspektivlosen Menschen die Aussicht eröffnen, sich
und ihre Familien ernähren zu können. Damit unterstützen wir sie für die Zukunft in ihren Ländern.
Das ist Aufgabe der Entwicklungspolitik. Deshalb unterstützen wir die G 8 in ihren Bemühungen, dies auch
mittels Partnerschaften umzusetzen. Ich bin sicher, dass
wir erfolgreich sein werden.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn man als letzter Redner spricht,
dann ist eigentlich alles gesagt worden, nur noch nicht
von jedem. Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin
sowie beim Kollegen Niebel, der die Zeitenwende erkannt, sofort Gespräche geführt und Entscheidungen getroffen hat, gerade in Bezug auf berufliche Bildung und
auf Wirtschaftspartnerschaften. Ich danke in diesem Zusammenhang in ganz besonderer Form den Stiftungen
unserer Parteien, die sich dort vor Ort in diesen Monaten
außerordentlich engagiert haben, um die Demokratiebewegung mit zu unterstützen.
({0})
Ich habe eben gesagt, es ist noch nicht alles von allen
gesagt worden. Deshalb richte ich meinen Blick auf
Afrika insgesamt. Der Ruf nach Freiheit und Demokratie, den wir in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern
in der Region erleben, kann Auswirkungen auf den gesamten Kontinent Afrika haben. Die Menschen wollen
andere Lebensbedingungen. Sie wollen Teilhabe in ihren
Ländern. Diese Teilhabe wird ihnen in vielen Ländern
verwehrt. Wir haben die Verantwortung, dass wir Afrika
als Chancenkontinent in unseren Partnerschaften begreifen. Chancenkontinent heißt, dass wir deutlich machen,
dass es auch afrikanische Länder gibt, die seit Jahren
vorbildliche Entwicklungen durchmachen.
Ich erinnere nur an Botsuana, das als eines der ersten
Länder seine Rohstoffe zertifiziert, damit den Haushalt in
Ordnung gebracht und in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investiert hat und damit eigentlich kein Nehmerland mehr ist. Ich erinnere an Ghana, wo die soziale
Marktwirtschaft in Teilbereichen unter Präsident Kufuor
eingeführt worden ist, wo es einen demokratischen Wechsel durch demokratische Wahlen gegeben hat. Diese Länder können sich andere afrikanische Länder zum Vorbild
nehmen.
Eine besondere Herausforderung ist, dass wir versuchen, den Begriff der wertgebundenen Politik in unsere
Verhandlungen mit den Regierungen aufzunehmen. Deshalb, lieber Kollege Hoppe, stimme ich in einem einzigen Punkt nicht mit Ihnen überein. Sie haben eben das
Thema Äthiopien angesprochen und unseren Umgang
mit Meles Zenawi erwähnt. Ich und andere aus den Koalitionsfraktionen und der Regierung haben ihn nicht hofiert. Auch Horst Köhler hat ihn nicht hofiert. Es ging
einzig und allein darum, auch mit solchen Staatschefs
Gespräche zu führen.
({1})
Das hat nichts mit Hofieren zu tun. Wir dürfen aber auch
nicht in Sprachlosigkeit verharren; denn nur durch Dialog schaffen wir es, auch dort neue Wege aufzuzeigen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Herausforderung stellt die demografische Entwicklung dar.
Schauen wir uns einmal die Bevölkerungszahlen an - ich
berufe mich dabei auf die Zahlen der Deutschen Stiftung
Weltbevölkerung -: In Afrika leben zurzeit 1 030 Millionen Menschen. Es werden bereits 2025 1 412 Millionen
und im Jahr 2050 2 084 Millionen Menschen sein. Das
bringt Herausforderungen in den Bereichen Wasser, Ernährung und damit der ländlichen Entwicklung sowie
Energieversorgung mit sich.
Lassen Sie mich bezüglich Wasser ein Beispiel herausgreifen - hier müssen wir auch unsere Bevölkerung mitnehmen -: Eine Stadt wie Lagos hat eine Kläranlage für
350 000 Einwohner, die 1950 gebaut wurde. Jetzt hat Lagos 16 bis 18 Millionen Einwohner. Damit geht fast alles
Abwasser in die Lagunen, dann in den Atlantik und
kommt irgendwann bei uns an. Wir müssen das unserer
Bevölkerung deutlich machen, damit sie bereit ist, Entwicklungszusammenarbeit und -partnerschaften mit Afrika
entsprechend zu unterstützen.
({3})
Meine Damen und Herren, diese christlich-liberale
Koalition und Dirk Niebel haben ganz deutlich gesagt:
Schwerpunkte werden wir in den Bereichen Wasser,
ländliche Entwicklung und Bildung setzen. Je gebildeter
die junge Generation ist - der Anteil der jungen Generation unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Afrika
beträgt zurzeit 40 Prozent -, desto mehr Teilhabe will sie
haben und desto eher wird sie nachhaltige Entwicklung
als Chance für die eigene Heimat begreifen. Auch das ist
Hartwig Fischer ({4})
eine ganz besondere Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Hierfür tragen wir Verantwortung. Hier
müssen wir auch innerhalb der Europäischen Union
Schwerpunkte setzen.
All dies bietet Entwicklungsmöglichkeiten für den
Chancenkontinent Afrika. Ich bitte Sie einfach einmal,
die Entwicklung der Bevölkerungszahl, die die Deutsche
Stiftung Weltbevölkerung ermittelt hat und die auch
Auswirkungen auf uns hat, genauer anzusehen. Dann sehen Sie, welche Herausforderungen sich für Afrika, aber
auch für uns als Nachbarkontinent stellen. Unterstützen
Sie dabei diese christlich-liberale Koalition!
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5951. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/5895 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Sevim Dağdelen, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
und zur Reformierung des Wahlrechts
- Drucksache 17/5896 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
vor der letzten Bundestagswahl hat das Bundesverfassungsgericht das Bundeswahlgesetz überprüft und ist zu
dem Ergebnis gekommen, dass es verfassungswidrig ist.
Es hat dem Gesetzgeber eine Bearbeitungsfrist von drei
Jahren eingeräumt. Diese läuft in sechs Wochen ab. Wir
stellen fest:
({0})
Am Ende dieser drei Jahre stehen wir fast genau dort, wo
wir zu Beginn gestanden haben. Es gibt keine Mehrheit
im Deutschen Bundestag für ein verfassungskonformes
Wahlrecht. Ich finde, das ist eine grobe Missachtung der
Rechtsprechung des Gerichtes durch die Mehrheit in diesem Hause.
({1})
Sie haben eine Nachspielzeit von drei Jahren bekommen. Aber Sie haben die Uhr einfach ablaufen lassen
und haben nichts gemacht. Ich finde, das ist eine unglaubliche verfassungspolitische Respektlosigkeit, die
Sie an den Tag legen.
({2})
Die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht,
der Schönheitsfehler haben mag.
({3})
Aber er würde uns helfen, ein verfassungskonformes
Wahlrecht zu schaffen. Die SPD legt heute einen Gesetzentwurf für ein verfassungskonformes Wahlrecht vor.
Sogar die Fraktion Die Linke hat einen Gesetzentwurf
eingebracht.
({4})
Dass Sie sich als Regierungskoalition ausgerechnet von
den Linken in Sachen Verfassung und Wahlrecht überholen lassen,
({5})
spricht eindeutig gegen Sie.
({6})
Das Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimmgewicht beanstandet. Das ist in der Tat eine paradoxe Erscheinung in unserem Wahlrecht. Es hätte bei der Nachwahl in Dresden dazu geführt, dass die CDU, wenn sie
kräftig Zweitstimmen hinzugewonnen hätte, ein zusätzliches Listenmandat in Sachsen gewonnen hätte. Sie
hätte dann aber ein Mandat in Nordrhein-Westfalen verloren. Allerdings wäre dieses Mandat in Sachsen gar
nicht zu Buche geschlagen; denn in Sachsen hatte die
CDU sogenannte Überhangmandate. Deshalb wäre in
der Konsequenz ein Überhangmandat lediglich in ein
Listenmandat umgewandelt worden. Unter dem Strich
hätte die Union ein Mandat, und zwar in NordrheinWestfalen, verloren.
Das bedeutet: Ein Zuwachs an Zweitstimmen kann
zum Verlust von einem Mandat führen. Das BundesverThomas Oppermann
fassungsgericht sagt, dass das nicht sein darf. Wenn die
Wählerinnen und Wähler nicht mehr sicher sein können,
ob sie mit ihrer Stimmabgabe ihrer Partei nützen oder
schaden, dann ist das Vertrauen in das Wahlrecht in der
Tat beeinträchtigt und dann muss dieser Fehler korrigiert
werden.
Das negative Stimmgewicht hat aber nur eine begrenzte Wirkung. Insgesamt können damit bundesweit
ein oder zwei Mandate verschoben werden, nicht mehr.
Unsere verbundenen Landeslisten sind quasi kommunizierende Röhren, die das immer ausgleichen.
Eine viel gravierendere Verzerrung der Wirkung von
Wählerstimmen kommt durch die Überhangmandate zustande. Sie sind das eigentliche Problem. Wir kennen
Überhangmandate seit Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland. Vor 1990 waren es allerdings nie mehr als
sechs Überhangmandate. Seit der Vereinigung ist ihre
Zahl gewachsen. Heute haben wir bei einem Fünf-Parteien-System 24 Überhangmandate im Deutschen Bundestag, so viel wie noch nie zuvor. Diese 24 Überhangmandate entfielen ausschließlich auf die Union. Das
bedeutet: Keine von den 1,5 Millionen Wählerstimmen,
die man normalerweise braucht, um diese Anzahl der
Mandate zu gewinnen, musste sich die Union verdienen.
Sie hat sie extra obendrauf bekommen.
Das Bundesverfassungsgericht - das muss man natürlich klar einräumen - hat bisher noch nicht eindeutig die
Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate festgestellt,
({7})
aber schon in seiner ersten Entscheidung klar ausgeführt,
dass bei Überhangmandaten die Wähler der entsprechenden Kandidaten ausnahmsweise ihr Stimmgewicht verdoppeln können und dass das nur in engen Ausnahmegrenzen zulässig ist. In einer anderen Entscheidung hat
es gesagt: Wenn sich der Anteil der Überhangmandate
allerdings der 5-Prozent-Marke nähert, dann wird es verfassungsrechtlich kritisch. Genau dahin bewegen wir
uns: 24 Mandate sind noch keine ganzen 5 Prozent, aber
wir haben hier jetzt Überhangmandate fast in Fraktionsstärke; das ist wie eine sechste Fraktion im Deutschen
Bundestag. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass
Überhangmandate in dieser Größenordnung aus vier
Gründen verfassungswidrig sind:
Erstens. Sie verleihen manchem Wähler ein doppeltes
Stimmgewicht: Ein Teil der Wähler kann mehr Abgeordnete in den Deutschen Bundestag wählen als andere
Wähler. Das ist eine Wirkung, die wir schon einmal in
Deutschland hatten: beim vorkonstitutionellen Wahlrecht in Preußen.
Zweitens. Die Überhangmandate führen zu einer massiven regionalen Ungleichverteilung der Mandate und
damit zu unterschiedlichem politischem Einfluss der
verschiedenen Regionen. Die CDU in Baden-Württemberg hat bei der letzten Wahl mit rund 34 Prozent der
Zweitstimmen fast 50 Prozent der Mandate gewonnen,
davon zehn Überhangmandate. Das politische Gewicht
der zehn Überhangmandate ist fast genauso groß wie das
politische Gewicht Hamburgs im Bundestag: Hamburg
hat insgesamt 13 Bundestagsmandate. Baden-Württemberg hat jetzt zwar eine gute Regierung; aber das ist noch
lange kein Grund dafür, dass diese Region hier im Deutschen Bundestag mit zehn Mandaten überrepräsentiert
sein sollte.
({8})
Drittens. Die Überhangmandate verletzen die Chancengleichheit der politischen Parteien bei den Wahlen. Die
SPD braucht für ein Bundestagsmandat 68 500 Stimmen,
die CSU 62 000 Stimmen, die CDU nur 61 000 Stimmen. Es ist kein faires Wahlrecht, wenn einzelne Parteien weniger Stimmen für ein Mandat benötigen als andere.
Der vierte Punkt ist im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate am gravierendsten. Die
Überhangmandate können die Mehrheiten im Deutschen
Bundestag umdrehen. Das heißt, eine Minderheit der
Stimmen kann zu einer Mehrheit der Mandate führen.
Die Überhangmandate können hierfür den Ausschlag geben. Spätestens wenn das passiert - meine Damen und
Herren, da bin ich ganz sicher -, werden die Wählerinnen und Wähler das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit
unserer Demokratie verlieren. Das kann dann eine
Staats- und Verfassungskrise auslösen, über die sich niemand freuen kann.
({9})
Deshalb müssen wir dieses Problem ernst nehmen.
Alle Experten sagen, dass die Zahl der Überhangmandate im Fünf-Parteien-System weiter anwachsen wird,
von 24 in Richtung 50 oder 60. Das ist eine ernstzunehmende Bedrohung.
Wir müssen wissen: Das Wahlrecht ist nicht irgendein
Recht, das beliebig gestaltet werden kann. Das Wahlrecht ist neben der Freiheit der Person und der Meinungsfreiheit für die Demokratie schlechthin konstituierend: In der Demokratie liegt die Macht beim Volk; der
Wahlakt ist die Übertragung dieser Macht vom Volk auf
das Parlament. Der Wahlakt muss deshalb klar, einfach
und sauber sein; vor allen Dingen muss er manipulationsfrei gestaltet sein. Er ist verbunden mit dem gleichen Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger; dieses
gleiche Wahlrecht ist im Augenblick nicht mehr gewährleistet.
Wir sagen deshalb: Ein verfassungskonformes Wahlrecht muss nicht nur das negative Stimmgewicht beseitigen, sondern auch die Überhangmandate neutralisieren.
Hier gibt es mehrere Wege. Die Grünen wollen die Überhangmandate nach ihrem Entwurf mit Mandaten auf den
Landeslisten anderer Länder verrechnen. Das ist nicht
unproblematisch, weil auch das zu einer regionalen Ungleichverteilung des politischen Einflusses führen
würde. Außerdem könnte man CSU-Mandate nicht verrechnen, weil die CSU eine eigenständige Landesliste
aufstellt.
({10})
Man müsste dann der CSU direkt gewählte Mandate
wieder abnehmen. Auch das ist problematisch. Die Linken legen einen Entwurf vor, in dem dieses Modell mit
dem SPD-Modell kombiniert wird.
({11})
Unser Modell sieht vor, die Überhangmandate auszugleichen, sodass die Proportionalität des Zweitstimmenergebnisses wiederhergestellt werden kann.
({12})
Ausgleichsmandate gewährleisten, dass die Stimmabgabe für eine Partei dieser Partei auch tatsächlich
nützt. Die Wählerinnen und Wähler können bei der
Stimmabgabe dann wieder sicher sein, dass ihre Stimme
der Partei, die sie gewählt haben, im Endeffekt zugute
kommt. Wir sehen natürlich ganz klar die Gefahr, dass
der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate
größer werden kann. Wir sehen aber nicht tatenlos zu.
Dieser unerwünschte Effekt kann korrigiert werden.
Deshalb sagen wir: Vor der übernächsten Bundestagswahl kann man auswerten, wie sich die Ausgleichsmandate ausgewirkt haben. Wir wären dann bereit, durch
eine maßvolle Reduzierung der Direktwahlkreise eine
Verkleinerung des Bundestages herbeizuführen. Auf diesem Weg würden wir gleichzeitig einen Umstand herstellen, der die Entstehung von Überhangmandaten tendenziell verhindern kann.
Die Koalition überlegt immer noch. Sie hat noch immer keine Einigung gefunden. Das liegt natürlich daran,
dass sie das Wahlrecht in erster Linie als Instrument zur
Machtabsicherung betrachtet.
({13})
Die Union möchte um jeden Preis die Überhangmandate
behalten. Ich rufe Ihnen zu: Letztes Mal haben Sie zwar
reichlich Überhangmandate gehabt, wie das beim nächsten Mal sein wird, wissen wir aber nicht.
({14})
In der Vergangenheit hat auch die SPD von Überhangmandaten profitiert.
({15})
Immer haben aber nur CDU und SPD davon profitiert,
nie die Grünen, nie die FDP und nie die Linkspartei.
Deshalb sagen wir: Wenn die Überhangmandate all diese
kritischen Wirkungen haben, dann wollen wir davon
nicht profitieren. Wir wollen auf diese Chance verzichten, indem wir die Überhangmandate ausgleichen.
Ich kann verstehen, dass die Union sich angesichts einer laut demoskopischer Untersuchungen schrumpfenden Zustimmung und angesichts der schlechten Landtagswahlergebnisse an diesen Überhangmandaten
festklammern will. Was ich aber nicht verstehen kann,
Herr Brüderle, ist, dass die FDP in diesen Verhandlungen alles tut, um der Union die Überhangmandate zu sichern. Die FDP hat zwar ein bisschen unter dem Image
gelitten, eine Partei der Egoisten zu sein, dass Sie jetzt
aber so altruistisch sind, dass Sie sogar zur Machtabsicherung der Union beitragen wollen
({16})
und für ein Wahlrecht eintreten, das Ihrer Partei überhaupt nicht hilft, wundert mich sehr. Dieses Wahlrecht
hilft den kleinen Parteien gar nicht. Sie bekommen zwar
Ausgleichsmandate, aber keine Überhangmandate.
({17})
Deshalb möchte ich Sie bitten: Kehren Sie zurück
({18})
an den Verhandlungstisch. Sie haben mit uns zwar Gespräche geführt, aber wir hatten den Eindruck, dass die
Gespräche nur geführt wurden, um Zeit zu schinden. Dafür stehen wir nicht zur Verfügung. Wir haben jetzt einen
Entwurf auf den Tisch des Hauses gelegt. Dazu kann es
jetzt eine Anhörung geben. Ich gehe davon aus, dass Sie
noch vor Ablauf der Frist wenigstens einen Entwurf vorlegen.
Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit vor einem Alleingang warnen. Ein Konsens im Wahlrecht ist für unsere Demokatie wichtig.
({19})
Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit Ihr Modell durchbringen
wollen, dann können wir nicht ausschließen, dass wir
uns in Karlsruhe wiedersehen. Dann wird das Bundesverfassungsgericht vielleicht final Gelegenheit bekommen, ein abschließendes Wort zur Verfassungswidrigkeit
der Überhangmandate zu sagen.
Vielen Dank.
({20})
Vielen Dank, Kollege Thomas Oppermann. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Günter
Krings. Bitte schön, Kollege Dr. Krings.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute auf Antrag von SPD und Linken über das
Wahlrecht. Ich will Ihnen, Herr Oppermann, und allen
anderen Kollegen eines vorweg sagen: So weit Sie kritisieren, dass die Koalitionsfraktionen zu lange brauchen,
um einen ausformulierten Gesetzentwurf zu diesem
Thema vorzulegen, gebe ich Ihnen recht. Dieser Kritik
kann und will ich nicht entgegentreten. Auch ich hätte
mir gewünscht, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt deutlich
weiter wären.
({0})
Aber ich möchte Ihnen auch Folgendes sagen: Sie
sollten vermeiden - zum Schluss klang es ein wenig so,
als ob Sie das tun könnten -, bei diesem Thema in Oppositionsreflexe zu verfallen. Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen, dass man versuchen muss, mit allen Fraktionen zu sprechen. Hierfür gab es durchaus schon Angebote. Hier sind eben nicht nur die Regierungsfraktionen, sondern alle Fraktionen in diesem Hause gefragt,
dieses schwierige Problem „negatives Stimmgewicht“ in
den Griff zu bekommen und Lösungsvorschläge zu machen. Nur: Es reicht eben nicht, irgendeinen Gesetzentwurf vorzulegen, wie das inzwischen alle drei Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses gemacht haben,
sondern es muss etwas vorgelegt werden, was verfassungskonform, transparent und fair ist.
({1})
Fair heißt: fair zwischen den verschiedenen Parteien und
fair zwischen den verschiedenen Regionen in Deutschland. Ich kann es vorwegnehmen: Alle drei Gesetzentwürfe erfüllen diese Mindestvoraussetzungen für Wahlrechtsanträge eindeutig nicht.
({2})
Insofern verstärkt das noch die von Ihnen geäußerte
Kritik - und auch meine Selbstkritik - daran, dass wir
als Regierungsfraktionen noch nicht geliefert haben: Wir
hätten Ihnen allen bei den Entwürfen, die Sie vorgelegt
haben, eine Blamage ersparen können. Wir hätten Sie
davor bewahren müssen, solchen Unsinn vorzulegen,
wie er von Ihnen kam.
({3})
Wir haben, das bekenne ich freimütig, unsere Fürsorgepflicht Ihnen gegenüber nicht erfüllt.
({4})
Ich will Ihnen noch einmal die Probleme aufzeigen.
Ich will kurz einen Entwurf nach dem anderen anschauen, damit ich darlegen kann, warum diese drei Entwürfe allesamt untauglich sind.
({5})
Meine Damen und Herren, gemeinsam können wir aus
diesen drei Entwürfen lernen, wie man es nicht macht.
Auch das ist schon ein gewisser Fortschritt.
Kommen wir zunächst zum Vorschlag der Grünen,
die ihn heute nicht zur Debatte stellen, die ihn vielmehr
vor einigen Wochen vorgelegt haben.
({6})
Übrigens legen Sie Vorschläge immer nur dann vor,
wenn Sie in der Opposition sind; in Regierungszeiten haben Sie es nie geschafft, Ihren Koalitionspartner zu einem Vorschlag zu überreden. Aber das sei dahingestellt.
Sie wollen Überhangmandate auf anderen Landeslisten kompensieren, sie durch Verrechnungen ausgleichen.
Im Klartext: Ihr Vorschlag geht dahin, dass an sich bereits
auf Landeslisten gewählte Abgeordnete ihr Mandat wieder verlieren, weil in einem anderen Bundesland Überhangmandate eingetreten sind. Wie die anderen Fraktionen ignorieren Sie dabei, dass die Überhangmandate
überhaupt nicht das Problem sind, das das Bundesverfassungsgericht uns zur Lösung aufgetragen hat.
({7})
Wir sind aber sehr dafür, nur die Probleme zu lösen, die
uns von Karlsruhe zur Lösung aufgetragen wurden, und
nicht irgendwelche imaginären Probleme.
({8})
Eine weitere Verschlimmbesserung geht dahin - der
Kollege Mayer wird nachher dazu noch etwas ausführlicher sprechen -, dass Sie dann, wenn dieser Ausgleich
nicht ausreicht, sogar den direkt in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten ihr Mandat wieder abnehmen wollen.
({9})
Das ist ein Vorschlag, der an Demokratiefeindlichkeit
nicht zu überbieten ist. Ein solches Wahlrecht hat es
nicht einmal - wir haben es eben erwähnt - im Preußischen Landtag oder im Deutschen Reichstag gegeben.
Damit gehen Sie zurück in vordemokratische Zeiten. So
etwas werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({10})
Die Folgen dieser grünen Ideen sind, dass ganze
Wahlkreise eventuell ohne jeden Vertreter im Bundestag
bleiben. Ein Land wie Brandenburg beispielsweise, in
dem 350 000 Menschen CDU wählen, stünde am Ende
eventuell ganz ohne einen CDU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag da.
({11})
Das ist demokratie- und proporzfeindlich. Bei Ihrem
Vorschlag kann so etwas durchaus passieren. Es wäre
fast schon bei der letzten Bundestagswahl passiert, wenn
Ihr Wahlrecht gegolten hätte. In Wahrheit geht es Ihnen
nicht um die Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts. Es geht Ihnen darum, das Projekt „Abschaffen
der Überhangmandate“ - ein ganz anderes Projekt - zu
forcieren.
({12})
Das ist, wenn man so will, ein Kapern der Gerichtsentscheidung für Ihre eigennützigen Zwecke.
Dass dieses Thema - Aberkennung von gewonnenen
Mandaten - offenbar doch gefährlich ist und uns das
durchaus drohen könnte, sieht man daran, dass eine
zweite Fraktion in diesem Hause, nämlich die Linksfraktion, einen ähnlichen Vorschlag vorlegt. Auch dieser
Vorschlag führt dazu, dass Länder doppelt bestraft würden, indem sie - das hat Herr Oppermann durchaus richtig gesagt - zusätzlich benachteiligt würden, weil sie als
Steinbruch für Länder mit Überhangmandaten dienen
sollen. Das ist ein föderal ungerechtes System, das wir
nicht akzeptieren können.
Aber die Linken wären ja nicht die Linken, wenn sie
nicht diesem Unsinn noch einige absurdere Vorschläge
hinzufügen würden. Sie wollen zum Beispiel das Wahlalter auf 16 Jahre heruntersetzen.
({13})
Was das nun mit der Karlsruher Entscheidung zu tun hat,
mag jeder für sich beurteilen. Wir sind als Union und als
Koalition der Auffassung: In unserem Land gehören
Rechte und Pflichten zusammen.
({14})
Es ist schon bemerkenswert, dass eine Fraktion, die
ansonsten nicht einmal den Erwachsenen mündige Entscheidungen, etwa im Verbraucherrecht, zutraut,
({15})
auf einmal Jugendliche und Kinder entscheiden lassen
möchte.
({16})
Hören Sie endlich damit auf, Erwachsene wie Kinder
und Kinder wie Erwachsene zu behandeln!
({17})
Auch die Linken sind offensichtlich von sinkenden
Umfragewerten alarmiert. Daher wollen sie sich offenbar ein neues Wahlvolk zusammenstellen.
({18})
Das hat ja in der DDR schon einmal gut funktioniert.
Wenn man mit dem Volk nicht einverstanden ist, löst
man das alte Volk auf und wählt sich ein neues Volk.
({19})
In diesem Zusammenhang sind wohl Ihre Vorschläge
zum Ausländerwahlrecht zu sehen. Sie verlangen, dass
Ausländer, die ein paar Jahre in Deutschland gelebt haben, ohne Weiteres das Wahlrecht erhalten.
({20})
Das ist verfassungswidrig und offensichtlich ein Verstoß
gegen Art. 20 des Grundgesetzes. Für eine philologischjuristische Nachhilfestunde fehlt mir die Zeit.
({21})
„Demokratie“ kommt von „Demos“, das heißt „Volk“,
„Staatsvolk“. Das Staatsvolk sind die Bürger der Bundesrepublik Deutschland. So steht es in Art. 20 unseres
Grundgesetzes.
({22})
Sie sollten zumindest einmal in diesen Grundartikel unserer Verfassung schauen. Auch ich bin sehr dafür, dass
Zuwanderer bei der Bundestagswahl wählen können,
aber erst, nachdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft
beantragt und erhalten haben. Dazu haben wir geringe
Hürden. Wir haben immer noch eines der liberalsten
Einbürgerungsrechte in ganz Europa.
({23})
Bei einem dritten Vorschlag der Linken stockt einem
wirklich der Atem. Der eigentliche Schwerpunkt Ihres
Gesetzentwurfs ist - das sieht man, wenn man die Zahl
der zu ändernden Paragrafen betrachtet; Sie wollen über
20 Paragrafen ändern -, dass Sie ein flächendeckendes
aktives und passives Wahlrecht für alle verurteilten
Straftäter in Deutschland erreichen wollen. Ihr Schwerpunkt in der politischen Agenda beim Wahlrecht ist offenbar, verurteilte Straftäter wählen zu lassen.
({24})
Man kann jetzt darüber spekulieren, dass eine Partei, die
aus einem Staat hervorgegangen ist, der zum Teil von
Verbrechern geführt worden ist, es für besonders demokratisch hält, dass verurteilte Straftäter gewählt werden
können und wählen dürfen. Dass beispielsweise ein verurteilter Mörder bei einer Bundestagswahl Wahlrecht
hat, scheint Ihnen wichtig zu sein. Auch dass ein verurteilter Sexualstraftäter bei der Bundestagswahl kandidieren darf, scheint Ihnen wichtig zu sein. Ich will diese
Spekulationen gar nicht weiterführen; ich glaube, das
hätten Sie auch gar nicht verdient. Ich möchte nur eines
sagen: Mit dieser Fülle von Forderungen in Ihrem Gesetzentwurf ist klar geworden, wo verurteilte Straftäter
in Deutschland ihre politische Heimat finden, nämlich
auf der ganz linken Seite des Hauses.
({25})
Daher ist es fast wohltuend, sich dem Gesetzentwurf
der SPD zuzuwenden. Das mache ich nur kurz, da auch
der Gesetzentwurf sehr kurz ist. Er ist im wahrsten Sinne
des Wortes fadenscheinig; man kann, wenn man ihn gegen das Licht hält, fast hindurchschauen.
({26})
Ihr Gesetzentwurf ist sicherlich, Herr Oppermann, gut
gemeint. Aber wir alle wissen: Das Gegenteil von gut
gemeint ist gut. Er ist also nicht gut gemacht. Das
Hauptproblem ist - das haben Sie ja am Ende des Gesetzentwurfes etwas schamhaft erwähnt -, dass eine Umsetzung des Gesetzentwurfes zu einem massiven Aufblasen des Deutschen Bundestages in einer Größenordnung
führen würde, die unberechenbar ist. Es können einmal
20 Abgeordnete mehr sein, es können auch leicht einmal
120 Abgeordnete mehr sein. Man kann jetzt lange darüber philosophieren, zu welchen zusätzlichen Kosten
für Mitarbeiter, Abgeordnetenentschädigung und anderem das führen würde, aber vor allem tut es, glaube ich,
einer Demokratie nicht gut, wenn die Größe eines Parlaments, also des Bundestages, von Wahl zu Wahl extrem
variiert. Von daher ist es aus politischen Gründen äußerst
fragwürdig, einen solchen Antrag zu forcieren.
({27})
Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie meinen, Sie könnten
das Problem mit einer Reduktion der Zahl der Wahlkreise lösen, greifen Sie zu kurz. Das würde im Zweifelsfalle sehr viele Wahlkreise in Deutschland kosten.
Vielleicht sollten Sie in Ihrer eigenen Fraktion noch einmal in Ruhe darüber debattieren, ob das so gewollt ist.
Jedenfalls kann es leicht passieren, dass Sie damit der
größten politischen Flurbereinigung in Deutschland das
Wort reden, die es seit dem Reichsdeputationshauptschluss gegeben hat.
({28})
- Sie wissen doch gar nicht, was das ist, Herr Wieland.
({29})
Das größere Problem ist allerdings, dass der Ausgleich, den Sie vorschlagen, das Problem des negativen
Stimmgewichts überhaupt nicht löst. Ich zitiere wörtlich
aus Ihrer Begründung. Im jetzigen Wahlrecht ist es so,
dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an
Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der
Landeslisten führen kann …
So steht es in Ihrem Entwurf. Das stimmt. Genau das
bewirkt das geltende Wahlrecht. Sie haben das Problem
des negativen Stimmgewichts vollkommen korrekt beschrieben. Es ist der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, dieses Problem zu beseitigen. Genau das leistet
Ihr Gesetzentwurf an keiner Stelle. Er reduziert nicht
einmal den Effekt des negativen Stimmgewichts. Sie beseitigen nicht das negative Stimmgewicht, sondern Sie
gleichen es nur aus.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wiefelspütz?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Krings, wenn wir rein fachlich diskutieren, ist, wie ich meine, Ihre Kritik an den Entwürfen, die
vorliegen, zu respektieren.
Wir vonseiten der SPD haben nicht den Anspruch, einen allein selig machenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Ich will Ihnen freimütig sagen: Es treibt uns um - bitte
nehmen Sie das ernst; ich sage das ohne jede Polemik -,
dass wir kurz vor Ablauf einer Frist, einer sehr großzügig bemessenen Frist, stehen, die uns das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage eines verfassungsfesten Wahlrechts eingeräumt hat. Ich könnte Ihnen fast sagen - ich
bin dazu jetzt allerdings nicht autorisiert -: Wir ziehen
alles zurück. - Das Entscheidende ist doch, dass Sie uns
endlich vor den Ohren und Augen der Öffentlichkeit einen Vorschlag unterbreiten müssen. Wie geht es weiter?
({0})
Alle Fraktionen dieses Parlaments sind jederzeit, Tag
und Nacht, bereit, mit Ihnen zu verhandeln. Das hätten
wir schon früher machen können; aber sei es drum. Es ist
noch nicht zu spät. Machen Sie uns bitte einen Vorschlag, damit alle Fraktionen ihren Job machen und ihre
Aufgabe erfüllen können.
({1})
Wenn wir dieses Thema gemeinsam angehen, dann
werden wir innerhalb von sechs, acht Wochen, nach der
Abwägung des Für und Wider, Lösungsvorschläge vorlegen können. Dabei werden Ihre Argumente und unsere
Argumente eine Rolle spielen, sicherlich aber nicht die
Argumente, die sich auf Verbrecher beziehen. Ich bin
sehr zuversichtlich, dass uns gelingt, was uns in dieser
Frage immer gelungen ist, nämlich einen Konsens zu
finden.
Das Wahlrecht - Herr Krings, das muss ich Ihnen
nicht sagen; da will ich Sie auch nicht belehren - ist von
überragender Bedeutung. Das sind die Spielregeln unserer Demokratie. Dass wir die Aufgaben, die uns gestellt
worden sind, nicht erfüllen, bedeutet: Wir machen unseren Job nicht. Sie und wir, wir alle machen unseren Job
nicht, und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Es ist
der Auftrag des Parlamentes, ein verfassungskonformes
Wahlrecht herzustellen; dies treibt uns um. Dieses Anliegen ist für mich zehnmal wichtiger als der Gesetzentwurf der SPD. Man kann natürlich auch über ihn hinausgehen. Wir sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Geben
Sie uns die Gelegenheit, uns endlich gemeinsam an den
Verhandlungstisch zu setzen!
({2})
Das war die Zwischenfrage des Kollegen
Wiefelspütz.
Das war eine sehr lange und mir sehr willkommene
Zwischenfrage, Herr Wiefelspütz. Ich hatte schon gehofft, dass ich die Grundzüge unseres Modells - nicht
auf Kosten meiner Redezeit - erläutern kann. Das tue ich
jetzt gerne und antworte Ihnen damit auf Ihre Frage.
({0})
Wir haben schon Gespräche geführt, zum Beispiel
zum Rechtsschutz, aber auch zu anderen Aspekten.
({1})
Diese Gespräche fanden zwischen den Fraktionen statt,
auch zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen.
Ich sage Ihnen ganz klar - das habe ich hier im Plenum
bereits mehrfach vorgetragen -: Die Lösung muss darin
bestehen, dass wir das Problem, das das Bundesverfassungsgericht zur Lösung aufgegeben hat, nämlich das
negative Stimmgewicht, erst einmal in der Sache ernst
nehmen.
({2})
Wir müssen es begreifen und erkennen.
({3})
Das negative Stimmgewicht entsteht durch die Verbindung von Landeslisten. Wie kann ein Problem, das
durch die Verbindung von Landeslisten entsteht, gelöst
werden? Durch die Trennung von Landeslisten.
({4})
- Jetzt rede ich. Sie haben gerade geredet.
({5})
Deshalb befürworten wir ein Modell zur Trennung von
Landeslisten; das wissen Sie. Es ist erstaunlich, dass keiner der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen auf
dieses Modell eingeht. Wir alle wissen, dass es im Hinblick auf Gesetzesbegründungen Rationalisierungsanforderungen gibt; das hat das Bundesverfassungsgericht
mehrfach festgestellt. Sie müssen sich in Ihren Gesetzentwürfen aber zumindest mit diesem Thema beschäftigen.
Dieses Lösungskonzept, das einfachste und sicherste,
wird aber in keinem der Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen erwähnt.
({6})
Dieses Konzept ist allerdings das richtige.
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Lösung besteht im Wesentlichen in der Streichung eines einzelnen Paragrafen.
Ich sage Ihnen aber auch - das ist ein Grund für das
langsame Verfahren -: Es gibt in diesem Bereich Untervarianten. Man könnte die Mandate beispielsweise nach
der aktuellen Wahlbeteiligung Landeslisten zuordnen;
das ist ein wunderbares Instrument, um echte Erfolgswertgleichheit herzustellen. Wenn man auch die dann
vielleicht immer noch vorhandenen inversen Effekte und
Restwirkungen des negativen Stimmgewichts ausgleichen will, müsste man die Mandate nach Bevölkerungsanteilen verteilen. Beide Varianten wären möglich.
({7})
Darüber hinaus gibt es ein, zwei weitere Untervarianten.
Das Konzept bzw. der Weg ist vorgezeichnet. Darüber
können wir sofort in Gespräche eintreten;
({8})
auch über dieses Thema haben wir schon gesprochen,
auch mit Ihrer Fraktion. Wir müssen überlegen, welche
Untervarianten wir anwenden. Ich sage Ihnen: Die Lösung muss mit dem Problem zu tun haben. Ihre Lösungen haben nichts mit dem Problem zu tun. Das Problem
ist die Verbindung von Landeslisten. Die Lösung muss
in der grundsätzlichen Trennung der Landeslisten bestehen.
({9})
Meine Damen und Herren, noch zwei Sätze zum
SPD-Modell.
({10})
Wir jedenfalls nehmen das Bundesverfassungsgericht
sehr ernst und lösen das Problem des negativen Stimmgewichts. Bei der SPD bin ich mir nicht ganz sicher, ob
sie das Problem nicht lösen wollen oder es einfach ignorieren. Ausgleich von Überhangmandaten heißt nicht
Beseitigung des negativen Stimmgewichts.
Ich will zum Schluss noch einige grundsätzliche Erwägungen machen.
Bei aller berechtigten Kritik an der Dauer der Erörterungen, auch innerhalb der Regierungsfraktionen - das
habe ich am Anfang gesagt und sage ich jetzt noch einmal; diese Kritik nehme ich an -, ist es wichtiger für uns
alle, dass wir ein gründlich durchdachtes und verfassungskonformes Wahlrecht vorlegen und nicht eines, das
mit heißer Nadel gestrickt ist, untauglich ist oder unfaire
Elemente enthält.
({11})
Interessanterweise werfen Sie sich diese Punkte ja
auch gegenseitig vor. Herr Oppermann, in Ihrem Vortrag
haben Sie ganz deutlich gesagt, dass ein internes Kompensationsmodell, wie es die Grünen und Linken vorschlagen, offenbar nicht tauglich ist und die Ungerechtigkeiten föderal noch vergrößern würde.
({12})
Der eigentliche Skandal ist deshalb auch nicht, dass
wir diese Frist des Bundesverfassungsgerichts eventuell
versäumen werden - das ist ärgerlich genug -,
({13})
der eigentliche Skandal ist hier, dass alle Fraktionen auf
der linken Seite dieses Hauses die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes meines Erachtens missbrauchen, um nicht das Problem zu lösen, sondern ihre
alte politische Agenda nach vorne zu bringen.
({14})
Sie kümmern sich um Straftäter und darum, Überhangmandate zu beseitigen. Das hat im Kern nichts mit dem
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zu tun und ist
meines Erachtens auch eine Form von Missachtung des
Bundesverfassungsgerichts.
({15})
Es ist schön, dass die Opposition mit ihren Vorlagen
in diesem Bereich die Messlatte für unseren Vorschlag
nicht so hoch legt, aber wir versichern Ihnen: Wir werden nicht an diesen schwachen Gesetzentwürfen Maß
nehmen, sondern wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, der transparent, gerecht und vor allem verfassungskonform ist.
({16})
Das kann und muss dann eine solide Basis sein.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Thomas Oppermann? Dadurch würde sich
auch Ihre Redezeit verlängern.
({0})
Das war eigentlich schon mein Schlusssatz, aber bitte
schön, Herr Oppermann.
Herr Kollege, Sie sagen, die Opposition missachte
das Bundesverfassungsgericht. Das macht mich fast
sprachlos. Wir legen hier Gesetzentwürfe vor, über die
man inhaltlich in der Tat immer streiten kann, um Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ziehen. Sie haben überhaupt keinen Entwurf
vorgelegt. Deshalb entlarvt sich das, was Sie hier sagen,
als eine blanke, dreiste Vorwärtsverteidigung. Sie wollen
von dem eigenen Versagen ablenken und beschimpfen
deshalb die Opposition.
({0})
Wenn Sie meinen, dass das die Verantwortung einer Regierungsmehrheit ist, dann mögen Sie ein solches Verständnis von Verantwortung haben. Ich teile es nicht.
({1})
Ich habe eine Frage. Sie meinen, dass Ausgleichsmandate verfassungsrechtlich nicht vernünftig begründbar sind. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass unter anderem die CDU in SchleswigHolstein gerade Ausgleichsmandate für Überhangmandate ins schleswig-holsteinische Landeswahlrecht eingefügt hat, und zwar aus dem Grund, um das vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Wahlrecht zu
reparieren. Ist Ihnen das bekannt, und wie bewerten Sie
es, dass in fast allen Landeswahlgesetzen Ausgleichsmandate vorgesehen sind?
Ihre Wortmeldung wundert mich in mehrfacher Hinsicht, Herr Oppermann. Zunächst einmal hätte ich zumindest erwartet, dass Sie meiner Rede zugehört hätten.
Ich habe am Anfang und gegen Ende meiner Rede deutlich gesagt, dass ich die Kritik an dem langsamen Verfahren ernst nehme und auch annehme. Ich habe auch
gesagt, dass es nicht reicht, irgendeinen Vorschlag vorzulegen, also irgendein Papier mit irgendwelchen Buchstaben zu bedrucken, und zu meinen, dass sei jetzt ein
Beitrag zur Lösung des Problems.
({0})
Ich habe Ihnen dargelegt und bewiesen, dass Ihr Ansatz in Bezug auf die Ausgleichsmandate nichts mit der
Lösung des Problems „negatives Stimmgewicht“ zu tun
hat. Es ist auch eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichts, einen Lösungsvorschlag vorzulegen, der
nichts mit dem Problem und seiner Lösung zu tun hat,
sondern nur mit der alten politischen Agenda, auf der die
Überhangmandate stehen.
({1})
Ihr damaliger Kanzler Gerhard Schröder hat in diesem Hause nur deshalb Vertrauensfragen gewonnen,
weil es Überhangmandate gab. Sie in persona und Ihre
ganze Fraktion haben diese Überhangmandate massiv
verteidigt. Jetzt, auf einmal, da es Ihnen nicht mehr in
den Kram passt, sagen Sie: Das alles wollen wir nicht
mehr.
Das ist eben nicht der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts. Dabei geht es nur um das negative
Stimmgewicht. Dieses Problem wollen wir lösen, zugegebenermaßen zu langsam, aber wir beschäftigen uns
wenigstens mit dem Problem.
({2})
- Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer
Frage, ansonsten dürfte ich ja auch gar nicht mehr reden.
Eine weitere Anmerkung, und zwar zu Ihrer Frage
zum Problem in Schleswig-Holstein. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung, auch zum hessischen Wahlrecht, sehr deutlich gesagt, dass wir in
Deutschland von sogenannten getrennten Wahlrechtsräumen ausgehen. Schauen Sie sich Art. 28 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland an. Alle anderen Artikel sagen nichts über das Wahlrecht der Länder
aus.
Wir müssen hier also von komplett und grundsätzlich
getrennten Maßstäben ausgehen. Dies sagte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von vor wenigen Jahren. Das Bundesverfassungsgericht hat uns allen
zum Kummer aufgegeben - ich glaube, in diesem Kummer waren wir alle uns damals einig -, das negative
Stimmgewicht zu beseitigen. Wir haben damals in Karlsruhe dagegengehalten. Diese Aufgabe ist auf Bundesebene zu lösen. Sie ist nur dem Deutschen Bundestag gestellt. Was Sie aus Schleswig-Holstein und anderen
Ländern beschreiben, ist ein Phänomen, das damit nichts
zu tun hat. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen:
Wir sind als Regierungsfraktionen gefordert. Die Opposition ist offenbar in diesen Fragen ratlos.
({3})
Sie haben zwar Papier bedruckt, aber keine Lösungsvorschläge vorgelegt. Wir werden eine Lösung bieten als
Grundlage für solide gemeinsame Gespräche.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Günter Krings. - Nun für
die Fraktion Die Linke unser Kollege Jan Korte. Bitte
schön, Kollege Jan Korte.
({0})
Liebe Kollege Krings, wenn die Opposition nichts
vorgelegt hätte, dann hätten wir heute gar nichts zu diskutieren. Das ist die Wahrheit.
Sie müssen die Vorschläge, die gemacht wurden,
nicht teilen. Sie als demokratiefeindlich zu bezeichnen,
geht voll an der Sache vorbei, vor allem, wenn man selber nichts vorlegt. Das war völlig unangemessen. Sie
könnten versuchen, ein bisschen herunterzukommen und
die Vorschläge sachlich zu diskutieren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf einige Punkte eingehen. Die Linke geht in der Tat über die
Frage des negativen Stimmgewichts hinaus. Das mag Ihnen nicht gefallen, aber es sind die Vorschläge, die aus
den Reihen der Opposition kommen. Ich möchte vorstellen, was wir vorschlagen, um zu versuchen, die Demokratie insgesamt attraktiver zu machen und mehr Menschen an Partizipationsprozessen zu beteiligen.
Zunächst haben wir einen Vorschlag zum negativen
Stimmgewicht gemacht. Was bedeutet das negative
Stimmgewicht? Ich möchte es für die Bürgerinnen und
Bürger übersetzen: Es bedeutet, dass ein Mehr an Stimmen bei einer Wahl gegebenenfalls zu einem Weniger an
Sitzen führen kann. Das ist paradox; das kann jeder verstehen. Da ist Abhilfe vonnöten. Das hat uns auch das
Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben.
Unser Gesetzentwurf greift dementsprechend einige
Vorschläge der SPD und der Grünen auf und versucht,
daraus eine Quintessenz zu ziehen, die übrigens auch,
liebe Kollegen von der Union, die Belange von Bayern
und der CSU ein Stück weit mit berücksichtigt.
({1})
Denn wir sind in der Tat der Meinung, dass es beim
Wahlrecht keine Benachteiligung der CSU geben darf.
Dieses Problem müssen wir anders beheben, aber nicht
im Wahlrecht. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({2})
Ferner will die Linke eine Verrechnung von Direktund Listenmandaten zunächst auf der Bundesebene, die
dann entsprechend auf die Landesebene heruntergebrochen wird. In der Tat sind wir auch der Meinung: Sollten
dann noch Überhangmandate entstehen, soll ein Ausgleich erfolgen. So viel zum Thema „negatives Stimmgewicht“.
Die Linke hat darüber hinaus die heutige Debatte, zu
der Sie nichts beigetragen haben, über das wir uns jetzt
auseinandersetzen könnten, zum Anlass genommen, zu
versuchen, beim Wahlrecht insgesamt andere Punkte mit
zu berücksichtigen. Dass das erforderlich ist, zeigen die
Zustimmungswerte zu unserer parlamentarischen DemoJan Korte
kratie und die niedrige Wahlbeteiligung. Demnach ist es
höchste Zeit, umfassende Änderungen vorzunehmen.
Ich will einige Änderungsvorschläge vorstellen. In
Deutschland entscheidet ein Bundeswahlausschuss über
die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl. So
weit, so gut. Interessant ist dabei - an dieser Stelle sehen
wir Handlungsbedarf -, dass im Bundeswahlausschuss
die im Bundestag vertretenen Parteien sitzen, die dann
darüber entscheiden, ob Konkurrenz zugelassen wird
oder nicht.
Sie erinnern sich vielleicht noch an die Debatte über
„Die Partei“, deren Nichtzulassung seinerzeit die Medienberichte gefüllt hat. Sie wurde übrigens unter anderem wegen mangelnder Ernsthaftigkeit nicht zugelassen.
Das ist ein sehr dehnbares Kriterium. Mir fallen noch andere Parteien ein, für die das gilt. Das Hauptproblem bei
dem Verfahren ist, dass es keine Möglichkeit gibt, dagegen zu klagen. Deshalb schlagen wir vor, dass bei einer
Nichtzulassung durch den Bundeswahlausschuss die betroffene Partei binnen drei Tagen beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen kann und dass das
Bundesverfassungsgericht noch vor der Wahl in einem
zeitlich angemessenen Abstand hierüber eine Entscheidung fällt. Das ist ein konkreter Vorschlag. Diesen Punkt
hat im Übrigen auch die OSZE kritisiert.
Wir wollen - der Kollege Krings hat es angesprochen noch weiter gehen. Wir wollen das aktive Wahlrecht auf
16-Jährige ausweiten. Junge Leute engagieren sich auch
mit 16 in der Gesellschaft, mischen sich ein und übernehmen Verantwortung. Deswegen wollen wir das Wahlalter senken, analog zu den Kommunen, in denen überwiegend 16-Jährige wählen dürfen. Auch bei der Wahl in
Bremen durften 16-Jährige wählen. Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Wir müssen begründen, warum 16-Jährige nicht wählen dürfen. Wir sind dafür, dass auch
16-Jährige aktiv an der politischen Gestaltung und an
Bundestagswahlen teilnehmen. Je mehr, desto besser.
({3})
Wir fordern des Weiteren - darauf wurde bereits hingewiesen -, dass alle Menschen, die seit fünf Jahren in
der Bundesrepublik Deutschland legal leben, das Wahlrecht bekommen. Das ist dringend notwendig, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Tausende Menschen
nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die zum Teil seit
Jahrzehnten hier leben, Steuern zahlen, wirtschaften und
sich in die Gesellschaft einbringen und sich einmischen,
von der Wahrnehmung eines wesentlichen Grundrechts
ausgeschlossen sind. Wir schlagen vor, dass alle, die hier
leben, mitentscheiden, wie es in diesem Land weitergeht. Es ist entscheidend, dass wir das endlich hinbekommen.
({4})
Wir schlagen überdies vor, die 5-Prozent-Hürde - das
ist ein altes Thema - abzuschaffen. Denn es ist klar: Jede
Stimme muss gleich viel wert sein. Selbst wenn eine
Partei fast 1 Million Stimmen bekommt, verfallen nach
geltendem Recht de facto alle Stimmen. Deswegen sind
wir dafür, die 5-Prozent-Hürde abzuschaffen.
({5})
- Stimmt, damit würden wir der FDP zurzeit entgegenkommen. Die FDP müsste uns zumindest in diesem
Punkt unterstützen. Das ist sehr wahr, Kollege Wieland.
Gegen die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde wird immer argumentiert, dann würden die Rechtsextremen in
die Parlamente einziehen. Diese Argumentation ist aber
nicht schlüssig. Was wäre, wenn sie einmal 6 Prozent bekämen? Wollen wir dann eine 8-Prozent-Hürde einführen? Das geht natürlich nicht. Die Auseinandersetzung
mit Rechtsextremismus und der Kampf gegen Rassismus
sind Tagesaufgabe. Das muss zivilgesellschaftlich und
darf nicht über das Wahlrecht geregelt werden. Die 5-Prozent-Hürde ist ein Anachronismus. Deswegen schlagen
wir vor, sie zu streichen.
({6})
Zum Ausschluss von Wahlcomputern. Darüber wurde
insbesondere in der Netzcommunity diskutiert. Wir
schlagen vor, Computer bei Wahlen zu verbieten. Der
Grundsatz der Öffentlichkeit und der Nachvollziehbarkeit von Wahlen muss erhalten werden. Das ist bei Computern logischerweise nicht der Fall. Man kann in sie
nicht hineinschauen; man kann nicht wie bei dem herkömmlichen Verfahren Zettel für Zettel nachprüfen, wie
die Stimmen abgegeben wurden. Deswegen schlagen wir
ein grundsätzliches Verbot von Wahlcomputern vor.
({7})
Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist nur eine Frage,
mit der wir uns, wenn wir über Demokratie diskutieren,
auseinandersetzen müssen. Das Wahlrecht umfassend zu
reformieren, kann nur ein erster Schritt sein. Ich glaube,
dass das Vertrauen in die Demokratie - das besagen alle
empirischen Befunde - schwindet. Das darf einen nicht
kaltlassen. Wir brauchen sozusagen ein Demokratiebeschleunigungspaket, und zwar nicht nur beim Wahlrecht.
Wir müssen darüber hinausgehen. Dazu gehören der
Ausschluss von Lobbyisten aus Ministerien und die Beantwortung der sozialen Frage. Denn nur wer sozial und
ökonomisch vernünftig abgesichert ist und keine Angst
vor der Zukunft haben muss, ist überhaupt in der Lage,
sich aktiv in ein demokratisches Gemeinwesen einzubringen. Das ist eine ganz entscheidende Frage, wenn
wir über Demokratie diskutieren.
({8})
- Richtig, Hartz IV muss weg. Das haben Sie eingeführt.
Nun können Sie helfen, Hartz IV abzuschaffen. Das
wäre ein schöner Erkenntnisgewinn.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen will: Es gibt einen großen Verdruss über die demokratische Verfasstheit
in diesem Land. Dieser rührt vor allem daher, dass es
keine Unmittelbarkeit bei Entscheidungen gibt. Wenn
Sie in Ihren Wahlkreisen regelmäßig unterwegs sind
- ich hoffe, dass das alle tun -, dann hören Sie oft: Es
ändert sich eh nichts; egal wen ich wähle, egal wer in
Berlin regiert, es ändert sich einfach nichts. - Wir sollten
daher im Rahmen der Debatte über eine Wahlrechtsre12636
form endlich auch die Frage der direkten Demokratie auf
die Tagesordnung setzen; denn direkte Demokratie
schafft Unmittelbarkeit. Meine Fraktion schlägt daher
vor, bei jeder Bundestagswahl und an jedem 3. Oktober
eine Volksabstimmung über ein Sachthema durchzuführen, das jede Fraktion vorschlagen kann. Das würde für
Unmittelbarkeit sorgen. Wenn zum Beispiel die Mehrheit der Bevölkerung für den Abzug aus Afghanistan
stimmte, dann könnten die Menschen sehen, dass der
Bundestag gezwungen ist, das durchzusetzen. Das wäre
ein wirklicher Fortschritt bei der Demokratisierung.
({9})
Wir brauchen eine neue Ära der Demokratie,
({10})
eine Einmischdemokratie, eine neue Ära der Solidarität.
Dafür haben wir hier Vorschläge vorgelegt. Wir sind im
Gegensatz zur CSU, die hier nur Kalte-Krieg-Rhetorik
und kalten Kaffee geliefert hat, bereit, sachlich darüber
zu diskutieren. Wir haben etwas vorgelegt. Ich bin gespannt, wann Sie etwas vorlegen. Wir sind wie immer zu
einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit, weil wir im
Gegensatz zu Ihnen keine Ideologen sind.
Schönen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Jan Korte. - Jetzt für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte
schön, Kollege Dr. Stefan Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wahlrecht ist eine Angelegenheit, die dieses
Haus jenseits der Beteiligung von Ministerien in eigener
Verantwortung und im Dialog der Fraktionen miteinander diskutieren sollte. Insofern freue ich mich über die
Diskussion am heutigen Vormittag an so prominenter
Stelle.
Leider verengt sich die Debatte ein wenig auf die Frage
des eigentlichen Wahlvorgangs. Lediglich der Kollege
Korte hat dankenswerterweise auch an andere Aspekte
gedacht. Beispielsweise müssen wir das Problem der Berliner Zweitstimme beseitigen, für subjektiven Rechtsschutz vor und nach der Wahl sorgen, Probleme bei der
Zulassung durch den Bundeswahlausschuss beseitigen
und Ähnliches mehr.
({0})
- Regen Sie sich nicht künstlich auf, Herr Wiefelspütz;
das tut Ihnen nicht gut.
Es liegen drei Vorschläge vor, die ernsthaft diskutiert
werden können, nämlich der Vorschlag der Linken, der
Vorschlag der Grünen und der Vorschlag der Koalition.
({1})
- Ich habe gesagt: der Vorschlag der Koalition.
({2})
- Hören Sie doch einfach zu!
Ich beginne mit der Begründung, warum die SPD keinen ernstzunehmenden Vorschlag unterbreitet hat. Stellen Sie sich vor, wir würden heute den Gesetzentwurf,
den uns die SPD nahelegt, beschließen
({3})
und bezüglich der Frage, wie zukünftig gewählt wird, zu
100 Prozent nach den Vorstellungen der SPD verfahren.
({4})
Meine naturwissenschaftliche Vorbildung sagt mir,
dass man beim Versuchsaufbau den gleichen Ablauf, den
man hatte, noch einmal abbilden lassen sollte.
({5})
Das Verfassungsgericht hat uns gesagt: Lieber Deutscher
Bundestag, schaffen Sie das negative Stimmgewicht ab,
das bei der Bundestagswahl im Jahre 2005 durch die
Nachwahl in Dresden aufgetreten ist. - Lassen Sie uns
folgendes Gedankenexperiment einmal gemeinsam
durchspielen: Wir veranstalten die Bundestagswahl 2005
nach dem Wahlgesetz, das Sie uns heute vorschlagen.
({6})
- Weil 2005 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Wahlen ergangen ist. - Wir veranstalten
also nach dem Wahlvorschlag der SPD die Wahl von
2005 und fragen uns: Wäre es zu dem negativen Stimmgewicht, das 2005 durch das Bundesverfassungsgericht
moniert wurde, nicht gekommen? Wäre eine Stimme eines CDU-Wählers in Dresden für die CDU negativ gewesen, wenn er nach dem SPD-Wahlrecht abgestimmt
hätte? - Die Antwort ist leider: Ja. Es ist so, als würden
Sie Ihr Auto zur Reparatur in die Werkstatt geben, um
das schwere Problem am Motor beheben zu lassen, und
die Werkstatt würde Ihnen vorschlagen, bessere Scheibenwischer am Fahrzeug anzubringen. Wenn wir die
Wahl 2005 nach dem Wahlrecht der SPD durchgeführt
hätten, wäre die Verfassungsbeschwerde ebenfalls erfolgreich gewesen,
({7})
weil nach wie vor ein CDU-Wähler seiner eigenen Partei
geschadet hätte - und das verkaufen Sie uns als ernsthaften Beitrag. Das ist doch lachhaft.
({8})
Einen solchen Anspruch können Sie hier nicht erheben. Sie werfen ein in der Tat zu diskutierendes verfasDr. Stefan Ruppert
sungsrechtliches Problem, nämlich das der Überhangmandate, in den Raum und sagen, dass wir uns aus
politischem Kalkül, aber auch aus einer gewissen verfassungsrechtlichen Überlegung heraus diesem Problem
widmen müssen. Das, was Sie zur Lösung dieses Problems vorschlagen, ist jedoch, um es als Jurist zu sagen,
keine Minus- oder Pluslösung des vorliegenden Problems, sondern ein Aliud, also etwas gänzlich anderes.
Das heißt, Sie kurieren hier etwas, was in dieser Form
nicht kuriert werden kann.
({9})
- Damit komme ich zu Ihnen, Herr Ströbele.
({10})
In der Tat ist Ihr Vorschlag tauglich, um das Problem
des negativen Stimmgewichts zu lösen.
({11})
Insofern sind Sie meiner Meinung nach einen Schritt
weiter als die Kollegen von der SPD. Sie zeigen uns auf,
wie man das Problem des negativen Stimmgewichts lösen kann. Sie kaufen sich dabei allerdings gravierende
verfassungsrechtliche Nachteile ein.
({12})
Es geht um den gleichen Erfolgswert der Stimme.
In Brandenburg wählen 362 000 Menschen die CDU
- ich kann ihnen immer noch empfehlen: Wählt lieber
FDP! ({13})
und erringen damit kein Mandat. In Baden-Württemberg
wählen 61 000 Menschen die CDU und erringen damit
ein Mandat. Das sei jedem Baden-Württemberger Kollegen von der CDU wirklich gegönnt; aber Sie können
doch nicht ernsthaft behaupten, dass bei 360 000:60 000
- in Brandenburg braucht man also praktisch das Sechsfache an Stimmen, um ein einziges Mandat zu erringen der gleiche Erfolgswert der Stimme - verfassungsrechtlich geboten - auch nur annähernd gegeben ist.
({14})
Ihr Entwurf beinhaltet einen weiteren verfassungsrechtlichen Kollateralschaden. Sie legen fest, dass einzelne Wahlkreise in Zukunft keine direkt gewählten Abgeordneten mehr haben. Sie behaupten einfach: Das tut
den Leuten in Bayern eh nicht gut; deswegen nehmen
wir ihnen die Mandate von drei direkt gewählten Kandidaten schlicht ab. - Man stelle sich vor: In München
wird ein attraktiver Wahlkampf zwischen dem Grünen-,
dem FDP-, dem CSU- und dem SPD-Bewerber geführt,
und der CSU-Bewerber setzt sich aufgrund eines hervorragenden Wahlkampfs gerade so durch,
({15})
ein Mann, den die Leute wirklich wollen. Dann sagen
Sie den Leuten: Der bleibt zu Hause, und in München
gibt es in Zukunft keinen direkt gewählten Abgeordneten mehr für den Deutschen Bundestag. - Ich glaube,
solche Reformvorschläge können Sie hier nicht ernsthaft
vertreten.
({16})
Ich war kurzzeitig etwas eifersüchtig, als sich die
neuen Freunde der CSU in Konkurrenz zu einem alten
Freund der CSU, nämlich mir, begeben wollten.
({17})
Sie lösen dieses Problem, indem Sie festlegen: Wir gleichen das aus.
({18})
Das ist nun wirklich eine etwas merkwürdige Mischform. Alle anderen Überhangmandate in Deutschland
werden verrechnet, aber die eines einzelnen Bundeslandes werden ausgeglichen. Das ist ein systematischer
Bruch, den man aus meiner Sicht niemandem erklären
kann. Abgesehen davon, dass Sie gern eine Lösung hätten - diesen Wunsch kann ich verstehen -, kann ich keinerlei Grund dafür erkennen.
({19})
- Ich habe die Kollegen von der CSU auch schon vor ihren neuen, falschen Freunden gewarnt. Aber, ich glaube,
sie wussten es selbst.
Jetzt komme ich, weil das immer wieder moniert
wird, zu der Frage, was wir denn wollen.
({20})
Vor dieser Frage will ich mich explizit nicht drücken.
Wir haben in vielen Gesprächen mit Ihnen, mit der SPD,
mit den Grünen, immer wieder gesagt, was wir wollen,
und das war auch in der Presse zu lesen.
Wir wollen das Problem dort angehen, wo es entsteht,
nämlich bei der Trennung von Wahlgebieten. Wenn wir
Wahlgebiete trennen, dann begegnen wir dem Problem
des negativen Stimmgewichts direkt - anders als die
SPD. Die SPD löst das Problem überhaupt nicht, verschärft es gegebenenfalls noch.
Jetzt gibt es drei Möglichkeiten für die Wahl in getrennten Wahlgebieten, die ich ernsthaft diskutieren
würde. Wir können 16 Wahlgebiete in Deutschland festlegen und ihnen Mandate nach ihrer Einwohnerzahl zuteilen:
({21})
Bremen hat soundso viele Einwohner, also bekommt es
soundso viele Mandate. - Dann führen wir eine Bundes12638
tagswahl durch. In Bremen werden die Stimmverhältnisse entsprechend umgelegt und man sieht, wer welche
Mandatszahl erringt.
Das ist das absolut puristische Modell, um dem Problem des negativen Stimmgewichts zu begegnen. Damit
wird das Problem nämlich komplett beseitigt. Es ist das
einzige Modell, das zu diesem Ergebnis führt. Wir kaufen uns dabei allerdings wiederum erhebliche Kollateralschäden ein, die wir dann gewichten müssen. Es ist
plötzlich irrelevant, wie viele Menschen in Bremen wählen gehen. Die Bremer können sich sicher sein, immer
ihre vier oder fünf Mandate zu bekommen, selbst wenn
fast niemand wählen geht. Wenn sozusagen keiner zur
Wahl geht, ist der einzelne Bremer Bürger viel besser
vertreten, was seine Stimme angeht, als jemand in Niedersachsen, wo sehr viele Menschen zur Wahl gehen.
Wir konterkarieren also eigentlich unser gemeinsames
Interesse, die Wahlbeteiligung zu steigern und die Menschen dadurch zu motivieren, zur Wahl zu gehen, dass
sie mehr Mandate erringen können, wie es im geltenden
Wahlrecht heute zum Glück auch der Fall ist. Aber wir
lösen das Problem des negativen Stimmengewichts.
Das zweite Modell bei der Trennung wäre, die Wahlbeteiligung einzupreisen. Das heißt, wir wählen in den
16 Wahlgebieten, stellen fest, wie viele Zweitstimmen
dort abgegeben wurden, teilen nach der Zahl der abgegebenen Zweitstimmen die Mandate zu und verteilen danach wieder die entsprechenden Sitze. Dadurch bleibt
ein kleines Restrisiko für das negative Stimmgewicht;
aber wir erzielen auf der anderen Seite einen erheblichen
verfassungsrechtlichen Vorteil, indem wir einpreisen,
dass die Menschen dort zur Wahl gegangen sind.
({22})
Wir haben einen weiteren Nachteil: dass nämlich die
Stimmen, die auf Parteien abgegeben wurden, die kein
Mandat erringen, oder die Stimmen, die oberhalb der
Stimmen für ein Mandat liegen, schlicht wegfallen. Das
ist ein ernsthaftes verfassungsrechtliches Problem, weil
es eine faktische Erhöhung der 5-Prozent-Hürde darstellt. Es kann plötzlich sein, dass 13, 14 Prozent der
Bremer die Grünen gewählt haben - ({23})
- Sie sind natürlich auf dem permanenten Steigflug. Aber angenommen, es wählen Sie 13 Prozent der Bremer, und wir stellen dann fest, dass dies nicht für ein
Mandat reicht, dann kann man den Wählern der Grünen
in Bremen vorwerfen: Eure Stimmen sind verfallen; es
war jenseits aller politischen Fragen sinnlos, die Grünen
zu wählen.
({24})
Die dritte Lösung wäre, nur die überhängenden Listen
aus dem Wahlverbund herauszulösen, also nur in Sachsen oder in Baden-Württemberg. Dort, wo Überhangmandate entstehen, trennen wir die Listen der Parteien,
die die Überhangmandate erreichen, heraus. Auch das
wird von einigen Verfassungsrechtlern vertreten und immer wieder gefordert. Damit haben wir den minimalinvasiven Eingriff; allerdings haben wir auch ein Restrisiko für das negative Stimmgewicht.
Mein Anliegen wäre jetzt, diese drei Vorschläge, die
das Problem ernsthaft angehen, ohne große verfassungsrechtliche Kollateralschäden zu erzeugen, im Dialog mit
der Opposition sorgsam gegeneinander abzuwägen, vielleicht auch zu sehen, ob man mit einem Teilausgleich an
dieser Stelle der SPD etwas entgegenkommen kann,
wenn das ihr Anliegen ist, und auf dieser Grundlage
dann ein Wahlrecht in Deutschland mit subjektivem
Wahlrechtsschutz, mit Lösung der Berliner Zweitstimme
und einem ordentlichen, verfassungsrechtlich abgewogenen Verfahren durch dieses Haus zu bringen.
({25})
Machen Sie mit, und diskutieren Sie fachlich und nicht
polemisch!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({26})
Vielen Dank, Kollege Dr. Stefan Ruppert. - Nun
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Volker Beck. Bitte schön, Kollege Volker Beck.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren, ich muss es Ihnen noch einmal vorhalten: Im Urteil vom 3. Juli 2008
({0})
steht der schöne Satz:
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis spätestens zum
30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu
treffen.
({1})
Sie haben leider nicht gesagt, wann Sie Ihren Gesetzentwurf vorlegen und wie Sie dieser Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts noch nachkommen wollen. Was ist
denn, wenn die Kanzlerin im September die Vertrauensfrage stellt, und Ihr Laden in seine Bestandteile zerfällt?
So, wie Sie auftreten, ist das ja kein rein theoretisches
Szenario.
({2})
Dann stehen wir vor Neuwahlen und haben kein geltendes Bundeswahlgesetz, weil das Verfassungsgericht uns
nur für die letzte Bundestagswahl noch einmal die Erlaubnis gegeben hat, nach diesem Recht zu wählen, nicht
aber ein zweites Mal. Dann wären wir in einer richtigen
demokratischen Staatskrise und benähmen uns wie LänVolker Beck ({3})
der, die keine richtigen Demokratien sind, weil wir verfassungswidriges Wahlrecht anwenden müssten. Das
wäre eine Katastrophe und würde das Vertrauen in dieses
Parlament draußen im Lande erheblich erschüttern.
({4})
Herr Krings, wenn man keinen eigenen Vorschlag hat,
sollte man nicht ganz so arrogant über die Vorschläge
der anderen, die alle ihre Pros und Kontras haben, herziehen.
({5})
Wenn Sie schon Lösungen kritisieren und behaupten
- übrigens habe jetzt überwiegend ich das Wort; das ist
die Regel hier im Parlament -,
({6})
man verfehle mit hier vorgelegten Entwürfen das Thema,
dann lese ich Ihnen einmal aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum negativen Stimmgewicht vor.
({7})
Darin heißt es:
Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der
Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen
auf die geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im
Deutschen Bundestag haben.
Es geht weiter:
Je nachdem, für welche Alternative sich der Gesetzgeber entscheidet, ergeben sich Auswirkungen
auf das gesamte Wahlsystem.
Dann folgt ein Satz, der unseren Vorschlag beschreibt,
den das Gericht ausdrücklich für zulässig und erwägenswert hält, dessen Nachteile es aber auch benennt:
Eine landeslistenübergreifende Verrechnung von
Direktmandaten und Zweitstimmenmandaten würde
beispielsweise Überhangmandate und damit den
Effekt des negativen Stimmgewichts weitestgehend
vermeiden, gleichzeitig aber dazu führen,
- das bestreiten wir auch gar nicht dass für den Ausgleich fehlender Listenmandate auf
einer Landesliste auf Mandate einer anderen Landesliste zurückgegriffen werden müsste.
So beschreibt das Gericht einen der Lösungswege. Wir
haben ihn als Gesetzentwurf formuliert. Er ist zweifelsfrei verfassungskonform.
({8})
Er hat Nachteile politischer Art, die man nicht mögen
mag, aber er löst das Problem des negativen Stimmgewichts und das Problem der Überhangmandate.
Nun kann man sagen: „Wir sind weniger radikal“,
und Elemente des Vorschlags der SPD übernehmen, wie
es die Linke macht. Das ist ebenfalls ein gangbarer Weg.
Bei dem Vorschlag der SPD, der mir im Grundsatz politisch gefällt, habe ich noch die Frage, ob das negative
Stimmgewicht dadurch wirklich restlos beseitigt würde.
Das können wir in der Ausschussanhörung klären. Aber
dieser Vorschlag ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag
zur Lösung des Problems.
Außerdem möchte ich Ihnen noch etwas anderes vortragen - auch zum Schutz der SPD -, weil Sie behauptet
haben, hier habe die SPD das Thema verfehlt. In seiner
Entscheidung vom 26. Februar 2009 sagte das Bundesverfassungsgericht, dass es eine Wahlprüfungsbeschwerde
wegen der Überhangmandate deshalb nicht prüfe, weil
diese Problematik sich so nicht mehr stellen werde, wenn
der Gesetzgeber das Problem des negativen Stimmgewichts beseitigt habe. Damit geht das Bundesverfassungsgericht selbst davon aus, dass das entscheidende
Problem bei dem negativen Stimmgewicht die unausgeglichenen Überhangmandate sind. Angesichts dessen
können Sie doch der SPD nicht vorhalten, sie habe das
Thema verfehlt und, statt den Motor zu reparieren, Scheibenwischer angebracht.
({9})
Wir müssen schauen, ob damit alle Probleme im Detail
gelöst sind; aber das Hauptproblem in den meisten Fällen löst dies, und das hängt nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts entscheidend mit dem Thema
des negativen Stimmgewichts zusammen.
Nebenbei: Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil
zum negativen Stimmgewicht herausgestellt, entscheidendes Problem bei knappen Mehrheitsverhältnissen sei,
dass durch diesen Effekt, durch den Wechsel eines Sitzes
auf die andere Seite des Hauses, eine Verschiebung der
Mehrheit erfolgen könne, und dies ein Problem der Stimmenwertgleichheit und somit ein Problem in der Demokratie sei. Wenn das ein Problem in der Demokratie ist,
dann wäre aber eine Überhangmandatsfraktion von 30 bis
60 Abgeordneten, wie sie nach einer Studie des Wissenschaftlichen Dienstes aufgrund der aktuellen Umfragen
möglich wäre, ein noch entscheidenderes Problem, weil
dann die Gefahr bestünde, dass die Bevölkerung Parteien
wählt, von denen sie denkt, sie würden gemeinsam die
Regierung bilden. Damit erhielten diese zwei, drei oder
vier Parteien die Mehrheit bei den abgegebenen Stimmen,
während andere Parteien zusammen die Mehrheit bei den
Mandaten erhielten. Dann sind wir in einer konstitutionellen Krise. Dann wird sich jeder Bürger sagen: Es ist
wirklich egal, was ich wähle. Es kommt aufgrund wunderbarer Regelungen im Wahlrecht ja trotzdem etwas anderes heraus.
({10})
Das zu verhindern, sind wir unseren Wählerinnen und
Wählern schuldig; denn in unserer Verfassung steht, dass
alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Von Tricks im
Volker Beck ({11})
Wahlgesetz steht da nichts drin. Deshalb sollten wir uns
jetzt auf den Hosenboden setzen und zusehen, dass wir
die Arbeit noch vor der Sommerpause so weit vorantreiben, dass wir uns vor dem Bundesverfassungsgericht
und vor der deutschen Öffentlichkeit nicht blamieren.
({12})
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. - Nun für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Stephan Mayer.
Bitte schön, Kollege Stephan Mayer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Wir debattieren heute nicht
über irgendein Rechtsgebiet, nicht über irgendeinen
Politikbereich. Wir debattieren heute über den zentralen
konstitutiven Bestandteil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, über das Wahlrecht.
({0})
Wir sollten uns alle davor hüten, dass wir diese Diskussion nur durch die Brille aktueller Umfragewerte oder
vor dem Hintergrund betrachten, wem was vermeintlich
wann wie nützen könnte.
Das Wahlrecht ist die Leitplanke unseres Staatswesens. Das Wahlrecht legt, wie Kollege Wiefelspütz schon
ausgeführt hat, die Spielregeln fest, unter denen unser
Staatswesen funktioniert. Wir sollten uns, wie ich
glaube, davor hüten, diese Spielregeln allzu oft und allzu
weitgehend zur Disposition zu stellen. Dies ist wichtig,
damit Verlässlichkeit waltet. Dies ist aus meiner Sicht
aber auch wichtig, um entsprechende Akzeptanz in der
Bevölkerung zu finden. Wir alle haben, wie ich glaube,
die Aufgabe, das Wahlrecht zu hegen und zu pflegen und
es vor allem so transparent und verständlich zu gestalten
bzw. zu halten, dass es die Bevölkerung nachvollziehen
kann.
Wir können durchaus stolz sein auf unser Wahlrecht.
Mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht ist Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren. Das
sieht man meines Erachtens auch daran, dass andere Länder unser Wahlrecht kopieren, zum Beispiel Neuseeland.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom
3. Juli 2008 ist die Ursache für die heutige Debatte, und
die Aufgabe, die uns das Verfassungsgericht gestellt hat
- auch das ist kein Geheimnis -, ist alles andere als einfach. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit festhalten,
dass das Verfassungsgericht explizit nicht geurteilt hat,
dass Überhangmandate verfassungswidrig sind.
({1})
Ich sage dies auch, sehr geehrter Kollege Oppermann, an
Ihre Adresse, weil Sie formuliert haben: Überhangmandate sind unverdient. - Ich sage hier ohne Schaum vor
dem Mund und ganz nüchtern: Sie diskreditieren mit dieser Aussage meines Erachtens das Wählervotum in einem
Wahlkreis. Direkt gewählte Abgeordnete haben in unserem personalisierten Verhältniswahlrecht eine enorme
Bedeutung und einen enormen Stellenwert. Überhangmandate sind keine unverdienten Mandate, sie sind verdiente Mandate. Der Wahlkreisbewerber, der direkt gewählt wird, wird nicht ohne Grund gewählt.
Ich möchte durchaus zum Ausdruck bringen, dass ich
die drei Gesetzentwürfe der Opposition respektiere. Sie
sind mit Sicherheit eine Grundlage für die weitere Debatte.
({2})
Ich persönlich habe allerdings den Eindruck, dass sie insoweit keine taugliche Grundlage darstellen, da allen
drei Gesetzentwürfen aus meiner Sicht die Verfassungswidrigkeit quasi auf die Stirn geschrieben steht.
Zunächst einmal zum Gesetzentwurf der Grünen: Die
Grünen favorisieren das Kompensationsmodell, benachteiligen damit aber in eklatanter Weise die Länder, in denen keine Überhangmandate anfallen,
({3})
sprich: Die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß und auch in Zukunft
keine Überhangmandate anfallen, werden im Deutschen
Bundestag schlechter, also durch eine geringere Anzahl
an Abgeordneten, vertreten als die Bürgerinnen und Bürger aus den Bundesländern, in denen erfahrungsgemäß
viele Überhangmandate anfallen. Das stellt aus meiner
Sicht einen eklatanten Verstoß gegen die Bundestreue
dar. Des Weiteren verletzen Sie in eklatanter Weise den
Grundsatz der Gleichheit des Erfolgswertes der Stimme.
Daraus konstruiere ich die von mir behauptete Verfassungswidrigkeit Ihres Gesetzentwurfes.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie meinen es ja besonders gut mit der CSU. Ich
finde es ja immer wieder schön, dass Sie der CSU besondere Aufmerksamkeit zuwenden.
({4})
Besonders auffällig war für mich da schon die Formulierung im Begründungsteil Ihres Gesetzentwurfes. Sie behaupten darin, die Unabhängigkeit der CSU werde nur
vorgespielt.
({5})
Es gibt durchaus den einen oder anderen CDU-Kollegen,
dem es vielleicht ganz recht wäre, wenn die Unabhängigkeit der CSU tatsächlich nicht gegeben wäre. Ich
kann Ihnen aber an dieser Stelle wirklich glaubhaft und
Stephan Mayer ({6})
nachdrücklich versichern: Die CSU ist eine vollkommen
unabhängige Partei und wird dies auch bleiben.
({7})
Was aber schon absurd ist, ist, dass Sie sagen: Wenn
in Bayern für die CSU Überhangmandate anfallen - das
war bei der letzten Wahl im Jahr 2009 der Fall; es wird
hoffentlich nie mehr vorkommen -, dann verliert derjenige direkt gewählte Abgeordnete sein Mandat, der den
geringsten Anteil an Erststimmen bekommen hat.
({8})
Ich stehe nicht in der Gefahr, von der Regelung, die Sie
favorisieren, betroffen zu sein. Bei der letzten Wahl habe
ich über 60 Prozent der Erststimmen bekommen.
({9})
Aber es gibt durchaus Kollegen - das sage ich ganz
ernsthaft -, die davon betroffen sein könnten.
Mit dieser Regelung missachten Sie aus meiner Sicht
das Wählervotum in eklatanter Weise. Man spricht bei
mir in der Gegend respektvoll vom sogenannten Heimatabgeordneten. Wir dürfen nicht den besonderen Wert unterschätzen, wenn ein Kandidat in einer direkten Wahl
die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinigen kann.
Das bedeutet, dass abseits von der Parteizugehörigkeit
dieser Person besonderes Vertrauen entgegengebracht
wird und ihr besondere Kompetenz und besondere
Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Ich finde es - mit
Verlaub - schäbig,
({10})
dass Sie einem solchen Kandidaten, der direkt in den
Deutschen Bundestag gewählt wird, die Möglichkeit
verweigern wollen, sein Mandat anzutreten.
({11})
Sie missachten mit dieser Regelung nicht nur die Bedeutung des direkt gewählten Abgeordneten, sondern in eklatanter Weise auch das Wählervotum.
Zum Gesetzentwurf der SPD. Herr Kollege
Oppermann, Ihr Entwurf beinhaltet meines Erachtens
nicht nur, wie Sie es behauptet haben, Schönheitsfehler;
das wäre etwas zu euphemistisch ausgedrückt. Er ist aus
meiner Sicht auch verfassungswidrig - das muss ich Ihnen so deutlich sagen -, weil er, wie Sie selbst im Begründungsteil einräumen, den Fall des negativen Stimmgewichts nicht gänzlich ausschließt.
({12})
Er würde natürlich auch dazu führen, dass das Parlament
unnötig aufgebläht werden würde, weil Überhangmandate ausgeglichen würden. Es sollte in der Zukunft
schon eine der Grundlinien unserer Debatte sein, dass
wir dafür Sorge tragen, dass unser Parlament, in dem
jetzt 621 Abgeordnete vertreten sind, nicht übermäßig
mit zusätzlichen Mandaten aufgebläht wird. Man kommt
sehr schnell an eine Grenze, an der die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht mehr gegeben ist.
({13})
Ich glaube, Gegenstand unserer weiteren Diskussionen
sollte sein, wie wir verhindern können, dass das Parlament aufgrund von Ausgleichsmandaten übermäßig vergrößert wird.
Wenn Ihr Vorschlag umgesetzt werden würde, würden
Sie auch die Bedeutung des direkt gewählten Abgeordneten minimieren; denn Ihr Vorschlag beinhaltet eine
Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise und damit natürlich auch eine Reduzierung der Zahl der direkt gewählten Abgeordneten, um ein exorbitantes Aufblähen
des Parlaments zu verhindern. Als direkt gewählter Abgeordneter sage ich ganz offen: Es ist schon wichtig,
dass der Kreis der Wählerinnen und Wähler, für die man
verantwortlich ist, nicht übermäßig wächst. Die Nähe
zum Bürger, aber auch zu den Kommunen und Gemeinden würde abnehmen, wenn der Wahlkreis immer größer
würde und damit die Zahl der darin lebenden Bürgerinnen und Bürger immer weiter anstiege. Wir müssen
peinlichst genau darauf achten, dass das Band zwischen
dem direkt gewählten Abgeordneten und den Bürgern
nicht zu locker wird.
({14})
Bei vielen Gelegenheiten diskutieren wir hier im Plenum
über die zunehmende Politikverdrossenheit in der Bevölkerung. Man würde dieser Verdrossenheit Vorschub leisten, wenn man die Anzahl der direkt gewählten Abgeordneten und die Anzahl der Wahlkreise reduzieren
würde.
({15})
Ich komme in aller Kürze noch zum Gesetzentwurf
der Linksfraktion. Es ist schon angedeutet worden, dass
die Linke hinsichtlich der CSU mehr Milde walten lässt
als hinsichtlich der Grünen.
({16})
Ich bin aber für die Klarstellung des Kollegen Korte
dankbar, dass wir beileibe keine Freunde sind. Man kann
sich zwar nicht seine Verwandtschaft aussuchen, aber
seine Freunde schon. Deswegen möchte ich auf die Feststellung Wert legen, dass uns hier noch sehr viel trennt.
({17})
Ich sage ganz offen: Die Reduzierung des Wahlalters auf
16 Jahre wäre ein großer Fehler. Die Landtagswahl in
Stephan Mayer ({18})
Bremen hat gezeigt, dass man damit die Jungwähler
nicht an die Urne bringt. Ganz im Gegenteil: Die Wahlbeteiligung in Bremen war so niedrig wie nie zuvor.
({19})
In diesem Sinne sollten wir die Diskussionen in Zukunft konstruktiv fortsetzen. Ich glaube, es sollte, egal
welcher Fraktion man angehört, unser Bestreben sein,
beim künftigen Wahlrecht einen möglichst großen Konsens in diesem Haus zu finden. Wie gesagt: Es ist die
Leitplanke unseres Staatswesens.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Vielen Dank, Kollege Stephan Mayer. - Nun spricht
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Gabriele Fograscher. Bitte schön, Frau Kollegin
Gabriele Fograscher.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Was muss das Wahlrecht leisten? Es muss den Wählerwillen so genau wie möglich in der Zusammensetzung
des Deutschen Bundestages abbilden. Das Wahlrecht ist
somit der Grundpfeiler unserer repräsentativen Demokratie.
Verzerrungen - das haben wir schon gehört - können
durch das sogenannte negative Stimmgewicht auftreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgefordert, das
zu ändern. Sie können aber auch durch die Überhangmandate auftreten. Obwohl Sie von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung wissen, dass die Frist
des Bundesverfassungsgerichts in fünf Wochen abläuft,
gibt es von Ihnen keine beratungsfähige Vorlage. Auch
wenn Sie von den Koalitionsfraktionen - Herr Ruppert,
Herr Krings, Herr Mayer - schon in der Debatte im
März, als wir den Vorschlag der Grünen diskutiert haben, und auch heute die Vorschläge der Opposition in
der Luft zerreißen: Sie kritisieren zwar, sagen aber nicht,
was Sie wollen.
({0})
- Na ja.
Herr Krings, Sie haben bereits im März erklärt, dass
die Reform des Wahlrechts eine komplizierte Sache sei.
Da gebe ich Ihnen recht. Herr Ruppert, Sie haben das
eindrucksvoll dargelegt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber drei Jahre Zeit gegeben, um eine Neuregelung zu finden. Jedoch ist die Zeit
nun fast um, und es gibt nichts von Ihnen, weil Sie sich
nicht einmal innerhalb der Koalition einigen können.
Es kursierte bereits ein Entwurf. Herr Krings, Sie haben ihn heute nochmals skizziert. Aber Sie scheinen bei
diesem Modell nicht einmal mit der FDP Einigkeit erzielen zu können. Sie wollen die Listenverbindungen zwischen den Bundesländern abschaffen; die 16 Bundesländer sollen zu 16 getrennten Wahlgebieten werden. Das
würde die kleinen Parteien benachteiligen. Deshalb
kommen Sie hier auch nicht zu einer Lösung innerhalb
der Koalitionsfraktionen. Im Übrigen löst es auch nicht
das Problem: Wie das Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes feststellt, kann das negative Stimmgewicht bei
Ihrem Modell - Länder als getrennte Wahlgebiete, in der
Variante mit Sitzkontingenten nach Wahlbeteiligung weiterhin auftreten. Damit ist die Auflage des Bundesverfassungsgerichts nicht erfüllt. Nach diesem Gutachten wären bei der letzten Bundestagswahl 16 hypothetische Fälle des negativen Stimmgewichts aufgetreten. Ihr
Modell ist deshalb nicht geeignet, die bestehenden Probleme zu lösen. Deshalb ist es nicht mehrheitsfähig.
Sie wollten unter Hochdruck arbeiten. Aber wo bleibt
das Ergebnis? Wir warten. Sie wollten mit uns reden;
auch da hat sich nichts getan. Herr Kollege Uhl hat in
der Debatte im März erklärt, wir sollten uns zusammensetzen; denn Sie hielten knappe Mehrheitsentscheidungen beim Wahlrecht für schädlich. Das sehen wir auch
so. Bisher war es gute Tradition, dass wir bei Fragen des
Wahlrechts immer auf eine breite Zustimmung gesetzt
haben. Wir warten aber immer noch auf ein konkretes
Gesprächsangebot.
Ich hatte Ihnen in der entsprechenden Debatte angeboten, noch einmal Gespräche zu führen und externen
Sachverstand hinzuzuziehen. Auch darauf haben Sie
sich nicht eingelassen. Das ist bedauerlich und ärgerlich.
Ich glaube, dass wir jetzt nicht mehr fristgerecht zu einer
Lösung kommen werden.
Für uns, für die SPD-Bundestagsfraktion, ist klar: Wir
wollen das unitarische Prinzip einer Bundestagswahl
nicht verletzen. Wir wollen keine 16 Länderwahlen;
({1})
aber dazu würde es kommen, wenn die Landeslisten
nicht mehr miteinander verbunden wären.
({2})
Wir wollen die Grundkonstruktion unseres Wahlsystems
erhalten, aber die aufgetretenen Schwächen beseitigen.
Wir wollen dabei beachten, dass es für die Bürgerinnen
und Bürger verständlich und nachvollziehbar ist.
Durch Überhangmandate und das sich daraus möglicherweise ergebende negative Stimmgewicht werden
das Wahlergebnis und der Wählerwille verzerrt und die
Stimmengleichheit verletzt, die Mehrheit der Zweitstimmen ist nicht mehr gleichzeitig die Mehrheit der Mandate. Weil Überhangmandate nicht ersetzt werden, kann
sich innerhalb einer Legislaturperiode das Mehrheitsverhältnis ändern. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, in einem
ersten Schritt die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate zu egalisieren, um die Mehrheitsverhältnisse
nach Zweitstimmen im Bundestag richtig abzubilden.
Falls die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages in nicht vertretbarer Weise ansteigen sollte, ist in
einem zweiten Schritt, nach der Wahl 2013, zu prüfen,
ob der Bundestag durch die Reduzierung der Anzahl der
Wahlkreise wieder verkleinert werden sollte. Mir ist bewusst, dass die dann vorzunehmende Neuzuschneidung
der Bundestagswahlkreise eine große Aufgabe und Herausforderung ist. Ich betreue dieses Thema seit vielen
Jahren und meine, dass ein verfassungskonformes und
transparentes Wahlrecht der Mühe wert ist. Unser Vorschlag lautet: Lassen wir Ausgleichsmandate zu, und
entscheiden wir über Veränderungen bei der Zahl der
Wahlkreise nach der nächsten Bundestagswahl.
Noch ein Satz zum Gesetzentwurf der Linken. Er ist
ein Sammelsurium von Wahlrechtsänderungen - es sind
auch Grundgesetzänderungen dabei -, die mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur wenig zu tun haben.
({3})
Unter anderem fordern Sie die Abschaffung der 5-Prozent-Hürde. Ich meine, die 5-Prozent-Hürde hat sich bewährt. Sie hat bislang verhindert, dass Splitterparteien
und rechtsextremistische Parteien in den Bundestag eingezogen sind. Die 5-Prozent-Regelung hat andererseits
aber nicht verhindert, dass neue Parteien den Weg in dieses Parlament gefunden haben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, Sie haben viel Zeit verstreichen lassen.
Nehmen Sie unsere Vorschläge ernsthaft auf, kehren Sie
an den Verhandlungstisch zurück, und lassen Sie uns die
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts erfüllen!
Danke sehr.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Gabriele Fograscher. Jetzt hat das Wort unser Kollege Dr. Patrick Sensburg
für die Fraktion der CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Wahlrecht - das wurde durch die Ausführungen meiner Vorredner deutlich - ist eine staatsrechtliche und verfassungsrechtliche Feinarbeit, bei der leider
oft auch machtpolitische Erwägungen angesprochen
werden. Das haben wir in der Rede des Kollegen
Oppermann direkt am Anfang der Debatte gesehen. Erst
hieß es, dass Machtpolitik nicht betrieben werde, doch
dann spielten machtpolitische Erwägungen in den Ausführungen eine zentrale Rolle. Ich versuche, das bei der
Bewertung der vorliegenden Vorschläge zu vermeiden.
({0})
- Ich gebe mir Mühe, Herr Kollege Wieland.
Das deutsche Wahlrecht hat beide Extreme erlebt, sowohl das Mehrheitswahlrecht als auch das Verhältniswahlrecht. Die Kombination im personalisierten Verhältniswahlrecht - darüber sind wir uns, glaube ich, in
diesem Hause einig - ist ein guter und richtiger Weg.
Das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht in der
bereits zitierten Entscheidung vom 3. Juli 2008 bescheinigt, indem es sagt - ich zitiere -: Der Gesetzgeber „darf
auch beide Wahlsysteme miteinander verbinden, etwa
indem er eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig
nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältniswahlprinzip zulässt“.
Trotzdem hat des Bundesverfassungsgericht das
Wahlrecht insofern für verfassungswidrig erklärt, als ein
Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen
führen kann, die über die Landesliste vergeben werden
- das hat der Kollege Oppermann zu Anfang am Beispiel NRW ausgeführt -, oder weil ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führen kann, die
über die Landesliste vergeben werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns denkbare Lösungswege aufgezeigt. Zum einen könnte man demzufolge beim Entstehen - ich betone: Entstehen - der
Überhangmandate ansetzen. Zum anderen wurde explizit der Verzicht auf Listenverbindungen genannt. Zugleich wurden aber auch die möglichen Auswirkungen
beider Denkansätze angedeutet, und es wurde nachdrücklich auf die hohe Komplexität der möglichen Regelungen hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns damit deutlich gemacht, dass eine Lösung in Reinform vielleicht gar nicht möglich ist, sondern wir möglichst nah an die Lösung des Problems des negativen
Stimmgewichts herankommen müssen. Wenn Sie Entwürfe vorlegen, dann müssen Sie auch erlauben, dass
wir uns mit ihnen auseinandersetzen.
({1})
- Das mache ich dann auch. Ich fange aber mit den Kollegen der SPD an und nicht mit Ihnen, Herr Kollege
Wieland.
Der Vorschlag der SPD - das haben meine Vorredner,
besonders Herr Dr. Krings, deutlich gemacht - setzt
nicht am entscheidenden Problem an, sondern findet einen Ausgleich für Überhangmandate. Er sattelt also
drauf. Ich kann das verstehen: Wenn man die Besorgnis
hat, keine direkten Wahlkreise zu holen, dann will man
Überhangmandate ausgleichen. Im Jahre 2002 hatten Sie
diese Überlegungen übrigens nicht, als Sie nämlich
selbst von Überhangmandaten profitiert haben.
({2})
Es ist schon interessant, dass dieser Vorschlag gerade
jetzt kommt. Schauen wir uns einmal an, Herr Kollege
Oppermann, zu welchen Auswirkungen das Ganze führen würde! Legen wir die Wahl 2009 zugrunde, würde es
dazu führen, dass es 60 Mandate mehr in diesem Bundestag gäbe. Wenn wir - das haben wir eben angesprochen - diese Idee weiterverfolgen, dann würde Ihr
Entwurf dazu führen, dass sich der Bundestag gegebenenfalls um über 100 Mandate aufblähen kann. Wir hätten dann eine große Schwankung zwischen der Grund12644
mandatszahl und der möglichen Mandatszahl durch
Überhangmandate und Ausgleichsmandate; denn beide
müssen nämlich berücksichtigt werden.
Ich glaube, das ist ein großes Problem und schafft
keine Sicherheit. Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob damit das System des negativen Stimmgewichts beseitigt wird oder ob wir nicht vielmehr eine
hohe Ungleichgewichtigkeit schaffen. Das ist vorhin bereits angesprochen worden.
({3})
Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen macht mir
wirklich Sorgen, vor allem - der Kollege Mayer hat es
vorhin angesprochen - als direkt gewählter Abgeordneter. Wenn man die Nähe zu seinem Wahlkreis hat und erkennt, dass nach Ihrem Entwurf über die Listenverbindungen einige direkt gewählte Abgeordnete herausfallen
können, dann bereitet das Sorgen. Das gilt insbesondere
im Hinblick auf die Wähler, die gesagt haben: „Ich
wähle diesen Abgeordneten“, wenn dann aufgrund des
Länderproporzes dieser Abgeordnete herausfallen muss.
Ich weiß nicht, was der Kollege Ströbele dazu sagt; momentan sagt er gar nichts.
({4})
Im Hinblick auf diese Problematik kann ich Ihren Vorschlag nicht gutheißen. Er beseitigt das Problem des negativen Stimmgewichts sowieso nicht; er lässt Direktmandate hinten herunterfallen. Ich glaube, auch dieser
Ansatz ist im Ergebnis nicht gut.
Zum Gesetzentwurf der Linken ist schon einiges gesagt worden. Er ist ein Sammelsurium, das weit über das
Bundesverfassungsgerichtsurteil hinausgeht ({5})
das ist bereits angesprochen worden -: das Ausländerwahlrecht, das Wahlrecht mit 16 Jahren, aber auch
die 5-Prozent-Klausel. Ich frage mich manchmal, welche
Sorgen Sie eigentlich haben, dass Sie gerade die 5-Prozent-Klausel abschaffen wollen. Das zeigt, wo Sie Ihre
Zukunft sehen. Es kann doch nicht der richtige Ansatz
sein, bei einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
alles Mögliche machen zu wollen, nur nicht, dem Auftrag Rechnung zu tragen.
({6})
Auch Sie schwächen übrigens den direkt gewählten Abgeordneten. Herr Kollege Korte, Sie haben eben von
mehr Demokratie gesprochen. Warum schwächen Sie
dann die direkt gewählten Abgeordneten mit den Überhangmandaten? Das ist doch nicht mehr Demokratie, das
ist weniger Demokratie. Das würden Sie erkennen, wenn
Sie es einmal bis zum Schluss durchdenken würden.
({7})
Herr Kollege Korte, der Entwurf hat übrigens auch
sprachliche Mängel.
({8})
Lesen Sie sich einmal den von Ihnen vorgeschlagenen
§ 7 a Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes durch! Wenn Sie
den verstehen, alle Achtung! - Nicht die Rede, Herr Kollege Korte, die kann man, glaube ich, verstehen. ({9})
Die Vorschläge sind von den Kollegen Dr. Krings und
Dr. Ruppert gekommen.
({10})
Ich würde mir in diesem Haus wünschen, dass wir das
Thema Wahlrecht - ich hatte es zu Anfang gesagt - fraktionsübergreifend debattieren und diskutieren,
({11})
dann aber auch fraktionsübergreifend eine Lösung finden. Es ist ausreichend Zeit, das gemeinsam zu tun. Wir
müssen allerdings die Thematik seriös angehen. Sie haben mit Ihren drei Vorschlägen gezeigt, dass Sie nicht
zur Lösung des Problems des negativen Stimmgewichts
beitragen. Sie haben Vorschläge vorgelegt, die uns im
Kern nicht weiterbringen.
({12})
Kommen Sie zurück an den Verhandlungstisch, sodass
wir es schaffen, gemeinsam über die Fraktionen Lösungen zu finden und das Wahlrecht auf eine breite Basis zu
stellen! Der Kollege Krings hat hierzu Vorschläge gemacht.
({13})
Setzen Sie sich mit uns gemeinsam an einen Tisch. Diskutieren Sie diese Vorschläge. Die Einladungen sind erfolgt, anders als Sie es vorhin gesagt haben. Ich würde
mir wünschen, dass wir dann ein Wahlrecht bekommen,
das von einer breiten Mehrheit hier im Deutschen Bundestag getragen ist.
Danke schön.
({14})
Vielen Dank, Kollege Dr. Patrick Sensburg. - Nun hat
das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege
Wolfgang Wieland.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Sensburg, man muss sich vorher ehrlich machen. In
der Frage der Wahlgesetzgebung haben wir als Parteien
alle Eigeninteressen. Ich habe schon das letzte Mal, als
wir zu Ende der vergangenen Legislaturperiode hier über
unseren Entwurf debattiert haben, gesagt: Wir sind eine
kleine Partei und von Überhangmandaten relativ weit
entfernt. Daraufhin erntete ich wütenden Protest von
Claudia Roth, meiner Parteivorsitzenden. Deswegen
wiederhole ich dies heute nicht, auch weil das mit der
kleinen Partei möglicherweise nicht mehr richtig ist.
Aber wir bleiben bei unseren Überzeugungen. Unsere
Überzeugungen entsprechen dem Arbeitsauftrag des
Bundesverfassungsgerichtes, das negative Stimmgewicht zu beschneiden und dafür zu sorgen, dass es keine
Verfälschung des Wählerinnen- und Wählerwillens
durch Überhangmandate geben darf. Das ist zu erledigen, und nicht das Risibisi der Linksfraktion oder die
mündlichen Vorschläge, die Sie hier nun vorgelegt haben, Herr Kollege Krings. Durch diese Vorschläge
würde genau das Gegenteil erreicht. Sie würden dazu
führen, dass es sogar mehr negative Gewichtung und
mehr Überhangmandate geben könnte. Sie glauben doch
wohl nicht, dass wir da mitmachen werden.
Es ist nachgerade merkwürdig, dass ausgerechnet die
CSU, die Partei von „Kopf-ab-Jaeger“ und Franz Josef
Strauß, nun sagt: Bitte, Grüne, mehr Milde mit der CSU.
({0})
- Den haben wir immer.
({1})
- Selbstverständlich. - Wir hatten das letzte Mal als
Einzige einen Vorschlag gemacht. Selbst Ihr Parlamentspräsident Lammert hat vor der letzten Bundestagswahl gesagt: Es wäre gut, wenn wir schon ein verfassungsgemäßes Wahlrecht hätten. Da war Ihr
Hauptargument: Ihr habt das Problem der CSU nicht gelöst. - Wir haben zugegeben, dass wir das Problem der
CSU nicht gelöst hatten.
Jetzt haben wir einen Vorschlag gemacht, durch den
das Problem der CSU klar und eindeutig gelöst wird.
Dazu sagen Sie nun wieder: So geht das aber ganz und
gar nicht. - Sie sind nicht nur eine Dagegen-Partei, sondern auch - Sie sind beides in Kombination - eine Tunix-Partei.
({2})
Daher sollten Sie hier den Mund nicht so voll nehmen.
({3})
Professor Meyer hat schon damals in der letzten Legislaturperiode
({4})
- nicht dieser Herr Mayer; hören Sie einmal zu - in der
Anhörung zu unserem Gesetzentwurf, über den im Übrigen alle Sachverständigen sagten, das wäre ein Weg, den
man gehen könnte,
({5})
wütend gesagt: Alle diese Dinge wie Kinderwahlrecht
und Sonstiges kann man machen, aber es geht nicht darum, was man machen kann, sondern darum, dass man
verhindern muss, dass nach einem Wahlrecht gewählt
wird, das so katastrophal ist, dass es kein Wahlrecht
mehr ist. - Er sagte weiter: Da sitzen Sie ein ganzes Jahr
herum und tun nichts. - Jetzt haben Sie weitere zwei
Jahre herumgesessen und nichts getan. Das ist ein Armutszeugnis. Das muss hier gesagt werden.
({6})
Noch ein Wort zur Rechtsstaatspartei FDP. Kollege
Burgbacher hat, als er noch Parlamentarischer Geschäftsführer war und nicht unentwegt Akten studieren
musste, am Tag der Urteilsverkündung in Karlsruhe gesagt: Jetzt muss der Gesetzgeber handeln. Es besteht
dringender Handlungsbedarf. - Daraus wurden bei Frau
Leutheusser-Schnarrenberger eine Warnung vor Aktionismus und eine Forderung nach Augenmaß und Ruhe.
Inzwischen sind Sie offenbar eingeschlafen, meine Damen und Herren von der FDP; denn von Ihnen kommt
nichts mehr.
({7})
Vor allem die SPD, aber auch die Linkspartei haben
hier brauchbare Vorschläge zu der Frage, wie man das
negative Stimmgewicht verhindern und wie man zu einem korrekten Umgang mit Überhangmandaten kommen kann, vorgelegt. Das ist eine Diskussionsgrundlage.
Es gibt natürlich auch hier Haken; da sind wir uns doch
einig. Das negative Stimmgewicht wird nicht ganz ausgeschlossen, und über die Frage, wie groß der Bundestag
werden soll, muss debattiert werden. Darüber kann auch
debattiert werden. Aber wir müssen doch zu einem Ergebnis kommen. Sie sagen hier so schön: Wir wollen den
Konsens. Kollege Mayer sagt, er habe Respekt vor allen
Vorschlägen, um sie im nächsten Satz als schäbig und
vordemokratisch zu bezeichnen. Respekt stelle ich mir
anders vor. Wir haben die Sonderrolle der CSU immer
respektiert. Nur, wir sagen: Eine Partei, die eine solche
Sonderrolle beansprucht, kann sich nicht immer wie ein
Rosinenpicker das Beste aussuchen: hier nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Fraktionsgemeinschaft bilden, aber dann, wenn es einmal,
wie sie glaubt, zu ihrem Nachteil ist, aber immer noch
gerecht und dem Wählerwillen entsprechend, die beleidigte Leberwurst spielen und sich als Opfer darstellen.
Das geht nicht.
({8})
Wir haben immer gesagt: Das Problem der Berliner
Zweitstimmen ist für uns ein geringes. Die SPD will es
jetzt lösen. Für uns ist klar: Der Linksparteiwähler aus
Lichtenberg oder Marzahn wählt seine Partei, wie auch
immer sie gerade heißt, wo auch immer er sie auf dem
Stimmzettel findet. Er wählt sie, ob die Vorsitzenden nun
Karl und Rosa oder Klaus und Gesine heißen.
({9})
Dass gerade dieser Wähler seine Stimme splittet, ist am
unwahrscheinlichsten. Das ist ein Scheinproblem. Aber,
bitte schön, von mir aus können wir auch Scheinprobleme lösen.
({10})
Schließlich und endlich meine letzte Bemerkung. Es
wurde gesagt: Wir debattieren hier nicht unsere Rechte
als Parteien und Fraktionen. Wir debattieren das Recht
des Souveräns. Wir diskutieren über das Recht der Bürgerinnen und Bürger, dass ihre Stimmen bei Wahlen
wirksam werden. - Das muss mit Ernst geschehen, das
muss im vorgegebenen Zeitrahmen geschehen, und das
müsste endlich auch ergebnisorientiert geschehen.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. - Nun
spricht für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Thomas
Strobl. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl. Er ist der
letzte Redner in dieser Debatte.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 3. Juli 2008 das negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt hat, war allen Beteiligten klar, dass dem Gesetzgeber damit eine harte
Nuss aufgegeben wird. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht eine lange Frist, bis zum 30. Juni dieses
Jahres, gesetzt.
Klar ist in Karlsruhe bereits in der mündlichen Verhandlung geworden, dass es beim Wahlrecht keinen Königsweg gibt. Die komplizierte Verschränkung von Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht, wie wir sie in
unserem deutschen Wahlrecht kennen, bringt immer
Brüche und Schwierigkeiten mit sich. Die Tatsache, dass
jede der Oppositionsfraktionen - Linke, Grüne, SPD einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, dass also unterschiedliche Gesetzentwürfe vorliegen, bestätigt, dass
es den Königsweg offensichtlich nicht gibt.
({0})
Ich räume ein, dass es kein Ruhmesblatt für die Koalitionsfraktionen ist, bisher keinen eigenen Gesetzentwurf
vorgelegt zu haben.
({1})
Aber auch dies zeigt, dass die Materie eine außerordentlich schwierige ist.
({2})
Der Vorschlag der Sozialdemokraten - das muss man
klar sagen - beseitigt das negative Stimmgewicht nicht,
erfüllt also den verfassungsrechtlichen Auftrag jedenfalls nicht vollständig.
({3})
Außerdem bläht er den Deutschen Bundestag auf. Hinter
die Lösung, letztlich einfach die Zahl der Mitglieder des
Deutschen Bundestages zu vergrößern, sodass es also
mehr Abgeordnete gibt, ist ein Fragezeichen zu setzen.
