Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Ich begrüße Sie alle herzlich und rufe gleich ohne
weiteren Verzug unseren Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von der
Leyen.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Wir haben heute, wie eben erwähnt, den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt eingebracht, in einer Arbeitsmarktsituation, die zurzeit sehr solide ist. Der
Arbeitsmarkt ist enorm aufnahmefähig: Wir haben im
Augenblick über 40 Millionen Erwerbstätige am Arbeitsmarkt. Wir haben knapp 3 Millionen Arbeitslose,
1 Million offene Stellen. Insofern haben wir im Augenblick eine Situation, die für Arbeitslose im Vergleich zu
früheren Zeiten sehr günstig ist, um die Eingliederung in
den ersten Arbeitsmarkt tatsächlich zu schaffen. Wir sehen das auch daran, dass die Sockelarbeitslosigkeit zum
ersten Mal seit 25 Jahren sinkt; sie sinkt langsamer als
die kurzfristige Arbeitslosigkeit, aber sie sinkt. Das
heißt, hier ist Bewegung drin.
Angesichts dessen ist es das Ziel der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, diese wirksamer und
wirtschaftlicher zu gestalten, das heißt, Mitnahmeeffekte
auszuschließen und insbesondere genauer hinzuschauen,
ob sich das eine oder andere arbeitsmarktpolitische Instrument in den letzten Jahren bewährt hat: Ist es zeitgemäß und angesichts der Veränderungen am Arbeitsmarkt
noch angemessen? Oder hat sich gezeigt, dass seine Wirkung gering ist, dass es in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit eingesetzt werden konnte, aber jetzt, in Zeiten
der Integration in den ersten Arbeitsmarkt bei einer hohen Nachfrage, nicht mehr die entsprechende Wirksamkeit hat?
Das Ganze wurde im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
über die letzten Jahre hinweg überprüft. Manche Instrumente haben sich bewährt. Manche Instrumente waren
sehr detailverliebt und spezifisch ausgestaltet. Das hatte
zur Folge, dass wir eine relativ zersplitterte Landschaft
der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vorgefunden haben. Andere Instrumente haben schlicht und einfach eine
geringe Wirksamkeit gezeigt. Wirkungslosigkeit liegt
vor, wenn die Menschen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch ohne diese Maßnahme in den ersten Arbeitsmarkt integriert worden wären.
Unter dem Strich führen die vorgeschlagenen Reformen dazu, dass wir die Zahl der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente um etwa ein Viertel reduzieren, das heißt,
sie aber nicht einfach zu streichen, sondern sie zum Teil
zu bündeln, also vier, fünf oder sechs verschiedene Instrumente in einer Vorschrift zusammenzufassen. Das
Ziel ist nämlich, dass in den Agenturen und Jobcentern
und die Fallmanager vor Ort die Entscheidung, welches
Instrument für welche Lebenslage eines Arbeitslosen
oder einer Arbeitslosen das richtige ist und angewendet
werden kann, dezentraler und flexibler fällen können.
Ich möchte vorweg sagen, dass bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten für Menschen mit Behinderung
keine Veränderungen vorgenommen worden sind; dies
sage ich explizit vor der Klammer. Die Zahl der Menschen mit Behinderung wächst aus gewissen Gründen,
etwa aufgrund einer demografischen Komponente. Hier
sind keine Veränderungen vorgenommen worden.
Der Schwerpunkt der Reformen liegt beim Thema
„Übergang von der Schule bzw. Ausbildung in den Beruf“ und beim Thema „Weiterbildung“, aber auch darauf, dass Mitnahme- und Substitutionseffekte reduziert
werden und ein Trittbrettfahren ausgeschlossen wird, damit das Geld für arbeitsmarktpolitische Instrumente
- die Milliarden, die eingesetzt werden - zielgerichteter
verwendet wird.
Redetext
Letzter Punkt. Ein Teil der Reform betrifft den sogenannten öffentlich geförderten Beschäftigungssektor.
Das Ziel im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor
ist, Menschen, die sehr weit vom ersten Arbeitsmarkt
entfernt sind, die Chance zu geben, wieder an den ersten
Arbeitsmarkt herangeführt zu werden. Es besteht immer
das Risiko, dass Menschen durch die öffentlich geförderte Beschäftigung dauerhaft im zweiten Arbeitsmarkt
bleiben und geringere Chancen haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Deshalb sind die bisherigen Instrumente detailliert evaluiert worden. Wir haben Veränderungen herbeigeführt, die sicherstellen, dass konkreter
hingeschaut wird, ob jemand, der vor zwei, drei Jahren
während der Massenarbeitslosigkeit vielleicht noch
keine Chance hatte, jetzt in den ersten Arbeitsmarkt eintreten kann. Das ist wichtig, damit die Menschen im
zweiten Arbeitsmarkt nicht bloß verwaltet werden, sondern tatsächlich im ersten Arbeitsmarkt auf eigenen Füßen stehen können. Dies ist eine Veränderung, die meines Erachtens der verbesserten Arbeitsmarktlage
angemessen ist.
Herzlichen Dank für den Bericht, Frau Ministerin. Ich
verbinde das mit der Hoffnung, dass die Verletzung, die
Sie sich offenkundig am Arm oder an der Hand zugezogen haben, nicht ganz so gewaltig ist, wie sie aussieht.
Der Kopf funktioniert noch.
Jedenfalls nehmen wir mit Beruhigung zur Kenntnis,
dass sie Ihre Handlungsfähigkeit nicht entscheidend einschränkt.
Genau. Man sollte mit mir zurzeit keine Händel anfangen.
Eine solche Absicht wird von vornherein auch nicht
bestanden haben.
Jedenfalls nehme ich mit Interesse zur Kenntnis, dass
so ziemlich alle anwesenden Mitglieder des Hauses
gerne Fragen stellen möchten. Wir werden sehen, ob und
in welcher Reihenfolge wir das bewältigen.
Wir beginnen mit Frau Mast. Dann gehen wir der
Reihe nach durch die Fraktionen und schauen, wie viel
Zeit wir brauchen, um das Thema, das offenkundig nicht
nur wichtig ist, sondern auch großes Interesse findet,
möglichst angemessen zu behandeln. - Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau von der Leyen,
zuerst einmal gute Besserung für Ihre Hand, auch von
meiner Seite.
Zunächst muss man feststellen, dass die geplante Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente nicht losgelöst von den geplanten Haushaltskürzungen im Bereich des BMAS diskutiert werden kann; denn das
gehört zusammen. Als wir in der Großen Koalition noch
zusammen regiert haben, haben auch wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente reformiert; allerdings
wollten wir damit kein Geld sparen. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen der geplanten Reform
und der, die wir in der letzten Legislaturperiode auf den
Weg gebracht haben.
Es spricht nichts dagegen, einzelne Instrumente zu reformieren und zu verbessern, um sowohl die Eingliederung in Arbeit als auch die Beschäftigungsfähigkeit zu
erhalten. Ich glaube, dass sich die Arbeitsmarktpolitik
nicht nur am Kriterium der Integration Langzeitarbeitsloser in den ersten Arbeitsmarkt orientieren sollte, sondern auch an einem zweiten Kriterium, nämlich an der
Beschäftigungsfähigkeit und am Recht, Beschäftigung
zu haben. Dieser Anspruch wird meines Erachtens im
Gesetzentwurf, der heute im Kabinett beschlossen
wurde, nicht umgesetzt.
Ich möchte konkrete Fragen zur Einstiegsqualifizierung von Jugendlichen stellen.
Ich freue mich darüber, dass nach diesem Gesetzentwurf die Einstiegsqualifizierung erhalten bleibt - im Referentenentwurf war dies nicht vorgesehen -; denn sie ist
das Instrument, das Jugendliche am besten in Ausbildung bringt; bisher waren es 60 Prozent. Leider läuft
diese Maßnahme 2014 aus. Meine erste Frage ist: Können Sie sich vorstellen, dass die Entfristung beim Instrument Einstiegsqualifizierung fällt?
Sie wollen die Berufseinstiegsbegleitung für Schüler
flächendeckend ausbauen. Das ist gut. Aber Sie sagen:
Wir finanzieren das nicht mehr allein, sondern wir brauchen eine Kofinanzierung. Da den Kommunen das Geld
fehlt, stelle ich Ihnen folgende zweite Frage: Wie stellen
Sie sich eine solche Kofinanzierung in der Praxis vor?
Es wäre schön, wenn wir insbesondere mit Blick auf
die große Zahl von angemeldeten Fragen diese erstens
knapp stellen und zweitens ähnlich knapp und zugleich
präzise beantworten könnten.
Zunächst zu Ihrer Eingangsbemerkung zu der vor
zwei, drei Jahren durchgeführten Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Diese Reform hat zu Beginn und in der Hochphase der Krise stattgefunden, das
heißt, zu einer Zeit, in der es eine erhebliche Nachfrage
nach arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gab und in
der nicht absehbar war, wie wir durch die Krise kommen. Jetzt befinden wir uns in einer völlig anderen Situation. Wenn man sich die arbeitsmarktpolitischen Mittel, die zurzeit zur Verfügung stehen, anschaut, stellt
man fest, dass das Volumen der Mittel bezogen auf die
Zahl der Arbeitslosen höher ist als vor der Krise. Das
heißt, pro Kopf stehen für die Arbeitslosen Mittel in
durchaus angemessener Höhe zur Verfügung. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich gesunken. Wir befinden uns im
Augenblick an der 3-Millionen-Grenze. Man kann nicht
einfach sagen, dass die Mittel, die zur Hochzeit der Krise
eingesetzt wurden, für alle Zeit zur Verfügung stehen
müssen.
Zum zweiten Punkt, zur Einstiegsqualifizierung. Sie
wird in der Tat bis zum Ende des Ausbildungspaktes erhalten bleiben. Hieran anschließend kann ich sagen: Ein
Instrument ist nur dann gut, wenn es in die Zeit passt.
Die Einstiegsqualifizierung passt zum Ausbildungspakt.
Aber es ist vollkommen legitim, zum Ende des Ausbildungspaktes, im Jahr 2014, Bilanz zu ziehen: Was haben
wir erreicht? Haben sich die Umstände verändert? Müssen wir etwas adaptieren? Müssen wir etwas verändern?
Diese Fragen werden 2014 aktuell sein. So haben wir
auch in den letzten Jahren agiert. Es gab eine Zeit, in der
ganz viele Ausbildungsplatzsuchende um wenige Ausbildungsplätze konkurrieren mussten. Heute hat sich das
Bild geändert. Ausbildungsbetriebe suchen inzwischen
aktiv nach Azubis, weil es nicht mehr so viele Bewerberinnen und Bewerber gibt.
Werfen wir auch einen Blick auf die Berufseinstiegsbegleitung. Es hat sich herauskristallisiert, dass dies ein
ausgesprochen wirksames Instrument ist. Es fand, begrenzt auf 1 000 Schulen, ein Modellversuch statt. Man
muss erklärend sagen, dass die Bundesagentur für Arbeit
in die Schulen geht, und zwar in die Vorabschlussklassen. Die Schule ist dafür zuständig, dass Jugendliche etwas lernen und gut auf das Leben und damit auch auf die
Ausbildung vorbereitet werden. Die Jugendlichen, die
Probleme auf dem Ausbildungsmarkt haben, werden
beim Übergang von der Schule in den Ausbildungsbetrieb begleitet. Diese Begleitung kann bis zu zwei Jahre
dauern.
Dieses Instrument wurde geschaffen mit Blick auf die
Jugendlichen, die wirkliche Probleme haben. Zur Erinnerung: Im Augenblick verlassen 7 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss, und 10 Prozent der
Azubis brechen ihre Ausbildung ab. Das Ziel muss sein,
diese Zahlen zu reduzieren. Im Rahmen der Qualifizierungsoffensive hat die Bundesregierung das Ziel formuliert, diese Zahlen bis 2015 zu halbieren. Dieses Instrument, mit dem die Jugendlichen schon in der Schule an
die Hand genommen werden, ist richtig. Es ist richtig,
dass die Begleitung quasi aus einer Hand stattfindet und
dass die Jugendlichen begleitet werden, bis sie in Ausbildung sind, bis sie flügge sind.
Warum Kofinanzierung? Wenn man den Modellversuch, der auf 1 000 Schulen begrenzt war, auf alle Schulen ausdehnen möchte, dann ist es, so finde ich, absolut
legitim, diejenigen, die ganz stark davon betroffen sind,
nämlich die Schulen und damit die Länder, an der Kofinanzierung zu beteiligen. Wir reduzieren die Mittel
also nicht, sondern breiten diese wirksame Hilfe auf alle
Schulen aus. An dieser Stelle werden die Themen
„Schule“ und „Länderfinanzierung“ berührt. Die Länder
können als Kofinanzierer auftreten. Das kann aber auch
über ESF-Programme kofinanziert werden. Das ist keine
alleinständige, originäre Aufgabe der Bundesagentur für
Arbeit.
Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Jugendlichen einen Schulabschluss machen, dass sie nach
der Schule wissen, wohin sie sich orientieren, und dass
sie eventuell eine Lehre erfolgreich abschließen. Deshalb begleiten wir sie; aber wir sollten das nicht allein
tun.
Jetzt haben wir für die erste Frage und die erste Antwort deutlich mehr Zeit benötigt als für den einleitenden
Bericht. Das ist zwar nicht zu beanstanden, würde aber,
wenn es zum Muster würde, völlig ausschließen, dass all
diejenigen, die sich zu Wort gemeldet haben, zu Wort
kommen. Deswegen schlage ich vor, dass wir uns gemeinsam bemühen, sowohl die Fragen als auch die Antworten jeweils in einer Minute abzuwickeln - was geht!
Erster Testfall ist der Kollege Lehrieder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Nachdem Sie, Frau Ministerin, einen Teil meiner
Frage vorab beantwortet haben, ist die Chance durchaus
groß, dass das klappt, Herr Bundestagspräsident.
Durch diese Anmerkung haben Sie auch nur fünf Sekunden verloren.
Sehr geehrte Frau Ministerin, im Ausschuss hat Herr
Weise von der Bundesagentur für Arbeit gerade Zahlen
zu den Gruppen genannt, die besondere Schwierigkeiten
auf dem Arbeitsmarkt haben. Da gibt es zum einen
1,5 Millionen vorwiegend junge Menschen, die sich
ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung um Arbeit bemühen. Da gibt es zum anderen 1 Million über
50-Jährige, die ebenfalls Schwierigkeit haben, Arbeit zu
finden.
Die demografische Entwicklung und die damit verbundenen Probleme sind uns natürlich bekannt. Sie haben immer wieder die Aussage getätigt: Kein Kind darf
verloren gehen. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen bei den Kindern und Jugendlichen, vor allem
beim Übergang von Schule zu Beruf, sicherlich am effizientesten. Vielleicht können Sie diesen Schwerpunkt
vertiefen und darlegen, wie die Hilfen für Jugendliche
genau aussehen - Stichwort „zweite Chance“, Stichwort
„vertiefte Berufsorientierung“ -, damit schließlich jeder
Jugendliche je nach seinen Fähigkeiten eine Ausbildung
erhält.
Die Mahnung des Präsidenten im Kopf, will ich kurz
darauf eingehen. Die wesentlichen Instrumente habe ich
vorhin schon ausführlich skizziert.
Gerade das Thema „zweite Chance“ ist ein Spezifikum, das sich insbesondere an Schülerinnen und Schüler
richtet, die notorische Schulschwänzer sind. Gemeinsam
mit Jugendamt, Eltern und Schule wird versucht, diesen
jungen Menschen eine zweite Chance zu geben, die
Schule zu beenden.
Der Schwerpunkt wurde hierbei auf den Übergang
von der Schule in die Ausbildung gelegt. Die Bundesagentur für Arbeit geht mit einer großen Summe Geld
- 3,2 Milliarden Euro - an die Förderung junger Menschen heran, um unter anderem diejenigen Jugendlichen,
die ein hohes Risiko tragen, die Schule abzubrechen und
dann ohne Qualifikation in der dauerhaften Arbeitslosigkeit zu enden, pünktlich in der Schule abzuholen und
durch Hilfe aus einer Hand in ein Ausbildungsverhältnis
zu bringen.
Sie haben die älteren Arbeitnehmer erwähnt. Erlauben Sie mir, als Reaktion darauf Folgendes zu sagen: Ein
klassisches Beispiel für den Einsatz dieser arbeitsmarktpolitischen Instrumente ist die Verbesserung der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer in kleineren und mittleren
Unternehmen. Auch hier handelt es sich um einen neuen
Schwerpunkt. Bisher konnte die Bundesagentur für Arbeit diese Maßnahme der Weiterbildung entweder ganz
finanzieren, oder sie hat sie gar nicht finanziert. Wir eröffnen nun die Möglichkeit einer Teilfinanzierung. Auch
hier wird der Schwerpunkt auf Qualifikation und Weiterbildung gelegt, und zwar gerade unter dem Aspekt des
Fachkräftemangels.
Vielen Dank. - Die nächste Frage stellt Johannes
Vogel für die FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Mein Fraktionsvorsitzender legte großen Wert darauf, dass ich zehn Sekunden
investiere, um Ihnen im Namen meiner Fraktion gute
Besserung für Ihren Arm zu wünschen.
Jetzt meine konkreten Fragen: Muss unser Leitbild
bei der Instrumentenreform nicht auch der gut ausgebildete Betreuer im Jobcenter und in der Arbeitsagentur vor
Ort sein, der mit großer Flexibilität und Autonomie tätig
ist? Sind Sie mit mir der Meinung, dass wir mit der im
Gesetzentwurf verankerten Möglichkeit, SGB-III-Instrumente gerade bei Langzeitarbeitslosen in abgewandelter
Form anzuwenden, etwa im Bereich der freien Förderung, einen Schritt in die richtige Richtung gehen?
Könnten Sie bitte ausführen, inwiefern das die Motivlage für die Bundesregierung war?
Ich glaube, hier findet ein deutlicher Paradigmenwechsel statt, gerade was die Beschäftigten in den Jobcentern angeht. Ich meine die Erkenntnis, dass ein guter
Vermittler oder eine gute Vermittlerin in Kenntnis des
Marktes und einer schnellen, passgenauen Vermittlung
ganz viel bewirken kann. Das ist gut für den Arbeitslosen, gut für den Betrieb, und das spart viel Geld. Dazu
möchte ich drei Punkte anführen:
Erstens. Wir wollen mit der Reform mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort schaffen.
Zweitens. Wir haben die sogenannte freie Förderung,
wenn man dieses Mittel gezielt, passgenau vor Ort einsetzen kann, auf 10 Prozent des Gesamtbudgets erhöht
und das sogenannte Aufstockungsverbot beseitigt. Damit kann man vor Ort klug kombinieren.
Drittens. Wir wollen in die Vermittlungsfachkräfte in
den Jobcentern investieren. Die Bundesagentur für Arbeit hat gemeinsam mit uns abgesprochen, dass wir eine
Qualifizierungsoffensive für die Vermittlerinnen und
Vermittler, also für diejenigen, die vor Ort die entscheidenden Akteure sind, starten werden. Das soll übrigens
auch mit dem Ziel geschehen, die Anzahl der befristeten
Beschäftigungsverhältnisse auf 10 Prozent zurückzuführen. Damit sollen Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit des
Arbeitsplatzes signalisiert sowie das Wissen vermittelt
werden, dass diese Menschen in einer Schlüsselposition
für die moderne, schnelle und passgenaue Vermittlung
vor Ort tätig sind.
Vielen Dank. - Die nächste Frage stellt Frau Kollegin
Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Ministerin, Sie haben gerade gesagt, dass bei
den in die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit investierten
Mitteln nicht gespart wird, wenn man dies pro Kopf betrachtet; denn die Arbeitslosigkeit sei zurückgegangen
und deswegen könne man auch den Mittelzufluss zurücknehmen. Das trifft für die Langzeitarbeitslosen, also
für die Arbeitslosen in der Grundsicherung, ausdrücklich
nicht zu. Das hat uns Herr Weise im Ausschuss gerade
bestätigt. Es gibt einen Rückgang der Anzahl der Langzeitarbeitslosen um 4 Prozent, es werden aber 20 Prozent der Mittel für die Integration in den Arbeitsmarkt
eingespart. Gerade diejenigen, die in einem Aufschwung
keine Arbeit gefunden haben, haben - davon kann man
ausgehen - besonders große Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden. Wie wollen Sie die Menschen, die
in der Grundsicherung sind und die besondere Schwierigkeiten haben, jetzt mit weniger Mitteln in Arbeit bringen? Haben Sie diese Menschen bereits abgeschrieben?
Frau Pothmer, an der Formulierung der Frage erkennt
man unsere unterschiedliche Herangehensweise. Aus Ihrer Formulierung höre ich heraus - ich will es nicht insinuieren -, dass Sie damit rechnen, dass diese Personen
dauerhaft nicht in den ersten Arbeitsmarkt zurückkommen.
({0})
- Gut. Ich freue mich, dass wir da einer Meinung sind.
Wann, wenn nicht jetzt? Schon derzeit klagen zum
Beispiel einige Zeitarbeitsfirmen, dass sie nicht mehr genügend Personen finden, die sie vermitteln können. Also
sollten wir jetzt dafür sorgen, dass diese Menschen, die
am Arbeitsmarkt bisher null Chancen hatten, weil die
Konkurrenz unter den Arbeitslosen so groß war, in den
ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Es ist auch nicht
richtig, dass es allein arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
sind, die zu Arbeit führen. Fast die Hälfte der Vermittlungen finden ohne arbeitsmarktpolitische Maßnahme
statt, also ohne dass der Staat hierfür Geld investiert.
({1})
Wir müssen einen Schwerpunkt auf Weiterbildung legen, und wir müssen bei der öffentlich geförderten Beschäftigung genauer hinschauen. Wir haben die Situation, dass in der öffentlich geförderten Beschäftigung
den Trägern Summen als Pauschalen gezahlt worden
sind, die zum Teil größer waren als das Entgelt, das dem
Arbeitslosen gezahlt wurde. Dort müssen wir genauer
hinschauen. Das Ziel ist nicht der öffentlich geförderte
Sektor, sondern der erste Arbeitsmarkt.
Wenn Sie den Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit
als gering beziffern, dann muss ich Ihnen als Arbeitsmarktexpertin in Erinnerung rufen: In den letzten
25 Jahren gab es nach jeder Krise keinen Rückgang der
Langzeitarbeitslosigkeit, sondern nur einen Aufwuchs
der Sockelarbeitslosigkeit.
({2})
Jetzt erleben wir zum ersten Mal seit 25 Jahren einen
Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit. Diese Chance
gilt es jetzt zu nutzen.
Die nächste Frage stellt Dr. Matthias Zimmer.
Frau Ministerin, ich darf mich zunächst den Wünschen für eine schnelle Heilung Ihrer Handverletzung
anschließen.
Das kostet alles unnötig Zeit. Ich hatte das bereits für
das ganze Haus getan.
Meine Frage wird aber nicht länger als eine Minute
dauern. - Man kann es ja als gutes Omen verstehen, dass
Sie bei diesem Gesetzgebungsvorhaben ein gutes Händchen haben.
Ich habe nur eine kurze Frage: Bei den 1-Euro-Jobs
sind die Trägerpauschalen auf 150 Euro begrenzt worden. Warum ist diese Begrenzung vorgenommen worden?
Bisher war die Gesetzeslage bei den 1-Euro-Jobs so,
dass der Träger, der den Job zur Verfügung stellt, eine
Pauschale bekommen konnte; aber diese war im Gesetz
überhaupt nicht definiert. In der Lebenswirklichkeit hat
sich das so ausgewirkt, dass manche Träger 0 Euro bekamen - sie haben den Arbeitsplatz für den 1-Euro-Jobber
dann einfach so zur Verfügung gestellt - und dass andere
Träger bis zu 1 000 Euro Trägerpauschale im Monat bekommen haben.
({0})
Daraus kann man ersehen, dass es eine zu große Bandbreite gegeben hat, wobei niemand begründen konnte,
warum der eine nichts und der andere sehr viel bekommen hat. In Zahlen heißt das: Wir haben im letzten Jahr
rund 1 Milliarde Euro in die 1-Euro-Jobs investiert;
300 Millionen Euro wurden an die Arbeitslosen und
700 Millionen Euro wurden an die Träger gezahlt. Es
muss in diesem Falle eine Klarstellung im Gesetz getroffen werden. Jetzt soll es 30 Euro im Monat als Grundpauschale und 120 Euro im Monat zusätzlich für besondere
Situationen geben.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass man
in den Jobcentern ganz unterschiedliche Herangehensweisen gesehen hat, wie die 1-Euro-Jobs in ganz
Deutschland genutzt - in einigen Fällen mit Mitnahmeeffekten zu sehr ausgenutzt - worden sind.
Vielen Dank. - Alexander Ulrich ist der nächste Fragesteller.
Frau Ministerin, meine erste Frage ist: Dieses Gesetzesvorhaben ist weniger durch die Menschen, die davon
betroffen sind, sondern eher durch die Haushaltslage geprägt. Können Sie noch einmal beziffern, wie hoch die
Auswirkungen auf den Haushalt sind, ob es Umschichtungen in Ihrem Ministerium gibt, und, wenn ja, bezüglich welcher Maßnahmen?
Meine zweite Frage lautet: Sind die Kürzungen der
Mittel für den öffentlichen Beschäftigungssektor und die
1-Euro-Jobs so zu verstehen, dass die Bundesregierung
die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit aufgibt?
Denn dadurch bestehen noch weniger Chancen, diese
Menschen in Arbeit zu bringen.
Oberstes Ziel der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir wollen dafür sorgen, dass im ersten Arbeitsmarkt mehr Arbeitsplätze angeboten werden. Ich habe schon ausgeführt: Früher, zu
Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und in der Krise, war
die Situation schwierig. Heutzutage werden allerdings
zunehmend Arbeitskräfte gesucht, sodass die Konkurrenz der Arbeitslosen abnimmt. Demzufolge steigen die
Chancen von Langzeitarbeitslosen, einen Weg zurück in
den ersten Arbeitsmarkt zu finden.
Zu Ihrer Eingangsfrage. Die arbeitsmarktpolitischen
Instrumente betreffen sowohl den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit als auch, im Hinblick auf das SGB II,
den Haushalt des Bundesarbeitsministeriums. Was den
Haushalt der Bundesagentur für Arbeit betrifft, wurden
die Auswirkungen dieser Reform zum Teil berücksichtigt. So wird zum Beispiel der Gründungszuschuss von
einer Pflichtleistung in eine Ermessensleistung umgewandelt. Der Gründungszuschuss hat sich in vielen Fällen bewährt. In manchen Fällen haben die Wissenschaftler, die sich mit diesem Thema befasst haben, aber auch
einen Mitnahmeeffekt festgestellt. Sie kamen zu dem Ergebnis, das die jeweilige Gründung in 60 bis 70 Prozent
der Fälle auch ohne Gründungszuschuss durchgeführt
worden wäre.
Darüber hinaus gibt es beim Gründungszuschuss ein
zweites Problem: Es kam zu manchen „Notgründungen“. Nunmehr gibt es „Solo-Selbstständige“, die nur
knapp 1 000 Euro im Monat verdienen und nur mit
Mühe über die Runden kommen oder sogar aufstocken,
also zusätzlich Hartz IV beziehen müssen. Dies kann angesichts der derzeitigen Konjunkturlage nicht das Ziel
des Gründungszuschusses sein. Deshalb haben wir beschlossen, ihn in eine Ermessensleistung umzuwandeln.
Wir wollen, dass vor Ort überprüft werden kann, ob jemand fähig ist, sich selbstständig zu machen, oder ob die
Grundlage dafür zu dünn ist.
Ein letzter Satz zum Haushalt meines Ministeriums.
Die mittelfristige Finanzplanung sieht vor, dass wir in
den nächsten zwei, drei Jahren über ein Budget verfügen
werden, das in etwa die gleiche Höhe hat wie das Budget, das wir 2006 zur Verfügung hatten, damals allerdings bei sehr viel höheren Arbeitslosenzahlen.
Die nächste Frage stellt Frau Lösekrug-Möller.
Frau Ministerin, Sie haben schon erwähnt, dass Sie
sich besonders anstrengen wollen, die Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Diese Anstrengungen finden, wie
ich denke, die Unterstützung des ganzen Hauses. Mir
stellen sich aber noch einige Fragen.
Ich schließe zunächst an die Ausführungen der Kollegin Pothmer an. Wir haben heute im Ausschuss die Aussagen von Herrn Weise gehört. Ich glaube, er hat zu Recht
deutlich gemacht: Wer selbst in der jetzigen guten konjunkturellen Lage immer noch keine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt hat, der hat nicht nur ein, sondern offenkundig mehrere Probleme. Der Personenkreis, für den
dies gilt, ist sehr groß. Ich habe gerade vernommen, dass
Ihr Ziel ist, auch diese Personengruppe in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das finde ich unterstützenswert. Es verlangt aber - das sagen alle Experten - ganz
besondere Anstrengungen. Je länger jemand langzeitarbeitslos war, umso schwieriger ist dieser Weg nämlich
und umso mehr Unterstützung braucht der Betroffene.
Dies schlägt sich, wenn man erfolgreich sein will, auch in
höheren Kosten pro Fall nieder. Ich würde gerne von Ihnen erfahren, welche konkreten Maßnahmen diese Personen angesichts der veränderten Gesetzeslage erwarten
dürfen.