Bei Grünen und Linken wird offenkundig, dass sie ein
Problem mit den Überhangmandaten haben.
({4})
Das ist aber kein verfassungsrechtliches Problem,
({5})
sondern ein politisches, Ihr politisches Problem.
({6})
- Nein. Die Überhangmandate sind die Ursache des negativen Stimmgewichts. Sie selbst sind aber nicht verfassungswidrig. Es gibt durchaus Möglichkeiten und
Wege, die Überhangmandate beizubehalten und trotzdem zu einer verfassungsmäßigen Lösung zu kommen.
({7})
Sie verkennen, dass Überhangmandate immer direkt
gewählten Abgeordneten zufallen. Diese Abgeordneten
haben die höchste demokratische Legitimation, die es
überhaupt gibt. Wir wollen dieses Element des Mehrheitswahlrechtes in unserem Wahlrecht nicht aufgeben,
sondern es im Zweifel eher etwas stärken. Außerdem ist
der Vorschlag der Grünen ein Vorschlag, der dem Prinzip
der Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht in dem
Maße gerecht wird, wie es nach dem jetzigen Wahlrecht
der Fall ist. Der Vorschlag wird auch unter föderalen Gesichtspunkten - das ist keine Verfassungsvorgabe - dem,
was wir uns in einem föderalen Bundesstaat vorstellen,
eben nicht gerecht, und das möchten wir nicht akzeptieren.
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Noch einmal: Karlsruhe hat nicht die Überhangmandate als solche für verfassungswidrig erklärt, sondern es geht um einen Mangel namens negatives Stimmgewicht, der für
verfassungswidrig erklärt worden ist und den wir zweifellos zu beseitigen haben. Ein Mangel! Diesen Mangel
zu beseitigen, heißt aber nicht, dass wir jetzt zu einer Generalüberholung unseres Wahlrechts kommen müssen.
Thomas Strobl ({8})
({9})
- Nein, das wollen Sie. Sie wollen dies jetzt zum Anlass
nehmen, um das ganze Wahlrecht sozusagen wegzuspülen.
({10})
Wir haben hier eine etwas andere Vorstellung.
Wir glauben und sind ganz überzeugt, dass wir mit
dem Wahlrecht, welches wir haben, einer Symbiose zwischen dem Verhältniswahlrecht und dem Mehrheitswahlrecht, in den vergangenen 60 Jahren in Deutschland gut
gefahren sind. Wir glauben im Übrigen auch, dass eine
ganz große Mehrheit in der Bevölkerung das Wahlrecht,
das wir haben, für gut und richtig hält. Deswegen müssen wir einen Mangel beseitigen, den uns Karlsruhe zu
beseitigen aufgegeben hat.
Es ist wirklich mein Wunsch, dass wir das gemeinsam
tun, auch gemeinsam mit der Opposition, also fraktionsübergreifend. Beim Wahlrecht haben wir im Deutschen
Bundestag eine lange Tradition, über die Parteigrenzen
hinweg die Kraft zu entwickeln, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
({11})
Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir diese Kraft
erneut entwickeln und dass sich jeder auch einen Ruck
gibt.
Noch einmal: Den Königsweg beim Wahlrecht gibt es
nicht. Es wird immer nur einen Kompromiss geben.
Mein Wunsch und meine Bitte sind, dass wir alle an einem solchen Kompromiss mitwirken.
Danke schön.
({12})
Vielen herzlichen Dank, Kollege Thomas Strobl. -
Wir sind am Ende dieser Debatte. Ich schließe damit die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/5895 und 17/5896 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. - Das ist
somit so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 f sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung der Bundes-Tierärzteordnung
- Drucksache 17/5804 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Einrichtung einer Interparlamentarischen
Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union
- Drucksache 17/5903 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan
Korte, Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 17/5474 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für eine Verordnung ({4})
Nr. …/… des Rates zur Änderung der Verordnung ({5}) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem
übermäßigen Defizit ({6})
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates
über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten ({7})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
({8})
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({9}) Nr. 1466/97 über
den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken ({10})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- Drucksache 17/5904 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über
Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur
übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet ({12})
und
zu dem Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ({13})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- Drucksache 17/5905 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2010
- Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes
für das Haushaltsjahr 2010 -
- Drucksache 17/5648 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Swen Schulz ({15}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Notfallplan für die Hochschulzulassung zum
Wintersemester 2011/12 jetzt starten
- Drucksache 17/5899 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Dr. Matthias Miersch, Marco Bülow,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Transparenz bei Rückstellungen im Kernenergiebereich schaffen
- Drucksache 17/5901 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schnelles Internet für alle - Flächendeckende
Breitband-Grundversorgung sicherstellen und
Impulse für eine dynamische Entwicklung setzen
- Drucksache 17/5902 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Marieluise Beck ({19}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internet-Telefonie in Afghanistan
- Drucksache 17/5908 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({20})
Auswärtiger Ausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck ({21}), Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
- Drucksache 17/5909 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weißbuch Verkehr für Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Europa nutzen
- Drucksache 17/5906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({23})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Claudia Roth ({24}),
Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frauen- und Mädchenfußball stärken - Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2011 gesellschaftspolitisch nutzen
- Drucksache 17/5907 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({25})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/5474 - Tagesordnungspunkt 30 c - soll federführend beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 k auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Vorschriften über den
Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzverträgen und über verbundene Verträge
- Drucksache 17/5097 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({26})
- Drucksache 17/5819 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5819, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5097 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das Stimmverhalten der Grünen
war hier oben nicht sichtbar. Wir geben der Fraktion die
Möglichkeit, dies zu korrigieren. - Wie ist Ihr Abstimmungsverhalten? - Die Mehrheitsverhältnisse sind aber
auch so klar geworden. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Der Kollege Volker Beck gibt noch einen Hinweis.
Wie war das Stimmverhalten?
({27})
- Zustimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat
zugestimmt. Damit ist das protokollarisch erledigt. Jetzt atmen wir
kurz durch. Dann sind Sie in der Lage, die dritte Beratung und Schlussabstimmung durchzuführen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Niemand. Stimmenthaltungen? - Das ist die Fraktion
Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 für
einen Beschluss des Rates zur Festlegung eines
Standpunkts der Union im Stabilitäts- und
Assoziationsrat EU-ehemalige jugoslawische
Republik Mazedonien im Hinblick auf die Beteiligung der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien im Rahmen von Artikel 4
und 5 der Verordnung ({28}) Nr. 168/2007 des
Rates als Beobachter an den Arbeiten der
Agentur der Europäischen Union für Grundrechte und die entsprechenden Modalitäten
einschließlich Bestimmungen über die Mitwirkung an den von der Agentur eingeleiteten Initiativen, über finanzielle Beiträge und Personal
- Drucksache 17/5710 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({29})
- Drucksache 17/5954 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth ({30})
Oliver Luksic
Thomas Nord
Manuel Sarrazin
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/5954, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5710 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Enthaltungen der Fraktion
Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({31})
zu dem Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen Öffentliche Konsultation:
Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz
SEK({32}) 173 endg.
- Drucksachen 17/4927 Nr. A.12, 17/5956 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({33})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvC 3/11
- Drucksache 17/5952 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({34})
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor Dr. Bernd Grzeszick
als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt
dafür? - Das sind alle. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Auch nicht. Die Beschlussempfehlung
ist somit einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 262 zu Petitionen
- Drucksache 17/5780 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Kolleginnen und
Kollegen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 262 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 263 zu Petitionen
- Drucksache 17/5781 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Das ist die Linksfraktion. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 263 ist somit
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 264 zu Petitionen
- Drucksache 17/5782 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Somit ist die Sammelübersicht 264 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 265 zu Petitionen
- Drucksache 17/5783 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen,
Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? - Die Fraktion Die Linke. Stimmenthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
265 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 266 zu Petitionen
- Drucksache 17/5784 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Somit ist die Sammelübersicht
266 angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 267 zu Petitionen
- Drucksache 17/5785 Wer stimmt dafür? - Die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? Die Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 267 ist somit angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 268 zu Petitionen
- Drucksache 17/5786 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen
von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen sowie die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Somit
ist die Sammelübersicht 268 angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und
die Folgen für Versicherte
Die erste Rednerin dieser Aktuellen Stunde kommt
aus der Fraktion Die Linke und ist unsere Kollegin Frau
Diana Golze. Ich gebe ihr das Wort. Bitte schön, Frau
Kollegin Diana Golze.
({42})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Tatort Berlin-Weißensee, 12. Mai
2011, Charlottenburger Straße, 10 Uhr: Frau K., 76 Jahre
alt, und ihr Mann, 78 Jahre, stehen in einer Schlange von
etwa 120 Menschen. Sie tun dies nicht, um Konzertkarten für eine Schlagerrevue zu ergattern oder um mit
Nachbarn zu plaudern. Nein, sie stehen hier vor der Geschäftsstelle der AOK, weil die Krankenkasse, bei der
sie seit Jahren versichert waren und für die sie sogar seit
einigen Monaten einen Zusatzbeitrag gezahlt haben, Insolvenz angemeldet hat. Aus, Ende. Zwar hat man Familie K. gesagt, sie habe nun das Recht, sich eine neue
Krankenkasse zu suchen, und diese habe die Pflicht, sie
aufzunehmen. Doch das, was das Ehepaar K. in den letzten Tagen erlebt hat, war ein Skandal.
({0})
Bei anderen Kassen sind sie abgewimmelt worden mit
Aussagen wie „Dann gibt es aber keine Zusatzleistungen
mehr“ oder einfach nur „Wir sind voll“. Familie K. ist
deshalb verunsichert und in großer Sorge. Wird die geplante Hüft-OP für Frau K. noch stattfinden? Wird Herr
K. seine teuren Medikamente weiter verschrieben bekommen?
Die FDP sagt nun - ich zitiere -:
Die demografische Entwicklung … hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und kann nur im
Miteinander von Jung und Alt gelöst werden.
Dies ist die Definition der FDP von Generationengerechtigkeit, die ganz offenkundig dann nicht gelten soll,
wenn es um die Gesundheitsversorgung von alten oder
chronisch kranken Menschen geht. Sicher, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben 2007
gegen die Gesundheitsreform der schwarz-roten Regierung gestimmt. Aber das haben Sie wohl nicht getan,
weil Sie die Sorge um die Finanzstärke der gesetzlichen
Krankenkassen umtrieb oder Ihnen die Aufkündigung
der paritätischen Finanzierung durch die Arbeitgeber
den Schlaf geraubt hat. Nein, vielmehr hieß es in einer
Mitteilung des heutigen Gesundheitsministers bereits
2007 - ich zitiere -:
Die FDP bemängelt, dass die Reform an der Umlagefinanzierung des Gesundheitssystems festhält.
Aber genau in der schleichenden Aushebelung der paritätischen Finanzierung liegt eines der Probleme, das den
gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen macht und nun
die erste in die Insolvenz getrieben hat.
Zur Erinnerung: Die Aushöhlung der paritätischen Finanzierung hat schon 2003 begonnen. Bereits damals
wurde die Arbeitgeberseite in großem Stil entlastet. Für
die Verschiebung der Last auf die Schultern oder, besser
gesagt, die Geldbörsen der Versicherten durch die Praxisgebühr, Zuzahlungserhöhungen und Leistungskürzungen ist - auch wenn Sie es jetzt nicht mehr hören
wollen - Rot-Grün verantwortlich. Schwarz-Rot hat
über die Zusatzbeiträge genau diese Politik fortgesetzt.
Das zeigt: Es ging nicht um die heilige Kuh Beitragssatzstabilität, sondern von vornherein darum, den Beitrag der Arbeitgeber zu senken. Die Linke sagt: Das ist
ungerecht und unsolidarisch und gehört geändert.
({1})
Das erklärte Ziel der vorangegangenen Bundesregierungen war eine Beschleunigung des Wettbewerbs der
Krankenkassen. Es ging aber nicht etwa um einen Wettbewerb um bessere Leistungen oder mehr Vorsorgeprogramme; es ging um einen Wettbewerb um junge, gesunde und zahlungskräftige Versicherte.
Der Zusammenbruch der City BKK zeigt, dass die
Gesundheitsreformen vor allem zu einem geführt haben:
Versicherte werden zu Verunsicherten. Denn trotz gesetzlichem Anspruch auf Aufnahme in eine Krankenkasse ihrer Wahl gab es für viele Versicherte der City
BKK erst einmal nur Chaos. Das ist für die Betroffenen
entwürdigend, aber es war vorhersehbar. Denn alle
Krankenkassen mit hohem Bestand an alten und chronisch kranken Menschen sind gezwungen, auf Teufel
komm raus zu sparen, selbst bei gesetzlich garantierten
Ansprüchen, zum Beispiel Eltern-Kind-Kuren. Durch
eine solche Politik werden Versicherte, die jahrelang ihren Beitrag plus Zusatzbeiträge zahlen, zu Bittstellern
gemacht. Das ist ein Skandal.
({2})
Wir brauchen in der Krankenversicherung nicht mehr
Wettbewerb nach dem Motto „Wer es länger schafft, Zusatzbeiträge zu verhindern, hat gewonnen“, sondern
mehr Solidarität.
({3})
Wir brauchen die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung. Wer von einem Solidarsystem spricht, muss
die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite gleichermaßen zur Finanzierung heranziehen. Es ist doch klar im
Interesse der Arbeitgeber, gesunde und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben.
Abschließend gestatten Sie mir noch eine persönliche
Bemerkung. Ich gehöre im Deutschen Bundestag zur
Gruppe derer, die freiwillig gesetzlich versichert sind
und damit die Sozialkassen stärken. Die Einbeziehung
der Selbstständigen, Beamten und auch Abgeordneten
des Deutschen Bundestages ist deshalb für mich ein
Baustein für eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Dafür steht die Linke ohne Wenn und
Aber!
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Diana Golze. - Jetzt hat
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Johannes
Singhammer das Wort. Bitte schön, Kollege Johannes
Singhammer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir lassen die Versicherten der City Betriebskrankenkasse nicht allein. Die christlich-liberale Koalition
verhilft den 170 000 Versicherten der City BKK zu ihrem guten Recht. Vorstände von gesetzlichen Krankenkassen, welche Versicherte der City BKK abwimmeln
oder unanständig behandeln, werden nicht ungeschoren
davonkommen.
({0})
Die Rechtslage ist klar wie selten, und wir brauchen
keinerlei Nachhilfe der Linken, was zu tun ist. Die Verantwortlichen werden die Konsequenzen zu ziehen haben. Was gesetzlich notwendig ist, werden wir tun, und
zwar schnell, klar und konsequent. „Schnell, klar und
konsequent“ heißt, dass noch im Zusammenhang mit
dem geplanten Versorgungsgesetz die notwendigen weiteren gesetzlichen Maßnahmen beschlossen werden.
Denjenigen Vorstandsmitgliedern einer gesetzlichen
Krankenkasse, die meinen, es sei besonders clever,
plötzlich die Geschäftsstelle ihrer Krankenkasse zu renovieren, wodurch der Publikumsverkehr verhindert wird,
oder die meinen, es sei besonders klug, Rentner oder
gehbehinderte Versicherte, die von der City BKK in eine
neue Krankenkasse ihrer Wahl wechseln wollen, von einem Teil Berlins in einen ganz anderen Stadtteil, der nur
schwer zu erreichen ist, zu schicken, werden wir klarmachen, dass diese Art des Verhaltens nicht belohnt wird,
sondern dass sie Konsequenzen haben wird.
({1})
Nicht die Mitarbeiter einer solchen gesetzlichen Krankenkasse, sondern die Vorstände werden wir in Haftung
nehmen. Wir werden nicht zulassen, dass bestehende
Gesetze vor aller Augen in der Öffentlichkeit nicht beachtet, umgangen oder gar gebrochen werden.
({2})
Die Gesetze sind eindeutig wie selten in einer solchen
Situation:
Erstens. Jeder Versicherte der GKV hat die freie
Wahl, bei welcher Krankenkasse er sich versichern will,
wenn seine Krankenkasse - aktuell ist es die City BKK pleitegeht.
Zweitens. Jeder Versicherte der GKV muss von der
Krankenkasse aufgenommen werden, bei der er sich bewirbt.
Drittens. Kein Versicherter der GKV ist ohne Versicherungsschutz, wenn seine Kasse insolvent wird.
Viertens. Wenn ein Versicherter sein Wahlrecht nicht
ausübt oder keine Kasse findet, die ihn aufnimmt, so fällt
er nicht in ein Versicherungsloch, sondern er wird durch
den Arbeitgeber, die Rentenversicherung oder die Arbeitsagentur einer Kasse zugewiesen.
Dabei muss man darauf achten, dass die Kassen, die
sich diesen Versicherten gegenüber jetzt vorbildlich verhalten, entsprechend bewertet werden und dass die Kassen, die sich in den letzten Tagen alles andere als vorbildlich verhalten haben, da sie wenige Versicherte oder
gar keine Versicherten aufgenommen haben, bei den Zuweisungen entsprechend behandelt werden.
Die gesetzliche Krankenversicherung lebt von der Solidarität aller Beteiligten, von der Solidarität der Gesunden mit den Kranken, der Besserverdienenden mit den
weniger gut Verdienenden, von der Solidarität der Krankenkassen mit günstiger Versichertenstruktur mit den
Krankenkassen mit etwas ungünstigerer Versichertenstruktur. Damit die Solidarität nicht zum Nachteil für
einzelne Kassen wird, haben wir im Gesetz Ausgleichsund Sicherungssysteme vorgesehen, zum Beispiel den
Risikostrukturausgleich und die Haftungsverbünde der
Krankenkassen.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer als Vorstand
einer gesetzlichen Krankenkasse das Solidaritätsgebot in
schlimmer und unangenehmer Weise verletzt, muss
künftig im schlimmsten Fall damit rechnen, dass er abgesetzt wird. Ich danke der Bundesregierung und insbesondere dem neuen Minister, dass sie hier so schnell und
so konsequent handeln.
({3})
Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. - Nun
für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Karl Lauterbach. Bitte schön, Kollege Dr. Karl
Lauterbach.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Wettbewerb, den wir derzeit bei den gesetzlichen Krankenkassen beobachten, dreht sich nur noch um
drei Punkte: die Vermeidung eines Zusatzbeitrags, die
Vermeidung eines Zusatzbeitrags und die Vermeidung
eines Zusatzbeitrags.
({0})
Alles andere spielt keine Rolle mehr.
({1})
- Ich komme gleich dazu, Herr Spahn. - Eine Krankenkasse, die gute Qualität aufweist und einen Zusatzbeitrag
nehmen muss, verliert Mitglieder. Eine Kasse, die umfangreiche Kosten für Vorbeugemedizin trägt, verliert
Mitglieder. Eine Kasse, die einen guten Service bietet,
verliert Mitglieder. Diejenigen, die gehen, sind die jungen und die gesunden Mitglieder. Es sind diejenigen, die
einkommensstark sind. Es sind diejenigen, die keine
Bindung zur Kasse haben - außer der, dass sie Beitragszahler sind. Es gehen also die, die die Kasse braucht, um
die anderen - diejenigen, die alt und krank sind - mitzubezahlen. Das ist, wenn man so will, ein kranker Wettbewerb.
Jetzt ist das System selbst krank. Das System läuft darauf hinaus, dass jede Krankenkasse versuchen muss,
den Zusatzbeitrag zu vermeiden, egal was es kostet. Da
kann man nicht überrascht sein, wenn die Kassen versuchen, die Mitgliedschaft derjenigen abzuwenden, die
Träger schlechter Risiken sind.
Von der FDP wird das derzeit kritisiert. Aber man
muss in Erinnerung rufen: Die FDP hatte in ihrem Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl noch den Vorschlag, die gesamte gesetzliche Krankenversicherung zu
privatisieren. Das wäre dann das System für alle gewesen. Was wir erleben, ist also im Prinzip nur ein Teil dessen, was die FDP und auch Herr Bahr damals in Reinkultur wollten. Im Ernst: Was wir derzeit sehen, ist doch
nichts anderes, als dass die FDP mit Krokodilstränen vor
den Folgen ihrer eigenen Reform warnt.
({2})
Herr Bahr hat selbst Gesundheitsökonomie studiert,
ein Stück weit.
({3})
- Es geht hier nicht um Noten. Ich versuche, etwas zu erklären. Vielleicht ist das gerade auch für Sie interessant,
Herr Spahn. - Dann müssen Sie doch Folgendes wissen,
Herr Bahr: Die Krankenkassen unterscheiden sich im
Angebot so gut wie nicht. Sie werden sich demnächst
noch weniger unterscheiden, weil sie die paar Leistungen, mit denen sie sich noch unterscheiden, abstoßen
müssen, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Das ist
doch kein Wettbewerb.
Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Einheitsangebot,
alle Kassen böten immer das Gleiche an, aber die Mitglieder der Kassen wechselten im monatlichen Rhythmus. Das wären hektische Wechselbewegungen, ein
ständiges Wechseln. Dann hätten wir nur Bürokratie;
aber die Versorgung liefe im Prinzip auf die Einheitskasse hinaus. Somit schafft die FDP hier einen Wettbewerb, der die Einheitskasse durch die Hintertür einführt.
Mehr ist dabei nicht herausgekommen.
Im Wesentlichen ist es so: Die Reform ist eine morbide Reform. Ich bin übrigens nicht dagegen, dass wir
weniger Kassen haben werden. Herr Rösler sagte, es
sollten Kassen in die Insolvenz gehen. Damit habe ich
kein Problem. Ein Problem tritt aber auf, wenn diejenigen Kassen in die Insolvenz gehen, die alte und kranke
Mitglieder haben oder deren Versicherte in der falschen
Stadt wohnen, beispielsweise in München, Hamburg
oder Berlin. Was ist das für ein Wettbewerb? Bei dieser
Art von Wettbewerb geht es nur darum, wo eine Kasse
zufällig ihren Sitz hat und welche Mitglieder sie hat. Es
geht überhaupt nicht mehr um die Qualität.
Es wird darauf hinauslaufen, dass wir ein verheerendes Signal an ältere und kranke Menschen geben: dass
sie selbst in der gesetzlichen Krankenkasse nicht mehr
willkommen sind. Ein solches Signal müssen wir mit allen Kräften vermeiden.
({4})
Das ist das Signal, das in der privaten Krankenversicherung übrigens zu jeder Zeit gegeben wird.
({5})
Die private Krankenversicherung könnten Sie jederzeit abschaffen, was Sie aber nicht wünschen. Das System der privaten Krankenversicherung ist ja das Idealbild der FDP: Privatversicherung für alle. In der privaten
Krankenversicherung können sich behinderte und ältere
Menschen gar nicht versichern. Jetzt haben Sie die gesetzlichen Krankenkassen dementsprechend ein wenig
umgestaltet. Wir werden Leistungskürzungen erleben.
Wir werden sehen, dass im Jahr 2012/13 die Krankenkassenzusatzbeiträge - das sind die einzigen Beiträge,
auf die es ankommt - zwischen 0 und 30 Euro liegen
werden. Die Zeit der Fusionen der Krankenkassen ist
vorbei. Dann wird es massenhaft Krankenkassenpleiten
geben.
Herr Bahr, meine Empfehlung an Sie - Sie werden
auf absehbare Zeit wahrscheinlich einer der letzten Bundesminister der FDP sein -: Bleiben Sie nicht mit einer
Reform in Erinnerung, die das Vertrauen in die gesetzliche Krankenkasse komplett ausgehöhlt hat. Der Wiedereinstieg der FDP in Bundeskabinette darf nicht durch ein
solches Signal belastet sein.
({6})
Sie arbeiten jetzt an der Nebenwirkung der Reform von
Herrn Rösler. Aber gehen Sie weiter und bekämpfen Sie
die Ursache dieses falschen Wettbewerbs: Nehmen Sie
die Zusatzbeiträge zurück, dehnen Sie den Risikostrukturausgleich weiter aus, damit auch alte und kranke
Menschen wieder eine Chance haben, sich zu versichern,
und damit sich der Wettbewerb wieder um Vorbeugung
und Qualität dreht, nicht aber um Risikoselektion und
um das Einkommen der Versicherten.
({7})
Vielen Dank, Kollege Dr. Karl Lauterbach. - Jetzt
spricht für die Fraktion der FDP unser Kollege Heinz
Lanfermann.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich versuche, zum
Thema zurückzukommen. An Ihrer Stelle, Herr Kollege
Lauterbach, würde ich mir mehr Gedanken darüber machen, wie Ihre Reden im Bewusstsein der Menschen
hängen bleiben.
({0})
Der Minister hat in der kurzen Zeit, die er im Amte ist,
schon einen sehr guten Eindruck gemacht.
Die Linksfraktion hat hier eine Aktuelle Stunde beantragt, die nicht wirklich aktuell ist, sondern sich auf das
Fehlverhalten einiger Kassen in den vergangenen Wochen bezieht, das nach dem energischen Eingreifen des
neuen Ministers Daniel Bahr bereits in der letzten Woche - das war eine seiner ersten Amtshandlungen - abgestellt wurde.
({1})
Im Ergebnis wirken Sie wie jemand, der auf dem Bahnhof steht und hinter dem Zug herschaut.
({2})
Aber Sie wollten ja auch gar nicht über diesen Fall
sprechen, sondern Sie wollten uns eigentlich einige abstruse Vorstellungen über Ihre Ideen zur Gesundheitspolitik nahebringen.
({3})
Der Titel dieser Aktuellen Stunde „Pleiten von gesetzlichen Krankenkassen und die Folgen für Versicherte“
suggeriert, dass eine Reihe von Kassen betroffen sei. Natürlich gibt es nur eine.
({4})
Im Augenblick haben wir es nur mit der City BKK zu
tun. Was die Folgen für die Versicherten angeht, die Sie
auch noch angesprochen haben, haben wir hier den Eindruck gewinnen müssen, dort passierten fürchterliche
Dinge. Natürlich ist das nicht der Fall; das Gesetz hat da
vorgesorgt. Allen Menschen wird geholfen, selbst wenn
sie sich nicht rechtzeitig eine neue Kasse suchen. Insofern bestehen da überhaupt keine Probleme.
Alle in diesem Hause waren sich einig, dass das, was
einige Kassen gemacht haben, nämlich Menschen abzuwimmeln und sie nicht richtig oder nicht vollständig zu
beraten, völlig falsch war und neben der Sache lag. Insofern brauchen wir uns über diesen Fall gar nicht zu streiten. Vielmehr soll ganz anderes nach vorn gebracht werden.
Zu der eindeutigen Rechtslage hat der Kollege
Singhammer hier bereits alles vorgetragen. Selbstverständlich ist das Wichtigste das Wahlrecht der Versicherten. Es darf über die Köpfe der Versicherten hinweg
keine Maßnahmen geben, auch keine gemeinsamen
Maßnahmen von Kassen. Ebenso darf es keine Zuweisungen statt des Wahlrechts geben. Erst dann, wenn jemand die Fristen selber nicht nutzt, wird er zugewiesen,
damit er nicht ohne Versicherungsschutz bleibt.
In Wirklichkeit ging es um etwas anderes. Das Wort
„Einheitskasse“ ist gefallen. In der Tat gibt es Menschen,
die die Einheitskasse anstreben; aber das tut gewiss nicht
diese Koalition.
({5})
- Ja, Sie haben daran andere Erinnerungen, Frau Golze,
vielleicht solche an frühere Zeiten. Sie haben einmal auf
einer Wahlkampfveranstaltung auf die Frage, woran Sie
denken, wenn von der DDR die Rede ist, geantwortet:
Eigentlich denke ich nur an eine glückliche Kindheit.
({6})
Diese unpolitische Linie haben Sie sich bis auf den heutigen Tag aufrechterhalten, wie ich an Ihrer Rede hier
gehört habe.
({7})
Meine Damen und Herren, wir haben mit unserer
Krankenversicherung wirklich etwas Großartiges geschaffen. Natürlich, Herr Kollege Lauterbach, können
Sie hier erzählen, was Sie wollen; da schützt Sie ja das
Grundgesetz.
({8})
Aber Sie sollten nichts Falsches behaupten. Wenn Sie
die Wahlprogramme der FDP schon nicht lesen, dann
sollten Sie sie auch nicht falsch zitieren. Selbstverständlich haben wir niemals die Abschaffung der gesetzlichen
Krankenversicherung gefordert. Wir meinen allerdings,
dass es in einem freiheitlichen System sehr wohl einen
Wettbewerb geben kann, etwa einen Wettbewerb um den
Preis, weil die Signalwirkung des Preises - was bekomme ich für das, was ich zahle? - immer ein wichtiges Element ist, und ebenfalls einen Wettbewerb um die
Leistungen. Auch dazu gibt es im Übrigen gesetzliche
Bestimmungen. Wir werden sie sogar noch verbessern;
darüber beraten wir in diesen Tagen in der Koalition.
Ebenso gibt es einen Wettbewerb um Qualität, um Service usw.
({9})
Ich will Sie nur daran erinnern, dass es gewiss nicht
die FDP war, die die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Wir
haben nicht einmal den Gesundheitsfonds eingeführt.
Aber wir gehen als gute Demokraten von dem aus, was
uns überlassen worden ist, auch wenn es im Wesentlichen unter der Ägide Ihrer früheren Gesundheitsministerin - sie hieß Ulla Schmidt - geschehen ist.
Wir bauen das, was wir vorfinden, entweder weiter
aus, wenn es gut ist, oder wir bauen es um, wenn es verbesserungswürdig ist, und zur Not schaffen wir etwas
auch wieder ab.
({10})
- Das entscheiden wir von Fall zu Fall. Wir tun dies unter dem Gesichtspunkt: Der Bürger und seine Möglichkeiten, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwählen, stehen im Mittelpunkt.
Auch die Krankenkassen sind frei darin, unterschiedliche Angebote zu machen. Nicht alle Leistungen sind
gleich. Der Zusatzbeitrag ist nicht das einzige Argument.
Viele Bürger haben ihre Kasse verlassen, nachdem sie
einen Zusatzbeitrag erhoben haben. Aber noch viel mehr
Bürger sind bei ihrer Kasse geblieben. Nun tun Sie doch
nicht so, als hätten diese Bürger nicht bemerkt, dass sie
einen Zusatzbeitrag zahlen. Dafür gibt es Argumente;
mit denen geworben wird, und das dürfen die Kassen
schließlich auch.
Lassen Sie das Ganze da, wo es hingehört: in der Eigenverantwortung, in der Entscheidungsfreiheit, in der
Wahlfreiheit der Bürger, und versuchen Sie nicht dauernd, dieses ohnehin schon bürokratische und überregulierte System irgendwie noch mehr zu bürokratisieren.
Versuchen Sie nicht, noch mehr über die Köpfe der Menschen hinweg zu bestimmen. In diesem Sinne wollen wir
jedenfalls nicht arbeiten. Wir werden die Verantwortung
der Bürger auf diesem Gebiet stärken.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank, Kollege Heinz Lanfermann. - Jetzt
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Fritz Kuhn. Bitte schön, Kollege Fritz Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass eine Bundesregierung die Rechtslage umsetzt, indem sie den Versicherten der City BKK die Möglichkeit
gibt, sich woanders zu versichern, ist ja wohl das Mindeste. Darüber braucht man sich eigentlich nicht lange
zu unterhalten.
({0})
Wir erwarten von der Regierung, dass sie dies umsetzt.
Wenn sich die Kassen sperren, ist es an der Exekutive,
dem entgegenzuwirken.
Ich war ein bisschen erstaunt, Herr Singhammer, mit
welcher Freude, mit welchem Eifer und mit welcher
Drastik Sie hier etwas betont haben, was selbstverständlich ist. Dahinter steckt wohl, dass Sie gern über die Folgen, aber nicht so gern über die Ursachen reden. Wir
müssen jetzt aber auch über die Ursachen reden. Ist denn
die City BKK pleitegegangen, weil sie so schlecht wirtschaftete?
({1})
Oder ist sie nicht in erster Linie deswegen pleitegegangen, weil in den Städten Hamburg und Berlin, in denen
sie hauptsächlich tätig war,
({2})
die Struktur von medizinischer Überversorgung und einem besonderen Altersaufbau geprägt ist? War nicht der
Grund dafür, dass sie mit Kassen, die auch in anderen
Regionen des Landes tätig sind, nicht mehr konkurrenzfähig war und zwangsläufig verlieren musste, der, dass
der Wettbewerb hauptsächlich über den Zusatzbeitrag
geht? Diese Frage müssen wir klären.
Ich bin der Meinung, dass dieses System mit dem Gesundheitsfonds, das ursprünglich nur die Möglichkeit
zur Erhebung eines begrenzten Zusatzbeitrags vorsah
und dann durch die Entgrenzung des Zusatzbeitrags unter Schwarz-Gelb und das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge völlig verschärft wurde, eine solche Tendenz
verschärft und auch dazu führen wird, dass noch mehr
Kassen pleitegehen werden mit den entsprechenden Folgen, über die wir hier heute diskutieren.
Im Vordergrund steht nicht ein Leistungswettbewerb,
sondern ein Preiswettbewerb. Dieser Preiswettbewerb,
den es seit Mitte der 90er-Jahre unter den Kassen über
die Prozentsätze, die in voller Parität von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern zu tragen waren, gab, war ein anderer Preiswettbewerb als der, der sich nun in den EuroBeträgen der Zusatzbeiträge manifestiert. Diese Form
des Wettbewerbs führt natürlich schneller zum Verlassen
der Kassen.
({3})
Darauf waren Sie noch stolz. Aber es findet eben kein
Wettbewerb um die tatsächliche Leistung der Krankenversicherungen statt. Da wäre Wettbewerb angebracht;
diesen Wettbewerb wollen wir. Derzeit ist es vielmehr
ein Wettbewerb, der allein über den Euro-Betrag des Zusatzbeitrags läuft.
({4})
Deswegen hat Karl Lauterbach recht. Es geht bei diesem
Wettbewerb kaum noch darum, wer den besten medizinischen Service bietet, sondern hauptsächlich um die
Frage, ob ein Zusatzbeitrag erhoben wird und, wenn ja,
wie hoch dieser ist.
({5})
Herr Lanfermann, Sie kommen um eines nicht herum:
Die Veränderungen, die Schwarz-Gelb vorgenommen
hat, ausgehend vom Gesundheitsfonds der Großen Koalition, führen dazu, dass wir keinen solidarischen Wettbewerb in einer sozialen Marktwirtschaft haben,
({6})
sondern einen sehr einseitigen Wettbewerb um Preise,
aber leider nicht in dem Sinne, dass die Preise wohlfahrtsorientierte, gesundheitspolitisch vernünftige Wahrheiten abbilden. Deswegen handelt es sich an der Stelle
auch nicht um vernünftige Marktwirtschaft.
({7})
Aus dieser Geschichte kommen Sie nicht heraus. Sie
müssen über die entscheidenden Punkte reden. Wir halten es für falsch, dass Sie aus dem Zusatzbeitrag eine
kleine Kopfpauschale gemacht haben. Sie müssen uns
auch einmal beantworten, was eigentlich passiert, wenn
die Zusatzbeiträge noch weiter steigen werden. Es sagen
viele Gutachten, dass der nicht auf dem jetzigen Niveau
gehalten werden kann,
({8})
und zwar vor allem deswegen nicht, weil die Kostensteigerungen in Zukunft allein von den Versicherten über die
Zusatzbeiträge aufgefangen werden müssen.
({9})
Es ist jedenfalls so, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag eingefroren haben. Darüber können Sie nicht hinwegtäuschen.
({10})
- Haben Sie ihn eingefroren, oder haben Sie ihn nicht
eingefroren?
({11})
Wie kommt es denn, dass der Kollege Max
Straubinger von der CSU, wenn ich richtig informiert
bin, vorschlägt - das habe ich gelesen -, den Gesundheitsfonds wieder abzuschaffen? Darüber müssen Sie
doch in der CDU/CSU einmal ernsthaft diskutieren.
({12})
- Wenn Sie laut werden, dann bin ich beim richtigen
Punkt. Da bin ich mir absolut sicher.
Wir stellen fest, dass die systematischen Fehler, die
Sie mit der Privatisierung und der Entsolidarisierung der
gesetzlichen Krankenversicherung gemacht haben, jetzt
zur ersten Pleite geführt haben. Ich sage Ihnen voraus:
Es wird weitere geben, weil das System insgesamt falsch
ist.
Sie müssten neben einer Reaktion auf die Unterversorgung im ländlichen Raum - darauf geben Sie im Versorgungsgesetz jetzt hoffentlich eine Antwort - auch
einmal eine Antwort auf die Überversorgung in den städtischen Ballungsgebieten geben.
({13})
Wenn es im Land Berlin und in der Stadt München mehr
Röntgenpraxen als in Italien gibt, dann ist Voraussetzung
für einen vernünftigen Wettbewerb, dass zunächst einmal diese Überversorgung abgebaut wird. Wir sind darauf gespannt, welche Antworten Sie geben. Ich nehme
an, dass Herr Bahr dazu nachher noch etwas sagen wird.
Fazit: Reden Sie nicht nur über die Folgen und darüber, was jetzt mit den Versicherten der pleitegegangenen Krankenversicherung geschieht! Reden Sie auch
über die Ursachen und darüber, wie Sie so etwas in Zukunft verhindern wollen!
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin schon etwas verwundert darüber, dass die Debatte
schon einige Zeit läuft, ohne dass insbesondere von den
Rednern der Opposition der eigentliche Skandal, der eigentliche Anlass dieser Debatte erwähnt wird.
({0})
Hier wird rechtswidrig, böswillig und - ich behaupte sogar - gefährlich für das Ganze gehandelt. Ich komme
gleich noch darauf zurück.
Es ist erstens rechtswidrig, weil die Rechtslage eindeutig ist. Jeder Versicherte hat unabhängig von Alter,
Einkommen und anderen Merkmalen das Recht auf freie
Kassenwahl. Für Leistungserbringer wie Ärzte und
Krankenhäuser ist die Sache auch geklärt: Wenn eine
Krankenkasse in Insolvenz geht, haften die anderen Kassen für die offenstehenden Kosten. Die Rechtslage ist
also eindeutig.
Es ist zweitens böswillig, weil es Krankenkassen gibt,
die in Kenntnis dieser Rechtslage Menschen einmal quer
durch die Stadt jagen. Die AOK Berlin beispielsweise
suggerierte den betroffenen Menschen, sie müssten quer
durch die Stadt zu einer bestimmten Geschäftsstelle in
Weißensee, die nur zu bestimmten Zeiten geöffnet hat,
fahren, um sich bei dieser Krankenkasse anmelden zu
können. Das ist unwürdig. Es ist eine Schande, wie die
AOK Berlin hier gehandelt hat. Und Sie haben dazu in
dieser Debatte kein einziges Wort gesagt.
({1})
Es ist drittens gefährlich, weil die Krankenkassen, die
so gehandelt haben - auf diesen Punkt haben Sie nur mit
einem Satz hingewiesen -, einen immensen Imageschaden für das solidarische System der gesetzlichen Krankenversicherung verursacht haben. Wir kennen die Bilder von verunsicherten Menschen - es handelte sich vor
allen Dingen um Rentner und kranke Menschen -, die in
einer Schlange stehen und nicht wissen, was mit ihnen
geschehen soll. Eine Kasse, die sich in Sonntagsreden
immer „Patient der Anwälte“ nennt
({2})
und es zulässt, dass es zu solchen Bildern kommt, handelt fahrlässig und stellt eine Gefahr für die Akzeptanz
unseres Solidarsystems dar. Manche Kasse wird sich
noch über die Folgen ihres Handelns wundern.
({3})
Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt. Sie kochen hier
Ihr Süppchen und versuchen, aus dieser Angelegenheit
politisches Kapital zu schlagen. Es ist ein Skandal, dass
Sie davon ablenken, dass hier rechtswidrig, böswillig
und gegen das Interesse des Ganzen auf gefährliche
Weise gehandelt worden ist. Dazu hätten Sie ein paar
Sätze sagen müssen.
({4})
Wir werden insofern reagieren, als wir gesetzlich klar
regeln werden, wie diejenigen, die Mitglied in einer
Kasse waren, die geschlossen wurde, besser informiert
werden können. Idealerweise muss es ein Formular geben, in dem man ankreuzen kann, in welche Krankenkasse man eintreten will. Solche Informationen, wie man
eine Kasse wechseln kann, sind wohl ohne eine gesetzliche Regelung nicht zu bekommen. Zum Zweiten braucht
es offensichtlich auch Sanktionen. Der Fisch stinkt am
meisten vom Kopf her.
({5})
Nicht die Geschäftsstellenmitarbeiter in Weißensee treffen die Entscheidungen, sondern sie werden weiter oben
getroffen. Deswegen werden wir entsprechende Sanktionen gegen Vorstände einführen. Sie reichen von Zwangsgeldern bis hin zur Absetzung.
Herr Kollege Kuhn, ich will noch einige grundsätzliche Bemerkungen machen. Die City BKK ist nicht wegen des Gesundheitsfonds oder wegen der Zusatzbeiträge in Schwierigkeiten gekommen. Sie hat seit Jahren,
wenn nicht seit Jahrzehnten, Probleme. Aus dem öffentlichen Dienst kommend und mit einer entsprechenden
Versichertenstruktur ausgestattet, war sie vor allem in
Hamburg und Berlin tätig.
({6})
Wir können einmal die Frage stellen, wie sehr sich die
Gesundheitssenatorin in Berlin darum bemüht hat, die
angespannte Kostensituation aufgrund der vielen Krankenhausbetten in Berlin zu entschärfen.
({7})
Sie trauen sich nicht, entsprechende Entscheidungen zu
treffen. Deswegen ist die ärztliche Versorgung in Berlin
besonders teuer. Anschließend beschweren Sie sich aber
darüber, dass die Berliner Krankenkassen Probleme haben. Das zeugt von Doppelmoral.
({8})
Dann die Frage des Wettbewerbs. Wir haben uns in
den 90er-Jahren - damals war ich noch nicht dabei, aber
viele der anwesenden Kolleginnen und Kollegen - in
großer Einigkeit für den Wettbewerb entschieden. Es
wurde die freie Kassenwahl eingeführt, die ein hohes
Gut ist. Zum Wettbewerb gehört - dieses Konzept haben
wir in der Großen Koalition weiterentwickelt -, dass
Kassen, die aufgrund ihrer Kostenstruktur, ihrer Verwaltungskosten und falscher Angebote im Markt keinen Erfolg haben, vom Markt verschwinden können. Es gibt im
Moment über 150 Kassen. Da kann es also einmal sein,
dass eine Kasse geschlossen werden muss, wenn sie keinen Fusionspartner findet.
Wenn das zum Wettbewerb gehört, muss klar geregelt
sein, was im Fall einer Insolvenz passieren muss. Das
haben wir gemeinsam festgestellt. Man kann aber nicht
sagen, dass es bei dem Wettbewerb nur um Kosten, um
Geld und um die Höhe des Zusatzbeitrages geht. Der Zusatzbeitrag ist natürlich ein wesentlich konkreteres Signal als das, was wir vorher hatten. Preisunterschiede
zwischen den Krankenkassen gab es schon vorher. Sie
betrugen zum Teil zwischen 60 und 70 Euro im Monat.
Weil der Beitrag aber vom Lohn abgezogen wurde und
dann auch noch ein Dreisatz nötig war, um den Unterschied zu einer anderen Kasse nachvollziehen zu können, war kein Bewusstsein dafür vorhanden. Wer aber
8 Euro selber zahlen muss, merkt das sofort. So können
sich die Kassen heute differenzieren. Sie können sich
aber nicht nur bei den Kosten differenzieren: Man kann
mit dem Zusatzbeitrag ein besonderes Angebot finanzieren, zum Beispiel besonders gute Versorgungsstrukturen,
die man über Verträge mit Ärzten, Krankenhäusern und
Apotheken erreicht. Es geht um ein besonders gutes Angebot für die Versicherten,
({9})
sodass Krankenkassen sagen können: „Bei uns kostet es
zwar 10 Euro mehr als bei den anderen, aber dafür bieten
wir dir etwas Besonderes.“
({10})
Das ist die Idee des Wettbewerbs: Es geht darum, bei der
Qualität zu konkurrieren.
Abschließend sage ich es noch einmal: Es ist ein
Skandal, was öffentlich-rechtliche Körperschaften bei
eindeutiger Rechtslage auf dem Rücken der Patienten
machen. Zweitens ist es zumindest ein kleiner Skandal,
dass die Oppositionsredner hier nicht einen einzigen
Satz darauf verschwenden, was da eigentlich passiert ist,
sondern nur versuchen, ihr Süppchen zu kochen, die
Menschen zu verunsichern und vom eigentlichen Skandal abzulenken. Das ist das eigentliche Problem dieser
Debatte. Vielleicht wird der eine oder andere Kollege
darauf noch zu sprechen kommen; denn das ist das eigentliche Thema.
({11})
Das Wort hat nun Kollegin Mechthild Rawert für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Zuschauende und Zuhörende!
Herr Spahn, der eigentliche Skandal liegt darin, dass Sie
in den Medien haben verlautbaren lassen, es sei ein
Skandal, dass sich die Politik überhaupt um diesen Zustand kümmern müsse.
({0})
Das ist ein eindeutiges Zeichen dafür, wie Sie das Wesen
von Politik begreifen. Für uns ist dieser Umgang mit Tausenden Versicherten - ich will nicht vom „Tatort Weißensee“ sprechen, weil ich die Sendung Tatort durchaus liebe selbstverständlich ein empörender Skandal. Es ist auch
ein Skandal, dass Sie das Wesen von Politik so diskreditieren. Sie sollten in den Spiegel schauen, bevor Sie in
dieser Sache weitere Bemerkungen vornehmen.
({1})
Zum nächsten Punkt. Hier geht es um eine Fachfrage.
Vielleicht haben Sie sich versprochen. Was auch immer!
Wen meinten Sie eigentlich in Ihren Ausführungen mit
den „Patienten der Anwälte“?
({2})
Ich denke, dass Ihre Freud’sche Fehlleistung wirklich
deutlich gemacht hat, dass auf jeden Fall nicht Sie der
Anwalt der Patientinnen und Patienten sind, sondern die
von Ihnen gescholtene Opposition, die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen.
({3})
Zum Thema AOK. Die AOK in Berlin - Frau
Vogelsang wird vielleicht darauf eingehen - hat fusioniert. Die AOK Nordost gehört zu denen, die sich öffentlich entschuldigt haben. Zu Recht! Es ist empörend, wie
sich Kassen im Hinblick auf die Versicherten der
City BKK verhalten haben; das geht weit über die
Rechtsansprüche hinaus.
({4})
Es ist aber auch empörend, dass die Bundesregierung
und das Bundesversicherungsamt im Vorfeld offenbar
keine Sorgsamkeit haben walten lassen; denn eine Pleite,
eine Insolvenz passiert nicht von heute auf morgen. Die
Mitglieder waren vollkommen überrascht; ihnen wurde
die Insolvenz Anfang Mai schriftlich in einem Brief mitgeteilt. Anderen - nicht nur den Fachleuten, sondern
auch der Exekutive, der Regierung - war bekannt, dass
hier möglicherweise eine Insolvenz ansteht.
({5})
Infolgedessen hätten hier schon längst Vorbereitungen
getroffen werden können. Sie sollten sich also nicht so
viel einbilden und nicht sagen, dass nur andere schuld
sind; auch Ihre Regierung hat versagt.
({6})
- Das Land Berlin hat keine eigene Kassenaufsicht
mehr, weil es keine eigenen Kassen mehr hat. Das sollten Sie einmal überprüfen. Gleich wird aber noch eine
Berlinerin sprechen, die sich dazu äußern kann. Sie können es selbstverständlich auch kollegial untereinander
klären.
Zum Thema Fusionen. Ja, wir wollen, dass es weniger
Kassen gibt. Das muss aber geregelt ablaufen, damit solche Zustände nicht mehr auftreten.
Zum Thema Kassenbeiträge und vor allen Dingen Zusatzbeiträge. Der Wettbewerb über den Preis, den Sie
einführen, wird auf den Schultern von Kranken, Älteren
und Behinderten stattfinden. Diese Form von Wettbewerb über den Preis wollen Sie durch ihr neues Versorgungsgesetz sogar noch ausbauen. Das, was jetzt passiert, ist demnach nur der Vorbote eines Flächenbrandes,
den Sie in der Bundesrepublik Deutschland im Sommer
verursachen werden. Wir werden sehen, ob Sie am Ende,
wenn die Zusatzbeiträge 50 oder 70 Euro betragen, wovon viele Experten und Expertinnen längst ausgehen,
immer noch zu Ihren Zusatzbeiträgen stehen.
Die SPD Berlin war die einzige politische Institution
in Berlin, die ganz konkrete Hilfs- und Unterstützungsangebote für die Versicherten der City BKK unterbreitet
hat. Das gilt insbesondere für den Kollegen Thomas
Isenberg, den gesundheitspolitischen Sprecher der SPDFraktion im Abgeordnetenhaus, der ein Beschwerdetelefon, eine Hotline eingerichtet hat, die rege genutzt worden ist.
({7})
Somit hat er individuelle Unterstützung geboten. Das hat
sonst niemand gemacht. Wir haben also nicht nur dem
Recht auf die Sprünge geholfen, sondern auch tatsächliche Unterstützung geleistet. Das danken uns die Bürger
und die Bürgerinnen.
Zu den Kassenvorständen: Ja, es ist gut, dass öffentliche Entschuldigungen erfolgt sind. Entschuldigen allein
reicht aber nicht. Wir wachen mit Argusaugen darüber,
ob den Worten jetzt auch Taten folgen. Das sei hier einmal ganz deutlich gesagt.
Zum Ende meiner Rede möchte ich auf die Beschäftigten der Kassen eingehen. Die Sachbearbeiterinnen
und Sachbearbeiter hatten es schwer, auch wenn ihre
Kasse die Versicherten in eine missliche Lage gebracht
hat. Ich bitte aber, zu bedenken, dass die Beschäftigten
der Kassen, die sich in Insolvenz befinden, nicht einfach
entlassen und zu Schuldigen erklärt werden dürfen. Es
ist auch unsere Aufgabe, aufseiten der Beschäftigten zu
stehen. Infolgedessen sind wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten der Anwalt der Patienten und Patientinnen, der Anwalt der Versicherten und der Anwalt der
Beschäftigten.
({8})
Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wer den Eindruck erweckt, dass der Grund für die
Schließung der City BKK allein in der Entwicklung der
letzten Monaten liegt, der verkennt die Geschichte der
City BKK.
({0})
Die City BKK hat schon meinen Vorvorgängern im Amt
des Gesundheitsministers viele Sorgen bereitet. Die City
BKK gäbe es heute schon längst nicht mehr, wenn diese
Koalition im Rahmen der Finanzierungsreform nicht
eine Entscheidung getroffen hätte, die der City BKK
eine zweite Chance eröffnete.
Erinnern wir uns doch einmal an die Situation zu Beginn dieser Legislaturperiode - es wurde ja der Eindruck
erweckt, dass die Zusatzbeiträge etwas Neues sind; es
wurde der Eindruck erweckt, dass die Zusatzbeiträge die
Ursache für das Problem sind -: Zu Beginn dieser Legislaturperiode drohte für das Jahr 2010 ein Milliardendefizit. Der Gesundheitsfonds mit gedeckelten Zusatzbeiträgen wurde von SPD und Union eingeführt. Meine
Vorvorgängerin, Frau Schmidt, hat mich gleich in meiner
ersten Woche im Amt scharf kritisiert, wie ich der Presse
entnehmen konnte. Sie hat gesagt, die SPD habe damals
ein viel klügeres Konzept auf den Weg gebracht, indem
sie gedeckelte Zusatzbeiträge beschlossen habe.
Hätten wir an diesem Finanzierungskonzept festgehalten - für das Jahr 2010 drohte ein Defizit von etwa
8 Milliarden Euro -, dann würden wir heute nicht über
die Schließung der City BKK diskutieren. Dann hätten
wir massenweise Kasseninsolvenzen erlebt. Daher sage
ich: Von Ihnen, meine Damen und Herren Kollegen von
der SPD, brauche ich keine Ratschläge, wie wir mit der
Situation der Krankenkassen umzugehen haben. Das, was
Sie uns hinterlassen haben, hätte zu einer massiven Verunsicherung der Versicherten geführt. Das hätte zu Kasseninsolvenzen ohnegleichen geführt. Deswegen sage ich
Ihnen: Diese Koalition hat für ein stabiles, nachhaltiges
und sicheres Finanzierungskonzept der gesetzlichen
Krankenversicherungen gesorgt.
({1})
Schauen wir uns doch einmal die City BKK an. Die
City BKK hatte in der Zeit, in der es noch keinen Gesundheitsfonds und keinen einheitlichen Krankenkassenbeitrag gab - dieser war gewollt -, den höchsten Beitragssatz aller gesetzlichen Krankenkassen. Er betrug
17,4 Prozent, als der Beitragssatz durchschnittlich
14 Prozent betrug. Da gab es für die Versicherten übrigens weniger Transparenz im Wettbewerb. Herr Kollege
Kuhn, Sie haben die prozentualen Beitragssätze so gelobt. Hierzu sage ich Ihnen: Wir stellen fest, dass die Zusatzbeiträge für die Versicherten eine viel größere Transparenz bedeuten, um ihre Krankenkasse in Euro und
Cent mit einer anderen vergleichen zu können. Das führt
zu einem Wettbewerb, bei dem sich die Versicherten für
eine Krankenkasse ihrer Wahl entscheiden.
({2})
Deswegen ist für die Versicherten der Zusatzbeitrag das
überlegene Finanzierungsinstrument gegenüber dem alten, intransparenten System von Rot-Grün.
({3})
Zur Wahrheit gehört aber auch - das ist bereits angesprochen worden -, dass die City BKK schon einige
Male kurz vor der möglichen Schließung stand. Die
Große Koalition hat die gesetzgeberischen Voraussetzungen zur Schließung von Kassen auf den Weg gebracht. Die christlich-liberale Koalition hat das Ganze
umgesetzt, sodass im Fall der City BKK die Schließung
möglich war.
Man darf aber bei aller Verunsicherung, die unter den
Versicherten herrschte und die mir als Gesundheitsminister Sorgen gemacht hat, nicht unberücksichtigt lassen,
dass die Versicherten zu keinem Zeitpunkt ihren Versicherungsschutz verlieren. Die Versicherten erhielten ein
Schreiben, in dem steht: Sie verlieren Ihren Versicherungsschutz nicht. Bis zur Schließung der City BKK am
30. Juni haben Sie weiterhin den vollen Versicherungsschutz bei Ihrer Krankenkasse. Wenn Sie sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht für eine andere Krankenkasse entscheiden, werden Sie automatisch überführt und nahtlos
einer anderen Krankenkasse zugeordnet.
Aufgrund der anfänglichen Unsicherheit mussten wir
natürlich öffentlich reagieren. Wir sind über Bürgerhotlines, Öffentlichkeitsarbeit, Anzeigenschaltungen und
weitere exekutive Maßnahmen tätig geworden, um den
Versicherten die Unsicherheit zu nehmen. Sie behalten
ihren Versicherungsschutz. Sie können die Zeit nutzen,
um sich frei nach einer anderen Krankenkasse ihrer
Wahl umzusehen.
({4})
Einzelne Leistungserbringer in Berlin und in Hamburg haben sich entschieden, Versicherte nicht zu behandeln. Dieses Verhalten ist ganz klar nicht in Ordnung. Es
gibt ganz klare gesetzliche Regelungen. An diese Regelungen halten wir uns auch. Mit unserem aktiven Eingreifen haben wir dazu beigetragen, die Verunsicherung
der Versicherten und Patienten abzubauen.
({5})
Werfen wir einen Blick auf die Debatten zu diesem
Thema. Ein Vorschlag sieht vor, die Versicherten bei der
Schließung einer Krankenkasse sofort allen anderen
Krankenkassen zuzuordnen. Ich sage Ihnen: Das wäre
der falsche Weg; denn die freie Wahl der Krankenversicherung ist ein hohes Gut, um das uns im Übrigen andere Länder beneiden. Dieses hohe Gut, nämlich dass
die Versicherten ihre Krankenkasse selbst wählen können, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern wir müssen es unbedingt erhalten.
Wir wollen nicht, dass Patienten und Versicherte zu
Bittstellern einer Krankenkasse werden oder möglicherweise sogar gar keine Wahl mehr haben und einer Einheitskasse beitreten müssen. Für uns ist die Kassenvielfalt
und die freie Wahl der gesetzlichen Krankenversicherung
ein so hohes Gut, dass wir alles daransetzen werden, dieses zu erhalten.
({6})
Damit ist aber auch klar: Das Abwimmeln und das
Verhalten, das wir erlebt haben, ist nicht nur rechtswidrig, sondern auch unanständig gewesen. Wir wollen den
Wettbewerb erhalten, und wir wollen, dass der Versicherte Recht und Anspruch darauf hat, von einer Krankenkasse genommen zu werden. Wenn aber gerade ältere
Versicherte, die häufig nicht mobil sind, zu einer Krankenkasse geschickt werden, die am anderen Ende der
Stadt Berlin liegt, wenn ältere Versicherte am Telefon
abgewimmelt werden, weil alle Leitungen besetzt sind,
und Geschäftsstellen geschlossen werden, weil angeblich wichtige Sitzungen der Mitarbeiter stattfinden, dann
ist das ein Verhalten - da können wir, glaube ich, für das
ganze Haus sprechen -, das wir als Abgeordnete aufgrund der Gesetzeslage nicht akzeptieren können und
auch nicht akzeptieren wollen.
({7})
Deshalb müssen wir gemeinsam dagegen angehen.
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, wie dieses Problem gelöst werden kann. Die Linke hat vorgeschlagen,
einfach darauf zu verzichten, dass Kassen geschlossen
werden. Ich habe in der Presse gelesen, dass die Insolvenz einer Krankenkasse nicht möglich sein soll. Ich
glaube, dass das nicht im Interesse der Versicherten ist.
Was ist das denn für ein Anreiz für die Krankenkassen,
die solide wirtschaften und ihre Hausaufgaben machen?
Wir als Versicherte wollen doch, dass die Krankenversicherungen mit den Pflichtbeiträgen ihrer Beitragszahler
sorgsam umgehen. Wenn eine Krankenkasse, die ihre
Hausaufgaben macht, Verwaltungskosten reduziert, ihren Service verbessert, ihre Leistungen verbessert und
die Arbeit für ihre Versicherten besser erledigt, dann soll
sie doch bitte schön davon profitieren können. Eine
Krankenkasse, die ihre Hausaufgaben nicht erledigt und
die ihre Verwaltungskosten nicht reduziert, soll nicht
noch die Unterstützung der anderen bekommen.
Wir sind für einen leistungsorientierten und fairen
Wettbewerb, sodass sich das Sparen und der sorgsame
Umgang mit dem Geld der Versicherten auch für die
Versicherten der eigenen Krankenversicherung lohnt.
Deshalb braucht es diesen Ansatz.
({8})
Die SPD hat vorgeschlagen, man solle einfach die Zusatzbeiträge abschaffen. Das ist ja ein schöner Vorschlag, lieber Herr Lauterbach. Sie haben auch nichts anderes vorgeschlagen. Wenn wir die Zusatzbeiträge heute
abschaffen würden, dann würden wir nicht nur über die
Insolvenz der City BKK sprechen, sondern auch über die
der DAK, der KKH und vieler anderer.
({9})
- Sie haben hier vorgetragen, dass dies Ihr Vorschlag
ist. - Andere Krankenkassen, die Millionen von Versicherten haben und im Moment einen Zusatzbeitrag verlangen müssen, wären dann auch von einer Insolvenz bedroht. Sie könnten die Versorgung ihrer Versicherten
nicht finanzieren, wenn sie keinen Zusatzbeitrag mehr
verlangen dürften.
({10})
Deswegen löst dieser Vorschlag der SPD das Problem,
vor dem wir stehen, nicht.
({11})
Sie haben vorgeschlagen - das ist typisch; das machen Sie jedes Jahr -, den Ausgleich auszuweiten. Das
haben wir gemacht. Es war Ihr Vorschlag, den Krankenkassenausgleich auf die Krankheitsbilder auszuweiten.
({12})
Bisher waren es nur Alter, Geschlecht und einige wenige
andere Kriterien. Sie haben durchgesetzt, es auf 80 Krankheitsbilder auszuweiten. Das heißt, schon heute werden
schlechte Risiken, Versicherte mit Krankheiten, stärker
berücksichtigt als früher. Aber das scheint das Problem
immer noch nicht zu lösen. Ich sage Ihnen: Sie werden
nie einen Ausgleich erreichen, der die unterschiedlichen
Risiken zu 100 Prozent abdecken kann.
Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, um dieses Problem komplett zu lösen, und das, lieber Herr Lauterbach
- in Wahrheit wollen Sie von der SPD dies wohl -, ist
eine staatliche, zentralistisch gelenkte Einheitskasse.
({13})
Aber dann wären die Patienten Bittsteller bei einer Einheitskasse. Sie hätten dann nicht mehr die Möglichkeit,
die Krankenversicherung selbst zu wählen. Dann hätten
wir keinen Wettbewerb mehr. Dann würde mit den Beitragsgeldern nicht mehr sorgsam umgegangen werden.
({14})
Deswegen sage ich Ihnen, dass das keine Lösung ist.
Wir haben die Lösung auf den Weg gebracht. Wir haben die Sanktionsmöglichkeiten für die Aufsichten verschärft. Das war notwendig, damit die Aufsichten besser
durchgreifen können. Wir haben einen unbürokratischen
Weg gefunden, damit die Versicherten eine freie Wahl
der Kassen haben und unbürokratisch durch das Ankreuzen auf einem Formular selbst und schnell die Krankenkasse ihrer Wahl aussuchen können. Das ist notwendig,
damit das hohe Gut der freien Wahl der Kassen und der
sorgsame Umgang mit Beitragsgeldern weiterhin gewährleistet bleiben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Bahr, die Reduzierung der Lösungsvorschläge der Oppositionsparteien auf Details, um dann draufzuschlagen, ist kein guter politischer Stil.
({0})
Sie wissen ganz genau, dass unser Konzept beispielsweise die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung beinhaltet und nicht einfach nur die Zusatzbeiträge.
({1})
Insofern ist Ihr Verhalten, denke ich, politisch nicht ganz
korrekt.
({2})
Erst einmal zu den Fakten. Wir haben erlebt, wie eine
Betriebskrankenkasse, die City BKK, pleitegegangen ist.
Wir haben große Verunsicherung bei den Versicherten erlebt. Wir haben die Bilder gesehen, die Schlangen vor den
Geschäftsstellen anderer Kassen gezeigt haben. Wir haben erfahren, dass Versicherte von Pontius zu Pilatus geschickt wurden. Wir haben das Einteilen der Versicherten
in gute Risiken und schlechte Risiken erlebt, also in Junge
und Gesunde sowie in Ältere und Kranke. Dieses Denken
kannten wir bisher nur aus der privaten Versicherungswirtschaft. Es wurden einige Fälle bekannt, bei denen
Ärzte die medizinische Versorgung von City-BKK-Versicherten verweigert haben. Herr Lanfermann, bei dieser
Gelegenheit: Das Wichtigste für die Versicherten ist eine
sichere Versorgung und nicht die freie Wahl zwischen den
Kassen.
({3})
All dies hat zu einer weiteren großen Verunsicherung geführt, zu einem großen Imageschaden. All dies ist - das
sage ich in aller Deutlichkeit - rechtswidrig.
Jetzt drohen Sie mit Sanktionen gegen die Kassen und
deren Vorstände. Aber ist es nicht auch ein enormer
Imageschaden für die Gesundheitspolitik als Ganzes,
eine Gesundheitspolitik, die seit Jahren das Solidarprinzip schwächt und auf Wettbewerb setzt? Wir erleben die
Nebenwirkungen eines Denkens, das Jens Spahn kurz
nach dem Schließungsbeschluss in aller Klarheit auf den
Punkt gebracht hat. Er hat gesagt: „Wir wollen den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Dazu gehört auch,
dass erfolglose Kassen vom Markt verschwinden.“
Nur damit keine Unklarheit aufkommt: Auch wir sind
nicht für einen unbegrenzten Bestandsschutz für jede
Kasse, wenn sie schlecht wirtschaftet.
({4})
Aber es stünde auch der Weg der Fusion zur Verfügung.
Bei der Insolvenz sind die Folgen, zum Beispiel die
große Verunsicherung, die sie ausgelöst hat, wohl nicht
richtig bedacht worden.
({5})
Dass viele relativ gleichzeitig bei anderen Kassen anfragen, was organisatorisch zu bewältigen ist, dass rund
50 000 City-BKK-Versicherte noch überhaupt nicht reagiert haben und dass sich die Frage stellt, in welche
Kasse sie jetzt kommen, ist doch beim Beschluss der Insolvenz absehbar gewesen. Wenn Herr Montgomery mit
dem einfachen Vorschlag punkten kann - der Vorschlag
ist hier schon ein paar Mal genannt worden -, man möge
den Versicherten ein Formular zuschicken, auf dem sie
die Kasse ihrer Wahl ankreuzen könnten, dann fragt man
sich, warum vorher niemand im Bundesministerium auf
diese Idee gekommen ist.
({6})
Stattdessen gefällt sich Gesundheitsminister Bahr in
der Pose des Rächers der Entrechteten und droht den
Kassen mit Sanktionen.
({7})
Das ist ein wenig wie ein Einbrecher, der laut „Haltet
den Dieb!“ ruft.
({8})
Die Wurzeln dieser Vorkommnisse liegen in der verfehlten Gesundheitspolitik. Ist das Verhalten der Kran12662
kenkassen wirklich überraschend? Wettbewerb fördert
immer eigennütziges Verhalten. Wer gesetzliche Krankenkassen wie Unternehmen behandelt und behandeln
will, darf sich nicht wundern, wenn sie nicht im Interesse
der Patientinnen und Patienten handeln, sondern der
Marktlogik folgen.
({9})
Menschen, die sich für die Kassen nicht rentieren,
bleiben nach dieser Logik auf der Strecke. Betroffen sind
vor allen Dingen alte und kranke Bürgerinnen und Bürger. Der Druck auf die Krankenkassen ist durch Ihre
Politik inzwischen so groß geworden, dass sie offenbar
auch Rechtsverstöße - skandalöse Rechtsverstöße - in
Kauf nehmen, um nicht selbst in den Abwärtsstrudel aus
Finanznot, Zusatzbeiträgen und Verlust von Versicherten
zu geraten. Noch einmal - damit das klar ist -: Dieses
Verhalten ist rechtswidrig und durch nichts zu entschuldigen. Es ist eindeutig ein Produkt von falschen Anreizen und einer fatalen Marktgläubigkeit.
({10})
Das Ganze hat eine lange Geschichte. Seit Jahren
wird das Solidaritätsprinzip systematisch aus der gesetzlichen Krankenversicherung verdrängt. Der Wettbewerb
zwischen Krankenkassen wurde von der schwarz-gelben
Bundesregierung unter Kohl im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes 1992 eingeführt. Rot-Grün hat die
Wettbewerbslogik beibehalten und den Finanzdruck auf
die Kassen noch erhöht. Gleichzeitig wurde durch einen
Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozentpunkten, den die
Versicherten leisten müssen, und die Einführung und Erhöhung von Zuzahlungen die paritätische Finanzierung
aufgekündigt.
Die Möglichkeiten für Kasseninsolvenzen wurden
2007 unter Schwarz-Rot, also von der Großen Koalition,
im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschaffen. Im
selben Gesetz wurden auch die allgemeinen Beitragssätze vereinheitlicht und dafür gedeckelte Zusatzbeiträge
eingeführt. Schwarz-Gelb hat den Wettbewerb als wesentlichen Ordnungsfaktor für das Gesundheitswesen in
den Koalitionsvertrag geschrieben und mit ungedeckelten Zusatzbeiträgen, der Kopfpauschale, ein Instrument
geschaffen, das den Preiswettbewerb zwischen den Kassen weiter anfacht, und das, obwohl klar ist, dass dies
eine Politik gegen die Interessen der Menschen ist.
({11})
Das Sinus-Institut hat jüngst eine Studie durchgeführt, in der die Einstellung der deutschen Bürgerinnen
und Bürger zur medizinischen Versorgung untersucht
wurde, im Übrigen im Auftrag einer der Nähe zu uns mit
Sicherheit völlig unverdächtigen Stiftung, nämlich der
Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese Studie hat zwei wesentliche Ergebnisse hervorgebracht.
Erstens. Das Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem schwindet schon jetzt; die Menschen sind verunsichert. Diese Verunsicherung wird in einen Zusammenhang mit einer radikalen Wettbewerbsrhetorik gebracht,
die leider nicht nur Wettbewerbsrhetorik, sondern in der
Tat auch Wettbewerbspolitik ist.
Zweitens. Die Mehrheit, 80 Prozent, und zwar unabhängig vom Einkommen - hohe Einkommen und niedrige Einkommen - und unabhängig vom Alter - Junge
und Alte -, gab an, dass die Solidarität als Kerngedanke
der Krankenversicherung erhalten bleiben müsse. Danach müssen wir unsere Politik in Zukunft ausrichten.
({12})
Die Studienergebnisse zeigen eindeutig, dass die Verunsicherung aus der Wettbewerbsorientierung resultiert
und die Menschen eine andere, solidarisch ausgerichtete
Gesundheitspolitik wünschen.
Dies haben auch einige Unionspolitiker bereits kapiert. Max Straubinger zum Beispiel,
({13})
der heute bezeichnenderweise nicht hier ist, hat dies, wie
ich denke, schon ein Stück weit gespürt. Er ist nämlich
ein bisschen näher bei den Menschen als beispielsweise
Sie, Herr Lanfermann.
({14})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja. - Mein letzter Satz: Von dieser Bundesregierung
und einem FDP-dominierten Gesundheitsministerium ist
keine Wende zum Besseren zu erwarten.
({0})
Es wird Zeit für einen Politikwechsel. Es wird Zeit, dieser Regierung die Rote Karte zu zeigen.
Danke.
({1})
Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zu diesem Debattenpunkt ist alles Wesentliche gesagt.
({0})
Ich möchte die beiden wesentlichen Facetten dieser
Diskussion aus meiner Sicht zusammenfassen. Ich
glaube, es ist ganz wichtig, dass wir mit dieser Diskussion an die Menschen vor dem Bildschirm folgendes Signal senden: Kein einziger der Menschen, die, wie wir
im Fernsehen oder auf Fotos gesehen haben, bei der
AOK-Außenstelle in Berlin-Weißensee Schlange gestanden haben, ist ein Bittsteller. Nicht ein einziger der Menschen, die von der City BKK zu einer anderen Krankenkasse wechseln müssen, muss darum bitten, in eine
andere Kasse wechseln zu dürfen, sondern die Menschen
haben darauf einen Rechtsanspruch.
({1})
Die gewählte Krankenkasse darf ihren Antrag auf Mitgliedschaft nicht abweisen. Ihr Alter, ihr Geschlecht und
ihr Gesundheitszustand dürfen dabei keine Rolle spielen.
Außerdem können sich die Menschen ganz sicher
sein, dass keine angefangene Behandlung in irgendeiner
Art und Weise abgebrochen werden darf, sondern sie haben einen Rechtsanspruch darauf, dass die gesamte Behandlung zu Ende geführt wird und die Kosten dafür von
der neuen Kasse übernommen werden.
Es gibt aber eine weitere Facette dieser Bilder aus
Berlin-Weißensee: Die Menschen in unserer Republik
werden zunehmend verunsichert, und man hat das Gefühl, sie würden zu Bittstellern. Deswegen finde ich es
ganz besonders wichtig, dass auch die Vertreterinnen
und Vertreter der Opposition, Frau Rawert, hier klar und
deutlich sagen, was Sache ist, und nicht für einen vermeintlichen Vorteil im Wahlkampf hier in Berlin eine
Hotline der Fraktion schalten und das als anwaltliche
Leistung verstehen.
({2})
- Selbstverständlich, aber Sie sind nicht die Einzigen,
die eine Hotline geschaltet haben;
({3})
denn zum Beispiel auch die Kassenaufsicht in Brandenburg, an die man hier in Berlin die Aufsicht abgetreten
hat, hat sofort eine Hotline geschaltet und versucht, die
Menschen zu informieren.
({4})
Wesentlicher Punkt ist aber: Wenn Sie sich die Versichertenstruktur der City BKK anschauen,
({5})
dann sehen Sie - das haben Sie vielleicht auch -, dass
von den Versicherten hier in Berlin über die Hälfte Rentnerinnen und Rentner sind und dass von der anderen
Hälfte 15 000 Menschen Leistungen nach dem SGB II
oder Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Sie sehen
also, dass diese Menschen wahrscheinlich einer größeren Hilfe bedürfen.
({6})
Ich finde es schon ein Stück skandalös, wie die gesetzlichen Krankenkassen im Land Berlin, aber auch in
Hamburg und anderen Regionen, die immer mit diesem
hehren Bild der Solidarität aufgetreten sind - wir halten
zusammen -,
({7})
mit diesen Menschen umgegangen sind, dass sie sich
weggeduckt haben, Außenstellen am Stadtrand eröffnet
haben oder nicht ansprechbar waren.
Ich glaube, dass dieser Imageschaden für die gesetzlichen Krankenkassen ganz wesentlich ist und dass mittlerweile alle erkannt haben - auch die Vertreter der
gesetzlichen Krankenversicherung -, dass es einen solchen Vorfall nie wieder geben darf.
({8})
- Sie haben sich entschuldigt.
Ich möchte hier sagen - vielleicht auch für alle Vertreterinnen und Vertreter dieses Hauses -, dass ich nach
der Schließung einer Krankenkasse nicht noch ein einziges Mal solche Bilder in unseren Zeitungen sehen
möchte. Ich gehe fest davon aus, dass es einen solchen
Vorgang wie den nach der Insolvenz der City BKK in
Zukunft nicht mehr geben wird.
({9})
Auf der einen Seite gibt es unsere gesetzlichen Regelungen. Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass es
Tricksereien hin und her gegeben hat, um Menschen mit
vermeintlich schlechteren Risiken - dass man so über
Menschen reden kann, ist auch fragwürdig - hin und her
schieben zu können. Wir müssen den Finger in die
Wunde legen und gemeinsam darauf achten, dass wir die
Menschen mit vermeintlich schlechteren Risiken gut informieren, dass wir ihnen eine besondere Hilfestellung
geben und dass diejenigen in den Vorständen, die hier
tricksen, dafür auch bestraft werden.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, in einem Punkt sind wir uns alle hier im
Hause einig: Das Verhalten einiger Krankenkassen nach
der Pleite der City BKK ist inakzeptabel und skandalös.
({0})
Der Umfang und auch die Dreistigkeit, mit der gerade
ältere Menschen verunsichert und letztlich abgewimmelt
worden sind, sind erschreckend. Deshalb ist es auch
richtig und angemessen, dass dieses Verhalten im Deutschen Bundestag mit deutlichen Worten verurteilt wird.
Ebenso richtig und nachvollziehbar ist der Ruf nach
Sanktionen und auch nach Maßnahmen, die den Kassenwechsel im Falle einer Kassenschließung weiter vereinfachen.
Herr Minister Bahr, das reicht aber nicht.
({1})
Ganz in der Tradition Ihres Vorgängers kündigen Sie
jetzt mit markigen Worten große Taten an. Doch an die
Grundprobleme des Systems wagen auch Sie sich nicht.
Dass an den gegenwärtigen Problemen nicht nur die gesetzlichen Kassen schuld sind, haben inzwischen auch
Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen gemerkt. Der CSU-Kollege Straubinger, der heute
nicht anwesend ist, scheint - das ist schon erwähnt worden - bei Fonds, Spitzenverband und Zusatzbeiträgen einiges durcheinandergebracht zu haben.
({2})
Aber zumindest hat er gemerkt, dass das Problem tiefer
liegt. Denn unabhängig von dem skandalösen Fehlverhalten muss man sich fragen, wieso es nach wie vor für
einige Kassen erstrebenswert ist, ältere und kranke Versicherte gar nicht erst zu versichern.
Offensichtlich herrscht im System kein wohlverstandener Wettbewerb, sondern ein schädlicher Wettbewerb
({3})
um die jungen, gesunden Versicherten, während die Alten und Kranken Steine in den Weg gelegt bekommen.
({4})
Gerade deshalb haben wir unter Ministerin Schmidt den
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich eingeführt. Gesunden Wettbewerb im System der gesetzlichen
Krankenversicherung erreichen wir nämlich nur, wenn
Kassen mit vielen kranken und älteren Versicherten keinen finanziellen Nachteil daraus haben.
Die seinerzeit von der Union durchgesetzte Beschränkung des Risikostrukturausgleichs auf 80 Erkrankungen
belässt aber weiterhin Anreize zur Risikoselektion aufseiten der Krankenkassen.
({5})
Genau das haben wir im Fall der City BKK noch einmal
deutlich vor Augen geführt bekommen. Wir fordern deshalb die Abschaffung der Begrenzung auf 80 Erkrankungen; denn nur so können wir die falschen Anreize für die
Kassen unterbinden und für einen fairen Wettbewerb
sorgen, von dem auch alle Versicherten profitieren können.
({6})
Der Fall City BKK zeigt, dass es höchste Zeit ist, mit
falschen Anreizen im System Schluss zu machen und dafür zu sorgen, dass der Risikostrukturausgleich weiter
ausgebaut wird. Dazu habe ich weder vom Minister noch
von den Koalitionsfraktionen etwas gehört. Ihr Koalitionsvertrag fordert sogar, den Risikostrukturausgleich
zurückzufahren.
Auch Minister Bahr zieht seit Jahren gegen den Risikostrukturausgleich zu Felde. Es ist geradezu absurd: Sie
beklagen auf der einen Seite medienwirksam die Ablehnung Kranker und Alter, tun auf der anderen Seite aber
rein gar nichts dafür, die Anreize zu dieser Ablehnung zu
beseitigen. Auch heute haben wir nichts dazu gehört.
Schlimmer noch: Sie verfolgen eine Gesundheitspolitik,
die diese Anreize sogar noch verstärkt.
Herr Minister, Kolleginnen und Kollegen von der
Union und der FDP, der Kollaps der City BKK und das
Chaos als Folge daraus sind ein ernstzunehmender
Warnschuss. Das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags und
die Abwälzung aller künftigen Kostensteigerungen auf
die Versicherten in Form unbegrenzter Zusatzbeiträge,
verbunden mit einem unzureichenden Risikostrukturausgleich, werden zu einem verschärften schädlichen Wettbewerb führen.
({7})
Junge, gesunde und flexible Versicherte werden bei
steigenden Zusatzbeiträgen flüchten. Die Alten und
Kranken bleiben zurück, weil sie sich mit einem Kassenwechsel aus verschiedenen Gründen schwerer tun. In der
Folge geraten die betroffenen Kassen immer mehr in
eine finanzielle Schieflage bis hin zur Insolvenz mit den
Auswirkungen, die wir gerade bei der City BKK erlebt
haben.
Ich kann Ihnen nur raten: Nehmen Sie diesen Warnschuss ernst! Es ist der Hinweis auf eine Fehlentwicklung, die Sie nicht mit Strafen und Sanktionen für
gesetzliche Kassen in den Griff bekommen werden, sondern nur, indem Sie die gesundheitspolitischen Fehlentscheidungen Ihres Vorgängers zurücknehmen.
Danke.
({8})
Das Wort hat nun Lars Lindemann für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde von den
Vorrednern heute schon viel gesagt. Wir alle haben die
Bilder gesehen. Wir alle haben das Vorgehen einhellig
verurteilt. Es ist die originäre Aufgabe der gesetzlichen
Krankenversicherung, Versicherungsschutz anzubieten.
Deren originäre Aufgabe ist es auch, im Fall einer Insolvenz die Versicherten der insolventen Krankenkasse aufzunehmen. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln.
({0})
Es geht aber nicht nur um die Vorgehensweisen bestimmter Krankenkassen und ihrer Vorstände, die wir
schlicht als rechtswidrig bezeichnen müssen. Zur Wahrheit gehört auch: Die Pleite der City BKK hat sich lange
angedeutet. Alle Beteiligten - ich betone: alle Beteiligten - konnten sich darauf vorbereiten, sowohl die Krankenkassen als auch die Politik. Wir als politisch Verantwortliche auf Bundesebene durften darauf vertrauen,
dass die gesetzlichen Krankenkassen die Regeln einhalten werden, die wir ihnen gegeben haben. Interessant ist
aber, dass gesetzliche Krankenkassen, die bekannt dafür
sind, dass sie hohe moralische Ansprüche an alle Beteiligten im System haben, hier die Ersten sind, die dies für
sich nicht mehr gelten lassen wollen. Insoweit stellt sich
die Frage: Wie moralisch und wie solidarisch ist dieses
Vorgehen in genau diesem Moment?
({1})
- Liebe Kollegin Rawert, es geht um den Moment.
Wir von der Koalition jedenfalls werden das so nicht
hinnehmen. Dieses Verhalten wird zu Konsequenzen
führen, die wir gesetzlich implementieren werden. Wir
werden dabei auch darauf achten, dass die Konsequenzen diejenigen treffen werden, auf die es dabei ankommt, nämlich die Vorstände der Krankenkassen und
deren Verbände. Es soll sich niemand falsche Hoffnungen machen: Die Koalition wird diese Sache ganz unaufgeregt besprechen. Es geht darum, dass sich die Menschen in diesem Land auf die Wirkung der vom
Gesetzgeber für den Fall einer Insolvenz geschaffenen
Regelungen verlassen können, gerade vor dem Hintergrund, dass diese auch wirken müssen, wenn in Zukunft
andere Krankenkassen von einer Insolvenz betroffen
sind, unabhängig davon, ob es sich um kleine oder große
Krankenkassen handelt. Es geht darum, einen Mechanismus, der zu einem funktionierenden System gehört
- nach unserer Auffassung auch der Marktaustritt -,
funktionsfähig zu halten. Der Marktaustritt von Krankenkassen und auch - das füge ich hinzu - von Leistungserbringern
({2})
muss zur positiv erlebbaren Realität in diesem Land gehören. Es kann nicht sein, dass die Beteiligten dann,
wenn gesetzlich vorgesehene Fälle eintreten, versuchen,
Konflikte auszutragen, die nicht dorthin gehören.
({3})
Dazu gehört ganz ohne Zweifel, dass diejenigen, die
nicht in der Lage sind, unter Beachtung der gegebenen
Regeln einen Beitrag zu leisten, ausscheiden müssen.
({4})
Nun sprechen Sie, liebe Kollegen von der SPD, von
einem perversen Wettbewerb - so hat es Herr Kollege
Lauterbach bezeichnet -, der durch die Erhebung oder
die bewusste Vermeidung von Zusatzbeiträgen entsteht.
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie es waren, die Zusatzbeiträge eingeführt haben, und zwar - im Gegensatz
zu uns - ohne Sozialausgleich für die Versicherten.
({5})
Wir haben den Sozialausgleich - dazu stehen wir weiterhin - mit der Überlegung gekoppelt, dass der Wettbewerb darum, ob eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag
erhebt oder nicht, zu einer Veränderung der Krankenkassenlandschaft führen kann. Wenn Sie, liebe Kollegen
von der SPD, erklären, das sei nicht Ihr Ziel - das dürfen
Sie -, dann hält uns das nicht davon ab, das zu tun. Aber
es lässt sich eines festhalten: Der Zusatzbeitrag, den Sie
eingeführt haben, war nichts anderes als der schlichte
Griff in die Tasche der Versicherten ohne Sozialausgleich
({6})
und ohne Elemente, die die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems im Blick haben. Dies aber ist
unser Ansatz. Insoweit kann ich Ihren Stellungnahmen
etwas abgewinnen, wenn es um die Zielsetzungen geht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Rudolf Henke für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Krawattenfarbe
entscheidend ist, dürfte ich nie eine rote tragen. Das tue
ich aber gelegentlich.
({0})
Ich trage auch schon mal eine lilafarbene Krawatte. Die
meisten meiner Krawatten sind gemustert. Die Krawatte,
die ich gerade trage, weist auch etwas Blau auf.
({1})
Da es für die Versicherten, die gerade zuschauen, ein
bisschen durcheinandergeht: Das Formular, mit dem
man seinen Beitritt zu einer neuen Krankenkasse erklärt,
ist supersimpel. Dort steht: „An die Krankenkasse“, und
dann muss die Adresse eingetragen werden. Es heißt
dort:
Antrag auf Mitgliedschaft in Ihrer Krankenkasse.
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit beantrage ich die Mitgliedschaft in Ihrer
Krankenkasse ab
- in diesem konkreten Fall 1. Juli 2011.
Dann muss man seine Daten angeben: Name, Vorname,
Geburtsdatum, Straße, Postleitzahl und Ort. Man trägt
ein Datum ein, unterschreibt das Formular und schickt es
an die Krankenkasse. Wenn man glaubt, dass man dafür
einen Beweis braucht, muss man es per Einschreiben
schicken oder es persönlich dort einwerfen. Der entscheidende Punkt ist: Mehr Aufwand bedarf es dazu
nicht. Die Krankenkasse ist dann verpflichtet, denjenigen in diese Krankenkasse aufzunehmen. Sie, die Krankenkasse, hat kein Wahlrecht, sich den Versicherten auszusuchen, sondern der Versicherte hat das Wahlrecht,
sich die Krankenkasse auszusuchen. So einfach ist das.
({2})
Ich habe den Eindruck, dass die Krankenkassen die
Philosophie, die dahintersteckt, dann, wenn es um andere geht, gerne vor sich hertragen. Vor ein paar Tagen
wurde der Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts
für Wirtschaftsforschung „Krankenhaus Rating Report
2011“ vorgelegt, wonach sich 12 Prozent der Krankenhäuser im Insolvenzrisiko befinden. Das haben die Krankenkassen natürlich kommentiert. Und wie haben sie es
kommentiert? Ich zitiere Herrn von Stackelberg, den
stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes:
Verluste von Krankenhäusern sind kein Indiz für
eine unzureichende Finanzierungsausstattung, sondern oft ein Zeichen von strukturellen Problemen.
({3})
Darüber hinaus hat er gesagt:
Verkrustete Strukturen dürfen nicht länger konserviert, sondern müssen aufgebrochen werden. Wir
mahnen dringend eine strukturelle Bereinigung der
Krankenhauslandschaft an.
So Herr von Stackelberg.
Wer so über andere redet, die in wirtschaftliche
Schwierigkeiten kommen, der hat keine Ausreden mehr,
wenn sich Krankenkassen so verhalten, wie sie es getan
haben, indem sie Versicherte abgewimmelt haben.
({4})
Ich bin sehr dafür, dass auch die Leistungserbringer
daran festhalten und wissen müssen, dass sie selbstverständlich nach Recht und Gesetz und Fachlichkeit gebunden sind, jeden Versicherten zu versorgen. Die Krankenkassen haben ja in der Verteidigung dieses Rechts
eine Rolle gespielt. Genau an dieser Stelle schießen sie
sich selbst ins Knie, wenn sie sich so verhalten, wie sie
es jetzt getan haben, weil sie damit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit schweren Schaden zufügen. Sie zeigen mit
dem Finger auf andere, achten aber nicht darauf, dass
man sich auch selber daran halten muss.
({5})
Es ist unentschuldbar, wenn Krankenkassen Versicherte abwimmeln, weil ihnen diese zu alt oder zu krank
sind. Für ein solches Verhalten habe ich keinerlei Verständnis. Es ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch
inakzeptabel. Wir erwarten von jeder gesetzlichen Krankenkasse, dass sie grundsätzlich jeden mit offenen Armen empfängt.
Kleine Korrektur zu der Ausrede, die da vagabundiert
hat, also zu der Aussage der AOK Berlin-Brandenburg,
man habe ja hier so viele Krankenhausbetten: In Berlin
hatten wir Ende 2009 573 Betten auf 100 000 Einwohner, im Bund waren es 615 Betten und in dem Bundesland Nordrhein-Westfalen beispielsweise, aus dem ich
stamme, 682 Betten. Es ist aber trotzdem so, dass die
City BKK hier in Berlin in Probleme geraten ist. Auch
da wird zum Teil die Verantwortung auf andere Bereiche
umgelenkt.
Ein zentraler Punkt in der politischen Debatte scheint
mir zu sein, dass wir in der Behandlung des Zusatzbeitrages - die ganze Diskussion zeigt das wieder einmal geradezu eine Neurotisierung in der Bevölkerung fördern, und zwar an allererster Stelle Sie, Herr Kollege
Lauterbach. Sie erklären zum einzigen Kriterium des
Krankenkassenwettbewerbs: Zusatzbeitrag vermeiden,
Zusatzbeitrag vermeiden, Zusatzbeitrag vermeiden. Damit sorgen Sie für eine Haltung, die zum Beispiel der
Verbraucherzentrale Bundesverband ablehnt,
({6})
weil er seinen Verbrauchern und den Versicherten zuruft,
dass man nicht alleine auf den Zusatzbeitrag achten darf,
sondern dass man auf das Verhältnis von Leistung und
Preis achten muss.
({7})
Die Konzeption, die Sie hier vertreten, ist eine Konzeption, bei der so getan wird, als wären die Versicherten
so dumm,
({8})
dass sie nicht in der Lage sind, das Verhältnis von Preis
und Leistung zu erkennen. Die wichtigste Leistung einer
Krankenkasse ist, dass sie in der Lage ist, das Leistungsversprechen, das sie gegeben hat, einzuhalten. Wenn sie
dafür einen etwas höheren Beitrag erheben muss,
({9})
dann ist dieses Geld richtig bezahlt und der Versicherte
gut beraten, bei dieser Kasse zu bleiben.
Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - PrivilegieVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
rung des von Kindertageseinrichtungen und
Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms
- Drucksache 17/5709 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes Privilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden
Kinderlärms
- Drucksache 17/4836 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 17/5957 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Kinderlärm - Kein Grund zur Klage
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner,
Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Vorrang für Kinder - Auch beim Lärmschutz
- Drucksachen 17/881, 17/1742, 17/2925,
17/5957 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Judith Skudelny
Dorothea Steiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Norbert Röttgen das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr - ich
hoffe und glaube, dass das für sehr viele hier im Hohen
Hause gilt -, dass wir heute die zweite und dritte Lesung
des Gesetzes zur Privilegierung von Kinderlärm beraten
und dann im Bundestag auch beschließen werden. Ich
glaube, dass dieses Gesetzesvorhaben eine grundsätzliche gesellschaftspolitische Bedeutung, aber auch ganz
praktische Folgen hat.
Zur grundsätzlichen Bedeutung möchte ich erstens
Folgendes hervorheben: Dieses Gesetz trägt dazu bei,
dass sich im einfachen Recht, in den einfachen Gesetzen,
die Wertordnung des Grundgesetzes verwirklicht. Gesetze müssen sich orientieren an den Werten einer Gesellschaft und insbesondere an der Wertordnung, wie sie
in unserer Verfassung, im Grundgesetz, festgelegt ist.
Darum möchte ich hier ganz ausdrücklich aussprechen,
dass die bisherige Rechtslage, nach der das Toben, Spielen, ja natürlich auch das Lärmen von Kindern als schädliche Umwelteinwirkung aufgefasst werden kann, inakzeptabel ist, gerade auch aus der Perspektive der
Wertordnung des Grundgesetzes.
({0})
Kinder haben das Recht, in ihrem Kindsein akzeptiert
und toleriert zu werden.
({1})
Es gibt keine geräuschfreien Kinder. Wir wollen auch
keine geräuschfreien Kinder, sondern wir wollen Kinder
so, wie sie sind: spielend, Lust am Leben und Freude habend, auch tobend und lärmend. Das mag manchmal für
Erwachsene anstrengend sein - das will ich als Vater von
drei Kindern gern einräumen; diese Erfahrung machen
wir alle -, aber es geht darum, Kinder in ihrem Kindsein
zu tolerieren, zu respektieren, ja zu mögen, zu lieben, zu
wollen. Das muss sich in Gesetz und Recht ausdrücken;
sonst sind wir nicht ehrlich.
({2})
Darum ist diese Änderung auch im rechtspolitischen
Sinne eine wirklich überfällige Korrektur.
Ich glaube zweitens, dass dieses Gesetz ein wichtiges
gesellschaftspolitisches Signal ist, ein Signal für eine kinderfreundliche Gesellschaft. Was sind die Trends in unserer Gesellschaft, über die Konsens besteht? Wir sind eine
Gesellschaft, in der wir weniger werden. Wir sind eine
Gesellschaft, die älter wird. Ich glaube, wir sind eine Gesellschaft, in der viele Menschen einsamer werden, nicht
nur individueller; der Trend zur Vereinsamung hat inzwischen eingesetzt. In unserer Gesellschaft werden wir we12668
niger, älter und einsamer. Das sind drei große Trends in
unserer Gesellschaft, die wir nicht einfach tatenlos hinnehmen dürfen. Mit einer gezielten und entschlossenen
Familienpolitik müssen wir Akzente dagegen setzen;
denn die Familie ist immer noch die wichtigste Lebensform, die sozialen Zusammenhalt bietet, ihn erzeugt. Darum wollen wir alles tun, was Kinder und Familien stärkt.
Es ist ein Signal für eine kinder- und familienfreundliche
Gesellschaft, das wir heute in Gesetzesform an die Gesellschaft aussenden, ein Signal für den Zusammenhalt in
der Gesellschaft.
({3})
Drittens regeln wir ganz praktische Sachverhalte;
denn mit der Neuregelung im Bundes-Immissionsschutzgesetz wie auch im Baurecht, im Bauplanungsrecht sorgen wir dafür, dass der gerichtliche Streit um
die Zulässigkeit von Kinderlärm weniger wird, weil der
Gesetzgeber die Normentscheidung trifft, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung
darstellt. Indem der Gesetzgeber Klarheit schafft, sorgen
wir dafür, dass im Einzelfall weniger Streit vor den Gerichten ausgetragen wird und auch weniger Nachbarschaftsstreitigkeiten entstehen.
({4})
- Das Baurecht fehlt nicht - aber es ist richtig, dass Sie
es anmerken -, da wir im Bauplanungsrecht eine Änderung vornehmen, die vorsieht, dass nun auch in reinen
Wohngebieten Kindertageseinrichtungen generell zulässig sind. Das ist eine ganz wichtige Flankierung dieser
Gesetzesinitiative im Planungsrecht. Wir wollen Kindertageseinrichtungen dort, wo auch andere Menschen sind,
in reinen Wohngebieten, und sie nicht zu Exklaven unserer Städte und Gesellschaften machen. Auch das ist ein
wichtiges Signal, eine wichtige Entscheidung.
({5})
Ich betone ausdrücklich, dass dies ein gesellschaftspolitisch wichtiges Anliegen ist. So klein es zu sein
scheint, so wichtig ist es mit Blick auf die Ehrlichkeit
und Glaubwürdigkeit, aber auch das Bemühen von Politik und Gesetzgeber, Maßnahmen zu ergreifen, die unsere Gesellschaft freundlich machen, Zusammenhalt
stiften, Kindern ganz real in Kindertageseinrichtungen,
aber auch zur Entfaltung ihres Kindseins Lebensraum
geben. Obwohl es um wenige Veränderungen geht, hat
dies eine beachtliche Bedeutung für die gesellschaftliche
Entwicklung.
Es geht auch darum, eine tolerante Gesellschaft zu befördern. Toleranz wird ganz sicherlich - das ist auch
wichtig bei einem Gesetz zugunsten von Kindern und ihrer Entfaltung - wechselseitig geschuldet. Es geht hier
um die Toleranz älterer Erwachsener gegenüber Kindern, weil wir sie so haben möchten, wie sie sind. In
gleicher Weise ist dies dann auch eine gute Grundlage,
dass Kinder, junge Menschen Toleranz und Respekt gegenüber älteren Menschen, gegenüber der älteren Generation zeigen. Insofern versucht dieses Gesetz einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass der Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft, die Toleranz und die Freude am
Zusammenleben zunehmen. Unsere Gesellschaft braucht
dies, und darum bitte ich Sie sehr um Ihre Zustimmung
zu diesem Gesetz.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Vogt von der
SPD-Fraktion.
({0})
Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist sicherlich ein dankbares
Thema für den Minister; denn wir sind uns bei diesem
Gesetzentwurf durchaus in den wichtigen Teilen, die uns
heute vorliegen, parteiübergreifend einig.
Ich beginne mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem
Zitat von Frank Patalong in Spiegel Online aus dem
April dieses Jahres: Eigentlich sollte uns dieses Gesetz
zutiefst beschämen. Er führt aus, man könne sich durchaus Gedanken darüber machen, dass es bedauerlich ist,
dass man ein solches Gesetz überhaupt braucht, und man
treffe diese Regelung in einem Gesetz, das eigentlich für
Immissionen von Abgasanlagen und Industrieanlagen
zuständig ist. Daran ist durchaus etwas, wenn man die
gesellschaftliche Situation betrachtet: Man kann bedauern, dass wir dies überhaupt regeln müssen, weil sich zu
viele Menschen beklagen und sogar gerichtlich gegen
Kinderspielplätze oder Kindertagesstätten vorgehen.
Aber entscheidend ist für uns, dass wir nicht darüber
trauern, dass es solche Zustände gibt, sondern dass wir
den Kindern mit diesem Gesetz Freiräume schaffen und
dass wir dies parteiübergreifend tun. Vor allem sorgen
wir dafür, dass für Kinderlärm eine Privilegierung gilt
und er daher dem Spielen und Sich-Entfalten nicht im
Wege steht.
Ausdrücklich bedanke ich mich bei der Landesregierung von Rheinland-Pfalz, die mit ihrer Bundesratsinitiative im November 2009, also schon vor anderthalb
Jahren, die Grundlage dafür geschaffen hat, dem Ganzen
zusammen mit Anträgen der Opposition etwas Nachdruck zu verleihen. Daher kommen wir heute wenigstens
in diesem einen Feld, was die Kinder betrifft, zu einer
Sicherheit, wenngleich die Rechtssicherheit, wie Sie ja
selbst gesagt haben, Herr Minister, erst dann gegeben
sein wird, wenn, wie im SPD-Antrag vermerkt, auch das
Baurecht und andere damit zusammenhängende Rechtsvorschriften geändert werden.
Trotzdem möchte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf doch ein ganzes Stück hinter dem zurückbleiben, was die Realität
heute erfordert. In unserer Anhörung vom 14. März 2011
hat der Sachverständige Rainer Grund vom Baurechtsamt Stuttgart dazu etwas Treffendes gesagt. Er beschreibt, wie er es nennt, die offene Flanke, die dieser
Gesetzentwurf bietet. Ich zitiere aus dem Protokoll der
Anhörung:
Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, beschäftigt
sich eigentlich nur … mit dem Kinderlärm durch
Kindertagesstätten oder durch klassische Spielplätze. Im praktischen Vollzug ist das der Bereich,
der am wenigsten Probleme aufwirft.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich für zutiefst bedauerlich. Auch Sie, Herr Minister, haben mit
keinem Wort erwähnt, dass die Kindheit eben nicht endet, wenn man den Kinderspielplatz verlässt. Sie endet
auch nicht mit 14 Jahren; das ist meistens das Höchstalter, bis zu dem man einen Kinderspielplatz nutzen darf.
Vielmehr haben auch die Jugendlichen ein Recht darauf
und hätten es verdient, dass Sie als Bundesregierung ihr
Anliegen aufnehmen und sich zur Lobby auch von jungen Menschen machen, nicht nur zu der für Kinder bis
zu 14 Jahren.
({0})
Wenn wir einerseits die Erkenntnisse aus den Anhörungen - es war nicht nur der eine Sachverständige, der
solche Ausführungen gemacht hat - zugrunde legen und
andererseits sehen, was uns zum Beispiel eine FDP-Kollegin im Ausschuss erläutert hat, tut sich ein Widerspruch auf. Sie sagte nämlich, der Kinderlärm bedürfe
einer Regelung, denn man könne den Kindern nicht so
gut sagen, dass sie still sein sollen, sie verstünden das
noch nicht; Jugendlichen hingegen könnte man solche
Hinweise durchaus geben.
({1})
Stellen Sie sich das einmal bildlich vor: Die Kollegin
Skudelny rennt in Stuttgart von Bolzplatz zu Bolzplatz
und sagt den Jugendlichen, sie sollen aber bitte ein bisschen leiser sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist
weltfremd, und es ist auch ganz schön albern, welche
Vorstellungen Sie haben. Sie drücken sich davor, eine
Lösung für ein Thema zu finden, das den eigentlichen
Konflikt vor Ort schafft.
({2})
Denn wenn Jugendliche ihrer Spielfreude Ausdruck verleihen wollen, macht dies viel mehr Probleme, aber für
sie ist viel weniger Lobby vorhanden. Es wäre mutig und
richtig gewesen, wenn Sie auch bei diesem Gesetzentwurf nicht bei den Kindern geendet hätten.
({3})
Deshalb appelliere ich an Sie, dass Sie die vorliegenden Anträge der Opposition nicht in gewohnter Art und
Weise beiseitelegen und nicht einfach sagen: Wir haben
die Mehrheit, hurra, jetzt setzen wir uns einmal allein
mit dem durch, was wir für richtig halten.
Wir haben uns als Opposition parteiübergreifend entschieden, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Man
könnte jetzt auch im Sinne einer guten demokratischen
Kultur sagen: Im Gegenzug stimmen Sie den Anliegen
der Opposition zu. Dazu zählt das Anliegen, eben auch
Bolzplätze, Baseballanlagen, Skateranlagen und auch
wohnortnahe Sportplätze einzubeziehen und vor allem
gleichzustellen. Das alles ist in den Anträgen der Opposition enthalten. Ich kann Sie nur bitten: Schieben Sie
das Ganze nicht auf die lange Bank. Die Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU und der FDP aus dem
Sportausschuss - vielleicht sind diese manchmal ein bisschen näher an der Realität - haben einen eigenen Antrag eingebracht, in dem Sie ausdrücklich aufgefordert
werden, auch Rechtssicherheit bei der Beurteilung von
Lärm der Jugendeinrichtungen zu schaffen.
In diesem Sinne bitte ich Sie ganz dringend: Stimmen
Sie auch den Oppositionsanträgen zu. Damit würden wir
ein Gesetz verabschieden, das im Grunde genommen allen gerecht wird, Kindern und Jugendlichen. Wir hätten
auch ein Stück Geschichte geschrieben, weil wir einmal
nicht nur hinsichtlich des Gesetzes einig sind, sondern
auch bei den dazugehörenden Anträgen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das
Hamburger Landgericht hat 2005 per Gerichtsurteil die
Schließung eines Kindergartens wegen Lärmbelästigung der Nachbarn angeordnet. Das Urteil empfand ich
damals genauso wie heute als Skandal. Wie kann man
den ganzen Tag den Lärm einer vierspurigen Straße ertragen, aber nicht für ein paar Stunden das Lachen und
Toben von Kindern? Rasenmäher machen Krach, werden aber toleriert, Kindergeschrei nicht.
Das Gerichtsurteil von Hamburg hat dennoch ein Gutes: Es hat eine Diskussion in Gang gebracht. Es handelte sich um einen Konflikt, der schwer nach Generationenkampf aussah. Lärm sei Lärm, egal, ob er von
Kindern oder Maschinen herrührt. Für zumutbaren Lärm
gebe es Obergrenzen und die müssten eingehalten werden, sagen mache. Geräusche von Kindern waren immer
wieder Gegenstand von nachbarschaftlichen Streitigkeiten. Tobende Kinder mit Maschinen zu vergleichen, ist
absurd.
({0})
Als Regierungskoalition haben wir versprochen, eine
Änderung auf den Weg zu bringen. Dieses Versprechen
lösen wir nun ein. Miriam Gruß von der FDP-Fraktion
hat dieses in die Koalitionsvereinbarungen eingebracht.
Jetzt wird es Gesetz. Außerdem ist es ein Signal an Familien. Es schließt nahtlos an den Ausbau der Kinderbetreuung durch die Bundesregierung an. Welchen Sinn
würden neue Kitas in Wohngebieten machen, wenn die
Kinder nicht auch draußen spielen dürften? Kindergeräusche stellen im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung dar.
Während des Gesetzgebungsverfahrens ist klar geworden, dass auch in Bezug auf Jugendliche auf Bolzplätzen Handlungsbedarf besteht. Bolzplätze und Sportstätten sind für Jugendliche Alternativen zum Computer,
eine Gelegenheit, draußen zu sein und Freunde zu treffen. Jugendliche treffen sich allerdings zu anderen Zeiten. Deshalb können wir dies nicht genauso behandeln
wie die durch Kinder entstehende Geräuschkulisse.
({1})
Die Koalition wird eine Lösung entwickeln, die die Situation Jugendlicher angemessen berücksichtigt.
({2})
Ich bin auch Sprecherin für Senioren in meiner Fraktion. Deshalb habe ich natürlich auch die Interessen der
Älteren vor Augen. Die neuen Regeln sollen ein Gewinn
für alle sein. Daher brauchen wir einen fairen Ausgleich
zwischen den Interessen von Anwohnern und denen von
Kindern und Jugendlichen. Deshalb legen wir Wert auf
die Formulierung, dass der von Kindergärten und Kinderspielplätzen ausgehende Kinderlärm bei der Festlegung des zumutbaren Geräuschpegels privilegiert sind
und er im Regelfall - ich wiederhole: im Regelfall nicht als schädliche Umwelteinwirkung gelten darf.
Ausnahmen kann es also geben.
Wir wollen wie Sie alle eine kinderfreundlichere Gesellschaft. Dazu gehört, dass Kinder möglichst wohnortnah draußen spielen und toben können. Das brauchen
sie, körperlich wie seelisch.
Noch ein Gedanke zum Begriff Lärm. Lärm wird definiert als lästig empfundener Schall. Das Lachen und
Toben von Kindern ist dagegen vielmehr Ausdruck kindlicher Lebensfreude, also kein Grund zur Klage. Im Gegenteil: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
Danke.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich wundere mich schon, was Gerichte
auch beim Lärmschutz manchmal aus Gesetzen machen.
({0})
Den Lärm von Fröschen müssen Anwohner dulden, aber
Kinderlärm wurde verboten. Mit der nun von der Bundesregierung geplanten Änderung der Lärmgesetzgebung dürfen nicht nur Frösche quaken, sondern auch
Kinder laut spielen. Gegen Spielplätze und Kindertagesstätten sind Lärmklagen zukünftig unzulässig. Das finden wir gut.
({1})
Aber leider gibt es ein Problem; denn nur bis zum
14. Geburtstag dürfen Kinder lärmen, weil nach dem
Gesetz da die Kindheit endet. Pech für die Jugendlichen,
Pech auch für Freizeitsportler: Sie müssen leise sein, die
Frösche dürfen quaken. Dass Sportfeste zwischen
13 und 15 Uhr untersagt werden, dass Jugend- und Freizeitsport in enge Zeitfenster gezwungen wird, das lehnen
wir ab.
({2})
Deshalb beantragt die Linke, dass für den Jugend- und
Freizeitsport die erlaubten Lärmgrenzwerte um 5 Dezibel angehoben werden. Diesen Antrag haben Sie von
CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen jedoch im Ausschuss
abgelehnt - mit der Begründung, Jugendliche und Sportler seien nicht wie Kinder, die für ihr Verhalten nichts
können. Sie fördern Sportler, die nicht hörbar sind.
({3})
Prinzipiell unterstützt die Linke den Schutz vor Lärm.
Aber erklären Sie mir und allen Bürgern: Weshalb lassen
Sie per Gesetz einen Straßenlärm von 59 Dezibel in
Wohngebieten zu, und warum darf ein Militärflugzeug
nach Gesetz mit mehr als 90 Dezibel über ein Haus hinwegdonnern, wenn Sie gleichzeitig Sportgeräusche von
nur 54 Dezibel verbieten?
Nach Ihrem Gesetz ist Folgendes zu erwarten: Auf einem Bolzplatz spielen Kinder im Alter von 13 Jahren;
gegen diese Geräusche kann man nicht klagen. Wenn
aber ein 15-Jähriger mitspielt, könnte man dagegen klagen. Spielt das 8-jährige Mädchen mit ihrer Freundin
Basketball, dann ist das Scheppern erlaubt. Spielt Papa
mit, ist das Scheppern untersagt. Was für ein Schwachsinn!
({4})
Wie sollen die Kommunen da mit Beschwerden von Anwohnern umgehen? Sollen sie Schilder aufhängen mit
der Aufschrift „Spielen an Wochenenden für Kinder erlaubt! Für Jugendliche, Eltern und Großeltern verboten!“? Ehrlich: Was soll das?
Die von uns geforderte Änderung der 18. Bundesimmissionsschutzverordnung mit um 5 Dezibel höheren
Grenzwerten hilft Jugendlichen, Sportlern, Vereinen und
Kommunen, auf rechtssicherer Basis ihre Arbeit und
Freizeit zu organisieren. So könnten Opa, Paul und Lisa
auch sonntags gemeinsam Fußball spielen, und die 15-Jährigen werfen den Basketball aus Freude statt Flaschen
aus Frust.
({5})
Um Ihnen die Angst zu nehmen: Auch mit der Änderung darf der Sportler noch immer nicht so viel Lärm
verursachen wie der Autofahrer. Deshalb fordere ich Sie
auf: Stimmen Sie hier im Plenum neben dem Gesetzentwurf auch unserem Antrag zu! Zeigen Sie endlich Herz nicht nur für Kinder und Frösche, sondern auch für Jugendliche und Sportler!
Danke.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner von den Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist sehr gut, dass wir heute gemeinsam ein wichtiges Etappenziel erreichen und den Kinderlärm endlich privilegieren.
({0})
Das ist nicht nur ein wichtiges Signal für mehr Kinderfreundlichkeit in unserer Gesellschaft, sondern auch ein
Meilenstein für die Kinderrechte in unserem Land.
({1})
Fakt ist aber auch - das kann ich Ihnen nicht ersparen -:
Die Bundesregierung hat fast zwei Jahre gebraucht, um
zwei kleine Sätze, konkret: 31 kleine Wörter, ins Bundes-Immissionsschutzgesetz aufzunehmen.
({2})
Da kann man nur mit dem Kopf schütteln. Zwei Jahre
sind auch deswegen unbegreiflich,
({3})
weil es seit vielen Jahren ein gemeinsames Anliegen aller im Bundestag vertretenen Fraktionen ist, Klagen gegen Kinderlärm entgegenzuwirken. Der erste Beschluss
dazu - nicht etwa die erste parlamentarische Initiative erfolgte im Deutschen Bundestag schon im Juli 2009. So
lange ist es schon her. Ich bin mir sicher: Wenn wir von
der Opposition mit Anträgen und mit der Anhörung im
Umweltausschuss nicht so viel Druck gemacht hätten,
würden wir heute keine Änderungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz beschließen.
({4})
Statt sich mit Gesetzentwürfen zu beschäftigen,
musste die Union offensichtlich Parteifreunde wie den
Vorsitzenden der Senioren-Union in Nordrhein-Westfalen wieder einfangen, für den Kinderlärm gerade keine
Zukunftsmusik ist. Stattdessen sah Herr Kuckart gleich
einen Generationenkonflikt ausbrechen, wenn die Ansiedlung von Kitas in Wohngebieten erleichtert würde
und die lieben Kleinen dann die Senioren stören. Mit
derartigen Äußerungen - das muss man einfach sagen war er in der Union nicht alleine. Ich bin froh - auch das
möchte ich hier sagen -, dass sich diese Haltung in der
Union nicht durchgesetzt hat.
Gerade mit Blick auf den Ausbau der Kindertagesstätten - auch Frau Bracht-Bendt hat diesen Punkt angesprochen -, der dringend notwendig ist, um bis 2013 den
Rechtsanspruch auf einen Platz erfüllen zu können,
wurde in den letzten zwei Jahren wertvolle Zeit verplempert. Die Berichte darüber, dass die Errichtung von Kindertagesstätten verhindert oder zumindest massiv behindert wurde, liegen uns allen vor.
Nun würde ich gerne sagen: Was lange währt, ist endlich gut. Richtig ist: Die Einrichtungen für Kinder werden endlich im Bundes-Immissionsschutzgesetz privilegiert. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir diesem
Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen. Denn ein
wichtiges Etappenziel - ich habe es schon gesagt wurde damit erreicht. Aber die notwendige Klarstellung
in der Baunutzungsverordnung, die auch schon vor zwei
Jahren im Parlament beschlossen worden ist, steht immer noch aus. Auch dafür gibt es eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund.
({5})
Die Koalition hat zudem eine große Chance verpasst.
Sie hat die Gelegenheit nicht genutzt, eine Klarstellung
auch für Bolzplätze, Skateranlagen und ähnliche Flächen
vorzunehmen. Die Anhörung im Umweltausschuss hat
deutlich gemacht, dass es nicht nur um Kinderlärm gehen darf, sondern dass auch immer wieder Konflikte aufgrund von Jugendlärm aufbrechen. Auch hierfür müssen
wir dringend eine Regelung finden.
({6})
Um es klar zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass
man den Lärm, den Jugendliche machen, pauschal
ebenso wie die Geräusche, die von kleinen Kindern bzw.
Kindertagesstätten ausgehen, privilegieren sollte. Es gibt
aber auch keinerlei Grund, die Jugendlichen komplett zu
vergessen, wie die Regierung und die Regierungsfraktionen das hier tun.
({7})
Ich hatte die Hoffnung, dass zumindest die Union ein
bisschen weiter ist. Ich habe das Protokoll vom letzten
März gelesen und darf zitieren, was Herr Paul in seiner
Rede ausgeführt hat:
Natürlich muss … den besonderen Bedürfnissen
der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung
getragen werden, dass für den von ihnen erzeugten
Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird.
Wir haben im Umweltausschuss und anderen beteiligten Ausschüssen einen Vorschlag gemacht, wie man
konkret auf Bolzplätze und Skaterbahnen bezogen Ver12672
besserungen für die Jugendlichen und auch mehr Rechtssicherheit für die Kommunen erreichen kann. Der Antrag ist, aus meiner Sicht völlig unbegründet, abgelehnt
worden. Wo bleibt der von der CDU/CSU eingeforderte
höhere Toleranzmaßstab für die Jugendlichen? Ich
möchte es mit den Worten der FDP ausdrücken: Da
müsste bald „geliefert“ werden.
({8})
Für Jugendliche gibt es wohnortnah, gerade innerstädtisch, viel zu wenig Aufenthaltsorte und zu wenig
Flächen wie Bolzplätze für die Freizeitgestaltung oder
auch den Freizeitsport. Hieran müssen wir dringend arbeiten; denn es ist wichtig, dass Jugendliche nicht an die
Stadtränder verdrängt werden. Kinder und Jugendliche
gehören in die Mitte der Städte und Gemeinden. Wir
brauchen dringend gerade für Jugendliche mehr Möglichkeiten der Beteiligung in den Planungsprozessen;
denn die Beteiligung von Jugendlichen wie auch der Anwohner im Bereich der Planung, also konkret: in den
Planungsprozessen, ist letztlich der beste Lärmschutz
und die beste Grundlage, Prozesse wegen Lärmbelästigung wirklich vermeiden zu können.
Die heutige Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist ein wichtiger Anfang. Die Baustelle Kinderund Jugendlärm ist damit aber nicht erledigt, weder was
das Umdenken in unseren Köpfen noch was die kommenden Gesetzgebungsverfahren angeht.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Paul von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Medienecho haben die Richter in Hamburg sicherlich nicht gerechnet, als sie vor sechs Jahren, also im
Jahre 2005, der Klage eines Nachbarn recht gegeben haben, der gegen den Lärm aus dem Kindergarten „Marienkäfer“ geklagt hat. Es gab bundesweit und über alle
Parteigrenzen hinweg einen Sturm der Entrüstung. Auch
heute haben wir gesehen, dass wir uns einig sind: Kinder
sind nicht nur leise, Kinder machen auch Lärm, und Kinderlärm gehört zu unserer Gesellschaft, er gehört zu unserem Alltag. Gerade wenn wir eine kinderfreundliche
Gesellschaft sein wollen, müssen wir Kinderlärm hinnehmen; denn schließlich garantieren Kinder den Fortbestand unserer Gesellschaft.
({0})
Deshalb müssen der Lärm bzw. die Geräusche, die von
Kindern verursacht werden, anders behandelt werden als
die Geräusche von Maschinen oder Autos.
Zur Vollständigkeit gehört aber auch, festzuhalten,
dass Gerichtsentscheidungen gegen Kinder - wenn man
die Rechtsprechung in Deutschland betrachtet - die Ausnahme bilden. Selbst in einer Stadt wie Köln, aus der ich
komme, wo es auf engem Raum viele Einrichtungen
gibt, hat es bisher keine einzige Gerichtsentscheidung
gegeben, die gegen Kinder ausgefallen ist. Auch in anderen Bundesländern können wir eine solche Entwicklung
nicht beobachten.
Trotzdem haben wir als Koalition von CDU/CSU und
FDP Handlungsbedarf gesehen; denn unsere Gesellschaft wird zunehmend älter. Der Lärm von spielenden
Kindern gehört leider nicht mehr so zum Alltag, wie es
vielleicht vor einigen Jahren der Fall war. Dementsprechend sinkt die Bereitschaft, Kinderlärm zu tolerieren.
Deshalb werden Konflikte - Kinder auf der einen Seite,
Ruhesuchende auf der anderen Seite - in Zukunft tendenziell zunehmen, wenn wir unser Ziel verwirklichen,
dass Kinder in der Nähe ihrer Wohnung spielen dürfen
bzw. einen Kindergarten besuchen. Schließlich wollen
wir Familie und Beruf miteinander vereinbar machen.
Deshalb haben wir ein sehr umfangreiches und ehrgeiziges Programm zum Ausbau der Kinderbetreuung auf den
Weg gebracht: Bis zum Jahre 2013 werden allein für die
unter Dreijährigen 750 000 Plätze eingerichtet sein. Weil
wir eine wohnortnahe Betreuung auch in Wohngebieten
wollen, wird sich die Zahl der Konflikte tendenziell erhöhen. Deshalb handelt die Koalition. Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir die Rechtslage ändern
werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung werden wir
im Lärmschutzrecht, im Bundes-Immissionsschutzgesetz, ein Toleranzgebot festschreiben, mit dem klargestellt wird, dass Kinderlärm im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung ist.
({1})
Meine Damen und Herren, zur Lebenswirklichkeit
gehört allerdings auch, dass man den Kindern nicht in jedem Fall den Vorrang geben kann. Denn es ist völlig
klar: In Einzelfällen kann der gewählte Standort für eine
Kindertagesstätte schlicht und ergreifend falsch sein,
zum Beispiel in der Nähe eines Krankenhauses. Deshalb
haben wir uns dagegen entschieden, rigoros alle Klagemöglichkeiten abzuschneiden, wie es zum Teil hier vorgetragen und vorgeschlagen wurde. Schließlich leben
wir in einem Rechtsstaat, in dem auch der Rechtsschutz
ein hohes Gut ist.
Es gehört aber auch zur Lebenswirklichkeit, dass es
sich hier - anders, als es die Diskussion der letzten Monate vielleicht vermuten lässt - gar nicht um einen Konflikt „Alt gegen Jung“ handelt. Ich habe beim Besuch einer Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis erlebt, dass
die Kinder und die Senioren des benachbarten Seniorenheims seit vielen Jahren friedlich miteinander auskommen. Es hat dort sogar gegenseitige Besuche gegeben.
Das sind Projekte, die wir brauchen. Es geht hier nicht
um „Alt gegen Jung“, sondern darum, einen fairen Interessenausgleich zu schaffen.
({2})
Meine Damen und Herren, es wurde die Frage gestellt, warum wir nicht früher gehandelt haben. Ich darf
diese Frage gerne an die Kolleginnen und Kollegen der
SPD zurückgeben. Wer war denn der für den Umweltschutz und damit auch für den Lärmschutz verantwortliche Minister, als die Entscheidung zum Kindergarten
„Marienkäfer“ im Jahr 2005 fiel? Das war Sigmar
Gabriel.
({3})
Er hatte vier lange Jahre Zeit, um einzuschreiten. Ich
sage es Ihnen: Es wäre seine Pflicht, seine Aufgabe gewesen, hier einzuschreiten, und er hat es nicht getan.
Bitte sagen Sie mir nicht, die Union hätte ihn in der Großen Koalition daran gehindert, hier tätig zu werden.
Nein, hier hat der Umweltminister seine Hausaufgaben
schlicht und ergreifend nicht gemacht.
({4})
Wir werden unser Ziel, dass Kinder sowohl zu Hause
und in der Nähe der Wohnung als auch in einer Kindertagesstätte, die in der Nähe gelegen ist, spielen dürfen, mit
der Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes,
mit der Einführung des Toleranzgebotes, festschreiben.
Wir werden auch regeln, dass Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten grundsätzlich zulässig sein werden.
Wir kehren damit den Grundsatz um: Bisher ist es im
Bauplanungsrecht so, dass Kindertagesstätten in reinen
Wohngebieten grundsätzlich nicht zugelassen sind. Wir
werden das mit der Bauplanungsrechtsnovelle, die noch
in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ändern, um
damit den Bau von Kindertagesstätten auch in reinen
Wohngebieten zu ermöglichen. Wir wollen diese Regelung auf bestehende Bebauungspläne, in denen reine
Wohngebiete festgelegt sind, ausdehnen.
Die nächste Frage ist: Müssen wir das Nachbarschaftsrecht ändern, müssen wir an das Bürgerliche Gesetzbuch heran? Dazu ist zu sagen: Es gibt den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Wenn der
Gesetzgeber das Toleranzgebot an einer Stelle - nämlich
im Bundes-Immissionsschutzgesetz - prominent regelt,
dann strahlt das auch auf die anderen Rechtsgebiete aus.
Wir müssen an dieser Stelle aufmerksam verfolgen, was
passiert. Aber ich bin mir sicher, dass auch die Zivilgerichte dem Anliegen der Kinder Rechnung tragen werden.
Wir sind nicht blind und wissen, dass die Probleme
nicht mit dem Alter von 14 Jahren aufhören: Natürlich
müssen wir etwas für Jugendliche und Heranwachsende
tun. Die Koalitionsfraktionen haben gestern einen Antrag in den Sport- und in den Verkehrsausschuss eingebracht: Wir werden prüfen, ob wir die 18. BImSchV, also
die Sportanlagenlärmschutzverordnung, ändern müssen,
um Bolzplätze besser zu berücksichtigen. Ergebnis der
Sachverständigenanhörung war aber auch, dass es einen
Unterschied macht, ob es sich um Lärm von Kindern
oder Lärm von Jugendlichen handelt. Er findet zum Beispiel zu anderen Zeiten statt; auch das wurde hier schon
gesagt. Außerdem kann ich einem über 14-Jährigen sicherlich zumuten, eine gewisse Strecke zurückzulegen,
um einen Bolzplatz zu erreichen. Das ist bei einem
Kleinkind anders. Diese Tatsachen muss man berücksichtigen.
Ich möchte noch kurz auf die Stellungnahme des
Bundesrates und die Anträge der anderen Fraktionen, die
uns vorliegen, eingehen. Der Bundesrat sagt aus meiner
Sicht zu Recht, dass man auch die Kindertagespflege berücksichtigen muss. Das sehen wir auch so. Allerdings
muss man berücksichtigen, dass infolge der Föderalismusreform der Bund diesen verhaltensbedingten Lärm,
wenn er in der eigenen Wohnung der Tagesmutter stattfindet, nicht regeln kann. Wir müssen schauen, ob die
Dinge über die Ausstrahlungswirkung zum Besseren gewendet werden können.
Zum SPD-Antrag. Er hat sich zum Teil erledigt. Die
schädlichen Umwelteinwirkungen haben wir ausdrücklich ausgenommen. Ein weiterer Teil erledigt sich durch
die Bauplanungsrechtsnovelle. Er ist unnötig, soweit es
um die BGB-Änderungen geht. Die vorgeschlagene Regelung der städtebaulichen Planung ist zwar wünschenswert, aber das ist eine ureigene Aufgabe der Kommunen.
Zu dem Antrag der Linken nur eine Bemerkung: Sie
fordern, dass auf Sportanlagen grundsätzlich 5 Dezibel
mehr Lärm gemacht werden darf. Das hört sich erst einmal nach wenig an. Wenn Sie aber genau hinschauen,
stellen Sie fest, dass die Erhöhung von 50 auf 55 Dezibel
- Sie wollen ja, dass diese höheren Werte nicht nur tagsüber, sondern auch nachts und am Wochenende, also in
Ruhezeiten, gelten - im Ohr desjenigen, der neben einer
solchen Anlage wohnt, wie eine Verdoppelung des
Lärms wirkt. Dieser Vorschlag löst keine Konflikte,
nein, er würde massive neue Konflikte in dieser Gesellschaft verursachen. Das wollen wir nicht.
({5})
Zu guter Letzt zum Vorschlag der Grünen: Auf ihn
trifft vieles zu, was ich zu dem Antrag der SPD gesagt
habe. Teilweise ist er erledigt, teilweise wird er noch erledigt, oder es ist nicht Aufgabe des Bundes, das zu regeln.
Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Wir wollen unseren Kindern
eine unbeschwerte Entwicklung ermöglichen. Dazu gehört, dass sie zu Hause und in einer Kindertagesstätte in
der Nähe der Wohnung spielen können. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der Gesetzentwurf der
Bundesregierung leisten dazu einen wichtigen Beitrag,
gerade in einer älter werdenden Gesellschaft.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe die Protokolle der Kinderkommission einmal herausgesucht. Ich bin bis 2006 zurückgegangen, um zu
schauen, wann wir angefangen haben, uns mit diesem
Thema zu beschäftigen. Mir war dabei egal, wer den
Vorsitz innehatte und wer Mitglied war. Im Jahr 2006
beschäftigte sich die Kinderkommission mit diesem
Thema. Im Jahr 2007 beschäftigte sie sich mehrmals damit wie auch in den Jahren 2008 und 2009. Wir haben
eine große Anhörung dazu durchgeführt und auch das
Ministerium immer wieder eingeladen.
Gerade ist gefragt worden: Warum habt ihr nichts gemacht? Meine Kolleginnen aus der Kinderkommission
werden bestätigen, dass uns vom Ministerium immer gesagt wurde: Eigentlich steht alles schon im Gesetz. Es
gab auch entsprechende Urteile. Das Gericht in Bayreuth
zum Beispiel hat eindeutig gesagt, dass Kinderlärm Lebensäußerung ist und nicht unter die TA Lärm fällt.
Manchmal haben wir in der Kinderkommission uns
gefragt - Frau Golze und die anderen Kolleginnen werden das bestätigen -: Wenn es so eindeutig ist, warum
funktioniert es dann nicht? Ich würde das darauf zurückführen, dass wir in der Bundesrepublik einen relativ hohen Anteil an funktionalem Analphabetismus haben,
({0})
das heißt, viele können das Gesetz einfach nicht lesen.
Sie formulieren das Gesetz jetzt so, dass auch diejenigen, die nicht so gut lesen und schreiben können, das
Gesetz verstehen können.
({1})
Ich bin immer dafür, dass Gesetze so formuliert werden,
dass jeder sie versteht und keine Möglichkeit der Interpretation besteht, damit sie nicht so oder so ausgelegt
werden können. Wir hatten gedacht, Juristen seien gut
ausgebildet und könnten lesen. Dem war leider nicht so.
Jetzt ist es endlich so weit, und das begrüße ich. Als ich
von der Presse danach gefragt wurde, habe ich gesagt:
Wunderbar, jetzt wird es klar, und zwar in jedem Bundesland und vor jedem Gericht.
({2})
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir nun
auch an die Umsetzung denken. Die UN-Kinderrechtskonvention regelt in Art. 31 das Recht des Kindes auf
Freizeit. Festgeschrieben ist das Recht des Kindes auf
Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung. Diese Konvention haben wir unterzeichnet und
ratifiziert; damit gilt sie auch für uns.
Der Begriff des Kindes umfasst nach der UN-Kinderrechtskonvention das Alter von 0 bis 18 Jahren. Der
Zeitraum bis zum 18. Lebensjahr muss also geregelt
werden. In Deutschland unterscheiden wir: Der Begriff
des Kindes gilt bis zum 14. Lebensjahr und der des Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Nach der Konvention müssen wir aber für die gesamte Gruppe Vorkehrungen treffen. Ich kann gut damit leben, dass Sie noch
etwas Zeit benötigen, um diese Regelungen umzusetzen.
Ich hoffe, Sie schaffen das.
({3})
- Doch, Sie schaffen das. Ich bin ja Pädagogin von Beruf, von daher habe ich die Hoffnung nie aufgegeben.
Wir werden doch noch etwas zustande bringen. Ich bin
ganz zuversichtlich, dass das klappt.
Wichtig ist folgender Punkt: Wir haben bereits ein
Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin steht, dass wir Jugendhilfeplanung machen müssen. Einer der Punkte der
Jugendhilfeplanung - das ist eine kommunale Aufgabe lautet, die Lebenswelt so zu gestalten, dass alle dort lebenden Menschen ihrem Ruhebedürfnis und ihrem Aktivitätsbedürfnis nachkommen können.
Leider wird weder die Planung noch die Umsetzung
so vorgenommen, wie wir es uns wünschen. Das gilt
auch noch 20 Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist. Es gibt immer noch viele Gemeinden, die nach
wie vor nicht so planen, dass alle Menschen gemäß ihren
Bedürfnissen leben können. Ich will es einmal deutlich
machen. Ich bin Kinderbeauftragte, und ich kämpfe für
Kinder. Wenn aber jemand, der in einer Wohnung wohnt,
die genau zur Garagengasse hin liegt, von der Nachtschicht kommt und schlafen möchte und dann ständig
ein Fußball gegen die Blechtore geschossen wird, dann
ist derjenige nicht mehr davon überzeugt, dass es sich
bei dem Lärm um Zukunftsmusik handelt, sondern er ist
furchtbar genervt, weil er nicht schlafen kann.
Man muss daher die Stadt- und Siedlungsplanung so
vornehmen, dass sich Kinder austoben und Menschen
ihrem Ruhebedürfnis nachgehen können. Das gilt sowohl für Ältere als auch für Jüngere. Auch Kinder haben
manchmal ein Ruhebedürfnis, sie wollen schlafen und
ihre Ruhe haben. Ich glaube, dass wir zu wenig darauf
achten, wie unsere Lebenswelt gestaltet wird. Hierzu
brauchen wir aber nicht schon wieder ein neues Gesetz.
Wichtig ist, dass die Gesetze, die bereits seit 20 Jahren in
Kraft sind, endlich umgesetzt werden. Katja Dörner hat
vorhin gesagt - und das finde ich wunderbar -: Diejenigen, die es betrifft, müssen beteiligt werden. Kinder sind
nämlich nicht per se rücksichtlos, und ältere Menschen
sind nicht per se kinderfeindlich.
({4})
Wir sind vielmehr kinderentwöhnt. Wir brauchen aber
das Zusammenwirken beider Gruppen. Künftige Stadtplanung und Siedlungsplanung müssen so aussehen, dass
die Interessen aller Gruppen gleichermaßen aufgenommen werden.
Bisher - das sage ich als jemand, der lange hierfür zuständig war - sah Siedlungsplanung so aus: Wie komme
ich schnell aus meinem Viertel hin zur Arbeit? Das ist
pendler- und nicht familienorientiert gedacht. Wir brauMarlene Rupprecht ({5})
chen Fußläufigkeit, Freiräume, Räume der Begegnung,
Räume für kleinere Kinder. Ein kleineres Kind geht
nicht auf den Bolzplatz; denn dort wird es vom Ball umgeschossen. Daher wird ein kleines Kind einen anderen
Spielbereich brauchen als ein großes.
Wenn wir nicht von vornherein einplanen, hierfür
Grundstücke freizuhalten, dann müssen wir uns nicht
wundern, wenn es zu Gerichtsverfahren und entsprechenden Urteilen kommt. Diese vermeiden wir jetzt
zwar, ich glaube aber, viel besser wäre es, direkt bei der
Planung die Belange aller zu berücksichtigen. Das heißt,
in den kommunalen Gremien müssen Männer und
Frauen sitzen, die Familien haben, weil die an solche Belange denken. Sie müssen diejenigen, die es betrifft, die
dort leben und wohnen, mit einbeziehen. Das ist eine
Grundvoraussetzung für eine gut funktionierende Gesellschaft. Das sehe ich aber leider noch nicht. Der Bundestag macht oft hervorragende Gesetze. Manchmal
frage ich aber: Warum haben wir diese Gesetze nur gemacht? Draußen interessiert sich doch keiner für diese
Gesetze. Gelegentlich erklären mir Beamte vor Ort: Frau
Rupprecht, was Sie in Berlin entscheiden, das interessiert mich gar nicht. - Ich kann Ihnen sagen, wer das
war. Es war ein Beamter, der eigentlich in die Wüste geschickt gehört.
Wir müssen darauf drängen, dass unsere Gesetze wie
Kinder behandelt werden. Die meisten sind keine Nestflüchter, sondern Nesthocker. Wir müssen auf sie aufpassen, bis sie allein wirken können. Wir müssen auf die
Wirkung auch dieses Gesetzes achten. Das heißt, wir
müssen überprüfen, ob es Anwendung findet. Dazu
brauchen wir eine Schulung derer, die das Gesetz umsetzen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck: Es gibt
viele Bildungs- und Fortbildungswillige, aber in diesem
Bereich besteht immer noch Nachholbedarf.
Vielleicht schaffen wir es, dass das, was in diesem
Gesetzentwurf steht, wirklich umgesetzt wird. In diesem
Sinne bin ich dankbar, dass er vorgelegt wurde und dass
die Situation jetzt klar ist. Ich hoffe, dass Sie die Vorschläge der Oppositionsfraktionen mit aufnehmen und
dass diese zu vernünftigen gemeinsamen Anträgen entwickelt werden. Das ist mein Anliegen an dieser Stelle.
Die Kraft, die wir für Auseinandersetzungen aufbringen,
brauchen wir dringender für die Lösung der Konflikte
und Probleme, die anstehen.
In diesem Sinne: Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Judith Skudelny von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal ist es richtig schön, wenn man Arbeit leistet und
diese am Ende auch gewürdigt wird. So hat Frau Vogt
vorhin erwähnt, dass das, was im Gesetzentwurf zu den
Bolzplätzen geschrieben wurde, richtig gut ist. Frau
Vogt, vielen Dank, das habe ich dort hineingeschrieben.
({0})
Die Frage ist: Ist dieser Konflikt neu, oder schwillt
ein bereits bestehender Konflikt gerade an? Wir müssen
nach den Ursachen suchen. Wir haben auf der einen
Seite den demografischen Wandel. Mehr ältere Menschen sind in Rente und somit zu Hause; die Rentenzeit
verlängert sich, da wir alle älter werden. Wir haben auf
der anderen Seite einen Wandel in den Familien. Frauen
bzw. beide Elternteile sind oft berufstätig. Daher müssen
die Kinderbetreuungszeiten ausgebaut werden. Der Regelkindergarten, den es vor 15, 20 Jahren gab, war von
9 bis 12 Uhr und von 15 bis 17 Uhr geöffnet. Die Betreuung in den Regelkindergärten heute fängt in den allermeisten Städten schon morgens um 7 Uhr an, geht bis
abends um 17, 18 Uhr und macht keine Mittagspause.
Das heißt, die Konfliktfelder nehmen zu.
Zudem haben wir ein anderes Umweltbewusstsein bezüglich des Flächenverbrauchs. Wir wollen unsere
Städte nicht mehr nach außen wachsen lassen, sondern
machen eine Verdichtung nach innen. Das heißt, Wohngebiete rücken immer näher an Sportanlagen, an Kinderspielplätze und an Kindertageseinrichtungen. Die Spannungsfelder werden schlicht und ergreifend mehr. Genau
dieses Mehr an Spannungsfeldern haben wir in den letzten Jahren an der Zahl der Klagen bemerkt. Das kommt
nicht von irgendwo. Ich glaube auch nicht, dass wir prinzipiell kinderfeindlicher geworden sind. Ich glaube einfach, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist.
Weil wir sehen, dass die Zahl der Reibungspunkte gewachsen ist und dass der gesellschaftliche Wandel nicht
aufhört, sondern weitergeht, sagen wir in der Koalition:
Kinder sind in der Gesellschaft erwünscht. Wir sehen die
Probleme. Wir positionieren uns hier eindeutig, und wir
möchten ein Zeichen für Kinder und für Eltern setzen.
({1})
Es gibt einen Unterschied zwischen Kinder- und Jugendlärm. Diesen kann ich, glaube ich, an einem kleinen
Beispiel deutlich machen. Ich fahre viel mit meinen beiden Kindern Zug - beide sind unter fünf Jahre alt -, zum
Beispiel von Berlin nach Stuttgart. Als ich einmal nach
fünfeinhalb Stunden Zugfahrt mit meinen beiden kleinen
Kindern in Stuttgart zur Hauptbetriebszeit während einer
Stuttgart-21-Demo ausgestiegen bin, kam mir der Lärm
am Bahnhof vergleichsweise leise vor. Das lag wohl daran, dass meine Tochter, wenn ich ihr zum Beispiel sage,
dass sie die gewünschte Schokolade nicht bekommt,
nicht anfängt, mit mir zu diskutieren, sondern mich anbrüllt. Mein Sohn hat einmal versucht, den Passagieren
in einem vorbeifahrenden Zug etwas zuzurufen.
Natürlich versuche ich, in so einer Situation zu intervenieren, aber ganz im Ernst: Die Kinder kommen
schneller auf die Schnapsideen, als ich intervenieren
kann. Genau das ist der Unterschied zwischen Kinder12676
und Jugendlärm. Mit Jugendlichen kann ich diskutieren.
Kinder kennen die Regeln nicht und können viele Regeln nicht einhalten.
({2})
Durch die Erziehung wollen wir die Kinder so weit bringen, dass sie die Regeln zumindest kennen. Jugendliche
wiederum suchen ihren Platz in der Gesellschaft. Ich
glaube, dass jeder Jugendliche weiß, was man darf und
was man nicht darf, aber ob er sich, ähnlich wie Erwachsene, daran hält, ist eine komplett andere Sache.
({3})
Sie müssen sich von den Erwachsenen ein Stück weit abgrenzen. Insofern ist es richtig, wenn sie sich zum Teil
anders verhalten.
Die Gleichsetzung von Kinder- und Jugendlärm halte
ich für falsch. Wir müssen überlegen, wie wir mit dem
Jugendlärm umgehen. Jugendliche brauchen einen angemessenen Platz in der Gesellschaft; dieser kann nicht am
Rand sein. Über Bolzplätze, Skate- und Basketballanlagen haben wir schon gesprochen; aber auch Jugendhäuser können nicht am Rande der Gemeinden stehen. Auf
diese Idee kommen leider viele Städte und Gemeinden.
Meine eigene Kommune hat ein Jugendhaus gebaut, das
außerhalb eines Gewerbegebiets lag. Man kann sich vorstellen, wie viele Jugendliche dort hingegangen sind.
Am Ende musste es „eingestampft“ werden.
Wir müssen überlegen: Wie sorgen wir für ein angemessenes Verhältnis? Da es immer wieder heißt: „Das ist
kein Problem“, möchte ich an dieser Stelle intervenieren.
Doch, das ist ein Problem. Der Umstand, dass es Ganztagsschulen gibt, führt dazu, dass sich die Freiräume der
Jugendlichen in die Abendstunden verlagern. Dann,
wenn die Erwachsenen nach ihrem Arbeitstag nach
Hause kommen und die Füße hochlegen wollen, fangen
die Jugendlichen an, ihre Freizeit zu gestalten. Ich sage
nicht, dass dieses Problem nur zulasten der Jugendlichen
gelöst werden kann. Ich sage nur, dass es sich um ein
Spannungsverhältnis handelt. Hier müssen wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Diese Lösungen dürfen
keine generelle Privilegierung sein. Sie müssen von Fall
zu Fall - je nachdem, ob es um eine Sportanlage, ein Jugendhaus, eine Abendveranstaltung oder eine Musikveranstaltung geht - unterschiedlich ausgestaltet werden. Es
ist unsere Aufgabe, diese unterschiedlichen Regelungen
unter einen Hut zu bringen.
Das wird nicht leicht werden, übrigens auch deshalb,
weil die Länder an dieser Stelle ein Mitspracherecht haben. Ich möchte die Opposition ganz herzlich einladen,
sich hier einzubringen. Wenn die Länder ein Mitspracherecht haben, bedeutet dies, dass wir mit den Ländern
eine einvernehmliche Regelung treffen müssen. Nach allem, was ich vonseiten der Länder gehört habe, wird das
nicht einfach so zu machen sein. Auch dies wird Diskussionen erfordern. Ich freue mich, dass Sie aufseiten der
Länder sicherlich gut mitarbeiten werden, damit wir zügig zu einer Lösung kommen.
({4})
Das wünsche ich uns und den Jugendlichen.
({5})
Frau Dörner, Sie haben die BauNVO angesprochen.
Ich habe schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema
deutlich gemacht, warum wir dieses Vorhaben 2012 in
Angriff nehmen: weil jede Änderung in diesem Gesetz
aufbewahrt werden muss. Wenn, wie Sie so schön gesagt
haben, jedes Mal, wenn wir einzelne Sätze ändern, die
komplette Auflage aufbewahrt werden muss, führt dies
zu einem unglaublichen Bürokratieaufwand, und das für
einen Bereich, der, ehrlich gesagt, nicht das größte Problem ist, wenn es um Kinderlärm geht. Wir werden dieses Thema im Rahmen der großen Novellierung 2012
mit behandeln. Das ist dafür der richtige Platz. Sie können darauf warten. Das wird auf jeden Fall geschehen.
({6})
Man sollte nicht denken, dass das Problem, das wir
im Moment haben, mit Gesetzen zu lösen ist. Ganz im
Ernst: Kein Elternteil fühlt sich wohl, wenn es weiß,
dass die Nachbarn eines Jugendhauses, eines Kindergartens oder eines Kinderspielplatzes, auch wenn sie nicht
mehr klagen können, die Einrichtung eigentlich nicht
mehr wollen. Wir sind in einer funktionierenden Gesellschaft darauf angewiesen, Toleranz zu üben. Die
wichtigste Grundlage ist ein respektvoller Umgang miteinander. „Respektvoll“ heißt, wir müssen erst einmal
anerkennen, dass auch der andere Bedürfnisse hat.
Wir müssen verstehen, dass Kinder auch kreischen.
Wir müssen verstehen, dass zum Kinderlärm nicht nur
das Juchzen von Kindern, sondern auch der An- und Abfahrtsverkehr der Eltern, die ihre Kinder zum Kindergarten bringen, gehört - wenig romantisch, aber genauso
zwingend. Wir müssen verstehen, dass Kinder und Jugendliche nicht nur akzeptiert werden müssen, wenn sie
klein und niedlich sind, sondern auch dann, wenn sie
Punkmusik hören, rotgefärbte Haare haben und vielleicht sogar noch Ohrringe tragen und tätowiert sind.
Wir müssen aber auch verstehen, dass manche Leute ein
erhöhtes Ruhebedürfnis haben. Erst mit diesem Verständnis können wir ein Niveau der Toleranz erreichen,
das es uns auch dann, wenn die Gesetze nicht mehr greifen, ermöglicht, gelassen mit einer Situation umzugehen
({7})
und etwas zu tun, was in letzter Zeit vielleicht etwas außer Mode gekommen ist, nämlich miteinander reden.
Wenn wir das schaffen, meine Damen und Herren, dann
befindet sich nicht nur die Koalition mit den Oppositionsparteien, sondern auch die ganze Gesellschaft auf
einem guten Weg. Das würde ich uns allen für die Zukunft wünschen.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon oft gesagt worden: Über
Jahre hinweg galt es in Teilen der Öffentlichkeit als völlig normal, dass Geräusche spielender Kinder als Lärm
im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes behandelt wurden. In Hamburg und anderen Städten bedeutete
dies, dass Kindertagesstätten aufgrund von Anwohnerklagen geschlossen werden konnten. In Wohngebieten
ist es keine Seltenheit, dass das Spielen auf den Grünflächen vor Häusern für Kinder verboten ist. Unsere Städte
bieten Kindern immer weniger Platz und Möglichkeiten
zum freien Spielen. Deshalb unterstützt meine Fraktion
den Entwurf eines Gesetzes zur Veränderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Künftig wird also klargestellt sein, dass Geräusche von Kindern nicht mit
Maschinenlärm gleichzusetzen sind. Das ist nur zu begrüßen.
({0})
Das kann aber eben nur ein erster Schritt sein. Für
mich als kinder- und jugendpolitische Sprecherin steht
fest: Auch das Fußballspiel oder das Inlineskaten von Jugendlichen sollte und dürfte nicht mit Maschinen- oder
Fluglärm gleichgestellt werden. Dass die Privilegierung
durch den vorliegenden Gesetzestext nur für Kinder bis
14 Jahre gelten soll, verstößt ein weiteres Mal - Frau
Rupprecht hat es gesagt - gegen die UN-Kinderrechtskonvention, die ausdrücklich bei Menschen bis zu
18 Jahren von Kindern spricht.
({1})
Demzufolge dürfte eine solche Unterscheidung gar nicht
gemacht werden; denn auch für 15-, 16- und 17-Jährige
gilt das Recht auf Spiel, Freizeit und Erholung.
({2})
Dieses offenkundige Ausklammern der Bedürfnisse
von jungen Menschen zwischen 14 und 18 Jahren passt
aber zum Handlungsmuster der verschiedenen Ministerien - leider auch dem des Familienministeriums. Das
Hauptaugenmerk liegt seit Jahren auf den kleinen Kindern, egal ob beim Kinderschutzgesetz, das wir hier ja
bald behandeln werden, bei familienfördernden Leistungen wie dem Elterngeld, das auch an kleine Kinder geknüpft ist, oder beim dringend notwendigen Ausbau der
Kindertagesbetreuung.
Aber Jugendpolitik? Ich frage Sie: Was passiert denn
hier noch? Jugendpolitik ist für Union und FDP nur noch
ein Bereich für minimale Projektförderung, aber noch
eher genau die Stelle, wo der Rotstift am stärksten angesetzt wird, und das darf nicht sein.
({3})
Auch die Kinder, für deren Recht auf Spiel Sie heute
werben, werden in einigen Jahren als Jugendliche vollkommen zu Recht ihr Recht auf Sport und Spiel und einen Platz dafür einfordern; denn auch zu ihrer Entfaltung
gehört, dass sie Orte und Plätze für sich haben. Das
Deutsche Kinderhilfswerk fordert darum zu Recht - ich
zitiere -:
Mit der Bereitstellung von pädagogischen Orten
wie Spielplätzen oder Schulhöfen ist es allein nicht
getan. Es geht um die ganzheitliche Entwicklung
der Städte und Gemeinden, in denen sich Kinder
und Jugendliche wohl fühlen und in denen generationenübergreifendes Leben stattfindet.
Für mich bedeutet das, dass es dringend gesellschaftlicher und rechtlicher Veränderungen im Status von Kindern und Jugendlichen bedarf.
Der Umweg über das Bundes-Immissionsschutzgesetz hat nicht zuletzt deshalb so lange gedauert, weil sich
die derzeitige Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen weiterhin massiv dagegen wehren, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Durch das
Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung und die
Verpflichtung zur Schaffung von kindgerechten Lebensbedingungen im Grundgesetz wäre diese Debatte deutlich vereinfacht und verkürzt worden.
({4})
Ich fordere Sie deshalb auf, auch in diesem Punkt endlich einen Schritt nach vorne zu gehen und Mut zu beweisen.
Frau Skudelny, Sie haben es ja angesprochen: Auch
mir ist durchaus bewusst, dass die Länderkompetenzen
beim Lärmschutz und bei der Umsetzung von Baunutzungsverordnungen berücksichtigt werden müssen.
Umso erfreulicher ist es, einmal ein gutes Beispiel nennen zu können. In Berlin gilt seit dem Jahr 2010: Geräusche, die von Kindern verursacht werden, sind auch juristisch als sozial adäquat und damit zumutbar zu
beurteilen. Berlin war damit das erste Bundesland, in
dem eine solche Privilegierung auch gesetzlich verankert
wurde. Nur nebenbei sei erwähnt, dass in Berlin auch
Kinderrechte in der Verfassung stehen.
({5})
Ich komme zum Schluss. Das OVG Münster sagt
- ich zitiere noch einmal -:
Wer Kinderlärm als lästig empfindet, hat selbst eine
falsche Einstellung zu Kindern …
Ich finde, dem ist nicht viel hinzuzufügen. Wir gehen einen ersten Schritt in die richtige Richtung - immerhin.
Vielen Dank.
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Josef Göppel von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Golze, die Opposition würde glaubwürdiger, wenn
sie dort angreifen würde, wo wirkliche Schwachpunkte
vorliegen. Nach dem ersten Urteil von vor sechs Jahren,
aus dem Jahr 2005, hat die schwarz-gelbe Koalition die
Sache jetzt geregelt. Ich fände es gut und auch angemessen, wenn Sie hier sagten: Das ist jetzt ein echter Fortschritt.
({0})
- Das habe ich am Schluss leider nicht mehr gehört.
({1})
- Gut, dann stimmen Sie doch sicher mit.
({2})
- Wunderbar.
({3})
Frau Rupprecht, Ihre Rede hat mir gefallen, weil sie
auf Gemeinsamkeit angelegt war. Übrigens habe ich
mich gefragt, Frau Rupprecht, was mich dazu befähigt,
hier zum Thema Kinderlärm zu reden. Dann ist mir eingefallen, dass ich vier Töchter und eine Enkeltochter
habe und in froher Erwartung weiterer Enkelkinder bin.
({4})
- Genau. - Es ist wichtig, diese Dinge aus der Praxis heraus zu beurteilen.
Es hat zwar lange genug gedauert, aber inzwischen
haben Minister Röttgen und das Ministerium für Umwelt
gehandelt und das Bundes-Immissionsschutzgesetz jetzt
so deutlich gefasst, dass kein Richter in Deutschland es
mehr falsch lesen und auslegen kann. Das ist der entscheidende Punkt.
({5})
Deswegen denke ich, dass wir für die Kinder einen echten Fortschritt bewirken.
Die Beschränkung auf unter 14-Jährige ist eine juristische Grenze, und Grenzen bergen immer Probleme.
Man muss aber auch darauf hinweisen, dass zum Beispiel ein 17-jähriger Jugendlicher, der mit einem Moped
mit aufgebohrtem Auspuff herumfährt, von diesen neuen
Vorschriften nicht Gebrauch machen kann, was sicherlich auch in Ihrem Interesse ist. Deswegen ist eine bestimmte Differenzierung sehr wohl sachgerecht und
richtig. Ich denke, dass dieses Gesetz insgesamt für die
Kinder und Familien in Deutschland einen echten Fortschritt bringen wird.
Ich möchte noch einmal auf meine vier Töchter zu
sprechen kommen und im Hinblick auf Ihre nachdenkenswerte Rede, Frau Kollegin Rupprecht sagen: Der
Mobilitätsdruck, der mit unserem Wirtschaftssystem
verbunden ist, erschwert den tüchtigen jungen Leute in
vielen Fällen die Familiengründung und das Kinderkriegen. Damit sind Fragen verbunden, die weit über die
Tolerierung von Lärm und die Planung von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen hinausgehen. Es
ist eine bleibende Aufgabe, die Gesellschaft und Arbeitswelt so zu gestalten, dass Kinderwunsch und Familiengründung weiter möglich sind. Diese Aufgabe sehe
ich als weit wichtiger an als die bestehende gesetzliche
Regelung.
Wir sind aber auf einem guten Weg. Ich bedanke mich
schon jetzt für die Zustimmung der Opposition zu diesem Gesetzentwurf.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bun-
desregierung sowie den Fraktionen der CDU/CSU und
FDP eingebrachten Entwürfe eines Zehnten Gesetzes zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Pri-
vilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kin-
derspielplätzen ausgehenden Kinderlärms.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5957, die ge-
nannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung auf
Drucksache 17/5709 sowie der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP auf Drucksache 17/4836 zusammenzu-
führen und unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/5957 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/881 mit dem Titel „Kin-
derlärm - Kein Grund zur Klage“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen ge-
gen die Stimmen der SPD und der Linken bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
sache 17/1742 mit dem Titel „Für eine immissions- und
baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/2925 mit dem Titel „Vorrang für Kinder - Auch
beim Lärmschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana
Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
({0})
- Drucksache 17/3546 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 17/5298 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rente ab 67 vollständig zurücknehmen
- Drucksachen 17/2935, 17/5298 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({4})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben
nutzen - Arbeitsbedingungen verbessern Rentenzugang flexibilisieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen
- Drucksachen 17/3995, 17/4046, 17/5297 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({6})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffnet die Aussprache und erteile als erstem
Redner das Wort dem Kollegen Karl Schiewerling von
der CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die umlagefinanzierte Rente
in Deutschland ist für Millionen Menschen eine zuverlässige Alterssicherung. Die umlagefinanzierte Rente
wurde von vielen Seiten angegriffen. Sie wurde totgeredet und als überflüssig angesehen. Man glaubte, sie
durch andere Modelle ersetzen zu können. Spätestens
seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir - das
hat hoffentlich auch der Letzte begriffen -, dass die umlagefinanzierte Rente ein Stabilitätsfaktor in Deutschland ist und Millionen Menschen ein geregeltes Einkommen zum richtigen Zeitpunkt gewährt.
({0})
Das System der umlagefinanzierten Rente wird nur
funktionieren, wenn wir keinen der Partner, die daran
beteiligt sind, überfordern: die junge Generation nicht,
die in Zukunft auf die gesetzliche Rente angewiesen ist
und in die Rentenkasse einzahlt, die jetzige Generation
nicht, die die Rente erwirtschaften muss, und die Generation der Rentnerinnen und Rentner nicht, die heute auf
die Rente angewiesen sind. Es ist deswegen notwendig,
die Rente stabil zu halten. Innerhalb der gesetzlichen
Rentenversicherung gibt es aber relativ wenige Stellschrauben, die wir nutzen können, um dies zu gewährleisten.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen - und zwar freudig -,
dass sich seit 1960 die Rentenlaufzeit von 9,9 Jahren auf
nun 19 Jahre verlängert hat. Das heißt, Menschen, die
damals in Rente gingen, hatten gerade neun Jahre bzw.
maximal zehn Jahre etwas von ihrer Rente, während
Menschen, die heute in Rente gehen, 19 Jahre etwas von
ihrer Rente haben. Die Rente ist nicht geringer geworden; sie wird über einen längeren Zeitraum gezahlt. Es
ist aber notwendig, die gute Entwicklung der höheren
Lebenserwartung so zu berücksichtigen, dass sichergestellt ist, dass man im Alter zuverlässig eine Rente bekommt.
({1})
Wir haben nur wenige Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist, den Rentenbeitrag zu erhöhen. Das heißt, die
Lohnnebenkosten steigen, und die Nettoeinkommen der
Arbeitnehmer werden belastet. Die zweite Möglichkeit
ist, das Rentenniveau abzusenken. Das lässt sich nicht
beliebig machen; denn es darf nicht passieren, dass man
am 30. eines jeden Monats so wenig Rente überwiesen
bekommt, dass man davon noch nicht einmal seine
Miete bezahlen kann. Die dritte Möglichkeit ist, die Rentenlaufzeit zu verkürzen. Das heißt, dass die Menschen
- weil sie länger leben - länger arbeiten und auch länger
in die Rentenkasse einzahlen müssen. Die vierte Möglichkeit ist, den Bundeszuschuss zu erhöhen. Dieser beträgt heute schon 80 Milliarden Euro und ist der größte
Posten im Etat der Bundesarbeitsministerin.
Ich glaube nicht, dass das alles weiterhin beliebig
nach oben dehnbar ist. Deswegen gibt es aus unserer
Sicht zu der Verkürzung der Rentenlaufzeit bzw. der
Verlängerung der Lebensarbeitszeit keine Alternative.
Die Entscheidung, die wir in der Großen Koalition gemeinsam getroffen haben, war richtig. Wir sollten dazu
stehen und keine Zweifel daran aufkommen lassen.
({2})
Natürlich muss dann auch jemand bis 67 Jahre arbeiten können. Deswegen müssen die Rahmenbedingungen
in der Wirtschaft und dort, wo die Menschen tätig sind,
entsprechend gestaltet werden. Es ist nicht so, als hätte
der Staat in dieser Frage keine Initiativen ergriffen und
die Wirtschaft noch nicht begriffen, dass sie selbst vor
diesen Fragen steht und diese selbst beantworten muss.
Deswegen ist es gut, dass mittlerweile innerhalb der
Wirtschaft ein Entwicklungsprozess eingetreten ist. Dieser hat in vielen großen Betrieben begonnen, und auch
die kleinen und mittleren Betriebe sind dabei, sich darauf einzustellen. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wissen sie, dass die Menschen länger
arbeiten müssen und dass sie als Betriebe immer mehr
auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sind. Wir müssen
ihnen helfen, dass das auch möglich ist.
({3})
Die Bundesregierung hat hierzu zahlreiche Initiativen ergriffen. Ich bin sicher, dass diese Initiativen greifen werden.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Das, was vor kurzem der
Rat der Wirtschaftsweisen auf den Tisch gelegt hat,
nämlich dass man ab 2060 bis 69 Jahre arbeiten soll,
halte ich schlechterdings für Kaffeesatzleserei und in der
jetzigen Situation für völlig kontraproduktiv und für
überhaupt nicht hilfreich; denn die Rente mit 67 Jahren
hat ja noch gar nicht begonnen.
({4})
Der erste Jahrgang hat damit noch gar nicht angefangen.
2012 werden die ersten Rentenjahrgänge einen Monat
über ihr 65. Lebensjahr hinaus arbeiten müssen. Sie werden also mit 65 Jahren und einem Monat in Rente gehen.
Erst 2029 wird der erste Jahrgang bis 67 Jahre arbeiten
müssen. Ich finde es notwendig, dies in dieser Klarheit
der Bevölkerung zu sagen und daran auch nicht zu deuteln; denn Rentenpolitik ist kein Bereich, in dem man
sich parteipolitische Auseinandersetzungen beliebig lang
erlauben kann, weil die Menschen wissen müssen, worauf sie sich einlassen,
({5})
weil es um ihre Zukunft im Alter geht, weil es um ihre
Sicherheiten geht. Sie müssen Klarheit in dieser Angelegenheit haben.
({6})
Dass wir in dieser Frage nicht auf dem falschen Weg
sind, stellt nicht zuletzt das Gutachten des Sozialbeirates
fest, in dem sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaftsvertreter und andere aus der Sozialwissenschaft kommende Persönlichkeiten deutlich sagen, dass
dieser Weg gangbar, sinnvoll und notwendig ist, um den
Menschen Sicherheit und für die Rente Planbarkeit zu
geben und um die umlagefinanzierte Rente als generationsübergreifendes Solidarprinzip in unserer Gesellschaft zu erhalten. Unsere Aufgabe besteht darin, den
Menschen zu sagen, dass es sich lohnt, sich dafür einzusetzen, weil wir über diesen Weg Alterseinkünfte und
Alterssicherung organisieren können.
Das ist die Position unserer Fraktion. Daran lassen
wir nicht deuteln. Ich würde mich sehr freuen, wenn
auch vonseiten des früheren Koalitionspartners, der
SPD, an dieser Frage nicht gedeutelt würde. Wir haben
dies zusammen beschlossen, und das war der richtige
Weg.
Herzlichen Dank.
({7})
Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Karl Schiewerling, in der Tat können im nächsten
Jahr die Menschen erst mit 65 Jahren und einem Monat
in Rente gehen, aber nur diejenigen, die es bis 65 Jahre
schaffen. Diejenigen, die es nicht bis 65 Jahre schaffen,
({0})
werden auch nicht einen Monat länger arbeiten, weil sie
arbeitslos sind, weil sie aus den Betrieben herausgedrängt worden sind, weil sie keine Beschäftigungschancen haben.
({1})
Nicht diejenigen, die mit 65 Jahren Arbeit haben, sondern diejenigen, die mit 65 Jahren keine Arbeit haben,
sind das Problem. Das ist der entscheidende Punkt, der
von dieser Koalition immer ignoriert wird.
Karl Schiewerling, wir stehen zu diesem Gesetz, aber
in seiner Gänze. In dem Gesetz steht, dass die Regierung
im Jahre 2010 verpflichtet ist, zu überprüfen, wie die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Situation der Älteren ist
und ob es vor dem Hintergrund geboten ist, die Rente
mit 67 Jahren ab 2012 einzuführen. In Anbetracht der
Realitäten kommen wir zu einem anderen Schluss als
Sie: 27 Prozent der über 60-Jährigen sind in Beschäftigung. Das heißt im Klartext: Die übergroße Mehrheit der
Menschen über 60 Jahre ist nicht in Beschäftigung, und
sie kommt auch nicht bis 65 Jahre und einen Monat in
Beschäftigung. Das ist die Realität.
Die Realität ist, Karl Schiewerling, dass das Ifo-Institut eine Untersuchung bei 1 000 Betrieben gemacht und
gefragt hat: Wie ist das denn mit der längeren Bindung
der Älteren an euer Unternehmen? - 72 Prozent der Unternehmen haben gesagt, dass sie grundsätzlich keine
längere Bindung der Älteren an ihr Unternehmen haben
wollen. 72 Prozent!
Gestern hat der, wie ich fand, bemerkenswerterweise
sehr offen debattierende Chef der Bundesagentur uns
von einer Reise erzählt, die er zu Unternehmen in Baden-Württemberg gemacht hat. Jetzt reden wir über ein
Land, wo die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist. In den
Unternehmen hat er die Unternehmer auf die Einstellung
von über 60-Jährigen angesprochen. Fast alle Unternehmen haben ihm geantwortet: Wir stellen keine über
60-Jährigen ein. - Das ist die Realität in diesem Land.
Sie wollen den Druck auf die Arbeitgeber erhöhen,
die Menschen länger zu beschäftigen, und die Realität
ist: Der Druck wird schlicht an die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer weitergegeben. Sie werden Rentenkürzungen hinnehmen müssen.
({2})
Das ist das, was Sie völlig ignorieren.
Wenn jemand, weil er in den sozialen Sicherungssystemen ist, zum Beispiel im Arbeitslosengeld-II-Bezug,
vorzeitig die Rente beantragen muss - das muss er oder
sie mit 63 -, dann hat er oder sie im nächsten Jahr
0,3 Prozent Rentenabschläge zusätzlich hinzunehmen,
und zwar dauerhaft, für immer. Das nehmen Sie schlichtweg in Kauf.
Das hat nichts damit zu tun, ob man grundsätzlich der
Meinung ist, man müsse ein höheres Renteneintrittsalter
einführen. Wir sagen: Die Voraussetzungen dafür, es
jetzt einzuführen, sind schlichtweg gesellschaftlich nicht
gegeben. - Das ist genau das, was Sie ignorieren.
Deswegen sagen wir auch nicht: „Wir machen die
Rente mit 67 gar nicht“, sondern wir sagen: Die Einführung muss verschoben werden, weil die arbeitsmarktund sozialpolitische Situation - das zu überprüfen, ist ja
ein Teil dessen, was im Gesetz verankert ist - es zurzeit
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schlichtweg nicht hergibt.
({3})
Wenn wir die Einführung der Rente mit 67 verschieben würden, wäre das sozusagen beitragsneutral, weil
wir maximal Vorfinanzierungskosten hätten. Aber was
machen Sie? Sie halten einfach stur daran fest - das ist
übrigens auch ein Problem bei dem Grünen-Antrag -, zu
sagen: Wir machen es ab 2012. - Tatsächlich aber haben
die, die in Zwangsrente gehen müssen, keine Chance.
Sie werden mehr Abschläge hinnehmen müssen. Das
nehmen Sie mit Ihrem Antrag in Kauf.
({4})
Wir sagen: Wir müssen das verschieben, um die Realitäten im Land auch tatsächlich zu verändern. Wir
brauchen eine höhere Beschäftigungsquote. Wir brauchen mehr Chancen. Wir brauchen vor allen Dingen endlich auch Ihrerseits eine Antwort darauf, was wir denn
mit denen machen, die schon heute nicht bis 65 arbeiten
können und später auch nicht bis 67, weil sie aufgrund
ihrer Arbeit kaputt sind. Was machen wir mit diesen
Menschen? Sie muten ihnen einfach mehr Rentenabschläge zu. Zur Erwerbsminderungsrente haben Sie
überhaupt keine Antwort und lassen die Menschen, die
aufgrund ihrer Arbeit kaputt sind, schlichtweg im Stich.
Das ist die Realität dieser Regierung und dieser Regierungskoalition.
Meine Damen und Herren, Sie haben angekündigt,
das Thema Altersarmut großartig in einer Regierungskommission zu bearbeiten. Mittlerweile soll es keine Regierungskommission mehr sein, sondern jetzt soll es eine
Expertenrunde werden. Ich hoffe, Sie sind noch dabei,
wenn die Ministerin Experten zusammenruft, um zu untersuchen, was man denn gegen Altersarmut machen
kann.
Wenn Sie so, wie es jetzt vorgesehen ist, an der Rente
mit 67 festhalten, werden Sie - das garantiere ich Ihnen
- das Problem der Altersarmut für einen ganz großen
Teil der Beschäftigten in diesem Land noch verschärfen,
({5})
vor allen Dingen für diejenigen, die erwerbsgemindert
sind. Liefern Sie an der Stelle endlich Antworten! Wo
sind Ihre Initiativen, tatsächlich die Beschäftigungsquote
Älterer dauerhaft zu erhöhen? Wo sind sie? Sie halten
stur am höheren Renteneintrittsalter fest. Ich sage Ihnen:
Sie verlagern den Druck, den Sie eigentlich auf die
Unternehmen ausüben wollten, auf die, die ihre Lebenssituation nicht ändern können, und das sind die über
60-Jährigen, die in diesem Land keine Arbeit haben.
({6})
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit November des letzten Jahres liegt der Bericht der
Bundesregierung nach § 154 Abs. 4 SGB VI zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre vor. Mir ist
nicht bekannt, Herr Kollege Schaaf, dass die darin aufgeführten Fakten - ich betone zunächst einmal: die Fakten - zur demografischen Entwicklung, zur Entwicklung
der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer von irgendwem ernsthaft infrage gestellt würden. Was mir auffällt, ist, dass die Fakten unterschiedlich interpretiert
und, wenn ich mir die Linke anschaue, teilweise sogar
ignoriert werden.
({0})
- Sie sagen, Herr Kollege Birkwald, in Ihrem Antrag,
die Lage am Arbeitsmarkt sei für ältere Arbeitnehmer
katastrophal. Das kann ich so nicht feststellen. Ich widerspreche dem sogar nachdrücklich und sage für unsere
Fraktion - ich denke, auch für die Koalition -: Die Arbeitsmarktsituation hat sich für ältere Menschen in den
letzten Jahren spürbar verbessert.
({1})
Das ist ein Faktum, und das wird natürlich auch von der
positiven wirtschaftlichen Entwicklung getragen, die sich
an 3,7 Prozent Wachstum im letzten Jahr und an 2,5 bis
3,x Prozent auch in diesem Jahr ablesen lässt. Dies trägt
insgesamt dazu bei, dass auch für ältere Menschen Beschäftigungschancen gehalten werden oder neu entstehen
und Perspektiven für diese Menschen begründet werden.
({2})
Was ich immer feststelle, wenn ich Ihre Anträge lese,
Herr Kollege Schaaf, Herr Kollege Birkwald, also von
SPD und Linken, ist: Diese Anträge beruhen aus unserer
Sicht auf einer falschen Sichtweise. Sie sind von der
Vorstellung geleitet, dass ein möglichst früher Renteneintritt erstrebenswert und sinnvoll sei. Ich sage: Wir
brauchen da einen Mentalitätswandel. Hier müssen Sie
sich in eine andere Richtung drehen und feststellen, dass
es auch noch andere Wahrheiten gibt. Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Zeit von heute, in der Elisabeth Niejahr einen, wie ich finde, sehr lesenswerten Artikel mit
dem Titel „Lasst uns länger arbeiten“ geschrieben hat.
({3})
Darin beschreibt sie Beispiele von Arbeitnehmern, die
an der Regelaltersgrenze stehen. Jeder fragt für sich individuell: Warum eigentlich müssen wir aufhören zu arbeiten? Sie sagen: Wir definieren uns über unsere Arbeit,
die Altersgrenze bevormundet uns, wir wollen das nicht. Das ist die andere Möglichkeit, auf den gleichen Sachverhalt zu schauen. Diese Perspektive sollte nach unserer Auffassung in Zukunft eine stärkere Rolle spielen.
({4})
Ich gönne jedem seinen Ruhestand; das ist gar nicht
der Punkt. Aber mir fällt ein Widerspruch auf: Wir Sozialpolitiker reden häufig von Teilhabe. Menschen mit
Behinderung sollen teilhaben, arme Menschen sollen
teilhaben, junge Menschen, Migranten, all diese Gruppen sollen mehr teilhaben. Aber bei der Diskussion über
ältere Menschen geht es meistens nur um die Finanzierung von Nichtteilhabe oder Nicht-mehr-Teilhabe, also
darum, wie man einen Ausstieg organisiert, wie man die
Menschen aus den Betrieben herausdrängt. Das ist ja oft
mit der Altersteilzeit passiert; verschließen wir doch
nicht davor die Augen, was in den Betrieben die Realität
war. Dies müssen wir überwinden, und deswegen brauchen wir den Perspektivwechsel. Ich sage noch einmal:
Viele Menschen wollen länger arbeiten. Aber sie wollen
- das ist aus unserer Sicht der entscheidende Knackpunkt - flexibel den Zeitpunkt ihres Ausstiegs selbst bestimmen, gegebenenfalls auch schrittweise über Teilrentenlösungen.
Viele Arbeitgeber - das ist die andere Seite des Arbeitsmarktes - erkennen zunehmend, dass ältere Arbeitnehmer wichtig sind. Aber mich hat gestern genauso wie
Sie, Herr Schaaf, der Bericht berührt und schockiert, den
Herr Weise über seine Betriebsbesuche abgegeben hat,
wonach sich Unternehmer beklagen, sie fänden keine
Facharbeiter, aber niemand im Kopf den Schalter umlegt
und darüber nachdenkt, einen 55-jährigen oder 60-jährigen Arbeitnehmer noch einmal zu beschäftigen. Das
müssen wir erreichen.
({5})
Das ist in vielen Fällen - ich habe gestern die Bundesarbeitsministerin auch in der Regierungsbefragung danach befragt - gar nicht einmal eine Frage des Geldes,
das man dafür in die Hand nehmen muss, sondern hier
ist wirklich ein Mentalitätswechsel in den Köpfen, ein
Paradigmenwechsel gefordert. In den letzten Jahren und
Jahrzehnten waren viele Unternehmer und leitende Angestellte in den Unternehmen stolz darauf, wenn sie eine
möglichst junge Belegschaft hatten. Wir müssen dahin
kommen, dass es eine Auszeichnung für einen Betrieb
ist, wenn sich in der Belegschaft auch noch viele ältere
Arbeitnehmer finden. Die Mischung aus Jungen und Alten, aus Erfahrung und Neugier und neuen Bestrebungen
im Arbeitsmarkt kann ein Erfolgsmodell für Unternehmen sein. Ich wünsche mir, dass es Schule macht.
In diesem Sinne empfinde ich Ihre Anträge als rückwärtsgewandt. Denken Sie mit uns nach vorne! Flexible
Übergänge und eigene Entscheidungen der Arbeitnehmer müssen das Gebot der Stunde sein. Dafür kämpfen
und arbeiten wir.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Perspektive der Linken ist die der Beschäftigten und der Betroffenen. Deswegen sage ich: Die
Rente erst ab 67 muss weg, ohne Wenn und Aber.
({0})
Das ist der Kern unseres Antrags, über den wir hier
heute diskutieren, und das ist auch das Ziel des Gesetzentwurfs, den die Linke vorgelegt hat. Seit vergangener
Woche redet die Bundesregierung nicht mehr nur über
die Rente erst ab 67;
({1})
vielmehr diskutiert Schwarz-Gelb ernsthaft den völlig
unsäglichen Vorschlag der sogenannten Wirtschaftsweisen, die Rente erst ab 68 oder gar ab 69 einzuführen.
Doch ein höheres gesetzliches Rentenalter bedeutet für
die Friseurin oder den Gerüstbauer und die meisten Beschäftigten nicht mehr Lebensarbeitszeit oder gar mehr
Rente. Die Rente erst ab 67, von der Rente erst ab 69
ganz zu schweigen, bedeutet für die Menschen deutlich
weniger Rente. Das ist die bittere Konsequenz, und genau das will die Linke verhindern.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzlerin
Merkel hat auf der Pressekonferenz zum Demografiegutachten des Sachverständigenrates die Frage aufgeworfen
- ich zitiere -, wie wir die reale Arbeitszeit dem gesetzlichen Renteneintrittsalter besser annähern und Chancen
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen können. Zitat Ende. Das ist doch vollkommen verquer. Erst basteln Sie wirklichkeitsfremde Gesetze, und
dann verlangen Sie unter Androhung drastischer Rentenkürzungen von den Menschen, dass sie sich diesen weltfremden Gesetzen anpassen müssen. Umgekehrt wird
ein Schuh daraus: Die Gesetze müssen realitätstauglich
sein. Aber genau das ist die Rente erst mit 67 ganz und
gar nicht. Deswegen muss sie weg!
({3})
Denn bereits heute klafft eine riesige Lücke zwischen
dem tatsächlichen Rentenbeginn und dem gesetzlich
vorgeschriebenen Rentenalter. Heute halten sich die
Menschen im Durchschnitt bis gut 63 am Arbeitsmarkt.
Sie schaffen es gar nicht bis zu ihrem 65. Geburtstag,
wie vom Gesetz vorgesehen. Kollege Schaaf ist darauf
bereits eingegangen.
Die Wirklichkeit am Arbeitsmarkt sieht so aus: Wenn
Sie 55 sind, Herr Kolb, haben Sie es ausgesprochen
schwer
({4})
- ja, ich weiß das -, einen neuen Job zu finden. Mit über
60 ist das nahezu unmöglich.
Die Fakten: 1 Million Arbeitslose sind älter als 50.
Das hat der Bundesagenturchef gestern noch einmal gesagt. Bei den Erwerbslosen über 55 hat es keinen Rückgang der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum vorigen Jahr
gegeben; dies zum Stichwort „Mentalitätswechsel“. Nur
jeder Fünfte zwischen 60 und 65 schafft den Sprung aus
der Arbeitslosigkeit in einen Job. Bei den 64-Jährigen
schaffen es nur 10 Prozent, und nur 9 Prozent der 64-jährigen Männer haben überhaupt noch einen sozialversicherten Vollzeitjob. Bei den Frauen sind es nicht einmal
magere 4 Prozent.
Gestern hat der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise - das ist schon ein paar
Mal gesagt worden -, im Ausschuss für Arbeit und Soziales wörtlich gesagt:
Niemand stellt 60-Jährige ein.
Das ist leider die traurige Wahrheit, und darum ist die
Rente erst ab 67 eine riesige soziale Schweinerei sondergleichen.
({5})
Meine Damen und Herren, die Bundesarbeitsministerin Frau von der Leyen behauptet immer, dass den Beschäftigten ohne die Rente erst ab 67 eine drastische Beitragserhöhung drohe. Das ist komplett falsch. Von
drastischen Beitragserhöhungen kann überhaupt nicht
die Rede sein. Frau von der Leyen will durch die Rente
erst ab 67 verhindern, dass der Beitrag bis 2030 um einen halben Prozentpunkt steigt. Das sind bei einem
Durchschnittsverdienst nicht einmal 7 Euro.
Drastisch ist etwas ganz anderes, dass nämlich den
Menschen die Rente gekürzt wird, weil sie sich nicht bis
65, geschweige denn bis 67 am Arbeitsmarkt halten können, sei es aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie
eben keine bezahlte Arbeit mehr haben. Jeder Monat,
den sie vor dem gesetzlichen Rentenalter in Rente gehen, führt zu Rentenkürzungen. So sieht es aus. Diese
Kürzungen allerdings sind drastisch, und das ist der absolut falsche Weg.
({6})
Von den Beschäftigten, die 2009 neu in Rente gingen,
müssen mehr als 55 Prozent Abschläge in Kauf nehmen,
im Schnitt 102 Euro, und dies bis zum Lebensende. Für
über 70 Prozent der Chemiearbeiterinnen, der Bergleute
und der Elektriker bedeutet das, dass ihnen die Rente gekürzt wird, nur weil sie es nicht schaffen, bis 65 zu arbeiten. Hier werden also Leute für etwas bestraft, was sie
nicht verschuldet haben und was sie auch ganz und gar
nicht selbst ändern können. Und dann soll die Rente erst
ab 67 kommen? Nein!
({7})
Das wird von den meisten als eine Riesensauerei empfunden, zu Recht.
Meine Damen und Herren, immer weniger Menschen
produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr. Das
wissen wir alle. Als Bismarck die Rentenversicherung
einführte, brauchte es 13 Menschen im erwerbsfähigen
Alter, um eine Rentnerin oder einen Rentner zu finanzieren. Heute reichen gut drei, und in 20 Jahren werden es
etwas mehr als zwei sein. Also: Die steigende Arbeitsproduktivität und das Wirtschaftswachstum sind viel
wichtiger für die Finanzierbarkeit der Renten als der demografische Wandel.
({8})
Ich sage Ihnen: Auch deshalb ist es möglich, auf die
Rente erst ab 67 zu verzichten.
({9})
Wer jedoch den Niedriglohnsektor fördert und fordert, wer einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn
blockiert und wer demografische Entwicklungen als
Drohkulisse sät - das wird ja häufig gemacht -, wird vor
allem eines ernten, nämlich weitere Rentenkürzungen,
und er wird die Altersarmut für Millionen zur sozialen
Realität machen. Wer das nicht will, muss heute gegen
die Rente erst ab 67 stimmen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke ist ohne
Wenn und Aber gegen die Rente erst ab 67. Deswegen
fordern wir mit unserem Antrag, die Rente erst ab 67
vollständig zurückzunehmen. Hier im Parlament stehen
wir mit dieser Haltung allein da. In der Gesellschaft gehören wir jedoch zur großen Mehrheit all derer, die die
Rente erst ab 67 ablehnen.
({11})
Alle Gewerkschaften, Herr Schiewerling, und alle wichtigen Sozialverbände sind ebenso gegen die Rente erst
ab 67 wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Es wird
Zeit, dass diese demokratische Mehrheit auch hier in
diesem Hause endlich Gehör findet.
({12})
Ich komme zum Schluss: CDU, CSU, FDP, SPD und
die Grünen kämpfen - mit Abweichungen - für die
Rente erst ab 67. Aber auch aus Ihren Reihen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat es die eine oder andere nachdenkliche Stimme gegeben, ohne jedoch völlig von dem
Ziel der Rente erst ab 67 abrücken zu wollen. Wenn Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Kritik und Ihre Bedenken tatsächlich ernst meinen, dann nutzen Sie die
Chance, die Ihnen unser Gesetzentwurf bietet, und verschieben Sie wenigstens die Einführung um vier Jahre.
In dieser Denkpause könnten Ihre Bedenken dann - ganz
im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung - ernsthaft diskutiert werden. Ich bitte Sie eindringlich, nachdrücklich
und höflich: Nutzen Sie diese Chance!
({13})
Denn dann ginge der Kelch des Kürzungsprogramms namens Rente erst ab 67 zumindest an den 1947, 1948,
1949 und 1950 Geborenen vorbei. Die sollen nämlich
schon bald und nicht erst 2029 länger arbeiten oder weniger Rente erhalten.
Wenn Sie einmal dabei sind: Nehmen Sie die Bedenken der arbeitenden Menschen, der Sozialverbände und
aller Gewerkschaften ernst. Stimmen Sie auch unserem
Antrag zu! Sagen Sie Nein zur Rente erst ab 67!
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat Wolfgang Strengmann-Kuhn für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei wichtige Vorbemerkungen:
Erstens. Die Rente ab 67 wird es erst im Jahr 2031 geben. Wir fangen nächstes Jahr langsam damit an. Das zu
bedenken, ist wichtig.
({0})
Zweite wichtige Vorbemerkung. Die Rente mit 67
stellt keine Rentenkürzung dar. Das Gegenteil ist der
Fall.
({1})
Es ist nämlich so, dass durch die Rente mit 67 nicht nur
die Beiträge sinken, sondern - das hat die Rentenversicherung vorgerechnet - auch der Rentenwert wird infolge der Rente mit 67 steigen. Das heißt, die Rente mit
67 stellt keine Rentenkürzung dar, sondern eine Rentenerhöhung.
({2})
Diejenigen, die sich gegen die Rente mit 67 wehren
und sie wieder abschaffen wollen, sind die eigentlichen
Rentenkürzer. Sie sitzen insbesondere in der Fraktion
Die Linke.
({3})
Sie wollen eine Rentenkürzung, Sie wollen geringere
Renten im Jahr 2030 als die anderen Fraktionen hier im
Bundestag. Das ist die Wahrheit.
Wenn Sie das richtig rechnen - ich habe das beim
letzten Mal schon anhand des Kuchenbeispiels erklärt,
das ja auch Sie immer gerne heranziehen -, kommen Sie
zu dem Ergebnis: Es ist insgesamt mehr Rente zur Verfügung. Wenn mehr Leute länger arbeiten und es weniger
Rentner gibt, dann sind nämlich die Kuchenstücke im
Durchschnitt größer. Das heißt, es profitieren insbesondere die aktuellen Rentnerinnen und Rentner von der
Rente mit 67; sie werden eine höhere Rente haben, wenn
wir die Rente mit 67 einführen. Das fängt nächstes Jahr
an und steigt dann langsam bis 2031 an. So ist die Situation.
Alle Erwerbstätigen, die nach der vollständigen Einführung der Rente ab 67 im Jahr 2031 zwei Jahre länger
arbeiten können, profitieren gleich doppelt, und zwar
von dem höheren Rentenwert und den zusätzlichen Rentenansprüchen, die sie durch ihre längere Erwerbstätigkeit erwerben. Bei am Ende zwei Jahre längerer Erwerbstätigkeit sind dies nach heutiger Rechnung 55 Euro
mehr Rente im Monat. Selbst manche Arbeitslose, nämlich die, die Arbeitslosengeld I bekommen, erhalten eine
höhere Rente, weil auch im Rahmen des Bezuges von
Arbeitslosengeld I Rentenbeiträge gezahlt werden und
man damit entsprechend höhere Rentenansprüche erwirbt.
Trotzdem ist nicht alles rosig. Es liegen noch viele
Aufgaben vor uns. Wir sehen vor allen Dingen drei
Großbaustellen. Es gibt durch die Rente mit 67 zwar insgesamt eine Verbesserung, aber in der Tat gibt es auch
Menschen, die dadurch schlechter gestellt werden. Der
Kollege Schaaf hat dies vorhin schon erwähnt. Die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die zwangsverrentet werden, werden einen Rentenabschlag in Kauf nehmen müssen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Erwerbsminderung, für die sich die Altersgrenze für die abschlagsfreie Rente im Rahmen der Einführung der Rente mit 67
erhöhen wird. Für diese Gruppen kann man vor 2012
noch etwas tun. Handeln Sie von den Koalitionsfraktionen, und verhindern Sie, dass es im nächsten Jahr für
diese Personenkreise eine Rentenkürzung gibt.
Wir fordern, dass die Altersgrenze für die abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente nicht angehoben wird;
denn niemand bezieht freiwillig eine Erwerbsminderungsrente. Auch die Zwangsverrentung haben wir
schon immer kritisiert. Wir wollen, dass sie rückgängig
gemacht wird.
({4})
Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass
ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft durch
die Rente mit 67 Nachteile haben. Deswegen ist es für
uns besonders wichtig, dass wir mithilfe von flankierenden Maßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinem höheren Grundsicherungsbezug durch die Rente mit 67
kommt. Dies erreichen wir, indem wir die Menschen
durch eine Garantierente vor Altersarmut schützen. Dadurch ist sichergestellt, dass derjenige, der lange versichert war, eine Rente über dem Grundsicherungsniveau
erhält.
Sie haben die Einrichtung einer Altersarmutskommission versprochen. Das ist wieder verschoben worden. Es
gibt zum Thema „Bekämpfung der Altersarmut“ immer
noch keine Vorschläge von Ihnen. Wir schlagen, wie gesagt, eine Garantierente vor. Sie ist für uns ein wichtiges
Instrument, um Altersarmut zu verhindern. Durch die
Rente mit 67 würde die Altersarmut, wenn man nichts
unternehmen würde, für bestimmte Personengruppen
steigen. Die Garantierente ist also eine erste wichtige
Forderung von uns.
Zweiter Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass die
Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Auch
wenn es so ist, wie ich gesagt habe, dass auch Menschen
im Arbeitslosengeld-I-Bezug eine höhere Rente bekommen, ist es natürlich nicht in unserem Sinne, durch die
Anhebung der Regelaltersgrenze die Dauer der Lebensarbeitslosigkeit zu verlängern. Wir wollen vielmehr die
Dauer der Lebenserwerbstätigkeit verlängern. Da reicht
es übrigens nicht aus, wenn man nur alternsgerechte und
altersgerechte Arbeitsplätze schafft. Man muss schon bei
den Jungen anfangen und dafür sorgen, dass ihre Arbeitsplätze so ausgestaltet sind, dass sie tatsächlich länger am Erwerbsleben teilhaben können. Auch das ist
eine wichtige Forderung von uns.
Dritter Punkt. Beteiligung am Erwerbsleben ist auch
Teilhabe. Da gebe ich Herrn Kolb ausnahmsweise einmal recht.
({5})
Wir wollen es ermöglichen, dass die Menschen länger
am Erwerbsleben teilhaben können, ohne sich gesundheitlich kaputtzumachen. Wir wollen außerdem, dass es
einen fließenden Übergang in den Ruhestand gibt, und
zwar möglichst selbstbestimmt und sozial abgesichert,
damit sich den Ruhestand auch diejenigen leisten können, die nur wenig verdient haben.
Diese drei Punkte, also besserer Schutz gegen Altersarmut durch eine Garantierente, bessere Arbeitsmarktbedingungen sowie die Ermöglichung eines fließenden
Übergangs in den Ruhestand, sind wichtige flankierende
Maßnahmen, die wir alle gemeinsam auf den Weg bringen müssen.
2014 gibt es den nächsten Bericht zur Rente mit 67.
Wir müssen dann schauen, wie die tatsächliche Entwicklung verläuft, wer von der Rente mit 67 profitiert hat und
wer benachteiligt worden ist. Gegebenenfalls müssen
wir an den Stellschrauben drehen und nachbessern, um
Benachteiligungen zu beseitigen. Wir nehmen diese Berichtspflicht ernst und werden nach dem Vorliegen des
Berichts schauen, wie es weitergeht. Wir sind aber dagegen, die Rente mit 67 abzuschaffen; denn insgesamt gesehen wird damit die Rente auf eine sicherere Basis gestellt, und sie bleibt nachhaltig finanzierbar. Wir müssen
aber dafür sorgen, dass diejenigen, die durch die Rente
mit 67 benachteiligt werden, davor geschützt werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nachgeschaut, was in den letzten Tagen
und Wochen an Zeitungsüberschriften zu finden war. Ich
Peter Weiß ({0})
habe folgende gefunden: „Fachkräftemangel schon
heute“, „Globaler Arbeitsmarkt fast leergefegt“, „Uns
gehen die Arbeitskräfte aus“ oder „Fachkräfte verzweifelt gesucht“. Irgendwie passen die Anträge der Opposition nicht zu diesen Überschriften.
({1})
Der wesentliche Punkt ist: Anton Schaaf und auch Herr
Birkwald halten Reden, die man angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren hätte
halten können bzw. halten müssen. Sie passen aber nicht
zu dem, was in den nächsten 20 Jahren passieren wird.
Derzeit gibt es in Deutschland 44 Millionen Männer
und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Diese Zahl wird bis
zum Jahr 2050 auf 27 Millionen sinken. Man muss sich
fragen: Was machen wir dann?
({2})
Wie halten wir unseren Wohlstand? Wie erhalten wir die
Produktion in Deutschland aufrecht? Natürlich gibt es
die Möglichkeit, Menschen aus allen Ländern der Welt
nach Deutschland einzuladen, um hier zu arbeiten, und
unsere eigenen Arbeitnehmer mit 55 Jahren in den Vorruhestand zu schicken. Aber das ist doch keine Lösung.
Das ist volkswirtschaftlich unverantwortlich, und das ist,
wie ich finde, auch menschlich unverantwortlich. Wenn
die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, dann muss das zuallererst heißen: Für die Arbeitslosen und die Älteren in
Deutschland muss es Chancen auf dem Arbeitsmarkt geben. Sie sind unser eigentliches Fachkräftepotenzial.
({3})
Für die Wirtschaft bedeutet das, dass sie umlernen
muss. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn ein Unternehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über 60
nicht mehr beschäftigt und gleichzeitig bei der Politik
anklopft und fordert, wir sollten die Türen öffnen, um
Fachkräfte von außen hereinzulassen.
({4})
Nein, die Sache muss anders laufen. Es muss in deutschen Betrieben möglich sein, bis 65 bzw. 67 Jahre zu
arbeiten, bevor Fachkräfte von außen hereingeholt werden.
({5})
In den nächsten 20 Jahren geht es nicht um die Rente mit
65 oder mit 67. Vielmehr geht es um die Frage: Wird es
die deutsche Wirtschaft verstehen, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass das Arbeiten bis 67 möglich ist,
und zwar so, dass es einem Freude macht? Darum muss
es gehen.
({6})
Ein weiterer Punkt. Erfreulicherweise steigt die Lebenserwartung der Deutschen. Ein 60-jähriger Mann hat
heute im Schnitt noch 20 Jahre vor sich, fünf Jahre mehr
als die 60-Jährigen im Jahr 1960.
({7})
Bei den Frauen sind es sogar sechs Jahre mehr. Alle Prognosen besagen: Die Lebenserwartung steigt weiter. Ich
möchte Sie Folgendes fragen: Bei der Rente geht es um
ein Solidarsystem; es geht um Solidarität zwischen Jungen und Alten. Was ist daran zu kritisieren, wenn die
künftigen Rentnerinnen und Rentner, die die Chance haben, deutlich länger Rente zu beziehen als die früheren
und heutigen Rentnerinnen und Rentner, länger in die
Rentenversicherung einzahlen? Das derzeit geltende Gesetz sieht eine Regelaltersgrenze ab 67 ab dem Jahr 2029
vor. Das heißt, dass diejenigen, die im Jahr 2029 und
2030 in Rente gehen und zwei Jahre länger gearbeitet
haben als die heutigen Rentnerinnen und Rentner, trotzdem noch länger Rente beziehen werden als die heutigen
Rentnerinnen und Rentner. Das System der gesetzlichen
Rentenversicherung beruht auf Solidarität, und es ist solidarisch, dass man länger einzahlt, wenn man länger
Rente beziehen kann.
({8})
Das längere Arbeiten bleibt nicht ohne Effekt. Herr
Strengmann-Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen:
Länger in die Rentenkasse einzuzahlen, bedeutet auch,
dass man höhere Rentenleistungen erhält; es handelt sich
nicht um eine Rentenkürzung. Noch einmal: Die Rente
mit 67 ist kein Rentenkürzungsprogramm, sondern ein
Rentenerhöhungsprogramm. Das ist die richtige Darstellung.
({9})
Kürzlich haben uns die Wirtschaftsweisen in einem
Sondergutachten angesichts der Veränderungen im Altersaufbau der Gesellschaft, die zwangsläufig auf uns
zukommen, dringend dazu geraten, an der Erhöhung der
Regelaltersgrenze bei der Rente festzuhalten. Sie haben
gesagt, ohne die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters drohe ein dramatischer Anstieg der Staatsschulden mit massiven Lasten für künftige Generationen. Um es also klar und deutlich zu sagen: Die
Rechnung, die zwei Oppositionsfraktionen hier aufmachen, wird letztendlich für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Deutschland teurer und schmerzhafter
als all die Aspekte der Erhöhung der Regelaltersgrenze,
zu denen man Bedenken vortragen kann. Das ist die
Wahrheit, die Sie leider verschweigen und die uns die
Wirtschaftsweisen ins Stammbuch geschrieben haben.
Peter Weiß ({10})
Allerdings haben die Wirtschaftsweisen noch etwas
anderes gemacht: Sie haben versucht, eine Prognose für
die weitere Zukunft aufzustellen, und in diesem Zusammenhang eine weitere Erhöhung des Rentenalters vorgeschlagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich
glaube, zu solider Politik gehört, dass wir mit den Zahlen rechnen, die uns vorliegen: mit den Zahlen der bereits geborenen Kinder. Wir sollten keine Berechnungen
mit Zahlen zu Menschen durchführen, die es noch nicht
gibt, die noch gar nicht leben und in Zukunft geboren
werden könnten.
({11})
Deswegen muss ich klar und deutlich sagen: Es ist gut,
dass uns die Wirtschaftsweisen sagen, dass die Erhöhung
der Regelarbeitsgrenze notwendig und wichtig ist, um in
Zukunft den Wohlstand zu erhalten und die Kosten für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch höher zu treiben; aber sie sollten die Finger von Weissagungen lassen, die man - wenn man Weissagungen mag vielleicht von Damen mit einer Glaskugel bekommt. So
etwas sollte nicht in einem Gutachten der Wirtschaftsweisen stehen.
({12})
Herr Kollege Weiß, Sie wären dann zum Ende gekommen?
Jawohl, das tue ich.
Das ist gut.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe keinerlei Ansatzpunkte dafür, dass wir von der positiven
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abgehen sollten.
Vielmehr glaube ich, dass wir in 20 Jahren feststellen
werden, dass wir das Richtige für mehr Wohlstand und
mehr Rente der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland gemacht haben.
Vielen Dank.
({0})
Ottmar Schreiner hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema ist, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze
ab 2012 vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktsituation
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerechtfertigt ist; das ist der Kern der Auseinandersetzung.
Ich will zunächst einmal auf ein paar Vorredner eingehen. - Herr Kolb, Sie schauen so neugierig. Sie kommen
mit Sicherheit noch dran.
({0})
Zunächst einmal zu Herrn Schiewerling. Sie haben
die verschiedenen Stellschrauben bei der Rente genannt.
Das war alles schön und gut; man könnte Ihre Beschreibung der Stellschrauben unterschreiben. Dann haben Sie
gefragt: Wer wäre denn für Beitragssatzerhöhungen? Es ist völlig unstreitig, dass der Beitragssatz ohne die
Rente mit 67 in der Endphase maximal 0,5 Prozentpunkte höher wäre; das wird von niemandem bestritten.
({1})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie in der Bevölkerung abstimmen
ließen, ob sie bereit wäre, einen geringfügig höheren
Beitrag zu zahlen, oder sie für die Rente mit 67 ist, dann
könnte ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen, wie die
Abstimmung ausgeht.
({2})
- Herr Kolb, jetzt machen Sie den ersten Fehler in der
Debatte.
({3})
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb
zulassen, Herr Schreiner? - Sie möchten das? Verstehe
ich Sie da richtig?
Ja, bitte. Er muss zwar nicht, aber er soll.
Danke, Herr Kollege Schreiner, für die Zulassung der
Zwischenfrage. - Warum hat Franz Müntefering überhaupt den Vorschlag gemacht, dass die Regelaltersgrenze auf 67 erhöht werden soll, wenn das alles so easy
ist?
Ich schlage vor, ihn das selbst zu fragen.
({0})
Ich nehme an, es war ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen.
({1})
Ich war nicht dabei. Deshalb kann ich Ihnen da nicht mit
Details dienen. Wenn Sie an Einzelheiten interessiert
sind, würde ich Ihnen vorschlagen, sich an den Betreffenden selbst zu wenden. Ich glaube, das wäre sinnvoll.
({2})
Ich frage noch, ob eine Zwischenfrage von Herrn
Straubinger zugelassen wird.
Auf eine Frage von Herrn Straubinger habe ich schon
gewartet. Er wird schon ganz unruhig.
Bitte schön. Danach können wir fortfahren.
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie die Beitragssatzerhöhung um 0,5 Prozentpunkte als unproblematisch betrachten und sagen, dass das jeder hinnehmen würde,
frage ich mich, warum die SPD-Fraktion das mit der
vorgezogenen Abführung der Sozialversicherungsbeiträge zu rot-grüner Zeit anders gehandhabt hat. Das ist
schließlich nur zustande gekommen, weil der Rentenversicherungsbeitragssatz ansonsten um 0,5 Prozentpunkte
hätte angehoben werden müssen. Warum hat die SPDFraktion seinerzeit nicht für eine Anhebung um 0,5 Prozentpunkte gestimmt?
({0})
Das war gerechtfertigt, weil es eine unterschiedliche
Handhabung bei Arbeitgeberbeitrag und Arbeitnehmerbeitrag gab.
({0})
Im Übrigen war der Kern des Ganzen die Absenkung der
Lohnnebenkosten. Das ist ein Thema, über das wir lange
diskutieren können.
Zurück zu den Stellschrauben, die Herr Schiewerling
angesprochen hat.
({1})
- Man kann eine ganze Menge dazu sagen. Ich möchte
mich aber auf die Kernpunkte konzentrieren. - Herr
Schiewerling, Sie haben eine zentrale Stellschraube verschwiegen: Was müssten wir unternehmen, um denjenigen, die heute mit 63 Lebensjahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden - das ist der Durchschnitt -, eine
Erwerbsarbeit bis zum 65. Lebensjahr zu ermöglichen?
({2})
Das ist die entscheidende Stellschraube, um die es eigentlich geht. In diesem Zusammenhang müssten wir
nicht nur über die Arbeitgeber reden und sagen, dass wir
die Wirtschaftskapitäne in die Pflicht nehmen wollen
- auch das wäre erforderlich -, sondern wir müssten
dann auch darüber reden, welche politischen Maßnahmen in den nächsten Jahren notwendig oder sogar zwingend sind, um dieses Problem zu lösen.
({3})
Wenn alle Beschäftigten in Deutschland aufgrund der
Arbeitsbedingungen das 65. Lebensjahr gesund im Beruf
erreichen könnten, können Sie, glaube ich, mit jedem in
diesem Haus über die Sinnhaftigkeit einer Arbeitszeitverlängerung reden. Solange wir diese Situation aber
nicht haben und Millionen von Beschäftigten Angst vor
einer Arbeitszeitverlängerung haben, geht das nicht.
({4})
Herr Kolb hat Frau Niejahr zitiert, die einen Artikel in
der Zeit mit dem Titel „Lasst uns länger arbeiten!“ geschrieben hat.
({5})
Sie schreibt im Übrigen viele Artikel in der Zeit. Bei einer Redakteurin der Zeit kann ich mir vorstellen, dass sie
länger arbeiten könnte. Das ist gut möglich. Ich kann mir
das auch bei Hochschulprofessoren vorstellen. Ich
nehme Sie einmal mit in meinen Wahlkreis. Fragen Sie
dort einmal Krankenschwestern, die Nacht- und Schichtarbeit machen,
({6})
oder Arbeiter in der Stahl-, der Automobil- oder der
Chemieindustrie, die Wechselschicht machen, ob sie dieser Idee etwas abgewinnen können. Fragen Sie die einmal!
({7})
Die Menschen haben, je nach beruflichem Hintergrund,
völlig verschiedene Sichtweisen. Wir haben eine Reihe
von Berufen in Deutschland, bei denen ohne jedes Problem eine Arbeitszeitverlängerung möglich wäre. Im
Übrigen ist das auf freiwilliger Basis schon jetzt möglich.
({8})
Es gibt sogar Zuschläge.
({9})
Ein weiterer Punkt von Herrn Schiewerling war, dass
eine lange parteipolitische Auseinandersetzung über das
Thema Rente nicht wünschenswert ist. Da stimme ich
Ihnen ausdrücklich zu. Die Frage ist aber, warum die
Koalitionsfraktionen den Gesetzesvorbehalt, die sogeOttmar Schreiner
nannte Bestandsprüfungsklausel, nicht ernst nehmen.
Das ist die entscheidende Frage.
({10})
Sie nehmen sie nicht ernst. Diese Vorbehaltsklausel besagt nichts anderes, als dass die Bundesregierung von
2010 an alle vier Jahre darüber zu berichten hat, ob die
Beschäftigungsentwicklung und die Situation älterer Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt ein Festhalten an der Rente
mit 67 erlauben.
({11})
- Der Bericht ist so eindeutig und in Teilen manipulativ.
({12})
Das will ich Ihnen an zwei Punkten kurz belegen, Herr
Kolb, weil Sie von Fakten gesprochen haben. Sie können
hier über die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation Älterer reden, wie Sie wollen. Richtig ist, dass es teilweise
eine geringfügige Verbesserung der Arbeitsmarktsituation gibt. Das ist nicht zu bestreiten.
({13})
Das hängt mit der demografischen Entwicklung und dem
verschärften Druck, Arbeit anzunehmen, zusammen. Dafür gibt es also verschiedene Gründe. Der entscheidende
Punkt ist aber, dass sich die Situation der älteren Beschäftigten in puncto Arbeitslosigkeit im Großen und Ganzen
nicht verbessert hat.
({14})
Dafür will ich Ihnen ein paar Beispiele nennen. Bei
den 63-Jährigen beträgt die Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 12 Prozent und bei den
64-Jährigen ganze 5,7 Prozent. Die Frage lautet: Was
passiert mit den anderen? Wo landen die eigentlich?
Heute ist mehrfach Präsident Weise von der Bundesagentur für Arbeit zitiert worden. Dieses Zitat will ich
ausdrücklich wiederholen, weil ich mir das mitgeschrieben habe.
({15})
- Das ist ein guter Mann, das unterschreiben wir. Er ist
jedweder Parteinahme unverdächtig. - Gestern hat Präsident Weise ausgeführt ({16})
- das ist egal; für mich ist er Präsident -: Ich bin viel in
Betrieben unterwegs. Niemand stellt einen 60-Jährigen
ein. Das ist ausgeschlossen. - Wenn der Präsident der
Bundesagentur für Arbeit sagt, niemand in Deutschland
stelle einen 60-Jährigen ein, wie stellt sich denn dann die
Arbeitsmarktlage der älteren Menschen in Deutschland
dar?
({17})
Er hat auch gesagt: Die einzige Altersgruppe, bei der die
Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht gesunken ist,
ist die der 55-Jährigen und Älteren. - Was wollen Sie eigentlich noch mehr? Die Beschäftigungslage der älteren
Männer und Frauen in Deutschland ist nach wie vor desaströs. Vor diesem Hintergrund ist eine Anhebung der
Regelaltersgrenze bei der Rente nichts anderes als eine
verkappte weitere Rentenkürzung.
({18})
Dafür werden Sie zu Recht Ihre Quittung erhalten.
Ich habe gesagt: Der Bericht der Bundesregierung ist
manipulativ. Diesen Vorhalt will ich mit einem letzten
Beispiel belegen. Die Bundesregierung schreibt zur Bestandsprüfungsklausel - wörtliches Zitat -:
Mit der durchschnittlichen Lebenszeit verlängert
sich vor allem die Zeit eines gesunden und leistungsfähigen Alters.
Das ist eine sehr positive Darstellung. Die gleiche Bundesregierung hat im letzten Jahr, also nur wenige Monate
vorher, in Beantwortung einer Großen Anfrage Folgendes geschrieben:
Die körperlichen Anforderungen haben sich seit
Mitte der 1980er-Jahre kaum verändert. … Eine
deutliche Zunahme findet sich dagegen bei den psychischen Anforderungen.
Das heißt, die Gesamtbelastung der Beschäftigten in
Deutschland ist in den letzten knapp 30 Jahren konstant
geblieben; sie hat sich eher verschlechtert, jedenfalls
nicht verbessert. Wer vor dem Hintergrund einer nach
wie vor unzureichenden Situation auf dem Arbeitsmarkt
Herr Schreiner.
- und bei nach wie vor in weiten Teilen problematischen Anforderungen in der Berufswelt das Renteneintrittsalter erhöht, ist leicht von Sinnen.
Schönen Dank.
({0})
Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Birkwald, Sie können so häufig, wie Sie wollen,
darum herumreden. Ich glaube aber, jedem Bürger ist es
angesichts einer durchschnittlich gestiegenen Lebenserwartung von 30 Jahren seit Einführung des Regelrenteneintrittsalters von 65 Jahren einsichtig, dass es gut und
Johannes Vogel ({0})
vernünftig ist, zwei dieser geschenkten 30 Jahre im Erwerbsleben zu verbringen. Alles andere leuchtet niemandem ein, Herr Kollege.
({1})
Sie von den Linken sind wenigstens konsequent; Sie
bleiben sich in Ihrer Ablehnung der Rente ab 67 treu. Ich
halte das zwar für völlig falsch, aber es ist zumindest
konsequent. Interessanter finde ich eigentlich immer
wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, was Sie hier veranstalten. Als Sie vorhin,
Toni Schaaf, auf Ihren Positionswechsel hingewiesen
wurden - Sie führen das immer so mit Verve aus -, kam
der Hinweis von den Linken, man könne ja dazulernen.
Ich glaube, Sie haben nicht dazugelernt, wenn Sie plötzlich gegen die Rente mit 67 sind. Interessant ist aber vor
allem, wie Sie dieses angebliche Dazulernen begründen.
Sie sagen, die erforderlichen Bedingungen seien heute
nicht gegeben. Man muss doch einmal an die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt für die Älteren erinnern, seitdem - und das allein ist relevant - auf Initiative der SPD
in der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt
wurde.
({2})
Damals hieß es, darauf könne man stolz sein. Heute ziehen Sie sich zurück.
Werfen wir einen Blick auf das, was sich in den letzten zehn Jahren getan hat. Die Arbeitslosigkeit bei den
Älteren hat sich halbiert. Es gibt über 1 Million mehr sozialversicherungspflichtige Stellen. In den letzten fünf
Jahren - lieber Kollege Schaaf, das wissen Sie so gut
wie ich - ist gerade bei den Älteren, und zwar bei den
55- bis 60-Jährigen und den 60- bis 65-Jährigen, die
Zahl der Erwerbstätigen stark angestiegen, und zwar um
35 bis 40 Prozent.
({3})
Vor diesem Hintergrund behaupten Sie allen Ernstes, die
Situation habe sich schlechter entwickelt, als Sie damals
annehmen konnten. Das glaubt Ihnen niemand. Jeder
weiß: Sie wollen einfach nicht mehr zu dem stehen, was
Sie gemacht haben. Dafür sind wir nicht zu haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
({4})
Eines ist richtig: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist
noch nicht so, dass wir uns ausruhen könnten. Es ist
nicht so, dass wir nichts dafür tun müssten, die Erwerbsquote von Älteren weiter zu erhöhen. Darauf hat der
Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in
der Tat hingewiesen.
({5})
Er wird sich aber, glaube ich, nicht gerne als Kronzeuge
gegen die Rente ab 67 anführen lassen. Wir können ihn
ja einmal bei seinem nächsten Besuch im Ausschuss fragen. Ich bin mir sehr sicher, dass ich weiß, wie er antworten wird.
Lieber Kollege Toni Schaaf, Sie haben völlig recht:
Die Leute müssen Jobs haben, und dafür müssen wir
politisch etwas tun. Ich kann Ihnen sagen: Wir tun etwas.
Ich nenne Ihnen drei Punkte.
Das Erste ist, dass die Politik das Signal aussendet,
dass Ältere am Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Wir
wollen, dass Ältere in den Unternehmen mit ihrer Qualifikation anerkannt werden.
({6})
Dazu muss man zuallererst nicht nur die Frühverrentungsanreize beenden - das haben wir getan -, sondern
auch zur Verlängerung des Lebensalters stehen und sich
hier nicht aus der Verantwortung stehlen.
Kommen wir zum zweiten Punkt. Wir müssen natürlich auch etwas im Bereich Flexibilität tun; das ist völlig
richtig. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Erwerbskarrieren der Menschen unterschiedlich sind. In diesem
Zusammenhang geht es nicht um die Rente mit 65 oder
mit 67, sondern darum, wie flexibel man sein Erwerbsleben beenden und in Rente gehen kann. Herr Kollege
Schreiner, Sie haben als Beispiel die Chemiearbeiter angeführt. Die IG BCE wirbt zum Beispiel für eine Teilrente. Wissen Sie, was ihrer Meinung nach das Wichtigste ist, was wir dafür tun müssen? Wir müssen die
Zuverdienstgrenzen derjenigen, die früher in Rente gehen, beseitigen.
({7})
Das ist übrigens interessanterweise FDP-Programmatik.
({8})
Es ist es richtig, dass diese Regierungskoalition in Gesprächen ist, die Zuverdienstgrenzen fallen zu lassen, damit wir bei der Flexibilisierung vorankommen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lehrieder zulassen?
Vom Kollegen Lehrieder immer gerne.
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege Vogel, Sie haben gerade
ausgeführt, dass wir den Wert der Arbeit auch älterer
Mitbürgerinnen und Mitbürger höher schätzen müssen.
Können Sie uns sagen, wann die sogenannte 58er-Regelung ausgelaufen ist, die gerade sehr vielen Mitbürgern
im Alter zwischen 58 und 65 signalisiert hat, dass wir sie
gar nicht mehr brauchen?
Sie meinen die geförderte Altersteilzeit, Herr Kollege?
({0})
- Er meint die Frühverrentungsanreize?
({1})
- Natürlich weiß ich das, Frau Kollegin Mast.
({2})
Ich weiß, wann sie ausgelaufen ist und dass die SPD
vor einigen Monaten gefordert hat, die Regelung zur geforderten Altersteilzeit zu verlängern, dass gerade Sie
die Frühverrentungsanreize weiterführen wollten und
wir in der Regierungskoalition uns entschieden haben,
das nicht zu tun.
({3})
Ich möchte, da meine Redezeit abgelaufen ist, nur
noch einen Punkt ausführen, und zwar das Dritte, das wir
tun müssen. Wir müssen in die Qualifikation der Älteren
investieren, um denjenigen, die jetzt am Arbeitsmarkt
noch weniger nachgefragt werden, eine Chance zu geben.
({4})
- Nein, Herr Kollege Kurth. Wissen Sie, was wir im
Rahmen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente gemacht haben? Das könnten Sie einmal würdigen.
({5})
Wir haben die Förderung der Qualifikation beschäftigter
Arbeitnehmer - ich nenne das einmal prophylaktische
Arbeitsmarktpolitik - endlich dauerhaft auf eine Rechtsgrundlage gestellt.
({6})
So sieht es aus. Programme wie WeGebAU, die wir alle
kennen, sind eben nicht mehr befristet, sondern gehören
dauerhaft zur Politik der Bundesagentur für Arbeit. Das
ist der Paradigmenwechsel, den wir in der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet haben. Daran sollten Sie konstruktiv
mitarbeiten, anstatt immer nur zu meckern, Frau Kollegin Pothmer,
({7})
und sich an der Förderung der Frühverrentungspolitik
und der Rückabwicklung von Errungenschaften zu beteiligen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Vielen Dank.
({0})
Eine Kurzintervention des Kollegen Schaaf.
Herr Kollege Vogel, wenn man immer Unwahres behauptet, wird es nicht wahrer. Ich weiß genau, dass die
Union damals im Wahlkampf die Rente mit 67 gefordert
hat, bevor wir dann in der Großen Koalition darüber verhandelt haben. Es war eine Idee der Union, und wir hatten einen Koalitionsvertrag. Selbstverständlich sind Sozialdemokraten gegenüber Verabredungen treu; das ist
keine Frage. Franz Müntefering hat nur den Endpunkt
der Rente mit 67 vorgezogen und das im Januar 2006 angekündigt, was große Wellen geschlagen hat. Aber der
Sozialdemokratie die Urheberschaft für die Rente mit 67
in die Schuhe zu schieben, ist gänzlich falsch. Das ist der
erste Punkt.
({0})
Der zweite Punkt: Frühverrentung. Manchmal scheint
es mir, dass Sie die Realitäten absolut verweigern wollen. Wenn wir uns die insgesamt in Anspruch genommene Altersteilzeit anschauen, sehen wir, dass zwei
Drittel davon nicht geförderte Altersteilzeit war und nur
ein Drittel gesetzlich geförderte Altersteilzeit.
Ich sage Ihnen, was der Unterschied ist. Die nicht geförderte Altersteilzeit ist nach wie vor sozialverträgliche
Arbeitsplatzvernichtung. Die geförderte Altersteilzeit
war daran gekoppelt, dass der Arbeitsplatz erhalten
bleibt; bei dieser Geschichte ist „Jung für Alt“ herausgekommen.
({1})
Die nicht geförderte Altersteilzeit wird nur von großen
Betrieben genutzt. Die geförderte Altersteilzeit wurde
auch von kleinen und mittelständischen Betrieben genutzt, die sie jetzt nicht mehr nutzen können. Was das
mit der Abschaffung der Anreize zur Frühverrentung zu
tun hat, erschließt sich mir nicht. Denn zwei Drittel der
Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird, macht
die nicht geförderte Altersteilzeit aus. Diese findet nämlich immer noch statt.