Ich füge hinzu: Dieser Personenkreis findet den Weg
zurück in den ersten Arbeitsmarkt nicht ohne besondere
Unterstützung; das haben auch Sie gerade erwähnt. Solche Einzelfälle mag es geben. Dennoch glaube ich, dass
der Personenkreis der Langzeitarbeitslosen mit Sicherheit massive Unterstützung und Begleitung braucht.
Sie haben die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, die
massive Probleme hat, sehr richtig skizziert. Ich möchte
vorwegschicken: Dies betrifft nicht alle Langzeitarbeitslosen. Ich möchte auch betonen: Dadurch, dass die Zahl
der Langzeitarbeitslosen sinkt, schält sich ein Kern von
Langzeitarbeitslosen heraus, der in der Tat nachhaltige,
extreme Schwierigkeiten hat, einen Weg in den ersten
Arbeitsmarkt zu finden. Darauf sollten wir unsere Mittel
konzentrieren.
({0})
Wir sollten nicht, wie bisher, relativ großzügig auf
1-Euro-Jobs oder die Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante zurückgreifen. Dass dies zurzeit in relativ
großzügigem Umfang geschieht, sieht man daran, dass
bis zu 50 Prozent der Mittel mancher Jobcenter durch
diese beiden Varianten gebunden sind. Es kann nicht sein,
dass 50 Prozent der Arbeitslosen massivste Schwierigkeiten haben, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Es besteht übrigens eine gute Möglichkeit, Vergleiche
zwischen den Jobcentern anzustellen. Seit Mitte dieses
Monats gibt es unter www.sgb2.info eine öffentliche Internetplattform, auf der jeder Abgeordnete das Jobcenter
im eigenen Wahlkreis anklicken und sich darüber informieren kann: In welcher Struktur werden die Menschen
dort in den Arbeitsmarkt integriert? Wie steht man im
Vergleich mit ähnlichen Regionen da? Man kann dort
auch schauen, wie das jeweilige Jobcenter in Bezug auf
die öffentlich geförderte Beschäftigung dasteht und wo
die Stärken und Schwächen sind, die man dann auch thematisieren muss.
Wie gesagt: Für diese Gruppe der Langzeitarbeitslosen, die erhebliche Probleme haben - das ist eine kleine
Gruppe; es sind nicht alle -, stehen die 1-Euro-Jobs nach
wie vor zur Verfügung. Es gibt die Grundpauschale, die
in besonderen Fällen um 120 Euro aufgestockt werden
kann. Zusätzlich können Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen mit spezifischer Unterstützung, die
beispielsweise in krankheitsbedingten Fällen notwendig
sein kann, gewährt werden. Auch eine Förderung zusätzlicher Beschäftigungsverhältnisse ist weiter möglich.
Die Möglichkeiten sind alle vorhanden; die Anwendung
muss allerdings begründet sein. Der bisherige Zustand,
dass es einen großen offenen Topf gibt, in den man greifen kann - der Bundesrechnungshof hat festgestellt, dass
bis zu 70 Prozent der erwerbsfähigen Menschen, die
diese Entgeltvariante in Anspruch nahmen, nicht die dafür vorgesehenen Kriterien erfüllten -, soll beendet werden.
Ich werde versuchen, die eine Minute Redezeit, die
eingehalten werden sollte, etwas besser kenntlich zu machen, weil die Orientierung dadurch vielleicht erleichtert
wird. - Nächster Fragesteller ist Peter Weiß.
Frau Bundesministerin, mit der letzten Reform wurde
die sogenannte freie Förderung eingeführt, damit vor Ort
flexibel auf die Anforderungen der jeweiligen Arbeitslosen auf den unterschiedlichen Arbeitsmärkten reagiert
werden kann. Allerdings war die freie Förderung an verschiedene Bedingungen gebunden. Wie sieht die freie
Förderung nach dem Gesetzentwurf künftig aus, und wie
flexibel kann sie vor Ort eingesetzt werden?
({0})
Die freie Förderung kann jetzt sehr viel flexibler eingesetzt werden. Wie gesagt: Das Aufstockungsverbot ist
ausgesetzt, und insgesamt können 10 Prozent des Eingliederungsbudgets von den Vermittlerinnen und Vermittlern vor Ort flexibel dafür eingesetzt werden.
In beiden Fällen war die Einhaltung der Redezeit vorbildlich. - Markus Kurth ist der nächste Fragesteller.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin den Eindruck zu erwecken versucht, die sogenannten 1-Euro-Jobs dienten
überwiegend zur Finanzierung der Träger, die dann mehr
bekämen als die sogenannten 1-Euro-Jobber selbst. Können Sie sich nicht vorstellen, dass die Höhe der Pauschale für die Träger ganz wesentlich damit zusammenhängt, dass die Träger dem zusätzlichen Unterstützungsund Beratungsbedarf der Langzeitarbeitslosen gerecht
werden müssen und dass das keineswegs ein Wirtschaftsgeschäft ist? Wie stehen Sie vor diesem Hintergrund zu der Aussage praktisch aller, die diese Jobs
anbieten, dass sie diese Form der Arbeitsmarktunterstützung bei einer Pauschale von 150 Euro einstellen werden?
Die eben von mir schon erwähnte Bandbreite von
0 Euro bis zu 1 000 Euro Trägerpauschale im Monat
zeigt zunächst einmal, dass es Unterschiede gibt. Jetzt
werden eine Konkretisierung und eine Begründung verlangt. Bisher war das Gesetz offen gestaltet. Es konnte
alles bezahlt oder nicht bezahlt werden; eine Begründung war nicht erforderlich. Es gab im Gesetz bisher
keine Begrenzung. Wir führen jetzt eine Begrenzung ein,
aber mit mehreren Stufen; das heißt, es muss konkret begründet werden, warum in einem bestimmten Fall Geld
bzw. mehr Geld für den Träger bezahlt werden muss.
Ich glaube, das ist in diesen Zeiten auch legitim. Es
gibt, wie gesagt, Menschen, die erhebliche Schwierigkeiten haben; es gibt aber auch Menschen, die jetzt
durchaus in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden
könnten. Genau diese Differenzierung muss vor Ort vorgenommen werden.
Dr. Heinrich Kolb.
Frau Ministerin, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, hat heute im Ausschuss ausgeführt, dass sich das Gros der Langzeitarbeitslosen durch eines oder mehrere folgender drei
Merkmale beschreiben lässt: fehlende Berufsausbildung,
unzureichender Schulabschluss und Alter. Ich will mich
auf den letzten Punkt konzentrieren. Herr Weise hat weiter ausgeführt, dass er bei seinen Reisen erleben muss,
dass Unternehmen zwar über Facharbeitermangel klagen, sich aber überhaupt nicht vorstellen können, einen
60-Jährigen einzustellen. Hierum geht es bei meiner
Frage. Hier geht es ja nicht um ein mit Geld zu lösendes
Problem, sondern bei den Unternehmen scheint ein mentales Problem vorzuliegen. Was können Sie sich vorstellen, zu tun, um diese mentale Blockade bei den Unternehmen zu lösen?
Erstens muss man sagen, dass wir diese Debatte im
Augenblick auch mit der Wirtschaft führen. Was die
Chancen Älterer am Arbeitsmarkt angeht, sind die Fehlanreize rechtlicher Art, die es bisher gegeben hat, beseitigt worden. Das Altersteilzeitmodell, das vorwiegend
als Blockaltersteilzeit genutzt wurde und bei dem der
Blick darauf gerichtet wurde, wie man jemanden relativ
schnell loswird, ist ausgelaufen.
Zweitens. Die Einführung der Rente mit 67 Jahren bis
2029 verändert auch den Blick auf die Belegschaft.
Drittens. Die maßvolle Reduzierung des Arbeitslosengeldes für Ältere von maximal einmal 32 Monaten
auf jetzt 24 Monate verhindert eine lange Zeit des Arbeitslosengeldbezuges I und anschließenden Ruhestand
und verändert damit ebenfalls den Blick auf die Älteren.
Mit den Unternehmen muss konkret darüber geredet
werden, dass es jetzt auf Maßnahmen in den Unternehmen selbst ankommt. Dort liegt die Verantwortung für
Prävention, kräfteschonende Verfahren, altersgemischte
Teams. Die Weiterbildung in den Unternehmen für Ältere hat eine ganz andere Qualität als die für Jüngere.
Bisher liegt der Schwerpunkt der Finanzierung von Weiterbildung auf Beschäftigten zwischen 35 und 45 Jahren.
Hier muss die Altersgrenze nach hinten verlagert werden. Das ist eine flankierende Maßnahme über die
WeGebAU-Förderung, die wir mit der Bundesagentur
für Arbeit in den Unternehmen durchführen - das heißt,
die Weiterqualifizierung Älterer in kleinen und mittleren
Unternehmen wird von der Bundesagentur für Arbeit kofinanziert oder vollfinanziert -, um hier einen Schwerpunkt zu setzen.
Kollegin Scharfenberg.
Herr Präsident! Frau Ministerin, die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente wird ja nicht nur hier
diskutiert, sondern beispielsweise auch auf der Arbeitgeberseite. Da würde mich interessieren: Wie haben die
Paktpartner der Bundesregierung auf die Vorschläge aus
dem Ministerium gerade im Bereich der beruflichen
Ausbildung reagiert? Ich meine vor allem den Bereich
des Übergangs von der Schule zum Beruf.
Erstens ist konsensual verabredet worden, die bereits
erwähnte Einstiegsqualifizierung in den Betrieben, also
zum Beispiel das bezahlte Berufspraktikum zum Ausbildungsbeginn, bis zum Ende des Ausbildungspaktes weiterzuführen.
Zweitens soll die neue Form der bewährten Berufseinstiegsqualifizierung auf alle Schulen ausgeweitet
werden. Das ist durchaus begrüßt worden.
Wir sind jetzt eigentlich am Ende der vorgesehenen
Befragungszeit. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden, dass ich die Wortmeldungen, die mir bereits vorliegen, noch aufrufe, was mir übrigens mit Blick auf die
tatsächlich zum Aufruf kommenden Fragen in der Fragestunde durchaus als vertretbar erscheint: die Kollegin
Heidrun Dittrich, der Kollege Max Straubinger, Frau
Haßelmann, Frau Mast und Frau Pothmer. Habe ich irgendjemanden übersehen? - Das ist nicht der Fall. Dann
machen wir das so. - Heidrun Dittrich ist die nächste
Fragestellerin.
Sehr geehrte Frau Ministerin, warum wird von Ihnen
das befristete Instrument der Vermittlungsgutscheine
und privaten Arbeitsvermittler nun unbefristet weitergeführt, obwohl die Auswertung ergeben hat, dass die
Arbeitsvermittler dadurch nicht besser, sondern eher in
Niedriglohnbereiche hinein vermitteln, sodass die Menschen ihr Hartz-IV-Einkommen aufstocken müssen?
Die wissenschaftliche Evaluation des IAB hat dies
nicht ergeben. Wir haben eine Flexibilisierung dahin gehend eingeführt, dass der Vermittlungsgutschein für private Vermittler nach zwölf Wochen in Anspruch genommen werden kann, und zwar nach SGB III. Im SGB II
bleibt er, was er schon immer war, eine Ermessensleistung.
Die Frage, die der Kollege Straubinger stellen wollte,
stellt jetzt die Kollegin Michalk. Bitte schön.
Frau Ministerin, ich bin sehr dankbar, dass für den
Kreis der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit die Beschäftigungsmöglichkeiten auch in Zukunft bestehen
bleiben. Sie werden wissen, dass das in den einzelnen
Regionen Deutschlands sehr unterschiedlich ist. Deshalb
meine Frage: Wie werden die regionalen Mittel, die auf
die Länder aufgeteilt sind, auf die Beschäftigungsmöglichkeiten angerechnet? Denn es bleibt nach meiner
Kenntnis den örtlichen Jobcentern überlassen, wie sie
die Mittel einsetzen, sodass quasi für die noch vorhandenen Qualifizierungsmöglichkeiten weniger bleibt. Wird
es dirigierende Mechanismen geben, oder bleibt das in
der Zuständigkeit der Verantwortlichen vor Ort?
Gerade über die Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante hat es ausgesprochen kritische Berichte des
Bundesrechnungshofs gegeben, auch mit Blick auf die
Tatsache, dass einige Jobcenter bis zu 60 oder 70 Prozent ihrer Eingliederungsmittel für öffentlich geförderte
Beschäftigung genutzt hatten. Das heißt, die Mittel waren gebunden und konnten nicht mehr für alle anderen
Arbeitslosen, für Weiterbildung, Qualifizierung, Eingliederungszuschüsse und dergleichen verwendet werden.
Deshalb haben wir daraus Lehren gezogen und die
Förderung zusätzlicher Beschäftigungsverhältnisse auf
maximal 5 Prozent des gesamten Eingliederungsbudgets beschränkt. Der Schwerpunkt soll aber, wie gesagt,
Qualifizierung für den ersten Arbeitsmarkt sein.
Frau Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Ministerin, für
den Bereich der Langzeitarbeitslosen werden wesentlich
weniger Mittel zur Verfügung gestellt als bisher. Deshalb
frage ich Sie in diesem Zusammenhang: Wie stehen Sie
zu den Vorwürfen der Wohlfahrtsverbände und der kommunalen Spitzenverbände, die gerade zu dem von Ihnen
gesetzten Schwerpunkt der Integration in den ersten Arbeitsmarkt die Befürchtung äußern, dass Menschen, die
schwer vermittelbar sind und große Vermittlungshemmnisse aufweisen, durch die Roste fallen und demnächst
in den Städten und Gemeinden keine Chance auf aktive
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsförderung mehr haben?
Die von Ihnen skizzierten Personen haben eine
Chance. Denn es gibt die Instrumente noch, und sie stehen für ebendiese Menschen zur Verfügung.
Es gibt aber Fälle, über die wir Debatten führen müssen, zum Beispiel wenn, wie ich gelesen habe, kommunale Beschäftigungsgesellschaften beklagen, dass ihre
Existenz gefährdet sei, weil die Mittel des Bundes für
die Langzeitarbeitslosen reduziert werden. Die SGB-IIMittel sind nicht dafür da, kommunale Beschäftigungsgesellschaften zu unterhalten. Über diese Fälle müssen
wir reden. Das muss vor Ort konkret begründet werden.
Das gilt auch für die Tatsache, dass zum Teil - es ist
in den Kommunen sehr unterschiedlich eingesetzt worden; da trennt sich die Spreu vom Weizen - Beschäftigung in Fällen generiert worden ist, die eine klassische
kommunale Aufgabe sind. Wenn zum Beispiel in einer
Kita oder Schule eine bestimmte Aufgabe nicht mehr
wahrgenommen werden kann, weil es keinen 1-EuroJobber mehr gibt, dann muss man die Frage stellen, warum die Kommune oder das Kultusministerium keinen
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt, auf den der Langzeitarbeitslose eingestellt
werden könnte. Es ist nicht Aufgabe der Bundesagentur
für Arbeit oder des Arbeitsministeriums, die Aufgaben,
die dauerhaft in einer Schule oder Kita erbracht werden,
durchzufinanzieren.
Mit Blick auf den Langzeitarbeitslosen gilt: Er oder
sie muss eine Chance haben, in reguläre Beschäftigung
zurückzukehren. Es ist nicht unsere Aufgabe, klassische
kommunale Aufgaben wie teilweise bisher dauerhaft zu
finanzieren.
Noch einmal für den Hinterkopf: Die 1-Euro-Jobs
über zwei Jahre und die Förderung zusätzlicher Beschäftigungsverhältnisse über zwei Jahre sind möglich; aber
eine dauerhaft geförderte öffentliche Beschäftigung
ohne Rücksicht darauf, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt hat, wird es in Zukunft nicht geben.
({0})
Frau Kollegin Mast.
Frau Ministerin, Sie haben als Ziel der Reform dieser
Instrumente genannt, nichteffiziente Instrumente zu
überprüfen bzw. abzuschaffen. Ich frage mich, wann Sie
das Instrument Bürgerarbeit abschaffen. Auf die Kleine
Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion in der Halbzeit Ihres Modellprojekts hat die Bundesregierung geantwortet,
dass nur 9 Prozent der geplanten Plätze tatsächlich als
Bürgerarbeitsplätze vergeben sind. Dieses Instrument
müsste man dann doch zuerst abschaffen, wenn es um
die Abschaffung ineffizienter Instrumente geht.
Die Bürgerarbeit hat aus den Stärken und Schwächen
gelernt, die sich in diesem Bereich in der Vergangenheit
gezeigt haben. Die Bürgerarbeit ist nicht ein Zweck an
sich; es geht nicht darum, möglichst viele Bürgerarbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Die Bürgerarbeit ist
vielmehr so strukturiert, dass ein Jobcenter selber definiert, dass zum Beispiel alle Arbeitslosen, die sich ab
sofort melden, an dem Projekt Bürgerarbeit teilnehmen,
das heißt, dass sie zuerst alles versuchen, um sich zu
qualifizieren und in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Sehr viele schaffen schon in den ersten sechs Monaten den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt. Nur diejenigen, die übrig bleiben und trotz besonderer Betreuung
keine Chance haben, eine Arbeit zu finden, werden in
Bürgerarbeit gebracht. Bei der Bürgerarbeit wird - anders als bei den eben beschriebenen öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen in der Vergangenheit in regelmäßigen Abständen hingeschaut und gegebenenfalls weiter aktiviert, damit der Sprung aus der Bürgerarbeit in den ersten Arbeitsmarkt gelingt.
Es geht also nicht darum, die betreffenden Menschen
dauerhaft beiseitezuschieben. Vielmehr muss man immer darauf achten, dass der Schritt in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Man muss sehen, wie viele Menschen das
Projekt „Bürgerarbeit“ in Anspruch nehmen. Ein Jobcenter ist umso erfolgreicher, je weniger Menschen eine
Bürgerarbeit aufnehmen. Ziel ist, dass möglichst viele
eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt finden.
Die letzte Frage zu diesem Themenbereich stellt Frau
Pothmer.
Ich möchte gern zum Gründungszuschuss zurückkommen. Frau von der Leyen, in diesem Bereich wird
sehr stark gekürzt. Sie begründen die Kürzungen, die Sie
da vornehmen, mit dem Hinweis auf Mitnahmeeffekte.
Im Vergleich zu 2011 geht die Förderung im Jahr 2012
um 76 Prozent zurück. Ich möchte Ihnen vorlesen, was
diejenigen, die dieses Instrument wissenschaftlich untersucht haben, dazu sagen. IAB-Chef Möller kritisiert Ihre
Pläne betreffend den Gründungszuschuss und sagt, die
von Ihnen als maßgeblich für Ihre Entscheidung herangezogenen angeblichen Mitnahmeeffekte beim Gründungszuschuss ließen sich kaum beziffern. Das DIW
sagt, die Ministerin überinterpretiere die Forschungsergebnisse, um zu den von ihr gewünschten politischen
Ergebnissen zu kommen. Was setzen Sie diesen aus der
Wissenschaft kommenden Argumenten entgegen?
Ich empfehle Ihnen, die wissenschaftliche Analyse
des IAB zu lesen. Dort können Sie schwarz auf weiß
nachlesen, dass 60 bis 70 Prozent sagen, dass sie auch
ohne den Gründungszuschuss ein Unternehmen gegründet hätten. Das nennt man einen Mitnahmeeffekt.
({0})
So steht es schwarz auf weiß im IAB-Gutachten. Wenn
wir Gutachten in Auftrag geben - in diesem Fall war das
nicht ich, sondern es waren meine Vorgänger - und dann
Ergebnisse bekommen, dann müssen wir auch unter Einbeziehung dieser Ergebnisse konkret handeln.
Mit dem Gründungszuschuss sind sicherlich viele
„richtige“ Gründungen gefördert worden. Dass quasi als
Rechtsanspruch formuliert war, dass jeder am Ende der
Arbeitslosigkeit den Gründungszuschuss in Anspruch
nehmen kann, hat sicherlich zu guten Gründungen geführt. Aber andere Gründungen hätten auch ohne staatliche Förderung stattgefunden, und wiederum andere
Gründungen waren nur halbherzig. Das hatte das Phänomen der sogenannten Soloselbstständigen - früher kamen die Betreffenden aus einer Ich-AG - zur Folge. Das
ist kein durchgängiges Erfolgserlebnis gewesen. Dass es
120 000 Selbstständige gibt, die gleichzeitig Hartz IV
beziehen, spricht dafür, dass diese Form der Selbstständigkeit wohl keine gute Basis hat. Viele der Betreffenden haben keine Rentenversicherung. Hier droht ein hohes Altersarmutsrisiko.
Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass es sich
beim Gründungszuschuss nun um eine Ermessensleistung handelt. Darüber entscheidet aber nicht der Vermittler allein. Die Wirtschaftskammern, die Erfahrung vor
Ort haben und den regionalen Arbeitsmarkt kennen - das
ist ihre Kernkompetenz -, analysieren den Businessplan,
setzen sich mit ihm auseinander und untersuchen, ob es
sich um ein tragfähiges Konzept handelt. Diese Kammern entscheiden, ob sie das betreffende Konzept empfehlen oder, weil es auf wackligen Beinen steht, nicht.
Meines Erachtens ist es in Zeiten, in denen viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen offen sind und alternativ besetzt werden könnten, richtig, hier abzuwägen, welches der richtige Weg ist.
Vielen Dank. - Ich schließe damit diesen Teil der Befragung der Bundesregierung ab.
Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist offenkundig nicht der Fall. Gibt
es sonstige Fragen an die Bundesregierung über die
schriftlich eingereichten hinaus? - Das ist offensichtlich
auch nicht der Fall, was der Staatsminister im Kanzleramt sicherlich mit besonderer Genugtuung registriert.
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 17/5875 Die Geschäftsbereiche werden in der ausgedruckten
Reihenfolge aufgerufen.
Wir kommen als Erstes zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Thomas
Kossendey zur Verfügung.
Die Frage 1 der Kollegin Heidrun Dittrich sowie die
Fragen 2 und 3 des Kollegen Rainer Arnold werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Inwieweit treffen Medienberichte zu, wonach in der Nacht
zum 18. Mai 2011 in Taloqan/Provinz Tachar im nordafghanischen Verantwortungsbereich der Bundeswehr afghanische
und ISAF-Soldaten - vermutlich einer US-Spezialeinheit bei einem gezielten Zugriff zwei Frauen sowie zwei Männer
töteten, die laut Darstellung des dortigen Polizeichefs, Schah
Dschehan Nuri, gegenüber dpa Zivilisten waren, und dass aus
der anschließenden Protestdemonstration heraus das dortige
Bundeswehrlager mit Brandsätzen sowie Handgranaten angegriffen wurde, zwei deutsche Soldaten sowie sechs Wachmänner verletzt wurden und nach afghanischen Angaben 12 Demonstranten getötet sowie über 80 verletzt wurden ({0}), und ist die Bundesregierung danach immer noch
der Auffassung wie in ihrer Antwort auf meine Frage 55
({1}), dass durch gezielte Zugriffe mit Tötungen durch US-Einheiten die Sicherheitslage im Verantwortungsbereich der Bundeswehr verbessert wird, oder schließt sich die Bundesregierung meiner
Auffassung an, dass durch gezielte Tötungen die Gewalt in
Afghanistan geschürt sowie die Sicherheitslage nachhaltig gestört wird?
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Ströbele, dazu kann ich Ihnen Folgendes mitteilen: Spezialeinheiten eines Bündnispartners sind am
Abend des 17. Mai 2011 gemeinsam mit den afghanischen Partnereinheiten in Taloqan in der Provinz Tachar
gegen regierungsfeindliche Kräfte vorgegangen. Dabei
wurden vier Personen getötet. Zwei Personen wurden
festgenommen. Hierüber wurden die Obleute des Verteidigungsausschusses in dem üblichen Verfahren, welches
zwischen den Fraktionsvorsitzenden vereinbart worden
ist, unterrichtet. Deutsche Soldaten waren an diesem
Vorfall nicht beteiligt.
Diese Zugriffsoperation war offenbar der Anlass für
eine gewaltsame Demonstration in Taloqan am 18. Mai
2011, in deren Verlauf es zu Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten auf der einen und den afghanischen Sicherheitskräften sowie den
Bewachern des deutschen PAT auf der anderen Seite
kam. Dabei kam es zu einer hohen Anzahl an Toten und
Verletzten. Genaue Zahlen können wir deshalb nicht angeben, weil die afghanischen Behörden ihre Untersuchungen noch nicht abgeschlossen haben. Wir gehen
aber davon aus, dass mehr als 10 Personen getötet und
etwa 70 Menschen verletzt worden sind. Bei diesem Angriff der Demonstranten, unter anderem auf das PAT,
wurden 3 deutsche Soldaten und 5 afghanische Sicherheitskräfte verwundet.
Die Bundesregierung stellt dazu bewertend fest: In
der benachbarten Provinz Kunduz, circa 100 Kilometer
von Taloqan entfernt, wurden im Jahr 2011 bereits vier
Selbstmordattentate durchgeführt, bei denen über
80 Personen getötet und bis zu 100 Menschen verletzt
worden sind. Durch die Zugriffsoperation am 17. Mai
2011 ist es den Sicherheitskräften offenkundig gelungen,
einem bevorstehenden Selbstmordanschlag zuvorzukommen und dadurch möglicherweise einer Vielzahl
von Menschen das Leben zu retten. Auf jeden Fall hat
diese Operation zumindest im Bereich Taloqan das im
Hinblick auf die Sicherheitslage bestehende Bedrohungspotenzial reduziert.
Bedauerlicherweise ist - das muss man sagen - diese
Operation sowohl durch regierungsfeindliche Kräfte als
auch durch lokale politische Akteure instrumentalisiert
und damit zum Auslöser für die nachfolgenden gewaltsamen Demonstrationen geworden. Die Ursache für die
Demonstration liegt nach den uns vorliegenden Erkenntnissen unter anderem in der von ethnischen Bevölkerungsgruppen empfundenen Benachteiligung im Rahmen der politischen Partizipation. Die Bundesregierung
sieht deswegen keinen Anlass, ihre in der Fragestunde
am 13. April 2011 zum Ausdruck gebrachte Haltung zu
ändern, die damals vom Auswärtigen Amt hier vorgetragen worden ist.
Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Staatssekretär. - Man muss feststellen,
dass deutsche Soldaten in Afghanistan nun auch schon
auf Demonstranten schießen. Dabei wurden wahrscheinlich 14 Menschen getötet und 80 verletzt. Dies besagen
die Zahlen, die in der Presse genannt wurden.
Muss die Bundesregierung nicht aufgrund der Tatsache, dass 3 000 bis 5 000 Personen gegen ISAF demonstriert haben, den Schluss ziehen, dass ihre Bemühungen, die Herzen der Menschen dort zu gewinnen,
misslungen sind und dass dazu unter anderem entscheidend die gezielten Capture-or-Kill-Aktionen beigetragen
haben, also Tötungsaktionen von Spezialeinheiten der
USA, die zusammen mit den Afghanen durchgeführt
wurden? Ist die Bundesregierung nach diesem Vorfall
und aufgrund der Tatsache, dass bestimmt schon
150 solcher Capture-or-Kill-Aktionen allein im Verantwortungsbereich der Bundeswehr in Afghanistan durchgeführt wurden, gewillt, auf die US-Behörden einzuwirken, dass solche gezielten Tötungsaktionen in Zukunft
unterlassen werden, um auf diese Weise eine friedlichere
Atmosphäre zu schaffen und die Herzen der Menschen
vor Ort wirklich zu gewinnen?
Herr Abgeordneter, genau diesem Ziel dient das vorsichtige Vorgehen der deutschen Soldaten. Es ist nicht
richtig, dass im Zusammenhang mit der Demonstration
deutsche Soldaten 14 Menschen getötet hätten. Deutsche
Soldaten haben in Notwehr gehandelt, um ihr PAT und
die ihnen anvertrauten Menschen in diesem PAT zu
schützen. Aus einer Demonstration heraus, die zunächst
friedlich war, haben sich, nachdem sich gewalttätige Demonstranten darunter gemischt hatten, Bedrohungslagen für das PAT ergeben. Es wurden Molotowcocktails
auf das PAT geschleudert, und es wurden Handgranaten
geworfen. Daraufhin haben die deutschen Soldaten gezielt auf die Beine von Angreifern geschossen. Erst als
sie mit den Handgranaten bedroht worden sind, haben
sie auch auf den Rumpf geschossen. In einem Fall - das
untersuchen wir aber noch - können wir nicht ausschließen, dass ein Schuss im oberen Körperbereich getroffen
hat. Aber Ihre Unterstellung, dass deutsche Soldaten
14 Demonstranten getötet hätten, weil deutsche Soldaten
auf Demonstranten geschossen haben, ist falsch. Das
war der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Es handelte sich bei der Operation, die in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai stattgefunden hat, nicht um eine Capture-or-Kill-Operation,
sondern um eine Operation, die der Festnahme von möglichen Terroristen dienen sollte. Im Rahmen dieser Festnahme haben - zumindest nach den Informationen, die
uns vorliegen - die Terroristen die Sicherheitskräfte der
Afghanen und der Amerikaner mit Waffen bedroht.
Dann ist es zu einer Auseinandersetzung gekommen. In
diesem Zusammenhang sind die Menschen ums Leben
gekommen. Es ist keine Capture-or-Kill-Operation gewesen.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir recht geben, dass
„to capture“ „gefangen nehmen“ und „to kill“ „töten“
heißt und das eine Aktion von Spezialeinheiten mit dem
Ziel „capture or kill“, also gefangen zu nehmen oder zu
töten, gewesen ist, dass das Gefangennehmen nicht stattgefunden hat, sondern das Töten und dass es sich hier
nach Aussage des mit Deutschland verbündeten Präsidenten Afghanistans - nicht der Taliban -, Karzai, um
Zivilpersonen gehandelt hat und dies auch von dem örtlichen Polizeichef - nicht dem Polizeichef der Taliban,
sondern dem der Karzai-Regierung - so dargestellt worden ist, der davon gesprochen hat, es seien vier unschuldige Zivilisten getötet worden?
Herr Abgeordneter, das verwundert mich. Ich weiß
nicht, woher Sie diese Informationen haben.
({0})
Im Augenblick gibt es drei Kommissionen, die sich bemühen, diesen Sachverhalt aufzuklären. Die eine ist eine
Kommission, die von unserem Regionalkommando im
Norden im Rahmen des sogenannten Initial Assessment
Teams eingesetzt worden ist. Deren Untersuchung ist
noch nicht abgeschlossen. Eine zweite Untersuchung,
die Karzai mit seinen afghanischen Kräften eingeleitet
hat, ist ebenfalls noch nicht abgeschlossen. Eine dritte
Untersuchung, die die deutschen Feldjäger eingeleitet
haben, ist beendet und liegt mit Wirkung von heute in
Potsdam vor. Aus keiner der drei Untersuchungen kann
man das, was Sie gesagt haben, schließen; denn die ers12550
ten beiden sind nicht abgeschlossen, namentlich die von
Karzai, und das, was die deutschen Feldjäger dazu ermittelt haben, gibt keinen Anlass, von Kill-Operationen der
Amerikaner zu sprechen.
Frau Kollegin Hänsel.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
ich habe eine Nachfrage. Das Ganze ist wirklich schockierend. Demonstrationsfreiheit ist ein hohes Gut. Wir
setzen uns mit Ländern in Nordafrika auseinander, in denen auf unbewaffnete, friedliche Demonstranten geschossen wird. Es gibt unter anderem einen UN-Beschluss, der darauf Bezug nimmt, dass Gaddafi in
Libyen auf wehrlose Demonstranten schießen lässt, und
daraus ein Eingreifen in Libyen ableitet. Wenn aber Vergleichbares in Afghanistan passiert, ist die Reaktion, wie
ich finde, überhaupt nicht adäquat. Meine Frage ist:
Nimmt denn die Bundesregierung Kontakt mit den Familien der Betroffenen und den Angehörigen derjenigen
auf, die jetzt getötet wurden?
Frau Kollegin, ich will Ihnen noch einmal meine Antwort auf die Frage des Kollegen Ströbele ins Gedächtnis
rufen. Bei der Aktion, bei der Tote durch den Einsatz
von Militär und afghanischen Sicherheitskräften zu beklagen waren, haben gar keine deutschen Soldaten oder
Sicherheitskräfte mitgewirkt. Es kam dann am nächsten
Tag zu einer gewalttätigen Demonstration, eigentlich gegen afghanische Regierungskräfte und Regierungsorganisationen.
({0})
In diesem Zusammenhang ist auch das PAT in Taloqan
angegriffen worden.
({1})
Ich würde nicht von friedlichen Demonstranten sprechen, wenn die Betreffenden Handgranaten und Molotowcocktails in das PAT werfen.
In diesem Zusammenhang haben unsere Soldaten aus
Notwehr geschossen. Niemand, auf den geschossen
wurde, ist nach unseren Erkenntnissen ums Leben gekommen. Deswegen besteht für uns auch kein Anlass,
Kontakt mit Familien aufzunehmen, wie das geschieht,
wenn Angehörige durch den Einsatz deutscher Soldaten
ums Leben gekommen sind.
Was die Amerikaner angeht, will ich Ihnen gern Folgendes sagen: Wenn die Amerikaner Unschuldige getötet oder unverhältnismäßig hohen Sachschaden angerichtet haben, setzen sie sich selbstverständlich mit den
Familien, den Dörfern und den Stämmen in Verbindung,
um den Sachverhalt so zu besprechen, dass eine Entschädigung - „Entschädigung“ will ich es eigentlich gar
nicht nennen; denn für den Tod eines Menschen kann
man nicht entschädigen - in ortsüblichem Maße gewährt
wird.
Frau Höger.
Vielen Dank. - Herr Kossendey, es ist sicherlich richtig, dass der Tod von vier Menschen in der Nacht durch
die Kommandoaktion der Amerikaner und nicht durch
die Bundeswehr verursacht worden ist. Es hat dann am
Folgetag eine Demonstration gegeben, weil alle örtlichen Strukturen sagen, es seien Zivilisten gewesen. Von
daher sind wieder einmal durch eine Aktion Unschuldige
getroffen worden.
Ich finde schon, dass man das genauer untersuchen
muss. Das warten wir auch ab. Wenn eine Demonstration mit aufgebrachten Menschen aus einer Beerdigung
heraus erfolgt und auf die Demonstranten geschossen
wird, muss man das untersuchen und ist auch Rechenschaft schuldig. Es gibt unter den Demonstranten nach
Berichten der Medien 10 Tote und 40 Verletzte.
Die Bundeswehr - das geben Sie ja zu - hat auch geschossen. Sie sagen jetzt: nur auf die Beine. - Aber es
stellt sich schon die Frage: Warum musste von Schusswaffen Gebrauch gemacht werden? Wie ist das mit dem
Demonstrationsrecht? Wie tragen Sie oder die Bundeswehr zur Deeskalation der Situation in Afghanistan bei?
Ich will gern wiederholen, Frau Höger, dass diese Demonstration keine friedliche war. Es war auch kein Beerdigungszug. Ich glaube nicht, dass es ortsüblich ist,
auch nicht in Afghanistan, aus Beerdigungszügen heraus
Molotowcocktails und Handgranaten auf Unbeteiligte zu
werfen. Genau das war die Situation, der sich die afghanischen Sicherheitskräfte gegenübersahen, die die Demonstration begleitet haben. Die Afghanen haben übrigens
350 Sicherheitskräfte eingesetzt, um eine Eskalation zu
vermeiden, wie es sie am 1. April in Masar-i-Scharif gegeben hat. Wer welche Schüsse abgegeben hat, wird jetzt
genau untersucht.
Ich sage Ihnen: Deutsche Soldaten haben nur in einem relativ kurzen Zeitraum während dieser längerdauernden Demonstration geschossen, nämlich als sie in einer Notwehrsituation waren, als ihr PAT, als unser PAT
angegriffen worden ist. Da waren unsere deutschen Soldaten und die Mitarbeiter im PAT Unschuldige, die mit
Molotowcocktails und Handgranaten angegriffen worden sind. Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten der Deeskalation Sie Menschen empfehlen wollen, die in so einer schwierigen, bedrohlichen Situation sind.
Vielen Dank. - Weitere Fragen gibt es hierzu nicht.
Die Frage 5 der Kollegin Dağdelen aus dem Geschäftsbereich des Verteidigungsministeriums wird schriftlich beantwortet.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Gesundheit auf. Die Fragen 6 und 7 des Kollegen
Kekeritz, die Fragen 8 und 9 der Kollegin Scharfenberg
und die Frage 10 der Kollegin Silvia Schmidt werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Die Fragen 11 und 12 des Kollegen Seifert werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Michael Schlecht
auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, dass das bundeseigene Unternehmen Deutsche Bahn AG für eventuelle Mehrkosten aufkommt, sofern im Stresstest für Stuttgart 21 die
Obergrenze der Kosten von 4,5 Milliarden Euro überschritten
wird?
Ich bitte den Parlamentarischen Staatssekretär
Andreas Scheuer um Beantwortung.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schlecht, die Antwort lautet wie folgt:
Beim Projekt Stuttgart 21 handelt es sich um ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG. Über
Einzelheiten der Realisierung entscheidet das Unternehmen im Rahmen des operativen Geschäfts.
Zusatzfragen? - Bitte schön.
Die Frage zielte darauf ab, ob dann, wenn nach dem
Stresstest die Kosten oberhalb von 4,5 Milliarden Euro
liegen, das Land, wie in der Koalitionsvereinbarung in
Baden-Württemberg festgelegt, keine weiteren Finanzmittel zuschießt. Wenn so verfahren würde, dann wäre
nach Lage der Dinge das Projekt Stuttgart 21 beendet.
Die Formulierung in der Koalitionsvereinbarung lässt es
aber rein theoretisch zu, dass der Bund oder auch die
Bahn mit weiteren Finanzmitteln eintritt. Die Frage ist,
ob Sie ausschließen können, dass in einem solchen Fall
der Bund und/oder die Bahn mit weiteren Finanzmitteln
eintreten. Ich erweitere es: Der Bund könnte ja genauso
gut eintreten.
Herr Kollege Schlecht, Stuttgart 21 ist ein Projekt der
Stadt, des Landes Baden-Württemberg und der Deutschen Bahn AG. Der Bund ist nur in der Pflicht, die
Hochleistungsstrecke Wendlingen-Ulm zu bauen. Da
sind wir ohnehin schon in dreistelliger Millionenhöhe in
der Pflicht. Das ist eine auf europäischer Ebene festgelegte Magistrale.
Ich sage dazu nur: Sechs Wochen Baustopp bei Stuttgart 21 bedeuten 10 Millionen Euro zusätzlich, drei Monate Baustopp bedeuten 200 Millionen Euro zusätzlich,
und sechs Monate bedeuten 300 Millionen Euro zusätzlich. Ich gehe fest davon aus, dass die DB AG aufgrund
der Ausfälle, die es durch den Baustopp und die Politik
in Baden-Württemberg gibt, auf das Land BadenWürttemberg zukommt und Regressansprüche geltend
macht.
Sie haben meine Frage nicht beantwortet; Sie gehen
auf ein ganz anderes Thema ein. Ich frage Sie noch einmal: Schließen Sie aus, dass für den Fall, dass die Kosten höher als 4,5 Milliarden Euro sind, vonseiten des
Bundes und/oder der Bahn zusätzliche Kostenbelastungen übernommen werden? Schließen Sie das aus, ja oder
nein?
Herr Kollege Schlecht, ich habe Ihnen gerade zu erklären versucht, dass das Projekt kein Projekt des Bundes ist, es sich somit an dieser Stelle nur um das operative Geschäft der DB AG handelt und der Bund deshalb
keine zusätzliche Verpflichtung hat; das ist Fakt.
Frau Hänsel.
Danke schön. - Ich habe eine konkrete Nachfrage. Sie
haben den Medien vielleicht entnommen, dass es am
vergangenen Wochenende in Stuttgart wieder große Demonstrationen - auch eine Dauerblockade von zwei Tagen - gegen Stuttgart 21 gab. Das Engagement der Menschen in Stuttgart hat doch deutlich gemacht, dass sie
diesen irrsinnigen Bahnhof, dieses Milliardengrab nicht
wollen und sehr entschieden dagegen sind. Ich glaube,
dass das dafür zur Verfügung stehende Geld sehr gut in
einem freundlichen Solarbahnhof über der Erde angelegt
wäre - das wäre übrigens auch ein Beitrag zu der Energiewende, die sich die CDU ja vorgenommen hat - und
dass wir von solchen Tunnelprojekten Abstand nehmen
müssen.
Meine konkrete Frage lautet - Sie sind ja Eigner der
Bahn -: Wird die Bundesregierung, wird sich der Bund
im Rahmen seiner Eignerschaft bei der Bahn dafür einsetzen, dass keine weiteren Mittel, sollte das Projekt teurer werden, zur Verfügung gestellt werden? Werden Sie
sich qua Ihrer Einflussmöglichkeiten dafür einsetzen?
Frau Kollegin, die DB AG handelt im Rahmen ihres
operativen Geschäfts und wird das natürlich mit der
Stadt Stuttgart und dem Land besprechen. Es gibt keine
Aktivitäten dergestalt, dass wir uns als Bund in das operative Geschäft dieser drei Partner einmischen.
Ich füge hinzu - denn Sie haben gerade die CDU als
Partei angesprochen -: Vielleicht sollte sich herumsprechen, dass in Baden-Württemberg Landtagswahlen waren und wir dort nun eine andere Koalition vorfinden.
Diese Koalition hat im Koalitionsvertrag ein paar Pflö12552
cke vereinbart, die für sie wichtig sind, sprich Bürgerentscheid und vieles mehr.
Wir könnten intensiv über den 17 Jahre andauernden
Bürgerdialog mit 12 000 abgearbeiteten Einwendungen
zu Stuttgart 21 philosophieren. Wir könnten auch darüber philosophieren, dass die Entscheidungen dieser
Jahre in den Parlamenten immer jenseits der 85 Prozent
getroffen worden sind - von der kommunalen über die
Landes- bis hin zur Bundesebene - und dass selbst die
Grünen noch vor nicht allzu langer Zeit eine Beschleunigung des Projekts und Zusatzmittel gefordert haben.
Dann gab es jedoch eine Landtagswahl, und dieses
Thema wurde aufgegriffen.
Das habe ich nicht zu bewerten; das ist eben so. Zu
bewerten haben es die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg in einem Bürgerentscheid. Ich bin Demokrat genug, nicht schon Vorfestlegungen für diese
Entscheidungen, wie Sie es anscheinend getan haben, zu
treffen, sondern die Bürger entscheiden zu lassen. Das
ist Demokratie. Wenn einem das Ergebnis nicht passt,
dann kann es an dieser Stelle auch nicht passend gemacht werden, auch wenn schon die ersten Aktionen
vom dortigen Verkehrsminister anlaufen.
Ich denke, bezüglich dieses Projekts wird es noch viel
Diskussionsstoff zwischen den Partnern Grün und Rot
geben. Wir vom Bund sind bei diesem Projekt nicht beteiligt, sondern dabei geht es um das operative Geschäft
der DB AG.
Die Fragen 14 und 15 des Kollegen Dr. Hofreiter werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Wann und mit welchen finanziellen Mitteln ausgestattet
wird die Bundesregierung - insbesondere vor dem Hintergrund, dass die mit dem Konjunkturpaket II finanzierten Bauprojekte für Querungshilfen Ende 2011 abgeschlossen sein
müssen - das im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
FDP vereinbarte Bundesprogramm Wiedervernetzung „als
Grundlage für den Bau von Querungshilfen im Bundesverkehrswegenetz in den wichtigsten Lebensraumkorridoren“
realisieren?
Das als Entwurf vorliegende Bundesprogramm Wiedervernetzung ist langfristig angelegt. Der Entwurf des
Bundesprogramms enthält Wiedervernetzungsabschnitte
in größerer Zahl, an denen mittel- und langfristig Querungshilfen gebaut werden sollen. In welchem Umfang
und Zeitraum Projekte des Bundesprogramms finanziert
werden, ist derzeit noch offen. Der Bundesfernstraßenhaushalt ermöglicht die Finanzierung von Maßnahmen
zur Wiedervernetzung von Lebensräumen an bestehenden Bundesstraßen.
Diesen Entwurf werden wir auch in Abstimmung mit
unserem Partner, dem Ministerium für Umwelt, auf den
Weg bringen.
Zusatzfragen? - Bitte schön.
Vielen Dank. - Die Auflage eines Bundesprogramms
Wiedervernetzung war ja Bestandteil der Vereinbarung
des Koalitionsvertrages. Es sollte mithilfe von Konjunkturpaketmitteln umgesetzt werden; diese können jedoch
nur noch bis zum Ende dieses Jahres eingesetzt werden.
Wie passt das mit der im Koalitionsvertrag geäußerten
Absicht zusammen? Es ist ja, wie ich glaube, zwischen
den Partnern unstrittig, dass die Grünbrücken, um die es
hier geht, in zweierlei Hinsicht nützlich sind.
Sie helfen einmal der Tierwelt. Das ist eine ganz
wichtige Sache, weil wir damit unsere Lebensgrundlagen erhalten. Inzucht bei Hirschen, die auftritt, wenn sie
sich nur noch in eng umgrenzten Gebieten aufhalten
können, ist ja beispielsweise ein Problem, das wir angehen müssen. Verhindert werden kann sie wohl nur, wenn
auch entsprechende Mittel in die Hand genommen werden.
Zum anderen verhindern diese Grünbrücken aber
auch Wildunfälle in beachtlichen Größenordnungen.
Meine Frage ist nun: Wie gehen Sie damit um, dass
dieses im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel jetzt offensichtlich nicht mehr aus Konjunkturpaketmitteln finanziert werden kann? Wird es nun auf die lange Bank geschoben?
Frau Kollegin Behm, Sie haben mich an dieser Stelle
vielleicht falsch verstanden. Der Entwurf für das Bundesprogramm beinhaltet eine Mittel- und Langfristperspektive. Über 55 Grünbrücken sind bereits in Planung
oder werden schon unter Rückgriff auf Konjunkturpaketmittel gebaut. Wenn Sie die Stadtgrenzen von Berlin verlassen und auf dem Berliner Ring Richtung A 9
fahren - ich kann jetzt die Anschlussstelle nicht genau
benennen -, sehen Sie, dass über dem hier sechsspurigen
Autobahnabschnitt eine Grünbrücke gebaut wird. Die
Umrisse kann man schon erkennen.
Ich möchte mich allerdings nicht an Diskussionen
über für mich fachfremde Themen wie das Paarungsund Brunftverhalten von Hirschen beteiligen.
({0})
Mich interessiert vielmehr die Frage, inwieweit das
Funktionieren der Vernetzung, wenn die Grünbrücken
erst einmal existieren, auch evaluiert werden kann. Hierfür gibt es natürlich Möglichkeiten.
Ich könnte Ihnen neben der obengenannten und der
Grünbrücke an der A 93 - auch sie wird aus Konjunkturpaketmitteln finanziert - noch mehr Grünbrücken nennen, die in Bau sind. Lassen Sie mich stattdessen festhalten: Der in Abstimmung mit dem BMU erstellte Entwurf
des Bundesprogramms beinhaltet eine Mittel- und Langfristperspektive für Querungshilfen. Bitte verwechseln
Sie dieses Programm nicht mit den schon laufenden Projekten, die aus Konjunkturpaketmitteln finanziert werden.
Weitere Zusatzfrage?
Ja, danke schön. - Ich stehe mit Freude auf der Autobahn im Stau, wenn ich weiß, dass ich im Stau stehe,
weil eine Grünbrücke gebaut wird. Und das geschieht
mir des Öfteren, wenn ich im Land Brandenburg unterwegs bin. Insofern stehe ich diesem Programm zustimmend gegenüber.
Ob das die anderen Verkehrsteilnehmer auch so sehen
wie Sie, weiß ich nicht.
({0})
Die Baumaßnahmen schreiten ja relativ schnell voran.
Hieraus resultierende Staus jedenfalls wird es ja dann
nicht mehr geben.
Das allerdings, was heute in den Potsdamer Neuesten
Nachrichten zu lesen war, klingt ganz und gar nicht so
ermunternd, wie Sie eben auf meine Nachfrage geantwortet haben. Da wird in einem Artikel berichtet, dass
unser Verkehrsminister Peter Ramsauer „eine Entscheidung auf Kosten der Hirsche getroffen“ hat, nämlich in
der Form, dass er 95 Straßenbrücken, die der Bund eigens für Tiere geplant hat, nun nicht mehr bauen lassen
will. Vielmehr will er dieses Geld - man redet da von
5 Millionen Euro pro Grünbrücke - für Ortsumgehungen
einsetzen. Das würde aber zu einer weiteren Landschaftszerschneidung und zu einem größeren Bedarf an
Querungshilfen führen.
Im Übrigen wird in diesem Artikel, unterlegt mit einigen Zitaten, darauf hingewiesen, dass der Minister von
Grünbrücken nicht sehr viel hält.
Ich auch nicht, Frau Behm.
Auch Sie selbst haben sich eben eher belustigt darüber geäußert.
Ich möchte gerne wissen: Stimmt die Meldung, dass
der Bau der 95 geplanten Grünbrücken wirklich gestrichen ist und dass Ihr Ministerium das Geld tatsächlich
für Ortsumgehungen ausgibt?
Im Rahmen der Konjunkturpakete werden 18 Grünbrücken mit einem Gesamtkostenvolumen von 80 Millionen Euro gebaut. Diese Brücken befinden sich schon
in Bau, bzw. die entsprechenden Planungen sind in der
Endabstimmung.
Wir reden im Zusammenhang mit dem Bundesprogramm von zukünftigen Projekten. Wenn ich mir den
Bundeshaushalt des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung anschaue, dann muss ich feststellen, dass sich unsere Investitionen zwar auf einem
hohen Niveau bewegen, dass wir aber angesichts des bestehenden Investitionsbedarfs - denken Sie nur an die
Verkehrssicherheit der Straßenbrücken; auf der A 45 gab
es kürzlich zwischen Dortmund und Frankfurt ein entsprechendes Problem; es gibt auch einiges zu tun mit
Blick auf den Nachhol- und Sanierungsbedarf bei Brücken, die Engpassbeseitigung und Stauvermeidung keine Spielräume im jetzigen Etat mehr haben. Wir können noch nicht einmal von einem Beginn von Neubaumaßnahmen reden.
Frau Kollegin Behm, es ist ganz klar, dass die politische Leitung unseres Hauses die Bürgerinnen und Bürger von Abgasen und Lärm entlasten will. Es gibt eine
ganze Reihe von Ortsumfahrungen in Baden-Württemberg, in Bayern, in Niedersachsen und in vielen anderen
Bundesländern, die noch nicht realisiert sind, was dazu
führt, dass ungefähr 30 000 Autos pro 24 Stunden durch
die betreffenden Orte fahren.
Bundesminister Peter Ramsauer ist der Schutz der
Menschen wichtiger. Angesichts der knappen Haushaltsmittel darf es keine Luxusprojekte mehr geben, sondern
nur Projekte, die die Menschen entlasten. Ich bin gespannt, wie neue Regierungskonstellationen in manchen
Bundesländern damit umgehen, dass es auch Bürgerinitiativen pro Ortsumfahrungen gibt.
Wir werden den Sachverhalt genau ausloten. Wir haben nur begrenzte Haushaltsmittel; der Bedarf liegt aber
höher. Deswegen wollen wir uns auf die laufenden Maßnahmen in den Bereichen Vernetzung und Grünbrücken
konzentrieren. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt den
Etatverhandlungen für 2012 noch nicht vorgreifen.
Frau Kollegin Kurth.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass es einen Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zu einer nationalen
Biodiversitätsstrategie gibt, die zur Aufgabe hat, dem
Natur- und Artenschutz zur Sicherung der Lebensgrundlage der Menschen in diesem Land oberste Priorität einzuräumen?
In diesem Konzept ist vorgesehen, dass die Wiedervernetzung von Lebensräumen eine besondere Wertigkeit hat. Es geht hier nicht um das von Ihnen etwas lä12554
Undine Kurth ({0})
cherlich gemachte Brunftverhalten von Hirschen,
sondern es geht darum, ob der Naturhaushalt, auf dem all
unsere Lebensgrundlagen beruhen, in seiner Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. Deshalb frage ich Sie: Ist die
Streichung der von Ihnen als vermeintliche Luxusprojekte angesehenen Maßnahmen zum Naturschutz in Ihrem Hause mit dem BMU abgestimmt und im Einklang
mit den Zielen der nationalen Biodiversitätsstrategie?
Frau Kollegin, erstens hat die Kollegin Behm das
Brunftverhalten in die Debatte gebracht; ich habe dieses
Schlagwort nur aufgegriffen. Zweitens. Wir haben Maßnahmen in Bau und in Planung. Das heißt, wir arbeiten
schon jetzt an Vernetzungsstrategien. Drittens. Wir haben für die Mittel- und Langfristperspektive den Entwurf
eines Bundesprogramms zusammen mit unseren Partnerhäusern aufgestellt. Von daher stehen die Punkte, die Sie
in Ihrer Frage angesprochen haben, nicht im Widerspruch zur Haltung unseres Hauses.
Angesichts der begrenzten Mittel, egal ob es sich um
Straßenbauprojekte, Grünbrücken oder Maßnahmen zur
Vernetzungsstrategie handelt, muss ich allerdings sagen:
Das Geld ist knapp. Wir werden uns auf Engpassbeseitigungen, Staubeseitigungen und Lärmschutz konzentrieren müssen, weil wir einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten und vor allem die Sicherheit in den
Vordergrund stellen wollen.
Deswegen - ich sage es noch einmal - investieren wir
in diese Vernetzungsprojekte, die schon jetzt gebaut werden. In einem nächsten Schritt wird es um den Entwurf
gehen. Also stehen die in Ihrer Frage angesprochenen
Punkte gar nicht im Widerspruch zu meiner Antwort.
Ich rufe die Frage 17 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Welche konkreten Summen sind von der EU, dem Bund
und den Ländern für die Bauphasen B und C der Nordverlängerung der A 14 aufzubringen, und welche genauen Voraussetzungen müssen vorliegen, damit die Fördermittel des
Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, EFRE, für die
Bauphase A nicht verloren gehen?
Nach aktuellem Kostenstand und gemäß Bau- und
Finanzierungskonzept sind in den Bauphasen B und C
insgesamt noch rund 500 Millionen Euro in die A 14,
Magdeburg-Wittenberge-Schwerin, zu investieren. Dabei sieht das Bau- und Finanzierungskonzept die für die
Bauphase A vereinbarte Kostenaufteilung zwischen
EFRE-Mitteln - rund 42 Prozent -, Sonderfinanzierung
- rund 29 Prozent aus Bundesmitteln - und Länderplafonds - rund 29 Prozent aus Bundesmitteln - grundsätzlich auch für die Bauphasen B und C vor. Wenn eine Anschlussförderung mit EU-Mitteln nicht möglich ist,
sollen die entsprechenden Mittel aus den Länderplafonds
eingebracht werden. Die für die Bauphase A vorgesehenen EFRE-Fördermittel können in Anspruch genommen
werden, wenn die Streckenabschnitte der Bauphase A
bis zum Ende des Jahres 2015 weitgehend realisiert werden.
Zusatzfrage?
Ja. - Sie sagten gerade, die von der EU bereitgestellten EFRE-Mittel könnten in Anspruch genommen werden, wenn sicher ist, dass sie bis 2015 verbaut werden.
Was ist denn, wenn das nicht zu realisieren ist? Es gibt
einige Klagen zu diesem Projekt. Welche konkreten Voraussetzungen müssen bis zu welchen Fristen erfüllt
werden, damit diese EU-Mittel wirklich ausgeschüttet
werden? Was muss nachgewiesen werden?
Es stimmt: Wir müssen dies bis 2015 weitgehend realisiert bekommen. Ich würde Ihnen gerne den Stand der
Planungen zu den einzelnen Abschnitten schriftlich geben - ich könnte Ihnen all das zwar jetzt vorlesen; Herr
Präsident, ich verzichte aber darauf und werde das mit
der Kollegin Behm bilateral regeln -, damit der Stand
der Planungen zu den einzelnen Abschnitten klar wird.
Was passiert, wenn es nicht rechtzeitig realisiert
wird? Die Antwort ist klar: Dann kommen die Mittel aus
den Länderplafonds. Ich habe gerade, bei der vorhergehenden Antwort zu den Grünbrücken, über die Haushaltssituation des Bundes geredet. Damit erübrigt sich
eine weitere Ausführung. Der Bund ist dann über die
Länderplafonds daran beteiligt.
Eine weitere Zusatzfrage?
Ja. - Die Frage, die Sie nicht konkret beantwortet haben, war: Welche Fristen müssen eingehalten werden?
Es geht nicht nur um die Fertigstellung bis 2015, sondern vorher muss sicher auch ein Nachweis erbracht
werden, dass die Fertigstellung tatsächlich realisiert werden kann; denn die Förderperiode ist 2013 zu Ende.
Ich habe eine Zusatzfrage zur Planung des Abschnitts
der VKE 1155 von Karstädt bis zur Landesgrenze Mecklenburg-Vorpommern. Diese Planung wird zurzeit, wie
man bemerken kann, intensiv vorangetrieben, obwohl
sich dieser Abschnitt erst in der Bauphase B befindet
und die Finanzierung - alles Weitere soll ja erst nach
2015 erfolgen - noch gar nicht klar ist. Warum wird die
Planung dieses Abschnitts so sehr vorangetrieben? Hat
es eine Änderung hinsichtlich der Bauphasen gegeben?
Ich könnte Ihnen, wie gesagt, eine Übersicht zukommen lassen. Sie haben den Kollegen Mücke in der Fragestunde am 11. Mai mit einer ähnlichen Frage betraut.
Dort haben Sie zum Thema des Abschnitts ab Karstädt
Auskunft bekommen. Ich will die Kollegen jetzt nicht zu
lange mit Details zu den Einzelmaßnahmen belästigen,
sondern nur sagen: Es gibt verschiedene Abschnitte in
der Nachbarschaft des angesprochenen Abschnitts, die
sich auch im Planfeststellungsverfahren befinden. Das
ist abhängig davon, wie anspruchsvoll die Planung der
verschiedenen Abschnitte ist, welche leichter zu planen
sind. Das macht im Übrigen nicht der Bund, sondern die
Auftragsverwaltung im zuständigen Bundesland. Wir
fragen nicht jeden Tag ab, inwieweit der einzelne Abschnitt gerade beplant wird, wie man vorwärtskommt
und welche Einsprüche vorliegen. Klar ist, dass die Fristen, die ich Ihnen vorhin genannt habe, eingehalten werden müssen, wenn man die EFRE-Mittel ausnutzen will.