Sie möchten antworten, Herr Vogel?
({0})
- Bitte schön.
Ja, ich möchte gerne antworten. - Lieber Kollege
Toni Schaaf, erst einmal Folgendes: Ich will die Union,
unseren geschätzten Koalitionspartner, gar nicht aus der
positiven Verantwortung für die Rente mit 67 entlassen.
({0})
Dass da kein falscher Eindruck aufkommt: Ich finde es
sehr gut, dass unser geschätzter Koalitionspartner an dieser richtigen Entscheidung mitgewirkt hat.
({1})
- Ja, Kollege Straubinger. Die FDP sagt: Wir müssen
auch flexibilisieren. - Das bleibt richtig. Das müssen wir
noch gemeinsam machen.
Lieber Toni Schaaf, der Punkt ist: Es wurde eben ganz
bewusst von Ihnen so dargestellt, als sei es die Koalitionstreue gewesen, die die Sozialdemokratie geradezu
gezwungen habe, der Rente mit 67 unter Schmerzen zuzustimmen.
({2})
Ich war damals nicht dabei; das wissen Sie. Aber als interessierter Zeitungsleser hat sich mir in der letzten Legislaturperiode der Eindruck aufgedrängt, dass das nicht
der Fall war. Nach allem, was mir die Kollegen erzählt
haben, hat sich dieser Eindruck bestätigt. Sie sollten sich
nicht davonstehlen,
({3})
wenn es um positive Errungenschaften in diesem Land
geht, zu denen Sie einen Beitrag geleistet haben. Der
Punkt ist: Sie kneifen, statt zu dem zu stehen, was Sie
Gutes erreicht haben.
Nun zum Thema Altersteilzeit, lieber Toni Schaaf.
Mit der geförderten Altersteilzeit senden wir das Signal,
dass wir wollen, dass die Leute früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Man hätte darüber diskutieren können, ob das gut ist, wenn es sich um wirkliche Altersteilzeitmodelle handelt. Ich habe eben gesagt, dass ich die
Teilrente und Ähnliches für vernünftig halte; das wünsche ich mir. Wenn aber auf Kosten der Solidargemeinschaft, der Beitragszahler, 90 Prozent derjenigen, die die
geförderte Altersteilzeit in Anspruch genommen haben,
das Blockmodell nutzen und früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden und wenn diejenigen, die das tun, nicht
etwa die schwer arbeitenden Metall- und Chemiearbeiter, sondern vor allem Personen, die Bürotätigkeiten ausüben, sind,
({4})
dann kann ich nur sagen: Diese Politik ist gescheitert.
Sie hat das falsche Signal an die Gesellschaft gesendet,
nämlich das Signal, dass die Menschen früher aus dem
Erwerbsleben ausscheiden sollen.
({5})
Genau dieses Signal wollen wir nicht senden. Es wäre
schön, wenn Sie zu einer vernünftigen Politik zurückkehren und uns dabei unterstützen würden.
Vielen Dank.
({6})
Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren fast jede Woche über die Rente mit 67
bzw. die Bewältigung der demografischen Herausforderung. Ich muss feststellen, dass die linke Opposition in
diesem Hause offensichtlich nicht dazulernen will.
({0})
Natürlich ist es richtig, nicht die Tatsachen auszublenden, dass die Lebenserwartung steigt und die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bis zum Jahr 2029
durchschnittlich drei Jahre länger leben werden. Dies
wird für all unsere sozialen Sicherungssysteme eine Herausforderung darstellen. Die linke Seite dieses Hauses,
aber auch die SPD meint, dass man dieses Problem nicht
beachten muss. Die SPD möchte die richtige Entscheidung, die Rente mit 67 einzuführen, und zwar schrittweise bis zum Jahr 2029, beginnend ab dem Jahr 2012,
die sie seinerzeit in unserer gemeinsamen politischen
Arbeit mit herbeigeführt hat, aussetzen. Die Linksfraktion möchte die Rente mit 67 sogar ganz abzuschaffen.
({1})
Das kann nicht der richtige Weg zur Bewältigung der demografischen Herausforderung sein.
Die Linken lehnen die Rente mit 67 grundsätzlich ab,
und die SPD rückt von ihren früheren Erkenntnissen ab.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den damaligen
Bundesarbeitsminister Franz Müntefering würdigen. Er
hat damals richtig gehandelt, auch gegen den Zeitgeist.
({2})
Natürlich ist es für die Menschen angenehmer, früh in
Rente zu gehen und eine möglichst hohe Rente zu beziehen. Das geht aber zulasten der Jungen in unserer Gesellschaft. Sie haben letztendlich die Lasten zu tragen,
was eine Überforderung der Jungen ist. Von den Jungen
hat aus der linken Fraktion heute keiner gesprochen,
aber man kann das ja auch nicht erwarten.
Die Union und die FDP haben den demografischen
Faktor aufgrund der demografischen Entwicklung schon
1997 in der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt.
Die SPD unter Lafontaine hat in ihrer Verblendung dann
einen Wahlkampf dagegen geführt und damit sicherlich
auch einige Prozentpunkte hinzugewonnen. Danach
wurde dieser demografische Faktor, obwohl er richtig
war, wieder abgeschafft. Gerhard Schröder hat später bekannt, dass dies sein größter Fehler in der Rentenpolitik
war. Zumindest die SPD-Fraktion sollte sich heute vor
Augen führen, dass es ein Fehler ist, richtige Entscheidungen entweder immer wieder hinauszuzögern oder
wieder zurückzunehmen.
Der Kollege Ottmar Schreiner hat versucht, darauf
hinzuweisen, dass die Voraussetzungen angeblich nicht
gegeben sind, weil die Beschäftigungslage für die älteren Bürger nicht ausreichend ist. Jetzt gebe ich auch aufgrund der gestrigen Ausschusssitzung zu, dass es eine
Herausforderung ist, 1 Million Menschen über 55 Jahre,
({3})
die arbeitslos gemeldet sind, wieder in Arbeit zu bringen.
Gleichermaßen möchte ich in dieser Debatte aber
durchaus auch auf die Entwicklung der Beschäftigung
von Älteren hinweisen. Wir können anhand der Statistik
der Bundesagentur für Arbeit feststellen, dass im Juni
1999 gut 548 000 Menschen im Alter von 60 bis 65 Jahren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis waren. Diese Zahl ist angestiegen. Im
Juni letzten Jahres vermerkten wir, dass fast 1 124 000
Menschen zwischen 60 und 65 Jahren in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis sind.
Das zeigt sehr deutlich die Verbesserung, die bei der Beschäftigung von älteren Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land eingetreten ist.
({4})
Herr Kollege Schreiner, dies wird in besonderer
Weise durch diese Zahlen der Beschäftigungsstatistik
belegt. Sie haben beklagt, dass die Bundesregierung hier
einen richtigen Bericht abgegeben hat, der durch das Gesetz auch gefordert wird. Sehr deutlich zeigt sich die
Steigerung der Beschäftigung Älterer in den Zahlen: Im
März 2007 waren fast 800 000 Ältere beschäftigt. Im
März 2008 waren gut 847 000 Ältere in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Im März
2009 waren es knapp 959 000, und im März des letzten
Jahres waren es 1 078 877.
Das zeigt sehr deutlich: Die Beschäftigung der älteren
Bürgerinnen und Bürger in diesem Land nimmt zu. Deshalb ist es auch verantwortbar, die Rente mit 67 in Gang
zu setzen.
Herr Straubinger.
Wir werden das tun und deshalb Ihre Anträge, die
mehr dem Populismus anstatt der Sache dienen, ablehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Frank Heinrich hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach dieser Stunde des Austauschs der verschiedensten Argumente möchte ich kurz drei der
Schlagworte rekapitulieren, die ich mir aufgeschrieben
habe.
Es sind viele Zahlen genannt worden. Eine der Zahlen
ist mir besonders in Erinnerung. Sie betrifft mich und
viele von Ihnen, Sie oben auf den Tribünen betrifft sie
wahrscheinlich überdurchschnittlich mehr. Es geht um
die gestiegene Lebenserwartung - dies kam in den Zahlen vor, die Herr Schiewerling am Anfang genannt hat und um die noch steigende Lebenserwartung. In der Berliner Morgenpost hieß es gestern, die durchschnittliche
Lebenserwartung der Berliner Bevölkerung werde in den
nächsten 20 Jahren gegenüber heute weiter deutlich steigen, bei Männern im Schnitt um 6,1 Jahre und bei den
Damen um 4,8 Jahre. Das heißt, wenn man diese Mathematik noch weiter fortsetzt wie vorhin, dann werden wir
noch stärker profitieren und die Lebenserwartung wird
noch weiter steigen. Wir werden aber nicht in demselben
Maße mehr arbeiten müssen, wie unsere Lebenserwartung steigt.
Das hat auch, wie es der letzte Redner angesprochen
hat, mit Solidarität zu tun. Denn dann müssen wir als
Politiker dieses Landes selbstverständlich die gesamte
Breite darstellen statt nur diejenigen, die möglicherweise
länger arbeiten müssen. Mein Jahrgang ist der erste, der
davon betroffen ist. Dann geht es um einen Querschnitt
aller, die in Deutschland davon betroffen sind, auch die
Jugend.
Es ist generell eine sehr gute Nachricht, dass wir länger leben werden, aber sie treibt möglicherweise die
Kosten oder trägt Herausforderungen an uns heran, die
wir nicht nur auf die Schultern anderer verteilen dürfen.
({0})
Ich zitiere aus dem Antrag der Linken:
In Verbindung mit der gesetzlich festgeschriebenen
Absenkung des Rentenniveaus wird die Rente erst
ab 67 zu einer Welle von Altersarmut führen.
Das ist eine Mathematik, die wir so nicht mittragen können. Erstens wird es keine Absenkung des Rentenniveaus geben. Das ist vorhin zweimal widerlegt worden.
({1})
Zweitens gilt: Wenn wir davon ausgehen, dass es eine
Herausforderung ist und wir möglicherweise dadurch einen Rückgang des Wohlstands befürchten müssen, dann
müssen wir dagegen vorgehen, aber nicht nur bei denen,
die dann im Ruhestand sind oder in den Ruhestand gehen sollen. Diese Herausforderung ist eine Folge des demografischen Wandels. Die Rente mit 67 ist eine Antwort darauf. Es ist nicht die Ursache, wie Sie es beschreiben.
Herr Kolb, Sie haben den Begriff Mentalitätswandel
eingeführt, den ich bemerkenswert finde. Ich erinnere
mich an den Ruck, der durch Deutschland gehen sollte.
Tatsächlich geht es um einen Ruck oder Mentalitätswandel aller Beteiligten statt nur eines Teil des Parlaments
oder derjenigen, die möglicherweise dafür oder dagegen
sind.
Damit kommen wir zu dem Begriff der Teilhabe, den
sowohl Sie, Herr Kolb, als auch Sie, Herr StrengmannKuhn, genannt haben. Der Begriff war auch Gegenstand
einer Fachtagung 2008 zum Thema „Behinderung und
Alter: Gesellschaftliche Teilhabe 2030“. Das ist das
Stichdatum, ab dem die ersten von uns volle zwei Jahre
länger arbeiten sollen. Wenn wir uns, gesund und jung
geblieben, 2030 fragen würden, wie die gesellschaftliche
Teilhabe aussieht, zu welchen Ergebnissen würden wir
dann kommen? Diese Umfrage würde mich interessieren. Mir hat gestern eine Person auf diese Frage geantwortet: „Ich würde sagen, Rente mit 67 frühestens.“
Bei mir war dieser Tage eine Besuchergruppe zu
Gast. Eine Frau antwortete mir auf diese Frage: „Natürlich möchte ich gerne länger arbeiten.“ Natürlich ist damit die Herausforderung verbunden, die notwendigen
Arbeitsplätze zu organisieren. Das haben wir bereits gehört.
({2})
Aber wir haben die nötige Zeit, um das zu arrangieren,
mit Flexibilität und verschiedensten Maßnahmen, die
nicht nur, aber auch von der Politik ausgehen müssen.
({3})
Wir reden immer von Teilhabe, sowohl was Behinderung als auch Alter angeht. Dann muss auch die Teilhabe
an Beschäftigung und Arbeit möglich sein. Das wollen
wir einleiten. Das ist uns wichtig. Erwerbsarbeit ist auch
sinngebend und erfüllend. Das ist also ein sozialer und
ökonomischer Grund.
Ein dritter Begriff - damit komme ich zum Schluss ist der Fachkräftebedarf, der übrigens nicht nur jetzt bevorsteht und den Menschen Angst macht, sondern bis
2030 noch kulminieren wird. Das Know-how der Alten
ist nicht verzichtbar. Wir können als Gesellschaft nicht
auf diesen Zuwachs an Know-how verzichten.
Ich möchte als Entgegnung zu Ihnen, Herr Schaaf und
Herr Schreiner, aus einem weiteren Antrag von Ihnen zu
diesem Thema zitieren:
Die positive Beschäftigungsentwicklung der letzten
Jahre hat einen deutlichen Anstieg der Erwerbstätigkeit Älterer bewirkt, der sich auch in einem steigenden durchschnittlichen Rentenzugangsalter ausdrückt …
Das ist der Status quo. Jetzt haben wir 20 Jahre Zeit,
diese Linie im Koordinatensystem fortzuführen.
({4})
Wenn meine Altersgruppe ungefähr dann in den Ruhestand geht, werden wir dieses Problem gelöst haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5298, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3546 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Zugestimmt hat die einbringende
Fraktion. Die übrigen Fraktionen waren dagegen. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rente
ab 67 vollständig zurücknehmen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5298, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/2935 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat dagegen gestimmt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/5297. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/3995 mit dem Titel „Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben nutzen - Arbeitsbedingungen verbessern Rentenzugang flexibilisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4046 mit dem Titel „Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP, SPD und
Linke, dagegen Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat
sich niemand.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes
- Drucksache 17/5761 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/5960 Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs, über den wir später namentlich abstimmen
werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit - das sind 311 Stimmen - erforderlich
ist.
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich müssten wir heute über Verwaltungsfragen sprechen; denn die Entscheidung über die Sache haben wir
bereits im März getroffen. Die christlich-liberale Koalition hat damals den Weg für eine Lohnuntergrenze in der
Zeitarbeit geebnet. Leider wurden wir damals nicht von
der Opposition unterstützt. Ich bedauere das nach wie
vor sehr. Aber durch unseren Beschluss kann die Bundesregierung jetzt eine Lohnuntergrenze einführen. Voraussetzung ist nur ein Antrag der Tarifpartner.
({0})
Dann gilt übrigens ein tariflicher Mindestlohn für die gesamte Branche. Es wird zukünftig nicht mehr darauf ankommen, ob der Betrieb seinen Sitz im Ausland oder im
Inland hat, ob es sich um Verleihzeiten oder um verleihfreie Zeiten handelt oder welchem Arbeitgeberverband
der Betrieb bzw. welcher Gewerkschaft der Arbeitnehmer angehört. Nein, es gilt dann ein tariflicher Mindestlohn für alle. Ich finde, das ist ein großer Erfolg.
({1})
Eigentlich sollte es heute nur um technische Fragen
gehen: Wer ist für die Kontrolle zuständig? Wie hoch
sind Bußgelder und Strafen? Was hat ein inländischer
Arbeitgeber nachzuweisen? Welche Meldepflichten
muss ein ausländischer Verleihbetrieb erfüllen? Wie
viele neue Planstellen müssen geschaffen werden? Eigentlich geht es also um reine Verwaltungsfragen. Aber
darüber sprechen wir eigentlich doch nicht; denn Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, nutzen
die Gelegenheit einmal mehr, um eine Generaldebatte
über die Zeitarbeit vom Zaun zu brechen, gewürzt nach
Ihrem Lieblingsrezept: ganz viel Emotion, eine Prise
Ideologie und bloß keine Fakten.
({2})
Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine prekäre Beschäftigung. Tatsache ist, jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem
normalen Arbeitsverhältnis. Auch wenn er beim Kunden
arbeitet, ist er doch beim Zeitarbeitsunternehmen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in der Regel übrigens
unbefristet. Er hat geregelte Arbeitszeiten, Kündigungsschutz, Anspruch auf Urlaub und Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall. Nur die Arbeitsorte wechseln häufiger,
wie übrigens auch bei Fernfahrern, Bauarbeitern und
vielen anderen.
Sie behaupten, Zeitarbeit sei eine Sackgasse. Tatsache
ist, die Zeitarbeit war und ist gerade für die Schwächsten
am Arbeitsmarkt eine Brücke in den Arbeitsmarkt. Zwei
Drittel der neu eingestellten Zeitarbeitnehmer waren davor arbeitslos. Rund 15 Prozent wechseln übrigens später zu den Kunden, mit steigender Tendenz. Das ist jetzt
auch von dem neuen Präsidenten des Bundesarbeitgeberverbandes der Personaldienstleister beklagt worden, der
wie folgt zitiert wird:
Wir verlieren viele Mitarbeiter, weil sie von den
Kundenunternehmen … abgeworben werden.
Auch dies ist eine Tatsache. Drei Viertel der Übernommenen wären übrigens ohne den vorherigen Einsatz in
der Zeitarbeit nicht eingestellt worden.
Sie behaupten, Stammbelegschaften würden durch
Zeitarbeitnehmer ersetzt. Fakt ist, nur 2 Prozent der
Kunden bauen Personal ab und stellen Zeitarbeiter ein.
Das ist ein reines Randphänomen. Alle diese Zahlen sind
übrigens belegt, sei es durch die Bundesagentur für Arbeit, sei es durch das IAB, sei es durch Berichte der Bundesregierung. Sie hingegen, liebe Frau Müller-Gemmeke, ignorieren diese Tatsachen. Das ist Politik à la
Vogel Strauß: ab mit dem Kopf in den Sand, nur nichts
hören, nur nichts sehen.
Wenn Sie keinen Sand in den Augen hätten, hätten
Sie die brandneue Studie der IW Consult lesen können
und müssen. Darin wird der Zeitarbeit eines bescheinigt:
Sie ist der Treiber für Flexibilität und Wachstum am Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft. Die Zeitarbeiter waren
und sind eine Stütze des Aufschwungs. Obwohl weniger
als 3 Prozent in der Branche arbeiten, erwirtschafteten
sie 15 Prozent des Wirtschaftswachstums, also überproportional viel. Darüber hinaus retteten sie Stammbelegschaften; denn die Kunden konnten durch Stornierung
von Aufträgen an Zeitarbeitsunternehmen kurzfristig auf
Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, wo es wieder aufwärtsgeht, ist die Kernmannschaft noch da, und Auftragsspitzen können wieder abgefedert werden. Deswegen kommt die Studie auch zu dem Ergebnis - ich zitiere
und bitte, zuzuhören -:
Die Zeitarbeit hat den Unternehmen geholfen, die
Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Massenentlassungen zu meistern, und hat die für den nachfolgenden Aufschwung benötigten Personalressourcen
schnell bereitgestellt. Die Krise hätte ohne Zeitarbeit wahrscheinlich schwerwiegendere Folgen für
die deutsche Wirtschaft gehabt und länger angedauert.
({3})
Weiter heißt es:
Gerade diejenigen Unternehmen, die den Aufschwung tragen, sind besonders stark auf die …
Zeitarbeit angewiesen. … Damit stärken die Unternehmen, die Zeitarbeit einsetzen, nachhaltig die
Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland.
Damit steht fest - durch Studien belegt -: Gemeinsam
mit der Kurzarbeit hat erst die Zeitarbeit das deutsche
Wunder am Arbeitsmarkt in der Krise möglich gemacht.
Bestätigt wird diese Wirkung auch durch die Bundesagentur für Arbeit. Nach den neuesten Zahlen sorgt die
Zeitarbeitsbranche derzeit für etwa jede dritte neue
Stelle am Arbeitsmarkt. Es stimmt also: Treiber für den
Arbeitsmarkt. Deshalb war es mehr als gerecht, dass wir
als Gesetzgeber uns der Branche besonders intensiv widmeten. Wir haben die Voraussetzungen geschaffen,
schwarzen Schafen wie Schlecker das Handwerk zu legen, übrigens wir in der christlich-liberalen Koalition.
Wir haben die EU-Zeitarbeitsrichtlinie in deutsches
Recht umgesetzt, wir in der christlich-liberalen Koalition. Wir haben den Weg für eine Lohnuntergrenze geebnet. So sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor Lohndumping aus dem Ausland gewappnet.
({4})
Wir bereiten weitere Anträge vor. Wir wollen die Bezeichnung „Leiharbeit“ ersetzen; denn damit werden die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tagtäglich
hart arbeiten, diskriminiert. Kein Begriff eignet sich weniger für die Beschreibung der Zeitarbeit;
({5})
denn Leihe ist Überlassung von Sachen, Zeitarbeitnehmer sind aber keine Sachen, sondern Menschen, die tagtäglich hart arbeiten.
Wir müssen auch auf ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts reagieren und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz um eine Klausel für die Zeitarbeit ergänzen.
Dort, wo ein allgemein verbindlicher Branchenmindestlohn gilt, soll er auch für die Zeitarbeit gelten.
Wir werden weiter dafür sorgen, dass die klassische
Zeitarbeit zukünftig nicht mehr durch Umgehung diskreditiert wird. Wir haben diese Aufgabe den Tarifvertragsparteien ins Stammbuch geschrieben. Sie haben Zeit, darauf zu reagieren. Wenn sie nicht reagieren, sind wir
gefordert, übrigens deshalb gefordert, weil seinerzeit
Rot-Grün durch die damalige unbegrenzte Öffnung der
Höchstüberlassungsdauer genau diese Schein-Zeitarbeit
erst provoziert hat. Es war Rot-Grün - ich betone das im Rahmen der Hartz-III-Gesetzgebung.
Frau Connemann.
Meine Damen und Herren von der Opposition, vor
diesem Hintergrund können Sie natürlich noch weiter
den Kopf in den Sand stecken. Sie können sich aber auch
endlich die Augen reiben, handeln und unserem Gesetzentwurf zustimmen. Dafür wären wir Ihnen sehr dankbar.
Vielen Dank.
({0})
Anette Kramme hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Connemann, ich frage mich: In welchem Sonnensystem bewegen Sie sich? Sind Sie überhaupt in der
Milchstraße?
({0})
Auf jeden Fall befinden Sie sich nicht auf dem Boden
der Realität der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Frau Connemann, Sie sagen, Sie hätten die EU-Zeitarbeitsrichtlinie europarechtskonform umgesetzt. Hören
Sie sich Professor Düwell an! Er sagt: Das ist eindeutig
nicht der Fall. Sie hätten beispielsweise eine eindeutige
Begrenzung bei der Dauer der Leiharbeit vornehmen
müssen. Das ist aber nicht geschehen.
({2})
Sie heben die Arbeitsmarktfunktion der Leiharbeit
hervor. Sie müssten an sich auch die Untersuchung des
IAB kennen, in der es heißt, dass die Leiharbeit allenfalls ein schmaler Steg in Arbeit ist.
Aber wir diskutieren heute über etwas anderes. Es
gibt drei Kategorien von Gesetzentwürfen. Bei der ersten Kategorie kann man sagen: Diese Gesetze sind großartig. Es gibt eine Kategorie zwei. Da sagt man: besser
als nichts. Dann gibt es eine Kategorie drei. Da kann
man nur sagen: einfach Humbug.
Wir diskutieren heute wieder über Verbesserungen für
Leiharbeitnehmer. Konkret geht es darum, SanktionsAnette Kramme
und Kontrollmechanismen aus dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch für die Leiharbeit tauglich zu machen.
Sie halten sich dabei - das müssen wir Ihnen zugestehen an die Verabredungen, die im Rahmen der Regelsatzverhandlungen getroffen worden sind.
({3})
Aber Sie nehmen nur eine Umsetzung eins zu eins vor.
Kein Jota mehr!
({4})
Es ist das absolute Minimum, was Sie uns hier vorlegen.
Dabei gibt es Besonderheiten in der Leiharbeit, zumal
die Leiharbeit jetzt grenzüberschreitend stattfindet. Dabei wissen wir: Leiharbeit ist Leidarbeit. Drei Viertel aller Leiharbeitnehmer arbeiten unter der Niedriglohnschwelle. 60 Prozent der Leiharbeitnehmer haben eine
schlechtere Bezahlung als Stammarbeitnehmer auf exakt
dem gleichen Arbeitsplatz. Jeder achte Leiharbeitnehmer erhält Aufstockungsleistungen nach dem SGB II.
({5})
Natürlich begrüßen wir, dass es jetzt endlich zu einer
Lohnuntergrenze im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
kommt, wobei wir natürlich hoffen, dass es etwas mehr
Engagement der Arbeitsministerin gibt, damit diese
Lohnuntergrenze tatsächlich schnell greifen kann.
({6})
Selbstverständlich begrüßen wir, dass es Meldepflichten
für Entleiher gibt, die Leiharbeiter von ausländischen
Verleihern beschäftigen. Wir sind natürlich auch dankbar
dafür, dass es Kontroll- und Sanktionsmechanismen
gibt. Aber es bleiben einige problematische Fallkonstellationen.
Nehmen wir Folgendes an: Eine ausländische Leiharbeitsfirma kommt in die Bundesrepublik Deutschland.
Das ist genau der Fall, für den wir jetzt - so Ihre Auffassung - die Lohnuntergrenze gebildet haben. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit stellt fest, dass der Mindestlohn
dort nicht gezahlt wird. Es ist gut und richtig, dass diese
ausländische Leiharbeitsfirma ohne Weiteres eins auf
den Deckel bekommen wird. Aber der Mindestlohn für
den individuellen Leiharbeitnehmer ist damit noch lange
nicht durchgesetzt. Vielmehr muss der Mindestlohnanspruch im Ausland vollstreckt werden.
Nach dem, was wir bei den Prozessen gegen die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit
festgestellt haben, bin ich mir ganz sicher: Es wird insgesamt nicht sehr viele Prozesse geben; es wird eine
Reihe von Leiharbeitnehmern und Leiharbeitnehmerinnen geben, die leer ausgehen werden. Angesichts dessen
frage ich Sie: Warum haben Sie nicht ähnlich wie bei einem anderen Rechtsgedanken eine Entleiherhaftung eingeführt, sodass die Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen hier in der Bundesrepublik Deutschland
klagen und vollstrecken können?
({7})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben einen
weiteren Ansatzpunkt: Wir werden mehr ausländische
Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen in der
Bundesrepublik Deutschland haben. In Berlin gibt es
eine Beratungsstelle, die uns im Übrigen in der Sachverständigenanhörung Schauerliches berichtet hat. An sich
ist es doch legitim und in höchstem Maße nachvollziehbar, dass wir Menschen, die keine Kenntnisse vom deutschen Rechtssystem haben, mit einer Beratung zur Verfügung stehen. Auch da tut sich leider überhaupt nichts.
Ein zusätzliches Problem, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit angelegt. Ich will nicht sagen, dass die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit schlecht arbeitet. Im Gegenteil: Wir sind
angetan von dem, was dort in den letzten Jahren bewirkt
worden ist. Dort sind 6 500 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tätig.
Aber wir müssen auch eines sehen: Wir haben dieser
Behörde dadurch immense zusätzliche Aufgaben übertragen, dass es immer mehr Mindestlöhne in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Allein wegen der Leiharbeit
werden 900 000 Arbeitsverhältnisse zusätzlich überwacht werden müssen. Angesichts dessen sage ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Union: Es ist
schäbig, dort in den nächsten zwei Jahren lediglich eine
Personalaufstockung von 100 Planstellen vorzunehmen.
Dies nützt nichts, wird aber dazu führen, dass Lohndumping keine Schranken gesetzt wird und dass es tatsächlich stattfinden wird. Die IG BAU hat gesagt, dass wir
tatsächlich etwa 4 800 zusätzliche Stellen brauchen, um
effektiv zu kontrollieren. Bereinigen wir das und sagen
wir, dass eine ordentliche Portion dazukommen muss;
dann werden wir stärker sein.
({8})
Ihrerseits ist leider nicht klar geregelt worden, was
geschieht, wenn ein Leiharbeitnehmer mit der neuen
Lohnuntergrenze in einem Betrieb arbeitet, für den ein
anderer Mindestlohn gilt. Es wäre so einfach gewesen,
dafür eine Regelung in den Gesetzentwurf aufzunehmen,
die besagt, der Leiharbeitnehmer bekomme im Zweifel
den höheren Mindestlohn. Aber auch das ist Ihrerseits
unterblieben.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, im Endergebnis
werden wir die Probleme in der Leiharbeit nur dann lösen, wenn einige essenzielle Sachen geregelt werden.
Dazu gehört, dass wir endlich die gleiche Bezahlung für
die gleiche Arbeit durchsetzen. Anderenfalls werden
weiterhin sinnvolle Stammarbeitsplätze vernichtet und
in die Leiharbeit abgedrängt. Sie werden damit bewirken, dass der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik
weiter wächst - mit verheerenden volkswirtschaftlichen
Folgen für die Zukunft.
Des Weiteren ist es sinnvoll, dass Leiharbeitsverhältnisse nicht mehr befristet durchgeführt werden können.
Ihre, die vorherige Regierung in Nordrhein-Westfalen
hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem festgestellt
worden ist, dass eine Synchronisierung zwischen Arbeitsverhältnissen und Auftragsdauer stattfindet. Das
kann und darf in der Leiharbeit nicht sein.
Ein allerletzter Punkt. Die Betriebsräte in den Entleiherbetrieben brauchen endlich mehr Mitbestimmungsrechte. Betriebsräte müssen mit darüber entscheiden
können, ob Leiharbeiter im Betrieb sind, wie lange sie
im Betrieb sind, in welchen Abteilungen sie dort tätig
sind und welche Tätigkeiten sie dort konkret ausführen.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie werden
sich noch ein ganzes Stück bewegen müssen, damit die
Probleme der Leiharbeit, einem prekären Arbeitsverhältnis, gelöst werden. In diesem Sinne: Strengen Sie sich
an!
({9})
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Kramme, es ist schade, dass Sie sehr oft,
wenn Sie an dieses Rednerpult gehen, über das nörgeln
müssen, was die Regierungskoalition macht. Heute hätten Sie Grund gehabt, uns zu loben; das kann ich hier
nicht anders sagen. Den drei Kategorien, die Sie genannt
haben, müssten Sie eine vierte hinzufügen, nämlich die
der Notwendigkeit eines Gesetzes. Das heute zu verabschiedende Gesetz ist notwendig, damit wir die Verabredungen umsetzen können, die wir mit Ihnen getroffen
haben.
({0})
Natürlich können Sie jetzt hier Krokodilstränen weinen und sagen, dass sei nur die Eins-zu-eins-Umsetzung
einer Verabredung. Für mich ist es schon wichtig, dass
man, wenn man etwas verabredet, wenn man sein Wort
gibt, dies hinterher eins zu eins umsetzt.
({1})
Das ist wichtig für die Verlässlichkeit, für das Vertrauen
bei der Zusammenarbeit in der Politik, und zwar über die
Grenzen zwischen Regierungskoalition und Opposition
hinweg. Das, was wir heute machen, ist also gut und notwendig. Diese Debatte ist vielleicht sachlicher als andere. Sie haben trotzdem versucht, ein paar Punkte aufzuzeigen, über die wir uns hier streiten können und
sollen.
Nachdem die Kollegin Connemann Funktion und Bedeutung der Zeitarbeit hier wirklich eindrucksvoll beschrieben hat, will ich noch einmal sagen: Auch wir bekennen uns zu dem Instrument der Zeitarbeit. Auch nach
der Krise gilt: Keine andere Branche hat so viele Arbeitsplätze geschaffen wie die Zeitarbeitsbranche. Frau
Kollegin Kramme, ich muss Ihnen sagen: Die Befürchtung, am Ende einer Entwicklung würden alle Arbeitsverhältnisse in deutschen Landen nur noch Zeitarbeitsverhältnisse sein, ist wirklich unbegründet.
Das können Sie auch aktuell sehen, wenn Sie sich einmal anschauen, was im Bereich der Zeitarbeit passiert.
Da stellt man fest: Es gibt Grenzen des Wachstums. Die
Zeitarbeitsbranche klagt plötzlich darüber, dass sie keine
Arbeitnehmer mehr findet. Warum ist das im zweiten
Jahr eines mittlerweile erfreulicherweise länger andauernden Aufschwungs so? Weil die Unternehmen selbst
wieder Perspektiven sehen, weil sie in der Lage sind, in
der eigenen Stammbelegschaft neue Stellen zu begründen, und weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die vorher in der Krise über eine Zeitarbeit versucht haben, die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu schaffen, jetzt
die Wahl haben. Sie können wieder zu denjenigen Unternehmen gehen, die vorher Zielunternehmen der Zeitarbeit gewesen sind. Beim konjunkturellen Auf und Ab
wird es immer Phasen geben, in denen die Zeitarbeit besondere Bedeutung hat, und andere Phasen, in denen die
Beschäftigung in den Zieleinsatzbranchen Oberhand gewinnt. Ihre Sorgen sind also vollkommen unbegründet;
das sage ich hier deutlich.
({2})
Wir haben seit Beginn dieser Regierungskoalition
konsequent daran gearbeitet, dass Zeitarbeit auf der einen Seite möglich ist, dass aber auf der anderen Seite
Grenzüberschreitungen verhindert werden und wirksam
bekämpft werden können.
({3})
Das war auch beim Fall Schlecker so. Dieser Fall war
der Auslöser dafür, dass wir die erste Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes auf den Weg gebracht
haben. Wir haben dann nachgehalten und auf aktuelle
Entwicklungen reagiert. Zeitweise wurden die Beratungen zu diesem Gesetz durch die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss überlagert. Aber am Ende ist meines
Erachtens etwas herausgekommen, mit dem man sehr
zufrieden sein kann.
Wir haben zugestimmt - auch das bitte ich Sie einmal
anzuerkennen -, dass es eine Lohnuntergrenze in der
Zeitarbeit geben wird. Ob und in welchem Umfang sie
notwendig sein wird, muss man abwarten. Wir haben
gestern mit Herrn Weise darüber diskutiert. Er meinte, es
sei für eine Antwort noch ein bisschen zu früh. In der
Tendenz kann man feststellen: Ganz so groß wird der
Ansturm aus Osteuropa nicht sein, wie es manche mit
Blick auf den deutschen Arbeitsmarkt angekündigt hatten. Das alles wird man sehen.
Heute werden Kontrollinstrumente in das AÜG eingebaut, damit die Verabredungen hinsichtlich der Lohnuntergrenze wirksam kontrolliert werden können. Ich
muss Ihnen sagen: Alles das halte ich für sinnvoll. Es ist
eine geordnete Entwicklung, die wir mit dem Ziel betreiben, Zeitarbeit als Flexibilitätsinstrument Nummer eins
oder vielleicht Nummer zwei - darüber kann man streiten - neben der befristeten Beschäftigung für die UnterDr. Heinrich L. Kolb
nehmen in Deutschland zu erhalten. Das wird für uns
auch künftig wichtig sein.
Sie haben das Thema Equal Pay angesprochen. Jawohl, das haben wir früh thematisiert, auch als FDP. Ich
bin gespannt, wie die Unternehmen jetzt mit dem Auftrag umgehen, den wir ihnen gegeben haben. Wir haben
es ja in den Wochen, fast Monaten, in denen wir im Vermittlungsausschuss verhandelt haben, erlebt, wie die Unternehmen und hier vor allen Dingen die Zeitarbeitsbranche immer wieder gesagt haben: Lasst uns das machen.
Wir können das viel besser als ihr. - Jetzt sind umgekehrt die Unternehmerinnen und Unternehmer der Zeitarbeitsbranche am Zuge. Jetzt wollen wir eine Lösung in
Form von Zeitkorridoren oder Ähnlichem sehen, wie der
Lohn der Zeitarbeitnehmer hin zu Equal Pay entwickelt
wird. Wir sind da gespannt und werden uns überraschen
lassen.
Ich will noch sagen: Wir haben - auch das ist nicht
ganz unwesentlich - eine Verlängerung der Frist für die
Antragstellung für Hilfen aus dem Bildungspaket mit in
dieses Paket aufgenommen. Wir unterstützen diesen
Schritt nachdrücklich. Wir sind der festen Überzeugung,
die Bildungschancen von Kindern sollten nicht an Fristen
scheitern. Nachdem in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses der Wunsch geäußert wurde - übrigens
auch von der A-Seite und den kommunalen Spitzenverbänden -, dass man die Kommunen das Ganze machen
lassen soll, haben wir ihnen das ermöglicht. So wird jetzt
verfahren.
Wir stellen fest, dass dieser Prozess ein wenig länger
dauert, als es der Fall gewesen wäre, wenn das die BA
selbst gemacht hätte. Wir reagieren flexibel auf diesen
Umstand und sind bereit, die entsprechenden Fristen zu
verlängern. Wichtig ist, dass am Ende jungen Menschen
aus Hartz-IV-Familien Bildungschancen eröffnet werden. Auch das wollten wir ja mit dieser Reform erreichen. Wir wollen nämlich keine Verfestigung von
Hartz IV, sondern wir wollen dafür sorgen, dass solche
Kreisläufe durchbrochen werden, dass junge Menschen
sich qualifizieren können und die gleichen Chancen haben, unabhängig von dem Haushalt, in den sie hineingeboren werden. Das ist unser Ziel. Deswegen haben wir
auch diesen Punkt in das Gesetz aufgenommen.
Herr Kollege.
Insgesamt, Frau Kollegin Kramme, handelt es sich
um ein notwendiges, aber auch um ein gutes Gesetz. Sie
sollten zustimmen. Dafür werbe ich bei Ihnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Frau Connemann, wenn es Ihnen so wichtig
ist, wie etwas bezeichnet wird, dann möchte ich vorschlagen, um zu einer präziseren Sprachregelung zu
kommen, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einfach
in Arbeitnehmermietgesetz umzubenennen und Leiharbeitnehmer nicht mehr Leiharbeitnehmer, sondern Mietarbeitnehmer zu nennen. Damit hätten wir präzise Begrifflichkeiten.
({0})
Ansonsten ist zu sagen, dass dieser Gesetzentwurf
nichts anderes ist als die zweite Beerdigung des Gleichheitsgrundsatzes bei der Entlohnung von Leiharbeitnehmern. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist jetzt gesetzlich passé. Leiharbeitnehmer können jetzt nur noch auf
ihre Gewerkschaften hoffen. Gesetzlichen Schutz und
staatliche Unterstützung bekommen sie nicht. Ich habe
heute in der Berliner Zeitung gelesen, dass meine Gewerkschaft, die IG Metall, den Arbeitgebern ein Ultimatum mit dem Ziel gestellt hat, endlich darüber zu verhandeln, wie Lohnverbesserungen bei Zeitarbeitnehmern
erreicht werden können. Ich persönlich bin stolz auf
meine Gewerkschaft; denn sie ist wenigstens weiterhin
an dem Thema „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ dran.
Genau das tut diese Bundesregierung nicht.
({1})
Diese Bundesregierung weiß meines Erachtens überhaupt nicht, was Gleichheit und Gerechtigkeit im Betrieb bedeuten. Eine dunkle Ahnung, was es vielleicht
bedeuten könnte, bekommt man, wenn man sich vor Augen führt, was im Rahmen der Diskussion über Equal
Pay am Equal-Pay-Tag gemacht wurde: Die Unterschriftenlisten wurden ja gestern offiziell übergeben.
In diesem Zusammenhang fragt man sich zunächst
einmal, wieso die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Verband deutscher Unternehmerinnen hier als Mitunterstützer auftreten. Wer hat die
Mitglieder dieser Verbände gehindert, in ihren Betrieben
gleichen Lohn für Frauen bei gleicher Arbeit einzuführen? Wieso brauchen Arbeitgeber noch eine extra Aufforderung? Sie können das doch einfach machen.
({2})
Die zweite Frage ist: Warum verabschieden wir in
Deutschland Gleichstellungsgesetze und regeln gleichzeitig die Ungleichheit in allen anderen Fällen? Frauen
verdienen 23 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Leiharbeitnehmer verdienen bis zu 50 Prozent
weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Der Mindestlohn in der Leiharbeit beträgt im Westen 7,79 Euro
und im Osten 6,89 Euro. Das ist nicht akzeptabel.
({3})
Wir diskutieren nachher über die Angleichung der Renten in Ost und West. Sie zementieren in Ihrem Gesetzentwurf die Ungleichheit bei den Leiharbeitern. Ich habe
den Eindruck, Sie haben nicht wahrgenommen, was in
den Tarifverträgen steht. Diese Ungerechtigkeit wird
nämlich auf Ihre Initiative hin per Gesetz festgeschrieben.
Die Kolleginnen und Kollegen könnten möglicherweise wahrnehmen, dass wir jetzt inmitten der Debatte
sind, und sie könnten ihre Nebengespräche vielleicht auf
später verschieben.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich habe mich schon
immer gefragt, wie es ist, wenn man vor einer namentlichen Abstimmung spricht und das Gefühl hat, es interessiert niemanden.
({0})
Zurück zum Thema Ungleichbehandlung von Menschen im Betrieb. Ich rechne einmal hoch, was die Entlohnung nach Tarif bedeutet: Ein Leiharbeitnehmer im
Westen verdient nach Ihrem Vorschlag für einen Mindestlohn 1 181 Euro brutto, und ein Leiharbeitnehmer im
Osten verdient 1 045 Euro brutto. Angesichts dieser Zahl
ist die Gefahr groß, zum Aufstocker zu werden. Von diesem Einkommen auf nahezu Sozialhilfeniveau kann man
nicht leben. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel.
({1})
Dieser Ungleichheit per Gesetz können wir im
Grunde genommen nicht zustimmen. Wir als Linke werden uns in der namentlichen Abstimmung enthalten. Wir
werden also nicht gegen Mindestlöhne stimmen; denn
sie schützen in der Tat deutsche Arbeitnehmer und ebenfalls die Arbeitgeber in der Leiharbeit vor ausländischer
Unterbietungskonkurrenz. Die Linke steht aber weiterhin zu dem Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“.
Wo wir können, werden wir Gewerkschaften und andere
in ihren Forderungen nach einer gleichen Entlohnung
unterstützen.
({2})
Ich bitte noch einmal, der Freude über die bevorstehende namentliche Abstimmung etwas stiller Ausdruck
zu verleihen, als das bisher der Fall ist.
Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Connemann, im Gegensatz
zu Ihnen werde ich jetzt zu dem Gesetzentwurf reden.
Wir begrüßen, dass die Kontrolle der Lohnuntergrenze in der Leiharbeitsbranche bei den Behörden der
Zollverwaltung angesiedelt wird. Das gewährleistet,
dass die Lohnuntergrenze effektiv und vor allem professionell kontrolliert wird - zumindest theoretisch. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit muss aber immer mehr
Mindestlöhne kontrollieren, und auch die Zahl der Leiharbeitskräfte ist wesentlich höher als im Gesetzentwurf
angegeben. Wir fordern eine realistische Personalaufstockung, damit die Theorie auch zur Praxis wird.
({0})
Wenn man den Schutz der Beschäftigten wirklich ernst
nimmt, dann erkennt man: Wirkungsvolle Kontrollen der
Lohnuntergrenze sind spätestens seit der Einführung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Lappalie, sondern elementar wichtig.
Überhaupt nicht einverstanden sind wir aber mit der
Ausgestaltung der Kontrollen hinsichtlich der sogenannten Drehtürklausel. Nach dem großen Schlecker-Skandal
haben Sie, die Regierungsfraktionen, mit großem medialen Aufwand diese Drehtürklausel auf den Weg gebracht. Wenigstens die Leiharbeitskräfte, die zuvor beim
Entleihbetrieb regulär angestellt waren, sollen nun Equal
Pay erhalten. Das ist eh schon eine dürftige Regulierung.
Umso wichtiger wären wirkungsvolle Kontrollen.
({1})
Mit diesem Gesetzentwurf übertragen Sie die Kontrolle auf die Bundesagentur für Arbeit und eben nicht
auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, wie übrigens von
der BA selbst angeregt wurde. Damit bleibt die Regelung in der Praxis ein zahnloser Tiger. Die Bundesagentur für Arbeit ist nicht gerade für besonders wirkungsvolle Kontrollen bekannt. Sie kann nicht gezielt
kontrollieren; es fehlen ihr auch Ermittlungsbefugnisse.
Anders sieht es bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
aus, die jederzeit Betriebsstätten betreten darf und auch
Personen befragen kann. Der Schutz von Leiharbeitskräften und echte Regulierungsbemühungen sehen also
anders aus.
({2})
Wir sehen bei der Bundesagentur für Arbeit einen
Zielkonflikt. Einerseits soll sie die Leiharbeit kontrollieren. Andererseits ist sie wegen ihrer Vermittlungstätigkeit auf ein gutes Verhältnis zu den Leiharbeitsunternehmen angewiesen. Das widerspricht sich. Wir finden das
äußerst problematisch.
({3})
Wir fordern in unserem Entschließungsantrag, dass
alle Kontrollen auf die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
übertragen werden. Unter dem Strich werden durch den
Gesetzentwurf an manchen Stellen effektive Kontrollen
verhindert. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung enthalten.
({4})
Ich vermute, dass die Regierungsfraktionen die Reform der Leiharbeit mit der heutigen Abstimmung als
abgeschlossen ansehen. Ich kann nur sagen: Sie, die Regierungsfraktionen, haben sich lediglich von der öffentlichen Empörung über den Schlecker-Skandal treiben lassen und kosmetische Korrekturen vorgenommen. Das
Ergebnis der sogenannten Reform ist deshalb halbherzig
und reicht bei weitem nicht aus.
({5})
Wir Grüne bleiben nicht wie Sie auf halbem Wege
stehen. Die Lohnuntergrenze ist uns zu wenig; denn verbessert wird nicht die Situation der Leiharbeitskräfte.
Wir fordern weiterhin gleichen Lohn für gleiche Arbeit,
einen Bonus in Höhe von 10 Prozent, die Wiedereinführung des Synchronisationsverbotes und mehr Rechte für
Betriebsräte. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden
nicht lockerlassen; denn Leiharbeitskräfte haben ein
Recht auf faire Entlohnung und ein Mindestmaß an Sicherheit.
({6})
Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die
Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern und Zukunftschancen eröffnen. Daran orientiert
sich grüne Politik.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Paul Lehrieder spricht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Einige Kollegen werden der Rede im Stehen folgen.
Das wird bestimmt eine Besonderheit sein.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zum Schluss
Ihrer Rede haben Sie die Vermutung geäußert, dass für
die Regierungskoalition nach Ihrer - leider irrigen Auffassung mit dem Thema Zeitarbeit Schluss sei. Dem
ist nicht so. Wir haben noch ein Problem zu lösen, und
zwar Equal Pay.
({0})
Wir stehen im Wort. Sie werden sehen, dass wir auch für
dieses Problem eine Lösung finden werden.
({1})
Wir werden die Entwicklungen ein Jahr lang beobachten. Dann werden wir sehen, ob die Tarifvertragsparteien
zu einer Lösung kommen oder ob wir selber etwas tun
müssen.
({2})
Heute, rund 14 Tage nach der ersten Beratung, befassen wir uns abschließend mit dem Gesetz zur Änderung
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes. Darin wird deutlich, dass
unsere Politik, die Politik der christlich-liberalen Koalition, keine Politik der leeren Worte ist. Wir halten unser
Wort. Wir setzen unsere Versprechen zügig um und handeln dort, wo Handlungsbedarf besteht.
({3})
Ich möchte ganz bewusst darauf hinweisen, dass wir
im Bereich der Leiharbeit allein im Jahr 2011 über die
Drehtürklausel, über die Einführung eines Mindestlohns
und nunmehr mit dem heutigen Gesetz über die Überwachung der Einhaltung des Mindestlohnes auch in der
Leiharbeit richtige Gesetze, Arbeitnehmerschutzgesetze,
verabschiedet haben.
Gerade habe ich mir meine Stimmkarten abgeholt. Ich
habe mir zwei blaue Karten geholt. Bei den Grünen sehe
ich ein paar weiße Karten. Im linken Block des Hauses
sehe ich etliche rote Karten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie immer die Arbeitnehmerrechte - völlig zu
Recht - hochhalten: Noch ist es Zeit, Ihre Karten zu tauschen. Gehen Sie an die Fächer! Holen Sie sich blaue
Karten, wenn es Ihnen mit dem Arbeitnehmerschutz
ernst ist.
({4})
Durch die Öffnung der Grenzen am 1. Mai dieses Jahres - vor nunmehr gut drei Wochen - bestand im Bereich
der Leiharbeit Handlungsbedarf. Gerade in dieser Branche galt es, Lohndumping zu verhindern. Deshalb haben
wir am 24. März dieses Jahres auch einen branchenspezifischen Mindestlohn für die Zeitarbeit eingeführt und
werden heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für
einen wirkungsvollen Kontroll- und Sanktionsmechanismus stimmen.
Die erwartete Einwanderungswelle europäischer Arbeitnehmer blieb aus. Wir wurden nicht - wie von einigen Kollegen in diesem Hause, gerade aus der Opposition, als Zerrbild an die Wand gemalt - von ganzen
Kohorten arbeitswilliger Mitbürger aus osteuropäischen
Ländern überrollt. Allerdings ist es den neuen Regelungen für die Leiharbeit zu verdanken, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit als große Chance zu sehen ist: als Mittel gegen den Fachkräftemangel, als Maßnahme gegen
die in vielen Handwerksbranchen bereits existierende
Azubi-Lücke und als willkommenes Arbeitskräftepoten12702
zial mit Blick auf derzeit immerhin über 1 Million offene Stellen in Deutschland.
Meine Damen und Herren, ich wünsche unserer Arbeitsministerin, Frau von der Leyen, an dieser Stelle gute
Besserung; ich hoffe, dass die Hand gut verheilt, damit
sie tatkräftig, wie wir es von ihr kennen, weiterarbeiten
kann.
({5})
Frau von der Leyen stellt ganz deutlich heraus: Die
Frage ist nicht, ob wir es zulassen, dass Arbeitskräfte zu
uns kommen; vielmehr ist die Frage, ob sie trotz der
Sprachbarriere nach Deutschland kommen wollen, wenn
sie noch fünf andere Angebote haben. Gehen Sie einmal
nach Warschau, Stettin oder Prag und schauen Sie, welche Sprachkurse dort angeboten werden, ob es mehr
Deutsch- oder Englischkurse sind. Überlegen Sie sich
dann, ob wir tatsächlich die Chance haben, qualifiziertes
Personal - wir brauchen es sicherlich auch in Zukunft aus diesen Ländern zu bekommen.
({6})
Wir müssen uns um Fachkräfte in unserem Land bemühen. Nach Hochrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden wir bereits im Jahr
2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte zu wenig haben.
Bei der Lösung dieses Problems ist es wichtig, dass wir
uns in erster Linie auf Potenziale im Inland konzentrieren. Dazu gehört ein vernünftiges Ausschöpfen der Potenziale des Alters - wir haben beim vorherigen Tagesordnungspunkt zur Rente mit 67 darüber geredet -, der
Frauenerwerbstätigkeit - da haben wir in Deutschland
noch ein großes Arbeitskräftepotenzial -, der Arbeitslosigkeit bzw. Langzeitarbeitslosigkeit, wo wir einiges tun
können, aber sicherlich auch der Zuwanderung. Jedoch
werden wir unseren Bedarf nicht vollständig über die
Potenziale im Inland decken können. Wir brauchen ausländische Fachkräfte in unserem Land, und zwar bereits
jetzt, wo wir, wie ich bereits ausgeführt habe, auf
1 Million offene Stellen verweisen können.
Kommen wir zurück zur Leiharbeit. Wir sind in einer
Zeit angelangt, in der wir jede arbeitende Hand in der
Bevölkerung brauchen, in der wir jeder Hand die Möglichkeit geben müssen, zu arbeiten. Wir werden heute
mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs das Richtige zur Verbesserung der Kontrollmechanismen in der Leih- und Zeitarbeit auf den Weg bringen.
Mein Appell geht nochmals an die Opposition: Tauschen Sie ganz schnell Ihre Stimmkarten. Es ist ein gutes
Gesetz. Stimmen Sie dem Gesetz zu! Sie tun damit etwas Verantwortungsvolles für die Bevölkerung in unserem Lande, für die Zuschauer auf der Tribüne und an den
Fernsehgeräten. Nehmen Sie Ihre Verantwortung für die
deutschen Arbeitnehmer und für die zu uns kommenden
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahr.
Herr Kollege.
Ich bin am Ende meiner Rede. - Ich bedanke mich für
Ihr geduldiges Zuwarten und wünsche Ihnen jetzt eine
weise Entscheidung bei der namentlichen Abstimmung.
Danke schön.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämp-
fungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5960, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5761 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung angenommen. Gegenstimmen hat es
nicht gegeben. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und
SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-
halten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des
Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die
absolute Mehrheit - das sind 311 Stimmen - erforder-
lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Im An-
schluss daran erfolgt eine einfache Abstimmung über ei-
nen Entschließungsantrag.
Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den
Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? - Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
wieder einzunehmen, damit ich bei der nächsten Abstim-
mung den Überblick behalten kann.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5963. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
1) Ergebnis Seite 12704 D
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleiches Rentenrecht in Ost und West
- Drucksachen 17/5207, 17/5961 Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt ({1})
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Für eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland
- Drucksachen 17/4192, 17/5962 Berichterstattung:
Abgeordneter Frank Heinrich
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke wird später namentlich abgestimmt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Frank Heinrich von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir das Thema
Rente aufgreifen. In zweiter und dritter Lesung behandeln wir heute die Anträge der Grünen und der Linkspartei.
Ich möchte die Haltung der CDU/CSU-Fraktion und
der Koalition beschreiben: Wir befinden uns auf dem
Weg. Sie wollen zwar, dass wir schneller vorankommen,
fest steht aber, dass wir auf dem Weg sind. Der Koalitionsvertrag ist an dieser Stelle eindeutig. Fraktionsübergreifend wollen wir ein einheitliches Rentensystem einführen.
Jedoch ist dies - das habe ich bereits in den vorherigen Sitzungen gesagt - eine sehr komplexe, äußerst sensible Materie. Es gilt, die Interessen von Jung und Alt
- das hatten wir in der vorherigen Debatte -, Ost und
West, Stadt und Land zu berücksichtigen. Das lässt sich
nicht auf eine reine Ost-West-Thematik reduzieren.
Derzeit besteht ein System, das sich in einem guten
Gleichgewicht befindet, zumindest ein sehr gutes Fundament darstellt. Das geltende Rentenrecht und die umlagefinanzierte Rente sind durch die Einheit erst möglich
geworden. Der gegenwärtige Stand sieht so aus: Die
Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den
Löhnen. Der Rentenwert Ost nähert sich in dem Maße
dem Rentenwert West an, in dem sich die Verdienste der
Beschäftigten in Ost und West annähern. Der Durchschnittslohn Ost hat mittlerweile 85 Prozent des Durchschnittslohns West erreicht. In Klammern füge ich hinzu:
Daran gibt es zwar viel zu kritisieren, das ist heute aber
nicht Gegenstand der Debatte. Demgegenüber hat sich
der aktuelle Rentenwert Ost bereits bis auf 89 Prozent an
den Rentenwert West angenähert. Das ist aber immer
noch zu wenig; deshalb machen wir uns auf den Weg.
Die Entgeltberechnung im Osten war mit der Hoffnung auf konstantere Lohnsteigerungen verbunden. Ich
erinnere mich, dass ich um die Wendezeit mit Freunden
darüber diskutiert habe. Damals war ich der festen Überzeugung, dass wir 15 Jahre brauchen, bis wir die Lohnangleichung sowie als Folge davon die Rentenangleichung erreicht haben. Die Lohnsteigerung ist jedoch ins
Stocken geraten. Die Angleichung wird daher notwendig.
Die Gleichbehandlung von Ost und West steht für uns
im Vordergrund. Darum wird der Wille, einheitliche
Rentenwerte einzuführen, auch im Koalitionsvertrag erklärt. Auf dem Weg dahin wollen wir konsensorientiert
vorgehen. Ich möchte aus einer Regierungspressekonferenz zitieren, die vor kurzem zu diesem Thema stattgefunden hat. Ich zitiere Herrn Staatssekretär Seibert:
Wenn man etwas gleich Gutes an diese Stelle setzen
will, dann bedeutet dies, dass möglichst alle mit im
Boot sein müssen, damit es für die eine oder andere
Seite nicht zu Nachteilen kommt. Diesen Konsens,
diese Kompromissbereitschaft, dieses gemeinsame
Vorgehen ins Werk zu setzen, ist ein größeres Vorhaben, an dem fortlaufend gearbeitet wird.
Die Schlussfolgerung daraus ist - an dieser Stelle lese
ich weiter -:
Vielmehr gilt es, mit ostdeutschen Ministerpräsidenten zu reden, aber auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat zu berücksichtigen. Es bedarf
eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses und einer gesamtgesellschaftlichen Bereitschaft, da gemeinsam voranzugehen.
Das beschreibt, in welcher Breite und mit welcher
Sensibilität wir dieses Thema angehen müssen, damit es
- nicht nur hier in diesem Hause, sondern auch in diesem
Land - akzeptiert wird.
({0})
Das Ziel ist die Angleichung des Rentenwertes, ohne die
Bestandsrenten zu mindern und ohne die bereits erarbeiteten Anwartschaften zu verschlechtern. Deshalb ist das
Anliegen berechtigt.
({1})
Danke, dass Sie für dieses einheitliche Recht Sorge tragen. Danke für dieses gerechtfertigte Anmahnen. Aber
wir sind auf dem Weg; deshalb nehme ich dazu Stellung.
Danke für einige der Vorschläge in Ihrem Antrag. Von
diesen halten wir weit mehr als von den Vorschlägen und
Anträgen, die wir von der linken Seite des Parlaments
bekommen.
Es geht dabei zum einen um die Anhebung des aktuellen Rentenwerts Ost und der Beitragsbemessungsgrenze Ost auf die Höhe der Westwerte und zum anderen
um die Reduzierung der Hochwertungsfaktoren für die
Ermittlung der in Ostdeutschland in der Vergangenheit
erworbenen Entgeltpunkte, aber so, dass sich die daraus
resultierenden Rentenansprüche nicht ändern. Es darf
am Schluss keine Benachteiligung entstehen, auch nicht
auf Westseite.
Wir wollen eine einheitliche Berechnung der Entgeltpunkte für die Zukunft und den Wegfall der Hochwertung der Ostentgelte. Das, was Sie als Linke in Ihrem
Antrag vorschlagen, ist nicht mit uns zu machen. Sie fordern eine Angleichung des Rentenwertes Ost an den
Rentenwert West und gleichzeitig die Beibehaltung der
Hochwertung.
({2})
Das würde zu neuen gravierenden Ungerechtigkeiten
und sehr weitreichenden Verwerfungen führen. Das können wir nicht verantworten.
({3})
Ich möchte noch kurz ansprechen, dass wir baldmöglichst zu einem einheitlichen Rentensystem kommen
wollen. Wir denken, dass es schon aus politischen Gründen - wir leben in einem vereinigten Land, in dem der
Grundsatz existiert, dass wir ein einheitliches Rechtssystem haben - nicht bei der Regelung bleiben darf, die wir
im Moment haben. Deshalb stimmen wir dem Vorschlag
der Grünen nicht zu. Wir haben ein Problem mit diesem
einen Begriff, der in Ihrem Vorschlag genannt wird. Darüber haben wir diskutiert. Bezüglich der Garantierente
sind wir noch nicht ganz nah bei euch.
Ich möchte dazu Folgendes sagen: Wir sind für eine
gleiche Berechnung der Rentenwerte mit gleichen Rentenpunkten und möchten und werden ein eigenes Konzept
({4})
inklusive Zeitplan in dieser Legislaturperiode vorlegen.
Wir haben von der Mitte der Legislaturperiode gesprochen; diese ist im September erreicht. Das heißt, dann
werden Sie von uns hören.
({5})
Das Konzept wird ausgewogen, nah am Konsens und finanziell durchdacht sein. Wir werden heute die beiden
vorliegenden Anträge aus den genannten Gründen ablehnen.
({6})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich darf die Aussprache kurz unterbrechen, um Ihnen
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes der Fraktionen von CDU/CSU und FDP,
Drucksachen 17/5761 und 17/5960, bekannt zu geben:
abgegebene Stimmen 574. Mit Ja haben gestimmt 450,
Enthaltungen 124. Zur Annahme des Gesetzentwurfes
ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute
Mehrheit, das sind 311 Jastimmen, erforderlich. Der Gesetzentwurf hat die erforderliche Mehrheit erhalten.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 574;
davon
ja: 450
enthalten: 124
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
olms
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({24})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({25})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({26})
Hubertus Heil ({27})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({28})
Frank Hofmann ({29})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({30})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({31})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({32})
Dr. Matthias Miersch
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Stefan Rebmann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({33})
({34})
Axel Schäfer ({35})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({36})
Werner Schieder ({37})
Silvia Schmidt ({38})
Carsten Schneider ({39})
Swen Schulz ({40})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({41})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({42})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
olms
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({43})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({44})
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({45})
Michael Link ({46})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({47})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({48})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({49})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({50})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({51})
Enthalten
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({52})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({53})
Volker Beck ({54})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({55})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth ({56})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({58})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Dr. Valerie Wilms
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({59})
Wir setzen die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8
fort.
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der
SPD-Fraktion.
({60})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die 5 Millionen ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen
erkennen die unglaubliche, gewaltige Leistung der Herstellung der Einheit durchaus an. Für diese unglaubliche
Leistung sind sie ausgesprochen dankbar. Aber es geht
auch um Gerechtigkeit. Es geht um die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse, um die Anerkennung der
Lebensarbeitszeit. Das Angleichungsgebot des Art. 30
Abs. 5 Satz 3 des Einigungsvertrages vom 31. August
1990 zielt auf die Angleichung der Rente in den alten
und neuen Ländern und damit auf die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse für die Rentner und Rentnerinnen über die Angleichung der Löhne und Gehälter.
({0})
Gerade in den letzten Jahren ist die Angleichung der
Löhne und Gehälter zum Stillstand gekommen. Der Unterschied im Lohnniveau zwischen Ost und West ist größer als der Unterschied im Lohnniveau in den alten Ländern zwischen Nord und Süd. Die fehlende Tarifbindung
im Osten verhindert, dass die Angleichung wie im
öffentlichen Dienst und in einigen wenigen tarifgebundenen Branchen fortgesetzt wird. Im Osten arbeiten
immerhin noch 40 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnbereich und viele ohne Tarifbindung.
({1})
Die Höherwertung der ostdeutschen Durchschnittslöhne
ist deshalb nach wie vor wichtig,
({2})
auch um dem Ziel des Einigungsvertrages gerecht zu
werden.
Unterschiedliche Rentenwerte sind nicht mehr vermittelbar. Sie führen seit Jahren zu Ungerechtigkeiten.
Den Ostdeutschen fehlen 11 Prozent ihrer Rente; für den
sogenannten Eckrentner Ost sind das 139 Euro im Monat. Es kann niemand erwarten, dass man auf dieses
Geld verzichtet. Eine Lösung dieses Problems ist
schwierig. Sie wird auch nicht über Nacht erfolgen. Aber
jedes weitere Jahr ohne Angleichung und ohne unterstützende Maßnahmen wie Mindestlohn und aktive Arbeitsmarktpolitik im Osten kostet uns viel Geld.
({3})
Es geht um die Lebensarbeitsleistung und die unterschiedlichen Lebensverläufe, ganz besonders um die der
Frauen. Was kann schnell getan werden? Zum Beispiel
- ich habe es schon beim letzten Mal gesagt -: dieselbe
Anrechnung und Bewertung der Kindererziehungszeiten, der Pflege und des Wehr- und Zivildienstes. Ich
habe auch schon einmal gesagt: Niemandem kann heute
noch erklärt werden, warum die Versicherungszeiten unterschiedlich bewertet werden. Pflege ist in Ost und West
gleich, Kindererziehung ebenso. Damit wären wir mit
Sicherheit einen Schritt weiter.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man
kann die Debatte zur Rentenangleichung nur auf der Basis der Alterseinkommen führen; denn die Rente als
Säule der Alterssicherung ist in den alten Bundesländern
völlig anders aufgestellt als im Osten.
({4})
Zur Gruppe der westdeutschen Rentner, vor allem der
Männer, zählen auch Beamte und Selbstständige. Sie haben zum Teil nur kurze Versicherungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und beziehen ihr wichtigstes Alterseinkommen aus anderen Systemen wie der
Beamtenversorgung, der berufsständischen Versorgung
und der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Über die
Hälfte der Männer in den alten Ländern mit einer monatlichen Rente von unter 300 Euro bezieht gleichzeitig
eine Beamtenpension. Betriebsrenten sind in der jetzigen
Rentnergeneration im Osten kaum vorhanden. In den alten Ländern haben nur 7 Prozent der Frauen und über
30 Prozent der Männer eine betriebliche Altersvorsorge;
Tendenz steigend, auch im Osten. In den neuen Ländern
gibt es kaum Nebeneinnahmen, weder aus Vermietung
oder Verpachtung noch aus Zinsen. Hier leben fast alle
Rentner und Rentnerinnen ausschließlich von der gesetzlichen Rentenversicherung. So viel zum aktuellen Stand.
Wir kennen natürlich die Vorwürfe, die nicht nur die
Presse, sondern auch der Bundesrechnungshof erhebt. Es
heißt, dass Beschäftigte, die bereits jetzt 100 Prozent des
Westniveaus verdienen, durch die Höherwertung in Zukunft profitieren. Das ist richtig. Würde man aber den
Höherwertungsfaktor generell wegnehmen und nur eine
rein formale Angleichung durchführen, würden sich alle
Rentner und Rentnerinnen dagegen wehren; denn dann
müssten sie generell auf 11 Prozent ihrer Rente verzichten. Das kann man, wenn man Gerechtigkeit will, nicht
hinnehmen.
({5})
Herr Sellering, der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, sagte kürzlich in einem Interview
mit der Schweriner Volkszeitung zu dem Vorschlag Ihrer
Partei:
Das ist ein gefährlicher Vorschlag, der unter dem
Deckmantel einer Angleichung die Benachteiligung
der Ostdeutschen bei der Rente dramatisch vergrößern würde.
({6})
Auch der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Herr
Haseloff, hat aufgezeigt, dass er zum Beispiel den Versuch der FDP in Baden-Württemberg in dieser Richtung
verhindert hat. Er hat es so begründet:
Noch immer tragen die Ostdeutschen stärker die
Folgelasten aus der deutschen Geschichte. Sicherlich müssen wir irgendwann dazu kommen, die
Rentenberechnungen in Ost und West anzugleichen
und die Systeme zu vereinheitlichen.
Beide sind kluge Männer.
Ich möchte Sie nur daran erinnern: Wir hatten den
17. Juni 1953. Arbeiter in Ostdeutschland haben sich gegen Panzer gestellt. Ich erinnere an die Opfer der Mauer,
ich erinnere an die Opfer der Stasi, und ich erinnere Sie
an die friedliche Revolution. Wir können also nicht nur
jeden Jahrestag feiern und sagen, wie wichtig das für unsere Geschichte war,
({7})
sondern die Bürger und Bürgerinnen, die Rentner und
Rentnerinnen erwarten auch Respekt, Anerkennung, Gerechtigkeit und vor allem Demokratie, für die sie eingetreten sind.
Ich gebe den Ministerpräsidenten völlig recht: Sie
können den Bestandsrentnern eine Angleichung nicht
ohne Verbesserung anbieten. Es gab in der DDR eben
keine Möglichkeit, die Renten aufzuwerten. Ich habe das
gerade erzählt: Wir hatten eine Diktatur. Es war ausgesprochen schwierig, hier noch etwas zu tun. Diese Menschen kann man also auch verstehen.
Für mich enthält der Antrag der Linken natürlich ein
sehr sympathisches Modell, das muss ich so sagen,
({8})
aber das wird sehr viel kosten, und das muss man durchrechnen.
Ich möchte nur noch kurz anmerken, was unsere
Ideen sind: Wir sind der Meinung, dass die Rentenangleichung bis zum Auslaufen des Solidarpakts im Jahre
2019 abgeschlossen sein muss. Das ist eine lange Zeit;
ich weiß. Wir müssen die Lebensarbeitsleistung der
Menschen in den neuen Bundesländern anerkennen, und
wir wollen auch die zukünftigen Rentner und Rentnerinnen nicht belasten.
Wir werden auf alle Fälle - auch das habe ich schon
einmal gesagt - den Vorschlag eines Härtefallfonds einbringen, und zwar bis zur Sommerpause. Gleichzeitig
wollen wir die Zeiten der Kindererziehung, der Pflege,
des Wehr- und Zivildienstes schnellstmöglich anpassen.
Auch hierzu werden wir Anträge vorlegen. Daneben arbeitet die Alterssicherungskommission in unserem Parteivorstand. Ottmar Schreiner als Vorsitzender sucht hier
mit nach Lösungen. Herr Heinrich, Sie haben recht: Es
ist nicht alles leicht. Das ist ein mühseliges Unterfangen,
und man kann den Vätern der Einheit nicht vorwerfen,
dass sie diese Rentenangleichung nicht gewollt haben.
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist, dass wir
endlich auch die Löhne in den neuen Bundesländern angleichen. Wir dürfen uns nicht noch einmal solche Fehlentwicklungen leisten wie zum Beispiel die, den Mitarbeitern in der Pflege in den neuen Bundesländern nur
7,50 Euro und in den alten Bundesländern 8,50 Euro anzubieten. Dadurch haben wir hier im Voraus schon wieder eine neue Ungerechtigkeit geschaffen, was sich später natürlich auch in den Renten niederschlagen wird.
({9})
Das darf nicht sein. Wir brauchen einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Ost und West.
({10})
Die Rentenversicherung alleine wird dieses Problem
nicht lösen. Wir wissen, das ist eine Frage der Gerechtigkeit, wir wissen, das ist eine Frage der Einheit, und wir
wissen, das ist auch eine Frage der Steuermittel. Wir basteln Rettungsschirme für die einen, und natürlich haben
die Bürger und Bürgerinnen auch die Erwartung, dass
man auch Rettungsschirme für die anderen errichtet.
Ich danke Ihnen vielmals.
({11})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir in dieser Legislaturperiode, also bis zum Jahr 2013, ein einheitliches Rentensystem einführen werden.
({0})
Viele Menschen warten darauf, und es gibt auch viele
Stimmen, die skeptisch sind, ob das gelingen kann. Ich
aber bin zuversichtlich und spreche für meine Kollegen
der Bundestagsfraktion und auch für die Kollegen der
Union, wenn ich sage, dass wir diese Skepsis durch unser Handeln werden widerlegen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, wir werden Ihrem Antrag heute trotzdem nicht
zustimmen; denn darin sind einige Überlegungen enthalten, die wir nicht teilen. Darauf gehe ich am Ende meiner
Rede gerne noch ein.
Ich möchte daran erinnern, dass wir als FDP-Bundestagsfraktion in der vergangenen Legislaturperiode einen
Antrag vorgelegt haben, der eine Vereinheitlichung des
deutschen Rentenrechts zum Ziel hatte. Inhalt war - das
halten wir auch weiterhin für richtig -, dass in ganz
Deutschland ein einheitliches Rentenrecht eingeführt
wird: mit einem einheitlichen Rentenwert, einheitlichen
Entgeltpunkten und einer einheitlichen Beitragsbemessungsgrenze. Ausgehend von einem bestimmten Stichtag
würden sich dann alle Renten, in Ost und West, entsprechend der Entwicklung des einheitlichen Rentenwerts
anpassen.
Jeder Euro Rentenbeitrag würde ab diesem Stichtag
im ganzen Bundesgebiet den gleichen Rentenanspruch
bedeuten.
({1})
Bisherige Ansprüche und Regelungen würden selbstverständlich unberührt bleiben.
Ich bin sehr froh, dass das Ziel der Schaffung eines
einheitlichen Rentenrechts Eingang in unseren Koalitionsvertrag gefunden hat und dass wir das Thema in
dieser Legislaturperiode umsetzen werden; denn es besteht, wie gesagt, in der Tat Handlungsbedarf. Über
20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und
über 20 Jahre nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist es an der Zeit, dass wir die
deutsche Einheit auch im Rentenrecht verwirklichen.
({2})
Die aktuelle Gesetzgebung führt dazu, dass sich Versicherte in Ost und West gleichermaßen benachteiligt
fühlen. Die Versicherten im Westen sind wegen der
Hochwertung der im Osten gezahlten Beiträge um über
18 Prozent unzufrieden und fühlen sich dadurch benachteiligt. Die Versicherten im Osten fühlen sich durch den
niedrigeren Rentenwert benachteiligt. Zwar wurden die
Renten in den neuen Bundesländern durch die Wiedervereinigung und das Rentenüberleitungsgesetz enorm
aufgewertet; allerdings liegt auch heute noch der sogenannte Rentenwert Ost rund 12 Prozent unter dem Rentenwert West. Das bedeutet, dass ein Jahr durchschnittlicher Rentenbeitrag im Westen noch über 12 Prozent
mehr Wert hat als in den neuen Bundesländern.
({3})
Daraus ergibt sich, dass der sogenannte Eckrentner
- ein Versicherter, der 45 Jahre lang mit Durchschnittsbeiträgen in die Rentenversicherung eingezahlt hat - im
Westen eine Standardrente bzw. eine Eckrente in Höhe
von 1 224 Euro erhält, im Osten jedoch nur von
1 085,85 Euro.
Diese Standardrente bzw. Eckrente ist aber nicht mit
der Durchschnittsrente zu verwechseln. Die Durchschnittsrente - auch dazu möchte ich etwas sagen - ist
im Osten zwar um etwa 100 Euro höher als im Westen;
das hat jedoch auch historische Gründe. In den alten
Bundesländern ist eine größere Zahl von Kleinstrenten
eingerechnet. Das sind Renten von Menschen, die nur
kurze Zeit Mitglied der Rentenversicherung waren und
danach beispielsweise selbstständig wurden oder in den
Beamtenstatus gekommen sind. Diese Menschen sorgen
für eine Reduzierung der Durchschnittsrente, sind aber
in der Regel im Alter gut versorgt.
Solche Kleinstrenten gibt es in den neuen Bundesländern jedoch bis heute kaum. Der Grund dafür ist, dass in
der ehemaligen DDR alle Menschen im Angestelltenstatus arbeiteten und daher auch komplett von der deutschen Rentenversicherung erfasst werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wie
vorhin bereits erwähnt, liegt Ihr Antrag nicht allzu weit
von unseren Vorstellungen entfernt.
({4})
Ihrem Vorschlag einer Garantierente werden wir aber
unsere Zustimmung nicht geben können.
({5})
Ihnen schwebt ein anderes Rentenrecht vor, als wir es
seit Jahrzehnten sehr erfolgreich und mit hoher Anerkennung seitens der Bevölkerung haben. Die Einführung einer Garantierente würde das Äquivalenzprinzip verletzen und zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Das und
damit auch Ihren Antrag lehnen wir als FDP-Bundestagsfraktion ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Birkwald von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Eines möchte und muss ich
vorab klarstellen: Bei der Angleichung der ostdeutschen
Renten an das Westniveau geht es um Gerechtigkeit und nicht um Almosen.
({0})
Es muss gelten: Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
wollen ein gleiches Rentenrecht für Ost und West einführen und möchten damit Gerechtigkeit schaffen. Gut
gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht; denn Ihr
Vorschlag zur Umsetzung ist leider schlecht.
({1})
In Wahrheit festigt Ihr Vorschlag das bestehende
Zweiklassensystem des Rentenrechts, und das ist ungerecht. Dem wird die Linke auf keinen Fall zustimmen.
({2})
Nach Ihrem Vorschlag würden alle bisherigen ostdeutschen Rentenpunkte so in westdeutsche Rentenpunkte heruntergerechnet, dass der tatsächliche Rentenanspruch um keinen Cent steigt.
({3})
Damit blieben die bisher erworbenen Rentenanwartschaften - auch bei der jungen Generation - bei gleicher
Lebensleistung dauerhaft um 11 Prozent gekürzt. Was ist
denn daran gerecht? Gar nichts!
({4})
Die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau war
ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Das
ignorieren Sie völlig, und das ist nicht akzeptabel.
Ihr Denkfehler liegt klar auf der Hand. Sie, lieber
Kollege Strengmann-Kuhn, haben gegenüber der BildZeitung davon gesprochen, dass ja die Osteinkommen
denen im Westen nahezu angeglichen seien. Das ist
falsch; die Kollegin Schmidt hat darauf bereits hingewiesen. Die Friseurin in Dresden verdient noch immer
deutlich weniger als die Friseurin in Köln. Sie haben gegenüber diesem Blatt auch behauptet, es gebe ja auch
keinen Ausgleich zwischen Bayern und Schleswig-Holstein. Mit Verlaub, das ist ignorant. Sie lassen dabei
nämlich schlicht außer Acht, dass selbst Brandenburg als
einkommensstärkstes ostdeutsches Bundesland bei den
Löhnen und Gehältern deutlich abgeschlagen hinter
Schleswig-Holstein als dem einkommensschwächsten
westdeutschen Bundesland zurückfällt. Das sind die Tatsachen. Wenn Sie diese Tatsachen weiter verdrehen, heizen Sie die Neiddebatte zwischen Ost und West weiter
an. Das können Sie doch nun wirklich nicht wollen.
({5})
Bleiben Sie also bitte bei den Tatsachen! Die Grünen
müssen endlich lernen, die Lebenswirklichkeit der Menschen in Ostdeutschland und ihr Empfinden ernst zu
nehmen.
({6})
Die Ausgangslage ist ja bekannt. Wenn zum 1. Juli
die Renten um 1 Prozent steigen, bleibt der aktuelle Rentenwert für Ostdeutsche mit 24,37 Euro weiterhin um
11 Prozent geringer als der Rentenwert für Westdeutsche
mit 27,47 Euro.
({7})
Das hat bittere Folgen: Nach 45 Jahren durchschnittlichem Verdienst erhalten Ostdeutsche 140 Euro weniger
Rente als Westdeutsche. Im Klartext heißt das: Die wirtschaftliche Lebensleistung der Ostdeutschen wird in der
Rentenversicherung schlechter bewertet als die der
Westdeutschen, und das schon seit über 20 Jahren. Doch
statt zu handeln, betreiben seit der Wiedervereinigung
alle Bundesregierungen Sankt-Nimmerleins-Politik. Erinnern wir uns: Die Angleichung war ein zentrales einigungspolitisches Versprechen. Die Linke will, dass es
jetzt endlich eingelöst wird.
({8})
Die Linke greift mit dem vorliegenden Antrag eine
Lösung auf, die von den Gewerkschaften Verdi, GEW,
Transnet, der Gewerkschaft der Polizei und den Sozialverbänden Volkssolidarität, dem Sozialverband Deutschland und dem Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner
und Hinterbliebenen entwickelt worden ist und überzeugend vertreten wird. Nach unserem Vorschlag muss eine
gerechte Angleichung erstens zu einer deutlichen Verbesserung für alle heutigen Rentnerinnen und Rentner
führen;
({9})
denn die Alterseinkünfte sind im Osten 18 Prozent geringer als im Westen.
({10})
Das liegt vor allem daran, dass die gesetzliche Rente bei
den Ostdeutschen mehr als 90 Prozent ihres gesamten
Alterseinkommens ausmacht.
Zweitens. Die Hochwertung der ostdeutschen Löhne
und Gehälter muss - darauf wurde eben hingewiesen als pauschaler Nachteilsausgleich beibehalten werden,
und das, obwohl sich die Tariflöhne angleichen. Warum?
Knapp die Hälfte aller Beschäftigten in Ostdeutschland
arbeitet nämlich ohne Tarifvertrag, und die durchschnittlichen Löhne und Gehälter liegen an der Saale und der
Oder nach wie vor ein Viertel unter denen am Rhein und
an der Isar. Außerdem müssen Ostdeutsche für einen fast
gleichen Lohn oft länger arbeiten und auf im Westen übliche Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld oder Weihnachtsgeld verzichten. Die bloße Angleichung der Tariflöhne sagt also nichts über die tatsächliche Ungleichbehandlung aus. Ohne eine Hochwertung würde der
Eckrentner Ost - dieser ist eben vom Kollegen Kober erwähnt worden - heute nur knapp 700 Euro Rente erhalten. Das geht nicht.
({11})
Drittens. Die Angleichung soll bis 2016 abgeschlossen sein. Die Linke, Verdi, die Volkssolidarität und andere schlagen dafür einen steuerfinanzierten, stufenweise steigenden Zuschlag vor.
Viertens. Die Angleichung der Renten im Osten an
das Westniveau darf nicht gegen eine vernünftige Lohnund Wirtschaftspolitik für Ostdeutschland ausgespielt
werden. Die Rentnerin in Cottbus ist nicht weniger wert
als der Rentner in Kiel.
Herzlichen Dank.
({12})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Richtig, Herr Birkwald, der Rentenwert Ost liegt immer
noch deutlich unter dem Rentenwert West, nämlich ab
1. Juli bei 24,37 Euro im Vergleich zu 27,47 Euro. Dieser Zustand muss so schnell wie möglich beseitigt werDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
den, weil er ungerecht ist und von den Ostdeutschen zu
Recht als diskriminierend empfunden wird.
({0})
Sie haben jedoch verschwiegen, dass Sie das nicht
schnell beseitigen wollen, sondern sich fünf Jahre Zeit
lassen wollen, um diese Lücke zu schließen. Bei der
SPD ist das noch viel schwammiger. Da war davon die
Rede, man müsse erst einmal abwarten, bis sich die
Löhne angeglichen hätten. Das ist das Warten auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei der CDU heißt es: Wir haben uns auf den Weg gemacht. - Die Ministerin hat jedoch bisher noch nichts vorgelegt, und auch die Koalitionsfraktionen haben noch nichts vorgelegt. Ich sehe
diesen Weg noch nicht. Wenn unser Antrag dazu führt,
dass sich die Prozesse bei Ihnen beschleunigen - das
fänden wir sehr richtig -, dann hat es sich gelohnt, diesen Antrag einzubringen.
({1})
Für uns sind folgende Dinge wichtig: Erstens. Der
Rentenwert Ost muss auf den Rentenwert West angehoben werden, und zwar so schnell wie möglich.
Zweitens. Wir wollen einen Vorschlag machen, der finanzierbar und schnell umsetzbar ist, damit wir dieses
Ziel erreichen.
Drittens. Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten
entstehen.
Viertens. Mitbedacht werden muss, dass schon jetzt
die Altersarmutswelle anfängt zu rollen, und zwar insbesondere im Osten Deutschlands. Vor kurzem wurde eine
neue Studie vorgelegt, die zeigt, dass die Rentenansprüche der Neurentnerinnen und -rentner seit ein paar Jahren sinken. Insbesondere im Osten wird das besonders
der Fall sein. Deswegen ist uns die Forderung nach Einführung einer Garantierente sehr wichtig, weil dies insbesondere die Rentnerinnen und Rentner im Osten vor
Altersarmut schützt.
({2})
Zu unserem Vorschlag: Erstens. Wir schlagen vor, den
Rentenwert Ost auf den Rentenwert West zum nächstmöglichen Zeitpunkt anzuheben. Das ist, wenn man die
Umsetzung bei der Rentenversicherung mit berücksichtigt, wahrscheinlich zum 1. Juli 2012 möglich. Wir wollen nicht so lange warten wie die Linke.
({3})
Zweitens. Die derzeitigen Rentenansprüche sollen erhalten bleiben. Hier gibt es einen Unterschied zu den
Linken, den bereits Matthias Birkwald aufgezeigt hat.
Wir sind nicht der Meinung, dass man ausschließlich im
Osten eine Schippe drauflegen kann
({4})
und die dortigen Renten einseitig um 10 Prozent erhöhen
sollte.
({5})
Dies würde neue Ungerechtigkeiten hervorrufen. Wer im
Westen wenig verdient, würde nicht einsehen, warum er
bei gleichem Lohn nicht den gleichen Rentenanspruch
hat. Wer im Westen viel, 4 000 Euro, verdient, würde
erst recht nicht einsehen, einen geringeren Rentenanspruch zu haben als jemand, der im Osten 4 000 Euro
verdient.
Deswegen sagen wir: Wenn wir den Rentenwert Ost
auf den Rentenwert West anheben, dann kann man in der
Tat auf die Hochwertung der Entgeltpunkte in Ostdeutschland verzichten, weil der Unterschied mittlerweile nur noch marginal ist. Wenn man die Zahlen
nimmt, die ab dem 1. Juli 2011 gelten, dann beträgt der
Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von 30 000 Euro im Jahr 38 Cent. Das
ist der Vorteil, den wir sozusagen den Ostdeutschen
wegnehmen wollen. Aber damit schaffen wir endlich
gleiche Verhältnisse in Ost und West.
({6})
Ich habe viele Zuschriften erhalten, in denen die ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen, dass sie
es als diskriminierend empfinden, dass bei ihnen die
Entgeltpunkte so berechnet werden, dass dies zu einem
Aufschlag führt. Denn auch die Menschen in Ostdeutschland wollen endlich so behandelt werden wie die
im Westen und nicht als Erwerbstätige zweiter Klasse.
({7})
- Ich habe doch gerade gesagt, dass, was den Rentenanspruch angeht, der Unterschied bei einem Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von ungefähr 30 000
Euro im Jahr 38 Cent beträgt. Das steigt dann mit höherem Einkommen an.
Sie machen einen Vorschlag, wonach alle Renten erhöht werden sollen, unabhängig von der Rentenhöhe.
Das heißt, Sie sehen mehr Rente auch für die Reichen
vor. Das finden wir nicht sinnvoll. Wir meinen nicht,
dass jemand, der 4 000 Euro im Osten verdient, höhere
Rentenansprüche haben sollte als jemand, der 4 000
Euro im Westen verdient.
({8})
In diesem Einkommensbereich gibt es schon jetzt meistens gleiches Geld für gleiche Arbeit.
({9})
Richtig ist, dass die Durchschnittseinkommen im Osten nach wie vor geringer sind. Aber da muss man an
den Ursachen ansetzen. Wir brauchen endlich einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen
Branchentariflöhne. Wir brauchen mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, damit endlich auch im Osten
tatsächlich genauso viel bezahlt wird wie im Westen.
Wir müssen die Gewerkschaften und Arbeitgeber auffordern, endlich mit dem Unsinn aufzuhören, die Tarife für
Ost und West ungleich zu gestalten. Wir brauchen da
endlich gleiches Recht für West und Ost.
({10})
Das brauchen wir nicht nur bei den Löhnen, sondern
auch in der Rente. Ich kann Ihnen versichern: Wir werden weiter Druck machen für ein gleiches Rentenrecht in
Ost und West. Wir werden auch weiter Druck machen
für eine bessere Armutsbekämpfung - in Ost- und Westdeutschland. Insbesondere die Ostdeutschen würden von
einer Garantierente, wie wir sie vorschlagen, profitieren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Brehmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir behandeln den Antrag der Grünen zum
Rentenrecht in Ost und West. Wenn ich mir Ihren Antrag
so anschaue, dann sehe ich, wie krampfhaft versucht
wird, Gerechtigkeit zu formulieren, eine Form von Gerechtigkeit, mit der wir uns hier seit Jahren beschäftigen,
eine Gerechtigkeit, die 3 Millionen ostdeutsche Rentner
und 20 Millionen Rentner bundesweit betrifft. Betrachte
ich mir Ihren Antrag, dann muss ich sagen: Er steht für
mich - sicher zu Recht - unter dem Motto „Schnelligkeit
statt Qualität“.
({0})
- Dazu komme ich noch, keine Sorge.
Im Koalitionsvertrag haben wir als christlich-liberale
Koalition vereinbart, noch in dieser Legislaturperiode
ein einheitliches Rentensystem in Ost und West einzuführen.
({1})
Die christlich-liberale Koalition wird den Demografiebericht der Bundesregierung abwarten, der Ende des
Jahres vorliegen und uns die entscheidenden Zahlen zum
Sozial- und Rentensystem liefern wird.
({2})
Wir rechnen damit, dass wir gegen Ende des Jahres zu
einer Entscheidung kommen werden.
Ich warne im Interesse der betroffenen Rentner vor
undurchdachten Entscheidungen und Schnellschüssen.
Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern haben genauso hart gearbeitet wie ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern. Das sollten wir dabei
nicht vergessen. Die betroffenen Rentner fragen sich zu
Recht, nicht nur in den neuen Bundesländern, warum es
nach 20 Jahren der deutschen Einheit noch immer unterschiedliche Rentenwerte gibt.
({3})
Die Zusammenführung der Rentensysteme ist eine
große sozialpolitische und solidarische Leistung gewesen. Allein im Jahr 2009 gab es über die Rentenversicherungssysteme einen Transfer in Richtung Osten in Höhe
von 14,9 Milliarden Euro. Es wird oft kritisiert, dass die
Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern eine höhere
Anzahl an Entgeltpunkten sammeln. Man muss dabei
aber bedenken, dass der Rentenwert Ost um 12,1 Prozent unter dem Rentenwert West liegt. Gleicht man den
Rentenwert nun aber an das westdeutsche Niveau an,
würde die Höherbewertung der Entgeltpunkte wegfallen.
Die Folge: Zukünftige Rentner, die heute relativ wenig
verdienen, könnten das Nachsehen haben.
Sicher hatten wir Anfang der 90er-Jahre angenommen: Die Rentenwerte gleichen sich über die Jahre allein
durch die Lohnentwicklung an. Betrachten wir die Realität der Lohnentwicklung in Ost und West, sieht es natürlich ganz anders aus. Ich möchte hier nur ein Beispiel
nennen - Frau Schmidt hat es schon erwähnt, und Herr
Strengmann-Kuhn hat auch darauf hingewiesen -: Die
Tarifpartner haben in der Pflege einen Stundenlohn von
8,50 Euro im Westen und 7,50 Euro im Osten vereinbart.
Wir müssen darauf hinwirken, dass die Lohnentwicklung und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, die
heute noch deutliche Unterschiede im Vergleich zu Baden-Württemberg oder Bayern aufweisen, sich in den
nächsten Jahren verbessern.
({4})
Je besser sich die Löhne in den neuen Bundesländern
entwickeln, desto schneller geschieht die Rentenanpassung.
Bei der Diskussion zur Rentenanpassung gehen die
meisten Rentner davon aus, dass eine Rentenangleichung auch eine Rentenerhöhung bedeutet. Für einige
Bürger wird dies zutreffen. Wird der Rentenwert angeglichen, wird es Gewinner und ebenso Verlierer geben.
Das ist so.
Als ostdeutsche Christdemokratin wünsche ich mir
natürlich, dass es möglichst keine Verlierer gibt, auch
wenn die Zahl der Gewinner vergleichsweise kleiner
werden könnte. Deshalb müssen wir zum Ende des Jahres den Bericht der Bundesregierung, der dann vorliegen
wird, genau prüfen und hier, wie im Koalitionsvertrag
vereinbart, noch vor Ende der Wahlperiode Klarheit
schaffen.
Es besteht kein Zweifel, dass die Situation für die Betroffenen alles andere als befriedigend ist. Die christlichliberale Koalition hat sich ebenso gründlich wie ausgiebig Zeit genommen, die Verfassungsgerichtsurteile im
SGB II und bei Hartz IV umzusetzen. Von daher die EinHeike Brehmer
ladung an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, sich zu beteiligen,
({5})
wenn wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorlegen werden, und sich nicht wie bei der HartzIV-Gesetzgebung zum Bildungs- und Teilhabepaket einfach aus der Verantwortung zu stehlen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, in Ihrem
Antrag fordern Sie die radikale Angleichung der Ost- an
die Westrente; Sie sind wieder ganz vorn mit dabei. Bekanntlich haben Sie sich ja wie keine andere Partei das
Banner der sozialen Gerechtigkeit über den Kaminsims
gehängt.
({7})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht kehren
Sie erst einmal Ihren eigenen Hof, bevor Sie dem kleinen Mann vermeintliche Gerechtigkeit versprechen.
({8})
In der Rentenangleichung wären Ihnen die ehemaligen
DDR-Bürger dankbar dafür, wenn Sie einfach einen Teil
des Geldes aus dem SED-Parteivermögen für die Rentenkasse zur Verfügung stellten.
({9})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Kurth von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über das Rentenrecht Ost bzw. West. Ich
halte hier fest: Nach der Wende stand Deutschland vor
der großen Herausforderung, zwei unterschiedliche Sozialsysteme miteinander zusammenzuführen. Dazu gehörten die Rentensysteme in beiden Teilen Deutschlands. Diesen Kraftakt haben wir innerhalb kurzer Zeit
zumindest im Hinblick auf diese Thematik geschafft,
und darauf können wir auch stolz sein.
({0})
In der DDR gab es - Sie erinnern sich - ein völlig marodes Sozialsystem; die Altersvorsorge war abgeschrieben. Dieses System wurde in einer riesigen Kraftanstrengung ersetzt. Die West- und Ostdeutschen haben
gemeinsam das marode Rentensystem der DDR überwunden und in ein gesamtdeutsches überführt.
({1})
Ich erinnere Sie an die erbärmliche Rentenhöhe in der
DDR: durchschnittlich 400 bis 500 DDR-Mark.
({2})
Zudem war es kaum jemandem möglich, Finanz- oder
Sachwerte für das Alter anzusparen. Nach der Wende
stiegen die Renten erheblich. Auch das ist ein Punkt, auf
den man ruhig einmal stolz sein kann.
({3})
Nicht vergessen werden darf - auch das ist wichtig,
wenn wir über Rentner und Rente reden -: das bessere
Sozialsystem, das bessere Gesundheitssystem, das bessere Rentensystem und eine bessere Versorgung im Pflegefall. Dies hat konkrete Auswirkungen zum Beispiel
auf die Lebenserwartung. Dass sich die Lebenserwartung der Ostdeutschen in den letzten 20 Jahren massiv
erhöht hat, ist auch eine Folge des Rentensystems.
({4})
Das sind doch alles Erfolgsgeschichten, die an dieser
Stelle auch einmal erwähnt werden müssen. Dass es Erfolgsgeschichten sind, wollen Sie nicht hören; das tut
mir leid. Trotzdem sind es Erfolgsgeschichten.
Zur Vollendung der deutschen Einheit gehört nun
auch, dass wir überall in Deutschland das gleiche Rentenrecht haben werden. Das ist eine Anstrengung, die
auch diese Bundesregierung leisten wird. Aber keine
Bundesregierung ist dafür verantwortlich, dass wir im
Grundsatz diese Unterschiedlichkeit haben. Dies ist und
bleibt ein Erbe der sozialistischen Planwirtschaft.
({5})
Die Renten folgen seit 1992 auch in den neuen Ländern den Löhnen. Das heißt, die Renten sind auch davon
abhängig, wie die Verdienstmöglichkeiten der Beschäftigten im Osten sind. Wenn 40 Jahre lang Großbetriebe
komplett kaputtgewirtschaftet wurden, wenn der Mittelstand zerschlagen wurde, wenn Kleinstbetrieben kaum
Luft gelassen wurde, was glauben Sie, was man 20 Jahre
später an Wirtschaftskraft und Entlohnung aufbauen
kann?
({6})
Sie haben eines der größten Verbrechen in diesem Teil
Deutschlands begangen und Schaden angerichtet. Jetzt
beschweren Sie sich, dass diejenigen, die versuchen, Ihr
Feuer zu löschen, das Feuer nicht schnell genug löschen.
So geht es auch nicht.
({7})
Weil man in der DDR kaum vorsorgen konnte, weil
man nur eine niedrige Rente in Aussicht hatte, weil es
übrigens auch keinen großen Unterschied zwischen Ar12714
Patrick Kurth ({8})
beitern und Akademikern gab, wurden einst die Ostrentenpunkte aufgewertet. Das ist eine Schwierigkeit,
die wir ebenfalls ansprechen müssen. Es geht nicht nur
um Rentenauszahlung, sondern auch um die Bewertung
der Punkte. Dies muss mit abgearbeitet werden. Dazu
bedarf es keiner überhasteten Arbeit, sondern dazu bedarf es der Genauigkeit.
({9})
Das wird diese Koalition in dieser Legislaturperiode
leisten.
Sehr herzlichen Dank.
({10})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich nun das Wort dem Kollegen Ulrich Lange von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu Anfang halte ich ebenso wie der Kollege gerade eben
fest, dass sich das Rentensystem, wie wir es nach der
Wiedervereinigung für Deutschland geschaffen haben,
dem Grundsatz nach bewährt hat. Ich danke den Bürgerinnen und Bürgern für 20 Jahre Solidarität im Rentensystem, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Das
war ein echter Kraftakt in unserem Land, und meines Erachtens muss das heute auch einmal gesagt werden.
({0})
Ja, wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, das
Rentensystem in dieser Legislaturperiode anzugleichen.
Aber dass diese Angleichung im Detail schwierig ist und
dass es hierbei zwischen dem Vorschlag der Grünen oder
aber der vermeintlich großen Gerechtigkeit der Linken
große Differenzierungsprobleme gibt, haben die Vorrednerinnen und Vorredner schon sehr deutlich gemacht.
({1})
Wir haben eine Hochwertung der Entgeltpunkte im
Osten. Diese müssten wir dann im Sinne der Gerechtigkeit abschaffen.
({2})
Wir müssten den Umrechnungsfaktor angleichen. Es
gibt also viele Probleme und Punkte im Detail, die ich
jetzt nicht alle wiederholen möchte.
Angesichts der Komplexität und angesichts der
Schwierigkeit dieser Materie dürfen wir das Problem der
zwischen Ost und West möglicherweise bestehenden
Ungerechtigkeit nicht in einer emotionalen Debatte angehen. Wir dürfen auch keine Schnellschüsse machen.
({3})
- In diesen 20 Jahren - der Kollege hat es eben deutlich
gemacht - ist sehr viel geleistet worden. Ich glaube, dass
man darauf stolz sein kann und dies auch hier in aller
Deutlichkeit sagen darf.
({4})
Deswegen ist es nicht redlich, hier von Ungerechtigkeit zu reden; vielmehr geht es darum, in einem langfristigen Prozess diese Gleichheit zu schaffen. Darum sind
wir mit unserer Ministerin bemüht. Wir sind sicher, dass
wir hier zu einem richtigen, sinnvollen und ausgewogenen Ergebnis kommen, nämlich zu einer gerechten Lösung zwischen West und Ost, zwischen Ost und West,
innerhalb des Systems.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Glei-
ches Rentenrecht in Ost und West“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/5961, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5207 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4. Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine
gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/5962, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/4192 abzulehnen. Wir stim-
men nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen
der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen.
Sind die Schriftführer vollzählig an den Urnen? - Das
scheint der Fall zu sein. Ich bitte Sie, abzustimmen. Die
Abstimmung ist eröffnet.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm-
karten eingeworfen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte Sie, wieder
die Plätze einzunehmen.
1) Ergebnis Seite 12716 C
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations
Interim Force in Lebanon ({0}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 1937 ({2}) vom 30. August 2010 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/5864 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik
Deutschland unterstützt die UNIFIL-Mission zum
Schutz der libanesischen Küste. Dieser Schutz der libanesischen Küste ist aus unserer Sicht aber keine Daueraufgabe der Staatengemeinschaft und auch keine Daueraufgabe für uns. Damit der Libanon diese Aufgabe
schultern kann, haben wir im vergangenen Jahr nach einer umfangreichen Debatte auch hier im Deutschen Bundestag umgesteuert.
Das geänderte Mandat setzt den Schwerpunkt auf die
Ausbildung der libanesischen Marine. In diesem Jahr
bleiben wir auf dem Kurs, den wir im letzten Jahr neu
eingeschlagen haben. Heute ist der Libanon in der Lage,
mit Radaranlagen die Küsten zu überwachen. Das ist ein
Erfolg unserer Unterstützung und wird auch die Sicherheit für die Handelsmarine erhöhen und damit die
Versorgung der Menschen im Libanon verbessern. Deswegen möchte ich vorab und zuallererst allen Frauen
und Männern, allen Soldatinnen und Soldaten danken,
die bei UNIFIL so viel erreicht haben und die unter sehr
großer persönlicher Entbehrung diesen Einsatz als stabilisierenden Faktor in der Region tragen.
({0})
Noch braucht der Libanon unsere Hilfe. Wir setzen
weiter auf Ausbildung und Training, weil wir uns damit
eine Perspektive auf Beendigung des Einsatzes erarbeiten können. Unser Engagement bleibt eingebettet in unsere Arbeit für dauerhaften Frieden und demokratische
Stabilität in der ganzen Region. Glaubwürdigkeit, Wohlwollen und Vertrauen werden uns entgegengebracht. Es
kommt nicht von ungefähr, dass alle Parteien - Israel,
der Libanon und insbesondere die Vereinten Nationen um eine Fortsetzung unseres Beitrages zu UNIFIL gebeten haben.
Wir erleben, anknüpfend an die Regierungserklärung
der Bundeskanzlerin von heute Morgen, natürlich eine
historische Zäsur in der arabischen Welt. Gerade in diesen Tagen und in diesen Monaten ist diese Zäsur natürlich der Hintergrund, vor dem diese Debatte stattfindet.
In dem Streben nach mehr Freiheit, mehr Demokratie
und größerem persönlichen Wohlstand in der arabischen
Welt liegt auch eine große Chance für uns Europäer. Es
ist die Chance auf ein neues Kapitel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Ende
der Diktaturen in Tunesien und in Ägypten gibt Hoffnung.
In anderen Teilen der Region überwiegt aber immer
noch Besorgnis. Auch im Libanon - darum kann man
nicht herumreden - ist die Lage in den letzten Monaten
nicht einfacher geworden. Seit Januar ist das Land ohne
Regierung. Eine Regierungsbildung ist nicht in Sicht.
Die Situation der Menschen in den palästinensischen
Flüchtlingslagern bleibt angespannt. Bei der Grenzfestlegung mit Syrien herrscht Stillstand. Noch immer versuchen die Regierungen in Syrien und im Iran, den Libanon zu dominieren. Hinweise auf Waffenlieferungen an
die Hisbollah sind erdrückend eindeutig.
Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme als Grundlage für die Entscheidung des Deutschen Bundestages
gehört also nicht nur das, was unsere Frauen und Männer
an Erfolgen erreicht haben, sondern natürlich auch eine
kritische Würdigung der Umstände einschließlich der
politischen Entwicklungen, die uns alle in diesem Hause
unzweifelhaft beunruhigen. Ich denke, man muss diesen
Punkt hier ausdrücklich ansprechen, weil man sonst
nicht zu einer abgewogenen Entscheidung kommen
kann. Der Eindruck, das sei ein leichter Einsatz, der Eindruck, alles sei in Ordnung und alles auf bestem Wege,
täuscht. Dies anzunehmen, wäre fahrlässig. Wir müssen
auch die Schwierigkeiten dieses Einsatzes, insbesondere
auch die politischen Schwierigkeiten dieses Einsatzes,
sehen.
({1})
Was wir in diesen Tagen in Syrien erleben, ist nicht
nur ein Drama und schrecklich für die Menschen, die für
Freiheit auf die Straße gehen und Repression und Unterdrückung erleiden, sondern das, was wir in diesen Tagen
in Syrien erleben, hat auch viel Störpotenzial für den Libanon. Anfang der Woche haben wir in Brüssel eine entschlossene Antwort auf die fortgesetzte Repression der
syrischen Führung gegen das eigene Volk gegeben. Die
Sanktionen sind zweistufig beschlossen worden, übrigens auch in Einklang mit unseren Partnern, den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die Erklärung der G 8
in Deauville lässt an Deutlichkeit nichts vermissen, was
die entsprechende Kritik an dem syrischen Präsidenten
und der syrischen Führung angeht. Die Sanktionen sind
beschlossen und werden dementsprechend auch wirken,
weil sie zielgerichtet beschlossen worden sind.
Die Unterdrückung des syrischen Volkes ist eine Herausforderung der europäischen Wertegemeinschaft. Präsident Assad und sein engerer Zirkel sind in der Europäischen Union derzeit nicht willkommen. Ihre Konten
bleiben eingefroren. Wenn Menschen- und Bürgerrechte
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft verhöhnt werden, dann muss die europäische Wertegemeinschaft eine
unmissverständliche Antwort geben. Europa hat in dieser Woche gezeigt, dass es ernst ist und dass wir es ernst
meinen, wenn es um den Einsatz für Freiheit und Menschenrechte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft
geht.
({2})
Zum Schluss möchte ich allerdings auch sagen, dass
der Dreh- und Angelpunkt für die gesamte Region die
Fortschritte im Nahost-Friedensprozess sind. Dieser
Konflikt überlagert seit Jahrzehnten sämtliche Beziehungen in der Region. Die Ereignisse des vorletzten Wochenendes haben gezeigt, wie schnell an der Grenze zwischen Israel, Libanon und Syrien Konflikte in Gewalt
münden. Wir begrüßen, dass sich Präsident Barack
Obama wieder sehr persönlich in den Nahost-Friedensprozess eingeschaltet hat. Wir sind uns in der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten einig, dass eine
Friedenslösung im Nahen Osten nur die Zwei-StaatenLösung sein kann.
Ich will nicht wiederholen, was die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen dazu gesagt hat. Ich will zum
Schluss nur noch eine Ergänzung machen. Es ist ein
Fenster der Gelegenheit, vielleicht ist es auch ein historisches Fenster der Gelegenheit, dass der arabische Frühling neue Chancen für den Nahost-Friedensprozess fördert. Es gilt aber auch umgekehrt: Der NahostFriedensprozess ist entscheidend für den Erfolg des arabischen Frühlings.
({3})
Dieser gegenseitige Zusammenhang muss gesehen werden. Das ist die Nachricht, die wir an alle Beteiligten geben. Einseitige Schritte, also weder der Siedlungsbau
noch einseitige Ausrufungen, sind nicht der richtige
Weg. Rückkehr zum Verhandlungstisch, direkte Gespräche - das ist es, was wir jetzt brauchen, und das ist es,
was die Bundesregierung unterstützt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Bevor wir mit der Aussprache fortfahren, möchte ich
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Für eine gerechte Angleichung der Renten in Ostdeutschland“ geben: abgegebene Stimmen
566. Mit Ja haben gestimmt 503, mit Nein 63, Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 503
nein: 63
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Dr. Stefan Kaufmann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({8})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({9})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
olms
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({10})
Anita Schäfer ({11})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({12})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({13})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({14})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({15})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({16})
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({17})
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({20})
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({21})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({25})
Frank Hofmann ({26})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({27})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({28})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({29})
Dr. Matthias Miersch
Andrea Nahles
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({30})
({31})
Axel Schäfer ({32})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({33})
Werner Schieder ({34})
Silvia Schmidt ({35})
Carsten Schneider ({36})
Swen Schulz ({37})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({38})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Vizepräsident Dr. Hermann Otto S
Daniel Bahr ({39})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({40})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({41})
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({42})
Michael Link ({43})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({44})
Burkhardt Müller-Sönksen
olms
Dr. Martin Neumann
({45})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({46})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({47})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({48})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({49})
Volker Beck ({50})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({51})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({52})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({53})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Dr. Valerie Wilms
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({54})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Müller ({55})
({56})
Als nächstem Redner erteile ich jetzt das Wort dem
Kollegen Günter Gloser von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika haben sich tiefgreifend verändert.