Die Fragen 18 und 19 des Kollegen Heinz Paula sowie die Frage 20 des Kollegen Swen Schulz werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun die Frage 21 des Kollegen Oliver
Krischer auf:
Ist die Bundesregierung bereit, ähnlich wie NordrheinWestfalen ein Ziel von 2 Prozent der Fläche zur Windenergienutzung Onshore anzustreben, und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung zum Beispiel im Rahmen der Novelle zum Baugesetzbuch und zum Erneuerbare-EnergienGesetz, um Kommunen zu unterstützen, die Errichtung von
mehr Windenergieanlagen zu ermöglichen und administrative
Hemmnisse oder Verhinderungsplanungen für Windenergieanlagen abzubauen?
Herr Kollege Krischer, die Windenergie an Land bietet kurz- und mittelfristig weitere Ausbaupotenziale im
Bereich erneuerbare Energien. Zur Nutzung dieses Potenzials sieht das Energiekonzept der Bundesregierung
vom 28. September 2010 beispielsweise die Weiterentwicklung der Raumordnungspläne gemeinsam mit den
Ländern und den Kommunen vor, mit dem Ziel, ausreichend Flächen für die Windparks auszuweisen. Ich betone: Energiekonzept der Bundesregierung vom
28. September 2010. Weil im Zusammenhang mit dem
Energiekonzept verschiedene energiepolitische Fragen
verkürzt werden, wollte ich noch einmal auf den
28. September 2010 verweisen.
Mit einer optimierten Standortauswahl können Länder und Kommunen zusätzliche Flächen in Einklang mit
Natur und Landschaftsbild ausweisen und dadurch erhebliche Chancen für regionale Arbeitsplätze und Investitionen nutzen.
Bei der Novellierung des Bauplanungsrechts durch
den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Stadtentwicklung in den Gemeinden sind Regelungen zum Repowering von Windenergieanlagen geplant. Das Energiekonzept der Bundesregierung vom
- ich betone wieder - 28. September 2010 sieht vor, dass
im Bau- und Planungsrecht erforderliche und angemessene Regelungen zur Absicherung des Repowerings von
Windenergieanlagen getroffen werden. Unter Repowering - entschuldigen Sie, Herr Präsident, das ist ein
Fachbegriff, dessen Bedeutung ich gleich aufklären
werde; ich verspreche es
Da bin ich doch sehr gespannt.
- versteht man die Ersetzung älterer, oft vereinzelt
stehender Windenergieanlagen durch moderne, leistungsfähige Windenergieanlagen, vorzugsweise in
Windparks, auch - jetzt kommt es - „Aufräumen der
Landschaft“ genannt.
Zur Unterstützung soll in einem neuen § 249 Baugesetzbuch eine Regelung getroffen werden, welche die
bestehende Praxis im Hinblick auf die Anwendung bedingter Festsetzungen im Bebauungsplan, § 9 Abs. 2
Baugesetzbuch, absichert, auf den Flächennutzungsplan
ausweitet und die Rechtsunsicherheiten im Hinblick auf
das Repowering in der Bauleitplanung, also der Neuausweisung von Flächen und der Beseitigung von Höhenbeschränkungen, beseitigt.
Bitte schön.
Herzlichen Dank für die Ausführungen. Es ist interessant, dass das Zitieren des Energiekonzepts vom letzten
Jahr inzwischen auch bei Vertretern der Bundesregierung zu Belustigung führt.
Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass das schon
im September nachzulesen war.
Sie haben leider nicht auf meine Frage bzw. nur auf
einen Teil meiner Frage geantwortet. Ich hatte danach
gefragt, ob die Bundesregierung das Ziel anstrebt - beispielsweise wie Nordrhein-Westfalen; ich glaube, in
Brandenburg ist es ähnlich -, 2 Prozent der vorhandenen
Fläche für die Erzeugung von Windenergie auszuweisen.
Sollen gegebenenfalls das Baugesetzbuch oder andere
Rechtsnormen - als Bundesregierung sind Sie frei, sich
darüber Gedanken zu machen, wie man das regeln kann geändert werden, um in Deutschland weitere Flächen zur
Windenergienutzung auszuweisen?
Wie Sie wissen, diskutiert die Bundesregierung derzeit das Energiekonzept. Es wird in der nächsten Sitzungswoche im Kabinett beschlossen und dann den
Fraktionen vorgestellt. Die Diskussion ist also im Fluss.
Über eine konkrete Zieldefinition kann man noch keine
Aussage machen.
Denkt denn die Bundesregierung darüber nach, im
Bereich der Privilegierung von Windkraftanlagen und
dem folgenden Ausweisen von Konzentrationszonen
durch Kommunen irgendwelche Änderungen, die über
das - Entschuldigung, Herr Präsident - Repowering,
also - auf Deutsch - den Ersatz alter Anlagen durch neue
Anlagen, hinausgehen, vorzunehmen?
Wenn es doch offenkundig möglich ist, einen gemeinten Sachverhalt in deutscher Sprache unmissverständlich
zum Ausdruck zu bringen, warum schafft man dann
durch einen englischen Begriff unnötige Konfusion?
Herr Präsident, das ist der allgemeine Sprachgebrauch
in diesem Segment, nicht nur in diesem Hause. In der
Fachszene weiß jeder, was mit dem Begriff „Repowering“ gemeint ist. Wenn man den deutschen Begriff
nutzt, stiftet man eher Verwirrung.
Teilt die Bundesregierung diesen allgemeinen Eindruck?
({0})
Herr Präsident, mit Abscheu und Empörung weist die
Bundesregierung diesen Eindruck zurück.
Da bin ich beruhigt.
Repowering heißt: Ersetzung älterer, oft vereinzelt
stehender Windenergieanlagen durch moderne, leistungsfähige Windanlagen. Das müsste der Kollege jetzt
in seine Frage einbauen.
Der Kollege hat das sehr schön dargestellt und die
deutsche Begrifflichkeit zutreffend formuliert. Denken
Sie über Repowering hinausgehend darüber nach, bei
den Themen Konzentrationszonen und Privilegierung im
Bereich Windkraft irgendwelche Änderungen im Baugesetzbuch durchzuführen?
Bezüglich der Pläne zur Ersetzung älterer, oft vereinzelt stehender Windenergieanlagen durch moderne, leistungsfähige Windenergieanlagen befinden wir uns in der
Diskussion mit dem Bundesumweltminister. Zusammen
haben wir beispielsweise eine breit angelegte Dialogveranstaltung im BMVBS mit den Länderkollegen durchgeführt. Ich möchte hervorheben, dass wir auch darüber
diskutieren, was zusätzlich kommen soll. Das ist der momentane Stand zu dem besagten englischen Begriff. Ich
habe schon darauf hingewiesen, dass am 6. Juni 2011
das Konzept vorgestellt wird. Dem will ich nicht vorgreifen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 22 des Kollegen Krischer auf:
Welche Erkenntnisse, die der kürzlich veröffentlichte Bericht der RSK „zur anlagenspezifischen Sicherheitsüberprüfung deutscher Kernkraftwerke“ enthält, waren der Bundesregierung bisher unbekannt und warum?
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
Herr Kollege Krischer, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die Reaktor-Sicherheitskommission hat in ihrer
437. Sitzung am 16. Mai 2011 ihre Stellungnahme „Anlagenspezifische Sicherheitsüberprüfung deutscher
Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der Ereignisse
in Fukushima-I ({0})“ verabschiedet. Die RSK hat
sich in ihrer Stellungnahme themenbezogen insbesondere mit der Frage beschäftigt, welche Sicherheitsreserven, also Robustheitsgrade, die einzelnen Anlagen haben, wenn es Einwirkungen von außen gibt, die über die
bisherigen Annahmen hinausgehen. Dabei wurden aktuelle Erkenntnisse aus Fukushima berücksichtigt. Zum
Beispiel wurde die Robustheit gegenüber umfassenden
Stromausfällen, dem Verlust der Kühlwasserversorgung
oder gegenüber Erdbeben und Hochwasser bewertet. Die
RSK hat damit Fragestellungen aufgeworfen, die bisher
so nicht betrachtet wurden. Insoweit sind die Erkenntnisse, die sich aus dem Bericht ergeben, neu.
Die RSK hat sich auch mit der Frage beschäftigt, welche Sicherheitsreserven die einzelnen Anlagen gegenüber zivilisatorischen Risiken wie einem Flugzeugabsturz haben. Die sieben älteren Reaktoren, die derzeit
abgeschaltet sind, haben entweder keinen oder nur einen
geringen baulichen Schutz vor Flugzeugabstürzen. Die
Sicherheitsüberprüfung lieferte in diesem Punkt keine
neuen Erkenntnisse.
Zusatzfrage.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Frage. Ich bin etwas überrascht. In dem
Bericht finde ich sehr viele Aussagen zu Überflutung, zu
Meereshöhen, zu Hochwasserereignissen und Ähnlichem. Diese Angaben findet man teilweise im Internet.
Dort kann man zum Beispiel sehr leicht feststellen, dass
das AKW Unterweser im Falle eines Deichbruchs überflutet würde. Mich überrascht, dass diese Feststellung
erst jetzt durch die Reaktor-Sicherheitskommission getroffen wurde und diese Erkenntnisse offensichtlich - so
jedenfalls verstehe ich Ihre Antwort auf meine Frage im BMU nicht vorhanden waren.
Die RSK hatte die Aufgabe, Fragestellungen und vor
allem die Kombination von Fragestellungen zu untersuchen, die bislang nicht im Fokus standen. Das hat sie gemacht. Ich finde, dass dieser Bericht eine sehr gute Basis
für weitere Beratungen ist, auch für die Entscheidung,
wie und in welcher Form mit der Kernkraft in Zukunft
verfahren werden soll. Der Bericht ist eine gute Grundlage. So wurde er von uns und der Öffentlichkeit bewertet.
Zweite Nachfrage.
Trifft es denn zu, dass die Reaktor-Sicherheitskommission das Ganze nur anhand von Unterlagen und Antworten der Betreiber geklärt hat und nicht durch Besuche vor Ort, um beispielsweise zu überprüfen, ob die
Angaben in den Unterlagen auch tatsächlich zutreffen?
Das Vorgehen war wie folgt: Es gab einen Auftrag an
die RSK. In den nun folgenden Kommissionssitzungen
wurde zunächst ein umfangreicher Fragenkatalog erarbeitet. Zur Vorbereitung der RSK-Bewertung wurden die
Antworten der Anlagenbetreiber auf diese Fragen dann
von insgesamt 86 hinzugezogenen Sachverständigen in
mehreren Sitzungen ausgewertet. Für intensive Besuche
vor Ort war aufgrund des engen Zeitplans kein Raum.
Aber noch einmal: Es sind neue Kombinationen und
neue Annahmen berücksichtigt und bewertet worden. Insoweit stellt dieser Bericht sehr wohl eine qualitative
Weiterentwicklung hinsichtlich der Beurteilung der Sicherheitsreserven von Kernkraftwerken dar.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Miersch.
Frau Staatssekretärin, heute im Ausschuss hat uns der
Vorsitzende der Reaktor-Sicherheitskommission gesagt,
dass die Fragen, die Sie eben als beantwortet angesehen
haben, gerade nicht vollständig beantwortet werden
konnten. Er hat einen Prüfungszeitraum von ein bis zwei
Jahren als realistisch angesehen. Wie bewerten Sie diese
Aussage vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung
in wenigen Tagen auf der Grundlage der Erkenntnisse
der sogenannten Ethikkommission eine weitreichende
Herr Kollege Miersch, ich habe nicht gesagt, dass alle
Fragen beantwortet worden wären. Ich glaube, hier haben Sie mich bewusst missinterpretiert. Der Bericht der
RSK weist sehr wohl konkrete Empfehlungen und Maßnahmen auf, zum Beispiel Maßnahmen hinsichtlich der
Aufsicht, aber auch technischer Natur. Wir haben festgestellt, dass die Prüfung, welche dieser Maßnahmen
wann, in welchem Zeitraum und an welchem Kraftwerk
umgesetzt werden können und müssen, einiger Zeit bedarf.
Aus dem Bericht geht ganz klar hervor, dass anlagenspezifisch vorgegangen werden muss. Man kann nicht
ein Kriterium als Prüfungsmaßstab für alle Anlagen verwenden und dann nur eine Entscheidung fällen, die für
alle Anlagen gilt. Jede Anlage muss spezifisch für sich
betrachtet werden.
Gleichwohl bleibe ich bei meiner Einschätzung, dass
dieser sehr differenzierte und aussagekräftige Bericht
eine gute Entscheidungsgrundlage für unser weiteres
politisches Vorgehen ist. Es geht nicht darum - das ist
für mich die Hauptaussage und die politische Conclusio
der vergangenen Wochen -, dass wir das Thema „Sicherheit oder Unsicherheit der deutschen Kraftwerke“ in den
Fokus stellen, sondern darum, wie wir diese Sicherheit
bewerten und ob wir zu dem politischen Schluss kommen, dass wir die vorhandenen Sicherheitsreserven und
die Robustheit der Kraftwerke als ausreichend empfinden oder nicht. Davon hängt ab, in welchem Umfang die
Kernenergie in Zukunft genutzt wird. Dazu werden wir
in den nächsten Tagen die politischen Entscheidungen
treffen.
Kollege Ott.
Vielen Dank, Herr Präsident. Danke auch für die netten Geburtstagswünsche, die ich von Ihnen bekommen
habe.
Frau Staatssekretärin, der Bericht der Reaktor-Sicherheitskommission macht doch deutlich, inwieweit oder
inwieweit eben nicht die Fragen beantwortet werden
konnten, die eigentlich beantwortet werden sollten. Zwei
Wochen standen dafür zur Verfügung. In dem Bericht
gibt es insgesamt etwa hundert Stellen, an denen es
heißt, dass etwas entweder nicht untersucht werden
konnte oder dass ein Nachweis fehlt oder dass die Reaktor-Sicherheitskommission weiteren Klärungs- und Untersuchungsbedarf sieht.
Meine Frage lautet: Wie geht es denn nun weiter?
Was hat das BMU vor? Werden Sie einen Plan vorlegen,
welche Aspekte in welcher Reihenfolge abgearbeitet
werden sollen? Soll es mit Blick auf die Defizite, die bei
den periodischen Sicherheitsüberprüfungen festgestellt
wurden, einen Aktionsplan geben? Das wurde von der
Reaktor-Sicherheitskommission jetzt nicht untersucht.
Noch einmal, Herr Kollege: Dieser Bericht bietet aufgrund seiner substanziellen sicherheitstechnischen Analyse sehr wohl eine gute Grundlage, die Nutzung der
Kernenergie in Deutschland neu zu bewerten. Welche
konkreten Maßnahmen eingeleitet werden, wann an welchem Kraftwerk welche Maßnahme gegebenenfalls
durchgeführt werden wird, das werden wir nach sorgfältiger Auswertung des Berichtes gemeinsam mit den Aufsichtsbehörden entscheiden. Richtig bleibt die Feststellung - auch das zeigt der Bericht -, dass die Auslegung
und Robustheit deutscher Kernkraftwerke sehr viel besser ist als in Fukushima. Gleichwohl lautet die politische
Frage, die sich jetzt stellt, nicht, ob wir aufgrund aller
Erkenntnisse vermuten, dass die Kraftwerke hier sicher
sind, sondern welches letzte nicht abschätzbare Risiko
die Gesellschaft bereit ist, zu akzeptieren. Das ist die
Frage, die wir beantworten müssen. Im Bericht steht
ganz klar, dass die Kraftwerke über die Auslegungskriterien hinaus sicher sind. Ich glaube, das macht der Bericht
sehr deutlich.
Ich rufe die Frage 23 der Kollegin Heidrun Dittrich
auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung nach der Feststellung
der mangelnden Sicherung deutscher Atomkraftwerke gegen
Flugzeugabstürze durch die Reaktor-Sicherheitskommission,
RSK, vom 17. Mai 2011 künftig alle Überflüge zu verhindern,
so auch die der US-Kampfflugzeuge, die am 13. Dezember
2010 über dem Atomkraftwerk Grafenrheinfeld übten, entsprechend des Berichts von Monitor vom 7. April 2011?
Frau Kollegin Dittrich, ich antworte Ihnen wie folgt:
Die Reaktor-Sicherheitskommission hat für die Bewertung des Flugzeugabsturzes auf Kernkraftwerke drei
thermische und drei mechanische Schutzgrade definiert.
In ihrem Bericht vom 16. Mai 2011 wird für jedes deutsche Kernkraftwerk die Erfüllung dieser Schutzgrade auf
der Basis der vorgelegten Unterlagen der Betreiber beschrieben. In bestimmten Fällen sind die abschließenden
Bewertungen, wie eben ausgeführt, erst nach der Vorlage
zusätzlicher Nachweise möglich.
Für Übungsflüge mit militärischen Flugzeugen im
Luftraum über der Bundesrepublik Deutschland gilt unverändert ein Überflugverbot unterhalb einer Flughöhe
von 2 000 Fuß - das sind 600 Meter - über Grund und in
einem Radius von 0,8 nautischen Meilen, also 1,5 Kilometern, um die Kernkraftwerke.
Der Bericht der RSK ist eine sicherheitstechnische
Grundlage, um gesellschaftliche und politische Entscheidungen treffen zu können. Dazu wird auch die
Frage des Schutzes der Kernkraftwerke gegen Flugzeugabstürze gehören.
Frau Staatssekretärin, diese Antwort finde ich nicht
zureichend. Ich habe in meiner Frage eindeutig auf den
Fall hingewiesen, der in einem Bericht der Sendung
Monitor beschrieben wurde. Dort wurden Bürger befragt
und haben bezeugt, dass Kampfflugzeuge des US-Militärs zwischen den Kühltürmen hindurch geflogen sind
und dass sie das Kraftwerk überflogen haben. Es ist übrigens relativ egal, ob ein Flugzeug aus 400 Metern Höhe
oder aus 2 000 Metern Höhe abstürzt. Je höher es fliegt,
desto stärker ist wahrscheinlich der Aufprall. Sie können
mir und auch den Bürgern nicht erzählen, dass wir in der
Bundesrepublik militärische Überflüge - auch solche der
Luftwaffe der USA - dulden müssen. Ich erinnere an die
Atomkatastrophe in Fukushima. Ich möchte Sie fragen:
Was tut die Bundesregierung, um militärische Flüge,
egal mit welchem Radius, über Atomkraftwerken zu
stoppen?
Frau Kollegin, dann haben Sie mir eben nicht zugehört. Es gibt eine Flugverbotszone
({0})
über den Kernkraftwerken in der von mir eben beschriebenen Höhe. Diese Flugverbotszonen hat nicht das Bundesumweltministerium festgelegt. Seit 2001, seit den
schrecklichen Vorfällen in New York, gibt es auch hier
verschärfte Bedingungen. Jeder in Deutschland, ob militärische Maschine oder Zivilmaschine, ist gehalten,
diese Bestimmungen einzuhalten, die sich in § 26 Luftverkehrsgesetz finden. Zu Verstößen durch ein deutsches
Militärflugzeug kann man im BMVg nachfragen. Ich
kann diesen konkreten Fall nicht nachvollziehen; denn
das Bundesumweltministerium ist nicht die Flugaufsichtsbehörde, nicht die Deutsche Flugsicherung und
auch nicht das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung.
Noch einmal: Wir haben Flugverbotszonen. Das steht im
Gesetz, und dieses Gesetz muss eingehalten werden.
So weit die Theorie; die Praxis sieht wohl anders aus.
Daher meine zweite Nachfrage: Der Bayerische Gemeindetag hat die Kanzlerin am 18. April dieses Jahres
aufgefordert, für ein Ende der Überflüge, vor allem der
militärischen Überflüge, über das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld zu sorgen. Eine Antwort der Bundesregierung steht bis heute aus. Müssen wir davon ausgehen,
dass die vehementen Demonstrationen gegen Atomkraftwerke an diesem Samstag, den 28. Mai, genutzt werden
müssen, um eine Antwort der Kanzlerin zu erzwingen?
Noch einmal, Frau Kollegin: Sowohl für zivile Maschinen als auch für militärische Maschinen gilt ein
Überflugverbot über deutsche Kernkraftwerke.
({0})
Dieses Überflugverbot gilt unverändert. Ich kann Ihnen
versichern, dass die Bundesregierung Maßnahmen zur
Einhaltung der Gesetze ergreifen wird. Überflüge sind
nicht gestattet und werden geahndet. Den von Ihnen genannten konkreten Fall kann ich von hier aus aber nicht
beurteilen.
({1})
Kollege Schwabe mit der nächsten Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, genauso wie die interessierte
Öffentlichkeit frage ich mich seit Wochen, was der Bericht der Reaktor-Sicherheitskommission eigentlich soll.
Seine Erkenntnisse sind überschaubar und eigentlich
auch nicht neu.
Als Herr Wieland heute im Umweltausschuss war,
habe ich ihn gefragt, was er glaubt, wie lange eine Untersuchung, die belastbare Ergebnisse liefert, dauern würde.
Im Bericht sind Ergebnisse nämlich nur angedeutet worden. Dort steht immer wieder: Dazu konnten wir in der
Kürze der Zeit keine tiefer gehende Untersuchung vornehmen. - Herr Wieland hat mir geantwortet, dass er
glaubt, eine komplette Sicherheitsüberprüfung - diese
wäre sicherlich sinnvoll - würde anderthalb bis zwei
Jahre dauern. Teilen Sie diese Einschätzung? Was gedenkt die Bundesregierung zu tun? Soll eine komplette
Sicherheitsüberprüfung vorgenommen werden?
Zunächst muss ich sagen: Ich teile Ihre Einschätzung,
dass der Bericht der RSK keine neuen Erkenntnisse enthält, nicht. Ich glaube sehr wohl, dass dies der Fall ist.
Der Bericht ist die Basis für unsere weiteren politischen
Entscheidungen. Was zu tun ist, haben wir hinreichend
beschrieben, nicht nur heute im Ausschuss, sondern auch
in vielfältigen Diskussionen in der Öffentlichkeit und im
Parlament. Es wird zu einer Neubewertung der Nutzung
der Kernenergie kommen, und wir werden den Weg ins
Zeitalter der erneuerbaren Energien gehen. Es bleibt
festzuhalten, dass wir alles tun werden, um die Sicherheitsmaßnahmen für die Kernkraftwerke, die in
Deutschland am Netz sind, weiterhin auf höchstem Niveau zu halten. Dort, wo Nachrüstungen notwendig sind,
werden wir diese einfordern. Gleichwohl: Es bedarf zunächst der Analyse dieses Berichtes, um danach die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen.
Kollege Ott.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, Flugzeugabstürze sind ein sehr schwieriges Thema. Die RSK konnte
keine eigenen Untersuchungen durchführen, sondern hat
auf eine Untersuchung aus dem Jahre 2002 zurückgegriffen. Daran ist insbesondere problematisch, dass im
Hinblick auf die verschiedenen Kategorien von Verkehrsflugzeugen keine belastbaren Aussagen getroffen
werden konnten. Meine Frage ist: Inwiefern werden die
Lücken in den Untersuchungskategorien „mittleres Verkehrsflugzeug“ und „großes Verkehrsflugzeug“ thematisiert? Welche genauen Lastannahmen wurden eigentlich
zugrunde gelegt? Welche genauen terroristischen Szenarien wurden von der RSK in diesem Zusammenhang untersucht?
Herr Kollege, Sie wissen, dass die Reaktoren, die
über keinen oder nur über einen geringen baulichen
Schutz gegen Flugzeugabstürze verfügen, also die älteren Reaktoren, momentan ohnehin nicht am Netz sind.
Bei den restlichen Kraftwerken besteht ein baulicher
Schutz, der dem Schutz vor einem Kampfflugzeug der
Größe einer Phantom entspricht. Darüber hinaus beziehen sich die Sicherheitsmaßnahmen in der Tat auf ein
mittleres Verkehrsflugzeug.
Jetzt ist zu analysieren, ob und in welcher Weise wir
das Restrisiko neu bewerten. Zu diesem Zweck haben
wir den Bericht in Auftrag gegeben. Es geht um die
Frage: Sind wir bereit, den jetzigen Robustheitsgrad der
Kraftwerke zu akzeptieren, oder braucht es mehr? Nachdem wir diese Debatte geführt haben, werden wir die
entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Am 6. Juni
dieses Jahres werden wir im Kabinett ein umfangreiches
Gesetzespaket verabschieden. Dann werden wir auch
Antworten auf die Fragen des Restrisikos, der gesellschaftlichen Bewertung und der Akzeptanz des Restrisikos geben.
Frau Wolff.
Frau Staatssekretärin, Sie waren heute nicht in der
Sitzung des Umweltausschusses. Von daher möchte ich
Ihre Aussage etwas berichtigen. Herr Wieland, der Vorsitzende der Reaktor-Sicherheitskommission, hat nämlich etwas anderes gesagt: Das Sicherheitsrisiko entsteht
nicht unbedingt nur durch das Alter der Reaktoren, wie
bei denen, die jetzt abgeschaltet sind, und bei der Bewertung des Sicherheitsrisikos in Bezug auf Flugzeugabstürze gibt es nicht nur einfach die zwei Kategorien „alte
Reaktoren“ und „neue Reaktoren“. Das war eine der
neuen Erkenntnisse, die ich in dieser Ausschusssitzung
heute gewonnen habe.
Das hat uns alle etwas bestürzt gemacht. Von daher
muss die Bundesregierung hier neu bewerten. Deshalb
Waltraud Wolff ({0})
lautet meine Frage: Ist die Bundesregierung geneigt, gegebenenfalls auch neue Atomreaktoren abzuschalten?
Frau Kollegin, wenn diese Erkenntnis für Sie neu ist,
dann freut mich das für Sie. Für mich ist sie nicht neu.
Ich habe eben schon ausgeführt, dass die RSK bei den
einzelnen Kernkraftwerken gerade nicht die gleichen Sicherheitskriterien angesetzt hat, sondern dass die RSK in
ihrem Bericht ausdrücklich darauf hinweist, dass das jeweils kraftwerksspezifisch zu betrachten ist und dass es
auch nicht zulässig ist, aufgrund des Merkmals „alt“ und
der Bauart einen Rückschluss auf die Robustheit der Anlage insgesamt zu ziehen.
Deshalb habe ich vorhin bei der Beantwortung einer
Frage eines Kollegen schon gesagt, dass die differenzierte Betrachtung der Kernkraftwerke notwendig ist
und dass es im Einzelfall auch zu Nachrüstmaßnahmen,
Umrüstmaßnahmen und Ergänzungen kommen muss.
Diesen Prozess gibt es nicht erst seit März, sondern er ist
stetig. Wir haben ihn mit der letzten Atomgesetznovelle
und der Verschärfung des Sicherheitsparagrafen in Gang
gesetzt.
Die Frage 24 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl und die
Fragen 25 und 26 des Kollegen Hans-Josef Fell werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Dr. Hermann Ott
auf:
Welche konkreten Initiativen und Maßnahmen betreibt die
Bundesregierung, um auf der Weltklimakonferenz Ende des
Jahres in Durban zu einem erfolgreichen Abschluss zu kommen?
Ich möchte Ihre Frage gerne wie folgt beantworten:
Die Bundesregierung beteiligt sich intensiv sowohl an
den formellen Verhandlungen als auch an den informellen multilateralen wie auch bilateralen Dialogen zur Vorbereitung der Klimakonferenz in Durban.
Gemeinsam mit Südafrika bereitet die Bundesregierung gerade die Ministerkonferenz - Petersberger Klimadialog II - vor, auf der am 3. und 4. Juli 2011 in Berlin mögliche Ergebnisse von Durban erörtert werden
sollen. Mittels der Partnerschaft für Treibhausgasminderungsstrategien, Emissionsberichterstattung und Transparenz bei der Umsetzung von Maßnahmen, die Deutschland gemeinsam mit Südafrika und Südkorea initiiert
hat, bietet die Bundesregierung eine Plattform für einen
aktiven Austausch zwischen den Staaten über die Fragen, wie Minderungsmaßnahmen praktisch umgesetzt
werden können und wie darüber systematisch und auch
transparent berichtet werden kann. Die praktischen Erfahrungen sollen dann wiederum in die Entscheidungen
in Durban einfließen.
Die Bundesregierung konzentriert ihre Mittel, die sie
im Rahmen der Fast-Start-Zusage von Kopenhagen zur
Verfügung stellt, entsprechend der Entscheidungen von
Kopenhagen und Cancún wesentlich auf die Umsetzung
praktischer Maßnahmen zum Klima- und Waldschutz
sowie zur Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungsländern. Durch die dokumentierte Umsetzung der
Entscheidungen wird Vertrauen für weitere Fortschritte
bei den Verhandlungen geschaffen.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, etwas konkreter vielleicht! Es
ist doch klar geworden, dass sich die USA mit allen Mitteln gegen eine verbindliche Festlegung von Reduktionszielen sperren. Macht es da nicht Sinn, zum Beispiel die
Cartagena-Group zu nutzen, welche eine sehr gute Initiative ist und in der Deutschland eine sehr wichtige
Rolle spielt, um für Durban einen Drive - Entschuldigung, Herr Präsident -, eine Bewegung, zu bekommen,
die dazu führen kann, dass in Durban tatsächlich etwas
mehr geschieht als lediglich das Abarbeiten von kleinen
Aktenstapeln? Denn das ist im Moment die Gefahr. Der
große Wurf, den Durban bringen muss, ist ein Beschluss
der Konferenz der Vertragsparteien für die Zeit nach
Kioto im Sinne einer Verlängerung der Verpflichtungen
aus dem Klimaschutzprotokoll von Kioto.