Mit Sympathie und Begeisterung, aber auch mit angehaltenem Atem verfolgen wir, was in Ägypten und Tunesien geschieht. Wir schauen aber auch mit großer
Sorge nach Libyen, Syrien und in den Jemen. Wir streiten auch darüber, was die richtige Antwort auf das Verhalten dieser gewalttätigen Regime ist.
Wir verfolgen gespannt die Entwicklung im notwendigen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern. Herr Außenminister, wir unterstreichen, was
Sie zum Schluss gesagt haben: Jetzt öffnet sich zum wiederholten Male ein Fenster der Gelegenheit, um endlich
zu einer Lösung zu kommen.
Meine Forderung ist, neben diesen aktuellen Brennpunkten nicht die Länder zu vergessen, die gerade nicht
im Fokus stehen. Dazu gehören zum Beispiel Marokko
und Algerien, aber auch der Libanon. Insofern steht die
Verlängerung der UNIFIL-Mission in einem größeren
Zusammenhang.
UNIFIL ist ein Baustein der Stabilität im Libanon und
der regionalen Stabilität für die Nachbarn des Landes.
Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung
in der Region geleistet. Die Mission ist beispielhaft für
eine langfristige und präventive Friedenspolitik. Sie
vollzieht sich ohne große Schlagzeilen. So gilt auch
heute mein Dank allen Soldatinnen und Soldaten der gesamten Mission, die sich seit 2006 an diesem Einsatz beteiligt haben, aber sich auch auf die kommenden Einsätze im Rahmen der UNIFIL-Mission vorbereiten.
({0})
Sie leisten eine wichtige Arbeit für den Frieden, die in
der Öffentlichkeit abseits der vielen Brennpunkte viel zu
wenig gewürdigt wird.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
SPD-Fraktion hatte bei UNIFIL immer eine klare Linie:
Das politisch Machbare, aber auch das militärisch Mögliche, was für die Sicherung des Friedens im Nahen und
Mittleren Osten geleistet werden kann, findet unsere Zustimmung, unabhängig davon, ob wir an der Regierung
sind oder in der Opposition. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat 2006 keine Minute gezögert, eine positive Antwort auf die Anfrage von UNGeneralsekretär Kofi Annan nach einer deutschen Beteiligung an UNIFIL zu geben.
Wir erinnern uns: Die zentrale Aufgabe der maritimen
Komponente von UNIFIL ist es, Waffenschmuggel von
Seeseite zu unterbinden sowie die Streitkräfte des Landes in die Lage zu versetzen, diese Aufgabe bald selbstständig zu übernehmen. Dies war dringlich und ist nun
angesichts der instabilen innenpolitischen Lage im Libanon und der Schwächung der staatlichen Strukturen
durch den Krieg im Sommer 2006 umso dringlicher.
Die Mission hat ihre Aufgabe von 2006 bis heute in
vorbildlicher Weise erfüllt. Damit ist sie aber noch nicht
am Ende; denn die eigenen Fähigkeiten der libanesischen Armee sind noch nicht ausreichend, um ohne die
internationale Präsenz auszukommen. Auch wurde der
Waffenschmuggel, wie schon gesagt, nur an der Seeseite
unterbunden; der Schmuggel über die Landgrenze mit
Syrien stellt in der Tat ein weiteres großes Problem dar.
Schon unter der letzten Bundesregierung mit SPD-Beteiligung wurde deshalb unter anderem eine enge Zusammenarbeit im Zollbereich begonnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier
nicht immer auf das Schwanken und Herumeiern der
FDP in der Opposition bis 2009 bei der Haltung zu
UNIFIL eingehen; das ist nach wie vor kein Ruhmesblatt
für die Liberalen. Ich frage Sie aber heute: Warum ist die
Bundesregierung, warum sind die FDP-Fraktion und die
Unionsfraktion im Falle Libanons für einen Einsatz der
Marine zur Verhinderung von Waffenschmuggel, im
Falle Libyens aber dagegen? Wir erinnern uns schmerzlich an den Abzug deutscher Marinekontingente und die
bis dahin nie dagewesene Aufkündigung der Bündnissolidarität im Falle Libyens. Ich frage noch einmal: Was
kann sinnvoller sein, als illegale Waffenlieferungen zu
unterbinden?
({1})
In beiden Fällen, bei der Mission im Libanon und der
Mission in Libyen, gibt es ein eindeutiges Mandat des
UN-Sicherheitsrates. Es ist mit keinem Argument zu begründen, dass sich die Bundeswehr an dem einen Einsatz
beteiligt, aber die Bundesregierung den anderen Einsatz
gegen Waffenlieferungen an das Regime Gaddafis ablehnt. Ich will hier gar nicht von der Enthaltung
Deutschlands im Sicherheitsrat in dieser Frage sprechen.
Letztlich kann ich der Bundesregierung nur bescheinigen: Sie wenden doppelte Standards an. Genau dies,
liebe Kolleginnen und Kollegen, entspricht aber nicht
unserem langfristigen Ziel der Verrechtlichung von internationalen Beziehungen. Es schwächt die Rolle
Deutschlands in der Weltgemeinschaft. Das ist nun wirklich kein ermutigendes Zeichen deutscher Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen
wurde die Debatte über die Nahostpolitik von zwei lang
erwarteten Reden geprägt: Zunächst hat US-Präsident
Barack Obama eine, wie ich finde, richtungsweisende
Rede gehalten und eindringlich Verhandlungen als Weg
zur Zwei-Staaten-Lösung gefordert. Als Grundlage empfahl er die Grenzen von 1967, auf die auch VN-Resolutionen Bezug nehmen. Der israelische Ministerpräsident
hat dies wenige Tage später in seiner Rede vor dem Kongress zurückgewiesen. Zwar sprach er von der Bereitschaft zu großzügigen Zugeständnissen an die Palästinenser, blieb dabei aber vage und zugleich in allen
Kernpunkten möglicher Verhandlungen kompromisslos.
Worin besteht der Bezug dieser Vorgänge zu UNIFIL?
Erstens in der geografischen Nähe, zweitens in der großen Zahl palästinensischer Flüchtlinge, die seit Jahrzehnten im Libanon leben, drittens in dem Zwischenfall
an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon im August des vergangenen Jahres, bei dem vier Menschen
starben, und schließlich in den ebenfalls tödlichen
Grenzzwischenfällen vor nur gut zehn Tagen, als es an
verschiedenen Grenzen Israels zu Auseinandersetzungen
mit Grenztruppen kam.
All diese Punkte zeigen, wie eng die Stabilität des
Libanons mit der Sicherheit Israels verbunden ist. Da
verwundert es nicht, dass Israel nach wie vor die Präsenz
auch deutscher Truppen in der Region ausdrücklich begrüßt. Dies ist neben dem eigenen Interesse an der Stabi12720
lität in der Region insgesamt ein gewichtiger Grund für
unsere Zustimmung zu diesem Antrag.
({2})
Vor kurzem hat der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Michael Williams,
Deutschland und auch Berlin besucht. Er hat auch mit
Parlamentariern gesprochen. Diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die an diesen Gesprächen teilgenommen
haben, wissen, dass Michael Williams ausdrücklich unterstrichen hat, wie wichtig diese UNIFIL-Mission ist.
Sie ist nämlich auch ein sichtbares Zeichen dafür, dass
die Vereinten Nationen in der sich stark verändernden
Region weiter präsent sind. Es ist wichtig, dass in dieser
veränderten Umgebung die Fahnen der Vereinten Nationen wehen und weiterhin ein deutscher Beitrag geleistet
wird. Dieser Beitrag ist, wie ich finde, viel wichtiger, als
die relativ kleine Zahl von 300 deutschen Soldatinnen
und Soldaten das vielleicht vermuten lässt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister,
Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Gloser, über Libyen diskutieren wir ein anderes
Mal. Heute diskutieren wir über Libanon und Israel.
In der Sache ist nur noch zu ergänzen, dass das Mandat hinsichtlich der Höhe im Vergleich zum laufenden
Jahr unverändert bleibt.
Ich schließe mich dem hier allseits ausgesprochenen
Dank an die Soldatinnen und Soldaten an, beziehe mich
auf die Ausführungen unseres Außenministers, die ich
inhaltlich voll teile, und bitte um Ihre Zustimmung.
({0})
Was die Dauer der Rede angeht, sollten Sie sich das
zum Beispiel nehmen, Kollege Gehrcke. - Das Wort hat
der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Respekt, Herr Verteidigungsminister. Ich weiß nicht, ob
das eine besondere Variante war, ob das eine besondere
Finte war oder ob das künftig Ihr Stil sein wird.
({0})
Ich finde es spannend, das herauszubekommen. Das war
eine überraschende Wendung. Allen Respekt! Das hat
mir Spaß gemacht.
({1})
- Und Ihnen erst einmal.
Jetzt zur Sache. Ich hoffe, dass das, was ich jetzt ausführen werde, Ihnen nicht so viel Spaß macht. Das wird
man dann ja sehen.
({2})
Ich möchte daran erinnern, dass bei den Debatten
über das UNIFIL-Mandat Gregor Gysi, Norman Paech,
der damals hier Abgeordneter war, und ich selbst immer
wieder betont haben, dass das UNIFIL-Mandat notwendig war, um den Waffenstillstand hinzubekommen.
({3})
Ohne das Mandat hätte es den Waffenstillstand nicht gegeben.
Ich war während des Krieges in Beirut. Ich habe gesehen, wie die Raketen dort eingeschlagen sind. Ich habe
gesehen, dass man nicht aus der Stadt herauskam. Ich
habe gesehen, dass sich die Reichen nach Syrien absetzen konnten und insbesondere die Situation in den palästinensischen Flüchtlingslagern katastrophal war. Viele
Menschen hatten überhaupt keine Chance, die Stadt zu
verlassen. All das hat mir die Notwendigkeit vor Augen
geführt, dass das abgeschlossen wird. Ich will hinzufügen: Ich bin froh, dass der Waffenstillstand bis heute gehalten hat. Er ist zwar fragil und wurde immer wieder
gebrochen, im Wesentlichen hat er aber gehalten. Die Situation im Libanon, in Syrien und dem gesamten Raum
ist schwieriger geworden. Keiner kann eine Garantie abgeben, dass es beim Waffenstillstand bleiben wird.
Ich bin entsetzt über die Auseinandersetzungen in Syrien und darüber, wie die Regierung unter Präsident
Assad mit den Demonstranten umgeht. Wer gegen das
eigene Volk mit Waffen vorgeht, verwirkt den Anspruch,
für das Volk sprechen zu dürfen. Das muss unbedingt betont werden.
({4})
Ich will jetzt keine Libyen-Debatte starten, sehr geehrte Herren Minister. Sie wissen aber ganz genau, dass
eine solche Resolution im Weltsicherheitsrat heute nicht
noch einmal verabschiedet würde. Die Erklärungen
Russlands, Chinas, Brasiliens und anderer Staaten besagen eindeutig, dass sich diese Länder getäuscht fühlen.
Sie wissen, dass es derzeit keine Chance gibt, aus einem
Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, irgendwie
herauszukommen. Es hat sich erneut bestätigt: Krieg ist
kein Mittel, um politische Probleme zu lösen.
({5})
Jetzt komme ich zum Mandat selber. Zunächst habe
ich begründet, warum das Mandat überhaupt erteilt
wurde. Jetzt will ich Ihnen erklären, warum wir nicht zugestimmt haben. Für mich gibt es drei sehr ernsthafte
Argumente dagegen. Ein Argument ist streckenweise
von der FDP, sogar bis in die Regierung vertreten worden. Das macht es nicht besser, aber auch nicht schlechter.
Erstes Argument. Es war nicht notwendig, ein Kapitel-VII-Mandat zu erteilen. Es gab die grundsätzliche
Bereitschaft beider Konfliktparteien, sich auf das Mandat einzulassen. Man hätte in der klassischen Form von
Blauhelm-Einsätzen auf Grundlage eines Kapitel-VIMandates vorgehen können. Das ist leider ausgeschlagen
worden. Das habe ich immer für einen großen Fehler gehalten, und ich halte es heute noch für einen großen Fehler.
Zweites Argument. Wir hatten vorgeschlagen, auf der
Landseite die Truppen auf beiden Seiten der Grenzen zu
stationieren. Das hätte die Neutralität der Vereinten Nationen stärker unterstrichen.
Drittes Argument. Ich möchte nicht, dass deutsche
Soldaten in dieser Region eingesetzt werden. Das richtet
sich nicht gegen die Soldaten. Ich kann mir verschiedene
Szenarien vorstellen, wie deutsche Soldaten in diese
Auseinandersetzung einbezogen werden. Ich möchte
nicht, dass solche Szenarien Realität werden. Das war
für mich das wichtigste Argument dagegen.
Andere hingegen waren bereit, hier zuzustimmen. Es
gibt eine ganz bestimmte deutsche Geschichte. Diese ist
gestern hier in eigenartiger Art und Weise debattiert
worden. Ich ziehe aus der deutschen Geschichte die
Lehre, dass deutsche Soldaten in dieser Region nicht
mehr tätig werden sollen.
({6})
Ich bitte Sie, zumindest das zu akzeptieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! UNIFIL
- das ist gerade auch vom Kollegen Gehrcke gesagt worden - ist vom ersten Tage an ein Erfolg gewesen. Die
Mission hat den Frieden gesichert und mitgeholfen, vor
allem den Süden Libanons zu stabilisieren, wenn wir
auch von einer echten Stabilität noch weit entfernt sind.
Ich möchte mich selbstverständlich nicht nur dem
Dank an die Soldatinnen und Soldaten anschließen, sondern auch deren Angehörigen danken, die monatelang
von ihren Geliebten getrennt werden. Herzlichen Dank
für diese Toleranz.
({0})
Wir haben die UNIFIL-Mission immer unterstützt,
auch deswegen, weil sie tatsächlich geholfen hat, den
Krieg zu beenden. Ohne den Beschluss der Vereinten
Nationen als die rechtliche Grundlage für diesen Einsatz
und ohne den Einsatz selbst, den wir mit beschlossen haben, wäre dieser Krieg nicht zu Ende gegangen, und es
hätte den Waffenstillstand nicht gegeben.
Noch einmal zum Mandat: Man kann natürlich Kritik
am Mandat äußern, das werde ich auch gleich tun. Die
Zielsetzung des Mandates aber ist für mich und die
Mehrheit meiner Fraktion immer wieder Grund gewesen, dem zuzustimmen.
Die Situation in der Region, auch im Libanon, verändert sich jedoch. Sinn der Außenpolitik ist es, diese Dynamik zu begreifen und mitzugestalten. Wir bekommen
aber ein Mandat vorgelegt, das die Veränderungen in der
Region nicht berücksichtigt. Das ist enttäuschend. Dabei
hat sich so vieles verändert - Herr Außenminister, Sie
haben es eingangs selbst gesagt -: die Situation an den
Grenzen - vor wenigen Tagen haben wir es erlebt -, die
Debatte in den USA, die Reden der vergangenen Tage,
der Waffenschmuggel, der zwischen dem Libanon und
Syrien weiterläuft. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass
der UN-Generalsekretär alle Staaten auffordert, sich verstärkt im Süden Libanons zu engagieren. Ein weiteres
Beispiel: Der Generalsekretär sagt, man brauche mindestens neun Schiffe, um eine Mission erfolgreich auszuführen. Derzeit gibt es nur acht Schiffe. Das ist auch
auf die von Deutschland ausgehende Reduktion zurückzuführen. All diesen Veränderungen gehen Sie nicht
nach. Sie werden dem nicht gerecht.
Ich gebe zu: Man braucht dafür Energie. In der deutschen Außenpolitik erkenne ich zurzeit wenig Energie.
Das sieht man zum Beispiel daran, dass man bei Libyen
für große Verwirrung gesorgt hat. Man hat gesagt, dass
man eine humanitäre Aktion durchführen will, und am
Ende stellte sich heraus, dass niemand diese verlangt
hatte. Das ist Kompensationsaußenpolitik. Diese macht
keinen Sinn und wird der großen Veränderung, die wir
zurzeit in der Welt erleben, nicht gerecht.
Es ist enttäuschend, wenn die Deutschen die LeadFunktion, die wir innehatten, wie eine heiße Kartoffel
behandeln und am Ende Brasilien die Lead-Funktion
von den Italienern übernimmt, unter anderem auch deswegen, weil die Deutschen sich dermaßen aus der Verantwortung gezogen haben. Das ist besonders pikant,
Herr Verteidigungsminister, weil Sie sich in der letzten
Woche in Ihrer großen Rede auf die Brasilianer als Beispiel für diejenigen Länder bezogen haben, die Auslandseinsätze aus globaler Perspektive betrachten. Sie
haben gesagt, aus unserem Wohlstand entstehe Verantwortung. Wie kann es dann sein, dass die Brasilianer da,
wo wir uns aus der Verantwortung stehlen, die Verantwortung übernehmen müssen?
Es ist auch pikant, wenn im Zusammenhang mit der
Ausbildung gesagt wird - das hat der Außenminister
heute wieder getan -, dass die Deutschen sich jetzt verstärkt um die Ausbildung der libanesischen Streitkräfte
kümmern wollen, damit dieser Einsatz am Ende des Tages überflüssig wird, und wenn gleichzeitig die militärische Ausbildungshilfe für den Libanon von 2009 auf
2010 von der Priorität 1 in die Priorität 2 herabgestuft
wird. Das kann man begründen; Sie tun es aber nicht.
Das alles ist von vorne bis hinten nicht kohärent; das ist
sehr bedauerlich.
Das alles ist Dienst nach Vorschrift. Wenn man sich
anschaut, wie sich die Welt verändert, wie diese Region
gerade auf dem Kopf steht und welch eine Dynamik
- diese birgt auch große Risiken in sich - in der gesamten Region derzeit besteht, dann wissen wir, dass wir
eine Außenpolitik brauchen, die gestaltet und die nicht
das tut, was Sie tun, nämlich Dienst nach Vorschrift.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Viele Besucherinnen und Besucher, unter anderem
auch eine Schülergruppe, haben mich am heutigen Tag
gefragt, wie der Parlamentsalltag gestaltet ist. Als ich
dann berichtet habe, dass wir hier auch Bundeswehrmandate verlängern und wie wir über Mandate diskutieren, hat mich eine Schülerin gefragt, wieso wir das nicht
einfacher oder besser organisieren, da dies wie ein Routinevorgang wirkt. Ich habe darauf geantwortet, dass ich
großen Wert darauf lege, dass wir den Parlamentsvorbehalt hier im Deutschen Bundestag, selbst wenn es sich
um ein Mandat handelt, das weitestgehend unstrittig ist,
natürlich nicht in einem Ritual abhandeln, sondern diesen tatsächlich ernst nehmen. Das zeigen wir zum Beispiel bei dem Afghanistan-Mandat, das wesentlich umstrittener ist, indem wir den Fortschrittsbericht und
andere Unterlagen hinzuziehen, um unsere Entscheidungsfindung abzusichern.
Ich möchte all denjenigen, die ihren Dienst leisten,
und vor allen Dingen ihren Angehörigen sagen, dass ich
ihnen sehr dankbar bin - das ist auch schon von den vorherigen Rednern gesagt worden -, dass sie diesen wichtigen Beitrag leisten und damit dazu beitragen, dass unser Land ein hohes Ansehen genießt.
({0})
Die Sicherheit vor der Küste Libanons muss gewährleistet werden. Dabei geht es darum, den Waffenschmuggel einzugrenzen, aber auch darum, die Fachleute der libanesischen Armee und Marine auszubilden,
damit sie einen eigenen Beitrag zur Sicherheit leisten
können. Diese zwei Punkte nehmen wir ernst und setzen
wir in dieser Legislaturperiode um; so steht es auch im
Koalitionsvertrag. Wir haben vereinbart, dass wir auf
eine schrittweise Reduzierung des deutschen Beitrages
zur Maritime Task Force hinwirken wollen. Mit dem
Mandat haben wir die Zahl der maximal einzusetzenden
Soldaten von 800 auf 300, also um über 60 Prozent, gesenkt. Der Auftrag aus dem August 2006 zur Ausbildung
ist bei weitem noch nicht erfüllt und muss deshalb weiter
ausgeführt werden.
Das UNIFIL-Mandat - selbst wenn es in seinem Entstehen, auch hier in Deutschland, sehr umstritten war leistet, wie ich schon sagte, einen wichtigen Beitrag zur
Steigerung des Ansehens der Bundeswehr und natürlich
auch zur Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft. Ich möchte daran erinnern, dass dieses Mandat gerade auch innerhalb der Europäischen Union sehr
positiv begleitet wird. Allein schon die Vielzahl derjenigen, die sich an dieser Mission beteiligen, zeigt, dass es
ein funktionierendes Mandat ist.
Seit 2006 leisten 15 Länder entweder größere oder
kleinere Beiträge zur UNIFIL Maritime Task Force, von
Belgien bis Bangladesch, von Italien bis Indonesien. Ich
glaube, dies ist nicht nur im Hinblick auf das Ansinnen
von UNIFIL wichtig, sondern auch ein wichtiger Beitrag
zu den operativen Fähigkeiten, die die Bundeswehr und
die internationale Gemeinschaft brauchen.
Die Lage im Libanon und in der Region insgesamt ist
keineswegs so positiv, wie ich das UNIFIL-Mandat gerade dargestellt habe; es ist nur ein sehr kleiner Beitrag
zur Stabilisierung und zur Sicherheit. Im Libanon ist die
Situation sehr schwierig. Dort werden Christen bedroht.
Dies wollen wir ändern; das ist ein besonderes Anliegen
unserer Fraktion. Ich möchte deshalb die Gelegenheit
nutzen, nicht nur über den maritimen Teil der Sicherheit
im Libanon zu reden, sondern auch über das, was sonst
noch im Land passiert.
Am 27. März dieses Jahres explodierte in Zahle, im
Osten des Libanon, vor einer Syrisch-Orthodoxen Kirche eine Bombe. Es war nur Glück, dass die 2 Kilo TNT
an diesem Sonntag nur einen Sachschaden angerichtet
haben. Aber dieser Vorfall zeigt, auch wenn er bei weitem nicht so spektakulär wie andere Vorfälle in der Region ist, dass die Situation im Libanon gerade für bedrohte Minderheiten nach wie vor problematisch ist.
Daran wird deutlich, dass auch über das UNIFIL-Mandat hinaus die Sicherheit und Stabilität im Libanon sowie der Schutz der Zivilbevölkerung, insbesondere vor
unmenschlichem Kalkül und brutalen Methoden, wichtige Anliegen des Deutschen Bundestags und damit unserer Verantwortungsträger sein sollten.
({1})
Wir können bei solchen Geschehnissen nicht tatenlos
zusehen. Hier ist aber nicht in erster Linie militärisches,
sondern vor allem politisches Engagement gefragt. Die
Bundesregierung bemüht sich sehr, in dieser Region
Pflöcke einzuschlagen. Der Deutsche Bundestag hat
mehrere Reisen in die Region durchgeführt und ist an
exponierter Stelle tätig. Die Bundeskanzlerin beispielsweise hat heute die Reise unseres Fraktionsvorsitzenden
nach Ägypten erwähnt.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch eine
größere Delegation des Auswärtigen Ausschusses Tunesien und Ägypten besucht hat. Damit haben wir verdeutlicht, dass wir auch in der derzeitigen unruhigen Phase in
der arabischen Welt versuchen, enge Bande zu knüpfen
und eine wichtige Rolle zu spielen, wenngleich dies im
Spannungsverhältnis zwischen der Staatsräson der Sicherung des Existenzrechts Israels einerseits und der Erwartungshaltung vieler junger Menschen in der arabischen
Welt andererseits ein sehr schwieriges Unterfangen ist.
Ich glaube, dass Sie alle, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, mit Ihrer politischen Arbeit wichtige Beiträge zu dem, was wir im militärischen Bereich erfolgreich tun, leisten. Wir müssen deutlich machen, dass
diese Region für uns sehr wichtig ist. Der Deutsche Bundestag muss sich insgesamt viel stärker um diese Region
bemühen, als es noch vor längerer Zeit der Fall war. Wir
dürfen dieses Thema nicht alleine den Mittelmeer-Anrainerstaaten überlassen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5864 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten
- Drucksache 17/5897Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Sascha Raabe von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Vereinten Nationen haben sich zur Jahrtausendwende richtige, wichtige und ehrgeizige Ziele gesetzt, die acht sogenannten Millenniumsziele bzw., ins
Deutsche übersetzt, die Jahrtausendentwicklungsziele
der Vereinten Nationen.
Das erste Ziel: Die Vereinten Nationen wollen Hunger und Armut bekämpfen; bis zum Jahr 2015 streben
sie eine Halbierung der Armut an.
Das zweite Ziel besteht darin, bis zum Jahr 2015 allen
Kinder auf der Erde eine Grundschulbildung zu ermöglichen.
Das dritte Ziel ist die Gleichstellung der Geschlechter
und die Stärkung der Rolle der Frauen.
Das vierte Ziel ist die Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel bis zum Jahr 2015.
Das fünfte Ziel ist die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter und die Senkung der Müttersterblichkeit um 75 Prozent bis 2015.
Das sechste Ziel ist die Bekämpfung von HIV/Aids,
Malaria und anderen schweren Krankheiten.
Das siebte Ziel ist die ökologische Nachhaltigkeit.
Das achte Ziel sind der Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung und faire und gerechte Weltwirtschaftsstrukturen.
Ich habe diese Ziele ganz bewusst am Anfang hier
noch einmal genannt, weil ich glaube, dass nicht alle, die
uns heute zuschauen, diese acht Ziele kennen. Deswegen
ist es richtig und gut gewesen, dass die damalige
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul 2005 in
Deutschland eine deutsche Millenniumkampagne mit ins
Leben gerufen hat, die es auf UN-Ebene schon gab und
durch die hier in Deutschland gemeinsam mit vielen
Nichtregierungsorganisationen in der Bevölkerung dafür
geworben wurde, diese Ziele bekannt zu machen; denn
wir können in der Entwicklungszusammenarbeit nichts
erreichen, wenn nur wir als Fachleute wissen, worum es
geht. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, bei den Bürgerinnen und Bürgern Verständnis dafür zu wecken und sie
mitzunehmen. Die Mehrheit der Deutschen ist dann auch
bereit, Steuergelder dafür auszugeben, dass Menschen
aus Hunger und Armut befreit werden.
Die Kampagne hat erfolgreich gearbeitet. Seit 2005
hat sie etliche Aktionsbündnisse initiiert und unterstützt.
Ich nenne einmal beispielhaft das Aktionsbündnis
Rheinland-Pfalz, länderübergreifende Aktionsbündnisse
in Hessen und Thüringen, die Klimaschutz+ Stiftung
und die Jugendinitiative „Chasing the Dream“. Ein Erfolg der Kampagne ist auch, dass mittlerweile über
80 Städte und Kreise in Deutschland die Millenniumserklärung der Städte und Gemeinden in Deutschland unterzeichnet haben, darunter auch Hanau in meinem Wahlkreis.
Es war eine wichtige Aktion der Kampagne, eine
Städtetour durchzuführen. Herr Hoppe, Sie erinnern
sich: Als Sie Vorsitzender des Ausschusses waren, standen Millenniumstore vor dem Reichstag, durch die wir
die Bedeutung dieser acht Ziele auch noch einmal sichtbar machen konnten.
Es gab eine enge Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, mit VENRO, mit der Kampagne „Deine Stimme
gegen Armut“ und mit Oxfam, um nur einige zu nennen,
die sich dort eingebracht haben. Wir konnten viele pro12724
minente Unterstützer gewinnen, auch Fußballspieler,
zum Beispiel Philipp Lahm und eine ganze Reihe mehr.
Viele Bürgerinnen und Bürger haben unzählige Stunden
in Eine-Welt-Läden und in Bürgergesprächen über diese
Ziele diskutiert und eine ganz hervorragende Arbeit geleistet. An dieser Stelle möchte ich all denen, die diese
Kampagne geführt haben, auch Renée Ernst, ein herzliches Dankeschön für ihre Arbeit aussprechen.
({0})
Wenn so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger
eine so erfolgreiche Arbeit machen, dann könnte man ja
meinen, dass der Bundesentwicklungsminister voranschreitet, diesen Menschen dankt und sagt: Es sind jetzt
noch ein paar Jahre bis zum Jahr 2015, eure tolle Arbeit
führe ich fort. - Das wäre eigentlich das Logischste der
Welt. Was aber macht dieser Entwicklungsminister? Was
macht Herr Niebel? Herr Niebel sagt: Eure Arbeit ist
schön und gut, aber Geld gibt es nicht mehr dafür. Ende
Juni 2011 stelle ich die Finanzierung ein, und ihr könnt
sehen, wo ihr bleibt.
Herr Minister, deshalb wundert es mich schon sehr,
dass Sie heute Vormittag erstmals zur Verleihung des
Walter-Scheel-Preises für Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit eingeladen haben.
({1})
Es ist sehr sinnvoll, so einen Preis zu stiften; das will ich
gar nicht Abrede stellen. Sie haben heute unter anderem
Prominente ausgezeichnet, die alle eine gute Arbeit geleistet haben, wie Ulrich Wickert und Nia Künzer, die
Weltmeisterin im Fußball.
({2})
- Herr Kollege, andere haben die Auszeichnung viel
eher verdient. - Es wurden dort auch prominente Unternehmer wie Dr. Michael Otto ausgezeichnet.
Wie kann man aber so einen Preis ins Leben rufen
und gleichzeitig Tausenden Ehrenamtlichen in Deutschland im Prinzip die Tür verschließen und sagen: Ihr bekommt nichts, aber Prominente zeichne ich aus? Herr
Niebel, das ist schäbig. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, dass Sie diese Kampagne weiter finanzieren. Sie sollten auch den vielen Tausenden ehrenamtlichen Bürgerinnen und Bürgern endlich Anerkennung
aussprechen, statt sie im Regen stehen zu lassen.
({3})
Ich möchte aus dem Offenen Brief der Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt Landesnetzwerke in Deutschland zitieren, der uns heute erreicht hat. In dem Schreiben an Sie, Herr Niebel, heißt es:
Die Eine Welt Landesnetzwerke haben diese Entscheidung bei ihrem gestrigen Treffen diskutiert
und können sie überhaupt nicht nachvollziehen.
Wir halten sie für ein falsches politisches Signal
und eine schwere Enttäuschung für diejenigen, die
mit viel Zeit, Energie und großem persönlichen
Einsatz für eine gerechtere Welt und die Umsetzung
der Millenniumsziele ihren Beitrag leisten.
Das konterkariert ihre oft betonte Wertschätzung des
bürgerlichen Engagement ins Gegenteil.
({4})
Ich kann Sie nur auffordern, Herr Minister: Kehren Sie
um!
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, egal
welcher Fraktion Sie angehören, stimmen Sie unserem
Antrag zu! Denn es kann nicht sein, dass Strukturen, die
seit 2005 geschaffen wurden, jetzt auf einmal kaputtgehen, weil die Finanzierung ausbleibt. Denn wir haben die
Ziele noch längst nicht erreicht.
Die Begründung des Ministeriums ist ein Hohn. Das
Ministerium hat geschrieben, die Finanzierung der Kampagne werde jetzt eingestellt, weil das Ziel erreicht sei.
Jeder, auch die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne, sollte sich ehrlich fragen, ob er über die acht Ziele
Bescheid gewusst hat. Denn das war das Ziel der Kampagne.
Der Minister behauptet, alle Bürger in Deutschland
kennen die acht Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, sodass er kein Geld mehr für entsprechende Werbung ausgeben muss. Das glauben Sie doch selbst nicht.
Es gibt noch sehr viel zu tun. Denn wir sind leider
noch weit davon entfernt, bis zum Jahr 2015 diese wichtigen Ziele zu erreichen. Dafür wird selbstverständlich
auch Geld gebraucht.
Auch deswegen war es richtig, dass die Initiatoren
und Mitstreiter der Kampagne Ihnen, Herr Minister, kritisch gesagt haben, dass Ihre Politik in die falsche Richtung geht. Denn Sie können nicht die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit stagnieren lassen und in der
mittelfristigen Finanzplanung sogar kürzen wollen und
gleichzeitig behaupten, Sie hielten sich an diese Versprechen.
Ich glaube nicht, dass Sie das, was als Grund für die
Einstellung der Kampagne genannt wurde, nämlich dass
alle Menschen in Deutschland diese Ziele kennen, ernsthaft glauben. Das sind vielleicht 10 bis 20 Prozent, wie
wir aus Untersuchungen wissen. Sie wollten vielmehr
eine kritische Kampagne mundtot machen, die den Finger in die Wunde gelegt hat, nämlich dass Sie das Ministerium letztlich nur noch als Einrichtung zur Außenwirtschaftsförderung verstehen, statt sich im Interesse der
ärmsten Menschen an die Versprechen zu halten, die
Deutschland bei den Vereinten Nationen und in Europa
gegeben hat.
Deswegen bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Die Millenniumkampagne darf nicht sterben. Sie
muss weitergehen und bis zum Jahr 2015 dafür sorgen,
dass Menschen auf der ganzen Welt Chancen haben und
aus Hunger und Armut herauskommen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Weiss von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wenn ein Kind laufen gelernt hat, dann darf
man es nicht weiter festhalten wollen. Es geht heute in
dem SPD-Antrag um die Forderung, die deutsche UNMillenniumkampagne zu erhalten. Herr Raabe hat das
bereits ausgeführt.
Die UN-Millenniumkampagne gliedert sich in eine
nationale und eine internationale Kampagne. Die nationale deutsche Kampagne sollte das Bewusstsein für die
Millenniumsziele in Deutschland schärfen, die internationale Kampagne das Bewusstsein in den Entwicklungsländern.
Die Förderung für die deutsche UN-Millenniumkampagne läuft nun aus. Für die internationale Kampagne
wird derzeit eine Fortsetzung der Förderung geprüft.
Entwicklungspolitische Themen standen bisher bei
uns nicht immer vordergründig in dem Verdacht, die
Menschen auf die Straße zu locken. Viel zu weit weg
vom alltäglichen Leben hier, in immerhin einem der
reichsten Industrieländer der Welt, schienen Themen wie
die Bekämpfung des Hungers und der Malaria. Dieses
alte Klischee ist gottlob heute falsch.
({0})
Wie falsch es ist, haben die erfolgreichen Aktionen
und Kampagnen der deutschen UN-Millenniumkampagne, aber auch der Kampagne von VENRO „Deine
Stimme gegen Armut“ und Kampagnen anderer Aktionsgruppen gezeigt.
Mehr als 100 000 Menschen sind schon deutschlandweit an einem Wochenende für ein entwicklungspolitisches Thema wie beim „Stand Up“-Wochenende im Jahr
2008 auf die Straße gegangen. Laut VENRO haben mehr
als 740 000 Menschen in Deutschland bereits ihre
Stimme gegen die weltweite Armut erhoben. Die deutschen Kampagnen haben damit etwas geschafft, wovon
viele andere Veranstalter und Organisatoren von Kampagnen nur träumen können.
Die deutsche Bevölkerung macht mit - so haben wir
es jetzt gesehen - im Kampf gegen die weltweite Armut
und für mehr globale Gerechtigkeit. Sie beteiligt sich aktiv, prangert die weltweite Ungerechtigkeit an und leistet
ihren Beitrag, um das Problem der weltweiten Armut zu
bekämpfen. Dies ist sicherlich auch der deutschen UNMillenniumkampagne zu verdanken. Gemeinsam mit
der Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“ und vielen
anderen zivilgesellschaftlichen Aktionsgruppen hat sie
in den vergangenen sechs Jahren immer wieder den Finger tief in die Wunde gelegt.
Durch ihren hartnäckigen Einsatz haben die Kampagnen die Aufmerksamkeit auf das, wie ich finde, dringendste Problem in unserer Welt, nämlich die weltweite
Armut, gerichtet. Sie haben dafür gesorgt, dass das
Elend des Hungers, fehlende Bildung und die Geiselhaft,
in die Krankheiten wie HIV/Aids und Malaria ganze
Länder genommen haben, bei uns eben nicht in Vergessenheit geraten. Sie haben aber auch uns Politikerinnen
und Politiker immer wieder an unsere Versprechen und
unsere Verantwortung erinnert sowie konsequentes Handeln angemahnt. Dafür bin ich dankbar; denn der öffentliche Druck, die Anstrengungen im Kampf gegen die
weltweite Armut weiter zu verstärken, ist eine wichtige
Unterstützung für uns Entwicklungspolitiker. So können
wir das Thema in den Fraktionen, im Bundestag und im
Wahlkreis immer wieder ganz oben auf der Agenda platzieren.
Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Kampagnen die
Menschen in Deutschland erreicht und berührt. Sie haben wichtige Aufklärungsarbeit geleistet über die Millenniumsentwicklungsziele und damit über das Versprechen, dass eine bessere und gerechtere Welt auch
tatsächlich möglich ist. Fast könnte man jetzt sagen:
Mission erfolgreich erfüllt. - Aber so einfach können
wir es uns natürlich nicht machen. Zu groß sind noch die
Herausforderungen bei der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele, trotz aller Erfolge. Solange nach wie
vor fast 9 Millionen Kinder unter fünf Jahren jährlich an
zumeist vermeidbaren oder behandelbaren Ursachen
sterben, solange 72 Millionen Kindern im Grundschulalter ihr Recht auf Bildung verwehrt bleibt und solange
schätzungsweise 1 Milliarde Menschen unterernährt
sind, so lange sollte und muss ein Aufschrei der Empörung angesichts dieses Skandals durch uns und die gesamte Bevölkerung gehen.
({1})
Da Empörung allein aber noch keinen Hungernden
satt macht, keinem Kind eine Zukunft gibt und keine
werdende Mutter vor einem vermeidbaren Tod bei der
Geburt bewahrt, ist es damit natürlich nicht getan. Unsere Empörung muss einhergehen mit rationalen Überlegungen, was wir, die Entwicklungs- und Schwellenländer sowie die Zivilgesellschaft besser machen können
und besser machen müssen. Um die Millenniumsziele zu
erreichen, müssen alle Akteure ihre Bemühungen weiter
konsequent verstärken. Die Zeit drängt, und wir müssen
besser werden. Um die Millenniumsziele zu erreichen,
brauchen wir die öffentliche Aufmerksamkeit in den Industrienationen, aber auch besonders in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Nur wer die Millenniumsentwicklungsziele kennt und über die einzelnen Ziele
Bescheid weiß, kann Druck auf alle Beteiligten ausüben,
die Anstrengungen für die Erreichung der Ziele zu verstärken.
Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat die deutsche Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft über die
Millenniumsziele informiert und mobilisiert. Die För12726
Sabine Weiss ({2})
dervereinbarung läuft nun - das wissen wir seit sechs
Jahren - zum 30. Juni dieses Jahres aus und wird auch
nicht verlängert werden. Auch wenn es nie genug öffentliche Aufmerksamkeit, öffentliches Interesse und öffentlichen Druck für die Millenniumsziele geben kann, so
finde ich es dennoch konsequent, dass diese Förderung
nun ausläuft.
({3})
Die deutsche Kampagne hat ihre Aufgabe erfüllt.
Mittlerweile gibt es viele zivilgesellschaftliche Aktionsgruppen, die diese Lücke bestens füllen können, weil sie,
um es plastisch zu sagen, schon lange das gleiche Feld
beackern. Beispielsweise schafft es die Kampagne von
VENRO „Deine Stimme gegen Armut“ höchst erfolgreich und in beeindruckender Art und Weise, die Öffentlichkeit, Prominente und auch Politiker im Kampf gegen
die Armut zu mobilisieren. Wir reden doch immer alle
davon, dass wir Doppelstrukturen und Ineffizienzen vermeiden wollen. Wenn wir das wirklich ernst meinen,
dann sollten wir das, was wir in den Partnerländern fordern, auch gefälligst hier in Deutschland tun. Denn wie
heißt es so schön? - Kehre immer erst vor deiner eigenen
Tür.
Die deutsche Millenniumkampagne hat gute Arbeit
geleistet, ihre Aufgaben erfüllt. Das BMZ hat die Kampagne mit insgesamt 3,3 Millionen Euro unterstützt. Nun
aber haben sich andere Kampagnen und Aktionsgruppen
etabliert, die die Aufgaben erfolgreich weiterführen und
ausbauen werden. Die Mittel, die bisher in die deutsche
UN-Millenniumkampagne geflossen sind, können nun
an anderer Stelle sinnvoll eingesetzt werden. Mangelnde
Effizienz und nicht optimaler Mitteleinsatz sind doch
nach wie vor das Problem in der Entwicklungszusammenarbeit. An dieser Stelle macht das BMZ wieder einmal ernst mit den Forderungen nach mehr Effizienz und
eben weniger Doppelstrukturen, und das ist richtig so.
({4})
Frau Kollegin Weiss, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sascha Raabe?
Gerne.
Frau Kollegin Weiss, Sie haben darauf hingewiesen,
dass man die Mittel effizient verwenden und darauf hinwirken muss, dass es bei der Öffentlichkeitsarbeit keine
Doppelstrukturen gibt. Das war Ihr Kernargument dafür,
dass die finanzielle Förderung der Kampagne eingestellt
wird. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass in diesem
Jahr der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums um mehr als 300 000 Euro erhöht wurde, man aber
den Ehrenamtlichen die Gelder für ihre Öffentlichkeitsarbeit streicht? Ist die Öffentlichkeitsarbeit eines Ministers mehr wert als die von Tausenden Ehrenamtlichen,
die sich Tag für Tag in Kirchen und Nichtregierungsorganisationen weltweit für die Bekämpfung von Hunger
und Armut einsetzen?
({0})
Herr Dr. Raabe, sicherlich ist der Titel für die Öffentlichkeitsarbeit nicht ausschließlich für den Minister,
sondern auch für das Ministerium und für die Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland
gedacht.
({0})
Gerade die Tatsache, dass die Mittel um 300 000 Euro
aufgestockt werden, zeigt doch, wie viel Wert im BMZ
weiterhin auf Kampagnen, auf die Entwicklungszusammenarbeit und damit auf die Menschen in den Entwicklungsländern gelegt wird.
({1})
Ich hoffe, dass die deutsche Förderung der internationalen UN-Millenniumkampagne weitergeführt werden
kann; denn der Schlüssel zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele liegt in den Entwicklungsländern
selbst. Dort müssen die Weichen richtig gestellt werden.
Nur durch gemeinsames Handeln von Regierungen,
Zivilgesellschaften und dem Privatsektor wird eine
nachhaltige Entwicklung und Verbesserung möglich
sein. Aber gerade in den Entwicklungsländern gibt es
teilweise große Informationsdefizite über die Millenniumsziele an sich, über den aktuellen Umsetzungsstand
und über die Anstrengungen der nationalen und internationalen Akteure zu deren Erreichung. Bedauerlicherweise - das wissen wir alle - ist es auch noch nicht in
alle Winkel dieser Welt vorgedrungen, dass die Millenniumsentwicklungsziele Grundrechte widerspiegeln, die
jedem Menschen zustehen müssen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, das zivilgesellschaftliche Engagement in den Entwicklungsländern zu mobilisieren und
zu unterstützen. Hier leistet die internationale UN-Millenniumkampagne wichtige Aufklärungsarbeit.
({2})
Es ist aber auch an uns Politikern, die Bedeutung der
Millenniumsentwicklungsziele und der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder in den Wahlkreisen und
hier in Berlin zu thematisieren. Wir Entwicklungspolitiker müssen unsere eigene Kampagne gegen die weltweite Armut ins Leben rufen.
Zusammengefasst: Die deutsche UN-Millenniumkampagne hat ihre Aufgabe erfüllt. Zivilgesellschaftliche Kampagnen werden weiter für den Kampf gegen die
weltweite Armut trommeln, hier in Deutschland und mit
unserer Unterstützung in den Entwicklungsländern. Ein
Auslaufen der Förderung ist folgerichtig, und daher lehnen wir den Antrag „Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“ ab. Wie ich eingangs sagte: Wenn ein Kind
laufen gelernt hat, dann darf man es nicht weiter festhalten wollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Frau Kollegin Weiss, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem
heutigen Geburtstag.
({0})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heike
Hänsel von der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag reagiert heute auf die Tatsache, dass
die Bundesregierung die Gelder für die deutsche
UN-Millenniumkampagne - das wurde hier schon mehrmals erwähnt - gestrichen hat. So kurz nach dem Bilanzgipfel, der letztes Jahr bei den Vereinten Nationen stattgefunden hat - Bilanz: zehn Jahre Millenniumserklärung -,
auf dem es wieder viele Versprechungen von der Bundesregierung gab, ist das, finde ich, ein Affront und eine
Geringschätzung der Arbeit von vielen Initiativen und
vielen Menschen. Das ist inakzeptabel.
({0})
Ich frage mich: Warum wurden die Gelder gestrichen? Um wie viel Geld geht es? Es geht um jährlich
500 000 Euro. Hier gab es schon verschiedene Vergleiche, etwa mit Imagekampagnen, die die Bundesregierung veranlasst. Zum Beispiel wurden letztes Jahr
3 Millionen Euro für eine Anzeigenkampagne für einen
neuen Gesetzentwurf ausgegeben. Im Verhältnis dazu ist
es völlig unverständlich, dass diese 500 000 Euro gestrichen werden. Deshalb halte ich die Begründung, die das
Ministerium gegeben hat, die hier wiederholt wurde,
auch von der Kollegin Weiss, die Ziele bei der Aufklärung seien erreicht, schlichtweg für vorgeschoben.
Wir wissen, dass die Kampagne kritisch gearbeitet
und überprüft hat, was die Zusagen der Bundesregierung
angeht, was internationale Versprechen angeht, die gegeben wurden. Da ist die Bilanz zur Erfüllung schlecht.
Erst die Hälfte der bis 2015 zugesagten Mittel wurde zur
Verfügung gestellt. Da liegt die Bundesregierung weit
zurück. Das hat die Kampagne kritisiert. Ich glaube,
Herr Niebel, das ging Ihnen schlichtweg gegen den
Strich. Deswegen schaffen Sie hier einen Präzedenzfall
und zeigen, dass solche Kampagnen nicht mehr unterstützt werden. Das ist nicht demokratisch.
({1})
Ich möchte noch auf einen anderen Satz zurückkommen, den Sie in der Begründung gegeben haben. Den
halte ich für viel entscheidender. Das Ministerium hat
nämlich geschrieben: Der Schlüssel für das Erreichen der
Millenniumsziele liegt in den Entwicklungsländern
selbst. - Darauf möchte ich schon noch mit ein paar Sätzen eingehen. Das ist für mich nämlich ein bezeichnender
Satz, der die politische Ausrichtung der Bundesregierung
in der Entwicklungszusammenarbeit sehr deutlich beschreibt.
Sie drehen den Spieß jetzt um. Die Verantwortung für
Hunger, für Armut, für Unterentwicklung wird nun einseitig den Ländern des Südens zugeschoben, und Stück
für Stück wird die Verantwortung der westlichen Industriestaaten dadurch zurückgenommen, sowohl finanziell
als auch politisch. So geht es nicht.
({2})
Die Kanzlerin hat es heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genauso gesagt: mehr Eigenverantwortung der Regierungen in den Entwicklungsländern. Vor
allem hat sie eigene Einnahmen der Entwicklungsländer
gefordert. Sehr interessant finde ich das. Gleichzeitig
fordert nämlich die Bundesregierung in ihrer Rohstoffstrategie systematisch den Abbau zum Beispiel von
Schutzzöllen in den Rohstoffländern. Das sind aber ganz
große Einnahmequellen. Diese wollen Sie systematisch
abbauen. Das zeigt, dass hier eine Logik vorherrscht, die
von Doppelmoral geprägt ist.
({3})
Sie wollen schlichtweg die Verantwortung den Entwicklungsländern zuschieben und sich selbst Stück für Stück
zurücknehmen.
({4}).
Dies betrifft auch die Handelsstrukturen der Europäischen Union und Deutschlands, die nach wie vor verhindern, dass endlich gerechte Preise für Produkte aus den
Ländern des Südens gezahlt werden können, und die
auch systematisch verhindern, dass Konzerne nicht mehr
auf Kosten von billigen Arbeitskräften und unter Ausnutzung von miesesten Arbeitsbedingungen ihre Profite
machen können. Dies verhindern Sie durch Ihre Handelspolitik. Da sind wir in der Verantwortung. Die westlichen Industriestaaten haben hier Verantwortung für Armut, für Hunger, für Unterentwicklung. Da können Sie
sich nicht davonstehlen.
({5})
Genau diese Ausbeutungsstrukturen müssen wir bekämpfen. Wir müssen sie aber eben auch hier bewusst
machen. Was sind die Ursachen von Armut? Wir tragen
mit unserem Lebensstil zur Armut bei. Der Reichtum
hier basiert zum großen Teil auf der Armut der Menschen weltweit, und dafür brauchen wir umfassende
Aufklärung.
({6})
Dafür müsste in meinen Augen die Millenniumkampagne kritischer und politischer werden.
({7})
Um dieses Bewusstsein hier weiter zu fördern, brauchen
wir auch Geld.
Das sind die grundsätzlichen Fragen, und deshalb unterstützen wir auch den Antrag. Wir brauchen viel mehr
Aufklärung über diese weltweiten Zusammenhänge. So,
wie Sie es machen, Herr Niebel, geht es nicht.
({8})
Das Wort hat nun Harald Leibrecht für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn die deutsche UN-Millenniumkampagne über
sechs Jahre hinweg durchaus wertvolle Arbeit geleistet
hat, um die deutsche Öffentlichkeit mit kreativen Aktionen über die UN-Millenniumsziele zu informieren und
Unterstützung für die Erreichung dieser Ziele zu gewinnen - wir brauchen heute ganz andere Wege, um die
Menschen im Land für dieses wichtige Thema zu gewinnen.
({0})
Die FDP-Fraktion wird dem Antrag der SPD zum Erhalt dieser Millenniumkampagne nicht zustimmen, und
ich erkläre Ihnen auch gerne, warum das so ist: Das
BMZ hat die deutsche UN-Millenniumkampagne seit
2005 mit insgesamt 3,3 Millionen Euro gefördert. Diese
Ausgaben hatten in der Vergangenheit durchaus ihre Berechtigung. Die Entwicklungszusammenarbeit ist bei
vielen Bürgern im Land jedoch kein unumstrittenes Politikfeld und braucht gerade darum auch mehr Öffentlichkeit. Es ist unerlässlich, dass wir unsere Ziele und unser
Handeln gegenüber den Bürgern immer wieder erklären
und sie für Fragen der Entwicklungspolitik sensibilisieren.
Sicherlich hat die deutsche UN-Millenniumkampagne
mit dazu beigetragen, dass das Thema der Jahrtausendentwicklungsziele in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile stärker verankert ist. Dass heute in der deutschen
Öffentlichkeit über diese wichtigen Entwicklungsziele
gesprochen und diskutiert wird, liegt aber weniger an
Werbekampagnen, sondern vielmehr an der erfolgreichen Arbeit des BMZ und an Minister Niebel.
({1})
- Ja, früher hat doch kein Mensch außerhalb der deutschen Entwicklungscommunity trotz solcher teuren
Kampagnen etwas von den Jahrtausendentwicklungszielen gewusst, geschweige denn, dass man etwas darüber
erfahren hat, was das BMZ aktiv getan hat, um diese
Ziele zu erreichen.
Wir haben heute, was die deutsche Entwicklungszusammenarbeit anbetrifft, eine viel breitere und wesentlich besser informierte und vor allem interessierte Öffentlichkeit. Das Thema MDGs findet in den Medien
statt, aber auch bei vielen Veranstaltungen von Nichtregierungsorganisationen, in Schulen, bei den Kirchen und
den politischen Stiftungen. Fristete die Entwicklungszusammenarbeit früher eher ein Mauerblümchendasein
und wurde über diese Jahrtausendentwicklungsziele wenig berichtet, so sind diese Themen heute sehr viel tiefer
im Bewusstsein der Menschen hier im Lande verankert.
Indem Entwicklungspolitik nicht mehr quasi hinter
verschlossenen Türen stattfindet, sondern immer transparenter wird, nimmt sie die Öffentlichkeit auch mit. Wir
haben gestern zum Beispiel im Ausschuss über den Entwurf der Entwicklungskampagne des BMZ gesprochen.
Dabei legte Dirk Niebel kein vorab beschlossenes Papier
vor, sondern ganz bewusst ein Konzept, das als Diskussionsgrundlage für die kommenden Monate dient. Jetzt
hat jeder die Chance, sich bis November konstruktiv einzubringen. Schon jetzt gibt es viele öffentliche Veranstaltungen zu diesem Thema. Es sind gerade solche Veranstaltungen von Nichtregierungsorganisationen und
anderen Akteuren, die weitaus besser als teure Öffentlichkeitskampagnen über die Fortschritte bei diesen
MDGs informieren.
({2})
Die deutsche UN-Millenniumkampagne war von Anfang an zeitlich bis zum 30. Juni 2011 begrenzt. Ich halte
es für gut und sinnvoll, dass wir diese Ausgaben in Zukunft sparen und das Geld in die Projektarbeit in Entwicklungsländern stecken. Dort wird es sehr viel dringender benötigt.
In den vergangenen Jahren haben sich rund um die
deutsche UN-Millenniumkampagne viele Initiativen gegründet, die sich für die Erreichung dieser Ziele aktiv
einsetzen. Diese Initiativen finden seit dem Regierungswechsel im BMZ einen Ansprechpartner, der das entwicklungspolitische Engagement der Zivilgesellschaft
wesentlich unterstützt.
({3})
Damit haben wir genau das erreicht, was wir immer
wollten: dass sich auch aus der Gesellschaft heraus Projekte und Initiativen entwickeln, die sich für die Erreichung dieser Jahrtausendentwicklungsziele in Deutschland engagieren.
Damit keine Missverständnisse entstehen, meine Damen und Herren: Die Millenniumserklärung und deren
Ziele sind Richtschnur für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Eine verantwortungsvolle Politik muss
auf den effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden
Finanzmittel achten, vor allem in Zeiten knapper Kassen. Ich bin sehr froh, dass sich das BMZ diesem Grundsatz verpflichtet sieht und auf gute Arbeit, nicht aber auf
teure Werbekampagnen setzt.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Völlig klar, der Antrag der SPD findet unsere Zustimmung, voll und ganz. Gar nicht klar ist, was die Bundesregierung bewogen hat, ausgerechnet beim deutschen
Zweig der UN-Millenniumkampagne den Rotstift anzusetzen. Ich habe den Reden heute aufmerksam zugehört;
es waren eigentlich gute Reden, die eher Argumente für
die Fortsetzung der Unterstützung gebracht haben.
({0})
Die Schlussfolgerung ist für mich nicht nachvollziehbar. Man sagt: Die Kampagne hat gut gearbeitet. - Viele
von uns haben an Aktionen mitgewirkt. Sascha Raabe
hat hier bereits die acht Millenniumstore, die vor dem
Reichstag aufgestellt wurden, noch einmal in Erinnerung
gerufen. Viele haben Veranstaltungen in den Wahlkreisen gemacht. Es ist immer und immer wieder neu notwendig, auf die globalen Herausforderungen hinzuweisen, für die Erreichung der Millenniumsziele zu werben.
Das ist doch nicht erreicht. Man kann doch nicht sagen:
Auftrag erfüllt, das Kind kann laufen, jetzt brauchen wir
das nicht mehr zu unterstützen.
Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die Millenniumsziele zu erreichen. Gerade bei der Bekämpfung
des Hungers geht die Entwicklung in die falsche Richtung; die Zahl der Hungernden steigt wieder. Auch bei
der Bekämpfung von Müttersterblichkeit und Kindersterblichkeit gibt es eben nicht die Erfolge, die notwendig wären. Dafür gibt es viele Gründe.
Deshalb erschließt es sich mir nicht, dass wir nicht
auch die entwicklungspolitische Bildungsarbeit engagiert und couragiert fortsetzen und die erfolgreiche Millenniumkampagne weiterhin unterstützen. Ist es etwa die
unliebsame Kritik der Millenniumkampagne an der Bundesregierung und an uns allen? Das wäre nicht in Ordnung; denn wir brauchen diese mahnenden Worte. Ich
erinnere daran, dass die Millenniumkampagne nicht nur
diese Bundesregierung für die Nichterfüllung der Versprechen kritisiert hat, sondern auch die Vorgängerregierung. Dieser Kritik müssen wir uns stellen. Sie wissen,
jeder von uns weiß, dass zwischen dem Anspruch und
der Wirklichkeit noch eine große Lücke klafft. Deshalb
sollten wir uns auch weiter von der Millenniumkampagne anspornen lassen.
Ich wünsche mir sehr - das habe ich auch heute Morgen schon im Rahmen der G-8-Debatte gesagt -, dass
die Initiative, die aus allen fünf Fraktionen des Parlaments heraus entstanden ist, endlich die Versprechen zu
erfüllen und schon in den nächsten Haushaltsberatungen
genügend Mittel für Entwicklungsfinanzierung und humanitäre Hilfe bereitzustellen, Ergebnisse zeitigt, dass
diese Kampagne vielleicht sogar noch vor der Sommerpause tatsächlich zu einem entwicklungspolitischen
Konsens zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels hier in
diesem Parlament führt, so wie die Briten es uns vorgemacht haben. Sie bitten uns inzwischen ja, nicht nachzulassen; denn sie werden jetzt durch die Boulevardpresse
unter Druck gesetzt. Weil Großbritannien dabei ist, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, während andere vergleichbare Industrienationen in Europa nicht mitziehen,
fragt die dortige Presse: Warum sollen wir Briten es alleine machen? - Wir würden den Briten also in den Rücken fallen, wenn wir uns jetzt keinen Ruck gäben und
weitere Schritte in diese Richtung unternehmen würden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregierung, die Streichung dieser Gelder wäre ein Eigentor. Es
ist jetzt schon ein Imageschaden entstanden. Diese Kampagne steht auch nicht in Konkurrenz zu VENRO oder
zu anderen Kampagnen. Hier findet vielmehr eine Solidarisierung statt, und es werden von allen Seiten Briefe
des Inhaltes verschickt: Tut das bitte nicht!
Wir brauchen überall, von Flensburg bis Passau, viele
Kampagnen und Aktionen, die die Notwendigkeit des
Erreichens der Millenniumsziele deutlich machen. Nehmen Sie diese unsinnige Kürzung zurück! Lassen Sie
uns gemeinsam einen Konsens für die Entwicklungsfinanzierung finden!
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5897 mit dem Titel
„Deutsche UN-Millenniumkampagne erhalten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU und FDP gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({2}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 17/5706 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Guido Westerwelle das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bitte erlauben Sie mir, dass ich, bevor ich die Einbringung des Mandates begründe, anlässlich eines besonderen Ereignisses eine Bemerkung vorab mache:
Ratko Mladic wird des Völkermordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt und seit fast
16 Jahren als Kriegsverbrecher gesucht. Seine Festnahme ist eine sehr gute Nachricht für die Gerechtigkeit
in Europa.
({0})
Ich habe soeben dem serbischen Präsidenten Tadic zu
dem Erfolg gratuliert und auch dazu, dass jetzt die Aufarbeitung des Unrechts der Balkankriege erfolgen kann,
weil die Voraussetzungen dafür nunmehr gegeben sind.
Serbien löst mit der Verhaftung von Ratko Mladic eine
langjährige Forderung der Europäischen Union und auch
des Chefanklägers des Internationalen Jugoslawien-Tribunals ein.
Aber so groß der Erfolg ist, wir müssen jetzt in dieser
Stunde auch an die Opfer und an die Familien der Opfer
des Massakers von Srebrenica denken. Ihr mutmaßlicher
Peiniger kann jetzt zur Verantwortung gezogen werden.
Die Festnahme von Mladic schafft eine weitere
Grundlage für eine friedliche Zukunft der gesamten Balkanregion. Ich möchte noch einmal mit Nachdruck unterstreichen: Aus Sicht der Bundesregierung haben alle
Länder des westlichen Balkans eine europäische Perspektive.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Status
des Kosovo ist geklärt. Die Grenzen im westlichen Balkan sind gezogen. Im Juli des vergangenen Jahres, also
nach der letztmaligen Mandatierung durch den Deutschen Bundestag, hat der Internationale Gerichtshof bestätigt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo
im Einklang mit internationalem Recht erfolgte.
Kosovo hat im vergangenen Jahr sicherlich Fortschritte gemacht. Wer sagt: „Politisch ist im letzten Jahr
viel passiert, aber verändert hat sich wenig“, der sagt aus
unserer Sicht nur die halbe Wahrheit. Zwar mussten im
vergangenen Jahr die Parlamentswahlen in einigen
Wahlkreisen wiederholt werden. Entscheidend ist aber,
dass die Wahlen insgesamt friedlich und geordnet verlaufen sind. Entscheidend ist, dass Unregelmäßigkeiten
in rechtsstaatlicher Weise aus der Welt geschafft werden
konnten. Auch die Reaktion auf das, was dort festgestellt
worden ist, ist wichtig und bedeutsam.
Die Bürgerinnen und Bürger im Norden Kosovos haben sich mit ihrem Wahlboykott vor allem selbst geschadet. Sie berauben sich der Chance, die Politik Kosovos
mitzugestalten. Die Serben im Süden des Landes sind
viel weiter. Ihre Wahlbeteiligung lag höher als bei früheren Wahlen. Für den Süden sind die Wahlen ein Beispiel
dafür, dass die Trennlinien zwischen den Ethnien poröser und durchlässiger werden, als radikale Kräfte immer
wieder behaupten.
Die Verfassung der Republik Kosovo reserviert von
120 Sitzen zehn Sitze für die serbische Minderheit;
13 serbische Kandidaten wurden gewählt. Für andere
Minderheiten reserviert die Verfassung ebenfalls zehn
Sitze; zwölf Minderheitenvertreter wurden gewählt.
Heutzutage wird im Kosovo eben nicht nur nach ethnischen, sondern zunehmend auch nach politischen Gesichtspunkten entschieden. Wenn man bedenkt, dass sich
im Februar erst zum dritten Mal der Tag der Unabhängigkeitserklärung Kosovos gejährt hat, dann muss man
sagen, dass dies bemerkenswerte Fortschritte sind, die in
dem politischen Zusammenhang unseres Mandats heute
nicht unberücksichtigt bleiben sollten.
({2})
Richtig ist, dass seit der letzten KFOR-Debatte zwei
Staatspräsidenten zurücktreten mussten. Richtig ist aber
auch, dass das politische Vakuum nicht zu Unfrieden
und Gewalt führte. Die Verfassung wurde eingehalten.
Alle politischen Akteure haben die Entscheidung des
Verfassungsgerichts respektiert. Es ist ein Zeichen für
eine positive Entwicklung im Land, dass die Selbstheilungskräfte der Institutionen funktionieren.
Noch sind viele Konflikte ungelöst; auch das festzustellen, gehört zu einer angemessenen und umfassenden
Lagebeurteilung dazu. Diejenigen, die dort gewesen sind
und Gespräche geführt haben, können aus diesen Gesprächen von vielen Ängsten und Unsicherheiten berichten. Die Lage im Norden Kosovos bleibt angespannt.
Das Problem der Parallelstrukturen ist nicht gelöst. Der
Schutz der serbisch-orthodoxen Klöster bleibt eine hochsensible Sicherheitsfrage. Das erfordert auch weiterhin
den Rückhalt durch KFOR.
Die kosovarischen Sicherheitskräfte übernehmen
schrittweise mehr Verantwortung. Schon jetzt garantiert
die lokale Polizei die Sicherheit von sechs der neun besonders schutzwürdigen serbischen Kulturdenkmäler.
Die Sicherheitslage hat sich im letzten Jahr weiter stabilisiert. Eine Reduzierung der internationalen Militärpräsenz und damit auch der Kräfte der Bundeswehr ist
möglich. Es ist die zweite Reduzierung seit Antritt dieser
Bundesregierung. Im letzten Jahr sank die Mandatsobergrenze von 3 500 Soldatinnen und Soldaten auf 2 500.
Jetzt reduzieren wir in dem Antrag, den wir Ihnen vorlegen, erneut, und zwar auf 1 850 Kräfte.
({3})
Es soll aber auch hinzugefügt werden: Kosovo wird
noch viele Jahre auf Unterstützung auch durch die Europäische Union angewiesen sein. Das hat auch der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission im Dezember 2010 deutlich gemacht. Die Kommission hat
auch Fortschritte in der Justiz und beim Kampf gegen organisierte Kriminalität angemahnt. Noch häufen sich
Klagen über die politische Beeinflussung der Gerichte.
Noch ist Kosovo von europäischen Standards weit entfernt.
Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten der EURechtsstaatsmission EULEX, die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Vorwürfen, die die Berichterstatter
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates erhoben haben, zu führen. Die Führung Kosovos hat ihre
Unterstützung bei der Aufklärung angekündigt. Wir werden sie natürlich an ihren Taten messen.
Dies ist ein langjähriges Engagement, auch ein langjähriges militärisches Engagement. Aber wir sehen, dass
es gut war, Ausdauer zu haben und sich der Verantwortung zu stellen. Wir wollen nie vergessen, wie die Lage
Mitte und auch noch Ende der 90er-Jahre gewesen ist.
Manche fragen: Was geht uns das an? Spätestens dann,
wenn man sich daran erinnert, wie viele Hunderttausende von Flüchtlingen aus der Region seinerzeit nach
Deutschland gekommen sind, weiß man, dass Kosovo
nicht irgendwo ist und dass nicht irgendwelche anderen
betroffen sind. Das sind wir selbst; das ist Europa. Deswegen ist es richtig, dass dieser Einsatz auch unter den
veränderten Umständen mit den veränderten Rahmendaten fortgesetzt wird. Wir bitten um Ihre Zustimmung.
({4})
Das Wort hat nun Michael Groschek für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat,
Herr Außenminister: KFOR ist seit 1999 zu einer Erfolgsgeschichte vernetzter Sicherheitspolitik geworden.
Anders als das bei anderen Mandaten der Fall ist, ist das
wirklich überprüfbar, nachvollziehbar und im Ergebnis
unzweifelhaft. Deshalb gebührt unser Dank den Soldatinnen und Soldaten, aber auch allen anderen Einsatzkräften; denn hier gibt es ein vorbildliches Zusammenwirken aller.
Man muss daran erinnern, was am Beginn des Einsatzes stand: Der Versuch von Staatenbildung - was angesichts grausamer Kriegsverbrechen und Vertreibung immer wichtiger wird - und ethnische Konflikte, die wir in
Europa für unmöglich gehalten hätten. Wenn wir heute
in die Region blicken, finden wir einen befriedeten Süden und einen Norden, der halbwegs sicher ist und nur
noch relativ wenig Eskalationspotenzial birgt. Deshalb
noch einmal: Allen Beteiligten ein herzlicher Dank für
diesen Jahrzehnte dauernden Einsatz im Kosovo und in
Serbien.
({0})
Wir haben am Wochenende vernehmen können, beispielsweise im NDR, dass sich ein Teil unserer Soldatinnen und Soldaten über Langeweile im Einsatz beklagt.
Wenn das den Tatsachen entspricht, dann ist auch das ein
Erfolgsindiz. Soldatinnen und Soldaten, die sich im Einsatzgebiet langweilen, sind allemal besser dran als diejenigen, die um Leib und Leben fürchten müssen. Auch
deshalb ist der Einsatz der KFOR eine Erfolgsgeschichte
der Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam in unterschiedlichen Regierungskonstellationen verantwortet haben.
Ja, wir ziehen uns Stück um Stück zurück. Wir reduzieren das Mandat von ursprünglich 6 000 Bundeswehrsoldaten auf maximal 1 850 Soldaten. Unsere Zustimmung zu dem Mandat ist gewiss, weil auch wir sehen,
dass die KFOR und unsere Streitkräfte im Grunde nur
noch die Überlebensversicherung im Hintergrund bilden.
Im Vordergrund stehen die nationale Polizei, die paramilitärische Miliz und das, was EULEX als internationale Polizeimacht bieten kann. Die schrittweise Übergabe der Verantwortung an die kosovarische Seite kann
man nur begrüßen. Die Republik Kosovo sagt selbst:
Bitte bleibt, ein Restrisiko wollen wir mit eurer Hilfe abdecken, weil unsere eigene Kraft und Staatlichkeit noch
nicht ausreichen. - Trotzdem ist es für uns eine grundlegende Erkenntnis, dass nachhaltiger Frieden nicht durch
das Militär gesichert werden kann, sondern nur durch
Demokratie und Wohlstand.
Wenn man Demokratie und Wohlstand als Grundlage
nimmt, dann weiß man, dass nur Europa die Alternative
zu Vertreibung und Zerstörung ist. Bei diesem langen
Marsch des Kosovo und Serbiens nach Europa haben
auch Sozialdemokraten Blutzoll gezahlt. Es war ein sozialdemokratischer Ministerpräsident, der von wirren
Nationalisten in Serbien ermordet wurde, weil er seine
Nation mutig nach Europa führen wollte. Solche Männer
und diesen Geist wollen wir stärken.
Wir würden uns gerade heute von der Bundesregierung, Herr Außenminister - nicht in Ihrer Rede, aber in
der Rede, die die Bundeskanzlerin heute Morgen gehalten hat -, mehr Mut zu Europa wünschen, mehr Bekenntnis zu und Aktivität für Europa. In dieser Hinsicht
haben wir heute vieles vermisst. Wir hatten das Gefühl,
dass Teile der Regierung und der Regierungskoalition
nicht bestrebt sind, die Stammtische zu überzeugen, sondern sich nach wie vor von ebendiesen über den Tisch
ziehen lassen. Das ist sehr bedauerlich.
({1})
Mut macht dagegen die private Initiative in vielen Bereichen, unter anderem die Investitionsabsicht des ansonsten viel gescholtenen RWE: 350 Millionen Euro sollen in den nächsten Jahren in Wasserkraft in Serbien
investiert werden. Das ist eine sehr sinnvolle Investition,
die wir ausdrücklich begrüßen, weil sie die nachhaltige
Entwicklung in der Region fördert. Investitionsbereitschaft setzt aber auch Investitionssicherheit voraus. Da
hapert es noch an manchem. Ich darf daran erinnern,
dass beispielsweise der WAZ-Konzern in einer Kumpanei von Politik und Wirtschaft auf dem Feld der Medienwirtschaft übelst ausgebootet werden sollte. Das ist das
Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit. Da muss in Serbien
und der Region noch nachgearbeitet werden, wenn wir
die Investitionen mobilisieren wollen, die wir brauchen,
um die Region nach vorne zu bringen.
Für uns endet die Verantwortung eben nicht mit dem
Abzug der letzten Soldatin oder des letzten Soldaten.
Vielmehr bekennen wir uns zu dem Prinzip, die Entwicklung weiter zu fördern. Da muss die Politik - gerade
wir, für die die Perspektive Europa alternativlos ist - einen Beitrag dazu leisten, beiden Seiten zu helfen, sich
aus ihrer Opferrolle zu emanzipieren. Wer immer nur mit
dem Blick des Opfers auf den Nachbarn schaut, hat nicht
die Kraft und die Fähigkeit, nach vorne zu blicken, über
den Horizont zu schauen und mutig in Richtung Europa
zu gehen. Ich finde schon, dass gerade heute, wo Mladic
in Haft genommen wurde, ein Tag ist, um sich zur Europäisierung und zu einer Teilhabe beider Staaten im Rahmen der Europäischen Union zu bekennen. Der Weg
dorthin ist lang; das wissen wir.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um einen sicherheitspolitischen Punkt anzusprechen, der uns in dieser
Woche im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ beschäftigt hat: die Streubombenverminung Serbiens. Ein serbisches Opfer hat
sehr eindrucksvoll geschildert, wie es als Bombenentschärfer mit der Streubombenmunition in Kontakt gekommen ist und körperlich versehrt wurde. Wir konnten
in der Zeit nachlesen, auf wie skandalöse Weise beispielsweise unsere staatlichen Zuschüsse zur RiesterRente missbraucht werden, um in die Produktion von
verbotener und geächteter Streubombenmunition zu investieren. Hier beginnt unsere Verantwortung für eine
nachhaltige Entwicklung: Wir müssen gemeinsam nicht
nur fordern, das Streubombenverbot juristisch durchzusetzen und abzusichern, sondern wir müssen die Produktion von Streubomben dadurch auch praktisch verunmöglichen, dass wir ein Verbot von Investitionen in die
Produktion dieser grässlichen Waffen erwirken. Das
wäre ein Ausrufezeichen, welches wir uns von dieser
Bundesregierung wünschen würden.
({2})
In diesem Sinne: Jede Unterstützung für das Mandat.
({3})
Das Wort hat nun Bundesminister Thomas de
Maizière.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Geschichtliche Entwicklungen vollziehen sich
in Geschichten und Namen: Der Außenminister hat an
Mladic, seine Verbrechen und seine Verhaftung erinnert.
Herr Groschek hat an Herrn Djindjic erinnert, der ermordet worden ist. Auch ich will mit einer Geschichte beginnen, aber mit einer schönen: Vor rund zwei Wochen,
am 10. Mai, wurde das Erzengelkloster im Bistrica-Tal
bei Prizren von der Kosovo Force an die kosovarischen
Sicherheitsbehörden übergeben, als sechstes von insgesamt neun serbischen Kulturgütern. Diese Übergabe
hatte für das deutsche Kontingent eine ganz besondere,
auch emotionale Bedeutung, war es doch die Bundeswehr, die dieses Kloster über viele Jahre zu schützen
hatte.
Bei den schweren Unruhen im März 2004 mussten
unsere Soldaten nämlich die wenigen dort ansässigen
serbischen Mönche evakuieren, um sie so vor Schlimmerem zu bewahren. Das Kloster selbst erlitt schwerste
Schäden. Der Wiederaufbau ist zwischenzeitlich abgeschlossen, auch mithilfe der Bundeswehr. Die kleine Geschichte über das Kloster erzählt eigentlich die ganze
Geschichte dieses Einsatzes.
Seit diesen Unruhen ist es auch dank der Präsenz von
KFOR nie wieder zu Ausschreitungen solchen Ausmaßes gekommen. Es gibt sie noch, die gelegentlichen Zwischenfälle; Sie haben darauf hingewiesen. Die Lage im
Norden des Kosovo bleibt gespannt. Aber insgesamt hat
sich die Sicherheitslage im Kosovo nachhaltig stabilisiert.
Zur Stunde versehen im Kosovo noch rund
1 000 deutsche Soldaten ihren Dienst bei KFOR. Wir
werden dieses Kontingent zeitnah auf 900 Soldatinnen
und Soldaten reduzieren. Da fragt man sich: Warum erbitten wir ein Mandat von höchstens 1 850, wenn es
doch nur 900 sind? Die Antwort besteht darin, dass wir
500 in Deutschland in Reserve stehende Soldaten eines
Operational-Reserve-Force-Bataillons bereithalten - das
ist mit den Kosovaren abgestimmt -, damit man, wenn
es zu Unruhen käme, schnell eingreifen könnte. Der Rest
bezieht sich auf Personalüberhänge bei Kontingentwechseln und Ähnliches. Die Reduzierung von derzeit möglichen 2 500 auf mögliche 1 850 Soldatinnen und Soldaten steht in vollem Einklang mit der laufenden
Absenkung der Gesamtstärke von KFOR.
Es ist schon gesagt worden - ich unterstreiche das -:
Die Strategie ist erfolgreich. Sie mündet zunehmend in
politische Aktivitäten. Natürlich - der Außenminister
hat darauf hingewiesen - müssen die kosovarische Regierung und auch die serbische Regierung einen Beitrag
dazu leisten, insbesondere mit Blick auf die Grenz- und
Statusfragen, die sie haben. Aber wir wünschen uns natürlich auch - ich sage das heute aufgrund der netten
Stimmung, in der wir sind, ganz zurückhaltend - mehr
rechtsstaatliche Fortschritte, gerade im Kosovo. Das gehört dazu.
An diesem Erfolg der internationalen Gemeinschaft
- daran will ich heute einmal erinnern - haben insgesamt
110 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 im
Einsatz mitgewirkt. Manche Doppelzählung ist dabei,
weil manche mehrfach im Einsatz waren; das weiß ich
durchaus. Auf die genaue Zahl kommt es nicht an. Aber
diese Zahl macht deutlich, um welche Dimension es
geht: In zehn Jahren haben dort weit über 100 000 verschiedene deutsche Soldaten ihren Einsatz geleistet. Ihnen sowie den zivilen Mitarbeitern bei UNMIK und
EULEX sei auch von mir an dieser Stelle ganz herzlich
gedankt.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
({0})
Unsere Soldaten leisten eine gute Arbeit. Ich war im
März vor Ort und habe mich selbst davon überzeugt. Wir
sind dort hochgeschätzt bei unseren Partnern, bei der kosovarischen Regierung und der Opposition, also auf allen Seiten. Deshalb wird Deutschland nun zum dritten
Mal in Folge und zum sechsten Mal insgesamt den
Kommandanten, den COMKFOR, also den Chef von
KFOR insgesamt, für ein weiteres Jahr stellen. Ich
glaube, das ist eine Auszeichnung.
({1})
Wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich über
die Unterstützung dieses Hohen Hauses und bitte in der
zweiten Lesung um Zustimmung zur Mandatsverlängerung.
({2})
Das Wort hat Inge Höger für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als
zwölf Jahre ist die NATO schon im Kosovo präsent. In
vielen Bereichen des Landes ist die Lage heute verheerender als vor Beginn des NATO-Krieges.
({0})
Die verschiedenen internationalen Akteure, besonders
die NATO und die EU, haben neben militärischen Aktionen auch in zivilen, polizeilichen und wirtschaftlichen
Bereichen in das Land eingegriffen. Die Situation in dieser Balkanregion hat sich dadurch grundlegend verändert. Verbessert hat sie sich nicht, im Gegenteil.
({1})
Vor der NATO-Intervention war es vor allem die
schlechte ökonomische Situation, die neben dem serbischen und albanischen Nationalismus die Lage im
Kosovo destabilisiert hat. Obwohl es im ehemaligen
Jugoslawien eine Art Länderfinanzausgleich zur Unterstützung des Kosovo gab, lag das Einkommen dort pro
Kopf nur bei etwa der Hälfte dessen, was im Rest Jugoslawiens erzielt wurde. Nach zwölf Jahren Besatzung
liegt das Einkommen im Kosovo nun bei weniger als einem Viertel dessen, was in Serbien verdient wird,
({2})
und die Schere geht zunehmend weiter auseinander.
Etwa die Hälfte der Menschen im Kosovo ist arbeitslos.
Mehr als ein Drittel lebt in Armut,
({3})
und beinahe 20 Prozent leben in extremer Armut. Diese
Menschen müssen von weniger als 94 Cent pro Tag leben.
({4})
Sie können ja versuchen, mit 94 Cent pro Tag auszukommen.
Angesichts dessen ist klar, dass die im Mandatsantrag
erwähnte „weitestgehende“ Ruhe bestenfalls oberflächlich ist. Hier zeigt sich überdeutlich: Das Mantra der
Bundesregierung, Sicherheit sei die Voraussetzung für
Entwicklung, funktioniert nicht. Umgekehrt wird ein
Schuh daraus: Wenn die Menschen eine Entwicklungsperspektive haben, dann wird auch die Sicherheitslage
besser.
({5})
Doch genau hier haben die Besatzer auf ganzer Linie
versagt. Die ethnische Spaltung des Landes hat sich in
den letzten zwölf Jahren verfestigt. Es sind zwar nahezu
alle kosovo-albanischen Flüchtlinge in das Land zurückgekehrt, von den 230 000 serbischen Flüchtlingen aber
gerade einmal 15 000. Davon mussten 4 000 bei den Unruhen 2004 erneut fliehen. Für Roma sieht die Lage noch
schlechter aus. Sie werden im Kosovo verfolgt. Für diese
Bevölkerungsgruppe ist die Lebenssituation ziemlich
aussichtslos. Trotzdem finden nach wie vor Sammelabschiebungen aus Deutschland statt. Eine humane Politik
sieht anders aus.
({6})
Institutionen, die mit westlicher Hilfe im Kosovo aufgebaut wurden, haben wenig zur Demokratisierung beigetragen. Für die Privatisierungen ist beispielsweise die
Kosovo Trust Agency zuständig. Sie hat mit zur Ausbreitung von Korruption beigetragen. Der Sonderermittler des Europarates, Dick Marty, gibt der KFOR und
auch der Bundeswehr wesentliche Mitschuld an der Ausbreitung von organisierter Kriminalität, von Menschenhandel und illegalen Organtransplantationen.
({7})
Eine solche Mitschuld ist in Untersuchungen und Berichten nachgewiesen worden. Die internationale zivile
und militärische Präsenz ist mit dafür verantwortlich,
dass Bordelle mit Zwangsprostituierten gute Geschäfte
machen.
({8})
Das sieht auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
so. Diese Studie berichtet übrigens auch davon, dass die
kosovarische Bevölkerung in der internationalen Präsenz
„überhebliche Protektoratsherren“ sieht.
Die Linke fordert ein Ende der NATO-Besatzung. Die
frei werdenden Gelder könnten dann zur Verbesserung
der Situation der Menschen vor Ort eingesetzt werden.
({9})
Vor allem aber ist die Einsicht nötig, dass die bisherige
Kosovo-Politik ein grundlegender Fehler war. Das vorliegende Mandat führt nur weiter in die politische Sackgasse. Die Linke lehnt die Mandatsverlängerung ab.
({10})
Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Präsenz deutscher Soldaten im Kosovo beruht auf der
UN-Sicherheitsresolution 1244 aus dem Jahr 1999.
Nicht nur Russland, auch Serbien hat seinerzeit der Stationierung der internationalen Truppen zugestimmt. Die
völkerrechtliche Legitimität ist damit im Gegensatz zur
vorangegangenen nicht UN-mandatierten NATO-Intervention unstreitig.
({0})
Das Überzeugendste an diesem Einsatz aber ist, dass er
sich konsequent selbst überflüssig macht. Erfreulich ist
die Reduzierung der Truppen von ursprünglich 50 000
Soldaten auf jetzt 5 500, davon noch 900 deutsche. Die
weitere Reduzierung ist geplant. Die Multinational
Battle Groups wurden aufgelöst und durch Monitoring
Teams ersetzt. Der Flugbetrieb der Bundeswehr wurde
eingestellt, und die Hubschrauber wurden zurückverlegt.
Die größten Herausforderungen für die 2 Millionen Einwohner des Kosovo sind nicht militärischer, sondern
polizeilicher und rechtsstaatlicher Natur. Dieser Tatsache
tragen der schrittweise Abzug der Truppen und die
Übertragung der Aufgaben auf die Kosovo Police Force
Rechnung.
Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Trotz eines gewissen Wirtschaftswachstums liegt die Jugendarbeitslosigkeit nach offiziellen Angaben bei über
60 Prozent. Die ethnische Teilung verursacht nach wie
vor Spannungen. Die meisten der 200 000 Kosovo-Serben leben in der Region um Mitrovica mit eigenen Verwaltungsstrukturen. Korruption und mafiose Strukturen
prägen das Machtgefüge im Kosovo. Bei einer Fahrt
durch das Land springt einem sofort die unerklärlich
große Zahl von Baustellen ins Auge. Man fragt sich, warum all die Hotels und Tankstellen nie fertig werden und
als Bauruinen die Landschaft verschandeln. Die Antwort: Drogenhandel und Geldwäsche sind die vorherrschenden Einnahmequellen.
({1})
Besorgniserregend ist darüber hinaus der Ausbau der
Kosovo Security Force zu einer milizartigen Streitkraft,
obwohl diese ursprünglich allein für Evakuierung,
Brandbekämpfung und Minenräumung eingerichtet
wurde. Eine solche bewaffnete Miliz kann leicht zur
Keimzelle neuer bewaffneter ethnischer Auseinandersetzungen werden. Umso bedauerlicher ist es, dass diese
2 000 Kräfte gerade erst mit 900 deutschen G-36-Gewehren von Heckler & Koch beliefert worden sind.
Der verständliche Wunsch nach Ruhe und Frieden im
Land darf nicht dazu führen, dass die organisierte Kriminalität, die bis in die Regierung hineinreicht, verschont
bleibt.
({2})
Die europäische Rechtsstaatsmission EULEX muss dafür alle erforderliche Unterstützung bekommen, auch
wenn Ermittlungserfolge bei der Korruptionsbekämpfung gelegentlich Demonstrationen und Widerstand hervorrufen. EULEX ist die größte zivile Mission der EU
mit 1 400 Polizisten, 50 Richtern, 30 Staatsanwälten und
76 Zollbeamten. Von dem Erfolg dieser Arbeit wird abhängen, ob sich das Kosovo eines Tages in die EU integrieren lassen wird.
({3})
Auch müssen Kosovo und Serbien Wege einer pragmatischen Annäherung finden, wenn sich für beide eine
europäische Perspektive auftun soll. Hoffnung macht die
von Serbien mitgetragene UN-Resolution vom Oktober
letzten Jahres, in der genau dies gefordert wird. Hoffnung macht natürlich auch die heutige Verhaftung des
gesuchten Kriegsverbrechers Ratko Mladic.
Schließen möchte ich mit einem Appell an die Bundesregierung, die Abschiebung der Roma in das Kosovo
zu beenden.
({4})
Der Menschenrechtskommissar des Europarates,
Thomas Hammarberg, hat die Lebensbedingungen der
abgeschobenen Roma im Kosovo als humanitäre Katastrophe bezeichnet. Die Hälfte der 12 000 ausreisepflichtigen Roma ist jünger als 18. Zwei Drittel von ihnen sind
in Deutschland geboren und aufgewachsen. Viele von
ihnen sprechen weder serbisch noch albanisch, und nur
die wenigsten haben die Chance, im Kosovo eine Schule
zu besuchen. Ein Drittel dieser Kinder in den Lagern haben laut Grundrechte-Report nicht genug zu essen. Erinnern wir uns an die Rede von Zoni Weisz am 27. Januar
dieses Jahres hier im Bundestag und an unsere VerantKatja Keul
wortung und Verpflichtung gegenüber den Roma und
Sinti Europas.
({5})
Beenden Sie die Abschiebung der Roma in das Kosovo!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 10. Juni 1999 die
Resolution 1244 verabschiedete, sprach das Generalsekretariat der Vereinten Nationen von einer Tragödie im
Kosovo. Davon sind wir heute Gott sei Dank weit entfernt. Deshalb fand ich es unmöglich, dass hier gerade
diejenigen, die einen wichtigen Beitrag zu dieser Stabilisierung geleistet haben, als Besatzer bezeichnet worden
sind. Ich glaube, das war ein Missgriff, der in dieser Debatte nichts verloren hatte.
({0})
Es ging damals für die Kosovaren um ihr Überleben.
Elf Jahre später hat sich viel zum Guten gewendet. Vor
elf Jahren haben die Vereinten Nationen uns angesichts
einer humanitären Tragödie den Auftrag gegeben, ein sicheres Umfeld für alle Menschen im Kosovo zu schaffen. Wir erinnern uns: Deutschland hat es sich nicht
leicht gemacht, bei diesem Einsatz mitzumachen und
Verantwortung zu übernehmen. Vor elf Jahren beschloss
der Deutsche Bundestag ein Mandat mit einer Obergrenze von 8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem
Mandat mit 8 500 Mann vom 12. Juni 1999 und dem
Mandat mit 1 850 Mann, das heute zur Rede steht, ist ersichtlich. Der zivil-militärische Friedenseinsatz hat Erfolg gezeigt. Deshalb dürfen wir heute davon ausgehen,
dass KFOR mit maximal 1 800 deutschen Soldatinnen
und Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Vor diesem
Hintergrund kann niemand behaupten, die Männer und
Frauen der Kosovo Force hätten in den elf Jahren nicht
viel erreicht.
Die internationale Gemeinschaft musste diese Tragödie stoppen. Die Präsenz ist weiterhin notwendig. Wir
investieren damit auch in die Zukunft Europas. Den Erfolg stellte kürzlich auch die Neue Zürcher Zeitung fest,
die schrieb:
Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebrochen: Mehr und mehr Serben nehmen am politischen Leben teil, profitieren von den Minderheitenrechten und -quoten und spielen eine zunehmend
wichtige Rolle in der Politik in Kosovo.
Dies ist letztendlich ein Verdienst unserer politischen
Initiativen, insbesondere der Initiativen, die unser Außenminister in den vergangenen zwei Jahren gestartet
hat. Diesen Erfolg möchte ich hier nicht unerwähnt lassen.
({1})
Wie steht es um die Sicherheit? Generalmajor Erhard
Bühler, der deutsche Kommandeur der KFOR-Truppen,
hat am 22. April dieses Jahres die Aufgabe so beschrieben - ich zitiere erneut -: „Für mich ist es wichtig, Aufgaben der KFOR auf die Behörden des Kosovo zu übertragen, insbesondere an die Kosovo Police. Es ist kein
Geheimnis, dass ich eine hohe Meinung von der Kosovo
Police habe.“ - Dies ist tatsächlich ein großer Erfolg und
zeigt, dass wir - nach der kosovarischen Polizei und den
Polizisten von EUPOL - nur noch die dritte Linie der Sicherheit garantieren. Wir leisten einen wichtigen Beitrag
als Absicherung für den Fall, dass es wieder zu größeren
Problemen kommt.
Minister de Maizière hat vorhin das sehr anschauliche
Beispiel des Schutzes der Mönche und Schwestern in
den Klöstern genannt. Dies zeigt, wie wichtig dieser Einsatz war und welch hohen symbolischen Stellenwert einzelne Maßnahmen der Bundeswehr im Kosovo hatten.
Dies ist aus meiner Sicht ein historisch ganz wichtiger
Punkt. Ich weise noch einmal darauf hin, dass in der Geschichte sehr dramatische und schlimme Dinge auf dem
Balkan geschehen sind, für die Deutschland verantwortlich war, dass Deutschland an dieser Stelle aber eine gute
Spur hinterlassen hat. Dafür bin ich den deutschen Soldatinnen und Soldaten außerordentlich dankbar.
({2})
Ich möchte diese Debatte nutzen, um unser Engagement in der gesamten Region des Balkans auch über dieses Mandat hinaus deutlich zu machen. Die Fortschritte
sind bereits angesprochen worden. Natürlich wird es
weiterhin wichtige Themen geben, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Die Zukunft der Region insgesamt
liegt unserer Meinung nach innerhalb der Europäischen
Union. Dies betrachte ich auch als eine Vision für die
Europäische Union; nicht kurzfristig, aber langfristig ist
dies ein wichtiger Schritt. Auch Serbien sieht seine Zukunft, wie wir aus vielen Gesprächen wissen, in der EU
und hat am 22. Dezember 2009 einen Beitrittsantrag gestellt. Dafür bedarf es natürlich einer echten EU-Perspektive. Die Voraussetzung dafür ist die Klärung des
Verhältnisses zwischen dem Kosovo und Serbien.
Serbien hat sein Anliegen im Hinblick auf eine rechtliche Bewertung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo mit gutem Recht vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vorgetragen; das steht Serbien frei. Der
verantwortungsvolle Umgang der Serben mit der Antwort des IGH hat uns die Hoffnung gegeben, dass allen
klar ist: Es geht ernsthaft darum, dass Serbien und das
Kosovo ihre Konflikte friedlich lösen und letztlich als
gute Nachbarn zusammenleben. Dazu bedarf es allerdings weiterer Schritte, und bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Gestern mussten wir leider die Meldung lesen, dass
Serbiens Präsident Tadic das Gipfeltreffen zwischen Präsident Obama und den Staatschefs aus Ost- und Südeuropa in Warschau boykottieren möchte. Der Grund sei,
dass auch die Präsidentin des Kosovo eingeladen ist.
Wenn das stimmt, muss man sagen: Das ist der falsche
Weg. Dies bedarf zwar keiner Geißelung, aber des Hinweises, dass wir uns das so nicht vorstellen. Wir halten
es für den richtigen Weg, sich gemeinsam an einen Tisch
zu setzen und die Gemeinsamkeiten zu betonen. Das
sage ich auch vor dem Hintergrund, dass wir in den vergangenen Monaten sehr gute Gespräche mit serbischen
Politikern geführt haben. Insofern hat mich die gestrige
Meldung überrascht und gleichzeitig enttäuscht.
({3})
Unsere Fraktion wirbt für die Verlängerung dieses
Mandats. Ich bitte dafür um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5706 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen streichen
- Drucksachen 17/1154, 17/1148, 17/5000 Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunternehmen neu ausrichten
- Drucksachen 17/4698, 17/5124 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema
„Altschuldenentlastung für die Wohnungsunternehmen
in den neuen Bundesländern“ begleitet uns schon seit der
Wiedervereinigung. Die Altschulden sind eine Last aus
der DDR-Zeit, die es gemeinsam zu schultern galt und
die wir zurzeit gemeinsam schultern. Die Umstellung
von einer staatlich zentral gesteuerten Planwirtschaft auf
die Erfordernisse der sozialen Marktwirtschaft hat viele
Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland vor enorme
Herausforderungen gestellt. Ohne die Städtebauförderung im Allgemeinen und die Altschuldenregelungen im
Besonderen wären viele Wohnungsunternehmen seinerzeit nicht überlebensfähig gewesen. Die Unionsfraktion
will an der bewährten Struktur des Wohnungsmarktes,
bestehend aus kommunalen, genossenschaftlichen und
privaten Wohnungsunternehmen, festhalten.
({0})
Die Altschuldenhilfe trägt Sorge dafür, dass dies, zumindest für Teile, auch möglich ist.
Das empirica-Gutachten, auf das sich insbesondere
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bezieht, zeigt, dass
die Maßnahmen zur Altschuldenregelung gewirkt haben
und noch immer wirken. Bisher haben über 300 Unternehmen eine Bewilligung für zusätzliche Altschuldenhilfe erhalten. Von den 1,1 Milliarden Euro, die dafür bereitgestellt worden sind, stehen bis 2013 noch circa
180 Millionen Euro zur Verfügung.
Mit Blick auf die Zeit nach 2013 wollen wir von der
christlich-liberalen Koalition nach Lösungen suchen, damit der Prozess des Stadtumbaus nicht ins Stocken gerät.
Dazu wollen wir den vorgesehenen Bericht aus dem
BMVBS zum Stadtumbau Ost, die Evaluierung des
Stadtumbaus Ost, im nächsten Jahr, im Jahre 2012, abwarten. Dann werden wir die aktuelle Situation prüfen
und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen auch
für die Altschuldenhilfe ziehen, aber weniger mit Blick
auf die wirtschaftliche Situation der WohnungsunternehVolkmar Vogel ({1})
men, sondern mehr mit Blick auf die wohnungspolitische Situation der Akteure und Unternehmen, die sich
aktiv in die Stadtentwicklung in den Kommunen einbringen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jahren hat sich die wirtschaftliche Lage der ostdeutschen
Wohnungsunternehmen stetig und merklich verbessert
mit der Folge, dass die Altschulden keine wesentlichen
Auswirkungen mehr auf die ostdeutsche Wohnungswirtschaft haben.
({3})
- Ich komme dazu, Herr Hacker. - Dabei ist Folgendes
zu sehen: Die allermeisten Unternehmen im Osten haben
nämlich ihre Hausaufgaben gemacht, und das verdient
unsere Anerkennung. Sie haben ihre eigene Verwaltung
konsolidiert, durch Sanierung attraktiven Wohnraum geschaffen, der auch nachgefragt wird, angemessene Mietpreiserhöhungen durchgeführt, was nicht immer leicht
war, und natürlich auch Wohnungsbestand verkauft. Die
allermeisten Wohnungsunternehmen sind diesen schwierigen Weg gegangen und haben es aus eigener Kraft geschafft, nicht mehr durch Altschulden in ihrem Fortbestand gefährdet zu sein.
Im Koalitionsvertrag haben Christdemokraten und Liberale vereinbart, Investitionen in den Innenstädten zu
fördern. So sollen durch den Stadtumbau Ost die Innenstädte aufgewertet und die Sanierung der Altbausubstanz
gestärkt werden. Durch das empirica-Gutachten, das uns
vorliegt und das wir sehr intensiv ausgewertet haben,
wird diese Idee bestätigt. Allerdings ist zu beachten, dass
Investitionen in die Innenstädte nicht in direktem Zusammenhang mit der Altschuldenregelung im Osten stehen, sondern ein Thema der Städtebauförderung insgesamt sind. Mein Kollege Peter Götz wird nachfolgend
nähere Ausführungen dazu machen.
Da uns als Union die bewährte Struktur aus kommunalem, genossenschaftlichem und privatem Wohnungseigentum wichtig ist, möchte ich erwähnen, dass
insbesondere in den Innenstädten viele private Immobilienbesitzer vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie
die kommunale Wohnungswirtschaft.
({4})
Auch sie sind seit 1990 hohe Verbindlichkeiten eingegangen und haben mit ihrem Engagement zu einer erheblichen Aufwertung und Verbesserung der Situation
der Innenstädte in den ostdeutschen Bundesländern beigetragen.
({5})
Ich selber komme aus Ostthüringen. Der größte Teil
meines Wahlkreises ist ländlich geprägt. Da die Einwohnerzahl insgesamt sinkt, wird insbesondere auch der
ländliche Teil meines Wahlkreises betroffen sein. So
zeichnet sich ab, dass der Leerstand in den kleinen Städten und auch in den Dörfern bedrohlich wachsen wird.
Hier werden wir nach Lösungen suchen müssen, die jenen Hausbesitzern helfen, die Investitionen vorgenommen und so zu einer erheblichen Aufwertung ostdeutscher Städte und auch Gemeinden beigetragen haben.
Dass wir auch in diesem Bereich eine Lösung finden,
ist mir persönlich wichtig; denn ich möchte nicht, dass
sich am Ende, wie in der DDR, nur der Staat um die Gestaltung des Lebens- und Wohnumfeldes in den Städten
und Dörfern kümmert.
({6})
Privates Engagement im Bereich des Wohnens muss unterstützt und gefördert werden. Nur so werden wir dafür
Sorge tragen, dass wir langfristig einen ausgewogenen
und attraktiven Wohnungsmarkt in Deutschland behalten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Vogel, Sie haben hier ein Lied gesungen,
das zum Teil mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung
steht. Wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass in den
letzten zwei Jahrzehnten viel geleistet worden ist. Aber
es geht heute um die Problematik Altschuldenentlastung.
Ich stelle nicht infrage, dass wir die Vielgestaltigkeit
des Wohneigentums in den neuen Ländern erhalten und
weiterentwickeln wollen und dass private Grundstückseigentümer an den staatlichen Fördermaßnahmen beteiligt werden sollen. Das ist alles unbestritten. Heute geht
es konkret um die Altschuldenproblematik,
({0})
und es geht um die Städtebauförderpolitik dieser Bundesregierung im Allgemeinen.
({1})
- Darum geht es im Allgemeinen, Herr Döring; denn die
Politik der Bundesregierung ist nicht von nachhaltigen
Anstrengungen bei der Lösung stadtentwicklungspolitischer Themen in den neuen Ländern geprägt.
({2})
Das kann man weder von der Bundesregierung noch von
der schwarz-gelben Koalition in diesem Hause sagen.
Damit geben Sie, wie ich finde, ein sehr wichtiges Pfund
auf, das in der Städtebauförderung in Deutschland viele
Jahre prägend war. Daraus konnten wir die guten Ergebnisse erzielen.
Ich erinnere nur daran, dass Sie die Programme
„Stadtumbau Ost“ und „Soziale Stadt“ abgewertet haben. Das weiß jeder. Das sagen Ihnen alle Wohnungsunternehmen. Dafür werden Sie kritisiert.
({3})
- Jetzt komme ich zur Altschuldenhilfe, Herr Döring.
Bei der Altschuldenhilfe zeigen Sie nicht einen einzigen Ansatz. Sie haben selber ein Gutachten in Auftrag
gegeben, das Ihnen konkrete Hinweise zur Entwicklung
einer Politik gibt. Dieses Gutachten negieren Sie. Damit
ist beides in Verbindung zu bringen; denn wir müssen
Abriss und Sanierung als Einheit sehen.
({4})
Abriss und Sanierung sind zwei Seiten einer Medaille.
Diese beiden Seiten nehmen Sie nicht wahr.
Wir sind dafür, dass wir weiter Abriss und Aufwertung vornehmen. Für uns sind neben den Innenstädten,
die in den nächsten Jahren sicherlich eine bedeutende
Rolle spielen werden, auch die Plattenbaugebiete weiterhin wichtig, weil wir wohnungspolitisch betrachtet noch
Jahrzehnte weiter mit ihnen leben müssen.
({5})
- Das ist auch nicht das Thema, Frau Müller. Das Thema
ist, dass wir dort helfen müssen, wo noch mehr getan
werden muss. Wir haben aus der DDR-Zeit die schon erwähnten Altschulden übernommen.
({6})
Derzeit liegen immer noch 7,6 Milliarden Euro Altschulden auf den ostdeutschen Wohnungsunternehmen.
Es gab sicherlich unterschiedliche Aktivitäten. Damit
haben Sie recht, Herr Vogel. Dass das AltschuldenhilfeGesetz enorm geholfen hat, bestreitet die SPD auch
nicht. Ich sage nur: Gerade vor dem Hintergrund, dass
letzte Woche die Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen einen Hilferuf an die Bundesregierung gerichtet
haben, müssen wir jetzt aktive Politik machen, Herr
Mücke. Haben Sie den mitbekommen? - Sie haben sich
in den Haushaltsberatungen dankenswerterweise kräftig
ins Zeug gelegt und wollten die Städtebaufördermittel
ein bisschen aufstocken. Aber leider ist nicht viel dabei
herausgekommen. - Noch einmal zurück zu dem Appell
aus Berlin-Brandenburg, lieber Herr Staatssekretär
Mücke.
({7})
Der Hilferuf aus Berlin-Brandenburg, der von den Ministern anderer Länder und auch von den Wohnungsunternehmen unterstützt wird, Herr Döring, lautet im
Wesentlichen: Im Jahr 2016 könnte jede siebte Wohnung
in Berlin-Brandenburg unbewohnt sein.
({8})
- Damit komme ich zu Ihnen, Frau Müller. Wir machen
doch in der SPD keine nach Ost und West sortierte Wohnungspolitik. Es gibt eine andere Fraktion, die das vielleicht in der Vergangenheit konnte; aber heute kann sie
das auch nicht mehr.
({9})
- Ja, Frau Bluhm, genau Sie. Sie konnten in der Vergangenheit Ost und West schön differenziert darstellen. Das
gelingt Ihnen heute nicht mehr. Sie haben nun auch Kolleginnen und Kollegen aus dem alten Bundesgebiet. Ich
bin sehr gespannt, wie die Kollegen zu einem solchen
Ost-West-Denken stehen, das uns eigentlich im 21. Jahr
der deutschen Einheit fremd werden sollte.
Aber bleiben wir bei den Altschulden.
Wie gesagt, 2010 war jede zwölfte Wohnung unbewohnt. Hier ist ein enormer Anstieg zu befürchten. Jede
leerstehende Wohnung belastet die Wohnungsunternehmen jedes Jahr mit 3 500 Euro für Tilgung und Zinsen.
Das ist ein Strick, der die Unternehmen einschnürt. Das
ist die eine Seite. Die andere Seite ist die starke Abwanderung aus den neuen Ländern. Insbesondere mobile
junge Menschen wandern ab. Das können wir nur bedingt beeinflussen, Stichwort „demografische Entwicklung“. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme. Darauf
müssen sich die Unternehmen mittel- und langfristig einstellen. Sie müssen sanieren, attraktive Wohnungen
schaffen und vor allen Dingen - ich will den Fokus auch
auf die alten Menschen in den neuen Ländern richten für altersgerechte Wohnsubstanz sorgen. Das alles geht
nur, wenn wir bei der Altschuldenhilfe vorankommen.
Wir weisen mit unserem Antrag konkret den Weg,
wie man das Problem lösen kann. Diesen können Bund
und Länder gemeinsam gehen. Frau Kollegin Bluhm,
unser Weg sieht ein bisschen anders aus als Ihrer. Wir
streichen nicht einfach die Altschulden. Das war auch
nicht Politik der letzten 20 Jahre. Wir können heute eine
lange Diskussion über das Zustandekommen der Altschulden - das hatte etwas mit der Währungsumstellung,
den Sparguthaben und dem Einsatz dieser Sparguthaben
in der DDR zu tun - führen. Aber das würde keinem
Wohnungsunternehmen und auch keinem Mieter in den
neuen Ländern helfen. Wir müssen vielmehr Lösungen
suchen und finden und dann Beschlüsse fassen, die konkret helfen.
Unsere Lösung sieht wie folgt aus: Wir fordern in unserem Antrag den Bund auf, jetzt Gespräche mit den
Ländern aufzunehmen. Herr Mücke, dieser Appell richtet sich an die Bundesregierung. Wir fordern, dass die
Regierung dem Deutschen Bundestag eine abschließende Regelung zur Beschlussfassung vorlegt, die eine
bessere Finanzausstattung der Städtebauförderung sowie
eine bessere Förderung der energetischen Sanierung und
des altersgerechten Umbaus vorsieht. Herr Götz, wir haben vielleicht in den nächsten Wochen noch Gelegenheit, darüber intensive Gespräche zu führen.
({10})
Herr Vogel, Sie haben an Ihren Koalitionsvertrag erinnert. Aus diesem will ich jetzt nicht zitieren. Aber ich
erinnere Sie daran, dass Sie dort die konkrete Verpflichtung eingegangen sind, eine Lösung zu finden, die dafür
sorgt, dass die Wohnungsunternehmen nicht durch den
Leerstand gefährdet werden. Das, was Sie hierzu im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, ist richtig.
({11})
Dieses Versprechen sollten Sie jetzt einlösen, Herr
Döring; denn ansonsten werden die Folgekosten die
Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern - das haben wir nach 1990 gesehen - überrollen. Wir sind bei
ungefähr 30 Milliarden Euro gestartet. 1994 waren es
bereits 50 Milliarden Euro. Die Hilfe war zwar richtig,
kam aber zu spät.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie haben in dieser Woche gezeigt, dass Sie lernfähig
sind. Dafür möchte ich Ihnen ein Kompliment aussprechen.
({12})
- Herr Vogel, das ist mir schon öfter aufgefallen. Aber
Sie sollten das hier auch vertreten.
Herr Götz, Sie haben sich bei der Privilegierung von
Kinderlärm in Kitas bewegt.
({13})
Obwohl Sie unseren ersten Antrag zu diesem Thema im
Bundestag in dieser Legislaturperiode abgelehnt haben,
haben Sie nun eine Regelung vorgelegt, der wir zustimmen konnten. Die kleinen Differenzen, die es gab - diese
waren für uns nicht ganz unwichtig -, will ich noch einmal in Erinnerung rufen. Aber das hat am Ende das Erreichen des großen Ziels nicht beeinträchtigt.
Sie haben innerhalb kürzester Zeit eine Kehrtwende
in Ihrer Energiepolitik vollzogen und befürworten nun
den Atomausstieg, ohne dass sich die technischen Bedingungen in den deutschen Atomkraftwerken verändert
haben. Ich traue Ihnen Kraft und Mut zu, bei der Altschuldenproblematik ebenso zu agieren. Ich rufe Ihnen
zu: Bringen Sie den Mut auf, den letzten notwendigen
Schritt bei der Entlastung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen von Altschulden zu gehen! Lösen Sie jetzt
Ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag ein! Sie
haben jetzt die Chance, unserem Antrag zuzustimmen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, bitte steigen Sie in das Boot!
({14})
Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim „Stadtumbau Ost“ soll die Aufwertung von
Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz
gestärkt und der Rückbau der technischen und sozialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden.
Der Erfolg des Programms soll nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsunternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand gefährdet werden.
Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende des letzten
Jahres gab es insgesamt 780 000 Wohnungen in
Deutschland, die leer standen, Tendenz steigend. Das
heißt, 3,7 Prozent, also fast 4 Prozent des deutschen
Wohnraums waren nicht vermietet. Das ist marktökonomisch ein Problem, volkswirtschaftlich und vor allem
sozial. Aber dieser Leerstand muss differenziert betrachtet werden, um am Ende zu einer differenzierten Lösung
zu gelangen.
Die Analysen der Marktforschung sagen uns natürlich
mehr: Von den 780 000 Wohnungen sind 380 000 Wohnungen in Ostdeutschland leer. Das sind 6,6 Prozent im
Vergleich zu 2,7 Prozent im Westen. Damit scheint das
Sorgenkind ausgemacht: Betroffen sind vor allem die sozialistischen Plattenbausiedlungen, betroffen sind die
Rechtsnachfolger der DDR-volkseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Diese Unternehmen leiden erstens am
Leerstand, an einer unattraktiven Wohnsubstanz und
zweitens an der Kreditlast der Planwirtschaft. Aber auch
das ist wieder nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig zeigen Studien, dass sich die Leerstandsquoten Ost und
West seit 2001 annähern. Das ist die Sach- und Faktenlage.
In dem wissenschaftlichen Gutachten im Auftrag des
BMVBS - das ist schon mehrfach hier angeklungen wurde der Wohnungsmarkt untersucht. Es kommt zu einem Ergebnis. Das Ergebnis ist unter anderem begrüßenswert: Die Ertragslage der ostdeutschen Wohnungsunternehmen hat sich im Wesentlichen verbessert. Diese
Gutachten wurden übrigens vom GdW und von Haus &
Grund begleitet. Das Gutachten besagt weiter: Noch nie
ging es der ostdeutschen Wohnungswirtschaft so gut.
({0})
Für 200 Wohnungsunternehmen stehen bis 2013 noch
rund 170 Millionen Euro bereits bewilligte Mittel zum
Abruf bereit. Die Frage ist nun: Soll die Altschuldenhilfe
über das Jahr 2013 hinaus fortgeführt werden?
({1})
- 2013 gibt es ja noch Mittel. Man muss erst einmal abrufen. Aber darauf komme ich jetzt zu sprechen, Herr
Kollege Hacker.
Kolleginnen und Kollegen, seriös kann ich Ihnen darauf heute, vor dem Sommer des Jahres 2011, keine verbindliche Antwort geben. Vielmehr vertrete ich die Auffassung, dass wir uns in 2012 die Situation in den
Petra Müller ({2})
ostdeutschen Ländern erneut ansehen müssen, den Abrufungsstand der Mittel betrachten und danach seriöse Entscheidungen treffen.
Fakt ist: Die Altschulden machen heute gut
20 Prozent der langfristigen Verbindlichkeiten der Wohnungsunternehmen in Ostdeutschland aus. Damit gefährden die Altschulden diese Unternehmen nicht. Dementsprechend ist es für eine Fortführung des Stadtumbaus
nicht zwingend notwendig, die Altschuldenhilfe nach
2013 weiter fortzuführen; denn sie werden bis dahin abnehmen. Zudem erfolgen zurzeit in Ost und in West weitere Abrisse, ganz einfach aus betriebswirtschaftlichen
Gründen, weil damit die Leerstandskosten reduziert werden. Es werden auch sanierte Gebäude abgerissen. Das
sind ganz normale Vorgänge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich
an dieser Stelle nicht falsch. Als fast einzige Rednerin zu
diesem Thema komme ich nicht aus dem Osten. Die
Problematik der Altschuldenhilfe habe ich sehr wohl
verstanden. Aber ich möchte Sie darum bitten, das
empirica-Gutachten ohne Vorbehalte und ohne Vorurteile zu lesen.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
sich zu bemühen, die Altschuldenhilfe fortzuführen. Sie
können sicher sein: Bemühen werden wir uns. Die
christlich-liberale Koalition wird mit dem Programm
„Stadtumbau Ost“ weiterhin erfolgreich und kontinuierlich die Probleme der Städte und Gemeinden lösen.
({3})
Kurz ist es eben bei meinen Vorrednern schon angeklungen: Diese Probleme resultieren nicht aus den Altschulden; sie resultieren aus den momentanen Wandlungsprozessen.
({4})
Diese sind in ganz Deutschland zu beobachten. Ich rede
von Schrumpfungsprozessen im Osten genauso wie im
Westen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Schrumpfungsprozesse in den nächsten Jahren durch die ganze
Republik fortsetzen werden. Das hat etwas mit der Bevölkerungsentwicklung und mit dem demografischen
Wandel zu tun. Diese Tatsache müssen wir für ganz
Deutschland akzeptieren. Städtebaulich und politisch ist
das selbstverständlich zu begleiten, aber es ist 20 Jahre
nach der deutschen Einheit einfach Normalität.
({5})
Stärkung der Innenstädte, Nahverdichtung, Rückbau
von Splittersiedlungen, das ist langfristig der einzig
gangbare Weg. Deshalb sollten wir in puncto Altschulden auch über eine Kopplungsregelung nachdenken: Es
wird eine Altschuldenhilfeentlastung gewährt, wenn ein
Unternehmen Wohngebäude ab dem Baujahr 1949 oder
1950 abreißt und den Entlastungsbetrag in die Sanierung
von Wohngebäuden in den Innenstädten, die nämlich gestärkt werden müssen, investiert. Auch das ist übrigens
ein Ergebnis des Gutachtens.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend ganz schnell noch eine Bemerkung machen.
Alles will finanziert werden, auch die Altschuldenhilfe.
Angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidierung
räumen wir der Städtebauförderung und damit dem
„Stadtumbau Ost“ absolute Priorität ein.
({7})
Der „Stadtumbau Ost“ erreicht einen großen Adressatenkreis,
({8})
wirkt spezifisch und punktgenau und erhält den Kommunen und Regionen heimatbezogene Gestaltungshoheit.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die
Anträge lehnt die FDP-Bundestagsfraktion ab.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Müller, früher habe ich immer Herzklopfen bekommen, wenn ich hierher musste, weil ich so
aufgeregt war, hier zu reden. Heute habe ich Herzklopfen bekommen, als ich Ihrer Rede folgen musste, aber
nicht deshalb, weil sie so gut war, sondern deshalb, weil
sie mich beschämt. Ich verzeihe Ihnen das aber, weil Sie
eben nicht aus den neuen Bundesländern kommen.
({0})
Mehr als ein Jahr ist es schon her, dass wir uns hier im
Plenum mit dem Thema Altschulden befasst haben. Seitdem hat es eine Reihe von Debatten, Expertengesprächen, Anhörungen und neuen Anträgen gegeben, zuletzt
ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebenes Gutachten, das hier mehrfach angesprochen wurde, dazu
wieder Stellungnahmen und noch eine Anhörung. Im
Ergebnis sind wir bisher keinen Millimeter weitergekommen. Dabei haben Sie selbst in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass der Stadtumbau in den neuen
Bundesländern nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme gefährdet werden soll.
Aber genau das tun Sie. Entgegen allen im vergangenen Jahr eingeholten Expertenmeinungen, entgegen den
Stellungnahmen aus der Wohnungs- und ImmobilienHeidrun Bluhm
wirtschaft, entgegen den Forderungen der ostdeutschen
Bauminister, vieler Kommunalpolitiker, des Deutschen
Städtetages, entgegen auch den Schlussfolgerungen Ihres eigens in Auftrag gegebenen Gutachtens „Altschuldenhilfe und Stadtumbau“ ignoriert diese Bundesregierung hartnäckig die Realität in vielen ostdeutschen
Städten,
({1})
die ohne Altschuldenentlastung der Wohnungsunternehmen den notwendigen Stadtumbauprozess zukünftig
nicht mehr werden schultern können und deswegen in
eine neue Abwärtsspirale kommen, nachdem sie die
erste so halbwegs überlebt haben.
({2})
Sie feiern heute auch noch, dass es ihnen heute etwas
besser geht, aber Sie sorgen dafür, dass es ihnen morgen
wieder schlechter geht.
({3})
Die demografische Entwicklung, speziell in Ostdeutschland, produziert dort eine neue Leerstandswelle.
({4})
Wachsender Leerstand verschärft die wirtschaftliche Situation vieler Wohnungsunternehmen und schwächt ihre
Kreditwürdigkeit, und auch das wissen Sie. Leerstehende Häuser, selbst in besten Innenstadtlagen, suchen
heute Investoren und halten die Mieter nicht vom Wegzug ab.
({5})
Dass ein CSU-Politiker aus Traunstein das nicht verstehen kann oder will, ist vielleicht noch verständlich, aber
wenn ein CDU-Politiker aus dem Wahlkreis Greiz - Altenburger Land oder Politiker aus der FDP aus den
neuen Bundesländern das nicht sehen können, sind sie
blind oder für die Probleme ihres Wahlkreises nicht offen.
({6})
Das Streichen der noch verbliebenen 7,6 Milliarden
Euro Altschulden - so beziffert sie das Gutachten des
Bauministeriums - könnte ein eigenes Konjunkturprogramm sein.
({7})
Wie bei der Städtebauförderung würde die so gewonnene Investitionskraft der Wohnungsunternehmen ein
Vielfaches an Investitionsvolumen mobilisieren und
nicht nur den Stadtumbau schlechthin am Leben erhalten,
({8})
sondern zugleich ein Grundstock an Eigenkapital für den
dringend notwendigen ökologischen und barrierefreien
Umbau des Wohnungsbestandes und für die ebenso notwendige Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus
sein.
({9})
Die Begründung, warum eine Streichung der Altschulden angeblich nicht möglich sein soll, ist wirklich
abenteuerlich. Ich zitiere hier den Minister Ramsauer
aus der Leipziger Volkszeitung vom Februar dieses Jahres:
Angesichts der Haushaltskonsolidierungsvorgaben
sieht die Bundesregierung gegenwärtig die Priorität
bei der Finanzierung der Städtebauförderung.
Ich habe das dreimal gelesen und mir dann überlegt,
doch zu lachen. Eigentlich müsste man über so viel Verlogenheit des Fachministers weinen.
Meine Damen und Herren, den Antrag der SPD lehnen wir ebenfalls ab, und bei dem der Bündnisgrünen
werden wir uns enthalten, weil beide die Bundesregierung beauftragen wollen, eine neue bzw. andere Fortführung für die Altschuldenentlastung zu finden. Dieses
Grundvertrauen haben wir nicht. Dafür bietet die Linke
eine Lösung: Streichen Sie die Altschulden!
({10})
Die Bundesregierung hat bisher nichts vorgelegt und
wird es auch nicht tun. Der Fachminister kann es einfach
nicht.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Altschuldenhilfe war lange ein wohnungswirtschaftliches Instrument. Es ging also darum, bestimmten
Wohnungsunternehmen das Überleben zu sichern. Ich
sehe die Altschuldenhilfe heute aber als städtebauliches
Instrument. Wer will, dass das Programm „Stadtumbau
Ost“ erfolgreich sein soll, der muss die Altschuldenhilfe
über das Jahr 2013 hinaus verlängern.
({0})
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ziele des
Programms „Stadtumbau Ost“: Die Sanierung der Altbausubstanz soll verstärkt werden und eine Aufwertung
der Innenstadtbereiche stattfinden. Gleichzeitig - das ist
auch ein Beschluss des Bundestages - sollen weitere
200 000 bis 250 000 Wohnungen vom Markt genommen
werden.
Wenden wir uns dem empirica-Gutachten zu: Dort
wird deutlich, dass Unternehmen, die abgerissen haben,
solche Unternehmen waren, die die Altschuldenhilfe in
Anspruch nehmen konnten. 90 Prozent der Abrisse waren Abrisse von Unternehmen, die Altschuldenhilfe in
Anspruch genommen haben. Rückbaupotenziale - so
steht es auch in dem Gutachten - haben aber im Wesentlichen nur noch die Unternehmen, die bisher keine Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen konnten.
({1})
Das sind rund zwei Drittel der ostdeutschen Wohnungsunternehmen. Wenn sie nicht von Altschulden entlastet
werden, werden sie nicht zurückbauen; denn sie bleiben
schließlich auf diesen Schulden sitzen.
Dies erklärt auch die rückläufigen Abrisszahlen und
berührt damit natürlich auch die Frage, ob das Ziel des
Stadtumbaus Ost an dieser Stelle erreicht werden kann.
Waren 2005 noch 60 000 Wohnungseinheiten rückgebaut worden, waren es im vergangenen Jahr gerade noch
13 000.
Es ist klar, dass angesichts des demografischen Wandels in Ostdeutschland weiterer Rückbau notwendig ist.
({2})
Insbesondere in den Schrumpfungsregionen Ostdeutschlands befinden sich die Wohnungsunternehmen, die besonders stark von den Altschulden betroffen sind. Dies
sollten wir bei der Debatte beachten. Hier liegt eine doppelte Belastung vor: einerseits angesichts schrumpfender
Märkte geringere Mieterlöse und andererseits drückende
Altschulden, die summa summarum zu einer Investitionsbremse führen. Wir wollen aber, dass sich alle Unternehmen an der energetischen Sanierung und an dem
Thema barrierefreies und altengerechtes Wohnen beteiligen.
({3})
Dies gelingt ihnen nicht, wenn sie keine wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen dafür vorfinden.
Das empirica-Gutachten macht meines Erachtens einen sehr intelligenten Vorschlag. Es sagt nämlich, alle
Unternehmen könnten künftig Altschuldenhilfe in Anspruch nehmen, und der Entlastungsbeitrag wird eins zu
eins in die Altbaubestände in den Innenstädten investiert. Wir schlagen zusätzlich vor: oder auch in Quartiere, die gemäß entsprechender integrierter Stadtentwicklungskonzepte dauerhaft für die Wohnraumversorgung notwendig sind. Ein solcher Vorschlag wird
in der Wohnungswirtschaft begrüßt. Dort sagt man, man
wolle das Geld nicht in den Schuldendienst stecken, sondern investieren. Dies wollen wir natürlich auch. Wenn
man sich die volkswirtschaftlichen Aspekte anguckt, erreichen wir damit natürlich auch eine Hebelwirkung, wie
es bei der Städtebauförderung der Fall ist.
Zu den Kosten: Uns ist auch klar - ich sitze im Haushaltsausschuss -, 7,6 Milliarden Euro wird man angesichts der Haushaltsrahmenbedingungen nicht berappen
können. Für eine Verlängerung der Altschuldenhilfe
steht in Rede, dass sie bis 2016 zu neuen Kosten von
600 Millionen Euro führt. Das bedeutet, dass alle Rückbaumaßnahmen mit Altschuldenhilfe erfolgen und dass
es innerhalb von fünf Jahren möglich ist, dieses Volumen von 200 000 bis 250 000 Wohneinheiten zurückzubauen. Das halte ich für nicht mehr realistisch, auch angesichts der momentanen Rückbauzahlen. Es wird also
ein wesentlich längerer Zeitraum in Anspruch genommen werden müssen. Entsprechend ist dann auch die Belastung durch die Gewährung einer Altschuldenhilfe geringer. 79 Millionen Euro stehen in diesem Haushaltsjahr für die Altenschuldenhilfe bereit. Wenn man davon
ausgeht, dass man den weiteren Rückbau über einen längeren Zeitraum als bis 2016 strecken muss, dann wird
deutlich, dass keine neuen Haushaltsbelastungen existieren, sondern dass man sozusagen das Niveau der bisher
gezahlten Altschuldenhilfe in dieser Höhe wird fortschreiben können.
Im Koalitionsvertrag - das ist schon zitiert worden wird klar gesagt: Der Erfolg des Stadtumbaus Ost soll
nicht durch die ungelöste Altschuldenproblematik gefährdet werden. Aber genau das droht unserer Ansicht
nach. Ich frage mich, wozu wir ein Gutachten machen
lassen, wenn die darin formulierten Empfehlungen nicht
aufgegriffen werden. Ich habe auch kein Verständnis,
wenn Lösungen auf dem Tisch liegen, dass wir das weiter beobachten und noch einmal evaluieren. Das ist nicht
die Schlussfolgerung, die man aus dem Gutachten ziehen kann. Zudem brauchen die Unternehmen langfristige Planungssicherheit. Sie ist unter der Bedingung der
ungeklärten Frage, wie es mit der Altschuldenhilfe weitergeht, nicht gegeben.
Die Ostministerpräsidenten haben sich klar geäußert.
Sie treten für die Fortführung der Altschuldenhilfe ein,
also für eine Anschlussregelung. Das können wir heute
beschließen, meine Damen und Herren, denn dazu liegt
ein Antrag von uns vor. Ich freue mich, wenn Sie diesem
Antrag zustimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unstritPeter Götz
tig: Zahlreiche Städte und Gemeinden sind von einem
nachwirkenden demografischen und wirtschaftlichen
Strukturwandel betroffen. Das gilt vor allem im Osten
unseres Landes.
Mit dem 2002 aufgelegten Programm „Stadtumbau
Ost“ konnte viel zur Stabilisierung, Rückgewinnung und
Sicherung des Lebensumfeldes der Menschen erreicht
werden. Die Altschuldenhilfe war dabei eine wichtige
Unterstützung. Sie gab den begünstigten Wohnungsunternehmen - ich betone, den begünstigten Wohnungsunternehmen - einen sehr positiven Schub. Die Entlastung
von Altschulden hat maßgeblich dazu beigetragen, dass
die ostdeutschen Wohnungsgenossenschaften sowie die
kommunalen Wohnungsgesellschaften heute erheblich
besser dastehen als jemals zuvor in ihrer Geschichte.
Viele von uns erinnern sich noch: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende des Sozialismus in der DDR vor 20 Jahren lagen die Altschulden
bei über 30 Milliarden Euro.
({0})
Davon hat der Steuerzahler bis heute mehr als die Hälfte
übernommen. Ich meine, diese großartige Solidarleistung der steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft sollten wir zunächst einmal dankbar anerkennen.
({1})
Diesen Dank an den deutschen Steuerzahler verbinde
ich auch gerne mit einem Dank an die vielen deutschen
Wohnungs- und Immobilienunternehmen, die durch ihr
Engagement die Wohnqualität in den Städten und Gemeinden maßgeblich aufgewertet haben. Kombiniert mit
Fördermitteln vor allem aus dem Programm „Stadtumbau Ost“ wurde in vielen ostdeutschen Kommunen die
Innenentwicklung zu einem echten Erfolgsmodell. So
hat dieses Programm circa 400 Städten und Gemeinden
bei der Bewältigung des Strukturwandels sehr geholfen.
Mein Kollege Vogel, aber auch meine Kollegin Müller
haben darauf hingewiesen.
Nur noch einmal zur Erinnerung, Frau Kollegin
Bluhm: In der Vergangenheit wurden die Fördermittel
für die Altschuldenhilfe mehrmals - ich betone: mehrmals - auf über 1,1 Milliarden Euro aufgestockt, und
bislang sind, was vorhin auch gesagt worden ist, die Gelder überhaupt nicht in diesem Umfang abgerufen.
Es ist richtig, dass wir in nächster Zeit einige Fragen
beantworten müssen. Die erste Frage lautet: Gibt es nach
dem Auslaufen der Befristung ab 2013 - nur zur Erinnerung: Wir befinden uns im Jahr 2011 - einen Anschluss?
Die zweite Frage ist: Wie sieht dieser Anschluss gegebenenfalls aus?
Herr Kollege Hacker, zu Ihrer Beruhigung: Sie können davon ausgehen, dass wir eine gute Lösung finden
werden.
({2})
Das wiederholt zitierte empirica-Gutachten kam übrigens zu dem Ergebnis, dass eine Fortführung der Altschuldenentlastung für den Erfolg des Programms „Stadtumbau Ost“ nicht zwingend erforderlich ist. Für uns in
der Union geht es in Zukunft primär um städtebauliche
Kriterien und weniger um Kriterien für Unternehmen;
denn sonst müssten wir zu Recht auch der Frage nachgehen, was mit den vielen privaten Eigentümern geschieht,
die keine Altschuldenentlastung erhalten haben.
Nach dem Ergebnis des empirica-Gutachtens hat sich
die Ertragslage ostdeutscher Wohnungsunternehmen
- auch das ist unstrittig - wesentlich und kontinuierlich
verbessert. Deshalb ist es nur konsequent, wie dort vorgeschlagen wurde, den Schwerpunkt auf die Sanierung
der Altbauten in den Innenstädten zu legen. Dies kommt
unseren Zielen - Herr Kollege Hacker, Sie hatten vorhin
dieses Thema angesprochen -, die wir uns in diesen Tagen im Zusammenhang mit der energetischen Stadtsanierung gesteckt haben, weit entgegen.
Wir wollen und sollten unsere Förderkulisse bei den
Städtebauförderprogrammen neu definieren. Deshalb
wollen wir erreichen, dass wir die Städtebauförderung
im kommenden Jahr auf dem diesjährigen Niveau von
455 Millionen Euro verstetigen. Wichtig ist dabei, dass
der eindeutige Schwerpunkt auf die Innenentwicklung
unserer Städte und Gemeinden gelegt wird. Wir, das
heißt Bund, Länder und Gemeinden, müssen in gemeinsamer Anstrengung gute Rahmenbedingungen für urbanes Leben in den Orts- und Stadtteilzentren setzen und
die Städte und Gemeinden dabei nach Kräften unterstützen.
Neben den zunehmend wichtiger werdenden Themen
der energetischen Sanierung dürfen wir auch die Baukultur nicht aus den Augen verlieren.
Vor diesem Hintergrund müssen wir uns unsere vielen
Programme genau anschauen und prüfen, wie wir insgesamt die Effizienz steigern können. Der Stadtumbau
wird dabei auch in Zukunft eine ganz wichtige, entscheidende Rolle spielen, und zwar - das sage ich bewusst im Osten, aber auch im Westen unseres Landes.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 30
unserer Geschäftsordnung erhält Kollegin Heidrun Bluhm.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Döring hat während meiner Rede mit seinem Zwischenruf zumindest suggeriert, dass ich persönliche wirtschaftliche Interessen haben könnte, mich für die Streichung der Altschulden einzusetzen.
({0})
Ich erkläre hiermit, dass ich bisher weder ein Wohnungsunternehmen der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
geleitet habe noch eins gekauft habe.
Ich erkläre hiermit, dass ich von Altschulden selbst
nirgendwo belastet bin und dass ich nur und ausschließlich parteipolitisch, meinem Fachgebiet entsprechend,
mit meiner Sachkompetenz für die ostdeutschen Bundesländer hier für meine Fraktion gesprochen habe.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5000.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1154 mit dem Titel
„Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in
den neuen Ländern“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-
men.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1148 mit dem Ti-
tel „Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunterneh-
men streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunter-
nehmen neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5124,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4698 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften
- Drucksachen 17/4984, 17/5392 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/5953 ({1}) -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Christel Happach-Kasan
Friedrich Ostendorff
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen
- Drucksachen 17/5377, 17/5953 ({3}) Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Christel Happach-Kasan
Friedrich Ostendorff
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittelsicherheit ist ein hohes Gut. Die christlich-liberale
Koalition hat bewiesen: Wir handeln schnell und entschlossen, wenn es darum geht, Sicherheitslücken zu
schließen.
Zum Jahreswechsel 2010/11 wurden durch kriminelle
Machenschaften Futtermittel mit Dioxin verunreinigt.
Der Dioxinskandal hat eine große mediale Welle verursacht und die Verbraucher verunsichert. Wie wir heute
alle wissen, bestand glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt eine gesundheitliche Gefahr für die Menschen.
Die Behörden haben länderübergreifend schnell, konsequent und umsichtig reagiert.
Bereits im Januar hat sich Frau Bundesministerin Ilse
Aigner mit den Ländern auf den „Aktionsplan Verbraucherschutz in der Futtermittelkette“ verständigt und wichtige Anstrengungen zum Thema auf EU-Ebene initiiert.
Die Bundesregierung hat im März eine Rechtsverordnung
auf den Weg gebracht, die die Futtermittelkontrolle ausweitet, eine Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe
einführt und eine Trennung der Produktionsströme für
technische und nichttechnische Fette vorschreibt.
Heute beraten und entscheiden wir über Änderungen
im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch mit dem
Ziel, weitere wichtige Punkte des Aktionsplans umzusetzen. Gleichwohl möchte ich schon anmerken, dass kriminelle Energie auch damit nicht gänzlich verhindert,
aber durch das Engerziehen des Netzes deutlich eingedämmt werden kann.
({0})
Hier die wichtigsten Inhalte, verbunden mit dem
Dank an Frau Aigner und das BMELV für die rasche
Ausarbeitung dieses Gesetzentwurfs:
Künftig müssen Lebensmittel- und Futtermittelhersteller sowie Laboratorien gesundheitsbedenkliche Stoffe,
die sie in untersuchten Lebens- oder Futtermitteln festgestellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Die
Meldepflicht besteht unter anderem für Dioxine und Furane. Dioxinprobleme können durch dieses Monitoring
somit früher als bisher erkannt und Gegenmaßnahmen
können schneller eingeleitet werden. Eigenkontrollen
haben sich allgemein in der Wirtschaft etabliert und bewährt.
Ich möchte darauf hinweisen, dass auch dieser Dioxinskandal durch die Eigenkontrolle eines Unternehmens aufgedeckt wurde. Wichtig ist dabei allerdings
schon, dass die Unternehmen aufgrund der Kontrollergebnisse nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden.
Vorschnell veröffentlichte Eigenkontrollergebnisse, die
sich häufig auf Vorprodukte beziehen, würden zu einer
erheblichen Verwirrung führen.
Die Sanktionsmöglichkeiten des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzes werden deutlich ausgeweitet. Dies
wird durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen erreicht: Der Bußgeldrahmen wird verdoppelt.
Vorsätzliche Verstöße werden als Straftat geahndet, und
schwere Verstöße werden künftig sogar mit bis zu zwei
Jahren Freiheitsstrafe belegt. Und dies ist gut so.
({1})
Ich möchte in Erinnerung rufen: Der Dioxinskandal
führte bei Verbrauchern verständlicherweise zu starker
Verunsicherung und Kaufzurückhaltung. Der damit einhergehende Preisverfall war ein schwerer Schlag für die
Unternehmen der gesamten Land- und Ernährungswirtschaft. Besonders betroffen waren landwirtschaftliche
Familienbetriebe. Zeitweilig waren fast 5 000 Höfe gesperrt. So etwas darf sich auf keinen Fall wiederholen.
Die Opposition sollte solche Vorfälle bitte nicht dazu
missbrauchen, die herkömmliche Landwirtschaft infrage
zu stellen und eine ökologische Agrarwende herbeizureden.
({2})
Wir alle wissen genau: Das eine hat mit dem anderen
überhaupt nichts zu tun.
Die wichtigsten Botschaften an unsere Verbraucher
müssen jetzt lauten: Unsere Landwirtschaft ist in der gebotenen Vielfalt unverzichtbar, um die Verbraucher mit
bezahlbaren Lebensmitteln zu versorgen. Deutsche Lebensmittel sind weltweit mit die sichersten; die Kontrollen sind dicht und streng. Absolute Sicherheit vor kriminellen Machenschaften gibt es nicht. Kaufen Sie bewusst
ein. Stärken Sie zum Beispiel mit einem gezielten Griff
ins Lebensmittelregal die heimische Produktion.
Eine abschließende Bitte an die Opposition. Gefährden Sie durch überzogene Forderungen nicht die Nahrungsmittelproduktion in deutschen Landen. Dies kann
zu empfindlichen Fehlentwicklungen und zu Produktionsverlagerungen führen, wie wir das im Bereich der
Hühnerhaltung erlebt haben.
({3})
Sonst sind am Ende die Verbraucher, die wir alle doch
schützen wollen, die Verlierer.
({4})
Die Koalition lässt es nicht zu, dass schwarze Schafe
das Ansehen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft schädigen. Es geht auch um den Erhalt der Betriebe und um die dazugehörigen Arbeitsplätze. Darüber
hinaus schützen wir die Gesundheit der Verbraucher und
stärken ihr Vertrauen in deutsche Lebensmittel. Ich bitte
Sie: Stimmen Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befassen uns
heute abschließend in zweiter und dritter Beratung mit
der Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches. Es gibt zwei Punkte aus dem 14-Punkte-Plan, die
die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern vor
vier Monaten im Zuge des Dioxinskandals vereinbart
hat. Ich möchte betonen: vor vier Monaten. Es wurde
nämlich behauptet, man sei fix gewesen. Zur Verdeutlichung: Es ist bereits vier Monate her.
({0})
Mit der Gesetzesänderung wird die Meldepflicht für
private Labore festgeschrieben. Künftig müssen sie bedenkliche Mengen an gesundheitsgefährdenden und daher nicht erwünschten Stoffen, die sie in untersuchten
Lebens- und Futtermitteln feststellen, an die zuständigen
Behörden melden. Ferner werden die Lebens- und Futtermittelunternehmen verpflichtet, den zuständigen Behörden ebenfalls Ergebnisse der Eigenkontrollen mitzuteilen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Gesetzesinitiative
ausdrücklich, weil sie Teil des schon Anfang des Jahres
von uns vorgelegten Aktionsplanes gewesen ist, den die
Bundesregierung in weiten Teilen übernommen hat.
({1})
Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunternehmen, Ergebnisse der Eigenkontrollen an die zuständigen Behörden zu melden, ist ein Fortschritt. Allerdings
sind noch weitere strenge Kontrollen von Futterfetten
vorzuschreiben, und die Hersteller müssen verpflichtet
werden, jede Charge beproben zu lassen.
({2})
Die Futtermittelfette sind als Haupteingangsquelle der
fettlöslichen Dioxine besonders sensibel; sie sind deshalb
schärfer zu überwachen. Auch muss eine offene und vollständige Deklaration aller Futtermittelinhaltsstoffe umgesetzt werden, und es muss dafür gesorgt werden, dass
nur sichere Bestandteile in die Futtermittelkette gelangen
können.
Mit der Meldepflicht für die privaten Labore werden
diese ganz besonders in die Informationskette des aufzubauenden Frühwarnsystems einbezogen; ihnen wird eine
neue Beteiligungsrolle zugeschrieben. Die Meldepflicht
bedeutet auch eine neue Herausforderung hinsichtlich
der Gestaltung der Aufträge der Unternehmen an die Labore; denn bisher waren die Labore oft nicht unterrichtet, was mit den Stoffen, die sie zur Beprobung bekommen hatten, tatsächlich passieren sollte. Das wird sich
künftig, wenn die Labore in die Mitteilungskette einbezogen werden, deutlich ändern müssen. Auch war bisher
die Beurteilung der Ergebnisse nicht Teil des Laborauftrages. Vielmehr ging es ausschließlich um die Mitteilung der Untersuchungsergebnisse.
Die notwendige Rechtsverordnung, die jetzt dieses
Gesetz untermauern soll, ist besonders wichtig. Wir erwarten deswegen eine Vorlage dieser Rechtsverordnung
noch vor der Sommerpause; denn die Labore sind verunsichert.
({3})
- Genau, vor der Sommerpause 2011; davon gehe ich
aus. - Die Labore wissen in der Regel nicht, wie sie das
Gesetz umzusetzen haben. Die Bundesregierung bleibt
die Vorlage schuldig.
Eines ist klar und wichtig: Dieses Gesetz beschreibt
nur einen kleinen Ausschnitt aus dem 14-Punkte-Plan.
Mit den ergriffenen Maßnahmen, die hier heute zur Beschlussfassung stehen, wird keine bessere Information
der Verbraucherinnen und Verbraucher verwirklicht. Die
Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit wird nicht deutlich erhöht. Der Verwaltungsvollzug wird nicht effizienter. Der Informationsfluss zwischen Gemeinden, Ländern und Bund wird nicht effektiv und wirksam
verstärkt. Dazu sind weitere Maßnahmen erforderlich,
auf deren Vorlage wir noch warten.
Die Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes muss endlich erfolgen. In der Novelle muss geregelt
werden, dass sämtliche Untersuchungsergebnisse der betrieblichen Eigenkontrollen sowie die staatlichen Untersuchungsergebnisse in aufgearbeiteter Form in einer Datenbank veröffentlicht werden.
({4})
Um die aktive Information der Verbraucherinnen und
Verbraucher über Grenzwertüberschreitungen zu gewährleisten, müssen die Behörden verpflichtet werden,
Untersuchungsergebnisse von sich aus zu veröffentlichen. Hierzu ist § 40 LFGB in das Verbraucherinformationsgesetz zu integrieren und die Sollvorschrift in
§ 40 LFGB in eine Istvorschrift umzuwandeln. Die Abwägungsklausel ist zu streichen. Auf einer Internetseite
sind Ross und Reiter sehr deutlich zu benennen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung ist auch noch die Vorlage einer Positivliste schuldig. Diese soll auf europäischer Ebene verbindlich festgelegt werden; das ist richtig. Aber wir unterstützen
ganz ausdrücklich die Forderung, die die Bundesländer
der Bundesregierung gestellt haben: Wenn wir auf der
europäischen Ebene zu keiner Lösung kommen, dann
muss es eine nationale Lösung für die Positivliste geben.
Wir unterstützen die Bundesländer auch darin, zu sagen:
Wenn eine Umsetzung in Europa bis Sommer 2011 nicht
möglich ist, dann erwarten wir eine nationale Regelung
und bitten die Bundesregierung, diese hier vorzulegen.
Eine besondere Herausforderung besteht auch und gerade bei der Schaffung von Haftungsregelungen. Die
Landwirte, die letztendlich die Opfer und Leidtragenden
des Dioxinskandals waren, sind beträchtlich zu Schaden
gekommen; dieser Schaden ist bisher nicht abgegolten.
Deshalb brauchen wir hier schnellstmöglich und dringend Vorschläge, wie eine Haftungsregelung in Zukunft
aussehen kann.
({6})
Es ist vernünftig, wenn die Bundesregierung jetzt
sagt: Wir wollen uns mithilfe einer Studie weiter beraten
lassen. Ich warne aber davor, hier zu viel Zeit ins Land
gehen zu lassen. Bisher hat es nicht einmal eine Vergabe
gegeben. Wir können uns aber vorstellen, dass ein neuer
Skandal kommt, vielleicht auch in geringerer Dimension. Dann hätten wir jedoch nichts auf den Weg gebracht. Insofern gehen wir davon aus, dass der Bundesregierung die richtige Zeitschiene sehr wohl bekannt ist:
Es muss zügig gehandelt werden.
({7})
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auch auf, die Umstände des Dioxinskandals zum
Anlass zu nehmen, einen Gesetzentwurf zur Regelung
des Informantenschutzes vorzulegen. Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, die die zuständigen Behörden über
Missstände im eigenen Betrieb informieren, müssen gesetzlich vor Benachteiligungen geschützt werden. Bereits in der öffentlichen Anhörung des Verbraucherausschusses am 4. Juni 2008 ist die Notwendigkeit einer
solchen gesetzlichen Regelung deutlich geworden.
Wir brauchen eine gläserne Produktion und eine funktionierende Verbraucherinformation. Leider schützt die
Koalition die Futtermittelpanscher und nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({8})
Sie schlägt nämlich vor, dass die Öffentlichkeit von
Grenzwertüberschreitungen nichts erfährt, solange die
so produzierten Erzeugnisse nicht in den Verkehr gelangen. Wir wollen das nicht.
({9})
Deshalb schlagen wir in unserem Entschließungsantrag
eine Veröffentlichungspflicht vor. Aus unserer Sicht
sieht so eine vernünftige Verbraucherpolitik aus. Wir bitten daher um Unterstützung unseres Entschließungsantrags.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Verabschiedung des heute vorliegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs kommen wir einen ganz bedeutenden Schritt weiter bei der Umsetzung des 14-PunktePlans, den die Bundesregierung und die Länder gemeinsam beschlossen haben: unbedenkliche Futtermittel,
sichere Lebensmittel und Transparenz für den Verbraucher. Die überwiegende Zustimmung, jetzt auch vonseiten der SPD, bestätigt, dass wir damit auf dem richtigen
Weg sind. Das ist, glaube ich, gut.
Zum Jahreswechsel ist entdeckt worden, dass ein Betrieb Futterfette, die den zulässigen Höchstgehalt an
Dioxin überschritten hatten, an 25 Futtermittelwerke
weiterverkauft hat. Es muss herausgestellt werden: Dieser Betrieb hat kriminell gehandelt.
({0})
Das ist das Problem, mit dem wir es im Augenblick zu
tun haben. Wir haben es nicht mit einem Skandal, sondern mit dem kriminellen Handeln eines Betriebes zu
tun. In der Folge sind knapp 5 000 landwirtschaftliche
Betriebe gesperrt worden. Wir müssen sehen, dass diese
Betriebe wirtschaftliche Folgen zu tragen hatten. Es kam
zu einem Preisverfall bei Eiern und Schweinefleisch, der
die wirtschaftliche Situation dieser Betriebe erheblich
belastet hat.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht
festgestellt: Es bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für die
Verbraucherinnen und Verbraucher. Daher, Frau Tack,
geht es an diesem Punkt nicht um Verbraucherschutz.
Die Verbraucher waren nicht gefährdet.
({1})
Es geht vielmehr darum, dass wir es den Betrieben erschweren, kriminell zu handeln, und dass wir die Folgen
kriminellen Handelns eingrenzen.
({2})
Es handelt sich also nicht um einen Skandal. Verbraucherschutz heißt im Übrigen: Wenn eine Gefahr besteht,
dann muss gewarnt werden. Wenn keine Gefahr besteht,
dann sind die Behörden aufgerufen, zu beruhigen.
Auch wenn es keine Gefahr gegeben hat, sind wir uns
alle darüber einig, dass Handeln geboten ist. Futtermittel
sind Lebensmittel für Tiere. Abfallentsorgung durch den
Tiermagen wollen wir nicht. Aber wir wissen auch: Kein
Gesetz schützt vor kriminellem Handeln. Kriminelles
Handeln muss erschwert werden; deswegen dieser Gesetzentwurf. Wir müssen verantwortlich arbeitende Betriebe schützen. Das erreichen wir mit einer Meldepflicht für Labore, die jetzt eingeführt werden soll. Wir
erhalten ein Dioxin-Monitoring, das uns in Zukunft besser in die Lage versetzt, zu beurteilen, in welchen Regionen es Probleme gibt und in welchen nicht.
Dioxine sind langlebige Umweltgifte. Ihr Entstehen
kann nicht vollständig verhindert werden. Aber wir können feststellen, dass seit 1990 der Dioxingehalt in unseren Lebensmitteln gesenkt worden ist und heute nur
noch ein Drittel des damaligen Wertes beträgt.
({3})
Mein Kollege hat zu Recht herausgestellt, dass das
Fehlverhalten dieses Betriebes nur wegen der Eigenkontrollen eines Futtermittelwerkes entdeckt worden ist.
Deswegen muss unsere Konsequenz lauten, dass wir die
Eigenkontrollen stärken.
({4})
Der Weg, den die SPD uns vorschlägt - Betriebe an den
Pranger stellen und Denunziantentum fördern -, ist genau der falsche Weg. Das dürfen wir nicht tun. Damit bekommen wir keine Eigenverantwortung. Ich wiederhole:
Was Sie von der SPD vorschlagen, ist genau der falsche
Weg.
({5})
Wir wissen, dass die Produzenten die Verantwortung
für ihre Produkte tragen. Diese Verantwortung kann ihnen niemand abnehmen. Wir wissen auch, dass Lebensmittelkontrollen das Ziel haben, Fehlverhalten aufzudecken und das Eigeninteresse der Unternehmen an der
Qualität ihrer Produkte zu stärken.
Anfang dieses Jahres hat man versucht, moderne
Landwirtschaft mit dem kriminellen Fehlverhalten eines
Betriebes in Schleswig-Holstein in Verbindung zu brin12748
gen. Dieser Versuch ist fehlgeschlagen; er war schlicht
und ergreifend falsch. Betroffen waren vor allem kleine
Betriebe, die das Futter für ihre Tiere selbst gemischt haben. Moderne Landwirtschaft schont die Natur, vermeidet Arbeitsunfälle - ein, wie ich meine, ganz wichtiges
Thema - und produziert qualitativ hochwertige Lebensmittel.
Zum Schluss möchte ich noch einmal sagen: Bei dem
Dioxinvorfall sprechen wir von einer kriminellen Handlung, die dazu geführt hat, dass eine Reihe landwirtschaftlicher Betriebe existenziell gefährdet wurde. Die
Verbraucherinnen und Verbraucher befanden sich zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Gefahr.
Gleichzeitig wird landauf, landab über die Belastung
von Gemüse mit EHEC-Bakterien diskutiert. Hier handelt es sich um eine reale Gefahr. Inzwischen gibt es
über 500 Erkrankungen und möglicherweise einige Todesfälle. Dieses Syndrom gefährdet die Menschen und
kann langfristige Gesundheitsschäden zur Folge haben.
Als Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz müssen wir uns davon freimachen,
jeglichen sogenannten Skandalen hinterherzulaufen.
Stattdessen müssen wir die Menschen vor den realen
Gefahren schützen. Reale Gefahren im Lebensmittelbereich, liebe Kolleginnen von der SPD-Fraktion, sind insbesondere Hygienemängel sowie Belastungen von Lebensmitteln mit Bakterien. Gegen diese Gefahren hilft
nur das Einhalten von Hygienevorschriften. Die Lebensmittelhygiene gilt für den Bereich der Produktion, betrifft aber auch jeden einzelnen Haushalt.
Ich bitte Sie herzlich: Schützen Sie die Menschen vor
den realen Gefahren und diskutieren Sie nicht die vermeintlichen Gefahren. Das nimmt den Menschen Lebensqualität und Vertrauen. An dieser Stelle will ich
ganz deutlich die Vorwürfe vonseiten der SPD und der
CDU/CSU gegenüber dem Robert-Koch-Institut zurückweisen. Wir brauchen Fachbehörden, die fachlich arbeiten und ihr fachliches Wissen der Öffentlichkeit mitteilen. Das hat das Robert-Koch-Institut zu Recht getan.
Ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit, wenn Sie
weiterhin Lebensmittel aus deutscher Produktion genießen; denn sie sind ausgesprochen gut.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Karin Binder für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherheit unserer Lebensmittel ist keine Geheimsache. Mögliche Schadstoffbelastungen sind keine Betriebsgeheimnisse.
({0})
Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht,
zu erfahren, was in ihrem Essen ist und wie die Lebensmittel erzeugt wurden. Nur ein offener Umgang mit Informationen über den Herstellungsprozess und die Bestandteile unserer Lebensmittel sorgt letztendlich für
einen sauberen Teller. Das ist für mich die zentrale Lehre
aus dem Dioxinskandal Anfang dieses Jahres.
Zur Verbesserung der Sicherheit unserer Lebensmittel
hatten sich Bund und Länder auf einen 14-Punkte-Plan
verständigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf geht
zwar in die richtige Richtung, aber leider nur einen winzig kleinen Schritt. Die Koalition greift in ihrem Gesetzentwurf lediglich 2 von 14 Punkten dieses Plans auf und
setzt damit nur einen Bruchteil der erforderlichen Maßnahmen um.
Die Linke hatte schon frühzeitig einen umfassenden
Antrag zur Bewältigung des Dioxinskandals vorgelegt.
Zur Vorsorge und Vermeidung ähnlich gelagerter Fälle
müssen wir die richtigen Lehren aus dieser böswilligen
Panscherei ziehen. Es gilt, die Ursachen zu bekämpfen,
statt an den Symptomen herumzudoktern.
({1})
Herr Kollege Gehring, die Eigenkontrolle hat sich bewährt. Ich frage Sie nur, wie? Ein anderer Betrieb hat darauf aufmerksam gemacht, dass etwas falsch läuft. Das
hat nicht die Eigenkontrolle bewirkt. Die Eigenkontrollen müssen klaren Regelungen unterworfen werden. Vor
allem müssen die Daten gemeldet werden, damit sofort
reagiert werden kann. Wir brauchen die Verpflichtung
der Labore.
({2})
Es braucht eine verbindliche Verpflichtung. Es braucht
dazu auch ein Register und eine Akkreditierung dieser
Labore.
({3})
Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Betriebe aus
dem Staub machen, indem sie ausländische Labore beauftragen, die unseren Gesetzen nicht unterworfen sind.
({4})
- Das steht nicht in Ihrem Gesetzentwurf.
({5})
Ich will auf drei Punkte näher eingehen.
Erstens. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die
unter der Koalition von SPD und Grünen eingeleitete
Reduzierung staatlicher Kontrollen und der vermeintliche Ersatz durch Eigenkontrollen der Betriebe nach deren Regeln funktioniert nicht. Dieses Experiment hat das
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher gekostet. Die Linke möchte deshalb eine betriebliche Zertifizierung nach strengen gesetzlichen Vorgaben. Diese
müssen für die gesamte Erzeugungskette, vom Stall bis
zur Ladentheke, gelten.
({6})
Die daraus entstehenden Kosten sind auf die beteiligten
Branchen umzulegen.
({7})
Zweitens: Meldepflichten für die Labore ohne Hintertürchen. Im Gesetzentwurf der Regierung wird eine Meldepflicht für die Überschreitung von Grenzwerten oder
unerlaubten Zusatzstoffen auf die privaten Labore beschränkt. Wir möchten eine Ausweitung der Meldepflicht auch auf private Zertifizierungssysteme, zum
Beispiel auf QS, das Prüfsystem Qualitätssicherung.
({8})
Register und Ähnliches habe ich schon angesprochen.
Aber auch die Frage, wie die Unternehmen und Labore überwacht werden sollen, wurde uns bisher nicht
beantwortet. Die Kontrollbehörden der Länder sind
schon heute überfordert. Einige Bundesländer befinden
sich bereits in einer Haushaltsnotlage und werden weiter
zu Einsparungsmaßnahmen gezwungen. In einem internationalen Futtermittelmarkt und einer globalisierten Lebensmittelindustrie ist deshalb eine finanzielle Beteiligung des Bundes an diesen zusätzlichen Aufgaben der
Länder unerlässlich.
Drittens. Wissen ist Verbrauchermacht. Die wichtigste Frage bleibt: Wie erfahren Verbraucherinnen und
Verbraucher von Schadstoffbelastungen bei Lebensmitteln? Die richtige Antwort könnte das Verbraucherinformationsgesetz liefern. Hier sollte eine Pflicht zur Veröffentlichung durch die verursachenden Unternehmen,
aber auch eine aktive Informationspflicht der damit befassten Behörden verankert werden. Nur dann können
wir wirklich von Verbraucherschutz reden. Aber nach allen bisherigen Anzeichen ist leider zu vermuten, dass
Frau Aigner ihrem Ruf treu bleibt und über Ankündigungen nicht hinausgeht.
Wir sagen nach wie vor: Den Behörden gemeldete
Daten und Ergebnisse der Laboruntersuchungen der Betriebe sind keine Betriebsgeheimnisse, sondern wichtige
Verbraucherinformationen. Das muss Bestandteil des
Verbraucherinformationsgesetzes werden. Nur so wird
Verbraucherschutz verbessert.
Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 14 Punkte
umfasst der Dioxinaktionsplan, der nach dem Dioxinskandal im Januar dieses Jahres zwischen den Bundesländern und Ministerin Aigner vereinbart wurde.
Drei Punkte wollen Sie jetzt, nach vier Monaten, endlich
umsetzen. Viele andere Punkte, darunter so zentrale
Ziele wie die verbindliche staatliche Positivliste für Futtermittel, die Transparenz für Verbraucher und die Produkthaftung, werden weiterhin nicht umgesetzt.
Zur Positivliste für Futtermittel erklärte Frau Aigner
gestern, man sehe in Deutschland die etablierte Positivliste der Wirtschaft als sinnvolles und vertrauensbildendes Instrument an und setze sich ansonsten für eine EUweite Liste ein. Da Frau Aigner mit der Positivliste, wie
wir alle wissen, in Brüssel gescheitert ist, bedeutet das
doch, dass es keine verbindliche Positivliste geben wird,
stattdessen die unverbindliche und ungenügende Liste
der Wirtschaft. Damit sind Sie an diesem entscheidenden
Punkt gescheitert.
Die Transparenz für Verbraucher verschieben Sie auf
die Novelle zum Verbraucherinformationsgesetz, die Sie
schon zigmal verschoben haben, weil Sie sich in der Koalition nicht einigen. Würden Sie es mit der Information
der Verbraucher ernst meinen, müssten Sie heute unserem Änderungsantrag zustimmen.
({0})
Durch die Schaffung eines neuen § 40 Abs. 1 a im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch schlagen wir
Grünen eine gesetzliche Grundlage vor, um nachgewiesene Rechtsverstöße unter Nennung des Namens des jeweiligen Unternehmens veröffentlichen zu können.
({1})
Das ist genau das, was Sie von der Koalition gestern im
Ausschuss für den Gastronomiebereich vorgeschlagen
haben.
({2})
Meine Damen und Herren, was gilt bei Ihnen mehr:
das Wort der Ministerin, die am 19. Januar dieses Jahres
an diesem Pult sagte: „Wir sind zu Transparenz verpflichtet“, oder das Wort von Frau Happach-Kasan von
der FDP, die gestern im Agrarausschuss sagte: „Wir machen nichts, was nicht im Interesse der Unternehmen
ist“?
({3})
Ihr Problem ist: Sie machen keine Politik für die Verbraucher und keine Politik für die Bäuerinnen und die
Bauern, sondern nur Politik für die Industrie.
Ich möchte aus AGRA-EUROPE vom 9. Mai dieses
Jahres zitieren:
Der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbandes …,
Manfred Nüssel, baut bei den Neuerungen im Futtermittelrecht nach der überstandenen Dioxin-Krise
auf den Einfluss führender Agrarpolitiker der CDU.
Vor Agrarjournalisten in Berlin nannte Nüssel dabei
vergangene Woche konkret den agrarpolitischen
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, FranzJosef Holzenkamp,
({4})
den Abgeordneten Johannes Röring sowie den
Staatssekretär … Peter Bleser.
({5})
Nicht zuletzt bei ihnen hofft er auf ein offenes Ohr
für die Belange der Branche.
Natürlich, Herr Nüssel, haben diese Herren ein offenes
Ohr für die Branche. Schließlich sind sie in vielfältiger
und einzigartiger Weise Teil dieser Branche.
Das Problem von Frau Aigner ist, dass sie von Agrarfunktionären eingekesselt ist, die jeden positiven Ansatz
blockieren, egal ob beim Verbot der Käfighaltung von
Hühnern, beim Verbot des Schenkelbrandes bei Pferden,
bei der Kampagne „Wahrheit und Klarheit“, bei der
Charta für Landwirtschaft oder beim Dioxin-Aktionsplan. Jegliche Initiative der Ministerin wird von den eigenen Leuten geblockt, boykottiert oder verwässert.
Meine Damen und Herren von der Koalition, solange
bei Ihnen Funktionäre der Agrarindustrie das Sagen haben,
({6})
werden Sie keinen einzigen Lebensmittelskandal aufklären, nichts zur Abschaffung der Massentierhaltung zustande bringen, keinen einzigen Missstand in der Landwirtschaft beheben und weiterhin Agrarpolitik für die
Agrarindustrie und nicht für die Bäuerinnen und Bauern
machen.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt hat unsere Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan zu einer Kurzintervention das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident, vielen Dank für die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Lieber Kollege Ostendorff, ist es nicht so, dass wir
gemeinsam festgestellt haben, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher beim diesjährigen Dioxinvorfall
nicht gefährdet waren? Ist es nicht auch so, dass wir gemeinsam festgestellt haben, dass bäuerliche Betriebe, die
das Futter selbst mischen, die also Getreide produzieren
und Futterfette einmischen, um eine gesunde Ernährung
der Tiere zu gewährleisten, durch diesen Vorfall besonders geschädigt worden sind? Sind wir uns nicht einig,
dass es wichtig ist, die gut und sorgfältig arbeitenden
landwirtschaftlichen Betriebe im Lande vor kriminellem
Handeln zu schützen? Ist es nicht richtig, dass der
Schutz genau dieser mittelständischen landwirtschaftlichen Betriebe auch im Interesse einer Politik, die sich
für die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland einsetzt, sein muss?
Ich dachte, wir wären uns in diesen Punkten einig. Ich
bin etwas enttäuscht, Herr Kollege Ostendorff, dass Sie
als Landwirt nicht das Interesse der Landwirte, die ordentlich arbeiten, im Fokus haben, sondern stattdessen
eine Skandalisierung betreiben, wie es auch die Medien
getan haben. Dies hat im Ergebnis dazu geführt, dass
eine Menge landwirtschaftlicher Betriebe durch die Vorfälle in Schleswig-Holstein in ihrer Existenz gefährdet
worden sind.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nun darf ich das Wort
zur Gegenrede erteilen. Bitte schön, Herr Kollege.
Es ist für Mitglieder kleiner Fraktionen, denen nur
eine kurze Redezeit zur Verfügung steht, immer wieder
erfreulich, auf diesem Wege die Gelegenheit zu bekommen, eine zweite Rede zu halten.
({0})
Frau Happach-Kasan, wenn Sie mir bei den vielfältigen Gelegenheiten, bei denen wir über dieses Thema
diskutiert haben, zugehört hätten, dann hätten Sie gehört,
dass ich in jeder Rede, die ich halte, deutlich mache
- das habe ich auch heute getan -, dass ich in genau den
Punkten, die Sie angesprochen haben, anderer Meinung
bin als Sie.
Ich sage: Hier ging es um einen Betrieb in SchleswigHolstein, der Futterfette herstellt und kriminell gehandelt hat. Dieser Betrieb hatte sehr große Futtermühlen
als Abnehmer. Mir als praktizierendem Landwirt ist
nicht bekannt, dass kleine Bauern besonders viel Mischfutter kaufen. Meine These ist, dass kleinbäuerliche Betriebe ihr Getreide in der Regel selbst mahlen und nicht
Kunden von Futtermittelmischwerken sind und nicht in
großem Stile Futtermittel aus Futtermittelmischwerken
beziehen. Ihre Logik erschließt sich mir nicht. Ich
glaube, hier müssen Sie genauer zuhören. Ich bin an diesem Punkt immer sehr entschieden und klar. Ich sage: In
der Realität ist es genau umgekehrt.
Die Verbraucher waren nicht gefährdet. Nein, es ist
zum Glück niemand akut erkrankt. Das behauptet auch
niemand. Es ist mir nicht bekannt, dass es irgendeine
wissenschaftliche Quelle gibt, die besagt: Wenn du deinem Körper Dioxin zuführst, dann wirst du akut krank,
wie das jetzt beim EHEC-Bakterium der Fall ist, wenn
es das HUS auslöst. Mein Wissensstand ist bisher - Frau
Happach-Kasan, Sie sind Wissenschaftlerin; ich bin
Praktiker und habe nie studiert -, dass Dioxin im Fettgewebe angereichert wird. Wenn Sie anderer Meinung
sind, dann wäre es interessant, nach dieser Sitzung zu erfahren, welche Erkenntnisse Sie diesbezüglich gewonnen haben. Mein Erkenntnisstand ist: Es wird im FettgeFriedrich Ostendorff
webe angereichert, und natürlich ist irgendwann eine
Schwelle erreicht, ab der der Mensch akut gefährdet ist.
Wir wollen hier aber nicht skandalisierend reden, wie
Sie das tun.
({1})
Ich glaube, das müssen wir sehr seriös abarbeiten. Es
gilt, diese Einträge von Umweltgiften zu minimieren.
Ich glaube, die Gesellschaft ist in der Vergangenheit
vielleicht etwas leichtfertig mit Stoffen wie Dioxin umgegangen. Ich denke, dass wir allen Bauern und Bäuerinnen, deren Betriebe ohne ihr eigenes Verschulden gesperrt wurden und die ihre Produkte am Markt nicht
absetzen konnten, natürlich allen Schutz geben müssen;
denn sie brauchen unser aller Solidarität. Das ist völlig
unbestritten.
({2})
Das müssen wir endlich anpacken.
Wir hätten erwartet, dass es Vorschläge dafür gibt,
wie solchen Betrieben, die ohne Not in eine wirtschaftliche Existenzgefährdung geraten sind und geächtet werden, weil sie gesperrt sind - das bleibt ja nicht verborgen -,
in Zukunft wirksam geholfen werden kann, sodass sie,
wenn sie Futtermittel am Markt beziehen, sicher sein
können, dass diese Futtermittel sauber sind und die
Branche das Ihrige tut, um die Haftung zu übernehmen,
falls es bei diesen Futtermitteln zu Auffälligkeiten
kommt.
Die Branche, die Sie mit Ihren Vorschlägen fördern
wollen, macht sich einen schlanken Fuß und übernimmt
eben keine Verantwortung. Die betroffenen Bäuerinnen
und Bauern sind völlig alleine mit ihren Nöten, mit ihren
Sorgen und auch mit dem wirtschaftlichen Misserfolg,
der damit natürlich einhergeht.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Ostendorff. Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan, Sie haben das Angebot zum persönlichen Gespräch gehört. Da wir bis kurz
vor Mitternacht fertig werden, besteht sicher noch die
Gelegenheit dazu, bevor wir für morgen zur nächsten
Sitzung einladen.
({0})
Als Nächster hat der Kollege Johannes Röring für die
Fraktion der CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade festgestellt, dass die Verdopplung der Redezeit noch längst
nicht zur Verdopplung der Erkenntnisse führt.
({0})
Im Januar dieses Jahres mussten wir alle im Rahmen
der Dioxinkrise miterleben, dass das Fehlverhalten eines
Einzelnen bundesweit große Verunsicherung und große
Schäden ausgelöst hat. Die Verbraucherinnen und Verbraucher waren in höchstem Maße verunsichert und
wussten nicht, welche Lebensmittel am Ende noch sicher waren. Die Produzenten dieser Lebensmittel, die
Landwirte, standen völlig unverschuldet am Pranger.
Viele Teilnehmer der Produktionskette waren von den
Folgewirkungen betroffen.
Auch wenn das Thema Dioxin mittlerweile weitestgehend aus der medialen Berichterstattung verschwunden
ist, haben sowohl die direkt als auch die indirekt betroffenen Landwirte die finanziellen Folgen der Krise hart
gespürt. Nach einer aktuellen Analyse der Dow Jones
News sind die marktbedingten Preisrückgänge durch
diese Krise auf etwa 100 Millionen Euro zu beziffern.
Damit wir eine ähnliche Situation nicht wieder erleben
müssen, haben wir schnell gehandelt.
({1})
An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal ein klares Wort zur Medienberichterstattung, aber auch zum
Verhalten der Opposition sagen. Wie hier in teils unverantwortlicher Weise Ängste geschürt wurden, war mehr
als unanständig und nicht angebracht.
({2})
Es wurde pauschalisiert und verleumdet und sogar die
Landwirtschaft selbst angegriffen. Man hat versucht, aus
Opfern Täter zu machen. Das war ein starker Schlag in
das Gesicht unserer Bäuerinnen und Bauern,
({3})
die sich tagtäglich - das möchte ich an dieser Stelle betonen - mit großer Verantwortung um ihre Tiere kümmern.
Dieses Verhalten möchte ich deutlich verurteilen. Die
Zahl der anwesenden Agrarpolitiker der Opposition
zeigt, wie wichtig Sie unsere Bäuerinnen und Bauern
nehmen: Ihre Reihen sind sehr schwach besetzt.
({4})
Die Fakten zeigen, dass die Behörden der Länder, der
Bund, aber auch die EU schnell und gut zusammengearbeitet haben und das durch die Wirtschaft aufgebaute
System der Transparenz und Rückverfolgbarkeit gegriffen hat. Sie haben den Futtermittelskandal aufgedeckt.
Viele Betriebe haben schon vorher Eigenkontrollen
durchgeführt und machen dies auch heute noch. Der Ursprung und vor allen Dingen die Wege der Futtermittel
sind sehr schnell aufgedeckt worden.
Im Gegensatz zur Opposition haben wir nicht Effekthascherei und Populismus betrieben.
({5})
Wir haben direkt nach Bekanntwerden der Vorfälle gehandelt. Im Zentrum des Aktionsplans steht nämlich,
dass wir die Sicherheitsstandards der Futtermittelkette
weiter erhöhen und die Melde- und Kontrollpflichten
verschärfen wollen. Wir wollen also - das betone ich
ausdrücklich - das bestehende System verbessern und
weiterentwickeln.
({6})
Mit der heute zu beschließenden Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches werden wir
nur wenige Monate nach der Entwicklung des Aktionsplans erste Teile gesetzgeberisch umsetzen. Wir wollen
eine zuverlässige Kontrolle aller Glieder der Lebensmittelproduktionskette. Sowohl die Verbraucher als auch
insbesondere die Beteiligten der Wertschöpfungskette
inklusive der Bäuerinnen und Bauern brauchen auf allen
Ebenen Sicherheit hinsichtlich Qualität und Herkunft der
Produkte.
Herr Kollege Röring, wir haben die Chance zu einer
Zwischenfrage von der linken Seite, den Sozialdemokraten. Würden Sie sie zulassen? Sie müssen das nicht.
Gerne, Kollege Priesmeier.
Bitte schön.
Herr Kollege Röring, stimmen Sie mir zu, dass durch
das Verhalten des damaligen niedersächsischen Staatssekretärs anlässlich des Besuches der Ministerin in Oldenburg und den Erkenntnisstand, den er zu dem damaligen
Zeitpunkt hatte, die Krise, die Sie in wesentlichen Teilen
der Opposition anlasten, in besonderer Weise befördert
worden ist? Wenn Sie mir nicht zustimmen, dann bitte
ich Sie, das zu begründen. - Vielen Dank.
Das war die Zwischenfrage unseres Kollegen
Priesmeier. - Bitte schön, Herr Kollege Röring.
Lieber Kollege Wilhelm Priesmeier, ich stimme dieser Erkenntnis nicht zu; denn wir haben - das habe ich
eben deutlich gemacht - gerade durch die Eigenkontrollen im System sehr schnell die Herkunft dieser Futterchargen nachvollzogen und erkannt. Das wäre vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen.
Dass es in einem System, wie wir es kennen, zu kriminellem Handeln kommt, werden wir auch durch die
schärfsten gesetzlichen Maßnahmen letzten Endes nie
unterbinden können. Deswegen sind wir dabei, es praxisgerecht und vernünftig weiterzuentwickeln.
({0})
Die Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs wird nun konkret. Die Meldepflicht der privaten Laboratorien ist vorgeschrieben. Die Eigenkontrolle
wird verstärkt berücksichtigt. Ein Punkt, der meines Erachtens andiskutiert, aber noch nicht umgesetzt worden
ist, ist die Versicherungspflicht für Futtermittelunternehmer zum Schutz aller Partner in der Kette. Hinsichtlich
der neuen Vorgaben zur Eigenkontrolle möchte ich gerne
auf die öffentliche Anhörung Bezug nehmen, die wir zu
diesem Thema durchgeführt haben. Dort haben uns viele
Experten bestätigt, dass bereits heute ein hohes Maß an
verantwortungsbewusster Eigenkontrolle durch die Unternehmen vorhanden ist. Wir fügen deshalb der Kontrollkette nur eine sinnvolle Informationspflicht hinzu,
die bedeutet, dass alle Lebensmittel- und Futtermittelhersteller Ergebnisse von Eigenkontrollen zu Dioxinen
den zuständigen Behörden mitteilen müssen. Weitere,
darüber hinausgehende Mitteilungsverpflichtungen der
Unternehmen lehnen wir deutlich ab, da wir Vorverurteilungen verhindern wollen, um nicht unnötigerweise
Unternehmensexistenzen und - damit einhergehend Arbeitsplätze zu gefährden.
({1})
Wer das noch nicht richtig verinnerlicht und verstanden hat, der muss sich nur die Ereignisse dieser Tage anschauen. Wer gestern Abend und heute Morgen die Meldungen zu der Frage, woher das gefährliche Bakterium
kommt, verfolgt hat, der hat mitbekommen, was verfrühte Meldungen und Vorverurteilungen bewirken können. Das hat Konsequenzen für den Handel. Unschuldige Gemüseerzeuger aus Norddeutschland haben
erhebliche Probleme und beklagen Millionenschäden an
einem Tag. Heute war zu hören, dass die Behörden nach
intensiven Bemühungen aufgedeckt haben, woher die
Gefahr kommt. Es waren am Ende - ich glaube, ich sage
damit nicht zu viel - grüne Gurken.
({2})
Ich hoffe, dass ich niemandem zu nahegetreten bin. Ich
möchte das nur als Beispiel nennen, um deutlich zu machen, wie schnell Vorverurteilungen ganze Produktionszweige in Gefahr bringen können.
({3})
Ich sage noch einmal: Die Lebensmittel in Deutschland waren noch niemals von so hoher Qualität und so
sicher wie in der heutigen Zeit. Wir wollen, dass das
auch in Zukunft so bleibt. Der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft soll man vertrauen können. Qualität
und Sicherheit sind Markenzeichen dieser Branche. Ich
denke, dass durch die nun zu beschließenden gesetzlichen Vorgaben dies weiter zu verdeutlichen ist. Wir als
Regierungskoalition haben gezeigt, was schnelles und
sachorientiertes Handeln bedeutet
({4})
und dass wir erfolgreiche Politik machen können.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Johannes Röring.
Tagesordnungspunkt 13 a: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer
Vorschriften. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953
({0}), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksachen 17/4984 und 17/5392 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5958
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/5959. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die
Fraktion Die Linke. Gegenprobe! - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 13 b: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Lehren aus dem Dioxin-Skandal ziehen - Ursachen bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5953
({1}), den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5377 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? Die Fraktion der Sozialdemokraten und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5953 ({2}) empfiehlt der Ausschuss,
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegen-
probe! - Keine. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin
Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Versorgung der privat Versicherten im Basis-
tarif sicherstellen
- Drucksache 17/5524 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit
({3}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja
Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gesetzliche Krankenversicherung für Solo-
Selbstständige bezahlbar gestalten
- Drucksachen 17/777, 17/5566 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Lanfermann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Private Kranken- und Pflegeversicherung -
Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-
dürftige
- Drucksachen 17/780, 17/5630 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Maag
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versicherten Bezieherinnen und Beziehern von
Arbeitslosengeld II
- Drucksache 17/548 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({5})
- Drucksache 17/5629 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe keinen Widerspruch. Ich verzichte auf die Ver-
lesung der einzelnen Namen; die Namen liegen uns vor,
Vizepräsident Eduard Oswald
und die entsprechenden Reden sind beim Protokoll ein-
gegangen1).
Tagesordnungspunkt 14 a: Es wird interfraktionell
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5524 an
den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. - Alle
sind damit einverstanden, dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 14 b: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussfassung auf
Drucksache 17/5566, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/777 mit dem Titel „Gesetzliche
Krankenversicherung für Solo-Selbstständige bezahlbar
gestalten“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und
die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! Linksfraktion. Stimmenthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 c: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5630, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/780 mit dem Titel „Private Krankenund Pflegeversicherung - Existenzminimum zukünftig
auch für Hilfebedürftige“ abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 d: Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5629, den Entwurf eines Gesetzes zur
Abschaffung der Benachteiligung von privat versicherten Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/548 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist in der zweiten
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes
- Drucksache 17/3122 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 17/5930 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Marco Buschmann
1) Anlage 3
Jens Petermann
Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der
Kolleginnen und Kollegen liegen uns vor.
Wir beraten und beschließen heute in zweiter und
dritter Lesung das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes. Es dient der Umsetzung der Richtlinie 2009/109/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates, die Änderungen bereits bestehender Richtlinien
({0}) hinsichtlich der Berichts- und Dokumentationspflichten bei Verschmelzungen und Spaltungen von
Gesellschaften vorsieht.
Die heute zu beschließenden Änderungen des Umwandlungsrechts stellen einen weiteren wichtigen Baustein im Rahmen der kontinuierlichen Fortentwicklung
des Unternehmensrechts in Deutschland dar. Der vorliegende Gesetzentwurf, an dem im Rahmen des parlamentarischen Beratungsverfahrens mehrere wichtige Änderungen vorgenommen wurden, leistet einen Beitrag zur
weiteren Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Denn Unternehmen werden bei Umwandlungen
künftig von Einsparungen profitieren und mit einem geringeren Verwaltungsaufwand konfrontiert als bisher. So
können künftig etwa die Prüfung der Sacheinlagen und
des Verschmelzungsvertrags durch denselben Sachverständigen vorgenommen werden. Eine Zwischenbilanz
wird künftig dann entbehrlich sein, wenn alle Anteilsinhaber sämtlicher beteiligter Rechtsträger durch notariell beurkundete Erklärung darauf verzichten oder ein
Halbjahresfinanzbericht gemäß § 37 w des Wertpapierhandelsgesetzes veröffentlicht wurde.
Daneben können Aktionären mit ihrer Einwilligung
Unterlagen in Zukunft auf dem Wege elektronischer
Kommunikation übermittelt werden. Auf eine Versendung in Papierform kann verzichtet werden. Konzernverschmelzungen werden dadurch vereinfacht, dass bei
Konzernverschmelzungen auf eine Aktiengesellschaft
bei 100-prozentiger Beteiligung die Notwendigkeit eines
Verschmelzungsbeschlusses nicht wie bisher nur hinsichtlich der Beschlussfassung bei der übernehmenden
Aktiengesellschaft, sondern auch bei der übertragenden
Kapitalgesellschaft entfällt, wenn der übernehmenden
Aktiengesellschaft sämtliche Anteile der übertragenden
Aktiengesellschaft gehören. Den berechtigten Interessen
an einer Unterrichtung des Betriebsrats über geplante
Konzernverschmelzungen wird dabei durch eine vom
Rechtsausschuss angeregte gesetzliche Klarstellung
Rechnung getragen.
Ein wichtiges Element des vorliegenden Änderungsgesetzes zum Umwandlungsrecht ist die Einführung des
verschmelzungsrechtlichen Squeeze-out. Gehören der
übernehmenden Gesellschaft mindestens 90 Prozent des
Grundkapitals einer übertragenden Aktiengesellschaft,
kann die Hauptversammlung der übertragenden Aktiengesellschaft einen Squeeze-out-Beschluss fassen. Während der allgemeine aktienrechtliche Squeeze-out eine
mindestens 95-prozentige Beteiligung voraussetzt, ist
der verschmelzungsrechtliche Squeeze-out - wie von der
Richtlinie vorgesehen - bereits ab einer 90-prozentigen
Beteiligung möglich. Zu Recht war darauf hingewiesen
worden, dass der vorgelegte Regierungsentwurf die
Möglichkeit eröffnet hätte, bei nur 90-prozentiger Beteiligung zunächst in Ausübung der neu geschaffenen gesetzlichen Regelung einen verschmelzungsrechtlichen
Squeeze-out durchführen zu können, ohne sodann auch
die Verschmelzung durchzuführen. Dieser Umgehungsmöglichkeit ist aus Gründen der inhaltlichen Konsistenz
der Rechtsordnung nunmehr durch vom Rechtsausschuss beschlossene Änderungen ein Riegel vorgeschoben worden. Wenngleich mit den vorliegenden umwandlungsrechtlichen Änderungen die von der Richtlinie
eröffneten Möglichkeiten an allen Stellen in rechtspolitisch überzeugender Weise umgesetzt wurden, besteht im
Umwandlungsrecht weiterer Handlungsbedarf, der im
Rahmen der hier anstehenden Richtlinienumsetzung thematisch nicht tangiert war.
Als wichtige rechtspolitische Herausforderungen des
Umwandlungsrechts, die im vorliegenden Gesetzentwurf
nicht behandelt werden, seien exemplarisch nur drei genannt:
Erstens besteht weiterhin eine rechtspolitisch kaum
zu rechtfertigende Ungleichbehandlung der Aktionäre
des übertragenden und des übernehmenden Rechtsträgers bei der Rüge des Umtauschverhältnisses im Rahmen von Verschmelzungen.
Zweitens sind etwaige Ausgleichsleistungen an Aktionäre, die durch das Umtauschverhältnis übervorteilt
werden, nach derzeitiger Rechtslage nur in Form von
Geldleistungen, nicht jedoch in Form von Anteilsgewährungen möglich. Die letztere Option wäre aber deshalb
sinnvoll, weil sie Liquiditätsdruck von Unternehmen
nähme, die an Umwandlungsvorgängen beteiligt sind.
Drittens wird man kritisch zu hinterfragen haben, ob
die Notwendigkeit einer aufwendigen Hauptversammlung in allen Fällen der Ausgliederung wirklich sachgerecht ist.
Diese Fragen in den kommenden Monaten aufzugreifen, stünde dem Gesetzgeber nach unserer Überzeugung
gut zu Gesicht. Wir freuen uns auch insoweit auf ähnlich
konstruktive Beratungen, wie wir sie bei den Erörterungen im Hinblick auf das heute zu verabschiedende Dritte
Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes erleben
durften.
Wir verabschieden hier einen Gesetzentwurf von immenser Tragweite für das Wirtschaftsleben - und wir
verabschieden ihn vollkommen ohne öffentliche Begleitmusik. Eigentlich sollte einen das wundern. Genau eine
Berichterstattung im „Handelsblatt“ habe ich gefunden,
ansonsten nichts, was rauscht im Blätterwald.
Sicher, der Gesetzentwurf setzt zuallererst europäische Vorgaben aus dem Herbst 2009 um - gerade noch
fristgerecht übrigens, bis Ende Juni 2011 war Zeit. Und
er ist alles in allem handwerklich solide gemacht.
Trotzdem: Einen intensiven Blick ist er wert. Die Regelungen für die Spaltung und Verschmelzung von Unternehmen werden stark verändert. Das hat große Auswirkungen auf Konzernverschmelzungen und alle davon
Betroffenen: die Entscheiderinnen und Entscheider in
den beteiligten Unternehmen, die Aktionärinnen und Aktionäre und nicht zuletzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kundinnen und Kunden. Es sollte darum
nicht nur ein Spezialthema für ein paar Unternehmensjuristen sein. Wenn Politik zum Ziel hat, die Chancen für
mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu erhöhen,
indem die Investitionsfähigkeit und Innovationskraft der
privaten Wirtschaft gestärkt werden, dann ist ein modernes, praktikables Umwandlungsrecht ein Baustein dazu.
Und das Umwandlungsrecht wird mit dieser Novelle in
der Tat von ein paar bürokratischen Hürden entschlackt.
Die Konzernumwandlung wird entlang den EU-Vorgaben straffer und kosteneffizienter. Unnötige Berichtsund Informationspflichten werden gestrichen, Kostenersparnisse unter anderem dadurch eröffnet, dass auf
Zwischenbilanzen verzichtet werden kann oder dass im
Falle einer neu zu gründenden Aktiengesellschaft dieselben Sachverständigen mit der Prüfung sowohl der
Sacheinlagen als auch des Verschmelzungsvertrages beauftragt werden können. Alles gut also?
Bessere, stringentere Lösungen, bei denen die Wirtschaft auch noch bares Geld spart, begrüße ich. Vereinfachung darf aber nicht so weit gehen, dass als „Nebenwirkung“ die Rechte wichtiger Gruppen unter den Tisch
zu fallen drohen, wie es mit der Unterrichtung der
Betriebsräte fast passiert wäre. Im Gesetzentwurf der
Bundesregierung sollte geregelt werden, dass ein Verschmelzungsbeschluss des Anteilsinhabers der übertragenen Kapitalgesellschaft dann nicht erforderlich ist,
wenn sich das gesamte Stammgrundkapital einer übertragenen Kapitalgesellschaft in der Hand einer übernehmenden Aktiengesellschaft befindet. Damit war
quasi der Anknüpfungspunkt für die Betriebsratszuleitung „weggespart“. Der Zeitpunkt, wann die Betriebsräte zu unterrichten sind, hätte sich nicht mehr exakt bestimmen lassen. Darauf hatte der DGB hingewiesen. Wir
Sozialdemokraten haben diesen Punkt aufgenommen,
ihn auch bei der Expertenanhörung in den Fokus gerückt und eine Klarstellung erreichen können. Dieses
Versäumnis des Gesetzgebers ist also dank sozialdemokratischen Engagements erfolgreich eingefangen
worden. Gerade wenn Verfahren einfacher und übersichtlicher werden sollen, ist es extrem wichtig, die Unterrichtungspflichten der Vertretungsorgane sorgsam
auszutarieren. Da dürfen wir uns keinen Lapsus leisten.
Denn hier geht um zentrale Transparenzfragen, um das
Miteinander von Unternehmensführung und Mitarbeitervertretung. Wie wichtig diese Fragen sind, hat uns die
Finanz- und Wirtschaftskrise ja wohl wirklich überdeutlich vor Augen geführt.
Beispiel zwei: der Squeeze-out. Der Gesetzentwurf
verändert die rechtlichen Anforderungen bei der Verschmelzung und Spaltung unter der Beteiligung von Aktiengesellschaften; insbesondere geht es um die Verschmelzung von 100-prozentigen Tochtergesellschaften
mit der Muttergesellschaft. Die zentrale und für die PraZu Protokoll gegebene Reden
xis bedeutendste Regelung ist der neu gestaltete
Squeeze-out. Wir verändern die Vorgaben, nach denen
der Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Aktiengesellschaft erzwungen werden kann. Auch hier geht
es um Wirkungen und Nebenwirkungen. Mit Blick auf
die Regelungen zum Squeeze-out muss der Gesetzgeber
sicherstellen, dass die neue Regelschwelle von jetzt
90 Prozent nicht dadurch ausgehebelt werden kann,
dass ein Squeeze-out nach § 62 UmwG-E durchgeführt
und auf die anschließende Verschmelzung verzichtet
wird. Das Wirksamwerden des Sqeeze-out an eine Eintragung der Konzernverschmelzung zu binden, war notwendig. Diese Hintertür haben wir im Rechtsausschuss
zugeschlagen. Das war wichtig. So bleibt das Fazit: Der
Prozess der Konzernverschmelzungen wird durch einen
sachgerechten Gesetzentwurf erleichtert. Meine Fraktion wird ihn mittragen.
Bereits im Jahre 2007 hat sich der Europäische Rat
darauf verständigt, die Verwaltungslasten für Unternehmen bis zum Jahre 2012 um 25 Prozent zu verringern.
Zu diesem Zweck haben die europäischen Institutionen
die Umwandlungsrichtlinie Richtlinie 2009/109/EG auf
den Weg gebracht, mit dem Ziel, den Verwaltungs- und
Kostenaufwand aufgrund von Veröffentlichungs- und
Dokumentationspflichten auf ein Minimum zu beschränken.
Die FDP-Bundestagsfraktion teilt das Ziel, Unternehmen und insbesondere den Mittelstand von überflüssigen Bürokratielasten zu befreien. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf in
der Fassung, den er durch die Änderungsanträge der
Koalitionsfraktionen bekommen soll, als konsequente
Umsetzung dieser Zielvorgabe.
Durch den heute zu beratenden Regierungsentwurf
für das Dritte Gesetz zur Änderung des Umwandlungsrechts und den Änderungsantrag der Regierungskoalitionen soll die Richtlinie 2009/109/EG in nationales
Recht umgesetzt werden. Schon der Regierungsentwurf
vom 7. Juli 2010 hat in verschiedenen Bereichen eine
Erleichterung bedeutet. Zum Beispiel ermöglicht der
Entwurf die Übermittlung von Dokumenten auf elektronischem Wege. Des Weiteren kann die Prüfung der Sacheinlagen und des Verschmelzungsvertrages zukünftig
durch denselben Sachverständigen erfolgen.
Wichtige Änderungen im Umwandlungsrecht ergaben
sich jedoch aus dem erweiterten Berichterstattergespräch vom 9. Februar 2011. Für die konstruktive Mitarbeit möchte ich mich daher bei den Berichterstattern
aller Fraktionen bedanken und insbesondere bei den angehörten Sachverständigen für ihre hilfreiche Unterstützung. Die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Herrn Kollegen
Lischka und Frau Kollegin Hönlinger, verlief sehr sachkundig und konstruktiv.
Zwei wichtige Ergebnisse möchte ich dabei herausstellen: Zum einen war im Regierungsentwurf vorgesehen, die Unterrichtungspflicht im deutschen Recht nicht
nur auf die Aktiengesellschaft zu beschränken, sondern
auf Unternehmen sämtlicher Rechtsformen auszuweiten.
Der Regierungsentwurf setzte hier also europäisches
Recht nicht eins zu eins um, sondern schickte sich an,
Berichtspflichten anlässlich einer Richtlinienumsetzung
auszuweiten. Wir haben hier auf eine Umsetzung eins zu
eins bestanden. Denn die Ausweitung von Berichtspflichten steht im Widerspruch zum erklärten Ziel der
Richtlinie, nämlich Unternehmen von bürokratischen
Informationspflichten zu entlasten. Entlastung erreicht
man aber nicht durch Ausweitung, sondern nur durch
Beseitigung oder Vermeidung von Informationspflichten.
Die wohl wichtigste Änderung erfährt der Regierungsentwurf auf Initiative der Koalitionsfraktionen
durch die Stärkung des sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem erleichterten Squeeze-out
anlässlich einer Verschmelzung und der dazu erforderlichen Verschmelzung selbst. Das war erforderlich, da der
konzernrechtliche Squeeze-out anlässlich einer Verschmelzung unter erleichterten Bedingungen erfolgen
kann als andere Formen des Squeeze-out. Hier war man
sich in der Fachwelt einig, dass sich Missbrauchs- bzw.
Umgehungsmöglichkeiten für die erhöhten Vorgaben eines regulären Squeeze-outs ergeben. Für meine Fraktion stand es auch nie zur Debatte, die Voraussetzungen
für Squeeze-out allgemein abzusenken. Denn es geht
hier um Eigentumspositionen von Aktionären. Das ist
nicht nur angesichts von Art. 14 GG ein hohes Gut. Damit spielt man nicht. Hier haben die Koalitionsfraktionen im Zusammenspiel mit den Sachverständigen, die
wir dazu gehört haben, einen Weg gefunden, um diese
Missbrauchs- bzw. Umgehungsmöglichkeiten auszuschließen. So wird der erleichterte Squeeze-out anlässlich einer Verschmelzung erst mit der Eintragung des
Verschmelzungsbeschlusses wirksam. So kann nicht einfach ein erleichterter Squeeze-out wirksam durchgeführt
werden, ohne nicht auch die Verschmelzung durchzuführen, um derentwillen man das Privileg erleichterter Voraussetzungen erhält. Zum anderen erhalten wir aber
die Vorteile des Instruments. Denn es ist dennoch
möglich, im Zusammenhang mit einer Verschmelzung
den von der Richtlinie geforderten Squeeze-out bei einer
90-prozentigen Tochtergesellschaft durchzuführen.
Insgesamt ist das Ergebnis ein guter Schritt in die
richtige Richtung: die Entlastung der Unternehmen von
Bürokratie und Kosten. Ich werbe hier daher um Ihre
Zustimmung!
Die Änderungen des hier vorliegenden Umwandlungsgesetzes betreffen insbesondere die Veröffentlichungs- und Dokumentationspflichten jedes an der Verschmelzung oder Spaltung beteiligten Rechtsträgers
sowie die Erleichterung eines Squeeze-out, also den
Ausschluss eines Gesellschafters. Wenn wir dem Gesetz
zustimmen, dann nicht, weil wir den zugrunde liegenden
Vorgängen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt
sind. Von Markus M. Ronner stammt der Satz: „Das
Zeitalter der Fusionen hat Unternehmer als bloße Übernehmer entlarvt. Und mancher hat sich dabei übernommen.“
Zu Protokoll gegebene Reden
Als Finanzpolitiker finde ich die Einschätzung zutreffend, wonach eine Fusion der Zusammenschluss von
zwei Unternehmen zum Abbau von Verlusten sei, die sie
alleine nie gehabt hätten. Regelmäßig sind diese Vorgänge mit einem Personalabbau verbunden, wie es der
jüngste Fall bei der Verschmelzung der Dresdner Bank
und der Commerzbank gezeigt hat. Der konzernweite
Personalabbau betraf hierbei 9 000 Vollzeitstellen, davon rund 6 500 in Deutschland. Daher ist für uns entscheidend, dass mit der vorliegenden Gesetzesänderung
keine Verschlechterung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einhergeht und die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nicht beschnitten werden.
Die Ergänzungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E
legen den Fristbeginn für die Unterrichtung des Betriebsrates über die Verschmelzung fest. Nunmehr ist
spätestens mit Abschluss des Verschmelzungsvertrages
die Verpflichtung zu erfüllen, diesen dem Betriebsrat zuzuleiten. Die Änderungen von § 62 Abs. 4 und 5 UmwG-E
knüpfen das Wirksamwerden des Übertragungsbeschlusses nunmehr an die Eintragung des Verschmelzungsbeschlusses in das Handelsregister. Damit ist sichergestellt, dass ein konzernverschmelzungsrechtlicher
Squeeze-out, der bei 90 Prozent möglich ist, gegenüber
dem sonstigen aktienrechtlichen Squeeze-out bei 95 Prozent nicht missbraucht wird, indem eine Verschmelzung
angedacht wird, ein Squeeze-out durchgeführt wird und
die Verschmelzung sodann scheitert.
Die letzten Änderungen, die nach der Anhörung erfolgten und auf Hinweise der Sachverständigen zurückgehen, begrüßen wir daher. Ebenfalls begrüßen wir,
dass das BMJ sich auf die notwendigen Umsetzungen
aus der Änderungsrichtlinie für Verschmelzungen und
Spaltungen beschränkt hat und nicht, wie von einigen
Sachverständigen verlangt wurde, eine Reihe weiterer
Vorschläge, die damit nur mittelbar im Zusammenhang
stehen, aufgenommen hat. Der konzernverschmelzungsrechtliche Squeeze-out bei 90 Prozent ergibt sich zwingend aus der umzusetzenden Richtlinie. Insoweit ist dies
zwar aus dem Blickpunkt des Gesellschaftsrechts nicht
befriedigend, es dürfte jedoch kein rechtlicher Handlungsspielraum verbleiben, die Schwelle auf 95 Prozent
hochzusetzen.
Bei einer künftigen Reform des Umwandlungsrechts
wäre zu überlegen, wie die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt werden können. Der Sachverständige Ernst
Büchele hatte in der Anhörung vorgeschlagen, das übernehmende Unternehmen zu verpflichten, für eine Übergangszeit von etwa fünf Jahren eine Beschäftigungsgarantie abzugeben. Würde diese nicht eingehalten, wäre
eine je nach Dauer der Beschäftigung gestaffelte Ausgleichszahlung in ein Sondervermögen zu leisten, das
die Kreditanstalt für Wiederaufbau verwaltet. Die damit
gesammelten Mittel dürfen nur verwendet werden, um
neue Arbeitsplätze zu schaffen, entweder innerhalb von
bestehenden oder erst noch zu gründenden Unternehmen. Dazu können auch reine Beschäftigungsgesellschaften gehören, die Arbeitnehmer so lange aufnehmen, bis sie am regulären Arbeitsmarkt wieder
untergekommen sind oder das - nahende - Rentenalter
erreichen.
Wir beraten heute das Dritte Gesetz zur Änderung des
Umwandlungsgesetzes. Das Umwandlungsgesetz regelt
die Umwandlung von Rechtsträgern, die ihren Sitz in
Deutschland haben. Insbesondere geht es dabei um Ver-
schmelzungen, Spaltungen, Formenwechsel sowie Ver-
mögensübertragungen von gesellschafts-, vereins- oder
genossenschaftsrechtlich organisierten Rechtsträgern.
In dem Dritten Gesetz zur Änderung des Umwandlungs-
gesetzes führen wir EU-rechtliche Vorgaben in das deut-
sche Recht ein. Wir Grünen haben uns an diesem Ge-
setzgebungsprozess konstruktiv beteiligt.
Der Hauptpunkt, der mit dieser Gesetzesänderung
vorgenommen wird, ist die Absenkung des Squeeze-out.
Unter einem Squeeze-out ist ein unter Zwang vollzoge-
ner Ausschluss von Minderheitsaktionären aus einer Ak-
tiengesellschaft zu verstehen. Das bedeutet: Wenn ein
Aktionär - direkt oder über von ihm abhängige Unter-
nehmen - mindestens 95 Prozent des Grundkapitals ei-
ner Aktiengesellschaft hält, kann er die restlichen Aktio-
näre gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aus
dem Unternehmen drängen. Mit dem Gesetzentwurf sen-
ken wir die Squeeze-out-Schwelle entsprechend der eu-
ropäischen Vorgaben auf 90 Prozent.
Uns ist bewusst, dass eine Absenkung der Squeeze-
out-Schwelle nicht unproblematisch ist. Dieser Zwangs-
ausschluss der Minderheitsaktionäre stellt einen erheb-
lichen Eingriff in die eigentumsrechtliche Position der
Minderheitsaktionäre dar.
Schon jetzt zeigt sich die Rechtsprechung zunehmend
großzügig. Beispielsweise hält sie auch Fälle für
unbedenklich, in denen der Hauptaktionär die für den
Zwangsausschluss der Minderheitsaktionäre erforderliche
Beteiligungsquote von 95 Prozent erst durch ein Wertpa-
pierdarlehen erreicht hat. Vor diesem Hintergrund begrü-
ßen wir, dass der Regierungsentwurf den Schwellenwert
von 95 Prozent für den ,,normalen“ gesellschaftsrechtli-
chen und übernahmerechtlichen Squeeze-out unangetas-
tet lässt. Für den Zwangsausschluss im Zusammenhang
mit einer Konzernverschmelzung im Aktienrecht müssen
wir hingegen die Absenkung des Schwellenwertes auf
90 Prozent im Gesetz etablieren, da dieses den europa-
rechtlichen Vorgaben entspricht. Begrüßenswert ist zu-
dem, dass mit diesem Gesetzentwurf die Transparenz für
Aktionäre erhöht wird. Mit der Einführung des neuen
§ 64 Abs. 1 des Umwandlungsgesetzes schreiben wir die
Unterrichtungspflicht über Vermögensänderungen auch
für Verschmelzungen von Aktiengesellschaften fest. Bis-
her gab es diese Verpflichtung nur bei Spaltungen von
Aktiengesellschaften.
Abschließend ist hervorzuheben, dass wir mit diesem
Gesetzentwurf im Hinblick auf die Vorbereitung einer
Hauptversammlung Bürokratie abbauen. Überflüssige
Kosten werden für Unternehmen minimiert. Durch die
Gesetzesänderung können die die Hauptversammlung
vorbereitenden Unterlagen den Aktionären auf elektro-
nischem Wege zugeleitet werden. Das bedeutet nicht nur
eine erhebliche Ersparnis an Papier und Zeit, sondern
kommt auch unserer Umwelt zugute. Wir Grünen unter-
stützen daher das Gesetzesvorhaben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/5930, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3122 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Das ist einstimmig.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch
keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? -
Keine. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Müller ({0}), Marieluise Beck ({1}), Volker
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zivile Krisenprävention ins Zentrum deutscher Außenpolitik rücken
- Drucksache 17/5910 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({4}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin
Müller ({5}), Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen
- Drucksachen 17/4043, 17/5307 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Michael Roth ({6})
Michael Link ({7})
Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in dieser Debatte ist unsere Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben das Wort.
Bitte schön, Kollegin Kerstin Müller.
Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als Kofi Annan 1999 nach den Ereignissen von Srebrenica und Ruanda von allen UNO-Mitgliedstaaten eine Kultur der Prävention einforderte, da
schien es fast, als hätte die Weltgemeinschaft einmal verstanden. Auf dem Weltgipfel 2005 sagte sie nicht nur der
Armut den Kampf an; sie versprach bedrohten Menschen mit dem Konzept der Responsibility to Protect
auch mehr Schutz vor Kriegsgewalt und die Stärkung
von Menschenrechten und Demokratie.
Wir haben in Deutschland unter Rot-Grün 2004 den
Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ und den Ausbau
ziviler Instrumente wie das ZIF, den Zivilen Friedensdienst oder auch zivik beschlossen. Wir hatten damals
eine klare Vision, nämlich: Deutschland will und muss
vor allem eines sein: zivile Friedensmacht in der Welt.
Heute müssen wir feststellen, dass ausgerechnet jetzt,
da Deutschland im Sicherheitsrat sitzt und zivile Krisenprävention gefragt ist wie nie, zum Beispiel in Tunesien,
in Ägypten oder im Sudan, die zivile Krisenprävention
vor sich hindümpelt. Das, finden wir, ist nicht hinnehmbar.
({0})
Die zivile Krisenprävention ist antriebslos, weil es
keine erkennbare friedens- und sicherheitspolitische Gesamtstrategie der Bundesregierung gibt. Ich nehme einmal das Beispiel der Bundeswehrreform, die zwar breit
diskutiert wird, aber völlig losgelöst vom Aktionsplan
„Zivile Krisenprävention“ ist. Der Vorrang „Zivil vor
Militär“ kommt dabei unter die Räder. Die Schieflage
zwischen Zivil und Militär bei der Mittelvergabe verschärft sich weiter.
Der Begriff der vernetzten Sicherheit, von dem Sie
immer reden, verkommt dabei zur Floskel. Am Ende
wird das Militär das Zivile nur noch stärker dominieren.
Das, finden wir, ist eine falsche Entwicklung.
({1})
Zivile Krisenprävention ist auch führungslos - so
könnte man sagen -, weil nämlich der zuständige Ressortkreis weder politische Macht noch eigene Ressourcen hat, und sie ist orientierungslos, weil zum Beispiel
der Beirat, den es immerhin gibt, zu einem Alibigremium verkommen ist. Das ist die Bilanz der Tätigkeit
der hochrangigen Fachleute, die da sitzen.
Wir meinen: Das muss sich ändern. Deshalb haben
wir diesen Antrag eingebracht, in dem wir konkrete Vorschläge dazu machen, wie wir die zivile Krisenprävention wieder ins Zentrum der deutschen Außenpolitik rücken können und wie wir endlich eine internationale
Vorreiterrolle bei der zivilen Krisenprävention gewinnen
oder zurückgewinnen können.
Was ist erforderlich? Wir müssen zunächst einmal
den Aktionsplan zu einem nationalen zivilen Planziel
weiterentwickeln - das klingt technisch, aber das ist das,
Kerstin Müller ({2})
was die Europäische Union von uns schon seit längerem
erwartet -, weil wir sonst nicht die nötigen Instrumente
haben, um beim Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Konfliktländern angemessen dabei zu sein.
Dem müssen Sie sich stellen. Meiner Meinung nach
tun Sie das nicht. Ein paar Beispiele: Warum ist
Deutschland als größtes Land in der EU noch nicht einmal in der Lage, auch nur annähernd die bereits 2004 zugesagten 900 Polizisten für Friedensmissionen oder auch
ausreichendes Personal für den EAD zur Verfügung zu
stellen? Warum ist Deutschland als drittgrößter Beitragszahler der UNO mit weit weniger als 2 Prozent Personalanteil - das alles hat das ZIF wunderbar aufgelistet - in
UNO-Friedensmissionen vertreten?
Vor diesem Hintergrund ist es mir völlig unverständlich, warum Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, heute unserem Antrag zum EAD nicht zustimmen können. So würde man an dieser Stelle einmal ein
Stück vorwärtskommen.
({3})
Wichtig ist auch, dass die vorbeugende Diplomatie
und die Konfliktvermittlung gestärkt werden. Dazu haben Sie sich schon 2009 im EU-Rat verpflichtet; aber
passiert ist nichts. Jetzt, als dies bei den Umbrüchen in
der arabischen Welt notwendig war, war zum Beispiel
die Europäische Union nicht in der Lage, schnell Vermittler vor Ort zu entsenden.
Etwas, was ganz wichtig ist, haben wir auch auf den
Reisen des Unterausschusses zu hören bekommen und
gesehen: Wir müssen viel vorausschauender und systematischer Personalpools für Polizei-, Verwaltungs- und
Rechtsstaatsexperten aufbauen, die wir dann in EU-Missionen, UNO-Missionen oder auch zur Afrikanischen
Union entsenden können. Dabei sind auch Frauen gefragt, wie es die Sicherheitsratsresolution 1325 verlangt.
Wichtig ist auch, eine Lageanalyse zu entwickeln.
Dazu sind ressortübergreifende Frühwarnsysteme erforderlich. Aber auch das gibt es bisher nicht; da ist selbst
die Afrikanische Union weiter, wie wir sehen konnten.
({4})
- Ja, die haben das, wir haben es noch nicht.
Schließlich muss auch der Beirat ein klares Mandat
erhalten, damit künftig bei Early Warning die Expertise
der Zivilgesellschaft auch tatsächlich einbezogen wird.
Ich glaube, dass unsere Instrumente wirkungslos bleiben, wenn der politische Wille nicht da ist. Das heißt, der
Ressortkreis muss politische Entscheidungskompetenz
erhalten, er muss politisch hoch angesetzt sein, er
braucht einen Mr. oder eine Mrs. Krisenprävention, und
er muss endlich so etwas wie Ressourcenpooling machen können, wie wir es von anderen Ländern, zum Beispiel von Großbritannien, schon längst kennen.
Ich komme zum Schluss. Ich höre schon: Na ja, aber
wir haben doch jetzt den Unterausschuss für zivile Krisenprävention. Ich kann nur sagen: Das ist ein Instrument des Parlaments. Geht man auf die Website des
Auswärtigen Amtes zur zivilen Krisenprävention, um zu
sehen, was die Bundesregierung macht, kommt als Erstes der Unterausschuss. Der Unterausschuss ist ein Parlamentsausschuss. Ich finde es ja schön, dass die Bundesregierung darauf stolz ist. Aber das Handeln des
Unterausschusses, in dem wir natürlich gern engagiert
mit Ihnen zusammenarbeiten, ersetzt nicht das Handeln
der Bundesregierung, das wir von ihr erwarten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. - Jetzt für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Roderich
Kiesewetter. Bitte schön, Kollege Roderich Kiesewetter.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Müller, es ist ja schön, wie engagiert Sie die Dinge anpacken.
({0})
Sie wollen immer das Zivile in das Zentrum der Außenpolitik rücken. Aber ich denke, es ist auch wichtig, das
in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
({1})
Es geht nicht, immer nur Pläne zu fordern oder Pläne zu
entwickeln. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Papieren nennen, die meiner Fraktion wichtig sind und für
die wir gearbeitet haben. Eine so umfassende Sicherheitsstrategie, wie Sie sie mit Ihrem Antrag einbringen,
haben wir bereits im Mai 2008 verabschiedet, Frau Kollegin Müller.
({2})
Ich will auf etwas anderes hinaus. Es geht darum, den
Gedanken der zivilen Krisenprävention in die Köpfe zu
pflanzen. Wir haben eine Institution in Deutschland, die
dazu durchaus geeignet wäre; das ist die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Sie ist stark vom Verteidigungsministerium und vom Auswärtigen Amt geprägt,
hat Gutes geleistet und die Sicherheitspolitik in Deutschland vorangebracht. Es wäre eine geeignete Maßnahme
- dies schlagen wir vonseiten unserer Fraktion vor -, die
Bundesakademie auszubauen, sie mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu verbinden
und dort auch ein Forum für den zivilen Friedensdienst
anzubieten. Das ist ein konkreter Vorschlag, der von den
vielen Papierplänen weggeht.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um umfassende Sicherheit. Der Ansatz vernetzter Sicherheit
war im letzten Jahrzehnt gut. Umfassende Sicherheit
greift weiter. Wir werden in den nächsten zehn Jahren
Entwicklungen erleben - wir sehen es gerade in Nordafrika -, die zeigen, dass im Zusammenhang mit dem Sicherheitsbegriff auch soziale Sicherheit eine Rolle spielt.
Umfassende Sicherheit bedeutet nicht nur Krisenvorund -nachsorge, sondern schließt sowohl die zivilen
Friedensdienste als auch Fragen der Entwicklungspolitik
ein. Es geht eben weiter als das, was bisher im Fokus Ihrer Kritik war.
Sicherheitsvorsorge und Krisenbewältigung sind also
kein Selbstzweck, sondern ein ganz entscheidender
Punkt, den sich auch die Europäische Union auf ihr Panier geschrieben hat. Ich nenne ein Beispiel dafür: Die
neue Europäische Nachbarschaftspolitik, über die wir
gestern im Europaausschuss und vor einiger Zeit auch
im Auswärtigen Ausschuss gesprochen haben, leistet einen wesentlichen Beitrag. In den Jahren 2007 bis 2013
stellt die Europäische Union über 11 Milliarden Euro für
die Nachbarschaftspolitik zur Verfügung. Für uns, die
Union, ist Nachbarschaftspolitik - ich glaube auch für
die gesamte Koalition zu sprechen - zivile Krisenvorsorge. Dies bedeutet, dass wir Deutschen allein
500 Millionen Euro jährlich zusätzlich leisten, weil wir
in der Europäischen Union einen Anteil von 28 Prozent
an diesen 11 Milliarden Euro zu tragen haben.
Dazu kommt Entwicklungspolitik als wichtiger Eckpfeiler der zivilen Krisenprävention. Für den Bundeshaushalt 2012 ist eine Steigerung des BMZ-Plafonds um
fast 114 Millionen Euro vorgesehen. Für die Förderung
des Demokratisierungsprozesses in Nordafrika und im
Nahen Osten werden dem Auswärtigen Amt zusätzlich
50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auch das ist
ganzheitliche Außenpolitik.
So viel zu Ihrer Kritik, die Mittel würden gekürzt. Offiziell sind sie - das kann man nachlesen - auf der Höhe
von 2007, inoffiziell sogar ein Vielfaches höher. Ich
glaube, ich habe das deutlich herausgestellt.
Wichtig ist doch, dass wir Konflikte frühzeitig erkennen. Wir brauchen das Frühwarnsystem - darin sind wir
uns einig - und müssen Mittel ziviler und entwicklungspolitischer Krisenprävention aufgreifen. Dabei geht es
nicht nur um die Förderung guter Regierungsführung,
sondern auch um die diplomatische Vermittlung und die
Mediation. Dazu kommen die Krisennachsorge und der
Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio, in der Regel mit einem Mandat der Vereinten Nationen.
Aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus, und wir
alle wissen: Erfolgreiche Politik lebt in allererster Linie
von der Betrachtung der Wirklichkeit. Wo die militärische Unterstützung der Krisenbewältigung unausweichlich wird, müssen militärische Mittel mit Instrumenten
ziviler und polizeilicher Konfliktbewältigung zusammenwirken.
Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird sicherlich
erweitert werden; umfassende Sicherheit streben wir an.
Dazu gehört auch menschliche Sicherheit. Dies müssen
wir wirksam umsetzen. Uns in der Fraktion treibt es
wirklich um, die Wirksamkeit der Mittel ziviler Krisenprävention noch weiter zu verbessern. Ich möchte das an
einer Reihe von Punkten darstellen.
Erstens kommt es darauf an, egal um welche Art von
Mission es sich handelt, ob zivil, polizeilich oder militärisch, dass wir in der Ausbildung, in der Vorbereitung
Expertise für kulturelle Befindlichkeiten vermitteln. Das
haben wir in Afghanistan intensiv gelernt.
Zweitens sind politische Ziele bereits im Vorfeld auch
im VN-Mandat festzulegen. Erfolg und Misserfolg einer
Mission müssen evaluierbar sein. Das bedeutet, wir
brauchen Benchmarks, die im Vorfeld festgelegt werden
müssen.
Drittens. Jeder Einsatz sollte jährlich auf unsere nationalen Interessen hin überprüft werden. Wir brauchen
folglich eine föderale - andere nennen sie nationale - Sicherheitsstrategie, deren Umsetzung wir auch jährlich
im Parlament diskutieren sollten. Die Umsetzung wird
sicherlich ein interessanter Punkt, Frau Müller und Frau
Bulmahn, in unserem Unterausschuss.
Ich komme zum vierten Punkt. Zur rechtzeitigen Aufdeckung von Krisen ist ein Frühwarnsystem erforderlich, zu dem auch Nichtregierungsorganisationen einen
wesentlichen Beitrag leisten können. In diesem Zusammenhang könnten wir Ihrem Antrag inhaltlich folgen;
das können wir aber in nur sehr wenigen Punkten.
Fünfter Punkt. Unser Land muss die Voraussetzungen
für mehr Bewerbungen von geeignetem und gut ausgebildetem Personal schaffen. Sie beklagen, dass sich so
wenige Frauen bewerben. Aber es ist ja auch so: Wenn
nur 15 Prozent der Bewerber Frauen sind und dann für
20 Prozent der Stellen Frauen ausgewählt werden,
spricht das für die Qualität der Frauen. Ich sehe hierin
keine Benachteiligung. Machen Sie Werbung, damit sich
endlich mehr Frauen bewerben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Konzept der zivilen Krisenprävention ist zwar klar und wurde vielfach
auf dem Papier bekräftigt. Wichtig ist aber - damit habe
ich auch eingeleitet -, dass sechstens das vernetzte Denken in den Köpfen von Diplomaten, Soldaten, Referenten
der Fachministerien und im Friedensdienst verankert ist.