Selbstverständlich ist das große Ziel der Bundesregierung und auch der Europäischen Union ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen. Das ist ganz klar. Wir
wollen damit an der Einhaltung der 2-Grad-Obergrenze
festhalten. Wir halten daran fest, dass alle Länder in einen solchen Vertrag eingebunden werden müssen, dass
alle Länder ihre Minderungsverpflichtungen erbringen
müssen, dass Industrieländer andere Verpflichtungen haben als Entwicklungsländer, dass alle ihre Aktivitäten
transparent machen müssen, in Klimaschutz investieren
müssen und in ein internationales Klimaschutzregime
eingebunden werden. Industrieländer müssen auch ihre
finanziellen Zusagen einhalten.
Sie wissen aber auch, dass wir in den Verhandlungen
zweigleisig fahren. Für einen Erfolg müssen wir Fortschritte hinsichtlich des Kioto-Protokolls, aber auch bei
der Klimarahmenkonvention erzielen. Sie wissen, dass
wir in den Cartagena-Prozess eingebunden sind. Wir
sind auch bei MEF, also Major Economies Forum on
Energy and Climate - hierfür gibt es in Deutschland
wirklich keine andere Bezeichnung -, aktiv. Das Gleiche
gilt für REDD Plus. Hier kann ich Ihnen berichten, dass
wir momentan im Rahmen der Internationalen Klimaschutzinitiative den Vorsitz in der REDD-Plus-Partnerschaft haben. Wir sind also auf vielen Ebenen aktiv.
Ihre Sorge bezüglich der Vereinigten Staaten teile ich
ausdrücklich. Ich sehe hier - wenn überhaupt - miniParl. Staatssekretärin Katherina Reiche
malste nennenswerte Fortschritte. Ich bin skeptisch, ob
und inwieweit sich die Vereinigten Staaten bewegen
werden. Wir wissen aber, dass das Bewegen der Vereinigten Staaten zu verbindlichen Minderungszielen Voraussetzung dafür ist, dass Schwellen- und Entwicklungsländer verbindlich substanzielle Beiträge leisten.
Aber deshalb sind wir auf allen verfügbaren Ebenen aktiv, führen Dialoge, organisieren Workshops. Die
nächste Vorbereitungskonferenz für Durban findet in
wenigen Tagen in Bonn statt. Wir werden uns mit allen
Partnern eng abstimmen.
Ich bin nicht so sehr davon überzeugt, Frau Staatssekretärin, dass ein Mitmachen der USA unbedingte Voraussetzung für eine Teilnahme großer Schwellenländer
ist. Meiner Ansicht nach würde es ausreichen, wenn sich
die Europäische Union ernsthaft bemühen würde und
tatsächlich vorlegt. Konkrete Nachfrage: Setzt sich die
Bundesregierung für eine Verlängerung der bestehenden
Fristen zur Umsetzung der Verpflichtungen im KiotoProtokoll über Ende 2012 hinaus ein, nicht durch Vertragsverlängerung, sondern durch Beschluss der Vertragsparteien?
Bezüglich dessen, ob es sich um ein oder zwei Abkommen handelt, sind wir flexibel. Wir wissen, dass wir
sowohl unter der Klimarahmenkonvention als auch unter
dem Kioto-Protokoll weiter verhandeln müssen. Natürlich wäre es optimal, wenn wir ein umfassendes Abkommen, das auf Kioto aufbaut, das über die nächsten Jahre
und Jahrzehnte feste Vereinbarungen mit allen Staaten
erwarten lässt, erreichen könnten. Gleichwohl teile ich
Ihre Skepsis, ob wir schon so weit kommen. Deswegen
ist unser Schluss von Kopenhagen, mit möglichst konkreten Einzelschritten und Maßnahmen nachzuweisen,
dass sich der Prozess als solcher nach vorne bewegt,
Beispiel zu geben, auch Vertrauen aufseiten der Schwellen- und Entwicklungsländer zu schaffen. Die Instrumente habe ich Ihnen aufgezeigt. Unser Ziel ist, analog
zu Kioto das verbindliche Abkommen zu schaffen.
Gleichwohl stellen wir uns darauf ein, möglichst flexibel
in beide Richtungen zu verhandeln.
Kollege Schwabe.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, dass gestern
der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments,
ENVI, ein unkonditioniertes 30-Prozent-Ziel für die Europäische Union - 25 Prozent CO2-Reduktion innerhalb
der Europäischen Union und 5 Prozent aus den flexiblen
Mechanismen im Sinne des Kioto-Protokolls - gefordert
hat? Ist Ihnen dieser Beschluss bekannt? Wie bewerten
Sie diesen Beschluss, und wann wird sich der Bundesumweltminister in der Bundesregierung mit seiner
Position, die auch in Richtung 30 Prozent geht, durchsetzen wollen?
Wir freuen uns über jede Unterstützung, die uns dem
30-Prozent-Ziel der EU näher bringt. Wie Sie wissen, arbeiten wir auch hier in vielfältigen Veranstaltungen inner- und außerhalb der Bundesregierung werbend bei
unseren europäischen Partnern daran, Mehrheiten für einen solchen Beschluss zu bekommen. Gleichwohl gibt
es diese Mehrheiten bisher nicht. Ich teile die Überzeugung, dass ein möglichst ambitioniertes Vorgehen der
Europäischen Union gut ist. An diesem Ziel arbeiten wir
weiter.
Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen.
Die an das Bundesministerium für Bildung und Forschung gerichteten Fragen werden ausnahmslos schriftlich beantwortet. Das sind die Fragen 28 und 29 des Kollegen Michael Gerdes, die Frage 30 des Kollegen Swen
Schulz, die Fragen 31 und 32 des Kollegen Dr. Ernst
Dieter Rossmann, die Fragen 33 und 34 der Kollegin
Marianne Schieder und die Frage 35 des Kollegen Klaus
Hagemann.
Auch die Frage 36 des Kollegen Klaus Hagemann
und die Fragen 37 und 38 der Kollegin Ingrid Nestle aus
dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hoyer zur Verfügung.
Die Frage 39 des Kollegen Günter Gloser wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 40 der Kollegin Höger auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen unter anderem in Taloqan und anderen Orten im deutschen Einsatzgebiet in Afghanistan unter Beteiligung der afghanischen
Polizei hinsichtlich der Fortsetzung der Kooperation und der
Ausbildung afghanischer Polizeikräfte von deutscher Seite,
und worin besteht nach Ansicht der Bundesregierung der Unterschied zwischen der Niederschlagung von Protesten unter
Einsatz von Schusswaffen unter Beteiligung der afghanischen
Polizei und der Unterdrückung und Bekämpfung von Protesten durch libysche Polizei und libysches Militär?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin Höger,
die Schlussfolgerungen, nach denen Sie fragen, waren
bereits ausführlich Gegenstand der Berichterstattung
durch Staatssekretär Kossendey.
Sie fragen des Weiteren, welche Unterschiede die Bundesregierung zwischen der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstration in Taloqan und den Vorgängen in
Libyen sieht, als die Weltgemeinschaft in großer Empörung über die Niederschlagung der Demonstrationen
durch das Gaddafi-Regime sehr deutlich ihre Meinung
bekundet hat. Wir haben es, wie wir vorhin gehört haben,
im Fall Taloqan mit einer Demonstration zu tun gehabt,
bei der Handgranaten, Molotowcocktails, brennende
Kraftstoffkanister und Steine gegen das PAT und die dort
eingesetzten Soldaten und afghanischen Mitarbeiter geworfen wurden, wobei drei deutsche Soldaten und fünf
afghanische Wachmänner verletzt wurden. Es war eindeutig eine gewalttätige Demonstration. Das ist der große
Unterschied zu dem, was wir auf den Straßen Libyens beobachten konnten, wo nicht die Demonstranten gewalttätig waren, sondern diejenigen, die mit brutalster Anwendung von Gewalt gegen die friedlichen Demonstranten
vorgegangen sind.
Der zweite Punkt betrifft die Schlussfolgerungen, die
die Bundesregierung aus ihren Bemühungen im Bereich
der Polizeiausbildung zieht. Dieser Vorgang zeigt - es
waren etliche Hundert afghanische Polizeikräfte im Einsatz, wie vorhin bereits berichtet worden ist - umso
deutlicher, wie wichtig die solide und rechtsstaatlich
saubere Ausbildung von Polizeivollzugsbeamten in Afghanistan ist.
Nachfrage, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. Ich habe eine Nachfrage. Man muss immer Ursache und Wirkung bewerten.
Wir hören in letzter Zeit immer häufiger von Demonstrationen gegenüber den NATO-Einsatzkräften in Afghanistan, die ihre Ursache darin haben, dass immer häufiger die Zivilbevölkerung betroffen ist, dass Menschen
tödlich getroffen werden und es immer mehr zivile Opfer gibt. Das betrifft nicht nur den Vorfall in Kunduz, den
wir immer noch untersuchen.
Ich denke, dass man genau prüfen muss, warum diese
Demonstrationen stattfinden, und zur Deeskalation beitragen sollte, auch seitens der Bundeswehr. Ich frage Sie
erstens: Was haben Sie für Pläne, um zur Deeskalation
beizutragen? Zweitens frage ich Sie - das ist in diesem
Zusammenhang, glaube ich, noch wichtiger -: Wie schätzen Sie aufgrund zunehmender Demonstrationen die Sicherheitslage ein? Wollen Sie immer auf Demonstranten
schießen?
Die Absicht hat seitens der Bundesregierung niemand. Die Vorgänge in Taloqan waren so beschaffen,
dass man mit einer Deeskalationsstrategie wenig bewirken konnte. Wenn man mit Molotowcocktails und Handgranaten angegriffen wird, gilt es, sich zu wehren.
Das haben die beteiligten Sicherheitskräfte nach allem, was wir wissen, auch getan. Geben Sie denjenigen,
die jetzt die entsprechenden Untersuchungen durchführen, noch eine Chance! Es gibt sowohl eine Untersuchung im Rahmen der Bundeswehr als auch eine im
Rahmen von ISAF. Auch Präsident Karzai hat eine Untersuchung angeordnet. Ich finde es fair, die Ergebnisse
dieser Untersuchungen abzuwarten.
Ihre zweite Zusatzfrage, Frau Höger.
Welche politischen und militärischen Konsequenzen
ziehen Sie daraus, dass es immer mehr zivile Opfer in
Afghanistan gibt?
Wir sind gut beraten, dafür zu sorgen, dass Afghanistan durch selbsttragende Sicherheitsstrukturen sicherer
und hoffentlich zunehmend befriedet wird. Deswegen
engagieren sich unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in Afghanistan ebenso wie unsere Soldatinnen
und Soldaten sowie unsere Entwicklungshelfer dort so
sehr. Ich hoffe, dass diese Bemühungen Erfolg haben
werden.
Vielen Dank. - Kollege Hans-Christian Ströbele stellt
die nächste Nachfrage.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatsminister Hoyer,
von welchem Sachverhalt gehen Sie eigentlich aus,
wenn Sie diese Demonstration beurteilen? Das, was vorher passiert ist, mag schwierig aufzuklären sein. Aber
diese Demonstration hat - wie es für Demonstrationen
üblich ist - öffentlich stattgefunden. Das heißt, es gibt
darüber zahlreiche Presse- und Fernsehberichte; diese
habe ich gesehen. Danach zog eine große Menschenmenge - 3 000 bis 5 000 Leute - durch die Straßen. Einige Menschen trugen offenbar Särge über ihren Köpfen,
einige hielten Fahnenstangen oder Knüppel offenbar als
Waffen in den Händen. Es gibt Berichte, wonach etwa
100 dieser Demonstranten zu dem deutschen Camp gegangen sind und dort Feuer gelegt haben. Können Sie sagen, von welchem Sachverhalt Sie ausgehen? Gehen Sie
davon aus, dass 3 000 oder sogar 5 000 Demonstranten
den Deutschen gegenüberstanden und Handgranaten und
Molotowcocktails geworfen haben, oder gehen Sie davon aus, dass vielleicht nur eine Handgranate auf das
deutsche Camp geworfen wurde? Was ich bislang gehört
habe, ist mir zu allgemein. Sie müssen doch inzwischen
dazu Informationen von vor Ort haben.
Nein, die haben wir nicht in der Präzision, wie Sie sie
zu Recht verlangen. Deswegen gibt es die genannten
drei Untersuchungen. Diese werden präzise Ergebnisse
zeitigen. Natürlich hat niemand behauptet, dass mehrere
Tausend Personen, die gekommen sind, um in friedlicher
Absicht zu demonstrieren, auf das PAT zugegangen sind.
Aber diejenigen, die auf das PAT zugerannt sind - ob es
100 oder 200 gewesen sind, vermag ich nicht zu beurteiStaatsminister Dr. Werner Hoyer
len - und mit entsprechenden Mitteln, mit Molotowcocktails und Handgranaten, Wirkung erzielt haben, waren eindeutig in nicht friedlicher Absicht dort unterwegs
und haben erhebliche Schäden angerichtet. Zudem sind
Verwundete zu beklagen. Ich finde es im Hinblick auf
die Fürsorgepflicht, die wir gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten sowie unseren Polizeibeamten haben,
selbstverständlich, die Möglichkeit der Notwehr ins
Auge zu fassen. Solange ich nicht erfahre, dass ein anderer Zusammenhang angenommen werden muss, gehe ich
selbstverständlich von einer Notwehrsituation aus. Ansonsten freue ich mich auf die drei Berichte. Ich bin sicher, dass die Untersuchungen kein rechtswidriges Verhalten deutscher Staatsbürger ergeben werden.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Wir haben jetzt
noch die Nachfrage unserer Kollegin Buchholz. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Meine Nachfrage lautet: Was unternimmt die Bundesregierung, damit die Bundeswehr, aber auch die NATO
zukünftig Zivilisten nicht mehr als Kombattanten einstuft? Wir erleben in der Geschichte der Eskalation dieses Krieges immer wieder, dass Zivilisten als Kombattanten eingestuft bzw. mit diesen verwechselt werden.
Was machen Sie, um das zu stoppen?
Das ist ein gesondertes Thema; darüber kann man
sehr grundsätzlich diskutieren. Es handelt sich auch um
eine interessante Rechtsfrage. Wenn die uns vorliegenden Berichte zutreffen - ich habe keine Veranlassung,
von etwas anderem auszugehen -, handelt es sich hier
um eine klassische Notwehrsituation. Die Frage „Kombattant oder nicht?“ stellt sich also nicht.
Vielen Dank.
Wir kommen zur Frage 41 unserer Kollegin Heike
Hänsel:
Wird die Bundesregierung die Tötung von mindestens
12 afghanischen Demonstranten und die Verletzung von über
80 Demonstranten, die vor dem Bundeswehrcamp in Taloqan
am 18. Mai 2011 gegen den NATO-Einsatz protestiert haben,
untersuchen?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Diese Frage bezieht sich auf denselben Vorgang. Ich
beantworte sie, wie eben ausführlich dargelegt, mit Ja.
Frau Kollegin Heike Hänsel, Sie haben eine Nachfrage. - Bitte schön.
Danke schön. - Herr Staatsminister, Sie haben zuvor
gesagt, wir sollten die Ergebnisse der Untersuchungen
erst einmal abwarten. Wie erklären Sie sich dann aber,
dass wir vom Verteidigungsministerium ständig hören,
die Bundeswehr sei an der Tötung nicht beteiligt gewesen? Zu Beginn wurde gemeldet, es sei nur auf die Füße
geschossen worden. Drei Tage später wurde dann gesagt: Na ja, es wurde schon in Rumpfhöhe geschossen.
Gleichzeitig aber hat der Herr Staatssekretär Kossendey
gesagt, die Bundeswehr sei an der Tötung nicht beteiligt
gewesen. Wieso warten wir nicht erst die Untersuchungen ab? Das sagen Sie schließlich auch. Wie kommt
Herr Kossendey jetzt schon zu dieser Feststellung?
An dieser Stelle bin ich schlicht und ergreifend überfordert. Ich interessiere mich für die politischen Konsequenzen, für die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, und Ähnliches. Die Aufklärung des Sachverhaltes
selber hat Herr Kollege Kossendey nach bestem Wissen
und Gewissen hier vorzutragen versucht. Ich denke, es
ist ein wenig widersprüchlich, wenn Sie möglichst viele
präzise Antworten auf Detailfragen haben wollen, uns
gleichzeitig aber auffordern, auf das Ergebnis der Untersuchungen zu warten. Tun wir das doch einfach: Warten
wir.
Sie haben eine weitere Nachfrage, Frau Kollegin
Hänsel?
Ja. - Meine Nachfrage bezieht sich auf die politische
Bewertung. Bisher war es gängige Praxis, dass die
ISAF-Truppen nachts gezielt sogenannte Aufständische
angegriffen haben und es dadurch oft zur Tötung von Zivilisten gekommen ist. In der Vergangenheit hat es sehr
viele solcher Fälle gegeben. Meine Frage: Welche politischen Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Das habe ich vorhin bereits dargestellt. Wir müssen
diesen Einsatz weiterhin gut erledigen. Er ist ein sehr
schwieriger Einsatz, der das Ziel hat, innerhalb eines
überschaubaren Zeitraums die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, selber für Sicherheit und
Stabilität im eigenen Land zu sorgen. Das ist eine große
Herausforderung. Dieser Herausforderung stellen wir
uns.
Ich möchte auf Folgendes ausdrücklich hinweisen:
Bei dem Vorgang am Tag vor der Demonstration und
den gewaltsamen Aktivitäten gegen das PAT in Taloqan
hat es sich um eine Aktion von Spezialkräften gehandelt.
Das waren weder ISAF-Kräfte noch deutsche Kräfte.
Deswegen kann ich dazu keine näheren Auskünfte geben. Ich kann nur sagen, dass diese Spezialkräfte ganz
offensichtlich einen erheblichen Aufklärungserfolg erzielt und dadurch möglicherweise vielen Menschen das
Leben gerettet haben. Denn das Material, das gefunden
worden ist, weist auf ziemlich finstere Absichten hin.
Vielen herzlichen Dank.
Wir kommen zur Frage 42, ebenfalls von unserer Kollegin Heike Hänsel:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass die afghanische Bevölkerung die Präsenz der Bundeswehr und anderer ISAF-Truppen immer kritischer sieht
und es zu zahlreichen Demonstrationen gegen die NATO und
deren militärisches Vorgehen kommt?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Wir leiten aus dem gewaltsamen Zwischenfall in Taloqan am 18. Mai 2011 keine Notwendigkeit einer
grundsätzlichen Veränderung unserer Lagebeurteilung
ab. Dieser Vorfall - übrigens genauso wie der Vorfall in
Masar-i-Scharif - bietet keine ausreichende Grundlage,
um davon zu sprechen, dass die afghanische Bevölkerung unsere Präsenz immer kritischer sieht. Erstens handelt es sich in Taloqan um eine relativ kleine Gruppe von
nur ein paar Hundert Demonstranten in einer Stadt mit
200 000 Einwohnern. Zweitens liegen Erkenntnisse vor,
dass diese Gewaltausbrüche von regierungsfeindlichen
Kräften und lokalen Machthabern langfristig geplant waren. Das war keine spontane Aktion, die aus der vorangegangenen Erfahrung vom Vortag erwachsen ist. Es
war eine geplante Aktion, die nach den Erkenntnissen,
die ich mit aller Vorsicht hier schon einmal vortrage, offensichtlich eher etwas mit einer Unzufriedenheit von
Teilen der afghanischen Gesellschaft zu tun hat, die auf
den geringen Möglichkeiten zur Partizipation an politischen und ökonomischen Prozessen beruht. Von daher
war das gar nicht gegen ISAF gerichtet.
Frau Kollegin, haben Sie eine weitere Nachfrage?
Zuerst einmal möchte ich sagen, dass die Zahlen weit
auseinanderliegen. Es wird im Zusammenhang mit der
Demonstration im Anschluss an die Trauerfeier für die
getöteten Zivilisten zu dem Bundeswehrcamp in Taloqan
von mehreren Tausend Demonstranten gesprochen. Man
kann nicht davon sprechen, das sei von langer Hand geplant gewesen; vielmehr ist diese Demonstration aus der
Wut und Betroffenheit der Menschen entstanden. Ich
frage mich: Wie sollen die Menschen eigentlich ihren
Protest darüber zum Ausdruck bringen, dass immer
mehr Zivilisten durch Luft- oder Spezialoperationen getötet werden? Mir liegt eine Zahl des Afghanistan Rights
Monitor, einer unabhängigen NGO in Afghanistan, vor,
die 512 durch die Spezialoperationen getötete Zivilisten
im letzten Jahr gezählt hat. Wie sollen sich die Menschen überhaupt noch anders wehren als dadurch, dass
sie auf die Straße gehen und demonstrieren? Das erleben
wir sowohl im Süden Afghanistans als auch in vielen anderen Provinzen. Es gibt Demonstrationen konkret
gegen die ISAF. Es gab auch Demonstrationen gegen
UNAMA. Auch bei diesen Demonstrationen gab es
Übergriffe. Diese häufen sich. Welche politischen Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Frau Kollegin, es wird Sie wundern, aber ich stimme
Ihnen zunächst einmal voll zu: Das Demonstrationsrecht
wird von niemandem in Zweifel gezogen, übrigens auch
nicht von der afghanischen Verfassung. Es ist durchaus
erfreulich, wenn sich Tausende auf den Weg begeben,
um friedlich für ihre abweichende Meinung zu demonstrieren. Hier geht es nicht um die einigen Tausend, die
aufgrund ihrer Empörung, mangelnder Partizipation
oder weswegen auch immer demonstriert haben, sondern
um die einigen Hundert, die dabei zur Gewalt gegriffen
haben. Diese Gewaltbereiten waren organisiert. Das war
keine spontane Aktion. Deswegen muss man auch bereit
sein, sich gegen solche Gewaltaktionen zu wehren. Das
sind wir unseren eigenen Soldatinnen und Soldaten und
Polizeibeamten schuldig.
({0})
Vielen Dank. - Es gibt eine Nachfrage unseres Kollegen Hans-Christian Ströbele.
Herr Staatsminister Hoyer, jetzt wundere ich mich
aber doch ein bisschen. Vorhin haben Sie mit einer gewissen Berechtigung darauf hingewiesen, das sei alles
noch nicht geklärt und man solle noch nicht Stellung
nehmen, sondern die Berichte abwarten und dann zu einem Urteil kommen. Jetzt sagen Sie, als ob es eine feststehende Tatsache sei - ich weiß nicht, woher Sie das
wissen -, dass das alles organisiert gewesen sein soll,
von langer Hand vorbereitet. Ist das das Ergebnis einer
Ermittlung und, wenn ja, von welcher? Hat das ISAF herausbekommen, hat das die afghanische Regierung unter
Karzai herausbekommen, oder hat das der Polizeipräsident herausbekommen? Genauso beurteilen Sie den Vorfall von der Nacht vorher. Sie sprechen davon, dass umfangreiches Material sichergestellt worden sei, woraus
sich ergebe, dass die Aktion ein großer Erfolg gewesen
sei. Ich zitiere dazu aus der Süddeutschen Zeitung - ich
weiß nicht, ob Sie den Artikel kennen -, wonach der
Polizeichef von Taloqan den Agenturen Reuters und dpa
- also nicht irgendjemandem - gesagt hat, er verurteile
den brutalen Angriff, bei dem ausschließlich Zivilisten
ums Leben gekommen seien. Nehmen Sie das nicht zur
Kenntnis, oder haben Sie bessere Erkenntnisse? Dann
sagen Sie es uns.
Die Süddeutsche Zeitung ist ganz sicherlich eines
meiner Leib- und Magenblätter.
({0})
Selbstverständlich nehme ich das gerne zur Kenntnis.
Den konkreten Artikel habe ich noch nicht gelesen, aber
ich werde mich gern darum kümmern.
({1})
Allerdings habe ich mich darum bemüht, Informationen von denjenigen in der Bundesregierung, von denen
ich verlässliche Informationen erwarte, zu erhalten.
Nach dem Bericht, der den Obleuten im Verteidigungsausschuss vom Bundesminister der Verteidigung gegeben worden ist, sind einige Dinge evident. So gehören
Molotowcocktails und Handgranaten auch nicht - um
das zu erkennen, braucht man wenig Fantasie - zu einer
normalen Demonstrationsausrüstung von Menschen, die
friedlich ihre Meinung kundtun. Es ist nicht normal, dass
sie damit durch die Gegend rennen und diese auch noch
benutzen. Mehr habe ich nicht gesagt.
Frau Kollegin Heike Hänsel, Sie haben noch eine
weitere Nachfrage. Die möchte ich nicht unterschlagen.
Bitte schön.
Danke schön. - Bei meiner zweiten Nachfrage kann
ich mich jetzt auch auf die von Ihnen gerade gegebene
Antwort beziehen. Wir müssen also feststellen, dass Sie
einerseits sehr genau wissen, dass alles von langer Hand
geplant war und ein Großteil der Demonstranten gewalttätig war. Andererseits muss man aber alle Untersuchungen, was die Bundeswehr usw. angeht, abwarten. Das
halte ich für eine sehr einseitige und auch für eine sehr
vorschnelle Bewertung der gesamten Ereignisse.
Wir haben auch Kontakte zu afghanischen Nichtregierungsorganisationen in Taloqan. Die sprechen von
20 Toten, also von viel mehr, als hier offiziell bestätigt
sind, und sagen, dass auch die vier Getöteten Zivilisten
und keine sogenannten Aufständischen waren.
In diesem Zusammenhang habe ich eine politische
Frage. Die Bundeswehr bzw. ISAF sagt, dass man dort
gegen die usbekische Unabhängigkeitsbewegung im
Norden Afghanistans kämpft, die sozusagen mit dem berüchtigten General Raschid Dostum verbunden ist. Wie
bewerten Sie eigentlich die Tatsache, dass es die KarzaiRegierung 2009 dem wirklich blutrünstigen Kriegsverbrecher Raschid Dostum ermöglicht hat, wieder in Kabul einzuziehen, nach Afghanistan zurückzukommen,
und zwar in der Hoffnung, dass Karzai dadurch die Stimmen der Usbeken im Norden Afghanistans bekommt,
und dass die demokratische Beteiligung der Bevölkerung - das haben Sie erwähnt - durch die Stärkung solcher Warlords systematisch verhindert wird?
Das ist ein ganz interessanter Punkt, der die Frage der
Partizipationsmöglichkeiten der verschiedenen Volksgruppen in Afghanistan berührt. Je nachdem, wie man
das bewertet, kommt man zu einer Bewertung von einzelnen Personen, die jetzt wieder eine Rolle spielen,
nachdem sie vorübergehend eine deutlich geringere
Rolle gespielt haben. Darüber muss man sich informieren, und dann muss man die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Aber ich sehe hier keinen Zusammenhang mit diesem
Vorgang, bei dem - das ist der für mich relevante Punkt sozusagen ein Vorabmisstrauen gegenüber unseren eigenen Sicherheitskräften zum Ausdruck gebracht wird.
Das haben sie nicht verdient.
({0})
Da sollte sich der Deutsche Bundestag vor die Soldatinnen und Soldaten und die Polizeibeamten stellen - bis zu
dem Zeitpunkt, wo sich herausstellt, dass sie einen Fehler gemacht oder sich rechtswidrig verhalten haben.
Nach allem, was wir wissen, ist das hier nicht der Fall,
und deswegen möchte ich diesen Soupçon gern ausgeräumt wissen.
Es gibt jetzt noch eine Nachfrage unserer Kollegin
Inge Höger. Bitte schön, Frau Kollegin Höger.
Vielen Dank. - Herr Staatsminister Hoyer, Sie haben
vorhin auf die Frage meiner Kollegin Hänsel unter anderem gesagt, dass Sie das Ziel haben, den Norden Afghanistans und Afghanistan insgesamt den afghanischen
Kräften zu übergeben, wozu auch der Polizeiaufbau und
Militäraufbau dienen. Wie ist denn dann die Tatsache zu
beurteilen, dass sich der ehemals relativ ruhige und
friedliche Norden Afghanistans inzwischen zu einem
Gebiet entwickelt hat, in dem immer mehr militärische
Zwischenfälle geschehen, in dem es immer mehr Tote
gibt und in dem die Situation eigentlich eher eskaliert?
Ich glaube, es liegt daran, dass der Norden schwieriger, wichtiger und auch strategisch interessanter wird
und sich die Aufständischen deswegen besonders auf
diesen Bereich konzentrieren. Von daher kann es nicht
verwundern, dass diejenigen, die mit einer friedlichen
Entwicklung Afghanistans nichts im Sinn haben, versuchen, dort ihr Störpotenzial besonders gezielt einzusetzen. Das verwundert mich nicht, macht unsere Aufgabe
allerdings schwieriger.
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Die Fragen 43 und 44 des Kollegen Niema Movassat
werden ebenso wie die Frage 45 der Kollegin Katja Keul
schriftlich beantwortet.
Somit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Hier steht zur Beantwor12566
Vizepräsident Eduard Oswald
tung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole
Schröder zur Verfügung.
Die Frage 46 der Kollegin Katja Keul sowie die Fragen 47 und 48 des Kollegen Hans-Joachim Hacker werden schriftlich beantwortet.