Dazu brauchen wir mehr Vernetzung des konzeptionellen
Denkens und gemeinsame Schulungen oder Ausbildungen. Die umfassende rechtzeitige Zusammenarbeit aller
Akteure, aber auch Kooperation und Absprache der zivilen Partner untereinander wie auch mit der lokalen Bevölkerung sind dafür Voraussetzungen. Eine geeignete internationale Plattform sind Regionalkonferenzen; national
sollten wir unsere Bundesakademie für Sicherheitspolitik
aufwerten. Über diesen Ansatz sollten wir intensiv nachdenken, weil wir damit auf bestehende Ressourcen bauen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Antrag
enthält zwar einige interessante Ansätze, die wir vertiefen könnten; aber die Fundamentalkritik, die er enthält,
können wir überhaupt nicht teilen. Ich habe heute deutRoderich Kiesewetter
lich gemacht, wie eine konstruktive, umfassende, ganzheitliche Sicherheitspolitik aussehen kann.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Kiesewetter. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Edelgard Bulmahn. Bitte schön, Frau Kollegin Edelgard
Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe als junge Abgeordnete hier im Deutschen Bundestag erlebt, wie über die schrecklichen Ereignisse in Srebrenica und Ruanda diskutiert wurde. Ich
habe auch die Hilflosigkeit erlebt, die viele Kolleginnen
und Kollegen, ich selber auch, damals dabei empfunden
haben. Deshalb bin ich sehr froh, dass die internationale
Staatengemeinschaft aus diesen schrecklichen Ereignissen die richtigen Konsequenzen gezogen hat, nämlich
einmal die Konsequenz, der zivilen Krisenprävention ein
erheblich größeres Gewicht in ihrer Politik zu geben,
und auch die Konsequenz, rechtzeitig Maßnahmen der
zivilen Krisenprävention einzusetzen. Diesen Prinzipien
trägt sie Rechnung, indem sie rechtzeitig Verantwortung
auf sich nimmt, um zum Beispiel Völkermord zu verhindern.
Vor zehn Jahren hat die damalige rot-grüne Bundesregierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ die
Weichen dafür gestellt, dass auch die deutsche Außenund Sicherheitspolitik ausdrücklich darauf abstellt, internationale und innerstaatliche Konflikte friedlich zu lösen. Ein weiterer Meilenstein war der Aktionsplan aus
dem Jahr 2004. Die Prävention von Gewalt und Krieg
und die zivile Konfliktbearbeitung sollten - das war das
Ziel - grundsätzlich Vorrang gegenüber militärischen Interventionen haben.
Mit dem Aktionsplan wurden die Voraussetzungen
und die Strukturen dafür geschaffen, zum Beispiel das
ZIF. Diese Strukturen, die wir mithilfe des Aktionsplans
geschaffen haben, finden international hohe Anerkennung. Hier wird auch sehr wirkungsvolle Arbeit geleistet. Für viele Nichtregierungsorganisationen bildet der
Aktionsplan übrigens den Rahmen, in dem sie ihre wichtige und notwendige Arbeit durchführen und ausbauen
können.
Ein weiteres wichtiges Zeichen war die Einrichtung
des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ in dieser Legislaturperiode. Mithilfe
dieses Unterausschusses ist erstmals eine kontinuierliche
parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle sichergestellt. Auch das ist ganz wichtig und eine entscheidende
Voraussetzung dafür, dass zivile Krisenprävention wirklich die Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält, die
sie braucht.
({0})
Die Arbeit im Unterausschuss - ich denke, das kann
ich für alle Kolleginnen und Kollegen sagen - ist konstruktiv und auch zielgerichtet. Dennoch dürfen wir
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen - ich denke, das
müssen wir uns auch selbst immer wieder sagen -, der
Versuchung erliegen, alle Fragen, Probleme und Strategien ziviler Konfliktlösung ausschließlich im Unterausschuss zu behandeln, sodass sich die anderen Ausschüsse, sei es der Auswärtige Ausschuss oder der
Verteidigungsausschuss, oder auch das gesamte Parlament überhaupt nicht mehr mit diesen Fragen befassen.
Das wäre eine falsche Entwicklung. Vielmehr müssen
wir beides tun. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir
heute Abend eine Debatte über die Ziele und Instrumente ziviler Krisenprävention führen. Ein Blick auf die
Uhr, ganz offen gesagt, macht aber auch deutlich, dass
die parlamentarische Aufmerksamkeit noch ausbaufähig
ist.
({1})
Ausbaufähig, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor
allen Dingen auch das Engagement der Bundesregierung.
({2})
Sie hat es leider versäumt, in ihrer Außenpolitik der zivilen Krisenprävention die prioritäre Rolle, die sie haben
muss, zu geben. Ihr kommt derzeit diese prioritäre Rolle
nicht zu. Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Bundesregierung die zivile Krisenprävention finanziell ausbluten lässt. Fast ein Drittel der Mittel für Krisenprävention, Friedenssicherung und Konfliktbewältigung - meine
Kollegin hat darauf hingewiesen - ist schlichtweg weggefallen. Man kann natürlich auch so Schwerpunkte setzen - keine Frage. Aber diese Schwerpunkte zeigen in
die falsche Richtung.
({3})
Zu Recht haben deshalb die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute in ihrem diesjährigen Friedensgutachten die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung in wirklich ungewöhnlich scharfer Form
kritisiert. Sie fordern mit Nachdruck Vorrang für zivile
Strukturen ein. Die Stichworte, die hier genannt werden,
lauten: Krisenprävention, Konfliktanalyse, Konfliktbearbeitung, nachsorgende Konfliktbearbeitung und Diplomatie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen - das
trifft auf Parlamentarier aller Fraktionen zu -, dass es
zwar nicht überflüssig ist, in Sonntagsreden die Bedeutung ziviler Krisenprävention zu betonen und zu unterstreichen - das ist sogar gut -, aber auch nicht ausreichend ist, wie es so schön heißt.
({4})
Eine gute Politik zeichnet sich eben dadurch aus, dass
bei Entscheidungen am darauffolgenden Montag der zi12762
vilen Krisenprävention tatsächlich Vorrang eingeräumt
wird. Das geht aber nicht, ohne dass dafür eine Basis geschaffen wird.
In diesem Zusammenhang müssen wir leider auch
über das Geld reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union und der FDP, sorgen Sie dafür - da haben
Sie ganz bestimmt die Unterstützung der Opposition -,
dass die Mittelausstattung für die Bereiche der zivilen
Krisenprävention und auch für die Entwicklungshilfe
2012 wieder deutlich verbessert wird
({5})
und dass sie in der mittelfristigen Finanzplanung - auch
das ist wichtig - mit den gebotenen Zuwächsen abgesichert wird. Zivile Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung erfordern nämlich einen langfristigen
Ansatz. Sie können keine Kurzatmigkeit vertragen; das
muss man einfach so klar und deutlich sagen. Wenn sie
kurzatmig betrieben werden, dann zeigen sie keine Wirkung. Hier bedarf es also einer langfristigen Verlässlichkeit.
({6})
Mehr Verlässlichkeit und politische Durchschlagskraft sind im Übrigen auch in der personellen und inhaltlichen Begleitung dieses Themenbereiches dringend erforderlich. Der Ressortkreis ist sinnvoll - das wird
niemand bestreiten -, aber nicht ausreichend; das muss
ich auch an dieser Stelle sagen. Ein Staatssekretärsausschuss, wie ihn die SPD-Fraktion und auch Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Antrag vorgeschlagen haben, ist
sinnvoll; denn damit wird ein Gremium geschaffen, das
mit echten und finanziellen Entscheidungskompetenzen
ausgestattet ist. Genau das brauchen wir. Ich würde mich
sehr freuen, wenn die Koalitionsfraktionen sich diesem
Vorschlag anschließen würden. Es ist für niemanden von
Nachteil, wenn er gute Vorschläge aufgreift. Man sollte
sich in der Politik nicht genieren, dies zu tun.
({7})
Wie gesagt, ich hoffe sehr, dass die Koalitionsfraktionen diesen Vorschlag aufgreifen. Über den Vorschlag,
den Sie, Herr Kollege Kiesewetter, gemacht haben, nämlich die Bundesakademie für Sicherheitspolitik zu einem
Zentrum für zivile Krisenprävention auszubauen, sollten
wir im Unterausschuss diskutieren.
({8})
Es ist aber sicherlich richtig, dass dies keine Alternative
ist zu dem Vorschlag, den ich vorhin gemacht habe; denn
beide Vorschläge beinhalten unterschiedliche Zielsetzungen. Wir werden sicherlich noch mehrere Schritte
unternehmen müssen, damit wir das Ziel erreichen, der
zivilen Krisenprävention ein größeres Gewicht zu verleihen.
Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärtigen Amt, eine wichtige Schnittstelle, muss aus seinem
Schattendasein herausgeführt werden. Auch das ist richtigerweise angesprochen worden. Es reicht, ganz offen
gesagt, nicht aus, dass dieser Beirat Informationen von
der Bundesregierung erhält. Wir müssen das Potenzial
und die Kompetenzen, die im Beirat vorhanden sind,
besser nutzen. Dazu gehört auch, dass der Beirat eine gestalterische Rolle spielt.
Ich will ausdrücklich sagen, dass sich die Forderungen, die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf den Ausbau ziviler Krisenprävention in ihrem
Antrag formuliert hat, in weiten Teilen mit Forderungen
in unserem Antrag, den wir im Januar dieses Jahres in
den Deutschen Bundestag eingebracht haben, decken.
Wir werden ihn daher mit allen Kräften unterstützen. Ich
hoffe, dass wir für die Beratungen über beide Anträge im
Ausschuss und Unterausschuss eine gute Grundlage haben und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Vielen Dank.
({9})
Wir haben Ihnen zu danken. - Jetzt spricht für die
Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz. Bitte
schön, Kollege Joachim Spatz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie der SPD-Antrag, der hier vor einigen Wochen eingebracht worden ist, enthält auch der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen einige bedenkenswerte Ansätze. Das ist kein Zufall; denn die meisten Themen fußen auf Ergebnissen, die wir im Unterausschuss „Zivile
Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ gemeinsam
erarbeitet haben. Diese Anträge greifen gewissermaßen
dem vor, was wir uns vorgenommen haben. Wir wollen
nämlich im Herbst dieses Jahres einen Bericht vorlegen
und eine Agenda mit Blick auf das, was noch zu tun ist,
beifügen.
Eines der Themen ist die mangelnde Aufmerksamkeit, die das Thema zivile Krisenprävention in der Öffentlichkeit genießt. Der ehemalige Kollege Nachtwei
sagt zu diesem Thema, wir sollten mehr Konflikt wagen.
Ich hoffe, dass diese Vorgabe, ein Stück weit Konflikt zu
wagen - auch wenn er in der Sache nicht deutlich besteht -,
dem Analyseteil des Antrags der Grünen geschuldet ist;
denn einige Punkte, die dort erwähnt werden, kann man
eher unter einen typischen Oppositionsreflex subsumieren und nicht unter eine tatsächliche Analyse dessen,
was geschieht.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele.
Erstens. Es wurde gesagt, dass es noch nie so viele
Friedensmissionen der VN gab. Unser Beitrag rangiere
auf Rang 43. Die ganze Wahrheit ist, dass Bangladesch
mit 10 800 Soldaten, Pakistan mit 10 700 Soldaten oder
Nigeria mit 5 800 Soldaten vertreten sind. Über die
Gründe will ich mich ausschweigen, jeder kann sie sich
denken.
({0})
Es gehört zur ganzen Wahrheit, festzustellen, dass der
Einsatz für manche Länder vielleicht attraktiver ist. Wir
sind diejenigen, die möchten, dass Kräfte aus sich in der
Region befindenden Ländern entsprechende VN-Missionen bedienen und nicht immer nur die Europäer oder die
Amerikaner. Man kann nicht fordern und am selben Tag
kritisieren, dass wir unser Engagement an dieser Stelle
zurückfahren.
({1})
Im Übrigen gehört zum Gesamtbild auch, dass wir an
Aktionen der UN beteiligt sind, auch wenn es sich nicht
um VN-Mandate handelt.
Der zweite Punkt sind die Mittelkürzungen im Auswärtigen Amt. Natürlich werden Sie immer diejenigen,
die in der Koalition für dieses Thema einstehen, im Ressourcenwettbewerb auf Ihrer Seite haben; aber es kann
nicht sein, dass wir die zivile Krisenprävention haushaltsstellengenau diskutieren. Vielmehr dürfen gerade
diejenigen, die einen ressortübergreifenden Ansatz für
sinnvoll halten, nicht vergessen, dass wir eine erhebliche
Mittelaufstockung im zivilen Teil des Afghanistan-Einsatzes zu verzeichnen haben und auch in den NordafrikaEinsatz erheblich mehr Geld investieren. Wenn wir die
Haushaltsstellenlogik für eine Sekunde beiseitelassen
und den umfassenden Ansatz betrachten, dann wird
deutlich, dass wir sehr viel mehr als bisher in diesen Bereich investieren.
Mein dritter Punkt ist die vernetzte Sicherheit. Eines
verstehe ich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht
- wenn man einmal von der Diskussion, die einige in der
NGO-Szene zu dem Begriff „vernetzte Sicherheit“ und
seiner Problematik führen, absieht -: Es geht doch nicht,
dass Sie in Ihrem Antrag an verschiedenen Stellen auf
der einen Seite behaupten, die Bundesregierung wolle
dem Primat des zivilen Ansatzes nicht zum Durchbruch
verhelfen, und auf der anderen Seite die militärische Zurückhaltung in Libyen kritisieren. Das passt nicht zusammen.
({2})
Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, dass man,
wenn man den Grundsatz der Responsibility to Protect
hochhält - wenn man dies anders beurteilt als die Bundesregierung, dann kann man das tun -, nicht im selben
Atemzug kritisieren kann, dass wir das Primat des Zivilen nicht zur Umsetzung bringen. Das passt nicht zusammen.
({3})
In der weiteren Beratung werden wir natürlich die guten Aspekte, die in den vorliegenden Anträgen vorhanden sind, berücksichtigen, auch beim Thema Kapazitätsaufbau. Das sei sehr wohl anerkannt. Aber bei den
Themen Polizei, Verwaltung oder Justizaufbau müssen
wir natürlich dicke Bretter bohren. Das alles wird nicht
so schnell funktionieren, wie es auch in den USA, die
das an vielen Stellen vorgemacht haben, nicht funktioniert hat, ohne dass es einen entsprechenden Ressourcenwettbewerb im Kongress gegeben hat. Diejenigen,
die sich für das Thema interessieren, werden den Ressourcenwettbewerb gerne mitmachen, um für das gemeinsame Ziel der zivilen Krisenprävention einen noch
stärkeren Beitrag zu leisten und eine noch größere Aufmerksamkeit in Deutschland zu erreichen.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Kollege Joachim Spatz. - Jetzt spricht
für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Kathrin
Vogler. Bitte schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
28 Kriege und 126 weitere Gewaltkonflikte erschüttern
in diesem Moment unseren Planeten. Diese vielen Konflikte erfordern ganz dringend von uns, zu überlegen,
was wir dazu beitragen können, dass sie ohne Gewalt bearbeitet und gelöst werden.
({0})
Deswegen ist die Stärkung der zivilen Konfliktbearbeitung ein wichtiges Anliegen, insbesondere für eine Friedenspartei wie die Linke.
Die Grünen schlagen nun viele einzelne Maßnahmen
vor, die zum Teil in die richtige Richtung weisen:
Erstens wollen Sie den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ weiterentwickeln und ihn mit klaren Zielvorgaben, Strategien und einem Zeitplan versehen. Das
ist, um es einmal mit den Worten der Kollegin Bulmahn
zu sagen, „sinnvoll …, aber nicht ausreichend“. Ohne
eine klare Abgrenzung zu militärischen Maßnahmen
bleiben der Aktionsplan und Ihr Antrag leider nur Fassade.
({1})
Zweitens. Auch den systematischen Aufbau ziviler
Ressourcen, wenn es zum Beispiel um Richter oder Verwaltungsfachleute für zivile Missionen geht, unterstützen wir. Wir sind allerdings dagegen, Polizeimissionen
etwa in Afghanistan als schlecht verkappten Ersatz für
Militäreinsätze zu benutzen, nur weil sie vielleicht politisch leichter durchzusetzen sind. Ich hoffe, da habe ich
Sie an unserer Seite. Denn einen solchen Missbrauch
von Polizistinnen und Polizisten lehnt die Linke ab.
({2})
Drittens haben wir im letzten Jahr die schwarz-gelben
Kürzungen der Mittel im Bereich der zivilen Konfliktbearbeitung gemeinsam scharf kritisiert. Auch die Linke
fordert mehr Mittel für zivilgesellschaftliche Initiativen
in der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Aber die Mittel
für die schwarz-gelbe Bundeswehrreform, für die Ihr
Parteivorsitzender Cem Özdemir schon seine Unterstützung zugesagt hat, liebe Frau Müller, können nicht mehr
für anderes, Sinnvolleres ausgegeben werden. Das muss
auch einmal gesagt werden.
Bei einem solchen Sammelsurium politischer Forderungen wie in Ihrem Antrag muss man schon einmal genauer hinschauen, vor allem, um zu erkennen, was fehlt.
Mich hat zum Beispiel gewundert, dass Sie gar nichts zu
einer gerechten Weltwirtschaftsordnung und den Rohstoffkonflikten sagen. Gerade jetzt, wo die sudanesische
Armee in die Erdölprovinz Abyei einmarschiert ist, liegt
das Thema bei solch einem Antrag doch auf der Hand.
({3})
Die allermeisten Konflikte haben doch wirtschaftliche Hintergründe, für die die Bundesrepublik und die
EU mit ihrer Außenwirtschaftspolitik mitverantwortlich
sind. Wir hatten einmal einen Bundespräsidenten - ich
weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern -, der das ganz offen ausgesprochen hat und dann gehen musste. Was wir
brauchen, ist eine konsequente Krisenprävention durch
gerechtere globale Wirtschaftsbeziehungen und sozialökologischen Umbau.
({4})
Last, not least: Der Knackpunkt bei der Glaubwürdigkeit friedlicher und ziviler Außenpolitik ist für die Linke
der Gewaltverzicht, der in Ihrem Antrag leider gar nicht
vorkommt. Ich sage es auch mit Blick auf die Position
von SPD und Grünen zum Libyen-Krieg: Wer - unter
welchem Vorwand auch immer - Kriege führt, der kann
meiner Ansicht nach keine glaubwürdige Friedenspolitik
machen.
({5})
Sie schreiben selbst, dass es im Zusammenhang mit dem
„Schutz der Zivilbevölkerung“ und „der Bekämpfung
nichtstaatlicher Gewaltakteure“ „schier unlösbare Dilemmata“ gibt. Ja, genauso ist es doch: Krieg ist kein
Schutz vor Gewalt; Krieg bedeutet immer Gewalt gegen
die Zivilbevölkerung. Das sehen wir in Afghanistan, in
Libyen und überall da, wo die NATO Kriege führt.
({6})
Gerade deswegen ist die zivile Konfliktbearbeitung so
wichtig.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
hier müssen Sie sich entscheiden, was Sie wollen: zivile
Konfliktbearbeitung nur als Feigenblättchen für Militäreinsätze oder als echte Alternative zu einer Politik der
Gewalt. Sie kritisieren den Begriff der vernetzten Sicherheit nur halbherzig. Sie tun so, als hätten die NGOs
ein Wahrnehmungsproblem, wenn sie diesen Begriff kritisieren; man müsse ihn nur klarer formulieren und besser kommunizieren. Nein, das sehe ich nicht so.
({8})
Dieser Begriff weist in die ganz falsche Richtung. Das
ganze Konzept gehört auf den Müllhaufen. Ich bitte Sie
da um Unterstützung.
({9})
Ich komme zum Schluss. Treten Sie bitte mit uns gemeinsam dafür ein, dass der Gewaltverzicht zum Leitbild deutscher Außenpolitik wird und die zivile Konfliktbearbeitung zu seinem Instrumentenkasten. Dabei
hätten Sie uns an Ihrer Seite. Wir lassen Ihnen aber keine
Mogelpackungen durchgehen.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kathrin Vogler von der
Fraktion Die Linke. - Jetzt spricht für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Alois Karl. Bitte schön, Kollege Alois Karl.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag
der Grünen, der auch die friedenspolitischen und präventiven Aufträge des Europäischen Auswärtigen Dienstes
berührt. Wenn man schon etwas länger im Haus tätig ist,
weiß man, dass sich dieser Antrag in eine Reihe von Anträgen eingliedert, die in regelmäßigen Abständen eingebracht werden. Man kann sie als Gutmenschenanträge
bezeichnen. Wahrscheinlich sind sie Ausdruck Ihrer Tradition als Friedensbewegung. Man könnte meinen, wir
hörten Versatzstücke aus Redebeiträgen, die bei Ostermärschen gehalten wurden.
Heute soll es also um den Europäischen Auswärtigen
Dienst gehen. Die Außenpolitik Europas soll auf die
Friedensbemühungen, auf friedenserhaltende Maßnahmen reduziert werden. Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, die ausgeglichene Besetzung der Positionen
durch Männer und Frauen und Gender-Mainstreaming
sollen weltweit eingeführt werden.
Liebe Frau Müller, die Vorgeschichte des Europäischen Auswärtigen Dienstes stützt Ihre Forderungen allerdings nicht. Der Auswärtige Dienst ist vor ungefähr
einem halben Jahr eingerichtet worden und hat die Arbeit aufgenommen. Er soll ermöglichen - das ist die Intention -, dass Europa mit einer Stimme spricht. Der
vielstimmige Chor Europas, von dem früher immer die
Rede war, soll aufhören, zu existieren. Der Spruch aus
Amerika, Europa solle eine Telefonnummer haben, ist
uns in Erinnerung. Das wollten wir mit der Einrichtung
des Europäischen Auswärtigen Dienstes in die Wege leiten.
Wir wollen keine Doppelstrukturen. Wir wollen die
Koordinierung der zivilen, aber auch der militärischen
Aufgaben im Europäischen Auswärtigen Dienst zusammenführen. Wir wissen, dass es gemeinschaftliche Verteidigungsbemühungen geben muss. Das zeigt sich daran, dass der Europäische Auswärtige Dienst Aufgaben
der gemeinschaftlichen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik übernommen hat und der Militärstab hinzugekommen ist.
Sicherheitspolitische Aufgaben ergeben sich weltweit, also über Europa hinaus. Der Balkan-Konflikt, der
Kosovo, Bosnien-Herzegowina und afrikanische Staaten
fordern uns. Auch das gehört zur europäischen Außenpolitik. Hierzu gehören aber auch die humanitären Aufgaben, die Beachtung der Menschenrechte und der freie
und faire Handel, gerade auch in der Außenwirtschaftspolitik.
Warum die Kollegin der Linken, die das Feld leider
schon räumen musste, in diesem Zusammenhang gesagt
hat, dass der Konflikt im Südsudan die Außenwirtschaftspolitik in einer schändlichen Weise beeinträchtigt,
bleibt ihr Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Konflikt,
der sich um das Öl im Südsudan dreht, anderen zugutekommt, zum Beispiel den Chinesen, und es dabei in gar
keiner Weise um deutsche Interessen geht. Ich meine,
dass die Aussage, dass Gewalt gegen die Zivilbevölkerung auch durch unser Handeln ausgelöst wird, völlig
verkehrt ist. Da sollten sich die Linken zurückhalten und
vielleicht einmal darüber nachdenken, wie das 1968 bei
dem Einmarsch in die Tschechoslowakei war, welche
Gewalt damals gegen die Zivilbevölkerung verübt worden ist.
({0})
Militärische Mittel sind die Ultima Ratio. Das wissen
wir. Wir wissen auch, dass die Menschenrechte Gegenstand der auswärtigen Politik in Deutschland und Amerika sind. Rein ziviles Handeln ist in der Außen- und Sicherheitspolitik aber nicht möglich. Wir wissen, dass wir
noch einen weiten Weg zu einer abgestimmten europäischen Außenpolitik vor uns haben. Das wird klar, wenn
wir uns das Vorgehen im Zusammenhang mit dem Libyen-Konflikt anschauen: Frankreich und Großbritannien haben im Sicherheitsrat für die militärische Operation gestimmt. Deutschland hat zwar dagegen gestimmt,
unterstützt aber die humanitären Einsätze und hilft bei
der medizinischen Versorgung der Bevölkerung.
Der EAD ist noch nicht so weit. Das wissen wir. Das
unglückliche Auftreten Europas im Zusammenhang mit
Libyen liegt möglicherweise auch daran, dass die Dominanz der Hohen Vertreterin, Lady Ashton, noch im Verborgenen blüht. Möglicherweise liegt es nicht nur an der
verborgenen Dominanz, sondern vielleicht auch an der
verborgenen Kompetenz.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Weg
ist klar. Wir möchten, wie es der Kollege Roderich
Kiesewetter gesagt hat, in Europa eine vernetzte und
umfassende Sicherheitspolitik leisten. Uns ist klar, dass
eine einseitige Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik nicht zum Erfolg führen kann. Die Koalition hat
schon vor Jahresfrist einen entsprechenden Antrag eingebracht und durchgesetzt. Darin heißt es, dass die
Kunst guter Politik darin besteht, den zivilen und militärischen Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik
den richtigen Stellenwert zukommen zu lassen.
Herr Kollege, jetzt haben Sie es geschafft. Sie haben
eine Zwischenfrage hervorgerufen. Würden Sie die zulassen?
Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. Die Kollegin kann dann gleich eine Kurzintervention machen.
Da der Antrag der Grünen die Bedeutung des Zusammenspiels der zivilen und militärischen Aspekte verkennt, ist diesem Antrag schon allein aus diesem Grunde
kein Erfolg beschieden. Ich denke, wir lehnen ihn mit
großer Mehrheit ab. Mehr ist mit diesem Antrag leider
nicht zu machen.
Ich danke herzlich.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Alois Karl. - Jetzt zu einer
Kurzintervention unsere Kollegin Kathrin Vogler. Bitte
schön, Frau Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Herr Kollege, ich habe dem Kollegen Karl direkt gesagt, dass ich den Saal kurz verlassen musste. Von daher
ist Ihre Bemerkung eine ziemliche Zumutung.
({0})
Ich möchte mich jetzt nicht auf die ganze Rede beziehen, sondern nur auf die Schlusspassage, insbesondere
auf den Satz, in dem Sie gesagt haben, dass diese Koalition das Zusammenspiel von militärischen und zivilen
Instrumenten besonders in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Offensichtlich haben Sie nach zehn Jahren
Afghanistan-Krieg immer noch nicht gemerkt, dass wir
uns mit den militärischen Mitteln in eine Sackgasse begeben.
Ich möchte Sie als Bundesregierung auffordern, daraus endlich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Sie sollten die zehn Jahre Afghanistan-Krieg auswerten,
bewerten und schließlich feststellen, dass alle uns verkündeten politischen Ziele dieses militärischen Einsatzes
nicht erreicht worden sind und der Einsatz gescheitert
ist. Sie sollten jetzt auf die zivile Konfliktbearbeitung
setzen, und zwar in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und dem Europäischen Auswärtigen
Dienst. Sie sollten dem Einsatz eine zivile Grundlage geben. Der fatale Weg der Unterordnung des Zivilen unter
das Militär, des Missbrauchs von humanitären Hilfsorganisationen für militärstrategische Ziele, der Konditionie12766
rung von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für
militärstrategische Ziele muss aufgegeben werden. Sie
müssen sich auf einen neuen Weg machen.
({1})
Kollege Alois Karl, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung.
Auf Ihre Rede, so bedeutend sie auch war, bin ich in
meiner Rede nicht eingegangen, da Sie vorhin leider
weg mussten. Sie sprechen in Ihrer Kurzintervention ein
ganz anderes Thema an. Dazu möchte ich Ihnen in aller
Klarheit sagen: Die Intervention in Afghanistan wurde
unter der Regierung von Gerhard Schröder und Joschka
Fischer eingeleitet. Wir mussten sie jetzt weiterführen.
({0})
In unserer Regierungszeit werden die deutschen Soldaten Afghanistan verlassen.
Ich sage Ihnen noch etwas: Der zivile Einsatz in
Afghanistan hat dazu geführt, dass Hunderttausende von
Mädchen erstmals eine Schule besuchen können.
({1})
Das ist ein ziviler Aspekt des Einsatzes in Afghanistan.
Wenn wir heute Tausende von Polizisten ausbilden, um
damit Afghanistan in die Lage zu versetzen, das Heft des
Handelns dort selbst in die Hand zu nehmen, dann bedeutet das eine hervorragende Perspektive für das geknechtete Land, das über Jahrhunderte nicht selbst über
sich bestimmen konnte. Ich meine, dass sich der Einsatz,
wenn sich diese Ziele alsbald realisiert haben, gelohnt
hat. Ich gratuliere und danke allen, die dort ihre schwere
und schwierige Arbeit machen.
({2})
Vielen herzlichen Dank. - Ich glaube, wir stimmen
überein, dass ich die Aussprache jetzt schließe.
Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5910 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5307,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4043 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 17:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({1}), Gisela Piltz, Manuel
Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
zu der Mitteilung der Kommission an das
Europäische Parlament und den Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
({2})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu der Mitteilung der Kommission an das
Europäische Parlament und den Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
({3})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2
des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksachen 17/5194, 17/4672, 17/5809 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Gerold Reichenbach
Hartfrid Wolff ({4})
Frank Tempel
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Ich verzichte auf die
Verlesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. Sie sind damit einverstanden.
Wir sprechen heute über zwei Anträge: über den Antrag der Koalitionsfraktionen „Katastrophenabwehr in
Europa effektiv gestalten“ und über den Antrag der
Fraktion Die Linke. Beide Anträge beruhen auf der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament
und den Rat: „Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: Die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe.“ Diese Mitteilung
der EU-Kommission an das Europäische Parlament und
den Rat soll Grundlage sein - für einen effektiveren Katastrophenschutz. Damit wird eine doppelte Zielsetzung
verfolgt: Erstens sollen bestehende europäische Abwehrkapazitäten und Notfallressourcen der Mitgliedstaaten ausgebaut werden, und zweitens soll für den Katastrophenfall ein europäisches Notfallabwehrzentrum
als neue Plattform für den Informationsaustausch und
somit eine verstärkte Koordinierung auf EU-Ebene eingerichtet werden.
Aber bei allem Verständnis für Bemühungen um Verbesserungen der Teufel steckt wieder mal im Detail: Bereits im Februar dieses Jahres befasste sich der Deutsche Bundestag mit einem Antrag der Fraktion Die
Linke. Bis heute hat sich unsere Auffassung zu diesem
Antrag nicht geändert, sodass ich, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, auf das bereits im Februar Gesagte verweisen kann.
Nun zum Antrag der christlich-liberalen Koalitionsfraktionen, der im Grundsatz die Vorschläge der Kommission, eine effektivere und effizientere Katastrophenabwehr zu entwickeln, unterstützt. Wer wollte das nicht!
Als grundsätzliche Maßnahmen dafür sind vorgesehen: die Entwicklung von sogenannten Referenzszenarien für die wichtigsten Arten von Katastrophen, die
weitere Inventarisierung bestehender nationaler Ressourcen - auch im Bereich Transport und Logistik - und
die damit verbundene Beschleunigung bei der Mobilisierung. Dazu gehört es auch, die Instrumente des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe besser miteinander zu verbinden.
Wir hoffen, dass die daraus erwarteten Synergieeffekte auch die Arbeit der Vereinten Nationen unterstützen. Eine grundsätzlich bessere Zusammenarbeit
verschiedener europäischer Einrichtungen kann nur begrüßt werden. So befürworten wir die engere Verzahnung von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
und die verstärkte Koordinierung zwischen dem Beobachtungs- und Informationszentrum - bekannt unter
dem Namen Monitoring and Information Center, kurz
MIC - und der Krisenstelle für humanitäre Hilfe,
ECHO. Aber die Schaffung einer neuen EU-Einsatzzentrale in Form eines unabhängigen und weisungsgebundenen europäischen Notfallabwehrzentrums müssen wir
ablehnen. Dies würde Art. 196 AEUV widersprechen
und ist zudem auch von Art. 214 AEUV nicht umfasst.
Eine derartige „EU-Einsatzzentrale“ würde im Übrigen
dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen, auf das ich
später noch eingehen werde.
Um dem europäischen Gemeinschaftsgedanken aber
Rechnung zu tragen, wird auch die verbesserte Sichtbarmachung der EU-Hilfen - in Form von Beschriftung auf
Transportgütern und Bekleidung - als positiv erachtet.
Es sollten aber die nationalen Symbole der Entsendestaaten weiterhin Erwähnung finden. Auch wenn dies,
oberflächlich betrachtet, als unbedeutend für die effektivere Katastrophenabwehr erscheint, so haben die Bürgerinnen und Bürger der EU ein Recht auf genaue,
umfassende Informationen über die Reaktionen der
Europäischen Union im Katastrophenfall.
Aber, da nichts so gut ist, dass es nicht noch besser
werden könnte, unterstreicht der Antrag der Koalitionsfraktionen mehrere Forderungen des Deutschen Bundestages gegenüber der Kommission. Die Ziele der Europäischen Union sind klar: Unterstützung und
Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem
Gebiet des Katastrophenschutzes, Förderung einer schnellen und effizienten Zusammenarbeit zwischen den einzelstaatlichen Katastrophenschutzstellen und Verbesserung
der Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf internationaler Ebene. So nachzulesen im Art. 196 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union,
AEUV. Das bedeutet aber auch, dass die Grenzen der
Zusammenarbeit deutlich markiert werden.
So finden wir in Abs. 2 des Art. 196 AEUV den Hinweis auf die Selbstständigkeit und das bereits erwähnte
Subsidiaritätsprinzip.
Dort heißt es - ich zitiere:
Das Europäische Parlament und der Rat erlassen,
unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, gemäß dem
ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die erforderlichen Maßnahmen zur Verfolgung der Ziele des
Absatzes 1.
Die Einhaltung des Substitutionsverbotes und die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips sind unabdingbar.
Zur Verdeutlichung: Das Substitutionsverbot meint, dass
EU-Maßnahmen nicht an die Stelle der Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten treten dürfen, sie nicht ersetzen
dürfen. Flankiert wird das Verbot vom besagten Subsidiaritätsprinzip, das bedeutet, dass auf EU-Recht nur
zurückzugreifen ist, wenn keine nationalen Vorschriften
bestehen. Will heißen: zuerst immer die kleine Einheit.
Dieses Prinzip ist eine der wesentlichen Verhaltensregeln, die sich der Staatenbund 1992 mit dem Maastrichter
Vertrag auferlegt hat. Wir kennen es aus vielen Bereichen.
Deutschland ist mit seinem dezentralen Katastrophenschutzsystem sehr gut aufgestellt. Die Feuerwehren, die
vielen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, die auf ehrenamtlichen und überwiegend kommunalen und regionalen Strukturen beruhen, haben sich in der Vergangenheit stets bewährt. In Deutschland engagieren sich über
1,36 Millionen Menschen ehrenamtlich im Katastrophenschutz.
Zu einer verantwortungsbewussten Daseinsvorsorge
des Staates aber gehört die Schaffung einer flächendeckenden Struktur im Katastrophenschutz; dies ist eine
Kernaufgabe. Viele Hilfsorganisationen - Malteser,
Johanniter, DRK, ASB, um nur einige zu nennen - und
auch die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk genießen
Zu Protokoll gegebene Reden
im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf. Und das
sehr begründet! Hier werden Kompetenz und die Verbindung zwischen Haupt- und Ehrenamt besonders deutlich
sichtbar. Die Helferinnen und Helfer beweisen das täglich in ihren inländischen und ausländischen Einsätzen.
Diesen Freiwilligen können wir dankbar sein, ja, wir
können stolz auf sie sein!
Anspruch und Ausgangsbasis darf sicherlich der
hohe deutsche Standard sein. Wenn in einem anderen
Mitgliedstaat dieser allerdings nicht erreicht wird, so ist
es zunächst Aufgabe dieses Staates, durch eigene Anstrengungen aufzuschließen. Das bedeutet: Die EU muss
koordinierend darauf hinwirken, dass die Lücken durch
die Mitgliedstaaten selbst geschlossen werden. Es darf
also durch die EU zu keiner „Vergemeinschaftung“ der
Defizite der Mitgliedstaaten im Katastrophenschutz
kommen. Ich betone aber, dass sich Deutschland seiner
solidarischen Rolle in der Europäischen Gemeinschaft
bewusst ist und sich der Verantwortung nicht entziehen
will und auch nicht wird. Deutschland hat mit seinen
Nachbarstaaten und weiteren Ländern bilaterale Hilfeleistungsabkommen geschlossen. Diese bilateralen Nothilfemechanismen sind regelmäßig zuerst zu aktivieren,
bevor auf die Katastrophenschutzinstrumente der EU
insgesamt zurückgegriffen wird. Dies ist zurzeit auch
gängige Praxis.
Ich betone erneut: Eine von den Mitgliedstaaten unabhängige, eigenständige Katastrophenabwehr auf EUEbene lehnen wir ab. Die Verantwortung hat bei den
Mitgliedstaaten zu verbleiben. Auch bei der Errichtung
eines Ressourcenpools muss das volle Verfügungsrecht
und insbesondere das Letztentscheidungsrecht über den
Einsatz der Ressourcen bei den Mitgliedstaaten verbleiben.
Nicht zuletzt die Ereignisse in Japan haben erneut
- und das sehr schmerzlich - verdeutlicht, dass Katastrophen keine ausschließlich nationalen Angelegenheiten sind. Weltweit hat sich die Zahl der Katastrophen
zwischen 1975 und heute auf das Fünffache - von 78 auf
knapp 400 - erhöht. Allein in Europa waren in den letzten 20 Jahren mehr als 29 Millionen Menschen von Naturkatastrophen betroffen. Dass die Abwehr von Katastrophen keine allein nationale Aufgabe ist, ist allen
Beteiligten bewusst. Wir müssen alle handeln, dies aber
im Rahmen von nationalem und europäischem Recht.
Abschließend fasse ich zusammen und zitiere aus unserem Antrag: Die Bundesregierung ist - erstens - aufgefordert, die Stellungnahme der Koalitionsfraktionen
als Grundlage für die Verhandlungspositionen zu
künftigen Rechtsänderungsvorschlägen im Rahmen
der Europäischen Katastrophenabwehr zu nutzen;
2. bei allen Überlegungen und Maßnahmen zum
Ausbau des europäischen Katastrophenschutzes auf
die Beachtung des Substitutionsverbots und des
Subsidiaritätsprinzips hinzuwirken;
3. Maßnahmen zu unterstützen, die das Gemeinschaftsverfahren effizienter und effektiver machen
sowie die Mobilisierung der verfügbaren Ressourcen beschleunigen, bei gleichzeitiger Förderung
der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten.
Ich darf Sie bitten, der Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu folgen.
Zunächst möchte ich für meine Fraktion klarstellen,
dass der europäische Koordinierungsmechanismus bei
internationalen Einsätzen intensiv mit dem Koordinierungsmechanismus der Vereinten Nationen zusammenarbeiten muss. Bei internationalen Einsätzen außerhalb
der EU ist der Koordinierungsmechanismus der Vereinten Nationen verbindlich, Europa ist hier nur unterstützend tätig.
Zu begrüßen ist, dass wir durch die vorliegenden Anträge heute über den Katastrophenschutz und die humanitäre Hilfe auf EU-Ebene diskutieren. Trotz aller
notwendigen Kritik an den vorliegenden Kommissionsmitteilungen bedeuten diese Vorlagen in keiner Weise
eine drohende Militarisierung der europäischen Außenpolitik und der europäischen Katastrophenhilfe.
Neben den durchaus richtigen Ansätzen im Koalitionsantrag erwarten wir, dass die Bundesregierung zügig ein eigenes Konzept für das im Lissabonner Vertrag
festgeschriebene humanitäre Freiwilligencorps vorlegt.
Teil dieses Konzeptes muss es sein, die in Deutschland
bewährten Freiwilligenstrukturen in der humanitären
Hilfe, die durch das THW, das DRK, die Feuerwehren
sowie eine weitere große Zahl nicht staatlicher Hilfsorganisationen geprägt sind, mit ihrem Potenzial und ihrer Kompetenz vernünftig einzubinden. Auch hier darf
auf europäischer Ebene kein Parallel- oder Konkurrenzmechanismus geschaffen werden. Unsere Befürchtung
ist, dass die Bundesregierung abwartet und die entsprechenden Konzepte von anderen europäischen Ländern
in deren Sinne gestaltet und vorgelegt werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten treten für eine Stärkung der Fähigkeiten und Kapazitäten
der Katastrophenabwehr und der humanitären Hilfe ein,
und dies sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene.
Ich möchte hier nur an einige Initiativen, etwa die unter Rot-Grün vorgenommene Einrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
oder auch die von der Großen Koalition fortgesetzte
Neuausrichtung im Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe des Bundes durch das Zivilschutzergänzungsgesetz erinnern. Da bekannt ist, dass Katastrophen
und Krisen nicht vor Ländergrenzen haltmachen, und
wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten tief verwurzelt sind in der Tradition internationaler humanitärer Hilfe, treten wir für eine Stärkung der internationalen Instrumente ein, auch auf europäischer Ebene.
Dabei haben wir immer betont, dass sich das subsidiäre
Prinzip im Bereich des Katastrophenschutzes bewährt
hat und auch für die europäische Ebene gelten muss.
Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefahren und Herausforderungen muss es im Interesse aller
europäischen Länder sein, zuerst die örtlichen und
Zu Protokoll gegebene Reden
nationalstaatlichen Katastrophenabwehrinstrumente zu
stärken und auszubauen. Darüber hinaus ist es für uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entscheidend, angesichts der Herausforderung und der Größe
drohender Gefahren nicht nur die Fähigkeiten des Katastrophenschutzes zu stärken, sondern verstärkt Anstrengungen zur Katastrophenprävention zu unternehmen.
Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Eindämmung des
Klimawandels als auch auf Anpassungsstrategien gegenüber den nicht mehr vermeidbaren Folgen. Stärkung
der Katastrophenprävention heißt auch stärkere Anstrengungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen, zur
Reduzierung der Verletzlichkeit moderner Gesellschaften und zum Schutz wichtiger IT-Einrichtungen und
Steuerungssysteme.
Die Zunahme internationaler Krisenherde erfordert
eine Stärkung der zivilen Fähigkeiten der Kriseninterventionen und der humanitären Hilfe, zu denen auch
Einheiten und Einrichtungen der Katastrophenabwehr
gehören. Ich erinnere nur an die wichtige Rolle, die das
Deutsche Rote Kreuz und andere zivile Hilfsorganisationen oder die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk in internationalen Krisenszenarien gespielt haben, spielen
und spielen werden.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind
bereits in der Vergangenheit nachdrücklich dafür eingetreten, die zivile gegenüber der militärischen Komponente bei der Bewältigung von Krisenlagen zu stärken,
und dies nicht nur auf bilateraler Ebene, sondern auch
im Rahmen der internationalen Mechanismen.
Wir stehen klar zur zivilen Ausrichtung des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Ich möchte
nur daran erinnern, dass alle Pläne, die es in der CDU/
CSU zu einer stärkeren Militarisierung des Katastrophenschutzes im Inland gab, sowohl bei der Föderalismusreform I als auch in der Großen Koalition am klaren
Widerstand der Sozialdemokratischen Partei gescheitert
sind. Aber wir bekennen uns auch dazu, dass natürlich
militärische Kapazitäten subsidiär im Sinne der Amtshilfe den Katastrophenschutz unterstützen können, so
wie dies unser Grundgesetz vorsieht, und dies gilt nicht
nur im Inland, sondern auch in der humanitären Hilfe im
Ausland. Dabei darf es zu keiner Verwischung der Zuständigkeiten kommen, und gerade in sogenannten komplexen Krisenlagen muss die Grenzziehung gegenüber
dem Militärischen klar und eindeutig sein. Dies gilt
nicht nur für bilaterale Hilfe, sondern auch für internationale Unterstützungsmechanismen. Aber Subsidiarität
muss bestehen. Und hier ist der Antrag der Linken eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. In bestimmten
Lagen ist die zivile Katastrophenhilfe auf die Unterstützung durch militärische Ausstattung oder Einrichtungen
angewiesen. Dies trifft insbesondere auf den Transportbereich und im Speziellen auf den Lufttransportbereich
zu. Es wäre übrigens nicht nur unökonomisch, sondern
auch eine Schmälerung der zur Verfügung stehenden
Hilfsressourcen, wenn man für solche Fälle gleiches Gerät und Material noch einmal zivil vorhalten wollte.
Darüber hinaus bedeutet Koordinierung im europäischen und internationalen Rahmen auch, die Besonderheiten anderer europäischer Länder zu respektieren.
Die Nutzung von militärischen Mitteln der Mitgliedstaaten wird durch die sogenannten Osloer Leitlinien
geregelt, auf die das Dokument 15614/10 ausdrücklich
Bezug nimmt. Und diese Osloer Leitlinien umfassen
eben nicht nur militärisches Gerät und Einrichtungen
wie zum Beispiel Transportkapazitäten, sondern auch
Einheiten und Einrichtungen des Zivilschutzes, zu denen
nach der Definition dieser Leitlinien auch das Technische Hilfswerk gehört. Die Bundesrepublik Deutschland
wird künftig nicht auf den Einsatz des Technischen Hilfswerks bei der humanitären Hilfe und bei Katastrophen
im Ausland verzichten. Viele Länder beneiden uns um
unseren zivilen Katastrophenschutz. Deshalb werden
wir ihn auch weiterhin stärken.
Ein einheitliches Bevölkerungsschutzsystem ist am
besten geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an
den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten, klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Die FDP ist seit langem der Auffassung: Der bisherige Dualismus von Zivil- und Katastrophenschutz
muss überwunden und die Zuständigkeit klar geregelt
werden. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen
und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des Staates.
Die Einwände der Linken gegen sachorientiertes Zusammenwirken diverser staatlicher Stellen überzeugen
uns nicht, wenn der Primat der zivilen Politik gewahrt
bleibt. Allerdings teilen wir durchaus die Kritik an den
Zentralisierungsabsichten der EU. Das gezierte antimilitärische Brimborium des Linken-Antrags entspricht
nicht unserem Anliegen; aber wir teilen die Ablehnung
von EU-Rechtsakten für eine europäische Katastrophenabwehr. Wie der Antrag der Linken zu Recht ausdrückt,
ist auch davor zu warnen, die Sichtbarkeit der EU-Hilfen als Selbstzweck zu verfolgen.
Bei der Katastrophenabwehr kommt es in erster Linie
auf das Vorhandensein leistungsfähiger und effizienter
Katastrophenabwehrkapazitäten in den Mitgliedstaaten
an. Die Bereitstellung eigener Ressourcen auf EUEbene einschließlich der operativen Verfügungsgewalt
der Kommission über diese Ressourcen würde die Mitgliedstaaten aus ihrer Eigenverantwortung entlassen,
statt diese zu fördern; das wäre kontraproduktiv. Zudem
würde sie gegen Art. 196 AEUV verstoßen. Die Unterstützung und Ergänzung durch die EU darf sich danach
allein auf die Tätigkeit der Mitgliedstaaten beziehen.
Für eine parallele Zuständigkeit der Union gibt es keine
Rechtsgrundlage. Basis für gemeinsame Einsätze sind
daher allein die Ressourcen der Mitgliedstaaten. In der
Bundesrepublik Deutschland sind für den operativen
Bereich maßgeblich die Länder zuständig. Im dezentralen deutschen Katastrophenschutzsystem spielen vor allem die Feuerwehren sowie viele nicht staatliche
Hilfsorganisationen eine Rolle, die auf bewährten ehrenamtlichen und überwiegend kommunalen und regioZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
nalen Strukturen beruhen. Das Technische Hilfswerk
steht regelmäßig auch bei Katastrophen im inner- und
außereuropäischen Ausland zur Verfügung.
Es ist nicht Aufgabe der EU, eine eigene Katastrophenabwehr neben derjenigen der Mitgliedstaaten aufzubauen. Dies würde nicht zuletzt die hervorragenden
ehrenamtlichen Kräfte des Bevölkerungsschutzes in
Deutschland in ihrer Arbeitsweise maßgeblich beeinträchtigen.
Am vergangenen Sonntag, dem 22. Mai, eröffnete die
Außenbeauftragte der Europäischen Union, Catherine
Ashton, eine Vertretung der EU in der libyschen Stadt
Bengasi. Diese wird in demselben Gebäude untergebracht sein wie die Vertretung der Vereinten Nationen
und zahlreiche internationale Organisationen, darunter
auch das Office for the Coordination of Humanitarian
Affairs, OCHA, der UN. Von dessen Zustimmung hängt
die Durchführung der EU-Militärmission EUFOR Libya
ab, die gegenwärtig vorbereitet wird. Offiziell soll dieser
Einsatz humanitäre Ziele verfolgen, aber auch Bodentruppen, unter anderem aus der European Battlegroup,
beinhalten. Wie praktisch, dass sich der Europäische
Auswärtige Dienst, EAD, der diesen Einsatz vorbereitet,
in Bengasi bereits mit der humanitären Organisation,
die ihm das Plazet erteilen soll, ein Dach teilt.
Viele humanitäre Organisationen haben sich jedoch
sehr deutlich gegen einen solchen geplanten Militäreinsatz der EU gewandt, weil sie unter diesen Bedingungen
ihre Arbeit kaum fortsetzen könnten. Sie nehmen der EU
auch ganz zu Recht ihre humanitäre Zielsetzung nicht
ab, weil die EU zugleich Flüchtlinge aus Libyen brutal
zurückweist und ertrinken lässt. Die Linke schließt sich
hier den Ärzten ohne Grenzen an, die vor einer Woche in
einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs
der EU schrieben:
Einerseits erheben die EU-Staaten den Anspruch,
mit dem Eingreifen in den Krieg Zivilisten zu schützen. Andererseits schließen sie gleichzeitig die
Grenzen für die Opfer dieses Krieges - unter dem
Vorwand, einen massiven Zustrom illegaler Einwanderer verhindern zu müssen.
Ihre vermeintliche Humanität hört spätestens an den
EU-Außengrenzen auf und ist an Ihrem Umgang mit
schutzsuchenden Menschen erkennbar. Statt immer nur
zu schießen, sollten Bundesregierung und EU endlich
anfangen, tatsächlich zu helfen, indem man Schutzsuchende aufnimmt.
Wie katastrophal die Folgen eines militärischen Einsatzes zur humanitären Hilfe sein können, hat sich Anfang der 1990er-Jahre in Somalia gezeigt. Das Scheitern dieses Konzeptes bei der UN-Mission UNOSOM
und dem US-Einsatz „Restore Hope“ hat Folgen bis
heute. Fast 9 Millionen Menschen am Horn von Afrika
sind nach Angaben des World Food Programme, WFP,
von Lebensmittellieferungen abhängig. Am 18. Mai
warnten Hilfsorganisationen vor einer weiteren Verschärfung des Hungers in Somalia aufgrund ausbleibender Regenfälle und fehlender finanzieller Mittel. Etwa
53 Millionen US-Dollar würden benötigt, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch was tut die
EU? Sie finanziert aus den Mitteln des Europäischen
Entwicklungsfonds einen sinnlosen Häuserkampf zwischen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia,
AMISOM, und Milizen in Mogadischu, der jährlich
500 Millionen US-Dollar verschlingt. Das alles hat sehr
viel mit der Mitteilung der Kommission zu europäischem
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu tun; denn
all diese Maßnahmen werden vom EAD koordiniert.
Dieser soll zukünftig eine noch zentralere Rolle bei
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe spielen und
- so die EU-Kommission - die „Kohärenz zwischen der
Katastrophenabwehr einerseits und möglichen politischen und sicherheitspolitischen Elementen“ verbessern. Der EAD hat aber den Zweck - das hat die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in ihrer Rede vor dem
Europäischen Parlament am 10. März 2010 sehr deutlich gesagt -, den europäischen Zugriff auf die weltweiten Rohstoffvorkommen und Absatzmärkte zu verbessern
und gegen die aufstrebenden Schwellenländer zu verteidigen. Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe verkommen somit zum bloßen Instrument imperialer
Machtpolitik. Die Begriffe „Schutz“, „Hilfe“ und „Humanität“ verlieren damit, wie durch die in ihrem Namen
durchgeführten bzw. anvisierten Regime Changes in
Côte d’Ivoire, immer weiter an Legitimität und Substanz. Schutzbedürftige werden von der Bundesregierung und der EU instrumentalisiert, und fast könnte man
argwöhnen, dass die deutschen und europäischen Außenpolitiker von CDU bis SPD und von Grünen bis FDP
auf die nächste Katastrophe warten, um unter dem
Deckmantel des Katastrophenschutzes intervenieren zu
können.
Im Sahel beispielsweise hat in den vergangenen Jahren eine Katastrophe die andere abgelöst. Dürren folgten heftige Regenfälle und hinterließen fast 10 Millionen
Menschen abhängig von Lebensmittellieferungen. Auch
wenn diese Wetterphänomene in dieser Region nicht neu
sind, liegt ein Zusammenhang mit dem Klimawandel und
damit auch mit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise
nahe. Wie reagierte hier die EU? Die Außenbeauftragte
Ashton hat vor wenigen Wochen ihren Entwurf für eine
Sahel-Strategie vorgelegt. Von den vorangegangenen
Dürren ist hierin nicht die Rede, dafür umso mehr von
Terrorismus und organisierter Kriminalität, die auch
Pipelines und die Sicherheit der Bürger in der EU gefährden würden. Not und Hunger der Bevölkerung
scheinen in diesem Papier nur insoweit eine Rolle zu
spielen, als sie den „Nährboden“ für Terrorismus bereiten würden. Die Notwendigkeit von Hilfslieferungen
wird hier nicht durch das Gebot der Menschlichkeit oder
der Solidarität begründet, sondern dadurch, dass damit
das Vertrauen in den Staat gestärkt und der Einfluss der
Islamisten zurückgedrängt werden könnte. Das finde ich
abscheulich; dies ist ein menschenverachtendes Dokument!
Im Kern geht es in der Sahel-Strategie jedoch darum,
die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den
Sahel-Staaten - allesamt keine Staaten, die man als
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Rechtsstaaten bezeichnen könnte - zu fördern und diese
polizeilich und militärisch aufzurüsten. 700 Millionen
Euro unter anderem aus dem „Instrument für Stabilität“
sind hierfür vorgesehen. Aus dem Europäischen Entwicklungsfonds sollen weitere Mittel mobilisiert werden: fast 1 Milliarde Euro für Regierungen, die aus
Militärputschen hervorgegangen sind, und für deren
Streitkräfte, welche die eigentliche Macht im Staate darstellen. Das ist eine Nachricht, die sehr wohl verstanden
wurde: Vergangene Woche haben die Außenminister Algeriens, Nigers, Malis und Mauretaniens in Bamako zugesagt, bis zu 75 000 Soldaten für den Krieg gegen den
Terror bereitzustellen. Die Nachricht kam auch bei der
jeweiligen Opposition an, die bereits eindringlich vor
einer weiteren Militarisierung des Sahel warnt. 1 Milliarde Euro und 75 000 Soldaten gegen 300 mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer, das ist unglaubwürdig. Offensichtlich geht es hier um die militärische Stabilisierung
autoritärer Regime. Finanziert werden soll diese aus
denselben Töpfen, die in der Mitteilung der Kommission
dem Katastrophenschutz und der humanitären Hilfe dienen sollen. Damit entlarvt sich endgültig, was hier unter
Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu verstehen
ist. Die Linke lehnt nach wie vor die Unterstützung von
autoritären Regimen ab!
Im Gegensatz zu allen anderen hier vertretenen Fraktionen lehnt die Linke das Konzept der vernetzten
Sicherheit, das den Vorschlägen der Kommission
zugrunde liegt, ab. Die Linke ist ebenso gegen die Instrumentalisierung humanitärer Hilfe für sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen wie gegen die
zunehmende Militarisierung des Bevölkerungsschutzes
innerhalb der EU, die beide untrennbar mit diesem Konzept verbunden sind. Die Linke ist für die strikte Trennung von militärischen und zivilen Kapazitäten und den
konsequenten Abbau Ersterer zugunsten Letzterer. Nur
durch den Ausbau rein ziviler und unabhängiger Kapazitäten des Bevölkerungsschutzes und deren möglichst
bevölkerungsnahe - das heißt kommunale und föderale Kontrolle kann ihre Instrumentalisierung verhindert und
ihre Effizienz gewährleistet werden. Denn der Schutz
und die Hilfe für Menschen in Not ist kein Mittel zum
Zweck, sondern reiner Selbstzweck - und so muss es
auch bleiben.
Wir begrüßen den Vorstoß der Europäischen Kommission für Verbesserungen der Zusammenarbeit im Katastrophenschutz. Menschen unmittelbar, schnell und
wirksam Soforthilfe bei Katastrophen zukommen zu lassen, ist ein vorrangiges Ziel der Solidargemeinschaft
EU. Die Katastrophe von Fukushima hat uns einmal
mehr und auf ganz brutale Weise aus dem täglichen Verdrängen der Möglichkeit einer derartigen, vorher in diesem Ausmaß für uns alle unvorstellbaren Katastrophe
gerissen. Schmerzhaft vor Augen geführt wurde uns, in
welchem Ausmaß unser gewohnter Alltag durch katastrophische Entwicklungen bedroht ist, die zudem oftmals in vielerlei Hinsicht menschengemacht und damit
grundsätzlich vermeidbar erscheinen. Und so muss nach
Fukushima auch für den Katastrophenschutz gelten:
Business as usual geht nicht mehr.
Wer von einer veränderten Sachlage bei der Bewertung der Atompolitik ausgeht, wie dies die Bundesregierung nunmehr von sich behauptet, muss auch beim Katastrophenschutz konsequent sein. Die Risiken von
Großschadenslagen - das hat Japan gezeigt - können
kumulativ eintreten, und sie sprengen alle unsere bisherigen Übungs- und Einsatzszenarien. An die Politik
gewendet gilt hier stets die Frage: Haben wir alles Menschenmögliche getan, um die etwaigen Folgen derartiger Katastrophen bestmöglich abzumildern oder sie gar
im Vorfeld zu verhindern? Das Undenkbare denken und
Vorsorge treffen, darin besteht die Herausforderung des
Bevölkerungsschutzes, auch wenn und gerade weil wir
wissen: Katastrophen sind per se das zumeist nicht
Planbare, das Unvorhersehbare. Und: Das Ereignis
selbst muss noch nicht automatisch zu einer Katastrophe
werden.
Tatsächliche Katastrophen, die im Grunde genommen
ja nichts anderes sind als die Überforderung einer Gesellschaft, mit einer bestimmten Bedrohung adäquat umzugehen, entstehen oftmals erst durch das Zusammenspiel vielfältiger Faktoren, von denen die einen mehr
beeinflusst, die anderen weniger beeinflusst werden können. Sicher ist: Die Vulnerabilität unserer modernen
Gesellschaften auf einem möglichst geringen Niveau zu
halten, ist wohl die größte Herausforderung für den Katastrophenschutz. So wissen wir alle: Der technologische Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits
ermöglicht er uns, frühzeitig potenziell katastrophale
Entwicklungen einzuschätzen und sie zu bekämpfen, andererseits sind die Folgen einer erst einmal eingesetzten
Katastrophe durch die Abhängigkeit moderner Gesellschaften von kritischen Infrastrukturen hoch. Wir wissen: Für eine möglichst effektive Begegnung der Auswirkungen eines potenziell katastrophalen Ereignisses
ist eine koordinierte Vorgehensweise aller hieran Beteiligten von immenser Bedeutung. Wir wissen auch: Katastrophen kennen keine Grenzen. Daher begrüßen wir es,
dass die EU mit ihrer Mitteilung Vorschläge für notwendige Einzelschritte einer verbesserten EU-Krisenabwehr vorgelegt hat. Anstrengungen in dieser Richtung
reichen bereits einige Jahre zurück, darunter hervorzuheben insbesondere der Barnier-Report.
Der Ansatz der Kommission ist in seinen wesentlichen Punkten zu begrüßen. Besonders wichtig und hervorzuheben ist, dass die Katastrophenvorsorge seitens
der Kommission auch als primäre Prävention von Risikoherden mitgedacht wird und hier weitere konkrete
Schritte angekündigt werden. Denn wir müssen vor allem an die Ursachen von Krisen, an die Risikoherde ran.
Als gutes Beispiel hierfür mag die neueste TAB-Studie
des Deutschen Bundestages dienen, die mit Blick auf das
besonders gefährliche Szenario breitflächiger und länger andauernder Stromausfälle eine Abkehr von zentralisierten Stromnetzen und eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien empfiehlt, mit denen robustere dezentrale Stromnetze auch in Katastrophenfällen aufrechterhalten werden können. Gleichwohl gilt der alte
Spruch, wonach bei aller Prävention die nächste KataZu Protokoll gegebene Reden
strophe bestimmt kommen wird, auch hier bei uns in einem vermeintlich besonders sicheren und gut organisierten Gemeinwesen. Sie wird uns auf dem falschen Fuß
erwischen, und sie wird natürlich - verzeihen Sie mir
diese von vielen schon als Phrase empfundene Wendung
- vor allem eines nicht machen, nämlich an nationalen
Grenzen innehalten. Diese Erfahrung kennen wir zur
Genüge bei den typischen Hochwasserkatastrophen, die
unser Land immer wieder treffen. Zum Glück kennen wir
sie noch nicht für anders gelagerte Fälle, zum Beispiel
Terroranschläge mit katastrophischen Auswirkungen,
oder gar Atomkatastrophen. So unwahrscheinlich diese
Möglichkeiten immer noch vielen erscheinen mögen, die
Aufgabe des Katastrophenschutzes muss diese Szenarien
aufnehmen und verarbeiten.
Genau deshalb ist es überhaupt nicht zureichend,
wenn die Koalitionsfraktionen beantragen, weiterhin
nahezu ausschließlich auf nationale Bewältigungs- und
Koordinationskapazitäten der Mitgliedstaaten zu setzen
und der Europäischen Union lediglich eine reaktive
Rolle zuzuweisen. Damit wird einmal mehr eine Herangehensweise im Bevölkerungsschutz perpetuiert, die
noch immer meint, gesetzliche Aufgabenverteilungen
und Befugnisse zum Maßstab für die Bewertung der
Realität sprich: konkrete Krisenszenarien nehmen zu
können.
Als trauriges Ergebnis zu besichtigen ist unter anderem deshalb ein nationales System des Krisenmanagements, das sich keinem Laien mehr erschließt und bei
einer schweren Katastrophe vermutlich völlig unzureichende Koordinierungsleistungen erbringen würde.
Umgekehrt hingegen würde ein Schuh draus, denn erst
in der konkreten Auswertung realistischer Krisenszenarien und Übungen erschließt sich induktiv der Bedarf
bei den Bewältigungsstrukturen. Die Vorschläge der
Kommission sind ein schlüssiger Schritt für die Bewältigung grenzüberschreitender Szenarien hier bei uns in
Europa, aber auch für den Einsatz von EU-Mitteln in
Drittstaaten.
Einig sind wir uns hier im Bundestag offenbar, was
die Notwendigkeit der Planung auch auf EU-Ebene für
bestimmte Szenarien, die Inventarisierung von nationalen Ressourcen und die beschleunigte Mobilisierung der
Ressourcen angeht.
Die Sorge der Linken, dass die Pläne der Kommission
eine Militarisierung des Bevölkerungsschutzes einläuten
könnten, teilen wir nicht. Auch wir würden derartige
Entwicklungen selbstverständlich ablehnen. Die Mitteilung bekennt sich jedoch eindeutig zu den Oslo-Leitlinien und damit zu dem Grundsatz, dass nur im absoluten Ausnahmefall eine entsprechende Heranziehung militärischer Kräfte infrage kommt.
Die Zusammenlegung der Krisenstellen des MIC,
Monitoring and Information Centre, und der GD ECHO,
Generaldirektion Humanitäre Hilfe der Europäischen
Kommission, ist konsequent, weil es zahlreiche Überschneidungen zwischen den Katastrophenschutzanforderungen und der humanitären Hilfe - Schutz und Versorgung, die über Erstversorgung hinausgeht - gibt und
es aus unserer Sicht durchaus Sinn macht, die notwendige Vorbereitungs- und Planungsarbeit von den rein reaktiven, auf die Ad-hoc-Zurufe der Mitgliedstaaten angewiesenen Maßnahmen zu lösen, um so die rasche und
effiziente Handlungsfähigkeit in Notfällen aufzubauen
und zu gewährleisten. Die Behauptung der Koalitionsfraktion, damit würde das bundesdeutsche bewährte
System der Präsenz von Millionen von Helferinnen und
Helfern in der Fläche infrage gestellt, teilen wir explizit
nicht, zumal sie auch nicht näher begründet wird. Vielmehr wird unser bewährtes System insbesondere der ehrenamtlichen Mitarbeit in einer Vielzahl von Hilfsorganisationen weiterhin neben und kumulativ zu den
Koordinierungsaufgaben auf nationaler wie auch europäischer Ebene zur Anwendung kommen.
Den Einwand der fehlenden Rechtsgrundlage für eine
derartige Verbindung bereits bestehender und zulässiger
Kompetenzen sehen wir nicht, wenn bei der rechtlichen
Ausgestaltung entsprechend präzise festgelegt wird, worin die konkreten Aufgaben und Befugnisse liegen können und sollten. Fragen des Bevölkerungsschutzes sind
mit einer besonders hohen Verantwortung verbunden
und geben Anlass, von kurzfristigen politischen Überlegungen abzusehen sowie auch bei bestimmten abstrakteren Leitlinien des eigenen politischen Handelns Vorsicht
walten zu lassen. Mögen die oft vorgetragenen Bedenken hinsichtlich eines sich verselbstständigenden Ausbaus des europäischen Agenturwesens in Einzelfällen
durchaus ihre Berechtigung haben, so dürfen diese doch
nicht zu einer pauschalen Ablehnung notwendiger und
in der Sache gerechtfertigter Erweiterungen europäischer Handlungsmöglichkeiten führen. Die Vorbereitung
auf und die Unterstützung bei Katastrophen, die an unseren Landes- wie auch Staatsgrenzen nicht haltmachen
und deren Bewältigung außerordentliche Anstrengungen
erfordern, zählt zu diesen notwendigen Erweiterungen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/5809. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/5194 mit dem Titel „Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten“. Es handelt
sich hier um eine Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes zu
der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Auf dem Weg zu einer verstärkten
europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Enthaltungen? Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4672 zu der eben genannten Mitteilung der
Kommission. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! Vizepräsident Eduard Oswald
Fraktion Die Linke. Enthaltungen somit keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Achten Gesetzes zur Änderung des StasiUnterlagen-Gesetzes
- Drucksache 17/5894 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Rechtsausschuss
Mir sind eine Reihe von Rednerinnen und Rednern
gemeldet. Ich gehe der Reihenfolge nach vor.
Erste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp für die
Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin
Philipp.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle wissen es: Kaum ein Gesetz verlässt den Deutschen Bundestag so, wie es eingebracht wurde. Weil
jetzt und heute schon feststeht, dass es eine Anhörung
zum Stasi-Unterlagen-Gesetz geben wird, die wir als
CDU/CSU-Fraktion besonders ernst nehmen werden,
weil die Betroffenen dort in großer Anzahl anwesend
sein werden und angehört werden sollen, weil wir jetzt
schon Änderungsbedarf kennen, der aus den Fraktionen
angemeldet wurde, und weil wir in einer so sensiblen
Angelegenheit wie der des Umgangs mit Stasiunterlagen
auf eine breite Mehrheit in diesem Hohen Hause hoffen,
({0})
wären wir bereit gewesen, unsere Reden heute zu Protokoll zu geben, so wie es im Übrigen im Ablaufplan vorgesehen war.
Auch der Verlauf der Beiratssitzung am Montag dieser Woche war ein so eindeutiger und einstimmiger
Beweis des Vertrauens für Roland Jahn über alle Parteigrenzen hinweg - ich unterstreiche das ganz ausdrücklich; alle wissen, warum ich das tue -, dass dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen ist, außer dass man
Roland Jahn vielleicht ermuntern könnte und sollte, auf
seinem Weg fortzuschreiten.
({1})
Meine Damen und Herren, jedem, der es bisher noch
nicht wusste, sage ich: In einer Aktuellen Stunde am
28. Januar 2010 wurde besonders deutlich, dass die
Überprüfungsfristen im Stasi-Unterlagen-Gesetz würden
verlängert werden müssen. Denn im Brandenburger
Landtag, der im September 2009 gewählt worden war,
hatten 7 von 88 Abgeordneten eine Stasivergangenheit,
entweder als offizielle oder als inoffizielle Mitarbeiter.
({2})
Diese 7 Abgeordneten waren von der Linksfraktion. Ein
Abgeordneter wurde daraufhin sogar aus der Linksfraktion ausgeschlossen - etwas, das wir Ihnen gestern in einem anderen Zusammenhang nahegelegt hatten, anscheinend aber erfolglos. So weit die Vergangenheit, von
der manche vielleicht schon glaubten, man müsse sich
damit in dieser Hinsicht nicht mehr befassen.
Auch heute, da wir in erster Lesung die Novellierung
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beraten, gibt es in Brandenburg wieder eine Stasidiskussion. Ich finde sie eigentlich empörend. Der Justizminister, Dr. Volkmar
Schöneburg von der Linkspartei,
({3})
musste Anfang Mai dieses Jahres bekannt geben, dass
bei 13 Brandenburger Richterinnen und Richtern eine
haupt- bzw. nebenamtliche Stasitätigkeit bekannt sei
oder bekannt gewesen sei. Mehr noch: Bei insgesamt
152 Angehörigen der Brandenburger Justiz gibt es Hinweise auf eine frühere Stasitätigkeit.
({4})
Die sich daraus ergebende Konsequenz, alle Richterinnen und Richter auf eine frühere Stasitätigkeit hin zu
überprüfen, zieht der Justizminister nicht einmal in Betracht.
({5})
Ich zitiere aus einem Interview mit dem brandenburgischen Justizminister, zu lesen in der Märkischen Allgemeinen vom 18. Mai dieses Jahres:
Ich halte das
- er meint eine Überprüfung für unverhältnismäßig. Es kann nicht darum gehen,
allein die Neugierde zu befriedigen.
({6})
Befriedigung von Neugier? Man kann es gar nicht glauben. Welche Auffassung vom Richteramt spricht aus einer solchen Aussage, welcher Anspruch an den eigenen
Stand? Welche - ich formuliere es einmal etwas locker Dickfälligkeit - „mangelnde Sensibilität“ beschreibt es
zu wenig - in Bezug auf die Integrität des öffentlichen
Dienstes und der Richterschaft in Besonderheit spricht
daraus? Glauben Sie, dass die Opfer dafür Verständnis
haben? Glauben Sie, dass es in einem Rechtsstaat akzeptabel ist, wenn ein Richter, der nach einem Bericht des
RBB-Magazins Klartext zu DDR-Zeiten Haftbefehle ge12774
gen Ausreisewillige erlassen hat, sein Amt ausüben
kann?
({7})
Konkret ging es um den Fall der Filmemacherin
Sibylle Schönemann und ihres Mannes. Beide waren für
die DEFA tätig und stellten einen Ausreiseantrag. Mit
der Begründung „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ wurden die beiden inhaftiert.
Den beiden damals sechs- und achtjährigen Töchtern
wurde bei der Festnahme der Eltern gesagt, sie seien am
Nachmittag zurück.
({8})
Die Familie sah sich nach einem Jahr im Westen wieder.
Die Familie war freigekauft worden. Der Richter, der damals die Haftbefehle erlassen hat, ist heute immer noch
als Richter in Potsdam tätig. Ich finde das unglaublich.
({9})
Das ist eigentlich unzumutbar, nicht nur für Stasiopfer,
sondern auch für jeden anderen, der dort vor Gericht
steht.
({10})
Da spricht ein Justizminister von Unverhältnismäßigkeit, wenn Richterinnen und Richter überprüft werden
sollen, und von Neugier. Ist es nicht eher unverhältnismäßig, die Biografien der vielen Stasiopfer zu missachten und zu verdrängen? Nicht nur bei der Brandenburger
Justiz, sondern auch bei der Brandenburger Polizei kamen aktuell drei Stasifälle ans Licht. Aber auch dies
bleibt wohl ohne Konsequenzen. Die Menschen sind irritiert, die Opfer empört und erneut verletzt. Dieser Justizminister, so meinen wir, ist untragbar.
({11})
Meine Damen und Herren, warum novellieren wir das
Stasi-Unterlagen-Gesetz nun schon zum achten Mal?
Abgesehen davon, dass die Chronologie dieses Gesetzes
sehr interessant ist, zeigt sie deutlich, wie sensibel mit
diesem Gesetz auf unterschiedliche Entwicklungen reagiert wurde, indem man es aktualisierte, das heißt novellierte. Unser Kollege Hartmut Büttner hat bereits am
14. November 1991 im Deutschen Bundestag angedeutet, dass es bei den Novellierungen immer wieder um
Anpassungen an die Realität gehen wird. Ich habe leider
nicht genug Zeit, das ausführlicher vorzutragen, aber im
Wesentlichen geht es um folgende Neuerungen:
Erstens. Die Überprüfungsfrist soll bis zum 31. Dezember 2019 verlängert werden.
Zweitens. Der überprüfbare Kreis soll erweitert werden.
Drittens. Auch für nahe Angehörige soll der Zugang
zu den Akten Verstorbener und Vermisster erleichtert
werden.
Meine Damen und Herren, ich habe eben darauf hingewiesen, dass wir für die bereits anberaumte Anhörung
sehr offen sind. Deswegen kann ich mich an dieser Stelle
kurzfassen.
Ich möchte damit schließen, dass der SPD-Vordenker
Egon Bahr jüngst wieder einmal einen Schlussstrich gefordert hat. Seine Rede zum 75. Geburtstag des ehemaligen Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe
ist so unglaublich, dass man einfach fassungslos davor
steht. Zu den unglaublichen Passagen gehört auch seine
Beurteilung des Bemühens von Roland Jahn, nach einer
Lösung für die 47 ehemaligen Stasimitarbeiter in der
Stasi-Unterlagen-Behörde zu suchen. Wir sollten Roland
Jahn bei seiner Suche nach Lösungen unterstützen, statt
ihn mit böswilligen Unterstellungen zu beleidigen.
({12})
Wie gesagt: Wir hoffen diesmal auf einen breiten
Konsens bei der Novellierung und meinen, dass wir das
den Opfern schuldig sind.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Frau Kollegin Philipp.
Ich will jetzt Folgendes geschäftsleitend sagen: Der
Kollege Wolfgang Thierse hat seine Rede für die Sozial-
demokraten zu Protokoll gegeben. Des Weiteren haben
unser Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und auch die Frau Kollegin
Dr. Lukrezia Jochimsen ihre Reden zu Protokoll gege-
ben1). Auf Wunsch der Fraktionsgeschäftsführung der
Linken weise ich darauf hin, dass sie wegen Krankheit
hier nicht anwesend sein kann.
({0})
Somit machen wir jetzt in der Reihenfolge weiter, die
mir vorliegt. - Das Wort hat jetzt zunächst der Kollege
Reiner Deutschmann für die Fraktion der FDP. Bitte
schön, Kollege Reiner Deutschmann.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Aufarbeitung des Stasi-
unrechts ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten Leis-
tungen infolge der friedlichen Revolution von 1989. Ich
bin stolz darauf, dass es gelungen ist, die Akten der Stasi
im Interesse der Opfer, aber auch im Interesse der Bür-
gerinnen und Bürger und vor allen Dingen auch der
Nachwelt zu sichern und aufzuarbeiten.
Inzwischen liegt es 21 Jahre zurück, dass beherzte
Frauen und Männer mit der Besetzung der Stasizentrale
1) Anlage 4
in Berlin-Lichtenberg und anderer regionaler Stasieinrichtungen, wie beispielsweise auch in Leipzig und Erfurt, die Akten sicherten. Garant für die Aufarbeitung
der damals gesicherten Akten ist das 1991 beschlossene
und heute zur Novellierung vorliegende Stasi-Unterlagen-Gesetz.
Der darin geregelte sehr sensible und transparente
Umgang mit den Akten entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen. Wenn bei der Aufarbeitung in
den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Großes geleistet
wurde, so besteht doch noch immer ein riesiger Handlungsbedarf bei der Erschließung der Akten.
Mit der uns heute vorliegenden Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verlängert die christlich-liberale Koalition eine der wichtigsten Regelungen des Gesetzes bis
zum Jahre 2019. Die Überprüfung von Angestellten und
Beamten des öffentlichen Dienstes und anderer sensibler
öffentlicher Bereiche bleibt damit möglich. Zugleich haben wir uns ganz bewusst entschlossen, den überprüfbaren Personenkreis wieder auszuweiten, nachdem er 2007
eingeschränkt worden ist.
Warum tun wir das? Es geht nicht darum, den zuletzt
geschätzten über 90 000 offiziellen und über 150 000 inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit ein erfolgreiches Berufsleben und ihren Platz in der Gesellschaft
zu verwehren. Wir wollen nur nicht, dass ehemalige Stasimitarbeiter in sensible Positionen des öffentlichen
Dienstes und anderer staatsnaher Einrichtungen gelangen können.
({0})
Die Staatssicherheit hat Karrieren verhindert, Existenzen vernichtet und Lebensläufe negativ beeinflusst.
Was die Stasi ihren Opfern anzutun in der Lage war,
kann man sehr gut im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in der jetzigen Gedenkstätte in
Berlin-Hohenschönhausen erleben. Es ist den Opfern
nicht zuzumuten, dass die Täter ungehindert in der öffentlichen Verwaltung des wiedervereinigten Deutschland Karriere machen, während die Opfer bis heute unter
den Folgen der Drangsalierung zu leiden haben.
({1})
Wie aktuell das Thema ist, zeigen die jüngsten Stasifälle aus Brandenburg. Meine liebe Kollegin Beatrix
Philipp hat dazu ja schon einiges im Detail erläutert.
Hier ist es über Jahre hinweg versäumt worden, diese
Dinge aufzuarbeiten. Ich denke, es ist manches nachzuholen. Man kann Herrn Platzeck nur empfehlen, endlich
tätig zu werden.
Aber auch in den alten Bundesländern herrscht Nachholbedarf. Schließlich waren dort 3 000 IM für die Auslandsspionageabteilung tätig, und zwar insbesondere in
Bundesministerien und Bundesbehörden. Viele von ihnen leben heute unenttarnt.
Für uns bleibt klar: In der Aufarbeitung darf nicht
zwischen Ost und West unterschieden werden. Diese
Novellierung darf als bewusstes Signal der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP, verstanden werden, dass es zur Aufarbeitung des Stasiunrechts keine
Alternative gibt. Auch in diesem Sinne stellen wir uns
voll und ganz hinter Roland Jahn. Mit uns wird es keine
Schlussstrichdebatte geben.
Danke.
({2})
Vielen Dank, Kollege Rainer Deutschmann. - Jetzt
spricht für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Marco Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Wanderwitz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Margit Funk, Anne Gabel, Hanni und Helmi Geyer,
Elisabeth Garske, Jutta Giersch, Helgard Göttert, Margot
Jann, Magda Müller, Martel Oerthel, Sigrid Seime und
Maria Stein kennen Sie vielleicht nicht - noch nicht.
Diese Frauen sind die Gründungsmitglieder des Frauenkreises der ehemaligen Hoheneckerinnen, der sich am
26. April 1991 gegründet hat.
Warum spreche ich das heute an? Ich glaube, die
meisten von uns wissen, was sich abgesehen davon, dass
es ein Ortsteil einer schönen erzgebirgischen Stadt in
meinem Wahlkreis ist, alles hinter Hoheneck verbirgt,
nämlich das berüchtigte Frauenzuchthaus der ehemaligen DDR, in dem viele Tausend der über 180 000 politischen Gefangenen der ehemaligen DDR jahrelang gesessen haben. 34 000 von ihnen sind im Übrigen für rund
3,5 Milliarden DM freigekauft worden: organisierter
Menschenhandel der SED.
({0})
- Ich denke, den Zuruf „Und der Bundesrepublik!“ von
einer Kollegin, den ich eben gehört habe, können wir
gerne ins Protokoll aufnehmen. Dem brauchen wir nicht
mehr viel hinzuzufügen, um deutlich zu machen, dass
Sie immer noch nichts verstanden haben.
({1})
Wir haben am 13. Mai - das war am Freitag der vorvergangenen Woche - einen Festakt zum 20. Jahrestag
der Gründung des Frauenkreises in Hoheneck begangen,
unter anderem im Beisein unseres Bundespräsidenten,
der eine beeindruckende Rede gehalten hat, wie auch
vieler der betroffenen Frauen, die dort anwesend waren,
und auch im Beisein unseres Stasiunterlagenbeauftragten, Roland Jahn, und des ARD-Vorsitzenden und SWRIntendanten Peter Boudgoust. Er war dort, weil am
9. November um 20.15 Uhr der große SWR-Fernsehfilm
Hoheneck war gestern ausgestrahlt wird.
Auf der Homepage des SWR findet sich eine Kurzzusammenfassung:
Carola Weber erschrickt bis ins Mark, als sie den
neuen Kollegen ihres Mannes Jochen zum ersten
Mal hört - diese Stimme kennt sie aus der
schlimmsten Zeit ihres Lebens. Carola ist überzeugt, dass Dr. Limberg Arzt im Dienst der Stasi
war und sie während ihrer Haftzeit im DDR-Frauengefängnis Hoheneck misshandelte. Carola konfrontiert den Arzt mit ihrer Erinnerung, doch
Limberg streitet ab. Getrieben von dem Bedürfnis,
ein Bekenntnis des Arztes zu hören, versucht
Carola alles, um Limbergs Identität zu beweisen.
Eine Geschichte aus dem wahren Leben der ehemaligen
DDR.
Besonders bedrückend finde ich den Teil, der nach
der friedlichen Revolution spielt und den es leider so
auch nicht nur einmal gegeben hat. Deswegen möchte
ich heute der ARD herzlich für dieses Programm am
9. November danken,
({2})
zu dem mehr als nur der Spielfilm gehört. Beispielsweise wird noch eine Dokumentation über Hoheneck gezeigt, und es sollen Diskussionen stattfinden.
Erinnerung darf nie zu Ende sein. Denn zum einen
sind die Täter unter uns und viele noch immer unerkannt. Zum anderen ist es für zukünftige Generationen
wichtig - gerade das ist das Anliegen der Frauen von Hoheneck -, nicht zu vergessen und die richtigen Lehren
aus den Problemen der Vergangenheit zu ziehen. Die
Opfer fühlen sich häufig - Kollegin Philipp hat das
schon angesprochen - allein gelassen, unverstanden,
nicht ausreichend rehabilitiert und vor allen Dingen im
Verhältnis zu den Tätern nicht hinreichend gewürdigt.
Das alles ist völlig verständlich.
({3})
Der politischen Verantwortung, in der sich viele in
diesem Haus stehen sehen, kommen wir unter anderem
mit der vorliegenden Novelle nach; auch das hat Beatrix
Philipp schon angesprochen. Roland Jahn steht dieser
Tage in der Kritik. Er hat heute der Leipziger Volkszeitung ein, wie ich finde, schönes Interview gegeben. Auf
die Frage, warum er aus der Beschäftigung der 47 ehemaligen Stasimitarbeiter bei der Stasi-Unterlagen-Behörde ein so großes Thema macht, hat er eine beeindruckende und einfache Antwort gegeben: „Ich verstehe die
Sicht der Opfer.“ Ich denke, dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
({4})
Vielen Dank, Kollege Marco Wanderwitz. - Jetzt
spricht für die Fraktion der Freien Demokraten unser
Kollege Patrick Kurth. Bitte schön, Kollege Patrick
Kurth.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich sehr herzlich bedanken, dass wir
noch zu so später Stunde über dieses Thema reden. Ich
finde es wichtig und richtig, dass wir darüber eine Aussprache führen. Formal gesehen würden wir in dieser
Legislaturperiode noch einmal über die Staatssicherheit
reden, nämlich dann, wenn die nächsten Lesungen anstehen. Ich gehe aber davon aus, dass wir noch mehrfach
über das Thema reden werden. Es wird genügend Anlass
dafür geben.
Das Thema ist trotz der vielen anderen Themen so
wichtig, weil die Stasi-Unterlagen-Behörde und das
Stasi-Unterlagen-Gesetz eine Erfolgsgeschichte sind.
Wir wissen um die Entstehung und die Diskussionen,
aber auch um die Befürchtungen und die Kritik, die die
Stasi-Unterlagen-Behörde über die Jahre begleitete.
Aber als Zwischenresümee können wir ziehen, dass es
sich hier um eine Erfolgsgeschichte handelt.
Die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht im Mittelpunkt, genauso wie die Opferaufklärung, Gewissheit für
diejenigen zu schaffen, die mutig waren, aber auch für
Unschuldige. Wir wollen verstehen, wie dieser Geheimdienst funktionierte. Über die Jahre kommt immer mehr
ans Tageslicht. Die Sicherung von Akten und Beweisen
ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Eine solche Aufarbeitung hätte es bereits nach dem Zweiten Weltkrieg,
nach der Nazidiktatur, geben müssen. Sie hat es nun
nach der SED-Diktatur gegeben. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, meine Damen und Herren von der Linken,
hätten wir eine solche Aufarbeitung nicht durchgeführt,
sondern das, was wir in den 50er-Jahren gemacht haben,
wiederholt. Ich finde es richtig, dass wir, das Parlament,
der Stasi-Unterlagen-Behörde und dem Stasi-Unterlagen-Gesetz Rückhalt geben.
({0})
Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat mithilfe des StasiUnterlagen-Gesetzes rechtsstaatlich sehr sauber und für
die Opfer nachvollziehbar gut gearbeitet. Die Zahlen der
Opfer, die sich jetzt melden, mehren sich; denn die Betreffenden haben das Erlebte endlich verarbeitet. Zahlreiche Akten sind noch nicht aufbereitet und nicht wiederhergestellt. Die Aufdeckung zahlreicher Stasifälle,
die wir immer wieder erleben, geht nicht zuletzt auf das
Wirken der Stasi-Unterlagen-Behörde zurück.
Die furchtbare Geschichtsvergessenheit der Linken
spricht für sich. Wenn aber Herr Wiefelspütz von der
SPD, der sein gesamtes Leben und seine politische Karriere auf einem freiheitlichen System aufgebaut hat, den
Stasi-Unterlagen-Chef Jahn, der für genau diese Freiheit
gekämpft hat und dafür von der Uni geworfen, von seiner Familie getrennt, inhaftiert und unter Zwang ausgewiesen wurde, einen Menschenjäger und einen Eiferer
mit Schaum vor dem Mund nennt,
({1})
dann muss ich sagen, dass eine Grenze erreicht ist, die
nicht zu tolerieren ist.
({2})
Patrick Kurth ({3})
Auf die Geschichte der Stasi und auf das DDR-Unrecht kann niemand stolz sein. Auf die Aufarbeitung und
die Bearbeitung der Stasiaktivitäten können wir Deutschen alle sehr stolz sein. Mit dem vorliegenden Entwurf
eines Achten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wurde die Voraussetzung dafür geschaffen,
dass die Erfolgsgeschichte der Unrechtsaufarbeitung
fortgeführt werden kann.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre zahlreiche Teilnahme. Danke
schön.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/5894 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und
weiterer Abgeordneter
Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen
in der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nach-
haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem
Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“
- Drucksache 17/5885 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Alle Reden sind, so sagt mir die Verwaltung, zu Pro-
tokoll gegeben worden. Widerspruch dagegen erhebt
sich nicht. Sie sind also damit einverstanden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5885 an den Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. - Sie
sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die Revision der OECD-Leitsätze für multi-
nationale Unternehmen als Chance für einen
stärkeren Menschenrechtsschutz nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
1) Anlage 5
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verpflichtender Menschenrechtsschutz bei
den OECD-Leitsätzen für multinationale
Unternehmen
- Drucksachen 17/4668, 17/4669, 17/5756 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Serkan Tören
Volker Beck ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen liegen uns
vor.
Manchmal hat man das Gefühl, dass man als Verbraucher sowieso nichts ausrichten kann, wenn einem
etwas nicht passt, zum Beispiel, wenn einem nicht gefällt, mit welchen zum Teil zweifelhaften Methoden
große, meist global agierende Konzerne ihre Waren produzieren und verkaufen.
Einerseits gibt es die Verbraucher, die sich über die
als ungerecht empfundenen Produktionsmethoden in
Entwicklungsländern ärgern, durch welche die Umwelt
geschädigt oder Mitarbeiter ausgebeutet werden. Meistens nehmen sie die Missstände jedoch hin. Sie zucken
mit den Schultern und sagen sich: „So ist das eben. Daran kann man nichts ändern!“ Gleichzeitig gibt es aber
auch die Verbraucher, die ihre geballte Verbrauchermacht einsetzen und Macht auf große Konzerne und
manchmal sogar ganze Länder ausüben - wenn sie sich
zusammentun und den Mut haben, offen gegen das zu
protestieren, was ihnen missfällt. Verbraucherproteste
und -boykotte, meist unterstützt durch das Engagement
politischer Aktionsgruppen, haben schon häufiger dazu
geführt, dass Unternehmen ihre Produktionsmethoden
überdacht und geändert haben.
Ich möchte zwei Beispiele nennen, in der sich die
westliche Verbrauchermacht durchgesetzt hat. Beispiel
Südafrika: in den 80er-Jahren demonstrierten viele empörte Menschen überall auf der Welt gegen das grausame Apartheidregime in Südafrika, das Schwarze wie
Menschen zweiter Klasse behandelt und oft grausam unterdrückt hat. In Deutschland riefen vor allem evangelische Frauenverbände dazu auf, südafrikanische Waren
konsequent zu meiden. Mit Erfolg: Viele Verbraucher
beteiligten sich an diesem sogenannten Früchteboykott.
Viele Waren aus Südafrika blieben bei den Händlern liegen. Bis in die 90er-Jahre flammten die Proteste immer
wieder auf. Weltweite Demonstrationen und massive
Wirtschaftssanktionen brachten Südafrika schließlich an
den Rand des Staatsbankrotts.
Beispiel FCKW: Ende der 80er-Jahre machten Wissenschaftler als Ursache für das 1985 entdeckte Ozonloch sogenannte Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz:
FCKW, aus. Dieses Treibgas wurde vorwiegend in Kühl12778
schränken und Spraydosen verwendet. Und wieder zeigten Verbraucher und Aktivisten ihren Einfluss. Sie mieden FCKW-haltige Produkte konsequent. GreenpeaceAktivisten in Deutschland besetzten ein Werk von
Hoechst, einem der größten FCKW-Produzenten weltweit. Die Verbraucherproteste hatten Erfolg: Kühlschränke durften kein FCKW mehr enthalten, und auch
Spraydosen ließen sich bald nur noch „ohne Treibgas“
verkaufen. 1989 wurde die Produktion von FCKW EUweit verboten.
Jetzt ist es wieder an der Zeit, dass die deutschen Verbraucher sich gegen multinationale Konzerne wehren,
denn fast monatlich hören wir in den Medien, dass Textilarbeiter zum Beispiel in Bangladesch, dem Zentrum
der deutschen Textilproduktion, auf die Straße gehen
und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.
Die Arbeiter der rund 4 500 Textilfabriken des Landes, in denen auch zahlreiche westliche Firmen, wie zum
Beispiel H & M und Levi Strauss, produzieren lassen,
protestieren dagegen, dass ihre Arbeitgeber ihnen keine
Pausen gewähren, keinen zum Leben angemessenen
Mindestlohn zahlen oder ihre Gewerkschafts- und Versammlungsrechte massiv einschränken. Ganz klar gesagt: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wie wir
sie in vielen Partnerländern vorfinden, sind unakzeptabel, gerade auch im Hinblick auf die menschenrechtlichen Grundsätze unserer westlichen Industriegesellschaft. Richtig verstandene Unternehmensverantwortung deutscher und internationaler Unternehmen muss
sich an den tatsächlichen Produktionsbedingungen in
unseren Partnerländern messen lassen. Dieses verantwortungsvolle Bewusstsein ist noch nicht in allen deutschen Unternehmen so ausgeprägt, dass sie Unternehmensverantwortung positiv auch für die Arbeitsbedingungen vor Ort umsetzen. Vielen Unternehmen
muss erst einmal bewusst gemacht werden, welchen
wirtschaftlichen Vorteil ein nachhaltiger Einsatz für
gute Arbeitsbedingungen hat. Es gibt Leuchtturmunternehmen, die Vorreiter und Beleg dafür sind, dass die
neue Form des „Social Business“ einen Mehrwert für
jedes Unternehmen hat. Manche haben diesen Weg bereits kräftig eingeschlagen. Ich möchte an dieser Stelle
unter anderem die Otto AG, Puma, hessennatur oder
Adidas nennen. Diese Unternehmen haben bei dem
CSR-test 08/2010 in der Zeitung der Stiftung Warentest
positiv abgeschnitten.
Gerade die Otto AG, ein Unternehmen aus meinem
Wahlkreis Hamburg-Wandsbek, spielt eine besondere
Vorreiterrolle. Neben seinen Umweltstiftungen hat das
Unternehmen eine neue Kooperation im Rahmen von
„Social Business“ mit dem Friedensnobelpreisträger
Yunus gestartet. Ziel ist es, eine Textilfabrik in Bangladesch aufzubauen, die die Vorgaben der ILO, nämlich
akzeptable Arbeitsbedingungen, erfüllt.
Diesen Schritt unternimmt die Otto AG gerade unter
dem Eindruck seiner erfolgreichen „Social Business“Vorhaben in Afrika, Vorhaben, bei denen für Baumwollfarmer Know-how-Transfer geleistet wurde, damit sie
zukünftig effektiver anbauen können, Vorhaben, bei denen 150 000 Farmern gerechte Preise für die Rohstoffe
gezahlt wurden. Es ist die Pflicht eines jeden Menschenrechtlers und Entwicklungspolitikers, der sich mit diesem Thema beschäftigt, gerade das Engagement solcher
Unternehmen bei jeder passenden Gelegenheit hervorzuheben.
Dieser Weg des positiven Hervorhebens oder im Gegenteil des öffentlichkeitswirksamen An-den-PrangerStellens, wie bei den Beispielen Lidl oder KiK geschehen, ist der sinnvollste Weg, wie wir mit diesem Thema
umzugehen haben. Ich bin der Auffassung, dass wir bei
diesem Thema parteiübergreifend keinen Dissens haben
dürfen, und würde mir wünschen, dass gerade auch die
Grünen positive Leuchtturmprojekte als Chance sehen,
sozialen Fortschritt in unseren Partnerländern zu organisieren. Es ist falsch, die grundsätzlich ethisch verantwortungsvolle deutsche Wirtschaft oder gar den deutschen Mittelstand immer wieder grundsätzlich moralisch zu attackieren. Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Dies sollte sich die Opposition endlich mal hinter
die Ohren schreiben.
Mich freut es daher, dass die Bundesregierung unseren positiven Ansatz auch inhaltlich, neben den internationalen Abkommen der OECD, auf die ich später noch
eingehen werde, weiterführt. Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders auf die Bemühungen der Arbeitsministerin von der Leyen eingehen, die versucht,
mit dem Aktionsplan CSR einen neuen Benchmark für
die deutschen CSR-Bemühungen zu setzen.
Ziel der Initiative ist, verstärkt kleine und mittelständische Unternehmen für CSR zu gewinnen. Gleichzeitig
soll nachhaltige Unternehmenspolitik mehr Anerkennung erfahren. Wichtig ist auch, dass die Bundesregierung gesellschaftliche Verantwortung besser in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung verankern will.
Diesen Ansatz ihres Hauses hat die Ministerin unter
anderem auch in Davos beim Weltwirtschaftsforum vorgetragen, und damit ist klar, welchen Weg die Bundesrepublik hier gehen möchte. Gleichzeitig steht für die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft die
Überarbeitung der OECD-Leitsätze für multinationale
Unternehmen auf der Agenda. Hier gibt es, nicht nur in
meiner Fraktion, auch in dem gesamten Haus, sehr unterschiedliche Auffassungen von Sinn und Zweck der
Leitlinien, bis hin zur Frage, wie wir eine wirkliche Verbesserung erreichen können. Mir ist es wichtig, dass die
Bundesregierung die Überarbeitung der Leitsätze mit
der OECD weiter aufgeschlossen vorantreibt. Es ist zu
beachten, dass die OECD-Leitsätze das weltweit einzige
Instrument sind, das die Förderung globaler Unternehmensverantwortung im Blick hat. 31 Staaten haben sich
diesen Leitsätzen verpflichtet, und Deutschland muss ein
Vorreiter bei der nachhaltigen Umsetzung dieser Leitlinien sein - gerade auch was die Vorbildfunktion gegenüber anderen Partnern betrifft.
Im Folgenden möchte ich die Forderungen der CDU/
CSU-Fraktion ansprechen, die bei dem derzeitigen Diskussionsprozess angesprochen werden müssen:
Erstens. Die Menschenrechte müssen in den Formulierungen mehr Gewicht erhalten. Sie sollen daher in eiZu Protokoll gegebene Reden
nem eigenen Kapitel behandelt werden. Es ist zu diskutieren, ob die Menschenrechte ein rechtlich einklagbares
Kriterium bei den OECD-Leitsätzen sind und wie sie
möglicherweise auf alle Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens ausgeweitet werden können.
Zweitens. Wichtig zu diskutieren ist, wie mögliche
Sanktionsmechanismen für deutsche Unternehmen aussehen können, die sich nicht an die Leitsätze halten. Ich
halte es für sinnvoll, wenn Unternehmen, die nicht nachhaltig wirtschaften, von staatlichen Förderinstrumenten
eine Zeit lang ausgeschlossen werden.
Drittens. Wir sollten zudem diskutieren, wie wir die
Zuständigkeiten über die OECD-Leitsätze im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie inhaltlich
von dem Referat trennen, das auch gleichzeitig für die
Genehmigung von Bürgschaften entscheidet. Die derzeit
dort entstehenden Interessenkonflikte dürfen nicht sein
und untergraben auch die Glaubwürdigkeit, mit der die
Bundesregierung die Leitlinien umsetzen will.
Als letzten inhaltlichen Aspekt möchte ich mich an
dieser Stelle noch mit dem Argument des Rechtsschutzes
für Geschädigte gegenüber den internationalen Unternehmen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang
kommen die Instrumente der deutschen Entwicklungspolitik und die Arbeit der deutschen Stiftungen im Ausland ins Spiel.
Wichtig ist, dass Deutschland verstärkt Rechtsberatung als einen Schwerpunkt der gemeinsamen Entwicklungspolitik mit unseren Partnerländern in Regierungsverhandlungen verankern muss. Grund ist, dass oftmals
deutsche Unternehmen, selbst wenn sie es wollten, keine
Handhabe haben, Sozialstandards in den produzierenden Partnerländern durchzusetzen, da die Rechtssysteme vor Ort kein Arbeitsrecht kennen. Daher wäre es
auch nicht gerecht, wenn deutsche und internationale
Unternehmen in ihren Heimatländern vor internationalen Gerichten angeklagt werden können. Es muss auch
in der Selbstverantwortung der Partnerländer liegen,
ein Arbeitsrecht zu schaffen, das den Arbeitern vor Ort
ermöglicht, Recht erst mal im eigenen Land zu erhalten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ILO,
die Arbeitsrechtsorganisation der UN, in die Pflicht nehmen, endlich ihre internationalen Ansätze nachhaltiger
und rechtlich einklagbarer umzusetzen. Oftmals werden
die zu 100 Prozent zu unterstützenden ILO-Arbeitsnormen in den Partnerländern nicht ernst genommen, da
die rechtliche Verbindlichkeit fehlt. Ich bin der Auffassung, dass wir auch hier einen neuen internationalen
Mechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Normen
finden müssen. Abschließend ist somit zu sagen, dass wir
alle die Chancen in Fragen der Unternehmensverantwortung erkennen müssen. Wir müssen internationale
Verträge neu justieren und der Wirtschaft vor Augen führen, welchen Imagegewinn sie durch nachhaltige CSR
erhält.
Daher muss unsere Nachricht an die CSR-Welt lauten, dass es keinen Wettbewerb zulasten von Sozialstandards zwischen importierenden deutschen und internationalen Unternehmen geben darf. Die Bundesregierung
nimmt sich dieser Maxime an. Es ist der moralische Anspruch der deutschen Wirtschaft, hier in Gänze zu folgen.
2011 ist ein wichtiges Jahr, was die Verantwortung
globaler Unternehmen für soziale, ökologische und vor
allem menschenrechtliche Fragen anbelangt. Die
OECD-Leitsätze, die Erklärung der ILO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik sowie der UN
Global Compact stecken hierfür den Rahmen ab.
Die OECD-Leitsätze gelten in diesem Kontext als
das am weitesten reichende Instrument zur Stärkung
der Unternehmensverantwortung. Die OECD-Leitsätze
beinhalten Vorgaben zur Einhaltung von Arbeits- und
Sozialstandards, zur Korruptionsbekämpfung, zur Steuerehrlichkeit sowie zum Umwelt- und Verbraucherschutz.
Für die Mitgliedstaaten der OECD sowie für elf weitere
Staaten, die sich den Leitsätzen angeschlossen haben,
sind diese Vorgaben verbindlich.
Sie müssen über sogenannte Nationale Kontaktstellen
die Leitsätze implementieren, deren Einhaltung überwachen sowie Beschwerden über mögliche Verstöße gegen
die Leitsätze entgegennehmen. Das bedeutet, dass die
Leitsätze für die weltweite Tätigkeit aller multinationalen Unternehmen gelten, die in diesen Staaten beheimatet sind. Für Unternehmen allerdings sind sie freiwillig,
das heißt, die Leitsätze sind rechtlich nicht bindend. Sie
beziehen sich außerdem nur auf Unternehmen aus den
Unterzeichnerstaaten und erfassen damit eine ganze
Reihe von international agierenden Unternehmen nicht.
Die Leitsätze verfügen außerdem über keinerlei Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen die selbst auferlegten Standards seitens der Unternehmen - sieht man
von einer möglichen Rufschädigung für das Unternehmen einmal ab.
Und bei einem strittigen Verlauf eines Beschwerdeverfahrens gibt es keinerlei Revisionsmechanismen für
die Opfer. Dies wirkt sich besonders gravierend bei
Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen aus.
Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen haben darüber hinaus die häufig mangelhafte Umsetzung
der Leitsätze kritisiert. Daher eröffnet die Überarbeitung der OECD-Leitsätze die große Chance, sie zu einem schlagkräftigen Instrument der globalen Unternehmensverantwortung - besonders hinsichtlich der
menschenrechtlichen Verantwortung - zu machen. Wir
begrüßen es als SPD daher außerordentlich, dass die
überarbeiteten Leitsätze ein eigenes Kapitel über Menschenrechte haben werden. Wir wünschen uns, dass die
Einhaltung der Menschenrechte in diesem Zusammenhang für Unternehmen gleichsam zur Pflicht erhoben
wird.
Die Nationalen Kontaktstellen, NKS, die Anlaufpunkte für Beschwerden gegen Unternehmen, sollen unseren Vorstellungen nach zu unabhängigen Gremien umgestaltet und auf Mindeststandards verpflichtet werden.
Auf diesem Weg sollen gravierende Qualitätsunterschiede zwischen den NKS verschiedener Nationen verZu Protokoll gegebene Reden
mieden und Beschwerden vor einem neutralen Gremium
im Sinne der Opfer behandelt werden.
In diesem Zusammenhang spielt auch der sogenannte
Investment Nexus eine entscheidende Rolle: Beschwerden vor den NKS können mit dem Hinweis auf einen fehlenden direkten Investitionsbezug häufig abgewiesen
werden. Auf diese Weise werden die Zulieferbetriebe oft
von den Leitsätzen nicht erreicht. Wir wünschen den
Wegfall des Investment Nexus, damit die Schutzwirkung
der Leitsätze für mögliche Opfer von Menschenrechtsverletzungen insgesamt erhöht wird. Gleichzeitig sind
wir uns aber bewusst, dass eine solche Forderung nur
praktikabel ist, wenn das jeweilige Unternehmen konkrete Einwirkungsmöglichkeiten auf seine Zulieferbeziehungen hat. Wir fordern weiter, dass Verstöße gegen die
Leitsätze für Unternehmen zukünftig Konsequenzen haben sollen. Denkbar wäre ein zeitweiliger Ausschluss
von Exportgarantien oder die grundsätzliche Koppelung
der Leitsätze ({0}) an die Vergabe
staatlicher Kredite, Bürgschaften und anderer staatlicher Unterstützungsmaßnahmen für Auslandsinvestitionen.
Verbessert werden sollten darüber hinaus die Offenlegungspflichten für multinationale Unternehmen. Hier
sollten die Leitsätze zukünftig eine länderbezogene
Rechnungslegungspflicht fordern, damit problematische
Transaktionen - zum Beispiel über Steueroasen - sichtbar werden.
Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf,
sich dafür einzusetzen, dass Staaten, die nicht Mitglied
der OECD sind, sich den Leitsätzen für multinationale
Unternehmen anschließen, das Menschenrechtskapitel
auch den Stand der internationalen Diskussion widerspiegelt, die Lieferkette so weit wie möglich in den Geltungsbereich der Leitsätze integriert wird, die Kernarbeitsnormen der ILO eingehalten werden, die Arbeit
der NKS unabhängig und auf einheitliche Mindeststandards verpflichtet wird, eine juristische Berufungsinstanz und ein Sanktionsmechanismus für die Leitsätze
geschaffen werden, länderbezogene Rechnungspflichten
in den Leitsätzen verankert und die Akzeptanz und die
Bekanntheit der Leitsätze erhöht werden. Dann können
die Leitsätze tatsächlich ihre Schutzfunktion für die
Menschenrechte in global tätigen Unternehmen voll entfalten.
In der heutigen abschließenden Beratung der Beschlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten Antrag der Fraktion der SPD und den Antrag der Fraktion
Die Linke. Aus Sicht der FDP sind die Anträge weder
substanziiert noch bieten sie inhaltlich etwas Neues.
Worum geht es genau? Es wurden die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen im Rahmen eines
Revisionsverfahrens überprüft. Bei diesen Leitlinien
handelt es sich um den weltweit einzigen multilateralen
und umfassend anerkannten Kodex zur Förderung globaler Unternehmensverantwortung. Der Abschluss des
Verfahrens ist für Mitte 2011 geplant.
Die SPD nimmt dies zum Anlass für einen Antrag, der
folgende Kernforderungen enthält: Die Leitsätze sollen
im Rahmen der Revision verschärft werden, indem Sanktionsmöglichkeiten für den Fall ihrer Verletzung vorgesehen sind. Für die Nationalen Kontaktstellen, welche in
Deutschland beim BMWi angesiedelt sind, sollen einheitliche Mindeststandards gelten. Der bisherige Geltungsbereich der OECD-Leitsätze soll über den Investitionsbezug hinaus ausgeweitet werden. Ferner soll bei
Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze geworben
werden.
Diesen Forderungen der SPD ist aus Sicht der FDP
wie folgt zu entgegnen: Die christlich-liberale Koalition
strebt an, die OECD-Leitsätze in erster Linie zu verbreiten, statt zu vertiefen. Bislang haben sich alle 31 OECDStaaten und 12 weitere Industrienationen zu den OECDLeitsätzen verpflichtet. Eine Verbreitung in Staaten, die
einen hohen Anteil an Unternehmen aufweisen, welche
etwa in Afrika investieren, wäre ein weiterer wichtiger
Schritt. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang
China und Indien. Eine Vertiefung bzw. Verschärfung
der Leitsätze würde von einem Beitritt abschrecken und
darüber hinaus Unternehmen aus Staaten, die den
OECD-Leitsätzen beigetreten sind, Wettbewerbsnachteile verschaffen. Sanktionsmöglichkeiten stellen eine
deutliche Verschärfung der OECD-Leitsätze dar, die für
das Ziel kontraproduktiv sind, ihre Akzeptanz zu erhöhen und damit weitere Staaten zu einem Beitritt zu ermutigen. Im Zuge der Revision der OECD-Leitsätze sind
die Kompetenzen, die Organisation und die Anbindung
der Nationalen Kontaktstellen ohnehin ein zentraler
Verhandlungsgegenstand. Daher ist diese Forderung
der SPD hinfällig. Die christlich-liberale Koalition
strebt in den derzeitigen Revisionsverhandlungen an,
den Investmentnexus beizubehalten. Das heißt, Beschwerden können nur dann zugelassen werden, wenn
ein direkter Investitionsbezug nachweisbar ist. Dies ist
vor dem Hintergrund des Ziels, eine Verbreitung der
OECD-Leitsätze anzustreben, auch nur logisch und daher sachgerecht. Die Forderung der SPD nach dem Werben bei Nicht-OECD-Staaten für die OECD-Leitsätze
widerspricht den zentralen Forderungen des SPD-Antrags nach einer Verschärfung der OECD-Leitsätze und
ist daher nicht schlüssig. Der Antrag der SPD wird daher von der FDP abgelehnt.
Vollkommen abstrus sind zum Teil die Forderungen
der Linken in ihrem Antrag. So fordert die Linke unter
anderem, dass in der EU ansässige Unternehmen
„wahrheitsgemäße Informationen über die Auswirkungen ihrer aktuellen und geplanten Geschäftstätigkeit auf
Menschen und Umwelt veröffentlichen sollen“; Forderung 7. Aus Sicht der FDP ist dies vehement zurückzuweisen. Die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Informationen ist vielleicht in einer Planwirtschaft
realisierbar. Unter den Bedingungen eines globalen
Wettbewerbs ist dies jedoch völlig weltfremd, insbesondere wenn über geplante Geschäftsaktivitäten Auskünfte
offengelegt werden müssen. Im Lichte dieser Ausführungen ist der Antrag der Linken abzulehnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit der Debatte über die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen greift der Deutsche Bundestag
endlich die Forderungen vieler entwicklungspolitischer
Organisationen nach Überarbeitung der seit 1976 geltenden Leitsätze auf. Schon 1976 haben die entwicklungspolitischen Organisationen darauf hingewiesen,
dass durch die fehlende Verbindlichkeit der Leitsätze die
Gefahr besteht, dass es zu keiner substanziellen Veränderung der Arbeit der multinationalen Unternehmen
kommen wird. Diese Befürchtungen der entwicklungspolitischen NGOs haben sich leider bestätigt. Die Fraktion Die Linke unterstützt die Aussage des UN-Sonderbeauftragten für Wirtschaft und Menschenrechte, John
Ruggie, der in seinem Abschlussbericht von einer „Regelungslücke“ bezüglich internationaler Unternehmen
spricht. Organisationen wie Germanwatch weisen zu
Recht darauf hin, dass „die Umsetzung der OECD-Leitsätze in Deutschland, insbesondere bei der Bearbeitung
von Beschwerdefällen, enorm verbesserungsbedürftig
ist“.
So haben in Deutschland Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften seit der Revision der Leitlinien im Jahr 2000 bislang elf Beschwerden eingereicht.
Von diesen Beschwerden waren Firmen wie Adidas,
Bayer, Continental, Ratiopharm sowie Siemens und
Daimler-Chrysler betroffen. Von der deutschen Kontaktstelle, NKS, wurden von diesen elf vorgetragenen Fällen
lediglich drei Beschwerden angenommen. Diese restriktive Arbeit der deutschen Kontaktstelle zeigt eine nicht
akzeptable und äußerst restriktive Interpretation der
OECD-Leitsätze durch die deutsche Nationale Kontaktstelle. Für die Fraktion Die Linke ist deutlich, dass die
OECD-Leitsätze nur dann zu einem wirksamen Instrument gegen unternehmerisches Fehlverhalten weiterentwickelt werden können, wenn sie verbindlich festgeschrieben werden und klare Anforderungen an nationale
Kontaktstellen enthalten. Zurzeit müssen wir feststellen,
dass selbst bei schwerem unternehmerischem Fehlverhalten durch transnationale Konzerne eine konkrete Verurteilung dieses Verhaltens durch die Nationalen Kontaktstellen häufig nicht stattfindet.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass
unternehmerisches Handeln mit verbindlichen Arbeitsund Sozialstandards verbunden werden muss. Wir wollen erreichen, dass durch solche verbindlichen Anforderungen an Umweltschutz- und Verbraucherschutzkriterien alle Betroffenen gegen unternehmerisches Handeln
vorgehen können, wenn die vorgeschriebenen Standards
nicht eingehalten werden. Auch wollen wir erreichen,
dass menschenrechtliche Forderungen als einklagbarer
Bestandteil unternehmerischen Handelns beachtet werden müssen und alle Unternehmen, die gegen menschenrechtliche Standards verstoßen, mit konkreten Sanktionen rechnen müssen. Hierfür wollen wir die OECDLeitsätze zu einem wirksamen Instrument zur Einhaltung
von Menschenrechten in multinationalen Unternehmen
weiterentwickeln.
Nur unser Antrag fordert, dass hierfür eine fundamentale Veränderung der bisherigen Rechte von Betroffenen notwendig ist. Eine grundlegende Voraussetzung
dafür ist eine deutlich bessere personelle Ausstattung
der Nationalen Kontaktstellen. Bisher stehen riesige Abteilungen und Anwaltskanzleien von Großkonzernen einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Kontaktstellen gegenüber. Wir wollen die Chancengleichheit
zwischen Kontaktstellen und transnationalen Konzernen
verbessern.
Bislang ist die deutsche NKS im Bundeswirtschaftsministerium in der Abteilung für Auslandsinvestitionen
angesiedelt. Dies halten wir für eine unabhängige Überprüfung von transnationalen Unternehmen für nicht angebracht. Nationale Kontaktstellen müssen unabhängig
organisiert werden. Wir wollen erreichen, dass die Nationalen Kontaktstellen paritätisch zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus Ministerien, Gewerkschaften,
Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen besetzt werden. Nur wenn es gelingt, unabhängige Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften und NGOs
als gleichberechtigte Mitglieder in die nationalen Kontaktstellen zu integrieren, ist eine bessere, von Regierungsinteressen unabhängigere Kontrolle der transnationalen Unternehmen durchsetzbar.
Notwendig ist auch die Durchsetzung der Forderung,
dass multinationale Unternehmen für die Verstöße ihrer
Subunternehmen und Zulieferer haften müssen. Alle
selbständigen Subunternehmen und Zulieferbetriebe
müssen in den Geltungsbereich der Leitsätze fallen und
die bisherige Beschränkung der Leitsätze auf grenzüberschreitende Investitionstätigkeiten, auf alle Investitionen und Lieferbeziehungen der multinationalen Unternehmen erweitert werden.
Die Leitsätze werden erst dann eine größere Wirksamkeit erzielen, wenn Betroffene die Möglichkeit erhalten, bei Zuwiderhandlungen von Unternehmen ihre Forderungen individuell vor den jeweiligen nationalen
Gerichten einzuklagen. Dies setzt voraus, dass alle Bürgerinnen und Bürgern einen ungehinderten und kostenfreien Zugang zu Rechtsschutz innerhalb der EU erhalten, auch wenn sie keine EU-Bürgerinnen und -Bürger
sind. Die Linke möchte die Chance nutzen, mit der Revision der OECD-Leitsätze einen wirklich qualitativen
Schritt zur Sicherung der Rechte von Betroffenen gegenüber multinationalen Unternehmen durchzusetzen. Bisher sieht es jedoch so aus, dass sich die Bundesregierung einem solchen qualitativen Schritt verweigert.
Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Fürth habe ich
seit geraumer Zeit viel mit einem deutschen Vorzeige-
unternehmen zu tun. Adidas - ein Global Player im
Sportartikelbereich, der laut Selbstaussage auch in den
Bereichen Umwelt und Soziales richtungsweisend sein
möchte, „um das Leben der Menschen zu verbessern“.
„Adidas is all in“ - so der Slogan des Unternehmens.
Auch die Arbeitsstandards und die Bezahlung? Man
muss ja nicht gleich davon ausgehen, dass man es bei ei-
ner internationalen Aktiengesellschaft mit einer karitati-
ven Einrichtung zu tun hat. Erschreckend ist jedoch, wie
weit im Falle Adidas die Selbsteinschätzung von der
Wirklichkeit entfernt liegt. Gerade einmal 72 Cent Stun-
Zu Protokoll gegebene Reden
denlohn verdienen die Näherinnen und Näher in der Fa-
brik „Ocean Sky“, einer Adidas-Zulieferfabrik in El Sal-
vador. Selbst mit Prämien kommen die Arbeiterinnen
und Arbeiter nicht über 175 Euro im Monat. Und das bei
einem Unternehmen, das seinen Umsatz im ersten Quar-
tal 2011 um über 22 Prozent auf 3,27 Milliarden Euro
steigern konnte. Hier geht es nicht mehr um Betriebs-
wirtschaft! Das ist menschenunwürdig!
Aber das Problem geht weit darüber hinaus, dass ein
Unternehmen den eigenen Standards nicht gerecht wird.
Das Problem ist ein strukturelles. Seit 1976 gelten in
Deutschland und in allen anderen 30 OECD-Mitglied-
staaten die sogenannten Leitsätze für multinationale Un-
ternehmen. Allerdings zeigen diese bislang kaum Wir-
kung. Sie sind in keiner Form bindend, sondern basieren
auf der freiwilligen Selbstverpflichtung der jeweiligen
Konzerne. Es gibt weder die Möglichkeit, die Einhaltung
der Regeln durchzusetzen, noch die, Fehlverhalten mit
Sanktionen zu bestrafen. Ganz offensichtlich reicht es
nicht, sich auf den guten Willen und das moralische Ver-
antwortungsbewusstsein der Unternehmer zu verlassen
oder lediglich mit der Veröffentlichung von Fehlverhal-
ten zu drohen.
Wir freuen uns, dass die OECD-Leitsätze seit der ge-
rade abgeschlossenen Überarbeitung ein eigenes Men-
schenrechtskapitel erhalten haben. Das ist aber kein
Grund zum Ausruhen. Jetzt beginnt die Arbeit erst!
In der Vergangenheit wurde deutlich, dass, selbst
wenn Menschenrechtsverstöße ans Licht kamen, keiner-
lei Maßnahmen ergriffen wurden. Eigentlich war die so-
genannte Nationale Kontaktstelle, NKS, eingerichtet
worden, bei der Missachtungen der Leitsätze gemeldet
werden können. Allerdings stellte sich die NKS als äu-
ßerst nachsichtiges, um nicht zu sagen, den Leitsätzen
gegenüber gleichgültiges Organ heraus, das über Jahre
hinweg einen Großteil der Beschwerden lapidar zurück-
wies. Das jüngste Beispiel stammt vom Ende des letzten
Jahres, als verschiedene NGOs Beschwerde gegen das
Unternehmen Otto Stadtlander GmbH einreichten, da
dieses Baumwolle aus Usbekistan bezog, die von Kin-
dern geerntet wurde. Die Reaktion der NKS war nichts-
sagend. Ich möchte an die Adresse die Bundesregierung
sagen: Wir beobachten diese Vorgänge, und Sie können
sicher sein, wir lassen hier nichts einfach unter den
Tisch fallen!
Die Kontaktstelle muss grundlegend reformiert wer-
den. Sie ist alles andere als unabhängig. Während an-
dere Länder, wie beispielsweise die Niederlande, ihre
Kontaktstelle mit Experten aus unterschiedlichen Fach-
bereichen besetzen, ist das deutsche Pendant im Wirt-
schaftsministerium angesiedelt, und dort zu allem Über-
fluss auch noch im selben Referat, das für die
Außenwirtschaftsförderung zuständig ist. Das ist eine
unsägliche Konstruktion und programmiert Interessen-
konflikte vor, die bisher zum Nachteil der Beschwerde-
führer gelöst wurden. Diese Konstruktion zeigt auch,
dass ein ernsthafter Wille, bei Beschwerden zu einer fai-
ren Lösung zu kommen, nicht vorhanden ist.
Eine weitere Schwachstelle der Leitlinien besteht da-
rin, dass sich Unternehmen regelmäßig hinter dem Ar-
gument verstecken, dass es unmöglich sei, die gesamte
Produktionskette zu überwachen. Gerade multinationale
Konzerne verweisen auf die schier endlosen Netzwerke
aus Tochter- und Zulieferfirmen, sodass die Leitlinien
sich bis dato nur auf einen recht eng gefassten Investi-
tionsbezug, Investment Nexus, anwenden lassen. Dies ist
praktisch ein Freifahrschein für all jene, die jenseits al-
ler ethischen Bedenken menschenunwürdige Beschäfti-
gungsverhältnisse in aller Welt schaffen.
Ein Aspekt ist mir zum Abschluss noch besonders
wichtig. Wir, die Politik und die öffentliche Verwaltung,
stehen auch ganz direkt in der Pflicht. Der Bund, die
Länder und Kommunen kaufen jedes Jahr Waren für
viele Milliarden Euro ein. Allein die deutschen Kommu-
nen kommen jedes Jahr auf Beträge zwischen 250 und
300 Milliarden Euro. Hier müssen wir sofort agieren.
Bei Unternehmen, die die OECD-Leitsätze nicht beach-
ten, darf die öffentliche Hand nicht einkaufen! Faire Be-
zahlung und menschenwürdige Arbeitsplätze sind Men-
schenrechte.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/5756. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktion der Sozialdemo-
kraten auf Drucksache 17/4668 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialde-
mokraten, Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfrak-
tion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung
ist somit angenommen.1)
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4669. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck
({1}), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendli-
che stärken
- Drucksachen 17/4546, 17/4954 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Florian Bernschneider
Jörn Wunderlich
1) Anlage 2
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.
Es ist nun das zweite Mal, dass wir uns in diesem
Hause mit der Lebenssituation schwuler, lesbischer und
transsexueller Jugendlicher beschäftigen. Ich darf mich
zunächst einmal für die sachliche Atmosphäre bedanken, in der wir in der zurückliegenden Ausschusssitzung
über das Thema diskutieren konnten. Ich denke, dieser
Stil ist dem Thema angemessen. Einig waren wir uns,
dass sich in den letzten Jahren das gesellschaftliche
Klima homosexuellen und transsexuellen Menschen gegenüber positiv gewandelt hat. Viele Prominente aus
den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bekennen sich heute offen zu ihrer Homosexualität. Die
Sorgen und Nöte von Schwulen und Lesben finden Beachtung und sind Gegenstand des öffentlichen Diskurses
und alltäglicher Betrachtungen. Mit großer Übereinstimmung haben die Sprecherinnen und Sprecher aller
Fraktionen den Wandel nachgezeichnet, den die Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, wodurch sie Diskriminierungen schrittweise abbauen
konnte.
Auch die christlich-liberale Regierung ist seit dem
Regierungsantritt diesen Weg konsequent weitergegangen und hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um
die Gleichstellung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Menschen zu verbessern. Ich möchte dies im
Einzelnen nicht noch einmal wiederholen; die Bilanz unserer Regierung lässt sich dem Plenarprotokoll zur vorausgegangenen Debatte entnehmen.
Es erscheint mir vielmehr geboten, zwei aus meiner
Sicht zentrale Aspekte an dieser Stelle noch einmal aufzugreifen. Wer trotz aller getroffenen Maßnahmen und
des beschriebenen Wandels Diskriminierung erfährt,
der wird durchaus zu Recht sagen, dass ihm die bisherigen Schritte nicht reichen. Ob Sticheleien, böse Worte
und verächtliche Kommentare gegenüber homosexuellen Menschen je ganz aus unserer Gesellschaft verschwinden werden, bleibt abzuwarten, ja ist vielleicht
sogar fraglich. Entscheidend ist etwas anderes: Entscheidend ist, dass die Gesellschaft dies nicht mehr akzeptiert. Was diese grundsätzliche Akzeptanz und Anerkennung betrifft, sind wir - so meine ich - einen großen
Schritt vorangekommen in den letzten Jahren. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass sich Toleranz und
Respekt nicht verordnen lassen. Sie muss bewusst gelebt
werden - von jedem Einzelnen. Dabei helfen selten Gesetze, sondern eher Vorbilder.
Nicht selten wird Politikern in der Jugendpolitik vorgeworfen, sie machen es sich gerne allzu leicht, indem
sie die Verantwortung für die gesellschaftliche Implementierung von Verhaltensweisen auf die Schulen abwälzen. Das mag in manchen Fällen richtig sein. Richtig
ist aber auch: Ohne die tatkräftige Unterstützung, ohne
die Courage jedes einzelnen Lehrers und jeder einzelnen
Lehrerin sind alle Bemühungen der Politik wertlos. Vielmehr sollte man all jene, die sich allzu leicht der bekannten homophoben Ausdrücke bedienen, einmal fragen, ob sie sich denn bewusst sind, was sie eigentlich
von sich geben. Es ist nämlich mehr als zweifelhaft, dass
dies der Fall ist. Es bringt meiner Meinung nach mehr,
im täglichen Umgang - jeder an seiner Stelle - deutliche
Grenzen aufzuzeigen, wenn Homophobie zutage tritt,
anstatt auf abstrakter Ebene in Aktionismus zu verfallen.
Und vor allen Dingen muss in der Schule über die Themen Homosexualität und Transsexualität gesprochen
werden. Auch würde es uns weiterbringen, wenn bei den
Schülerinnen und Schülern ein entsprechendes Bewusstsein geweckt werden könnte, um noch immer bestehende
Argumentationsmuster, die darauf basieren, dass der homosexuelle Lebensstil ein Affront gegen die Gesellschaft
ist, zu erkennen und in der Diskussion offen zu entlarven. Machen wir uns dabei nichts vor: Eine Gesellschaft, in der die Diskriminierung von Homosexuellen
und Transsexuellen vollständig der Vergangenheit angehört, ist ein Generationenwerk. Dass es sich lohnt, weiterzumachen, zeigt die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren.
Ich bin der Bundesregierung in diesem Zusammenhang sehr dankbar dafür, dass dieser Bereich nach wie
vor umfassend gefördert wird und trotz aller notwendigen Sparbemühungen keine Kürzungen bei der Förderung stattgefunden haben. Die Hoffnung auf eine weitgehend tolerante und von gegenseitigem Respekt
geprägte Gesellschaft werden wir nur dann umsetzen
können, wenn wir jungen Menschen schon frühzeitig dabei helfen, tradierte Argumentationsmuster zu entlarven
und ein Problembewusstsein für Diskriminierungen zu
schaffen.
Einer der größten Problemkreise ist aus meiner Sicht
nach wie vor der Bereich der muslimischen Jugendlichen. Homophobe Einstellung gehören hier vielfach
zur Normalität. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
deutet dies ja ganz vorsichtig an. Diese Vorsicht finde
ich nicht angebracht. Den Betroffenen hilft es eher, die
mitunter nach wie vor krassen Einstellungen auch deutlich zu benennen und anzuprangern. Gibt es bei vielen
Menschen mittlerweile wenigstens das Bewusstsein,
Vorurteile für sich zu behalten, weil die Gesellschaft sie
nicht mehr toleriert, ist es bei dieser Gruppe nicht selten
noch ein Zeichen von „Stärke“, „hart und brutal“ gegen
Homosexuelle aufzutreten und vorzugehen. Dies darf
unsere Gesellschaft auf keinen Fall hinnehmen; das sind
wir den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig.
Das, was in anderen Ländern der Welt nach wie vor
noch immer möglich ist, darf in Deutschland nicht passieren. Dies sicherzustellen, ist auch Aufgabe der Politik.
Die christlich-liberale Regierung ist sich dieser Verantwortung sehr bewusst. Daran gibt es keinen Zweifel.
Ich habe bereits im Rahmen der zurückliegenden Debatte ausführlich Stellung dazu genommen, weshalb wir
dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
nicht zustimmen werden. Ich möchte mich bei der Begründung nicht wiederholen, zumal sich an dem Antragstext seit der letzten Befassung nichts geändert hat. Auch
bleibt unsere grundsätzliche Kritik an der Aussage der
Zu Protokoll gegebene Reden
Grünen in dem Antrag, dass die Bundesregierung mit
Ignoranz und Desinteresse homosexuellen Jugendlichen
gegenüberstehe. Den Nachweis für diese vermessene
Aussage sind Sie bislang schuldig geblieben. Es wird Ihnen auch nicht gelingen, denn sie hat mit der Realität
einfach nichts zu tun. Auch wäre es dringend nötig gewesen, in Ihrem Antrag bei der Frage der Kulturhoheit
der Länder nachzubessern. Viele der in dem Antrag gemachten Forderungen fallen schlichtweg nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Hier wäre etwas mehr Sorgfalt
nötig gewesen.
Auch wenn wir uns auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft nicht in der Frage des „Wie“ in
allen Details einig sein mögen, denke ich jedoch, dass es
großer Konsens der demokratischen Fraktionen dieses
Hauses ist, so schnell wie möglich dahin zu kommen, im
zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Umgang
unterschiedliche Lebensentwürfe anerkannter zu machen. Dies ist eine erfreuliche Übereinstimmung, zu der
es in einer freien und demokratischen Gesellschaft keine
Alternative gibt.
Es ist ein wichtiges Anliegen, gegen Benachteiligung
und Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung
anzugehen. Hier sehe ich einen breiten Konsens im Hinblick auf den Grundtenor des Antrags, den wir heute debattieren. In der Unionsfraktion stehen wir darüber in
einem guten, konstruktiven Gedankenaustausch mit dem
Verband LSU, Lesben und Schwule in der Union.
Ich nutze gerne die Gelegenheit, LSU und vor allem
dem Bundesvorsitzenden Alexander Vogt dafür zu danken, dass sie als fester Bestandteil der schwul-lesbischen Community dazu beitragen, dass in der Union die
Anliegen und die Sichtweise von homosexuellen oder
transsexuellen Menschen authentisch eingebracht und
geschildert werden können, und - genauso wichtig dass sie auch in der anderen Richtung dem einen oder
anderen Vorurteil gegenüber der Haltung der Union entgegentreten.
Schwul bzw. lesbisch und konservativ? Das muss kein
Gegensatz sein. Ich weiß, dass das nicht immer ganz einfach ist, wenn sich LSU-Mitlieder zum Beispiel auf dem
CSD mit eigenem Stand als CDU-Mitglied outen. Aber
das ist gut so!
Ich möchte an den Anfang stellen, dass wir eine Gesellschaft wollen, in der jeder Mensch in seiner individuellen Einzigartigkeit mit gleicher und unbedingter
Wertschätzung angenommen wird - mit gerade den Fähigkeiten, den Defiziten, den Anlagen und eben auch mit
der sexuellen Orientierung, die ihm mitgegeben worden
ist. Wir wollen ein Klima, in dem Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung unbefangen miteinander
umgehen und dass dieses Thema dabei nicht alle anderen Themen überlagert.
Ich weiß auch, dass das noch nicht erreicht ist. Es
gibt immer wieder gelegentlich ein unpassendes und ärgerliches Schenkelklopfen, überflüssige Anspielungen,
blöde Witze. Das dürfen wir nicht durchgehen lassen.
Wer das mitbekommt - im privaten Kreis, im Beruf, in
der Politik, wo auch immer - muss dem entgegentreten.
Das muss nicht immer mit Drama sein; aber einfach sagen oder zeigen, dass man das nicht mag, dass das nicht
witzig, nicht cool ist, das muss schon sein. Wo es zu solchen Äußerungen oder Kommentaren kommt, kann man
als Erwachsener damit zumeist umgehen. Aber für Jugendliche, die mitten in der Phase der Selbstfindung stecken und solche Äußerungen plötzlich auf sich beziehen,
die mit Beleidigungen und Mobbing konfrontiert werden, stellt das eine extreme Belastung dar. Wir sehen mit
großer Sorge die hohen Selbstmordraten bei Jugendlichen, die eine homosexuelle Orientierung bei sich feststellen. Es ist bedrückend, dass sie offenbar allein aus
diesem Grund eine solch extreme Belastung empfinden,
dass sie keinen anderen Ausweg sehen als den Freitod.
Es ist bedrückend, dass es die Gesellschaft dann nicht
geschafft hat, die unbedingte Wertschätzung jedes Menschen in seiner Einzigartigkeit zum Ausdruck zu bringen, auf die ein jeder einen Anspruch hat. Jeder junge
Mensch, der sich in dieser Phase der Selbstfindung befindet und Hilfe braucht, muss hier Unterstützung finden. Das ist ein gemeinsames Anliegen, das ja auch dem
Antrag zugrunde liegt, den wir heute debattieren. In vielen Punkten beschreibt der Antrag zu Recht die schwierige Lage von Jugendlichen in dieser Situation.
In einem hat der Antrag jedoch nicht recht, und schon
deshalb kann dem auch nicht zugestimmt werden: Die
Bundesregierung zeigt keineswegs Ignoranz und Desinteresse, wie dort formuliert ist. Mit der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Lesbische und
schwule Jugendliche“, Drucksache 17/2588, hat sie eine
ausführliche Bestandsaufnahme vorgelegt, die aufzeigt,
dass in diesem Bereich bereits umfangreich gefördert
und unterstützt wird. Die Bundesregierung unterstützt
über das Förderinstrument Kinder- und Jugendplan des
Bundes, aber auch über den gemeinsamen Haushaltstitel der Abteilungen Familie, Chancengleichheit und
Ältere Menschen eine Vielzahl von Projekten und Initiativen zugunsten schwuler, lesbischer und transsexueller
Jugendlicher, angefangen bei Konferenzen, Handreichungen und Fortbildungen bis hin zur Verbandsförderung des Jugendnetzwerk Lambda e. V., dem lesbischschwulen Jugendverband in Deutschland.
Die Arbeit der Verbände trägt aus meiner Sicht besonders dazu bei, die Benachteiligung von gleichgeschlechtlichen Jugendlichen abzubauen und ein Klima
von gegenseitiger Anerkennung und Respekt zu schaffen. Lambda e. V. erhält bereits seit 1990 regelmäßig aus
Mitteln des Kinder- und Jugendplans Fördermittel, die
für das Jahr 2011 sogar aufgestockt wurden.
Auch im Bereich der sportlichen Bildung haben Aktivitäten zugunsten von lesbischen, schwulen und transsexuellen Jugendlichen bereits heute einen hohen Stellenwert. So sind Veranstaltungen gegen Homophobie im
Fußballsport regelmäßiger Bestandteil des Programms
der vom Bundesfamilienministerium und dem Deutschen
Fußballbund geförderten Koordinationsstelle „Fanprojekte“. Auch in den anderen Jugendbildungssparten findet sich vergleichbares Engagement.
Zu Protokoll gegebene Reden
In den Medien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Sexualaufklärung und Familienplanung sind interessierende Themen wie sexuelle
Orientierung, Coming- out usw. bereits heute angemessen berücksichtigt und finden selbstverständliche Berücksichtigung sowohl bei den Jugendlichen als auch
bei den Eltern. In allen Aufklärungsangeboten, vor allem in ihren Broschüren, verfolgt die BZgA einen den
Selbstwert stärkenden Ansatz und wendet sich ausdrücklich gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Zur Prävention von Suizidversuchen und Suiziden fördert das
Bundesgesundheitsministerium Initiativen des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland,
NASPRO, bei dem sich eine Arbeitsgruppe speziell mit
der Thematik Suizidprävention bei Kindern und Jugendlichen befasst.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das
Thema Homosexualität gerade in jüngster Zeit umfangreich sowohl aus zeitgeschichtlicher als auch aus sozialund politikwissenschaftlicher Perspektive gewürdigt.
Besonders schwierig ist sicher die Situation für Heranwachsende mit muslimischem Migrationshintergrund. Gerade hier sind homosexuellenfeindliche Einstellungen wesentlich stärker verbreitet als in der
deutschen Vergleichsgruppe. Zu diesem Ergebnis kam
die vom Bundesfamilienministerium geförderte Studie
„Lebenssituationen von Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ im Auftrag des
Lesben- und Schwulenverbandes, LSVD. Die Studie
zeigt, dass sich viele Lesben und Schwule mit Migrationshintergrund in Deutschland zwar gut integriert fühlen und das gesellschaftliche Klima gegenüber Homosexuellen hier als positiver als in ihren Herkunftsländern
erleben. Innerhalb ihrer Familien und Migrationscommunities allerdings erfahren sie mehr Diskriminierung
und verzichten deshalb oft auf ein offenes homosexuelles
Leben. Homosexuelle ohne Migrationshintergrund hatten der Studie zufolge ein positiveres Selbstbild und eine
höhere Lebenszufriedenheit und mehr soziale Unterstützung. An dieser Stelle müssen auch Verbände wie zum
Beispiel der Zentralrat der Muslime in Deutschland mithelfen, indem sie auch einen Beitrag zur Aufklärung gegen Homosexuellenfeindlichkeit leisten.
Über die Anregung, interkulturelle Angebote für homosexuelle Jugendliche mit Migrationshintergrund in
den Nationalen Aktionsplan aufzunehmen, werden wir
sicher diskutieren. Die verschiedenen Angebote und Beiträge haben bisher auf vielfältige Weise mitgeholfen,
dass sich in den vergangenen Jahren vieles zum Positiven gewendet hat, wie der Antrag ja auch feststellt. Auf
diesem Weg muss es weitergehen.
Im Januar haben wir bereits im Plenum über den vorliegenden Antrag der Grünen „Schwule, lesbische und
transsexuelle Jugendliche stärken“ debattiert.
Im zuständigen Familienausschuss wurde deutlich,
dass die Vertreter der christlich-liberalen Koalition
auch bei diesem Thema meinen, die Hände nun in den
Schoß legen zu können, und darauf verweisen, Schwulen
und Lesben gehe es heute schließlich so gut wie nie.
Schauen wir uns die Situation einmal an:
Der unsägliche § 175, der so viel Leid und Ungerechtigkeit über homosexuelle Männer brachte, ist aus dem
Strafgesetzbuch getilgt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Homosexualität aus ihrem Katalog psychischer Krankheiten entfernt. In Deutschland hat die
rot-grüne Bundesregierung mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft schwulen und lesbischen Paaren die
Möglichkeit geschaffen, ihrer Beziehung einen rechtlichen Rahmen zu geben.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, verbietet ausdrücklich jegliche Benachteiligung aufgrund
der sexuellen Identität. Daher stimme ich der Einschätzung der Regierungsfraktionen in diesem einen Punkt
durchaus zu: Die rechtliche Gleichstellung und der
Schutz vor Diskriminierung für Lesben, Schwule und
Transsexuelle - gleich welchen Alters - war noch nie so
weit gediehen wie jetzt.
Obwohl noch einige wichtige Schritte zur völligen
Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe
fehlen - ich nenne hier nur die Beispiele Adoption und
Steuerrecht -, können wir dank einer guten rot-grünen
Antidiskriminierungspolitik feststellen: Es hat sich sehr
viel zum Positiven gewandelt!
Aber dies reicht nicht. Denn die tatsächliche Lebenssituation von gesellschaftlichen Minderheiten lässt sich
nicht nur mit Blick auf bestehende Gesetze oder Statistiken alleine bestimmen. Was wir brauchen, ist eine breit
angelegte Studie, die uns ein realistisches Bild der Lebenswirklichkeit von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendliche vermittelt. Wie der Presse aktuell zu
entnehmen war, hat sich der Kollege Jens Spahn von der
CDU an seine Parteifreundin Kristina Schröder gewandt und sie als zuständige Ministerin an das Thema
erinnert. Nun soll offenbar eine Machbarkeitsstudie klären, ob eine bundesweite Untersuchung durchgeführt
werden soll. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis, und
ich denke, eine Bundesregierung, die sich im Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben hat, für Chancengerechtigkeit für alle - unabhängig von der individuellen sexuellen Orientierung - zu sorgen, sollte ebenfalls
ein besonderes Interesse daran haben!
Denn eines ist klar: Rechtliche Gleichstellung und
wirksamer Antidiskriminierungsschutz ist das eine, gelebte und erlebte Toleranz und Gleichberechtigung im
Alltag das andere! Und dennoch: Gesetzliche Regelungen sind unverzichtbar und wichtig. Denn sie setzen den
Rahmen, damit eine Kultur der Akzeptanz und des Respekts von Minderheiten weiter reift und gestärkt wird.
Daher bedaure ich es sehr, dass Union und FDP die
Chance ausgeschlagen haben, sich einem breiten Bündnis zur Ergänzung des Art. 3 unseres Grundgesetzes anzuschließen, um über alle Parteigrenzen hinweg zu zeigen, dass Lesben und Schwule ausdrücklich in den
Diskriminierungsschutz unserer Verfassung aufgenommen werden sollten. Das wäre gerade im Hinblick auf
die Lebenssituation der jungen Menschen, über die wir
heute diskutieren, ein wichtiges Signal!
Zu Protokoll gegebene Reden
In der Frage, wie wir lesbische, schwule oder transsexuelle Jugendliche stärken können, darf es kein
Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern geben. Gerade beim zentralen Bereich Schule und Bildung
können wir als Bundespolitiker vorrangig an die Länder
appellieren, sich des Themas der sexuellen Vielfalt
couragierter anzunehmen, als das heute teilweise noch
der Fall ist.
Denn noch allzu oft kommt es in der Schule zu Beschimpfungen und verbalen Erniedrigungen. Mädchen
und Jungen werden gemobbt, von der Klassengemeinschaft ausgeschlossen oder sogar tätlich angegriffen.
Hier müssen wir ansetzen! Dazu brauchen wir Schulen,
die für Lehrende und Lernende einen diskriminierungsfreien Raum garantieren. Mein Heimatland NRW zeigt
mit dem Projekt „Schule ohne Homophobie - Schule der
Vielfalt“ ebenso wie Berlin mit der Initiative „Berlin
steht ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller
Vielfalt“, welche konkreten Verbesserungen im Bildungsbereich möglich und nötig sind, um wirksamen
Antidiskriminierungsschutz an Schulen zu verankern.
Dazu brauchen wir zum einen engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die das Thema ({0}) Vielfalt und
Diversity positiv und nicht etwa ausschließlich im Kontext Aufklärung oder HIV-Prävention behandeln. Dabei
dürfen wir auch nicht aus dem Blick verlieren, dass nicht
nur Jugendliche auf dem Weg zu ihrer selbstbewussten
sexuellen Identität Unterstützung und Beratung benötigen. Genauso gibt es schwule Lehrer oder lesbische
Lehrerinnen, die vor der Frage stehen, ob sie sich vor
Schülern oder Kollegium „outen“ sollen, oder die nicht
wissen, wie sie mit mehr oder weniger offenen Anfeindungen umgehen sollen. Doch erst, wenn schwule Lehrer und lesbische Lehrerinnen selbstverständlich und offen mit ihrer Homosexualität umgehen können, sehen
Schülerinnen und Schüler, dass dies ebenso normal ist
wie Heterosexualität.
Neben der Schule brauchen Jugendliche natürlich
auch noch andere Anlaufstellen. Neben dem Internet als
wichtiger Informationsquelle ist eine kompetente Vertrauensperson in der Nähe unerlässlich. Hier sind
sowohl die Länder in der Pflicht als auch der Bund.
Wir wollen, dass die Antidiskriminierungsstelle des
Bundes auch in Zukunft finanziell gut ausgestattet
bleibt, um neben ihrer Aufklärungs- und Beratungstätigkeit vor allem auch die Vernetzung mit Beratungsstellen
vor Ort weiter voranbringen zu können. Außerdem steht
die Bundesregierung in der Pflicht, den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Antisemitismus um das Problemfeld Homophobie zu erweitern und das Thema Akzeptanz von Homo-, Bi- und
Transsexualität im Nationalen Integrationsplan zu verankern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
stehen für eine bunte Gesellschaft, in der Vielfalt als Bereicherung und Normalität wahrgenommen wird.
Heute entscheiden wir abschließend über den Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen, der zum Ziel hat, schwule,
lesbische und transsexuelle Jugendliche zu stärken. Das
ist ein wichtiges Anliegen und verdient unsere volle Unterstützung.
Insbesondere fordert Bündnis 90/Die Grünen eine
umfassende Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit. Hier sind die Gelder, die für schwule und lesbische Jugendliche im Kinder- und Jugendplan ausgegeben werden, verschwindend gering. Im Kinder- und
Jugendplan von 2009 waren es lediglich 200 000 Euro,
die die Bundesregierung für diese Zielgruppe ausgegeben hat. Ganze 186 Millionen Euro gibt die Bundesregierung dagegen insgesamt für den Kinder- und Jugendplan aus.
Der hier vorliegende Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, man habe bereits die Mittel für die
schwule und lesbische Jugendarbeit erhöht, indem die
Mittel für das Projekt Lambda um 7 Prozent im Jahr
2011 erhöht worden seien. Die SPD-Bundestagsfraktion
begrüßt außerordentlich, dass die Mittel für das Projekt
Lambda um 2 000 Euro erhöht worden sind. Aber damit
ist natürlich nicht der Forderung Genüge getan, eine
umfassende Förderung von schwuler und lesbischer Jugendarbeit zu gewährleisten. Wer eine umfassende Förderung will, der muss Geld in die Hand nehmen, und
zwar einen angemessenen und gerechten Betrag.
Was wäre nun angemessen und gerecht? Auch wenn
ich jeden Tag an dem Kunstwerk von Thomas Locher
vorbeigehe, das mich und alle anderen Politiker ironisch
mahnt „Gerecht ist nur die Gerechtigkeit“, so sind doch
2 000 Euro mehr keine gerechte Verteilung der Mittel.
Wenn man von einer niedrigen Rate von schwulen und
lesbischen Jugendlichen ausgeht - und die niedrigste
Schätzung bewegt sich hier bei 5 Prozent -, dann müssten etwa 900 000 Euro für schwule und lesbische Jugendarbeit ausgegeben werden. Das ist jedoch nicht der
Fall. Stattdessen fehlen in diesem Bereich diese Mittel,
und das, obwohl es schwule, lesbische und transsexuelle
Jugendliche in unserer Gesellschaft schwer haben. Oft
sind sie sich ihrer sexuellen Orientierung noch nicht sicher und werden gehänselt, gemobbt und drangsaliert,
oder sie werden sogar Opfer von Gewalt. Diese Jugendlichen müssen vor Diskriminierung wirksamer geschützt
werden. Die Jugendlichen brauchen Ansprechpartner
und -partnerinnen, die beraten und helfen können. Insbesondere brauchen wir aber Programme, die die Akzeptanz von homosexuellen Jugendlichen stärken.
Welche Instrumente dafür eingesetzt werden können,
soll in einer breit angelegten bundesweiten wissenschaftlichen Studie zur Lebenssituation homosexueller
Jugendlicher untersucht werden. Hierzu liegt bereits ein
Beschluss des Bundestages vor, den wir als SPD-Bundestagsfraktion auch schon damals unterstützt haben.
Leider ist die Umsetzung in der Großen Koalition mit
Frau von der Leyen nicht möglich gewesen. Diese Studie
ist wichtig, um Erkenntnisse über die Lebenssituation
von homosexuellen Jugendlichen zu erhalten, um daraus
Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung abzuleiten.
Viele Maßnahmen, die wir brauchen, um der Diskriminierung von schwulen, lesbischen und transsexuellen
Jugendlichen entgegenzuwirken, fallen leider in den
Zu Protokoll gegebene Reden
Aufgabenbereich der Länder. Hier müssen wir alle an einem Strang ziehen, auch die Länder müssen ihren Beitrag leisten. Wir brauchen ein Aufbrechen heteronormer
Familien- und Wertvorstellungen in Schul- und Sachbüchern. Wir brauchen eine verbesserte Aus- und Fortbildung von Lehrkräften zu diesen Themen. Wir brauchen
verbesserte Schulungen von Lehrkräften im Umgang mit
homo- und transsexuellen Jugendlichen sowie Schulungen zur Vorgehensweise bei und zum Umgang mit diskrimierenden Situationen und diskriminierendem Verhalten
von Schülern und Schülerinnen.
Es steht außer Frage, dass noch immer Lesben,
Schwule, Bisexuelle, Transgender, transsexuelle und intersexuelle Menschen in Deutschland diskriminiert werden. Sie sind in unserer Gesellschaft auch heute noch
Anfeindungen, gewaltsamen Übergriffen und Benachteiligungen ausgesetzt. Viele Gesetze haben zwar die rechtliche Situation inzwischen deutlich verbessert, aber ein
ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund
der sexuellen Identität im Grundgesetz würde endlich
eine klare Maßgabe für die Gesetzgebung schaffen. Wir
brauchen ein öffentliches und deutliches Bekenntnis,
dass Gesichtspunkte der sexuellen Identität eine ungleiche Behandlung unter keinen Umständen rechtfertigen
können. Dafür brauchen wir eine Änderung des Art. 3
Abs. 3 Satz 1 GG. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die
Linken haben hierzu jeweils Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, die bereits in den Ausschüssen von
den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden sind. Die
abschließende Lesung steht hier noch aus. Aber schon
heute ist klar, dass wir in dieser Frage wieder einmal
nicht vorankommen. Es ist absolut unverständlich, warum die schwarz-gelbe Koalition in dieser Frage so
zögerlich ist, zumal wir seit 2009 in der EU-Grundrechtscharta den Diskriminierungsschutz für Lesben,
Schwule und Transgender verankert haben.
Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
den wir heute abschließend beraten, richtet unser Augenmerk auf die Lebenssituation von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen, und das zu
Recht.
Es ist nicht zu bestreiten, dass Homosexuelle und
Transsexuelle - unabhängig von ihrem Alter - noch immer Benachteiligungen ausgesetzt sind, auch wenn
gleichstellungs- und gesellschaftspolitisch schon viel erreicht wurde. Wir müssen nicht allzu weit zurückgehen,
um uns dies zu vergegenwärtigen. Ich möchte Sie nur an
den § 175 StGB erinnern, der sexuellen Kontakt zwischen Männern unter Strafe stellte. Im Volksmund
sprach man statt von Homosexuellen gar von „175ern“.
Und auch heute treffen offen lebende Homosexuelle und
Transsexuelle noch auf Vorbehalte. Deshalb ist es nach
wie vor unsere Aufgabe, gegen die Diskriminierung von
gleichgeschlechtlich orientierten Mitgliedern unserer
Gesellschaft vorzugehen und anzuarbeiten.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP nimmt sich
dieser Aufgabe an. Die durch uns erreichte Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der
Ehe in den Bereichen BAföG, Grunderwerb- und Erbschaftsteuer, Beamten-, Soldaten- und Richterrecht belegt dies eindrucksvoll. Zugleich senden wir mit diesen
Rechtsänderungen ein klares Signal für mehr gesellschaftliche Liberalität und Vielfalt in unsere Gesellschaft hinein.
Seit der ersten Beratung des vorliegenden Antrages
hat sich auch einiges getan. So hat unsere liberale Justizministern, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, endlich erreicht, wozu weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot
in den letzten Jahren imstande waren: In diesem Jahr
werden 10 bis 15 Millionen Euro für die Gründung der
Magnus-Hirschfeld-Stiftung als Startkapital bereitgestellt. Das ist ein wichtiger, aber auch überfälliger
Schritt, für den sich meine Fraktion seit langem mit
Nachdruck eingesetzt hat. Die Stiftung wird sich unter
anderem gegen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber
Lesben und Schwulen wenden und durch Bildung und
Forschung gesellschaftlicher Diskriminierung entgegenwirken. Im Zuge dieser Aufgabe wird die Fortbildung und damit die Sensibilisierung von Multiplikatoren
in der Schul- und Jugendarbeit mit Sicherheit zu den
Aufgaben der Stiftung gehören.
Dies ist uns Liberalen besonders wichtig, weil wir
hier an einem Punkt ansetzen, der die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen tatsächlich erreicht. Wo findet
denn ein Großteil der Sozialisierung Jugendlicher statt?
Wo spielt sich ein Großteil ihres Lebens ab? Richtig, in
der Schule. Deshalb ist es der Bundesregierung und insbesondere meiner Fraktion ein Anliegen, gerade in diesem Umfeld dafür zu sorgen, dass diejenigen, die täglich
mit Jugendlichen zu tun haben - Lehrer, Pädagogen, Jugendarbeiter - stärker sensibilisiert werden und das nötige Handwerkszeug erhalten, um noch besser gegen die
Diskriminierung von homosexuellen und transsexuellen
Jugendlichen vorgehen zu können.
Aber wir müssen auch bei diesem Thema ehrlich miteinander umgehen. Aktuell wird ja über das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bildungswesen
diskutiert, auch in meiner Partei. Unabhängig davon,
wie diese Diskussionen ausgehen, steht trotzdem außer
Frage, dass der Bund nicht alles leisten kann. Für das
Schulwesen sind und bleiben in erster Linie die Länder
zuständig. Daher muss ich den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen auch sagen, dass Sie sicherlich in
ihrem Antrag viele gute Forderungen aufführen, aber
dass Sie sich hier in vielen Punkten leider den falschen
Adressaten ausgesucht haben.
Wenn Bildungspolitik einen höheren Stellenwert erhalten und im Umfeld von Bildungseinrichtungen mehr
für die Gleichstellung von homosexuellen und transsexuellen Jugendlichen erreicht werden soll, müssen wir
- und damit meine ich ausdrücklich die Mitglieder aller
Fraktionen - die Länder und unsere Kollegen in den
Landesparlamenten stärker in die Verantwortung nehmen.
Nur um es Ihnen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen
- ich hatte bereits in der ersten Lesung des Antrages darauf hingewiesen -: Uns Liberalen ist es zwischen 2005
und 2010 in NRW trotz harter Sparpolitik gelungen,
Zu Protokoll gegebene Reden
Fördermittel für die schwul-lesbische Selbsthilfe zu erhalten. Aus diesen Mitteln wurde unter anderem das
Schulaufklärungsprojekt SCHLAU NRW finanziert. Damit haben wir bewiesen, dass es selbst in einer schwierigen Finanzlage möglich ist, eigene Schwerpunkte zu setzen.
Darüber hinaus möchte ich betonen, dass der Bund
seine Aufgaben im Rahmen des Kinder- und Jugendplanes hervorragend wahrnimmt. Die Förderung von Projekten, Programmen und Institutionen, die sich für die
Gleichstellung und Unterstützung von schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen einsetzen, sind
schon lange ein ganz selbstverständlicher Bestandteil
der Förderstruktur im Kinder- und Jugendplan des Bundes, und sie werden es auch bleiben. Zum Jahr 2011
wurden beispielsweise die Mittel für den Jugendverband
Lambda um 7 Prozent erhöht, was dies nochmals unterstreicht.
Im Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
schwingt der Vorwurf mit, dass sich diese Regierung
nicht um homosexuelle und transsexuelle Jugendliche
bzw. Homosexuelle und Transsexuelle insgesamt kümmere. Ihr dem Thema völlig unangemessenes Auftreten
im Zuge der Ausschussberatung des Antrages hat dazu
beigetragen, dass sich dieser Eindruck bei mir, aber sicherlich auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen verfestigt hat. Daher möchte ich diese Möglichkeit nutzen
und nochmals öffentlich klarstellen, dass sich die FDP
unvermindert für gesellschaftliche Vielfalt und die
Gleichberechtigung von Homosexuellen und Transsexuellen einsetzt. Auf Erfolge im Inland, wie die längst
überfällige und notwendige Unterstützung der MagnusHirschfeld-Stiftung, die die Grünen in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt haben, habe ich schon hingewiesen.
Ich möchte Ihren Blick aber auch auf die Außenpolitik lenken. So sind es Liberale wie Entwicklungsminister
Dirk Niebel und Außenminister Guido Westerwelle, die
international Flagge zeigen und klar gegen Homophobie eintreten. Das Auswärtige Amt fördert in diesem
Jahr erstmals zwei Schwulen- und Lesbenprojekte im
Ausland. Im Fall Malawis wurde wegen Strafverschärfungen gegen Homosexuelle erstmals Entwicklungsgelder durch das zuständige Ministerium eingefroren - ein
Novum. In Uganda wurde die Entwicklungshilfe für die
kommenden Jahre an die Bedingung geknüpft, dass
Pläne im ugandischen Parlament zur Verschärfung der
Homosexuellengesetze nicht realisiert werden. Unter
Rot-Grün, mit dem ehemaligen Außenminister Josef
Fischer, über dessen Rückkehr auf die politische Bühne
als Kanzlerkandidat hinter vorgehaltener Hand diskutiert wird, hat es ein solch entschiedenes Eintreten für
die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlich orientierter Menschen im Ausland jedenfalls nicht gegeben.
All dies beweist: Die Gleichstellungspolitik ist in guten Händen.
Der vorliegende Antrag ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man diskriminierte Jugendliche konkret unterstützen kann. Diskriminierungen jeglicher Art sind in einem demokratischen Staat nicht hinnehmbar. Hier sind
wir ein erhebliches Stück vorangekommen. In der ersten
Lesung teilten alle Parteien die Intention des Antrags
und bestätigten, dass Handlungsbedarf besteht.
Doch die Vertreter der Regierungskoalition verwiesen lapidar auf die Verantwortung der Länder und Kommunen. Meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, stellen Sie sich Ihrer Verantwortung, und lassen
Sie lesbische, schwule, transsexuelle, transgender und
intersexuelle Jugendliche nicht im Regen stehen! Diskriminierte junge Menschen benötigen unsere Hilfe. Die
Diskriminierung junger Menschen schreibt in deren Biografie eine bleibende Lebenserfahrung ein. Statt des
Wegschiebens von Verantwortung benötigen sie konkrete
Unterstützung. In dem Antrag wurde auf die konkret
nutzbaren Handlungsspielräume auf Bundesebene hingewiesen. Wir benötigen eine gesamtgesellschaftliche
Strategie. Diese Strategie müssen wir hier entwickeln
und koordinieren. Dies ist unsere Aufgabe. Es darf nicht
sein, dass nur einzelne Länder und Kommunen Notfallhilfe anbieten, positive Beispiele, die isoliert dastehen
wie ein Fels in der Brandung.
Ein Beispiel für das konkrete Handeln vor Ort ist das
letzten Monat in Berlin eröffnete Zentrum „Queer leben“. Es ist Europas erstes Zentrum für queer lebende
und transidente Jugendliche. Bei der Eröffnung stellte
die Leiterin Mari Günther klar, dass die Notwendigkeit
zur Einrichtung dieses Zentrums vorhanden ist. Jugendliche Menschen aus ganz Deutschland wandten sich an
Beratungsstellen in Berlin. Sie flüchteten vor ihren Eltern, sie wandten sich anonym an Sozialberater oder
waren obdachlos. Sie berichteten von schwerwiegenden
Ausgrenzungen in der Schule, durch Verwandte und Eltern sowie Bekannte.
Die zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums haben es rund um die Uhr mit schwerwiegenden
Problemen zu tun. Jugendliche werden gemobbt, drangsaliert und auch geschlagen, nur weil sie scheinbar anders sind. Das Land Berlin hat hier eine konkrete Hilfe
geleistet, und sie ist dringend notwendig.
Homophobie und Transphobie sind kein vorübergehendes Phänomen. Es sind sehr reale Ängste einer
Mehrheitsbevölkerung, die gegenüber den Betroffenen
in Abwehr und Ausgrenzung münden. Es ist nicht hinnehmbar, dass bedrohte Jugendliche verängstigt der
Schule fernbleiben, dass sie an der Schule keine Ansprechpartner für ihre Probleme finden, dass sie aus der
elterlichen Wohnung flüchten, da die Eltern sie nicht akzeptieren, nur wegen ihrer Sexualität bzw. ihrer Geschlechtlichkeit. Wir müssen die Betroffenen konkret unterstützen. Wir müssen Strukturen schaffen, sodass
Eltern, Lehrkräfte und Mitschülerinnen und Mitschüler
Ängste abbauen. Schwul, lesbisch, transsexuell, transgender und intersexuell sollten weder hier noch in der
Gesellschaft Beschreibungen sein, vor denen man sich
fürchtet. Die sexuelle Vielfalt ist eine Realität, und sie ist
eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft. Hier
muss der Bundesgesetzgeber seine Verantwortung wahrnehmen. Wir werden diesem Antrag zustimmen, denn die
Zu Protokoll gegebene Reden
Betroffenen verdienen nicht warme Worte, sondern konkrete Unterstützung.
Es freut mich, dass wir mit unserem Antrag eine bun-
desweite Debatte über die Lebenslage von schwulen,
lesbischen und transsexuellen Jugendlichen anstoßen
konnten. Ich bin stolz darauf, dass die rot-grüne Regie-
rung in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen die
Bekämpfung von Homophobie als Querschnittsaufgabe
aktiv angeht und im Landesjugendplan die Unterstüt-
zung schwuler, lesbischer und transsexueller Jugendli-
che absichert. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jah-
ren auf den ersten Blick offener und toleranter geworden
- nicht zuletzt durch das unermüdliche Engagement der
lesbisch-schwulen Bürgerrechtsbewegung und durch
rot-grüne Reformen wie die eingetragene Lebenspart-
nerschaft. Auf den zweiten Blick bleibt das Coming-out
für viele junge Schwule und Lesben auch im Jahr 2011
ein belastender und schwieriger Prozess, weil sie damit
Ablehnung oder Anfeindungen riskieren - in der Fami-
lie, in der Schulklasse oder im Ausbildungsbetrieb.
Schwule und lesbische Jugendliche leiden in beson-
derer Weise unter Vorurteilen, Ausgrenzung und Mob-
bing und brauchen daher dringend Unterstützung und
Solidarität. Mir ist unverständlich, wie dies von Teilen
der Union weiterhin ignoriert werden kann. Wenn „du
schwule Sau“ zur meistgenutzten Beschimpfung auf un-
seren Schulhöfen zählt, dann sind wir meilenweit davon
entfernt, dass alle ohne Angst verschieden sein können
und Vielfalt wertgeschätzt wird. Alle Jugendlichen ver-
dienen Respekt und haben ein Recht auf beste Bedingun-
gen für ein selbstbestimmtes und diskriminierungsfreies
Aufwachsen. Schulen, Jugendeinrichtungen, Sportstät-
ten, Vereine und Verbände müssen daher endlich aller-
orts zu Orten ohne Homophobie werden. Geradezu alar-
mierend ist das vielfach höhere Suizidrisiko von
schwulen und lesbischen Jugendlichen im Vergleich zu
ihren heterosexuellen Altersgenossen. Die Bundesregie-
rung hat uns trotzdem mehrfach mitgeteilt, dass sie
hierzu „keinen Handlungsbedarf“ sieht. Wir halten das
für einen gesellschaftspolitischen Skandal.
Obwohl vom Bundestag schon 2005 beschlossen, gibt
es immer noch keine Studie, die ein umfassendes Ge-
samtbild über die Lebenslagen homosexueller Jugendli-
cher liefert. Die beiden zuständigen CDU-Jugendminis-
terinnen sind in dieser Hinsicht sechs Jahre lang untätig
geblieben.
Ich fordere Ministerin Schröder auf: Erleben Sie end-
lich Ihr jugendpolitisches Coming-out, und werden Sie
aktiv! Sie müssen Ministerin für alle Jugendlichen in
diesem Land sein, nicht nur für die heterosexuelle Mehr-
heit.
Es wäre schön, wenn infolge unserer Initiativen end-
lich ein Umdenken beginnen würde. Frau Schröder ant-
wortete mir dieser Tage, dass die Regierung eine Mach-
barkeitsstudie zur Studie prüfe. Wir hoffen, dass sie
dabei bald zu einem positiven Ergebnis kommt und den
Widerstand gegen eine fundierte Datenbasis aufgibt.
Eine breit angelegte bundesweite wissenschaftliche Stu-
die zur Lebenssituation homosexueller Jugendlicher
muss neben einem aktuellen Gesamtbild auch Hand-
lungsempfehlungen zur Überwindung homosexuellen-
feindlicher Einstellungen beinhalten. Hierbei sollten un-
ter anderem Formen und Orte der Diskriminierung,
gesundheitliche Belastungen und die Verbreitung homo-
phober Einstellungen eine Rolle spielen.
Es darf nicht sein, dass schwule, lesbische und trans-
sexuelle Jugendliche ausgeblendet bleiben. Damit sie
als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft aner-
kannt und akzeptiert werden, bedarf es eines umfangrei-
chen Handlungs- und Aktionsplans von Bund und Län-
dern. Unser Antrag zeigt hierzu verschiedene wirksame
Maßnahmen auf: Es ist unerlässlich, eine umfassende
Förderung der schwul-lesbischen Jugendarbeit zu ver-
ankern und die wenigen sowie mit mickrigen 200 000
Euro völlig unterfinanzierten Angebote im Kinder- und
Jugendplan des Bundes systematisch auszubauen. Ju-
gendliche benötigen bundesweit flächendeckend Bera-
tungsstellen, in denen sie konkrete Unterstützung, An-
sprechpartner und Vertrauenspersonen finden. Gegen
Herabwürdigungen und Mobbing braucht es nachhal-
tige Präventionsstrategien, die gemeinsam mit den Län-
dern ergriffen werden müssen. Wir brauchen in allen
Bundesländern verbindliche Rahmenrichtlinien, damit
in Bildungs- und Jugendeinrichtungen die Vielfalt der
sexuellen Identitäten vermittelt wird. Lehrer und Ju-
gendleiter müssen in ihrem Studium und in Weiterbil-
dungen für sexuelle Vielfalt und den Umgang mit Homo-
sexualität sensibilisiert werden. Auch die verschiedenen
Medien bis hin zu Schulbuchverlagen sind dazu aufge-
fordert, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht
zu werden und unter anderem über die Vielfalt der Fami-
lienformen, verschiedene sexuelle Identitäten sowie die
Geschichte der Homosexuellenverfolgung und -bewe-
gung in Deutschland zu informieren. Der nationale Inte-
grationsplan ist um interkulturelle Angebote zu den The-
men sexuelle Vielfalt sowie Homo- und Transphobie zu
erweitern. Dazu gehören auch Angebote für schwule
und lesbische Jugendliche mit Einwanderungsge-
schichte, deren Familien zum Beispiel aus Herkunftslän-
dern mit Homosexuellenverfolgung stammen. Sie sind
als Migranten und Homosexuelle von doppelter Diskri-
minierung bedroht - das muss sich endlich ändern. Not-
wendig sind zudem zusätzliche zielgruppengerechte In-
formationen und Angebote für alle Jugendlichen und
ihre Angehörigen. Dafür müssen in der Bundeszentrale
für politische Bildung, der Bundeszentrale für gesund-
heitliche Aufklärung, dem Bundesfamilienministerium
sowie den schwul-lesbischen Jugend- und Bürgerrechts-
verbänden Ressourcen zur Verfügung gestellt und krea-
tive Strategien gegen Homophobie etabliert werden.
Es gibt also noch viel zu tun, damit sich Jugendliche
problemlos und sorgenfrei outen können. Die Bundes-
regierung muss sich den genannten Herausforderungen
endlich bewusst werden und dementsprechend handeln!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4954, den
Vizepräsident Eduard Oswald
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/4546 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialdemokraten, die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion.
Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Die Regierungsbank weise ich darauf hin, dass wir
gerne die Abstimmungen konzentriert zu Ende führen
wollen. Ich wollte damit nur darauf aufmerksam ma-
chen, dass die Regierungsbank noch besetzt ist.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd
Bollmann, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zeitnahe Information des Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsordnung
- Drucksache 17/5898 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Marco
Bülow, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Wertstofferfassung im Rahmen des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung
- Drucksachen 17/5484, 17/5886 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Horst Meierhofer
Dorothea Steiner
Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, die ihre
Reden zu Protokoll gegeben haben, liegen bei uns vor. Sie sind damit einverstanden.
Zum Antrag der SPD „Zeitnahe Information des
Deutschen Bundestages über die Ergebnisse des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung“ kann kurz und knapp festgehalten werden: Niemandem ist verboten, sich bei den Beteiligten über
ebendiese Ergebnisse des sogenannten Planspiels kundig zu machen, und ganz sicher werden weder die Bundesregierung noch die Länder noch die Kommunen noch
die Verbraucher- und Umweltverbände noch die Entsorgungs- und Recyclingwirtschaft noch der Handel und
die Industrie die Auskunft darüber verwehren, wie sie
diesen Prozess und die Ergebnisse beurteilen. Zudem ist
das BMU für die SPD auch nach dem Abgang des Kollegen Gabriel nach wie vor auskunftsbereit, gerade in der
Abteilung Abfallwirtschaft, wie wir alle annehmen dürfen.
Ist es nicht überhaupt vornehmste Aufgabe der Parlamentarier, sich nicht alles von der Regierung vorsetzen
zu lassen, sondern eigene Bewertungen vorzunehmen,
um diese der Regierung mitzuteilen als den Willen der
vom Volk gewählten Vertreterinnen und Vertreter? Und
ist dies nicht noch weit mehr die Aufgabe der Opposition, zumal aus den Reihen der beantragenden Fraktion
mit dem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier und dem Parteivorsitzenden Gabriel, gerade zwei ehemalige Kabinettsmitglieder, einer zudem mit unmittelbarer Verantwortung als hier zuständiger Umweltminister?
Offen gesprochen verstehe ich die Befassung des Parlaments in Form eines Antrages hier nicht. Es gibt wirklich wichtigere und gehaltvollere Anträge als die Bitte
um bereits gegebene Information wie im zuständigen
Fachausschuss des Parlaments, die sicherlich unter dem
neuen Bundesumweltminister Röttgen weit offener gehandhabt wird als unter seinem Vorgänger Gabriel und
dessen Staatssekretären.
Zur Sache selbst darf ich anführen, dass ich über
erste Kenntnisse und Bewertungen des Planspiels beim
UBA in Dessau aus diesen Tagen schon verfüge - und
dass ich mir diese Informationen als Teil meiner parlamentarischen Arbeit geholt habe, so wie dies andere sicherlich auch tun können. Dass neben den politisch realistischen und praktisch umsetzbaren beiden Modellen
beim Planspiel zur Wertstofftonne auch noch die „Wolkenschieber-Modelle“ einer Vollprivatisierung oder
Vollkommunalisierung geprüft werden sollen, reiht sich
in diese seltsame Antragstellung der SPD ein. Warum
sollen wertvolle Ressourcen und viel Zeit von Experten
und Betroffenen in die Evaluierung von Modellen gesteckt werden, die mutmaßlich nie zum Tragen kommen?
Als Abgeordneter mit einem vollen Kalender verstehe
ich sehr gut, dass von den Beteiligten aus den Modellen
diejenigen für ein Planspiel ausgewählt wurden, die eine
Basis für eine zukünftige Regelung zum Wohle aller bilden können.
Dass es dabei ein „Hauen und Stechen“ um Platzvorteile bei der Verteilung von Wertstoffen geben wird, ist
angesichts der veränderten Rohstoffbasis und der zu erwartenden Gewinne und zähen Verteidigung von Marktpositionen keine Überraschung mehr; das haben wir
jedes Mal erleben müssen, wenn wir bei der Verpackungsverordnung im Dschungel der Interessen von
Handel, Kommunen und Entsorgern die Kämpfe um den
Müll und dessen möglichst preisgünstiger Entsorgung
gesehen haben. Während die einen die anderen bei den
Preisen drücken, um Margen zu optimieren, und die anderen um ihre angestammten oder angestammt geglaubten Plätze in der Stoffstromwirtschaft kämpfen, muss
niemand befürchten, dass der Bundestag und diese Bundestagsmehrheit eine vollstaatliche oder marktradikale
Lösung tragen werden. Wir werden im Umweltausschuss, mit den Ländern und Kommunen sowie mit den
Betroffenen und Beteiligten den bereits begonnen Dialog eng halten, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kommen.
Allerdings rate ich zu Sachlichkeit statt zu Panik: Das
Planspiel ist ein Plan und ein gedankliches Spiel, keine
Ergebnisvorwegnahme. Entscheiden wird nicht eine Abteilung im BMU, sondern der Bundestag gemeinsam mit
dem Bundesrat. Wie wir alle wissen, bilden das BMU in
seiner neuen Führung und zudem unser föderaler Mechanismus solide Grundlagen dafür, dass zur Panik über
angeblich nicht erfolgende Unterrichtung nun in der Tat
kein Grund besteht. Die Erörterungen lassen sich nach
meinen Informationen gut an, bei bekannt unterschiedlichen Positionen der Beteiligten. Nichts Neues unter der
Sonne in Dessau. Bis Jahresende wird jeder, der wissen
will, wie es wirklich war, dies auch wissen können - inklusive der Kolleginnen und Kollegen von der Partei,
die bis vor kurzem noch den Bundesumweltminister
stellte. Ich wünsche uns allen den Fleiß und die Gelassenheit, um dies ohne große Anträge auf Selbstverständlichkeiten im Plenum zu erreichen. Ich helfe gerne dabei
mit, dass alle den notwendigen Informationsstand erhalten.
Die Umsetzung und Durchführung des Planspiels zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung verwundert mich sehr. Im Rahmen der 5. Novelle der Verpackungsverordnung wurden die unterschiedlichsten Möglichkeiten, insbesondere bezüglich Organisation und
Zuständigkeit, kontrovers diskutiert. Genau wie bei der
heutigen Diskussion um das Kreislaufwirtschaftsgesetz
vertraten Kommunen und öffentlich-rechtliche Entsorger einerseits und Teile der privaten Entsorgungswirtschaft andererseits unterschiedliche Positionen. In der
teilweise heftig geführten Diskussion gab es aber einen
Konsens: Sämtliche Modelle sollten in einem Planspiel
vorbehaltlos untersucht werden. Alle Beteiligten haben
sich in den damaligen Gesprächen dafür ausgesprochen, dass alle, auch unkonventionelle, neue Modelle
überprüft werden sollen. Dies hatte das Bundesumweltministerium damals zugesagt.
Das Gegenteil ist aber jetzt passiert. Das Bundesumweltministerium hatte Gutachten über vier mögliche
Modelle zur Zuständigkeit einer Wertstofftonne vergeben. Beim Planspiel werden aber nur zwei Modelle untersucht. Die Gutachter stellten zum Modell 4, Wertstofftonne in kommunaler Trägerschaft, fest, dass dieses
Modell eine Überlegung zu einer grundlegenden Neuorientierung der Abfallwirtschaft darstellt. Daher, so die
Gutachter, müsse es noch weiter konkretisiert und geprüft werden. Und genau dies müsste in dem Planspiel
passieren. Neue Wege sollten überprüft werden und
nicht nur die Auswirkungen eines Weiter-so, verbunden
mit weiteren Privatisierungen.
In der jetzt durchgeführten Form ist das Planspiel
keine vorurteilsfreie Prüfung, sondern ein Placebo, mit
welchem Teile der Regierungsparteien ihre Privatisierungspläne in der Entsorgungswirtschaft tarnen. Es ist
ähnlich wie bei der Novelle der Kreislaufwirtschaft und
des Abfallrechts. Öffentlich wird erklärt, die Daseinsvorsorge der Kommunen soll gestärkt werden, in Wirklichkeit findet genau das Gegenteil statt.
Meine Damen und Herren von FDP und Union, es ist
Ihr gutes Recht, sich für eine weitere Privatisierung der
Hausmüllentsorgung einzusetzen. Aber dann sagen Sie
ehrlich, was Sie anstreben. Hören Sie auf, zu behaupten,
Ihre Pläne in der Abfallpolitik führen zu einer Stärkung
der kommunalen Zuständigkeit.
Noch ein kurzes Wort zu unserem zweiten Antrag zur
zeitnahen Information des zuständigen Ausschusses
über die Ergebnisse des Planspiels. Eigentlich sollte
dies selbstverständlich sein. Die bisherigen Äußerungen
aus dem Ministerium lassen mich aber das Gegenteil befürchten. Ich hoffe jedoch, dass Sie alle einem Antrag,
welcher die Rechte des Parlaments einfordert, zustimmen werden.
Die SPD zeigt mit dem Antrag nur allzu deutlich ihre
Scheinheiligkeit: Der Titel ihres Antrags lautet: „Vorurteilsfreie Prüfung der Modelle zur Werstofferfassung im
Rahmen des Planspiels zur Fortentwicklung der Verpackungsverordnung“. Vorurteilsfrei sind sie nicht, das ist
so sicher wie das Amen in der Kirche. Vor Wochen schon
ließ die SPD-Fraktion über eine Pressemitteilung verlautbaren, die künftige Wertstofftonne gehöre in kommunale Zuständigkeit. Sie erwarten mit Ihrer Forderung,
dass die Regierung ohne politische Vorgaben ein Planspiel umsetzt und sich nach Beendigung des Planspiels
für den sinnvollsten Weg entscheidet. Hiergegen ist ja
erst einmal nichts einzuwenden. Nur: Lassen Sie sich an
Ihrem Maßstab messen. Sie haben für sich ja schon
längst entschieden, wo Sie hinwollen, und zwar ganz unabhängig vom Ausgang von Gutachten, ganz unabhängig von Ressourcenschonung, von mehr Recycling, von
mehr Innovationen und ganz unabhängig von der Existenz unseres Mittelstandes. Sie sind dermaßen von Ihrer
fixen Idee einer Rekommunalisierung getrieben, dass
Sie maßlos über das Ziel hinausschießen.
Drei Gutachten hat das Bundesumweltministerium im
Vorfeld dieses Planspiels erstellen lassen: Das erste war
eine Evaluierung der Verpackungsverordnung, das
zweite handelt von der idealen Zusammensetzung einer
Wertstofftonne, und das dritte dreht sich um die Möglichkeit der Finanzierung. Im ersten Gutachten wurden
zwei empfohlene Modelle für ein mögliches Planspiel
vorgeschlagen. Nach dem ersten Modell fällt die Wertstofftonne in die kommunale Hand, nach dem zweiten
wird über die Produktverantwortung die Wertstofftonne
dem Markt frei zugänglich gemacht. Nun gibt es jede
Menge Mischformen, je nachdem, ob öffentlich-rechtliche oder private Entsorger für Erfassung, Sortierung
und Finanzierung zuständig sein. Genau diese Mischformen waren nun Gegenstand des letzten Gutachtens,
weshalb es naturgemäß zu mehr untersuchten Modellen
kam.
Das Planspiel konzentriert sich nun auf die beiden
Varianten kommunale bzw. private Trägerschaft der
Wertstofftonne. Insofern ist selbst die von Ihnen präferierte Lösung Gegenstand des Planspiels. Wir machen
damit etwas, was Sie uns umgekehrt sicherlich niemals
zugestanden hätten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich halte unabhängig davon Ihre Position und totale
Befürwortung einer Rekommunalisierung für den falschen Weg in der Abfallpolitik. Erkennen Sie endlich an,
dass gerade auch die breit aufgestellte mittelständische
Entsorgungswirtschaft für den rasanten Schub im
Recycling verantwortlich ist. Hier sind viele kreative, innovative und neue Ideen angesiedelt. Fast alle Sortieranlagen sind in privater Hand. Schlagen Sie nicht den
Weg ein, all diese Erfolge kaputtzureden, indem Sie meinen, mit den Kommunen durch Ihr Verhalten schlagkräftige Verbündete und Stimmen zu gewinnen.
Es besteht jedenfalls eine Notwendigkeit, das System
zu reformieren. Eine Lösung kann nur darin bestehen,
einen vernünftigen Ausgleich zwischen kommunalen und
privaten Interessen, aber auch zwischen Ressourcenschonung und möglicherweise entgegenstehenden ordnungspolitischen Bedenken zu finden. Uns geht es
primär allerdings darum, das System zukunftsfest zu machen. Im Fokus muss dabei die maximal mögliche Wiederverwertung stehen: Weg vom Verbrauch, hin zum Gebrauch. Das Denken in Kreisläufen müssen wir stärken.
Der erste Schritt dabei kann nur sein, möglichst viele
Materialien aus der Verbrennung herauszubekommen
und dem Recycling zuzuführen. Wann ist dies der Fall?
Dies ist der Fall, wenn wir über eine einheitliche Wertstofftonne 600 000 Tonnen jährlich mehr in der Wiederverwertung haben. Dabei schaffen wir Einheitlichkeit
und Transparenz, indem wir die gelben Tonnen und Säcke abschaffen und eine auf Ressourcenschutz ausgerichtete Wertstofftonne aufstellen. Wie wir die Wertstofftonne organisieren und finanzieren, ist dann natürlich
die entscheidende Frage, um die bloße Menge auch tatsächlich in eine hohe Recyclingqualität umzusetzen.
Und um das zu erreichen, brauchen wir Wettbewerb und
keine Monopole.
Wir wollen eine faire Gleichbehandlung. Eigens dafür ist auf unser Drängen die neutrale Stelle in die Gesetzesbegründung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz gekommen. Nur das schafft Wettbewerb. Wettbewerb
schafft Umwelt- und Ressourcenschutz. Daraus folgen
Marktführerschaft und Arbeitsplätze. Übrigens: Wenn
die Kommunalunternehmen das bessere Angebot machen, werden sie auch den Zuschlag erhalten. Von einer
„kommunalfeindlichen“ Haltung sind wir meilenweit
entfernt; das läge mir als Stadtrat ohnehin fern!
Mit Ihrem Denken, sehr geehrte Damen und Herren
von der Opposition, sind Sie alle nur davon beseelt, sich
gegenseitig in scheinbaren Wohltaten gegenüber den
Kommunen zu überbieten. Wir machen einen schwierigen Gesetzgebungsprozess durch, in dem die Interessen
der Kommunen genau wie alle anderen Interessen Berücksichtigung finden, und lassen uns vom gesellschaftlichen Interesse leiten. Einen derartigen Ansatz kann ich
bei Ihrem Antrag leider nicht erkennen.
Die EU-Abfallrahmenrichtlinie legt den Schwerpunkt
auf die Abfallhierarchie. Dies bestimmt, dass man erstens Abfall vermeidet. Geht dies nicht, folgt eine nächste
Stufe, die beinhaltet wiederverwenden, abgestuft folgen
stofflich verwerten und thermisch verwerten und als
letze Möglichkeit entsorgen. Damit sollen zukünftig
Kunststoffe, Metalle, Elektronikschrott und andere Abfälle einer besseren Verwertung zugeführt werden, Die
aktuellen Verwertungsquoten zeigen auch in Deutschland: Hier besteht noch ein beträchtliches Potenzial.
Zur Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie setzt die
Regierung auf Wertstofftonnen. Es soll das beste System
gefunden werden.
Scheinbar objektiv wurden vier Modelle der Sammlung, der Verwertung und der Trägerschaft diskutiert.
Keines der Modelle betrachtete jedoch ein System, welches die Verantwortung in öffentlicher Hand sieht. Drei
rein privatwirtschaftliche Modelle wurden betrachtet
und ein Modell mit kommunaler Beteiligung.
Jetzt wurde die Betrachtung auf zwei Modelle reduziert, FDP-mäßig blieben nur rein private Modelle übrig. Gegen diese Reduzierung der Betrachtung steht der
Antrag der SPD.
Das duale System ist ein Erfolg, deshalb muss die
Wertstofferfassung privatisiert werden. So die Regierung. Für wen ist das duale System ein Erfolg? Für den
Bürger - nein. Statt mit der Müllgebühr die Entsorgung
zu bezahlen, zahlt er diese jetzt bereits an der Ladentheke. Zusätzlich zu den Gewinnen aus der Thekengebühr kassieren die privaten Entsorger gute Gewinne
aus der Verwertung der Verpackungen.
Jetzt sollen noch die Wertstoffe aus den Mülltonnen in
die Wertstofftonnen und damit zu den privaten Entsorgern. Die Einnahmen für diese zusätzlichen Wertstoffe
kassiert wer? Klar, die privaten Entsorger.
Die Müllabfuhr bleibt jedoch bei den Kommunen.
Bisher flossen die Erlöse aus verwertetem Müll an die
Kommunen und senkten die Müllgebühren. In meinem
Thüringer Wahlkreis beträgt die Entlastung zum Beispiel durch Altpapier und Metallschrottverkauf etwa
10 Prozent. Fehlen den Kommunen die Wertstoffe im
Abfall, so werden die Müllgebühren trotz geringerer
Müllmenge steigen. Das alte Spiel läuft - Gewinne werden privatisiert, Verluste zahlen die Bürger.
Das lehnt die Linke ab. Wir befürworten dagegen die
Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie mit kommunaler
Verantwortung. Die Erfassung aller Abfälle und Wertstoffe liegt dann in der Hand der Kommunen. Dies geschieht über die bereits eingeführten Systeme für den
gelben Punkt für Papier, Glas und Restmüll. Zusammen
mit dem gelben Punkt werden zukünftig auch alle anderen Kunststoffabfälle von Kommunen erfasst. Metalle
werden bereits heute sicher aus dem Restmüll aussortiert. Da muss man nichts Neues, Teures erfinden.
Für Elektronik ist ein Pfandsystem einzurichten.
Kaufe ich ein Mobiletelefon, dann bezahle ich zum Beispiel 5 Euro Pfand. Dieses Pfand erhalte ich bei der Abgabe des Gerätes in kommunalen Wertstoffhöfen zurück.
Diese entscheiden dann, ob sie selbst oder Dienstleister
die Entsorgung entsprechend der Abfallhierarchie übernehmen. Mit unserem System verbleiben die Gewinne
Zu Protokoll gegebene Reden
aus den Wertstoffen bei den Kommunen und damit bei
den Bürgern.
Für die Linke gehört die Abfallwirtschaft als Teil der
Daseinsfürsorge zur öffentlichen Hand. Es wurden den
Konzernen schon viel zu viele öffentliche Aufgaben
überlassen, die dann ihre Profite auf Kosten der Bürger
maximierten.
Weil der Antrag der SPD zum Planspiel aber immerhin ein Modell unter Beteiligung der Kommunen einbezieht, stimmen wir mit Enthaltung. Den Antrag der SPD
nach einer möglichst zeitnahen Veröffentlichung der gewonnen Informationen unterstützen wir. Wir meinen:
Transparenz ist eine der Grundvoraussetzungen für eine
Demokratie überhaupt. Um es nicht zu Missverständnissen kommen zu lassen: Wir unterstützen damit nicht das
Planspiel, sondern ausschließlich die Forderung nach
Einhaltung demokratischer Gepflogenheiten.
Eine moderne Abfallpolitik muss an Ressourceneffizienz und hohen ökologischen Anforderungen ausgerichtet sein. Nur so kann die deutsche Vorreiterrolle in
Abfallwirtschaft und -technologien in Europa und der
Welt langfristig erhalten und ein Innovationsschub für
die deutsche Wirtschaft hin zu einer stärkeren Ressourcenorientierung erreicht werden. Wir müssen weg von
einer Einwegwirtschaft, die der Erde in großen Mengen
Rohstoffe entnimmt und diese nicht wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückführt. Die Auswirkung dieser
Wirtschaftsweise ist vor allem aus Sicht des Umweltund Klimaschutzes fatal. Es braucht Regelungen, die sowohl bei den Verpackungen als auch bei den Produkten
selbst ansetzt.
Die Verpackungsverordnung kämpft jedoch seit Jahren mit gravierenden Problemen. Ziel der Produktverantwortung ist es eigentlich, hohe Recyclingstandards in
Verantwortung der Hersteller zu erreichen. Die jetzige
Praxis ist nicht nur sehr teuer, sie erreicht zudem weder
hohe ökologische Standards bei der Wiederverwertung
der Verpackungen noch ist wirklich nachvollziehbar,
was letztlich mit den Verpackungen geschieht. Immer
weniger Verpackungen werden lizenziert - was mit dem
Rest passiert, ist völlig unklar. Auch die diversen Müllskandale der letzen Jahre und unzählige Gerichtsverfahren zeigen: Hier besteht dringender Handlungsbedarf
durch bessere gesetzliche Regelungen.
Dass die Verpackungsverordnung dringend und umgehend novelliert werden muss, steht für mich außer
Frage. Dabei soll nach Vorstellungen der Bundesregierung auch die Einführung der Wertstofftonne festgeschrieben werden. Wir fordern seit langem die zeitnahe
flächendeckende Entwicklung einer leicht verständlichen und somit verbraucherfreundlichen Wertstoffsammlung in Deutschland.
In diesem Zusammenhang ist es für mich völlig unverständlich, warum die Überlegungen der Bundesregierung zur Wertstofftonne nicht bereits viel weiter fortgeschritten sind. Schon im Koalitionsvertrag wurde die
Prüfung der Einführung der Wertstofftonne versprochen. Es gibt wertvolle Erfahrungen aus Pilotprojekten
in zahlreichen Städten und Kommunen. Diese wurden jedoch nie systematisch ausgewertet, um zu sehen, welches Modell sich am besten bewährt. Die Einführung
der Wertstofftonne könnte und müsste meiner Ansicht
nach bereits im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz geregelt werden, das sich derzeit im Bundesrat befindet. Im
Gesetzentwurf steht bisher nur eine Ermächtigungsgrundlage.
Der Vorschlag zur zukünftigen Ausgestaltung der
Verpackungsverordnung soll nach Vorstellung der Bundesregierung auf Grundlage des Planspiels des Umweltbundesamtes erarbeitet werden. Es steht für mich völlig
außer Frage, dass die Ergebnisse des Planspiels umgehend an den Bundestag weitergeleitet werden müssen,
wie von der SPD in ihrem Antrag gefordert. Denn über
die neue Verpackungsverordnung wird nicht alleine die
Bundesregierung entscheiden, sondern auch der Bundestag. Frühzeitige Information ist für mich daher eine
Selbstverständlichkeit.
Auch ist völlig klar: Das Planspiel muss alle Optionen der Wertstoffsammlung prüfen - nicht nur die der
Bundesregierung genehmen -, also auch: Erfassung aller Wertstoffe - auch Verpackungen - unter kommunaler
Kontrolle. Ergebnisoffenes Planspiel muss heißen: Alle
Möglichkeiten werden geprüft. Sonst ist das Ergebnis
wenig aussagekräftig.
Ich würde aber noch weiter gehen als die SPD in ihren Anträgen und fragen: Warum sollen so viele wichtige Entscheidungen zur Zukunft der Abfallpolitik per
Regierungsverordnung festgelegt werden und nicht im
Abfallgesetz, wo sie einem demokratischen Prozess mit
Beteiligung unterliegen würden? Diese Frage wird uns
sicherlich auch bei unseren Diskussionen zum neuen
Kreislaufwirtschaftsgesetz beschäftigen.
Der Bundesumweltminister verspricht immer gerne
einen Aufbruch hin zu mehr Ressourceneffizienz. Die
Einführung der Wertstofftonne ist nur ein Beispiel, wo es
die Bundesregierung aber völlig verschlafen hat, rechtzeitig praktikable und ambitionierte Konzepte zu erarbeiten, die mehr wertvolle Rohstoffe in die Wirtschaft zurückführen. So werden Chancen für mehr Umwelt- und
Klimaschutz leichtfertig vertan. Wir können gespannt
sein auf die kommenden Monate, in denen das neue Abfallrecht in Bundestag und Bundesrat debattiert wird.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5898 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie alle sind damit
einverstanden. Widerspruch erhebt sich nicht.
Tagesordnungspunkt 22 b. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5886,
den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5484
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen?
Vizepräsident Eduard Oswald
- Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens
- Drucksache 17/5775 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden werden zu Protokoll genommen; so war
es auch in der Tagesordnung ausgewiesen. Die Namen
der Kolleginnen und Kollegen liegen bei uns vor.
Die Syrer haben keine Angst mehr. In den Städten
Hama, Banias, Homs und Latakia gehen sie auf die
Straße, um gegen das sozialistische Baath-Regime unter
Baschar al-Assad zu demonstrieren. Sie tun dies in aller
Öffentlichkeit - sie demonstrieren für ihre Freiheit vor
der Weltöffentlichkeit. In der zentralsyrischen Stadt
Hama fanden in den ersten drei Februarwochen im Jahr
1982 schwere Häuserkämpfe zwischen der syrischen Armee und der rebellierenden Bevölkerung statt. Das
Baath-Regime unter Präsident Hafis al-Assad rächte
sich an den Aufständischen, indem die Stadt erst mit
Granaten beschossen und dann die Stadtteile von Bulldozern eingeebnet wurden. Obwohl das Hama-Massaker weltweite Aufmerksamkeit fand, gelang es dem syrischen Regime, die Zahlen der Opfer und den genauen
Hergang zu verschleiern.
Auch Hafis al-Assads Sohn Baschar al-Assad will
heute seine Macht sichern, indem er wie sein Vater
Sicherheitskräfte in die aufständischen Städte schickt.
Sie sollen die friedlichen Demonstrationen auflösen.
Doch ihm gelingt es nicht, den Einsatz der Sicherheitskräfte zu verschleiern. Das Verhalten der Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler gegen die Bevölkerung wird
heute dokumentiert durch Tausende Tweets, durch Fotos
und Filme, die mit Mobiltelefonen aufgenommen werden. Sie sind ein Zeugnis für die Angst des Regimes vor
der eigenen Bevölkerung, vor den Forderungen nach
Demokratie und Menschenrechten. Die Bilder und
Filme zeigen gleichzeitig, dass die Syrer keine Angst
mehr haben. Wir sehen, dass der Aufbruch in der arabischen Welt auch vor dem Polizeistaat Syrien nicht haltmacht. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verfolgen das Vorgehen des sozialistischen
Baath-Regimes in Syrien mit großer Sorge. Wir verurteilen das gewaltsame Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung die
Wahrung der Menschenrechte auf das Schärfste einfordern. Das syrische Regime muss sofort die Übergriffe
gegen Demonstranten einstellen. Diejenigen, die für die
Toten und Verletzten verantwortlich sind, müssen sich
vor Gericht verantworten. Doch die Demonstrationen
und die Reaktion des Baath-Regimes können nicht dazu
führen, den deutsch-syrischen Vertrag über die Rückkehr von syrischen Staatsbürgern aufzukündigen oder
auszusetzen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung der Bundesregierung, dass gegenwärtig aus asylpolitischer Sicht die allgemeine Lage in Syrien nicht neu
beurteilt werden muss. Es gibt gegenwärtig keine Anhaltspunkte, dass Rückkehrer von den syrischen Behörden als oppositionelle Regimegegner betrachtet werden.
Die Sicherheitsapparate des Regimes richten sich gegen
die aufständische, innerstaatliche Opposition. Wir wissen, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Syrien von
staatlichen Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und
den Grund der Abschiebung befragt werden. Danach
wird ihnen die Einreise ohne weitere Schwierigkeiten
gestattet. Es gibt lediglich Berichte, dass in vereinzelten
Fällen Rückkehrer für die Dauer einer Identitätsüberprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten werden.
Die Pflichten zur Ausreise durchzusetzen, gehört zu
den zentralen Aufgaben der Ausländerbehörden in den
Bundesländern und Kommunen. Es ist notwendig, dass
die Bundesrepublik die Zuwanderung nach Deutschland
steuert und Ausländer zu einer Rückkehr bewegt, die
sich entweder illegal in unserem Land aufhalten oder
bei denen absehbar ist, dass sie kein Recht haben, auf
Dauer in Deutschland zu leben. Dies dient in allererster
Linie der Integration der rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländer. Aus diesem Grunde hat die Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse daran, dass
Ausländer in ihre Heimatstaaten zurückkehren, die nicht
nur unseren Staat über viele Jahre hohe Sozialausgaben
gekostet haben, sondern die auch ein Kriminalitätsrisiko
darstellen. Wir haben ein nicht geringes Interesse daran, dass diese Menschen - unter Beachtung der humanitären und Menschenrechtsstandards - wieder in ihre
ursprüngliche Heimat zurückkehren.
Um es deutlich zu sagen: Oppositionelle oder politisch Verfolgte, die in Deutschland politisches Asyl beantragt haben, müssen nicht nach Syrien zurückkehren.
Grundsätzlich gilt, dass Ausländer Asyl in der Bundesrepublik erhalten, wenn ihnen in ihrer Heimat die politische Verfolgung, konkrete Gefahren für Leib und Leben
oder die Folter drohten. In der Überprüfung eines Asylantrages berücksichtigt das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge in Nürnberg immer auch die allgemeine
Menschenrechtslage im dem jeweiligen Herkunftsland.
Auch ausreisepflichtige syrische Staatsbürger - also
Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde - sind in
Deutschland ohne eine Aussetzung oder gar eine Aufkündigung des Abkommens ausreichend geschützt. Denn
die zuständigen Behörden in den Bundesländern und in
den Kommunen vergewissern sich in jedem einzelnen
Fall, ob aufgrund der aktuellen Lage in Syrien eine Abschiebung nach dem Aufenthaltsgesetz ausgesetzt werden muss. Die Zustimmung des Bundesinnenministeriums ist erst dann einzuholen, wenn ein Bundesland
einen Abschiebungsstopp von mehr als sechs Monaten
anordnen will. Doch hat das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge bei einer Eskalation der humanitären
oder politischen Situation in Syrien die Kompetenzen,
auch kurzfristig Entscheidungen über die Rückkehrpflicht nach Syrien auszusetzen.
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab.
Es ist schlicht erschreckend, wenn man die Auslandsseiten der Tageszeitungen aufschlägt oder die Nachrichten einschaltet und sieht, wie die Menschen bei friedlichen Demonstrationen für mehr Demokratie in Syrien
angegriffen, eingesperrt, gefoltert oder gar getötet werden. Menschenrechtsorganisationen gehen heute davon
aus, dass in Syrien seit Anfang März, also dem Beginn
der Demonstrationen, über 1 000 Menschen getötet
wurden. Die meisten Demonstranten waren dabei unbewaffnet. Zudem werden circa 8 000 Menschen nach Aussagen der syrischen Opposition vermisst.
Das nenne ich mehr als nur eine Zuspitzung der Situation in Syrien. Von daher begrüßen wir als SPDFraktion ausdrücklich den vorliegenden Antrag der
Grünen, das seit Januar 2009 bestehende Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und Syrien unverzüglich auszusetzen und Abschiebungen nach Syrien sofort zu stoppen.
Angesichts der Bilder, die uns aus Syrien täglich erreichen, ist das in meinen Augen mit sofortiger Wirkung
umzusetzen. Wir brauchen jetzt eine eindeutige Botschaft an die Regierung in Damaskus. Systematische
Menschenrechtsverletzungen, wie sie in Syrien geschehen, dürfen wir nicht hinnehmen. Daher begrüße ich das
Engagement deutscher Diplomaten, gemeinsam mit
Großbritannien, Frankreich und Portugal eine Resolution in den UN-Sicherheitsrat einzubringen, die das Verhalten des syrischen Regimes scharf verurteilt. Gleichzeitig muss aber auch das Rückübernahmeabkommen
ausgesetzt werden; sonst macht sich Deutschland angesichts der jetzigen diplomatischen Bemühungen auf internationaler Ebene wieder einmal unglaubwürdig.
Einerseits setzen wir uns für eine Resolution ein, andererseits schieben wir aber nach Syrien ab - wohl wissend, was an Qual und möglicher Folter dort bevorsteht.
Deutschland benötigt hier eine eindeutige Linie. Darum unterstützen wir den vorliegenden Antrag und können Sie von den Koalitionsfraktionen nur auffordern,
nachzuziehen. Denn auch die EU hat bereits Konsequenzen gezogen und für Präsident Baschar al-Assad
ein Einreiseverbot in die EU und obendrein die Sperrung seiner Konten veranlasst - höchste Zeit auch für
Deutschland, zu handeln. Angesichts von Massakern an
Demonstranten oder der Inhaftierung von Menschenrechtsaktivisten dürfen in unseren Augen Abschiebungen
aktuell nicht durchgeführt werden. Wenn ich allein an einen Artikel von heute aus dem „Tagesspiegel“ denke, in
dem beschrieben wurde, wie syrische Sicherheitskräfte
von Augenzeugen dabei beobachtet wurden, mit Leichen
gefüllte Container im Meer versenkt zu haben, oder dass
bereits erste Massengräber in der Unruheprovinz Daraa
entdeckt wurden, wird mir schlecht. Wir können nicht sehenden Auges syrische Staatsbürger zurückschicken und
sie diesen Gewalttätigkeiten, Verhaftungen und Tötungen aussetzen. Angesichts der aktuellen Menschenrechtslage und der ungeklärten weiteren Entwicklung
sind Abschiebungen derzeit nicht zu verantworten.
Gleichzeitig stellt sich für mich aber auch die Frage,
ob und inwiefern die Innenministerien der Länder von
der Möglichkeit Gebrauch machen, Abschiebungen vorübergehend auszusetzen, bis sich die Lage vor Ort geklärt hat. Da würde mich einmal interessieren, wie hier
die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit den Ländern im Konkreten aussieht.
Die Entwicklung in Syrien wie in den anderen von
Unruhen erschütterten nordafrikanischen Staaten macht
uns aber auch noch etwas anderes sehr deutlich, nämlich: Deutschland darf nicht wegschauen, wenn Hunderttausende auf der Flucht sind. Derzeit sind insbesondere Tunesien und Ägypten vom Flüchtlingsstrom
betroffene Staaten, die dringend unsere Unterstützung
beim wirtschaftlichen und demokratischen Aufbau benötigen. Deutschland steht in der Verantwortung. Ein
starkes Signal wäre jetzt, ein Resettlement-Programm
aufzulegen. Das wäre ein gutes Signal, auch an die Demokratiebewegungen in Nordafrika, dass Deutschland
sie nicht im Stich lässt.
Vor Jahresfrist habe ich an dieser Stelle festgestellt:
Die Menschenrechtslage in Syrien ist schwierig. Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht gegeben;
die Inlandsopposition ist starken Repressionen ausgesetzt. Dies hat die Bundesregierung ebenso wie ihre Vorgängerin deutlich benannt.
Inzwischen hat sich die Lage dramatisch verschärft.
Die syrische Regierung bekämpft ihr eigenes Volk. Deshalb hat der Bundesinnenminister den zuständigen Ländern empfohlen, derzeit nicht nach Syrien abzuschieben.
Mehr kann auch eine „Aussetzung des Abkommens“
nicht bewirken.
Die FDP unterstützt die konsequente Haltung des
Bundesinnenministers. Das Abkommen war bereits in
Zeiten der Verhandlung heftiger Kritik ausgesetzt.
Flüchtlingshilfeorganisationen haben Abschiebungen
nach Syrien schon früher generell abgelehnt. Die Vorgängerregierung mit Vizekanzler Steinmeier hat sich
dennoch für ein Abkommen mit Syrien entschieden.
Rückübernahmeabkommen sind ein anerkanntes Instrument des Ausländerrechts, um die Durchsetzung der
Ausreisepflicht und damit demokratischen Rechts zu effektivieren.
Allerdings sind Abkommen dieser Art keine Blankoschecks für die Ausländerbehörden; vielmehr ist weiterhin - wie immer - genau zu prüfen, ob im Einzelfall die
Voraussetzungen für die Asylgewährung bzw. die Gewährung sonstigen Schutzes vorliegen. Die Abkommen
setzen erst danach ein, wenn feststeht, dass jemand zur
Ausreise verpflichtet ist. Für einen Abschiebestopp sind
in erster Linie die Länder, nicht der Bund, zuständig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Generelle Abschiebestopps können auch nur ein letztes
Mittel für eine besonders eskalierte Situation sein.
Der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise
aufgrund der in Syrien tatsächlich zugespitzten Situation die Länder gebeten, von Abschiebungen nach Syrien derzeit abzusehen. Wir werden selbstverständlich
die Menschenrechtslage in Syrien weiterhin kritisch und
regelmäßig beobachten und, wenn nötig, entsprechend
reagieren.
Die Grünen fordern wie schon in ihrem letzten diesbezüglichen Antrag, dass das Schicksal der bisher nach
Syrien Abgeschobenen durch die Bundesregierung aufgeklärt wird und der Bundestag darüber unterrichtet
wird. Das ist selbstverständlich und, soweit bislang
möglich, auch schon geschehen, und es gibt keinen
Grund, dies nicht auch fürderhin zu tun.
Auch wünschen die Grünen zum wiederholten Male,
die Bundesregierung möge die Erkenntnisse über den
Umgang mit nach Syrien Abgeschobenen bei der Anerkennungspraxis des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge berücksichtigen. Auch dazu ist erneut zu sagen: Selbstverständlich wird die Lage in Syrien in die
Bewertung mit einbezogen. Ob das permanente Wiederholen von sachlich unstrittigen und gegenstandslosen
Anträgen sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Inhaltlich sind das Schaufensterforderungen, die durch den
Bundesinnenminister im Ergebnis längst berücksichtigt
werden und keiner weiteren Erörterung bedürfen.
Jeden Tag erreichen uns derzeit neue Schreckensmeldungen aus Syrien. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sind dort seit Anfang März 900 Menschen von Sicherheitskräften des Regimes ermordet
worden. 9 000 sitzen in Gefängnissen, wo ihnen Folter
und Misshandlung drohen. Derzeit ist nicht absehbar,
wie die Eskalation zwischen dem Regime in Damaskus
und der Opposition ausgehen wird.
Leider ist diese Entwicklung alles andere als überraschend. Folter, Misshandlungen und das Verschwindenlassen von missliebigen Personen sind in Syrien schon
seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Unter dem Siegel
der nationalen Einheit werden insbesondere die Kurdinnen und Kurden im Nordosten des Landes entrechtet.
Hunderttausende haben keine Staatsangehörigkeit; sie
werden enteignet und vertrieben. Opposition dagegen
wurde schon immer mit den Mitteln eines Geheimdienstund Folterstaates unterdrückt. Das alles hat aber die
Bundesregierung nicht davon abgehalten, mit diesem
Staat ein Abkommen über die sogenannte Rücknahme
von Menschen aus Syrien - ob mit oder ohne Staatsangehörigkeit -, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in
Deutschland aufhalten, abzuschließen. Die Logik dahinter: Wer in Deutschland nicht als Flüchtling anerkannt
wurde, der braucht auch keine Befürchtungen zu haben,
nach seiner Rückkehr verfolgt zu werden. Dass das Gegenteil der Fall ist, zeigen die zahlreichen Beispiele von
abgeschobenen Syrerinnen und Syrern und staatenlosen
Kurdinnen und Kurden aus Syrien, die nach ihrer Abschiebung vom Sicherheitsdienst inhaftiert, zum Teil
auch gefoltert wurden.
Abschiebungen nach Syrien sind also schon immer
ein Malus in der Menschenrechtsbilanz der Bundesregierung. Zu dieser Feststellung kommt auch ein
aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Das
Gericht hat mit Urteil vom 6. Mai dieses Jahres die Abschiebung eines Kurden wegen der Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten. Das
Gericht stützt sich auf mehrere Argumente: Schon vor
Beginn der aktuellen Auseinandersetzungen sei es in Syrien zu willkürlichen Verhaftungen gekommen, wobei
sich kein Verfolgungsmodus erkennen lasse. Mit anderen
Worten: Bei keinem der ausreisepflichtigen Menschen
aus Syrien in Deutschland lässt sich mit Sicherheit sagen, dass sie im Einzelfall vor Verfolgung sicher sind.
Das Gericht führt weiter aus, dass sich die Lage nach
Ausbruch der Unruhen noch weiter verschärft hätte, der
Kläger in diesem Fall also noch mehr als zuvor aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seines
in Deutschland betriebenen Asylverfahrens gefährdet
sei, Opfer willkürlicher Verhaftung und menschenrechtswidriger Behandlung in der Haft zu werden.
Vor diesem Hintergrund will ich für die Fraktion Die
Linke ganz klar sagen: Die einfache Aussetzung des
Rückübernahmeabkommens reicht nicht aus; es muss
umgehend gekündigt werden. Und selbst das reicht nicht
aus. Wie aus den Zahlen hervorgeht, die meine Fraktion
bei der Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage erfragt hat, finden nur die Hälfte aller Abschiebungen
nach Syrien auch tatsächlich unter Rückgriff auf das Abschiebeabkommen statt. Demnach scheint es so zu sein,
dass gerade die Staatenlosen auf dem üblichen Wege ins
Flugzeug gesetzt und nach Damaskus verfrachtet werden. Einen ausreichenden Schutz gibt es nur, wenn die
Betroffenen ein Bleiberecht erhalten. Denn allen, die ja
als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind,
droht bei einer Rückkehr das gleiche Schicksal, wie es
das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil beschrieben hat. Der Antrag der Grünen geht an dieser
Stelle aus unserer Sicht nicht weit genug. Auch die anderen Forderungen des Antrags beschreiben nur, was
bereits getan wird oder wozu die Behörden ohnehin
verpflichtet sind. So soll das Bundesamt in seiner Entscheidungspraxis berücksichtigen, wie der Umgang mit
Abgeschobenen in Syrien ist. Das reicht nicht aus. Das
Bundesamt braucht die klare politische Ansage, dass
Menschen aus Syrien einen Schutzbedarf haben. Sie haben ein Recht auf eine sichere Bleibeperspektive in
Deutschland, wo mehr als zwei Drittel von ihnen seit
über sechs Jahre leben. Dafür wird sich die Linke weiterhin einsetzen.
Die Menschenrechtssituation in Syrien spitzt sich
dramatisch zu. In den letzten Wochen demonstrierten in
zahlreichen Städten in Syrien Zehntausende gegen Präsident al-Assad. Dabei kam es auch zu Massakern mit
vielen Toten und Verletzen, weil syrische Sicherheitskräfte friedliche Demonstranten angegriffen haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele Oppositionelle wurden inhaftiert. Ihnen drohen
Verhöre, Folter und langjährige Haftstrafen. Menschenrechtsorganisationen berichten von mehr als 1 000 Toten, die die Brutalität des syrischen Regimes gegen
Oppositionelle bisher gefordert hat. Vor diesem Hintergrund ist es ein menschenrechtlicher Skandal, dass das
Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Arabischen Republik Syrien über die Rückführung von illegal aufhältigen Personen weiterhin in Kraft ist.
Der vorliegende Antrag fordert daher die sofortige
Aussetzung des Abkommens, den Erlass eines förmlichen Abschiebungsstopps für syrische Staatsangehörige
und unterstreicht die Notwendigkeit, Erkenntnisse über
das Schicksal Abgeschobener bei Asylentscheidungen
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge endlich
zu berücksichtigen.
Die bisher vom BMI ergriffenen Ad-hoc-Maßnahmen
sind der Situation nicht angemessen: Das Bundesministerium des Innern hatte in einem Rundschreiben an die
Bundesländer am 28. April 2011 einen Entscheidungsstopp für Asylverfahren beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge verkündet und weiter erklärt, Abschiebungen nach Syrien seien derzeit nicht „ratsam“. Dies
ist kein formaler Abschiebungsstopp, sondern nur eine
windelweiche Empfehlung, die überdies nicht gewährleistet, dass die entstehenden Zeiten des Aufenthaltes für
die Betroffenen zum Beispiel im Fall künftiger Bleiberechtsregelungen berücksichtigt werden.
Schon in der Vergangenheit wurden abgeschobene syrische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr routinemäßig festgenommen und vom syrischen Geheimdienst verhört. Dies musste auch die Bundesregierung in
Antworten auf parlamentarische Anfragen zugeben.
Umso größer ist die Gefahr für Abgeschobene in der
derzeitigen Situation. Angesichts der verstärkten Repression in Syrien können Abschiebungen dorthin längst
nicht mehr verantwortet werden. Statt halbherziger Regelungen in einzelnen Bundesländern bedarf es eines
klaren Signals vonseiten des Bundes: Das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen ist unverzüglich auszusetzen, und Abschiebungen nach Syrien sind bundesweit
sofort zu stoppen. Besonders zu kritisieren ist der von
der Bundesregierung verhängte Entscheidungsstopp für
Entscheidungen bei syrischen Asylantragstellern. Was
soll denn bitte schön noch passieren, damit auch bei der
Bundesregierung ankommt, dass das syrische Regime
die Menschenrechte mit Füßen tritt?
Denn das brutale Vorgehen der syrischen Regierung
gegen jedwede Opposition ist doch die Fortsetzung einer langjährigen Politik, die schon immer geprägt war
von intensiven Geheimdienstaktivitäten, willkürlichen
Inhaftierungen und Folter. Ein bloßer Entscheidungsstopp über Asylanträge ist deshalb nicht akzeptabel. Syrische Asylbewerberinnen und Asylbewerber brauchen
jetzt Schutz und eine Perspektive. Bündnis 90/Die Grünen haben schon früh vor den Gefahren für Abgeschobene gewarnt und darauf hingewiesen, dass abgeschobene Personen nach ihrer Ankunft in Syrien Gefahr
laufen, inhaftiert und misshandelt zu werden ({0}). Zwischenzeitlich ist die Liste der betroffenen
Personen länger geworden.
Die Beratungen über unseren erneuten Antrag können ein Anstoß für die Regierungskoalitionen sein, ihre
Haltung zur Menschenrechtssituation in Syrien endlich
zu ändern. Ich hoffe sehr, dass es im weiteren parlamentarischen Verfahren gelingt, dass die Bundesregierung
adäquate Regelungen trifft, darunter den notwendigen
förmlichen Abschiebungsstopp und die Aufhebung des
Entscheidungsstopps für Asylanträge aus Syrien.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5775 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Man wird es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen.
({0})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Mai 2011, 9 Uhr,
ein und würde mich freuen, Sie alle hier wieder begrüßen zu dürfen.
Die Sitzung ist geschlossen.