Jetzt rufe ich die Frage 49 des Abgeordneten HansChristian Ströbele auf:
Inwieweit bestätigt die Bundesregierung die Schilderung
des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom 16. Mai 2011,
Seite 36 f., dass deutsche Sicherheitsbehörden im Sommer
2010 US-amerikanischen Stellen die Ausreise des deutschen
Staatsangehörigen Bünyamin E. nach Pakistan mitteilten, dessen angebliche Prahlerei mit einem Anschlagsplan, dessen
deutsche Handynummer, die Handynummer einer türkischen
Kontaktperson sowie später die Adresse eines von E. besuchten Cafés im pakistanischen Ort Mir Ali, bevor am 4. Oktober
2010 eine von einer US-Drohne abgefeuerte Rakete E. in einem Gehöft nahe Mir Ali tötete, und besteht danach nicht
auch nach Auffassung der Bundesregierung der dringende
Verdacht, dass diese Informationen den tödlichen Drohnenangriff erst ermöglicht haben und die deutschen Sicherheitsbehörden deshalb eine Mitschuld an der Tötung des deutschen
Staatsbürgers trifft, der - ungeachtet außenpolitischer Rücksichtnahmen auf die USA - in einem Strafverfahren in
Deutschland weiter nachgegangen werden muss?
Die Bundesregierung hat sich in dieser Angelegenheit
bereits wiederholt zur Informationsübermittlung deutscher Sicherheitsbehörden gegenüber US-amerikanischen Behörden geäußert. Ich erlaube mir, insoweit insbesondere auf die Antworten der Bundesregierung auf
die schriftlichen Fragen des Abgeordneten Wolfgang
Nešković vom 2. Dezember 2010 und vom 13. Dezember 2010 einschließlich der bei der Geheimschutzstelle
des Deutschen Bundestages zur Einsichtnahme hinterlegten, als Verschlusssache Geheim eingestuften Informationen zu verweisen.
Zudem hat die Bundesregierung dem Fragesteller auf
seine Frage 9 der Bundestagsdrucksache 17/4493 in ihrer Antwort bereits mitgeteilt, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof wegen des angeblichen
Angriffs am 4. Oktober 2010 im pakistanischen NordBasiristan einen Prüfvorgang angelegt hat. Gegenstand
der noch andauernden Prüfung ist die Frage, ob Anlass
besteht, ein Ermittlungsverfahren wegen eines in die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts fallenden Straftatbestandes einzuleiten.
Kollege Ströbele, Ihre erste Zusatzfrage. - Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben meine Frage leider
nicht beantwortet. Ich habe ja unter Bezugnahme auf einen Artikel des Spiegels vom 16. Mai 2011 ganz konkret
gefragt, ob die Angaben, die im Spiegel stehen - davon
war in den Antworten, auf die Sie hingewiesen haben,
keine Rede -, zutreffend sind, nämlich erstens, dass mitgeteilt worden ist, dass Herr Bünyamin E. aus Deutschland ausgereist ist, zweitens, dass er sich angeblich mit
einem Anschlagsplan gebrüstet hat, drittens, dass seine
Handynummer mitgeteilt worden ist, und viertens, dass
die Handynummer einer türkischen Kontaktperson sowie eine Adresse in dem Ort Mir Ali, in dem er getötet
worden ist, mitgeteilt worden sind. Treffen diese Informationen zu? Wurden diese Informationen von der Bundesregierung unmittelbar unterstellten Behörden an die
Amerikaner weitergegeben? Geben Sie mir recht, dass
mit diesen Informationen, insbesondere mithilfe der
Handynummern, das Ziel der US-Drohnen lokalisiert
werden kann?
Ich gebe Ihnen nicht recht. Deutsche Sicherheitsbehörden haben keine Informationen übermittelt, die Ursache für den Tod von deutschen Staatsbürgern geworden
sind. Im Übrigen mache ich noch einmal darauf aufmerksam, dass es dazu ein laufendes Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gibt und ich zu den ganz
konkreten Sachverhalten deshalb keine Auskunft geben
kann.
Ihre zweite Zusatzfrage. - Bitte schön, Kollege
Ströbele.
Herr Staatssekretär, Sie unterstellen dem Spiegel also,
dass er die Unwahrheit schreibt?
({0})
Das will ich jetzt aber nicht weiterverfolgen.
Die nächste entscheidende, wichtige Frage ist: Ist es
nach Auffassung der Bundesregierung richtig, dass man
mit Rücksicht auf US-amerikanische Interessen und unter Berufung auf die entsprechende Bestimmung der
Strafprozessordnung hier von einem Verfahren Abstand
nehmen kann, wenn ein deutscher Staatsangehöriger in
Pakistan durch eine US-Drohne getötet worden ist?
Ich habe nicht verstanden, worauf Sie mit Ihrer Frage
hinauswollen. Wann Daten übermittelt werden, bestimmen unsere Gesetze. Dabei ist eines klar: Es werden nie
solche Daten übermittelt, die unmittelbar zum Tod von
deutschen Staatsbürgern führen.
Vielen Dank. - Die Frage 50 der Kollegin Sevim
Dağdelen wird schriftlich beantwortet.
Somit kommen wir zur Frage 51 des Kollegen Andrej
Hunko:
Wie steht die Bundesregierung dazu, dass die EU nur wenige Zehntausend Migrantinnen und Migranten, Tunesien allerdings bereits über 300 000 Migrantinnen und Migranten
Vizepräsident Eduard Oswald
seit der Libyen-Krise aufgenommen hat und trotzdem eine angebliche Migrationskrise und ein „biblischer Exodus“ ({0}) der EU heraufbeschworen wird, und
sieht es die Bundesregierung aufgrund ihrer erklärten Selbstverpflichtung zur Unterstützung einer demokratischen Entwicklung Tunesiens und in Anbetracht der vielen, vermeidbaren Todesfälle als erforderlich oder wenigstens hilfreich an,
dass Deutschland sich wie auch andere EU-Mitgliedstaaten
bereit erklärt, mehr Migrantinnen/Migranten aufzunehmen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Aus Sicht der Bundesregierung kommt es bei der gegenwärtigen Situation in Nordafrika insbesondere darauf
an, humanitäre Hilfe zu leisten. Sie hat deshalb bisher
7 Millionen Euro an humanitärer Soforthilfe zur Verfügung gestellt - vor allem für medizinische Versorgung in
Libyen sowie Flüchtlingsversorgung und Rückkehrunterstützung in Tunesien.
Außerdem ist Deutschland mit einem bedeutenden
Anteil an den 30 Millionen Euro, die von der EU als
Nothilfe für die nordafrikanische Region zur Verfügung
gestellt worden sind, beteiligt.
Ferner hat Deutschland einen Beitrag zur Luftbrücke
des UNHCR, jetzt mit Schwerpunkt „Rückführung asiatischer Migranten“, geleistet.
Insofern spricht sich Deutschland für den Grundsatz
der Schutzgewährung in der Region aus. Die EU wird im
Rahmen bestehender und künftiger regionaler Schutzprogramme dazu beitragen, dass die Aufnahme- und
Schutzkapazitäten in den Aufnahmestaaten Nordafrikas
ausgebaut werden.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Erste Zusatzfrage, Kollege Andrej Hunko.
Vielen Dank, Herr Dr. Schröder. - Ich glaube, wir
sind uns über die welthistorische Bedeutung dieser Bewegung in den nordafrikanischen Ländern einig. Diese
wird ja auch oft mit den Bewegungen 1989 in den osteuropäischen Ländern verglichen. Dabei möchte ich die
Bereitschaft des Westens vergleichen, Flüchtlinge aufzunehmen und eine positive Haltung zu den Flüchtlingen
einzunehmen.
Nach den mir vorliegenden Zahlen hat alleine Tunesien 300 000 Flüchtlinge aus Libyen, aus dem Bürgerkrieg, aufgenommen. Im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung von Tunesien, nämlich 10 Millionen, macht das
etwa 3 Prozent aus. Die Europäische Union hat nach den
mir vorliegenden Zahlen 30 000 Menschen aus der Region aufgenommen. Das entspricht ungefähr 0,006 Prozent der Bevölkerung der EU. Vor diesem Hintergrund
meine Frage: Wissen Sie, wie viele Flüchtlinge nach
Deutschland kommen konnten? Halten Sie das Engagement Deutschlands angesichts der Bedeutung dieser Bewegung für ausreichend?
Deutschland wird seiner humanitären Verantwortung
in besonderer Weise gerecht. Das zeigt sich allein schon
daran, dass wir im letzten Jahr von allen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union die zweitgrößte Zahl von Asylbewerbern aufgenommen haben. Selbstverständlich nehmen wir auch alle Asylbewerber auf, die aus den Krisenregionen, insbesondere aus Libyen, zu uns kommen. Die
Menschen, die des humanitären Schutzes bedürfen, bekommen ihn bei uns. Diejenigen, die als Arbeitsmigranten zu uns kommen, haben natürlich nicht die Möglichkeit, humanitären Schutz zu erhalten. Diese werden,
auch die Arbeitsmigranten aus Tunesien, wieder zurückgeschickt.
Vielen Dank. - Ihre zweite Frage.
Sie haben meine Frage, Herr Dr. Schröder, jetzt sehr
allgemein beantwortet. Könnten Sie mir eine konkrete
Zahl bezüglich der Personen, die aus dieser Region nach
Deutschland gekommen sind, nennen?
Deutschland hat aufgrund der Migrationsströme weniger Asylbewerber aus Libyen und den nordafrikanischen Staaten. Dieser Migrationsstrom bewegt sich vor
allen Dingen in Richtung Italien, Malta und Frankreich.
Wir haben 100 Flüchtlinge, die aus Libyen nach Malta
gekommen sind, übernommen.
In Deutschland kommen vor allen Dingen Flüchtlinge
aus Afghanistan und dem Irak an.
Ich habe noch eine Zusatzfrage unserer Kollegin
Heike Hänsel.
Herr Staatssekretär, da möchte ich noch einmal nachfragen. Die rechtlichen Regelungen kann man bewerten,
wie man will. Aber sehen Sie nicht, dass es eine moralische Verantwortung der Bundesregierung und auch aller
EU-Mitgliedstaaten gibt, nachdem über Jahrzehnte Diktatoren in dieser Region politisch unterstützt wurden, mit
Rüstungsgütern in Millionenhöhe versorgt wurden,
Deutschland auch sehr stark an der militärischen Zusammenarbeit mit vielen Ländern in Nordafrika beteiligt war
und Gaddafi auch finanziell massiv von der Europäischen Union unterstützt wurde, sogar noch bis Ende letzten Jahres? Damit gibt es doch jetzt eine Verantwortung
gegenüber diesen Menschen, die vor dem Krieg und
auch vor katastrophalen Lebensbedingungen fliehen.
Diesen muss man ein aktives Angebot machen, dass sie
sicheren Fußes nach Europa kommen können und nicht
ihr Leben riskieren müssen. In den letzten Wochen
mussten wir ja miterleben, wie Hunderte von Menschen,
auch vor den Augen deutscher Küstenwachschiffe, im
Meer ertrunken sind. Sehen Sie keine moralische Verantwortung für diese Menschen?
Deutschland hat eine besondere moralische Verantwortung für Menschen, die hier Asyl suchen. Wir werden unserer Verantwortung in der Welt auf unterschiedlichen Ebenen gerecht, insbesondere im Rahmen der
Entwicklungshilfe. Wir werden unserer Verantwortung
vor allen Dingen auch dadurch gerecht, dass wir regionale Schutzräume schaffen.
Wir sehen keine Notwendigkeit, möglichst viele
Menschen aus den nordafrikanischen Gebieten nach
Europa zu bringen. Wir sehen vielmehr die Notwendigkeit, die dortigen Lebensbedingungen zu verbessern und
Schutzräume in Nordafrika zu schaffen, den Menschen
vor Ort zu helfen, damit es dort zu einem demokratischen Aufbau kommen kann. Ich möchte auch darauf
hinweisen, dass Gaddafi im Gegensatz zu seinen Besuchen in anderen europäischen Hauptstädten niemals am
Kanzleramt gezeltet hat.
Es gibt noch eine weitere Zusatzfrage. Bitte schön,
Herr Kollege Mützenich.
Herr Staatssekretär, Sie sprechen davon, dass die
Bundesregierung insbesondere die Verantwortung vor
Ort übernehmen will. Können Sie dem Parlament verdeutlichen, wie die Bundesregierung mit der Flüchtlingskatastrophe, wie eben geschildert, fertig werden
will und wie sie insbesondere Ländern wie Ägypten und
Tunesien, die mittlerweile Zehntausende von Flüchtlingen haben aufnehmen müssen, helfen will? Für diese
Länder ist die gegenwärtige Situation, auch angesichts
ihrer Reformbestrebungen, eine große Herausforderung.
({0})
Inwieweit wird die Bundesregierung diesem Problem
gerecht? Können Sie dem Parlament sagen, welche konkreten Hilfsmaßnahmen die Bundesregierung diesen
Umbruchstaaten zukommen lassen will?
Die Nachbarschaftshilfe der Europäischen Union
wird massiv ausgeweitet und so umgeschichtet, dass sie
insbesondere den nordafrikanischen Staaten zugutekommt. Ein abgestimmtes Vorgehen aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist wichtig. Da engagieren
wir uns. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, den Aufbau von demokratischen Strukturen in dieser Region zu
befördern.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 52 des Kollegen Andrej Hunko auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
dem Abschlussbericht der US-Kommission zur Untersuchung
der Finanzkrise, FCIC, der der Deutschen Bank AG einen
Platz in der „Hall of Shame“ der Verursacher der Immobilienblase zuweist, vor dem Hintergrund, dass die Bank entgegen
ihren Behauptungen doch staatliche Hilfen in Höhe von
76 Milliarden US-Dollar erhalten hat, sowie daraus, dass
Bank-Chef Josef Ackermann eine Eigenkapitalrendite von
20 bis 25 Prozent erzielen will, was ein hohes Systemrisiko
darstellt und im Verlustfalle von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern übernommen werden müsste?
Sehr geehrter Herr Kollege Hunko, zunächst erlaube
ich mir den Hinweis, dass die Anmerkungen, auf die Sie
sich in Ihrer Frage beziehen, nicht von der vom US-Kongress eingesetzten Expertengruppe zur Untersuchung der
Finanzkrise, der Financial Crisis Inquiry Commission,
sondern von dem Subcommittee on Investigations des
Senats gemacht wurden. Ich möchte klarstellen, dass es
von der FCIC keine Aussage zur Rolle der Deutschen
Bank in der Finanzmarktkrise gegeben hat, sondern von
dem Subcommittee des Senats.
Die Vorwürfe, die in diesem Bericht erhoben worden
sind, waren der deutschen Bankenaufsicht in großen Teilen bereits bekannt. Die damit verbundenen Rechtsrisiken waren insofern Gegenstand des aufsichtsrechtlichen
Dialogs zwischen der Finanzaufsicht und der Deutschen
Bank. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht beobachtet die weitere Entwicklung und wird die
Ergebnisse entsprechend würdigen.
Geschäftspolitische Ziele in Form von Renditezielen
- Sie haben in Ihrer Frage erwähnt, dass der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank ein Ziel von 20 bis
25 Prozent ausgegeben hat - kommentiert die Bundesregierung nicht. Allerdings überwacht die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht fortwährend, ob bzw.
inwieweit Banken in Relation zur Eigenkapitalquote
übermäßige Risiken bei der Erreichung ihrer Eigenkapitalrenditeziele eingehen. Auf der Grundlage des
Kreditwesengesetzes kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht entsprechende Verwaltungsakte
erlassen, die risikoreiche Geschäfte unattraktiver machen.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege Hunko.
Vielen Dank, Herr Koschyk. - Meine Frage bezieht
sich auf die verheerende Rolle der Deutschen Bank in
der Immobilienkrise im Jahr 2008 in den USA. Sie
wurde in diesem Zusammenhang als „Slumlord“ bezeichnet.
Meine Frage bezieht sich auf unser Grundgesetz.
Art. 14 Abs. 2 GG besagt:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Sehen Sie das in diesem Fall für gegeben?
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis: Ich gehe
schon davon aus, dass sich jedes deutsche Unternehmen
dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und
der Sozialorientierung von Eigentum verpflichtet fühlt.
Ich habe in meiner Antwort auf Ihre Frage, welche
Schlussfolgerungen die Bundesregierung daraus ziehe,
dass der Deutsche-Bank-Chef „eine Eigenkapitalrendite
von 20 bis 25 Prozent erzielen will, was ein hohes Systemrisiko darstellt und im Verlustfalle von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern übernommen werden
müsste“, gesagt: Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Maßnahmen nach dem Kreditwesengesetz
und die Effizienz der Aufsicht der BaFin ausreichen, um
die Situation genau zu beobachten und gegebenenfalls
durch entsprechende Verwaltungsakte tätig zu werden,
sodass risikoreiche Geschäfte unattraktiv gemacht werden.
Herr Kollege Hunko, Sie wollen eine weitere Zusatzfrage stellen.
Herr Koschyk, wenn ich Sie jetzt richtig verstanden
habe, dann haben Sie schon ein Auge darauf, dass
Art. 14 Abs. 2 eingehalten wird:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Ich halte das angesichts der Rolle, die die Deutsche
Bank da gespielt hat, und der Aussagen, dass jetzt, in der
Krisenzeit, eine Eigenkapitalrendite von 20 bis 25 Prozent erzielt werden soll, für schwierig.
Gibt es in der Bundesregierung Überlegungen, ob hier
möglicherweise Art. 14 Abs. 3 greifen kann, wonach
eine Enteignung „zum Wohle der Allgemeinheit“ zulässig ist? Gibt es angesichts dessen, was wir gerade
besprochen haben, bei Ihnen solche Überlegungen?
Solche Überlegungen gibt es nicht. Die Bundesregierung hat vielmehr, Herr Kollege Hunko, auf vielfache
Art und Weise, auch aufgrund von Vereinbarungen auf
G-20-Ebene und Vereinbarungen der Europäischen
Union, ein großes Netz von Verschärfungen bei der Bankenregulierung realisiert. Ich nenne hier das Restrukturierungsregime für Banken, die Umsetzung verschiedener europäischer Richtlinien und die Frage der Erhebung
einer Bankenabgabe sowie Basel III, womit die Eigenkapitalquote von Banken erhöht werden soll. Dies dient
der Risikoprävention. Insofern glaube ich, dass die Bundesregierung die notwendigen Konsequenzen aus der
Finanzmarktkrise gezogen hat. Es besteht überhaupt
kein Anlass, die von Ihnen insinuierte Enteignung ins
Auge zu fassen, um eine bessere Regulierung der Banken in Deutschland zu erreichen.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Wir haben noch eine Reihe von anderen Fragen. Sie werden aber alle schriftlich beantwortet. Somit sind wir am
Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Aktuelle sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen
in der Partei DIE LINKE
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion Kollege Dr. Hans-Peter Uhl.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen
schon die Erfahrung gemacht haben, dass antisemitisches Denken leider nicht nur der Vergangenheit angehört. Auch heute gibt es ein antisemitisches Grundrauschen in unserer Gesellschaft. Wir erkennen dies an
den Zuschriften, die wir erhalten, und an den Gesprächen, die wir mit Bürgern führen. Wir sehen es beim
Blick auf anonyme Onlineforen. Wenn zum Beispiel im
Mainstreammedium sueddeutsche.de ein Artikel über Israel verfasst wird und man die Spalte mit den anonymen
Leserkommentaren liest, dann sieht man: Israel funktioniert immer als Aufregerthema. Man spürt die emotionale Beteiligung und liest sehr merkwürdige Reaktionen.
Natürlich kann man die israelische Regierung wegen
ihrer Siedlungspolitik kritisieren, und man kann kritisieren, dass es hinsichtlich der Autonomie der Palästinenser
keinen Fortgang gegeben hat. Das alles sind Themen,
mit denen sich Außenpolitiker auf der ganzen Welt seit
vielen Jahren befassen. Aber es geht hier und heute um
etwas anderes: Es geht um Antisemitismus. Er kommt
heute nicht mehr so plump daher wie in der deutschen
Vergangenheit zu Zeiten der Nationalsozialisten. Vielmehr verkleidet er sich und kommt in Gestalt der Kritik
an Israel daher. In Wahrheit ist es eine Kritik, die häufig
judenfeindlich ist und eine antisemitische Ideologie als
Muster hat.
Die Reden gehen immer in die gleiche Richtung. Die
Politik des Staates Israel wird besonders kritisiert. Die
israelische Regierung, der Staat Israel, hat eine Sonderrolle als Sündenbock. So wie früher die Juden von den
Nazis für andersartig erklärt wurden, so wird heute der
Staat Israel von diesen Leuten als andersartig, als anders
als alle anderen Staaten bezeichnet und mit besonderer
Schuld beladen. Das ist die Grauzone, in der sich die
Antisemiten von heute bewegen. Diese Grauzone gibt es
in allen Schichten, in allen Bereichen, von Links bis
Rechts, in bürgerlichen Kreisen ebenso. Deswegen ist es
umso wichtiger, dass jeder von uns, wir alle, in dieser
Grauzone für Klarheit sorgen, dass wir jedes Wort unterlassen, das antisemitisches Denken und antisemitisches
Reden bedient, das antisemitisches Denken und Reden
anheizt oder gar aufwertet. Das ist das Problem, über das
wir reden sollten, wenn wir uns dieses Thema bei der
Linkspartei genauer anschauen.
Es ist das Verdienst einer neuen Studie von Politologen, die alle Vorkommnisse bei der Linkspartei auf diesem Gebiet analysiert haben. Es geht um die infamen
Gleichsetzungen und Relativierungen zwischen Juden
oder Israel und den Nazis. Wenn Sie auf die Homepage
der Duisburger Linken gehen, dann sehen Sie tatsächlich
folgendes Bild:
({0})
ein Judenstern, der in das Hakenkreuz übergeht, bzw. ein
Hakenkreuz, das in den Judenstern übergeht; zu sehen
auf der Homepage des Kreisverbandes Duisburg.
({1})
Wenn Sie das auf sich wirken lassen und wenn Sie sich
das Verbrechen der Deutschen, der Nazis an den Juden
in Erinnerung rufen, dann merken Sie, wie infam dieses
Vorgehen ist.
({2})
Es gibt eine Fülle von weiteren Beispielen. Ob das
Äußerungen der Bundestagsabgeordneten der Linken
Christine Buchholz sind, denen niemals widersprochen
wurde; ob es die imperialistische Weltverschwörung ist,
der man Israel im Verbund mit den USA zeiht, oder ob
es die Bundestagsabgeordneten sind, die auf dem Schiff
der Gaza-Solidaritätsflotte im Mai letzten Jahres unterwegs waren: Es sind immer die gleichen Themen, immer
die gleichen bekannten Gesichter, und es sind immer
linke Abgeordnete des Deutschen Bundestages dabei.
({3})
Dies alles ist seit Jahren bekannt, und die Parteiführung
der Linken schweigt.
({4})
Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest: Sie
schweigt nicht ganz. Eine Doppelstrategie wird erkennbar: Auf der Vorderseite des linken Hauses steht Herr
Gysi auf dem Balkon, warnt vor Antisemitismus und bittet um den Konsens aller Demokraten im Kampf gegen
den Antisemitismus. Das ist die Vorderseite des linken
Hauses: Gregor Gysi.
({5})
Im Hinterhof gibt es ganz andere. Da gibt es die notorischen Israelkritiker vom Schlage eines Norman Paech,
die sich austoben dürfen und die immer wieder als Antisemiten in Erscheinung treten.
({6})
In Wahrheit dürfen sie das machen, weil sie im Spektrum des Antisemitismus nach Wählerstimmen fischen
und auch dieses Gebiet abdecken wollen. Das ist die
Doppelstrategie der Linken, und die gilt es zu brandmarken. Das ist heute unsere Aufgabe.
({7})
Ich komme zum Schluss. Es ist unsere historische
Verantwortung, dass wir jede Form von Antisemitismus
in diesem Haus, in jeder Partei und in allen gesellschaftlichen Schichten aufdecken, brandmarken und ächten.
Das ist unsere Aufgabe. Wer dabei nicht mitmacht, wer
in den antisemitischen Wählerschichten fischen will,
klammheimlich, der ist kein ehrbares Mitglied dieses
Hohen Hauses.
({8})
Der nächste Redner in unserer Aktuellen Stunde ist
der Kollege Christian Lange für die Fraktion der Sozialdemokraten. Bitte schön, Kollege Lange.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Antisemitismus gibt es leider überall, um das ganz
klar und deutlich zu sagen. Antisemitismus findet man
nicht nur an den politischen Rändern der deutschen Parteienlandschaft, sondern auch in deren Mitte. Der eindeutige Unterschied zur Linkspartei ist, dass bei allen
anderen Parteien jede Art des Antisemitismus sofort und
ohne Wenn und Aber zurückgewiesen wird, und zwar
nicht von einigen wenigen, sondern von allen, insbesondere von allen Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag.
({0})
Das ist bei Ihnen leider nicht der Fall, und das ist der
Grund für die heutige Aktuelle Stunde. Seit Monaten
kommen aus den Reihen der Linkspartei Äußerungen,
Forderungen und Aktivitäten, die wir zunächst nur fassungslos zur Kenntnis nehmen können. Daher freue ich
mich, dass wir heute im Bundestag über diese hässliche
Problematik sprechen können.
Ich möchte mit dem jüngsten Beispiel anfangen, an
dem man diese Tatsache deutlich machen kann. In der
Hansestadt Bremen riefen vor wenigen Wochen MitglieChristian Lange ({1})
der oder Freunde des Bremer Friedensforums zum
Boykott israelischer Waren auf.
({2})
Wir erinnern uns alle an die Bilder von den sogenannten
Friedensaktivisten, die in Bremen mit Schildern vor einem Supermarkt demonstrierten, auf denen zum Beispiel
stand: Boykottiert Israels Früchte! - Auf dem genannten
Plakat sah man zudem ein Stück Orange, das mit Blut
verschmiert war.
({3})
Diese wirklich widerliche Aktion, die sofort die Bilder
aus dem Dritten Reich in uns allen wachrief, wurde von
allen demokratischen Parteien in Bremen scharf verurteilt. Lediglich die Partei Die Linke weigerte sich, den
gemeinsamen Aufruf zu unterschreiben.
({4})
Ich frage mich: War dies ein Einzelfall? Vor fast genau einem Jahr versuchten Aktivisten mit der sogenannten Gaza-Flottille die Blockade des Gazastreifens auf
dem Seeweg zu durchbrechen. Obwohl Israel angekündigt hatte, das Vorhaben zu blockieren, und gleichzeitig
anbot, die auf den Schiffen transportierten Hilfsgüter
nach Gaza zu bringen, hielten die Aktivisten an ihrem
Plan fest. Wir kennen alle das Ergebnis. Schaut man
jetzt, ein Jahr später, mit Ruhe auf die Ereignisse, bestätigt sich leider der damalige Verdacht, dass die Organisatoren bewusst die Eskalation herbeigeführt haben. Das
Schiff wurde beim Auslaufen aus dem Istanbuler Hafen
mit antisemitischen Gesängen verabschiedet. Darauf ist
die Studie, die Grundlage dieser Diskussion ist, eingegangen. Unsere Kolleginnen Annette Groth und Inge
Höger sowie der ehemalige Bundestagsabgeordnete
Norman Paech waren dabei.
Wenn es sich bei dieser Fahrt tatsächlich um eine Solidaritätsaktion für die Menschen in Gaza gehandelt
hätte, wieso nahmen die Aktivisten das Angebot dann
nicht an? Wieso waren auf dem Boot überhaupt Islamisten, und wieso gab es ein Frauendeck? Wir sind schließlich im 21. Jahrhundert. Wieso haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich nicht ganz deutlich von den
antisemitischen Parolen distanziert oder diese verhindert? Und - das finde ich besonders skandalös -: Warum
haben sich die Teilnehmer eigentlich nicht für die sofortige Freilassung von Gilad Schalit eingesetzt, der seit genau 1 795 Tagen im Gazastreifen in Haft ist?
({5})
Dass deutsche Parlamentarier bei dieser illegalen Aktion
mitgemacht haben, finde ich unglaublich.
({6})
War das eine Einzelmeinung in der Linkspartei? Wohl
kaum. Groth, Höger und Paech wurden nach ihrer Heimkehr nach Berlin von der Vorsitzenden der Linkspartei,
Gesine Lötzsch, herzlich empfangen und traten anschließend auf vielen zwielichtigen Veranstaltungen auf, um
gegen Israel zu wettern. Eine Distanzierung von den Islamisten an Bord fand jedoch nicht statt.
Können wir denn wirklich glauben, dass es darum
ging, den Menschen im Gazastreifen zu helfen? Steckte
hinter dieser Aktion nicht vielmehr die Ablehnung des
Existenzrechts Israels?
({7})
Diese Frage muss, so meine ich, geklärt werden. Deshalb sage ich: Wir dürfen es nicht länger hinnehmen,
dass unter dem Deckmantel der Israel-Kritik antisemitische Vorurteile oder antisemitische Kampagnen salonfähig werden.
({8})
Der Freiheitskämpfer Natan Sharansky, ehemaliger
Dissident und Häftling im Sowjetkommunismus, späterer israelischer Politiker und heutiger Chairman of the
Jewish Agency for Israel, hatte recht, als er mit seiner
„3-D“-These deutlich machte, wann Israel-Kritik antisemitisch wird, nämlich dann, wenn die Existenzberechtigung des jüdischen Staates delegitimiert wird, wenn
Israel dämonisiert wird und wenn Israel mit Doppelstandards verurteilt wird.
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren von
der Linkspartei, fordere ich Sie auf: Nehmen Sie Abstand von dieser Politik! Bekennen Sie sich zum Existenzrecht Israels!
({9})
Und schließlich - ganz praktisch - an Sie gewandt: Ich
möchte in diesem Hause keine derart unschönen Aktionen mehr erleben wie das demonstrative Sitzenbleiben
nach der Rede des israelischen Staatspräsidenten
Shimon Peres.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Stefan Ruppert
für die Fraktion der FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gehöre dem Deutschen Bundestag erst seit dem
Jahr 2009 an. Als ich neu hier war, habe ich die Strategie
- auch meiner Fraktion und Partei -, wie mit der Partei
Die Linke umgegangen werden soll, wiederholt hinterfragt. Ich habe mich gefragt: Ist es wirklich die richtige
Strategie, sie zu dämonisieren und in eine Ecke zu stellen?
Für mich brachte der 27. Januar des Jahres 2010 dann
die Bestätigung, dass meine Zweifel nicht begründet waren. Als Shimon Peres am Tag der Befreiung von Auschwitz in diesem Haus eine bewegende Rede hielt und
einzelne Abgeordnete Ihrer Partei ihm gegenüber nicht
nur jedes Anstandsgefühl haben vermissen lassen, sondern sich auch nicht von den Plätzen erhoben haben, da
war für mich sichtbar, dass Teile Ihrer Fraktion einen antisemitischen Unterton nicht nur dulden, sondern auch
pflegen.
({0})
Ich habe mich lange wissenschaftlich mit Antisemitismus befasst, zunächst als Assistent an einem Lehrstuhl und dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Bundesverfassungsgericht beim NPD-Verbotsverfahren.
Aus dieser Zeit weiß ich aus vielen empirischen Studien,
dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir sagen: Antisemitismus ist alleine ein Problem der politischen
Rechten oder der politischen Linken. - Wir wissen, dass
auf die Frage „Haben Juden zu viel Einfluss in diesem
Land?“ bedauernswerterweise 15 Prozent der Menschen
aus allen Bevölkerungsschichten mit Ja antworten. Das
ist absurd, und das muss uns zu denken geben.
Wir stellen fest, dass Antisemitismus bei Männern
stärker verwurzelt ist als bei Frauen, bei bildungsschwachen Bevölkerungsschichten stärker als bei bildungsnahen. Wir stellen auch fest, dass der Antisemitismus Konjunkturen hat. Das Problem ist vielschichtig und nicht
allein im politischen Extremismus anzusiedeln. Es gibt
aber Parteien - insofern fand ich die bemerkenswerte
Rede meines Vorredners sachlich sehr zutreffend -, die
sich bewusst davon distanzieren und jeder antisemitischen Tendenz entgegentreten. Das sind die Grünen, die
SPD, die CDU, die CSU und die FDP. Bei der Partei Die
Linke dagegen verhält es sich genauso wie am extremen
rechten Rand bei der NPD und anderen: Man vermisst,
dass Sie dem eindeutig entgegentreten.
({1})
Über die Topoi, die in der Antisemitismusforschung
immer wieder untersucht werden, hinaus findet man
ähnliche Topoi, die vom Antiisraelismus über den Antiamerikanismus bis hin zu anderen Modellen reichen.
Unrühmliche Beispiele Ihrer antisemitischen Handlung
wurden bereits vorgetragen.
Als jemand, der sich dafür einsetzt, dass auch die eigene Parteigeschichte der FDP in den 50er- und 60er-Jahren kritisch hinterfragt werden muss - beispielsweise die
Beteiligung von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP, wie
sie in Hessen gerade untersucht wird -, finde ich es bedauernswert, dass Sie im Grunde in den umgekehrten
Reflex des Historikerstreits verfallen, nämlich zu sagen:
Wir rechnen auf, um mit unserem Antisemitismus eine
Entlastungswirkung gegenüber unserem eigenen Versagen zu erzielen. - Das ist nicht hinnehmbar. Jede Form
des politischen Extremismus muss gleichermaßen gegeißelt werden.
Am Ende meiner Rede will ich sagen, dass ich vielleicht einen etwas anderen Eindruck von Teilen der
Linkspartei habe als einer meiner Vorredner. Ich erlebe
in der AG gegen Antisemitismus beispielsweise, wie
sich Petra Pau sehr glaubwürdig und aus meiner Sicht
nachhaltig und überzeugend mit dieser Frage auseinandersetzt und sich immer wieder sowohl der Vergangenheit ihrer Partei als auch dem Problem, dass in ihrer Partei gewisse Haltungen nicht tolerierbar sind, stellt. Auch
die Wortmeldungen von Herrn Liebich und Herrn
Ramelow machen mir ein wenig Mut. Aber es ist
höchste Zeit, dass Sie dazu übergehen, nicht nur eine Art
verschwommenes Gesamtbild mit vereinzelter Distanzierung zu erzeugen, sondern sich dezidiert mit den Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, und zwar mit den
Mitteln des Partei- und des Parlamentsrechts, von solchen Haltungen klar zu distanzieren.
({2})
Solange Sie das unterlassen und immer nur dann, wenn
die Tagesaktualität Sie in die politische Defensive
drängt, punktuell vorgehen, solange Sie keine strukturelle und glaubwürdige Auseinandersetzung nicht nur
mit Ihrer Geschichte, sondern auch mit Ihrer Haltung zur
Hamas und zum Existenzrecht Israels führen - elf Abgeordnete der Linken haben den gemeinsamen Antrag gegen Antisemitismus in diesem Haus nicht unterschrieben; das ist ein bemerkenswerter Vorgang -, solange Sie
dieses Thema nicht angehen, so lange sind Sie in dieser
Frage leider nicht glaubwürdig.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist unsere Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben wieder einmal eine Gleichsetzung von rechtsextrem und links erleben müssen.
({0})
Ich finde das in diesem Haus nicht hinnehmbar.
({1})
Wir haben gerade in diesem Hohen Haus erlebt, dass ein
empörendes Zeichen hochgehalten wurde, gegen das die
Linke Strafanzeige erhoben hat.
({2})
Es ist fälschlicherweise auf die Website gekommen, und
wir haben Strafanzeige dagegen erhoben.
({3})
Hier ist von dem Einsatz für die Freilassung des Soldaten Schalit gesprochen worden. Darf ich Sie alle daran
erinnern, wer in diesem Haus zuerst einen solchen Antrag gestellt hat?
({4})
Es war die Fraktion Die Linke. Darf ich Sie daran erinnern, dass es Ihre Fraktion war, die gesagt hat: „Mit der
Linken zusammen machen wir einen solchen Antrag in
diesem Parlament nicht“?
({5})
Das zeigt Ihre Doppelmoral und Ihren Umgang mit der
Wahrheit.
({6})
Nein, wir brauchen uns nicht von irgendetwas abzukehren.
({7})
Unsere Parteispitze hat eine klare Haltung zu Antisemitismus und antiisraelitischen Positionen.
({8})
Wir haben genug Belege. Ich könnte es Ihnen jetzt einfach machen und sagen, dass es eine Unverschämtheit
ist, dass ausgerechnet die CDU von Globke, Filbinger,
Kiesinger und Oettinger und die FDP von Mende und
Möllemann uns antisemitische und israelfeindliche Positionen vorwerfen.
({9})
Ich könnte es auch uns einfach machen und die Unwahrheiten, die Halbwahrheiten, die Verdrehungen und die
fehlenden Belege des von Ihnen als wissenschaftliche
Untersuchung bezeichneten politischen Positionspapiers
({10})
aufzählen und beschreiben.
Ich nenne Ihnen nur ein einziges Beispiel. Wolfgang
Gehrcke, mein Kollege, wird in diesem Papier im Zusammenhang mit einem Buch angegriffen. Es heißt, dieses Buch enthalte antizionistischen Antisemitismus.
Wolfgang Gehrcke hat in diesem 2009 erschienenen
Buch ein Fazit geschrieben, das ich Ihnen jetzt mit Erlaubnis des Präsidenten vorlese:
Der Holocaust, die Verbrechen des deutschen Faschismus und seiner Helfer, der Mitläufer und WegSeher, begründet das besondere, nicht auflösbare
Verhältnis Deutschlands zu Israel. Nach dem Holocaust hätte die Linke verstehen müssen, dass der Zionismus mit seinem konkreten Ziel der territorialen
Eigenständigkeit eine angemessene Antwort auf
das fundamentale Bedürfnis des über Jahrhunderte
verfolgten jüdischen Volkes nach Sicherheit war.
Das soll ein Beweis für die antisemitische, antizionistische Haltung des Kollegen Gehrcke, des Autors Gehrcke
und damit der Linksfraktion sein?
({11})
Es ist vielleicht nur ein Aperçu am Rand der Geschichte: Am 16. Dezember 2009 hat der Botschafter des
Staates Israel Herrn Gehrcke einen Brief geschrieben, in
dem stand:
Den Jahreswechsel habe ich zum Anlass genommen, Ihnen zu Ehren einen Baum im Wald der deutschen Länder in Israel pflanzen zu lassen. Ich hoffe,
Ihnen damit eine Freude bereitet zu haben.
Wissen Sie: Sie führen eine wissenschaftliche Untersuchung an, und dies ist die Wahrheit.
({12})
So gehen Sie hier im Parlament mit uns um, nur um
Stimmungsmache zu betreiben.
({13})
Ich sage Ihnen noch etwas anderes: Für mich ist das
große gesellschaftliche Problem des Antisemitismus in
Deutschland zu bedrängend und zu ernst, um es im Parlament mit dem üblichen Politreflex zu behandeln.
({14})
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Linke eine
Grundposition vertritt, die bedeutet, gegen jede Form
des Antisemitismus in der Gesellschaft vorzugehen. Außerdem haben wir ein für alle Mal beschlossen - ich zitiere -,
… dass Deutschland wegen der furchtbaren Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen und Juden
während des Nationalsozialismus eine besondere
Verantwortung gegenüber Israel und gegen jede Art
von Antisemitismus, Rassismus, Unterdrückung
und Krieg hat. Diese Verantwortung ist nicht relativierbar; sie schließt das Bemühen um einen palästinensischen Staat und die Garantie des Existenzrechtes Israels ein.
Die Linke vertritt diese Position nach innen: Boykottaufrufe sind in unseren Augen nicht hinnehmbar,
({15})
und wir dulden Antisemiten nicht.
({16})
Die Linke vertritt diese Position auch nach außen, indem
wir auf Demonstrationen, mit Tausenden von Aktionen,
in parlamentarischen und außerparlamentarischen Gruppen, in Büchern und Vorträgen Gesicht zeigen.
({17})
Es gibt in unserer Gesellschaft Antisemiten, und zwar
nicht wenige. Warum ist das so? Weil in unserer Gesellschaft immer noch und immer wieder antisemitische und
rassistische Haltungen aufbrechen; die Vorredner haben
es erwähnt. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
unser gemeinsames Problem.
({18})
Dagegen müssen wir vorgehen. Betreiben wir aber bitte
nicht, wie es aktuell geschieht, aus parteipolitischem
Kalkül und mithilfe von Pseudowissenschaft eine oberflächliche Stimmungsmache, nur um den Ruf einer Partei zu schädigen.
({19})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht unser
Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Jochimsen, ich bin von Ihrer Rede enttäuscht.
({0})
Ich finde, sie wurde der Problemlage und der Situation,
in der sich Ihre Partei und Fraktion bei diesem Thema
befinden, nicht gerecht.
({1})
Ich will deutlich machen, dass ich auch die Art der
Auseinandersetzung, die Art, in der wir bis jetzt diskutiert haben, nicht gut finde, weil wir uns dem Problem
nicht wirklich stellen. Antisemitismus ist ein Problem,
das in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist. Nach einer
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen 48,9 Prozent der Befragten - das ist fast Mehrheit - folgender
Aussage zu: Juden versuchen heute, Vorteile daraus zu
ziehen, dass sie während der Nazizeit die Opfer gewesen
sind. - Dies geht oftmals einher mit Äußerungen aus Ihrer Ecke, die da lauten: Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser. - Dieser Aussage stimmen
übrigens 47,7 Prozent der Befragten zu; es handelt sich
dabei um fast die gleiche Gruppe. Diejenigen, die der
ersten Aussage zustimmen, stimmen in der Regel auch
der zweiten Aussage zu.
Ich finde, wir alle sollten selbstkritisch sein und sagen: Auch in unseren Parteien hat es Problemfälle gegeben. Ich erinnere an den quälenden Prozess, den ein
Flugblatt der FDP in NRW, von Herrn Möllemann, ausgelöst hat. Ich erinnere an das Parteiausschlussverfahren
der CDU gegen Herrn Hohmann. Meine Partei hatte einen gewissen Jamal Karsli in ihren Reihen, der dann zu
Möllemanns FDP in NRW übergetreten ist. All diese
Leute haben Dinge gesagt, die inakzeptabel, historisch
falsch, rassistisch und widerlich sind und die man zurückweisen muss.
({2})
Sie haben sich heute hier aber wie Ihr Parteivorsitzender, Herr Ernst, verhalten, nämlich nach dem Motto: Wir
verwehren uns gegen Belehrungen von außen. - Ich
finde, man muss sich dieser Sache ernsthafter annehmen,
weil es eben keine Einzelfälle sind. Es ist nicht einer, der
sich verplappert hat und den man dann ausschließen
kann. Hier sitzt Frau Höger. Sie war kürzlich auf einem
Kongress zum Thema Palästina, der wesentlich unter
dem Einfluss der Hamas stand. Sie stellte sich auf die
Bühne und ließ sich einen Schal mit einem Abbild der
Region überreichen, auf dem Israel mit seinen Staatsgrenzen nicht mehr eingezeichnet ist.
({3})
Israel ist dort bereits verschwunden. Das war natürlich
ein Versehen, Frau Höger. Sie haben den Schal nicht
richtig angesehen und hätten es unhöflich gefunden, so
etwas nicht in der Öffentlichkeit zu tragen. Ich muss sagen: Manchmal ist es politisch doch die richtigere Haltung, geradeheraus zu sein und etwas weniger Höflichkeit zu zeigen.
({4})
Ihnen passiert aber ein Missgeschick nach dem anderen. Auf Ihrer Homepage landete angeblich ein Mitarbeiterartikel - so wird das später erklärt -, der gar nicht
dahin gehörte. Er gab nur den Diskussionsstand wieder.
Ohne irgendeinen Anhaltspunkt, ohne das geringste Indiz und ohne ein Argument dafür, warum es so sein
könnte, wurde darin schlankweg behauptet, Juliano MerKhamis und Vittorio Arrigoni, zwei propalästinensische
Aktivisten, seien im Gazastreifen wahrscheinlich von Israel ermordet worden. Es gab keinen Hinweis darauf.
Volker Beck ({5})
Die Hamas-Regierung hat später Salafisten festgenommen, die diese Tat begangen haben.
Das sind doch keine Zufälle. Herr Dierkes hat kürzlich in einem Interview auf der Seite www.diefreiheitsliebe.de gesagt, die israelische Staatsidee „jüdisch und
demokratisch“ sei ein Widerspruch, das ginge gar nicht.
Dazu passt eben, dass man israelische Produkte in Bremen boykottiert, wie das ehemals die SA-Truppen getan
haben, die vor jüdischen Geschäften standen. Das alles
passt zu dem Bild. Es gibt einseitige Kritik und Polemik
gegen den israelischen Staat.
Ich muss sagen: Jeder darf die israelische Regierung
kritisieren. Ich finde, Netanjahu hat Israel und seiner
Stellung in der Welt mit seiner Rede gestern keinen Gefallen getan. Ich glaube nicht, dass mich jemand für antisemitisch hält, weil ich das sage. Aber über die Art, wie
Sie argumentieren und wie der Duktus Ihrer Papiere ist
- das Existenzrecht Israels wird darin vom Kreisvorsitzenden in Duisburg als läppische Frage bezeichnet, auf
anderen Webseiten wird sie als Hirngespinst bezeichnet,
diese angeblich in Ihren Parteistatuten grundfest verankerte Position -,
({6})
können Sie nicht hinweggehen. Sie müssen sich damit
stärker argumentativ auseinandersetzen.
({7})
Ich bin dagegen, dass wir das hier parteipolitisch zum
Streit gegeneinander verwenden.
({8})
Aber Sie haben in Ihren Reihen eine besondere Aufgabe
und sollten sich nicht dagegen wehren, wenn an diesem
Punkt Kritik von außen kommt, sondern diese Kritik annehmen.
({9})
Sie versuchen zum Teil, die Autoren dieses politikwissenschaftlichen Aufsatzes in die rechte Ecke zu stellen.
Einer der Autoren war Stipendiat der Rosa-LuxemburgStiftung und ist jetzt Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung.
({10})
Man kann den Autoren nun wirklich nicht rechte Machenschaften vorwerfen, sondern man muss konzedieren, dass sie genau hingeschaut haben.
({11})
Dazu möchte ich auch Sie auffordern: Schauen Sie genauer hin, bekennen Sie sich klarer zu einer Politik gegen Antisemitismus, und tun Sie das nicht mit Sprachformeln und Vorstandsbeschlüssen Ihrer Partei, sondern
gehen Sie zu den Leuten, setzen Sie sich mit ihnen auseinander, und lassen Sie die Leute, die eine antisemitische Haltung haben, keine Positionen übernehmen.
Der Kollege Stefan Liebich hat gesagt, er wünsche
sich vom Parteivorstand stärkere und schnellere Reaktionen auf solche Vorfälle in der Linkspartei. Ich muss sagen: Ich würde mir das auch wünschen, weil das gut für
das demokratische Klima in diesem Land wäre.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Franz Josef
Jung für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Grundaussage der aktuellen sozialwissenschaftlichen Untersuchung lautet: Die antisemitischen
Positionierungen der Partei Die Linke nehmen deutlich
zu. - Vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung, in der wir, insbesondere das deutsche Parlament,
stehen, und vor dem Hintergrund dessen, dass wir das
Existenzrecht Israels als einen Teil unserer Staatsräson
ansehen, halte ich es für einen Skandal, dass wir in diesem Parlament über antisemitische Äußerungen der Linken debattieren müssen. Dies ist zu ächten und mit
Nachdruck zurückzuweisen.
({0})
Ich möchte einige Beispiele, die genannt wurden, unterstreichen, da Frau Jochimsen versucht hat, dies mit
der linken Hand vom Tisch zu wischen. Hier sitzen doch
Abgeordnete Ihrer Fraktion - Frau Höger wurde genannt, aber auch andere; es waren elf -, die an dem Tag
des Gedenkens an 70 Jahre Reichspogromnacht, die bei
der Beschlussfassung über den Antrag, das Existenzrecht Israels als Teil unserer Staatsräson anzusehen, dagegen gestimmt haben.
({1})
Es ist doch eine Tatsache, dass sich alle Abgeordneten
außer einem Teil der Linken erhoben haben, als Shimon
Peres am Auschwitz-Gedenktag hier sprach. Selbst die
taz kommentierte damals:
Solche Verweigerungsgesten sind im parlamentarischen Raum am Auschwitz-Gedenktag bislang nur
von der NPD bekannt.
Die Schiffsaktion „Free Gaza“ - Frau Höger war wieder dabei - war eine eindeutige Aktion zur Unterstützung der Hamas, die vonseiten der Europäischen Union
als terroristische Vereinigung eingestuft wird und das
Ziel hat, das Existenzrechts Israels nicht nur zu leugnen,
sondern die Israelis ins Meer zu treiben. Dass Sie sich an
einer solchen Aktion aktiv beteiligen - die Vorsitzende
der Linken, Frau Lötzsch, die ja der Kommunismusideologie frönt, hat sogar formuliert: „Wir sind sehr stolz auf
ihren Einsatz“, was aus meiner Sicht mit Nachdruck zurückzuweisen ist -, zeigt, dass Sie als Nachfolgepartei
der SED in der Tradition der SED-Diktatur stehen.
({2})
Die SED-Diktatur, Herr Gehrcke, die Israel niemals anerkannt hat und palästinensische Terroristen finanziert
hat, ist eindeutig der falsche Weg. Für solche Positionen
darf es im deutschen Parlament keinen Platz mehr geben.
({3})
Frau Höger, der Kollege Beck hat bereits angesprochen, dass Sie auf der Konferenz ein Tuch mit den Umrissen des Nahen Ostens ohne Israel überreicht bekommen haben. Es gab den Aufruf der Linken in Bremen
zum Boykott israelischer Früchte. Hier werden historische Erinnerungen wach; dies wurde zu Recht dargestellt. Mein Kollege Uhl hat die, wie ich finde, unglaubliche Darstellung mit dem Judenstern und dem
Nazikreuz hier dokumentiert.
({4})
Spiegel online, Frau Jochimsen, schreibt, dass dies auch
auf der Homepage der Duisburger Linken gestanden hat.
Ich habe kein Wort von Ihnen oder von anderen gehört,
dass Sie sich eindeutig von diesen Dingen distanzieren,
({5})
geschweige denn, dass Sie Verfahren gegen Abgeordnete eingeleitet haben, die mit antisemitischen Äußerungen an die Öffentlichkeit getreten sind.
({6})
Die Fraktion Die Linke unterstützt offen die Hamas;
das habe ich dargestellt. Es gibt eine Solidarisierung. Ich
habe bereits gesagt, dass die Europäische Union die
Hamas als terroristische Vereinigung eingestuft hat. Antisemitische Positionierungen sind außerhalb unserer Verfassungsordnung und unseres gemeinsamen demokratischen Grundkonsenses.
(Dr. Lukrezia Jochimsen ({7}): Da
können wir nur zustimmen, Herr Jung!
Wir haben eine historische Verantwortung für das Existenzrecht Israels. Deshalb sage ich: Wer antisemitische
Positionen formuliert, stellt sich außerhalb unserer parlamentarischen Demokratie und hat in diesem Parlament
nichts zu suchen.
({8})
Die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Edelgard
Bulmahn von der Fraktion der Sozialdemokraten.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Präsident! Ja, wir müssen leider sagen: Es ist richtig,
dass es in unserem Land antisemitische Einstellungen in
allen Altersgruppen, in allen politischen Richtungen und
in allen Gesellschaftsschichten gibt. Wir müssen leider
sagen, dass dies nicht Geschichte, sondern Gegenwart
ist. Umso wichtiger ist es, dass dieses Hohe Haus, der
Deutsche Bundestag, in dieser Frage eindeutig Stellung
nimmt, dass jegliche Form von Antisemitismus und Rassismus in aller Konsequenz und eindeutig abzulehnen
sind.
({0})
Ich habe vor wenigen Tagen gemeinsam mit Kollegen
aus anderen Fraktionen zum wiederholten Male Israel
besucht. Ich will deshalb meine Rede etwas anders akzentuieren, als es meine Vorredner gemacht haben. Wir
haben im Verlauf dieser Reise Sderot besucht, eine
Kleinstadt in der Nähe von Gaza, in der in wenigen Tagen mehr als 200 Raketen eingeschlagen sind. Machen
wir uns eigentlich klar, was das für die Menschen, die
dort leben, bedeutet? Es bedeutet, immer mit Bedrohung
und Angst zu leben: Angst vor einem möglichen Krieg,
vor dem eigenen Tod oder dem der Kinder. Kein Israeli
wächst ohne diese Angst auf. Jeder weiß, dass diese Bedrohung nicht der Vergangenheit angehört. Sie ist Bestandteil des normalen Lebens. Diese Bedrohung ist Gegenwart. Sie ist nicht eingrenzbar, und sie wirkt sich bis
in das kleinste Dorf aus. Das ist die eine Seite.
Aber es gibt auch die andere Seite, die wir in Ostjerusalem erleben konnten: die Anwendung von Gewalt
durch israelische Siedlergruppen oder deren Sicherheitspersonal gegenüber den Palästinensern, jung oder alt,
männlich oder weiblich, und die gewaltsame Inbesitznahme palästinensischer Gebiete durch israelische Siedlergruppen. Auch hier gilt: Die Bedrohung ist Gegenwart,
und sie wirkt sich bis in das kleinste Dorf aus.
Zur inneren Tragik des Nahostkonflikts gehört es
- das ist wichtig für uns als deutsche Politikerinnen und
Politiker -, dass die Gründung des Staates Israel nur um
den Preis neuer Opfer und neuer Leiden möglich war.
Dem Existenzrecht des Staates Israel steht das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser gegenüber. Beide Ansprüche sind legitim.
({1})
Sie schließen sich aber so lange gegenseitig aus, wie es
den Israelis und Palästinensern nicht gelingt, sich auf einen für beide Seiten tragfähigen Kompromiss zu verständigen.
({2})
Eine Lösung des Nahostkonflikts ist für beide Seiten
eine Frage des Überlebens und der Erhaltung ihrer persönlichen, aber auch ihrer politischen und moralischen
Integrität. Eine oberflächliche Betrachtungsweise und
Konfliktbeurteilungen nach dem Gut-Böse-Schema, wie
ich sie leider teilweise bei Ihnen, liebe Kollegen von der
Linksfraktion, feststellen muss, machen blind für Ursache und Entwicklung des Konflikts, und sie machen
auch blind für mögliche Lösungswege.
({3})
Wir wissen, dass Gesprächs- und Kompromissbereitschaft sowie Verhandlungen der einzige Weg sind, der
aus dieser scheinbar ausweglosen Lage herausführen
kann. Deshalb hilft es weder Israel noch den Palästinensern, wenn Deutsche Schuldzuweisungen aussprechen.
Notwendig ist, die Bereitschaft zu fördern, Verhandlungen zu beginnen.
Es geht nicht darum, legitime Kritik an der Politik der
israelischen Regierung zu verbieten. Wir selber kritisieren in diesem Hause die israelische Siedlungspolitik.
Das haben wir nicht nur einmal getan. Aber wir kritisieren auch die Raketenangriffe auf Israel,
({4})
die Attentate auf unschuldige Menschen und die Drohungen der Hamas gegen den Staat Israel.
({5})
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren von
der Linken, frage ich mich, wie Sie es zulassen können,
dass ein Mitglied Ihrer Fraktion in diesem Haus in der
Öffentlichkeit das Existenzrecht Israels infrage stellt.
Nichts anderes heißt es, wenn man ein solches Tuch
trägt, Frau Höger. Von einer Politikerin erwarte ich, dass
sie den Mut hat, in einer solchen Situation das Tuch abzulegen und zu sagen: „Nein, das ist mit mir nicht zu
machen. Dazu bin ich nicht bereit.“
({6})
Das erwarte ich von einer Politikerin, egal zu welcher
Fraktion sie gehört.
Ich verstehe auch nicht, wie eine Fraktion es zulassen
kann, dass die derzeitige Siedlungspolitik der israelischen Regierung - die wir alle kritisieren - als kriegstreiberische Aktion des Staates Israel bezeichnet und
gleichzeitig die Hisbollah sozusagen als Teil der Friedensbewegung beschrieben wird. Was ist das für eine
Geisteshaltung, die sich da zeigt?
({7})
Genauso wenig verstehe ich, wie man zu einem Boykott
israelischer Produkte aufrufen kann. Das verbietet sich
schon eingedenk unserer Vergangenheit. Das ist purer
Rassismus, nichts anderes.
({8})
Antisemitismus und die Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen dürfen wir nicht zulassen;
dazu muss es einen Konsens in Ihrer Fraktion geben.
Keine Fraktion, ob links oder rechts, darf so etwas zulassen. Jede Fraktion muss sich dagegen positionieren, und
zwar eindeutig, laut und konsequent, nicht nur punktuell.
({9})
Die besondere Verantwortung, in der wir aufgrund unseres historischen Erbes stehen, ist keine Frage des Alters
und auch keine Frage der politischen Überzeugung, sondern ist ein geschichtlicher Fakt, der für uns alle gilt und
der uns besonders sensibel gegenüber Antisemitismus in
unserem Land machen sollte.
Lassen Sie mich schließen. Deutschland hat eine besondere Verantwortung, das Existenzrecht Israels zu sichern, ich sage ausdrücklich: zu verteidigen. Das bedeutet nicht, jede Entscheidung der israelischen Regierung
zu unterstützen. Aber das heißt, jedes Infragestellen des
Existenzrechts Israels abzuwehren. Das gilt hoffentlich
für uns alle.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser
Kollege Patrick Kurth. - Bitte schön, Kollege Patrick
Kurth.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Wochen wieder reden wir über eine Fraktion in
diesem Hause,
({0})
die mit Sitten und Gebräuchen auf sich aufmerksam
macht, die diesem Haus eigentlich fremd sein sollten.
Das letzte Mal, als ich in diesem Zusammenhang hier
stand, haben wir über den Kommunismus gesprochen.
Davor haben wir über Gewalttätigkeiten in Berlin, davor
über Stasi-Aufdeckungen in Brandenburg und davor
über Gaza-Fahrten einzelner Mitglieder der Linksfrak12578
Patrick Kurth ({1})
tion gesprochen. Heute geht es um antisemitisches Gedankengut in der Linkspartei. Ich sage es ganz deutlich:
Es ist beängstigend, wie Sie versuchen, auf den extremen Seiten der Gesellschaft zu fischen und dort Wähler
zu fangen.
({2})
Sie haben damals jemanden zum Parteivorsitzenden gewählt, der zuvor noch von Fremdarbeitern gesprochen
hatte. Sie wissen ganz genau, woher diese Begrifflichkeit stammt und wie sie verwendet wird.
Die Studie, über die wir reden, kommt zu dem Ergebnis, dass die Antisemitismusfrage bei Ihnen innerparteilich immer dominanter wird und dass Ihre Begrifflichkeiten zunehmend israelkritisch sind.
({3})
Hier geht es nicht ausschließlich um eine innenpolitische
Frage, sondern in erster Linie um die Wirkung nach außen.
({4})
Es geht um das Ansehen unseres Landes. Das Existenzrecht Israels ist unantastbar; das ist Staatsräson. Das
muss man immer wieder sagen, erstaunlicherweise vor
allen Dingen Ihrer Fraktion.
({5})
Als wir vorhin das Plakat gesehen haben, hat es uns
die Sprache verschlagen. Es ist gut, dass Sie gesagt haben, dass ein Hakenkreuz, das mit dem Davidstern verbunden wird, bei Ihnen nicht auf Zustimmung trifft; das
ist erfreulich. Sie hätten das aber sehr viel früher und
stärker deutlich machen müssen.
({6})
Der Zynismus, der bei diesem Plakat zum Ausdruck
kommt, ist nicht zu rechtfertigen. Der Kreisverband der
Linken, der dafür verantwortlich zeichnet, ist nach den
ersten Reaktionen nicht zurückgerudert, sondern hat gesagt, dass damit die Palästinenserpolitik Israels mit der
Politik der Nazis in den 30er-Jahren verglichen wird,
und Sie haben das toleriert. Das geht einfach nicht.
({7})
Ich wundere mich, dass eine Partei, die sich so stark
dem sogenannten Antifaschismus verschreibt und faschistische Strukturen bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu entdecken meint und die Gesellschaft zum Teil
als faschistoid diffamiert, eine so interessante Geschichtsaufarbeitung hat. Das kommt irgendwo her. Das
kommt aus der West-Linken, die schon immer ein äußerst kritisches Verhältnis zu Israel an sich gehabt hat.
Es kommt natürlich auch aus dem Osten, wo es Staatsräson war, den Staat Israel eben nicht anzuerkennen. Das
ist ein geschichtliches Faktum. Daran kommen wir nicht
vorbei.
({8})
Man hätte gedacht, dass wir nach 20 Jahren weiter
sind. Das sind wir an dieser Stelle aber leider nicht.
Was man von der Linken zu hören bekommt - man
muss es so deutlich sagen; das können Sie nicht so einfach von sich weisen -, ist Antisemitismus. Es wurde
das Beispiel Shimon Peres genannt und dass die Kollegen der Linken sitzen bleiben und den Applaus verweigern. Das ist ein Unding an sich. Wenn dann auch noch
eine stellvertretende Bundesvorsitzende Ihrer Partei,
Sahra Wagenknecht, darunter ist, dann ist das unverschämt. Dann können Sie nicht von einer gut aufgestellten oder sortierten Parteispitze reden.
({9})
Für diese Aktion haben Sie übrigens Beifall bekommen, und zwar von der NPD.
({10})
Der Kollege Gehrcke hat etwas über den israelischen
Außenminister Lieberman geschrieben, das ich hier eigentlich zitieren wollte. Das mache ich aber nicht. Es
ging darin um Korruption, um Mafia und Ähnliches. Sie
wissen das besser als ich.
({11})
Ich werde das hier nicht wiedergeben. Dafür haben Sie
jedenfalls Beifall von der NPD bekommen. Die NPD hat
sogar ein Diskussionsangebot an antiimperialistische
Linke unterbreitet.
({12})
Außerdem spricht sie - auch das ist interessant - vom
antizionistischen Hardliner Wolfgang Gehrke.
({13})
Wolfgang Gehrke war neben Jan van Aken, Christine
Buchholz und Sevim Dağdelen - das sind alles MdB einer von denen, die gegen die Entscheidung ihrer eigenen Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, protestiert
haben, dem Israelkritiker Finkelstein keinen Raum für
einen Vortrag in Berlin zu geben. Das waren alles Mitglieder Ihrer Fraktion. Das ist die Wahrheit.
({14})
Christian Lange hat vorhin ungefähr gesagt: Antisemitismus hat in diesem Hause keinen Platz. Alle Fraktionen haben geklatscht. Alle bis auf eine: die Ihre. Sie
haben nur zugeguckt und zugehört.
({15})
- Es war eines der ersten Worte, die er gebracht hat. Da
hätten Sie sich erbarmen und mitklatschen können.
({16})
Frau Jochimsen hält dann eine Rede, die komplett zum
Gegenangriff anstößt. Sie beschäftigte sich erst gar nicht
mit dem, was Sie machen.
({17})
Dann haben Sie hier Namen genannt und gesagt, dass
man sich das gefallen lassen müsse. Ja, das dürfen Sie.
Schauen Sie sich einmal an, wie andere Fraktionen mit
Leuten, die Fehler gemacht haben, umgegangen sind! Da
wurde bereinigt. Da standen plötzlich an der Seite Einzelstühle. Da wurden die Leute aus der Fraktion herausgeworfen. Das vermisse ich sehr. Ich sehe keinen einzigen Einzelstuhl bei Ihnen dort hinten. Gehen Sie
ordentlicher mit Ihrer Geschichte um!
({18})
Arbeiten Sie die deutsche Geschichte auf! Arbeiten Sie
Ihre Parteigeschichte auf! Fassen Sie sich selber an die
Nase! Dann können wir vielleicht einmal wieder anständig über die Dinge in unserem Land reden, aber nicht in
diesem Ton zum Thema Antisemitismus.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({19})
Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Sebastian Edathy. - Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Eine kurze Vorbemerkung zu etwas, das mir heute aufgefallen ist und worüber im Ältestenrat einmal gesprochen werden könnte: Wenn die Aktivitäten einer Fraktion in diesem Haus zur Debatte gestellt werden, die bei
einer Aktuellen Stunde von zwölf Rednern nur einen
Redner bzw. eine Rednerin benennen darf, wäre es dann
nicht sinnvoll, ein anderes Verfahren zu finden?
({0})
Ich fände das sowohl den Linken als auch den Grünen,
auf die das zutrifft, gegenüber fair. Das wäre jedenfalls
fairer als die bisherige Vorgehensweise.
Das mindert aber nicht meine inhaltliche Kritik an der
Linkspartei. Wir alle in diesem Hause sollten sehr stark
aufpassen, nicht zu selbstgerecht zu sein. Es ist natürlich
richtig, dass man Probleme beim Namen nennt. Es muss
selbstverständlich sein, dass es beim Thema Antisemitismus keine Zweideutigkeit, sondern nur Eindeutigkeit geben darf. Herr Kurth, man muss daher klar sagen: Sich
gegen Antisemitismus auszusprechen, macht man nicht,
um das Ansehen des Landes zu schützen. Das macht
man aus Selbstachtung als demokratischer Staatsbürger.
Das ist eine Frage der demokratischen Selbstachtung.
Das ist keine Frage der Fremdwahrnehmung, sondern
der Eigenwahrnehmung.
({1})
Ich habe mit Interesse gelesen, dass der Parteivorstand der Linken am Wochenende ohne Gegenstimmen,
wie betont wurde, unter anderem erklärt hat:
Beschlusslage der Linken ist, „dass Deutschland …
eine besondere Verantwortung gegenüber Israel und
gegen jede Art von Antisemitismus … hat …“
Nun kann man die Realität leider durch Beschlüsse
alleine weder bestimmen noch ändern.
({2})
Ich habe mit Interesse gelesen, dass dem geschäftsführenden Vorstand der Linkspartei unter anderem die Bundestagskollegin Christine Buchholz angehört. Frau
Buchholz hat im Jahr 2006 der Zeitung Junge Welt ein
Interview gegeben, in dem sie unter anderem Folgendes
sagte:
Israel führt Krieg auch im Interesse der USA …
Auf der anderen Seite stehen in diesem Konflikt die
Hisbollah, die Friedensbewegung in Israel und die
internationale Antikriegsbewegung. Das ist die
Seite, auf der auch ich stehe.
Auf der Seite der Hisbollah. Ich halte es für eine unmögliche Aussage, sich auf die Seite einer terroristischen Organisation zu stellen.
({3})
Dann sagt Frau Buchholz weiter:
Raketenangriffe auf die Zivilbevölkerung
- gemeint ist die in Israel lehne ich ab und halte sie für kein taugliches Mittel,
um die Besatzung zu beenden.
Wie ist denn das zu interpretieren? Wären sie ein - in
Anführungszeichen - taugliches Mittel, dann wären
diese Raketenangriffe anders zu bewerten? Was soll eine
solch abstruse, unglaubliche Aussage? Dann kommt der
Satz:
Die Dämonisierung der Hisbollah ist Teil der ideologischen Kriegsführung. Die Linke sollte dabei
nicht mitmachen.
Frau Buchholz ist geschäftsführendes Mitglied im Bundesvorstand der Linken. Das steht in diametralem Gegensatz zu dem, was Sie der Öffentlichkeit seit dem Wochenende zu verkaufen versuchen.
({4})
Frau Buchholz gibt auf ihrer Homepage im
August 2010 - da war sie bereits im Bundestag - einen
offenen Brief des früheren Kollegen Norman Paech, der
immerhin bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion war, an den israelischen Botschafter wieder.
({5})
Herr Paech schreibt:
Ist Ihre Regierung angesichts der eigenen furchtbaren Geschichte so vollkommen unempfindlich geworden gegenüber dem menschlichen Leid, welches durch den willkürlichen Raub der Heimat den
eigenen Nachbarn angetan wird?
Was will Herr Paech damit sagen? Kann man die Judenverfolgung im Dritten Reich mit dem Umgang Israels
mit den Palästinensern vergleichen?
({6})
Auch das ist ein völliger Fehlgriff eines früheren Kollegen, auf den sich Frau Buchholz bezieht.
Auf der Homepage von Herrn Gehrcke, dem aktuellen außenpolitischen Sprecher, findet sich unter anderem
ein Bericht über eine Israel-Reise. Der Bericht hat
21 Seiten. Darin gibt er ein Gespräch mit einer palästinensischen NGO wieder. Zitat Gehrcke:
Die Gesprächspartner wünschten sich … eine Politik des Boykotts und der Sanktionen gegen Israel.
Das steht dort ohne jeden Kommentar von Herrn
Gehrcke, eine schlichte Wiedergabe. Ich sage Ihnen:
Wer als deutscher Parlamentarier einen Bericht über eine
Parlamentarierreise schreibt, sich auf abstruse, ungeheuerliche Forderungen bezieht und es nicht für nötig hält,
diese Forderungen in seinem Bericht zu kommentieren,
ist entweder indifferent oder macht sich die Position seiner antiisraelischen Gesprächspartner zu eigen.
({7})
Das ist das Problem der Linkspartei.
({8})
Noch ein Wort zum Schluss. Es gibt noch viele andere
Beispiele, aber ich will nur auf Frau Höger hinweisen.
Frau Höger war 2005 und 2006 stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken. Seit 2005 ist sie Mitglied
im Bundestag. Frau Höger hat in einem Beitrag auf ihrer
Homepage geschrieben, im Gazastreifen seien die Synagogen als Symbole der Besatzung in Brand gesteckt
worden. Frau Höger schreibt auf ihrer Homepage unter
anderem den folgenden Satz:
Die Komplizenschaft aller Bundesregierungen mit
Israel seit Adenauer muss aufgedeckt werden.
({9})
Frau Groth, menschenrechtspolitische Sprecherin,
sagte am 24. Februar dieses Jahres nicht irgendwo, sondern hier im Bundestag wörtlich:
Die israelische Friedensbewegung „Gush Shalom“
veröffentlichte in der Tageszeitung Haaretz am
18. Februar 2011 folgendes Inserat: Das ägyptische
Volk kämpft tapfer für die Menschenrechte. Die israelische Knesset kämpft tapfer darum, die Menschenrechte abzuschaffen.
Diese Position hat sich Frau Groth hier im Bundestag
mit diesem Zitat zu eigen gemacht.
Ich will Ihnen abschließend sagen: Ich habe noch ein
bisschen Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. Es gibt
einen Arbeitskreis in Ihrer Parteijugend, der sich gegen
Antisemitismus und für eine gute Zusammenarbeit mit
Israel einsetzt. Dieser Arbeitskreis hat am 19. Mai veröffentlicht:
Bereits vor zwei Wochen haben wir in einem Brief
an die Partei- und Fraktionsführung auf die in den
letzten Monaten extrem angestiegenen antisemitischen Vorfälle hingewiesen. Bis heute haben wir
keinerlei offizielle Rückmeldung erhalten.
Dies ist symptomatisch für den Umgang mit der
Problematik des Antisemitismus von links: Zwar
werden solche Vorfälle immer wieder durch Teile
der Parteiführung klar kritisiert, eine genaue Analyse der Problematik und konkrete Auseinandersetzung findet allerdings bis heute nicht statt.
Lassen Sie diese Analyse stattfinden!
({10})
Antisemitismus - das wissen wir alle - ist Realität in
diesem Land, aber wir dürfen diese Realität niemals als
Normalität betrachten, und schon gar nicht dürfen das
linke Parteien, wenn sie denn wirklich links sein wollen.
({11})
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
unser Kollege Michael Kretschmer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hätte
erwarten können oder müssen, dass nach all dem, was
gesagt und auch in der Zeitung berichtet worden ist, die
Rednerin der Linken heute hier zumindest eine deutliche
Distanzierung von den Vorwürfen, die erhoben worden
sind, und eine Klarstellung vornimmt. Das ist nicht passiert, und das müssen wir hier erst einmal feststellen.
({0})
Glücklicherweise haben sich die Zeiten sehr geändert.
Ich als ehemaliges DDR-Kind erinnere mich schon noch
sehr genau an die Israel-Feindlichkeit der SED und der
DDR insgesamt.
({1})
Heute kommen die Dinge anders ans Licht und werden
auch von den Medien aufgegriffen. Es gibt eine freie
Wissenschaft, die die Dinge regelmäßig beleuchtet.
Wenn in einer Partei, die im Deutschen Bundestag
vertreten ist, Mitglieder Israel und Iran gleichsetzen, Raketenangriffe auf Israel rechtfertigen, zum Boykott israelischer Produkte aufrufen oder Hakenkreuze mit dem
Davidsstern auf der eigenen Homepage dulden
({2})
oder, wie wir gehört haben, die Hisbollah oder die Hamas unterstützen, dann ist das keine Kleinigkeit, dann ist
das ein riesiger Skandal.
({3})
Hinter dieser scheinbar rein antiisraelischen oder antizionistischen Politik und Propaganda lugt eben doch die
hässliche Fratze des Antisemitismus hervor. Deswegen
ist es richtig, dass wir hier heute darüber reden. Antisemitismus ist verfassungsfeindlich. Im ersten Artikel
unseres Grundgesetzes steht ganz klar:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Deswegen muss sich jeder Demokrat von ihm ganz klar
distanzieren.
Es ist auch so, dass die Ränder beim Extremismus
sich berühren und dass die Dinge bei Rechtsextremisten
und Linksextremisten sich auf ganz eigenartige Weise
ähneln. So ist es auch in der Sprache und der Propaganda.
({4})
Vieles von dem, was hier gesagt worden ist, hätte man
auch von dem anderen Rand hören können.
({5})
Das ist auch ein klarer Grund dafür, dass wir niemals
gemeinsam mit der Linkspartei gegen Rechtsextremismus demonstrieren können.
({6})
Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hätte, dass es
hier nicht darum geht, gegen Rechtsextremismus vorzugehen, weil man eine tiefe demokratische Überzeugung
hat, weil die Demokratie ein universeller Wert ist, sondern einzig und allein darum geht, sich selber parteipolitisch in den Vordergrund zu spielen, dann ist er mit
dieser ganzen Debatte erbracht. Das müssen wir als Demokraten aufdecken.
({7})
Das ist auch der Unterschied zu den anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Was wäre bei den
Grünen, bei der SPD, bei der CDU/CSU oder bei der
FDP los, wenn es solche Vorkommnisse in dieser Massivität gegeben hätte? Was wäre in der deutschen Öffentlichkeit los, wenn dort solche Vorwürfe erhoben worden
wären? Es wäre nicht auszuhalten! Und hier sitzt eine
Partei, ruhig, konzentriert, lässt das alles über sich ergehen und ignoriert diese ganzen Dinge.
({8})
Meine Damen und Herren, hier gibt es einen großen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und der
Linkspartei, und das muss man auch immer wieder deutlich machen.
({9})
- Meinungsfreiheit ist etwas ganz Wichtiges, wie auch
die Pressefreiheit und die Tatsache, dass solche Dinge
tatsächlich in die Zeitung kommen, dass wir darüber
sprechen und dass sie nicht einfach weggewischt werden
können. Das ist ein unglaublicher Wert.
Meine Damen und Herren, es ist ganz klar: Wenn die
Linkspartei glaubwürdig sein will, dann muss sie Inge
Höger aus der Fraktion ausschließen.
({10})
Das würde bei jeder anderen Fraktion im Deutschen
Bundestag geschehen. Daran kann man auch alles Weitere ablesen. Natürlich ist die Frage richtig: Wie verhält
sich ein Parteivorsitzender? Wie verhält sich insbesondere die Parteiführung? Wie geht man mit solchen Skandalen um?
Ich habe auch die Bitte, dass der Rest des Parlaments
nicht auf dem linken Auge blind ist.
({11})
Wir - außer der Linkspartei - haben heute eine Debatte
geführt, die von großer Einigkeit geprägt ist. Das gilt
auch für andere Politikfelder. Die Linkspartei, meine Damen und Herren, wird vom Verfassungsschutz beobachtet, sie muss sich regelmäßig Vorwürfe gefallen lassen,
nicht nur von den anderen Parteien, sondern auch von
Wissenschaftlern und Journalisten, was Antisemitismus
angeht. Mit solch einer Partei darf man nicht zusammenarbeiten. Mit solch einer Partei darf man auch keine Regierung bilden.
({12})
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
unser Kollege Philipp Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte ich fragen, wo eigentlich Herr Gysi in der heutigen Debatte ist und wo
auch Frau Pau ist;
({0})
denn ich habe aus der Zusammenarbeit hier in diesem
Haus bei vielen Initiativen, Aktionen und Diskussionen,
gerade auch dann, wenn es darum ging, Solidarität mit
Israel zum Ausdruck zu bringen, die beiden häufig als
sehr positiv wahrgenommen. In der Jüdischen Allgemeinen liest man regelmäßig Anzeigen, auch von Frau Pau.
Dass sie heute nicht da ist, hat, glaube ich, einen Grund:
({1})
weil es ihr einfach peinlich ist, mit Ihnen in einen Topf
geworfen zu werden.
({2})
- Gut, danke für diese Zusatzinformation.
({3})
Ich finde es allerdings lobenswert, dass Frau Kipping
- ich habe mir angeschaut, wie die Reaktionen Ihrerseits
auf die einzelnen Beiträge waren - als eine der wenigen
zwischendurch geklatscht hat, als es darum ging, sich
von Meinungsäußerungen Ihrerseits zu distanzieren. Das
war sehr mutig, Frau Kipping. Dieses Lob haben Sie
heute ausnahmsweise von mir bekommen, während ich
Ihnen in anderen Politikfeldern widerspreche. Aber es
gehört wirklich Mut dazu, sich einem solchen Sumpf, in
dem Sie gerade sitzen, entgegenzustemmen und hier
auch sichtbar Zeichen dagegen zu setzen.
({4})
Selbstverständlich, Frau Jochimsen, ist es ein „Zufall“, dass das Flugblatt auf Ihrer Homepage war.
({5})
Das ist - ja, natürlich - eine „Straftat“ - und das hat
wohl überhaupt nichts damit zu tun, dass irgendjemand
aus Ihren Reihen so etwas denken könnte.
Es sind viele Kleinstpuzzleteile zu einem gut sichtbaren Gesamtbild zusammengesetzt worden. Da können
Sie, Herr Gehrcke, sonstwas in Ihrem Buch - Sie haben
es mir selbst geschickt - schreiben. Aber dem stehen
auch andere Aussagen gegenüber, die Sie tätigen, und
dem stehen gravierende Verfehlungen gegenüber.
Frau Höger, Sie haben vorhin für all die Vorwürfe gegen Ihre Person und die Fehler, die Sie gemacht haben,
nur ein Grinsen übrig gehabt. Das kann ich wirklich
nicht verstehen. Sie freuen sich geradezu darauf, dass
vielleicht bald eine neue Gaza-Flottille den Weg aufnehmen wird. Da frage ich Sie: Werden Sie dann als deutsche Bundestagsabgeordnete wieder dabei sein oder
nicht?
({6})
Da erwarte ich schon, dass der Fraktionsvorsitzender der
Linkspartei, Gregor Gysi, seine Fraktionsmitglieder
nicht per se in Schutz nimmt, sondern sich klar distanziert. Das hat er nicht gemacht. Er hat gesagt: „Das ist irgendwie alles in Ordnung“, und hat sich schützend vor
die einzelnen Fraktionsmitglieder gestellt. Da erwarte
ich von Ihrem Spitzenpersonal noch deutliche Absetzbewegungen, indem gesagt wird: So etwas wie die GazaFlottille ist nicht in Ordnung. Denn es hat sich dabei
nicht um irgendetwas gehandelt, sondern um einen gravierenden Vorgang der asymmetrischen Kriegsführung.
Das war eine Vorstufe zu einem terroristischen Akt. Das
ist keine friedliche Demonstration gewesen. Jeder, der
sich im Rahmen dieser Flottillen-Aktion bewegt hat,
weiß - ({7})
- Nein, das war kein Aufbrechen einer Blockade, sondern das war die Vorbereitung zu terroristischen Handlungen. - Um eines ganz klar zu sagen: Jeder, der dort
mitgefahren ist, hat vorher gehört, was Bülent Yildirim,
als die Flottille losgefahren ist, gesagt hat: „Israel verhält
sich, wie Hitler sich gegenüber den Juden verhalten hat.
Hitler baute Konzentrationslager in Deutschland, und
heute baut das zionistische Gebilde Konzentrationslager
in Palästina.“ So Herr Yildirim. Da sage ich Ihnen, Frau
Höger, ganz klar: Spätestens da hätten Sie sagen müssen:
Ich steige aus dieser Aktion aus.
({8})
Das Engagement für die Palästinenser in allen Ehren,
aber es gibt klare Differenzierungen, und es gibt auch
Grenzen, die man nicht überschreiten darf.
Ich will gar nicht weiter darauf eingehen, was Frau
Buchholz gesagt hat. Wir haben hier schon oft die Verschwörungstheorien von Frau Buchholz gehört. Das offenbart nur das dahinterstehende Gedankengebilde. Bei
Ihnen, Frau Höger, sind leider die Grenzen überschritten.
Das ist im Übrigen ein gesamtgesellschaftliches Problem, das auch tief in bürgerliche Schichten geht. Da
sollten wir uns gar nichts vormachen. Es ist doch egal,
ob es der Arbeiter am Fließband oder der Studienrat ist,
der verquere antisemitische Ansichten hegt. Es ist in diesem Fall vollkommen egal, welcher Herkunft jemand ist
oder unter welche soziologische Kategorien er fällt oder
welcher Partei er angehört. Das gibt es selbstverständlich auch in der CDU und in allen anderen Parteien. Dagegen müssen wir deshalb entschlossen vorgehen. So etPhilipp Mißfelder
was aber als Bundestagsabgeordneter zu proklamieren,
stellt einen Tabubruch dar, der sich nicht gehört.
Bei Ihnen sind die Grenzen zwischen Antiamerikanismus, Antizionismus und Antisemitismus einfach fließend, und Sie bedienen entsprechende Strömungen sukzessive.
({9})
Dagegen müssen Sie sich einfach stärker stellen: Ob nun
im Stadtrat von Herford, wo eine Ihrer Kolleginnen nicht
bereit war, Mittel für den Wiederaufbau der Synagoge zu
bewilligen - natürlich kann man sagen, das ist ja nur
eine Kollegin, aber trotzdem ist das ein gravierender
Vorgang; da müssen Sie aufstehen und dagegen kämpfen -,
oder bei noch gravierenderen Vorgängen wie in Duisburg. Wissen Sie, was in Duisburg - das entspricht übrigens dem gesellschaftlichen Klima an manchen Orten in
unserem Staat - los war? Die Polizei in Duisburg ist zu
jemandem, der bei einer Anti-Israel-Demo eine IsraelFlagge aus dem Fenster gehängt hat, hingegangen und
hat gesagt: Bitte nehmen Sie sie aus Sicherheitsgründen
wieder herein; wir können sonst nicht für Ihre Sicherheit
garantieren. - Die Linkspartei steht daneben und nennt
das Existenzrecht Israels - wie hat es Ihr Kollege in
Duisburg, Herr Dierkes, gesagt? - „läppisch“.
Ich muss ganz ehrlich sagen, meine Damen und Herren von der Linken: Antisemitismus ist ein Flächenphänomen bei Ihnen. Hier haben Sie noch ganz viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir unterstützen Sie, gerade
diejenigen, die es ernst meinen mit dem Existenzrecht
Israels, gerne dabei.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächster und letzter Redner in dieser Debatte ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Arnold Vaatz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir hätten diese Aktuelle Stunde sicherlich
nicht angemeldet, wenn es sich bei dem Phänomen des
Antisemitismus um eine im Rahmen der demokratischen
Meinungsvielfalt akzeptable oder tolerable Haltung handelte. In Wirklichkeit handelt es sich hier um ein geistiges Verbrechen. Das ist das Erste.
Das Zweite: Wir hätten vielleicht selbst dann nicht
diese aktuelle Debatte angemeldet, wenn es sich bei dem
Antisemitismus um eine zwar verbrecherische, aber
doch gesellschaftlich ungefährliche Haltung handelte.
({0})
Das Problem ist allerdings: Diese Haltung kann enormen
Schaden anrichten; denn einerseits - darauf haben mehrere Redner hingewiesen - ist diese Haltung leider tief
bei uns im Lande und in der Gesellschaft verwurzelt,
und andererseits wird ein Land, das um seine Existenz
kämpft, weil es von einer Übermacht an Hass und Aggression wie vielleicht kein anderes Land in der Welt
umgeben ist, ganz substanziell, existenziell durch Antisemitismus, wo auch immer in der Welt er auftritt, gefährdet. Deshalb ist die Diskussion so wichtig.
({1})
Drittens. Selbst unter all diesen Umständen hätten wir
vielleicht diese Aktuelle Stunde nicht gebraucht, wenn
es sich bei dem Antisemitismus der Linken um irgendeine verstreute Einzelmeinung handelte. Aber leider
geht aus der Studie hervor, dass die Kraft des Antisemitismus in der Partei der Linken zugenommen hat und
dass er die Partei stärker und stärker dominiert. Das ist
das eigentlich alarmierende Ergebnis dieser Studie, einer
Studie übrigens, die nicht wir in Auftrag gegeben haben.
({2})
Kein anderes Land als Deutschland hat eine größere
Verpflichtung, einer solchen Haltung entgegenzutreten
und eine neuerliche Gefährdung des Existenzrechts jenes
Volkes, das einmal von deutschem Boden aus vernichtet
werden sollte, zu verhindern. Demzufolge ist es unsere
Plicht, hierzu eine politische Debatte zu beginnen.
Herr Edathy, es ist selbstverständlich richtig, wenn
Sie sagen, dass es ein Gebot der Selbstachtung ist, sich
gegen Antisemitismus zu wehren. Aber es ist für uns
auch eine zwingende politische Verpflichtung; denn die
Konsequenzen einer Unterlassung wären katastrophal.
Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen der Linken, sich nicht mit denjenigen auseinanderzusetzen, die
diesen Vorwurf erheben, sondern aktiv darauf hinzuwirken, dass dieser Vorwurf Ihnen gegenüber in Zukunft
nicht mehr erhoben werden muss. Das bedeutet, dass Sie
sich eindeutig von denjenigen Ihrer Kollegen distanzieren, denen von meinen Vorrednern Aussagen nachgewiesen worden sind, die den Vorwurf des Antisemitismus
rechtfertigen. Stellen Sie sich also nicht gegen diejenigen, die das zur Sprache bringen, sondern gegen diejenigen, die das verursacht haben.
({3})
Dazu gehört auch, dass Sie sich wesentlich stärker als
bisher - das würde Ihr Engagement glaubwürdig machen mit Ihren eigenen antisemitischen Traditionen befassen
und diese aufarbeiten. Diese Traditionen beginnen bei
Karl Marx. Nun kann ich jemanden aus dem
19. Jahrhundert nicht für die Folgen, die seine Hetze12584
reien im 20. Jahrhundert haben, verantwortlich machen.
Das ist klar.
({4})
- Selbstverständlich auch Martin Luther. - Es gibt andere,
die regelmäßig darüber nachgedacht haben. Aber ich vermisse bei Ihnen bis heute eine aktive Auseinandersetzung
mit diesem Thema. Es geht noch weiter. Josef Stalin hat
nach dem Zweiten Weltkrieg die jüdische Bevölkerung,
so er ihrer habhaft werden konnte, in die Gegend von
Wladiwostok deportiert. Auch das ist nahezu unaufgearbeitet. Ein weiteres Beispiel. Der Slansky-Prozess hat
Anfang der 50er-Jahre in Prag mit eindeutig antisemitischem Hintergrund stattgefunden. Slansky und elf weitere Mitangeklagte wurden hingerichtet.
({5})
Ich weise auf diese Dinge nur deswegen hin, weil sich
Ihre Partei mit dieser Problematik niemals ernsthaft auseinandergesetzt hat. Sie verlieren demzufolge jede
Glaubwürdigkeit, wenn Sie diese Tradition heute verteidigen.
({6})
Ich möchte Ihnen als Nächstes empfehlen, dass Sie
sich der Bewertung eines Arbeitskreises Ihrer Partei mit
Blick auf eine Veranstaltung anschließen, die Frau Groth
und Frau Höger mit einer Knesset-Abgeordneten namens Hanin Zoabi am 5. April 2011 bei der linksextremistischen Zeitung Junge Welt durchgeführt haben. Dort
wurde definitiv gesagt, dass das Ziel dieser Abgeordneten nicht die Gleichberechtigung in Israel, sondern der
Kampf gegen Israel ist. Ihre parteiinterne Arbeitsgruppe
kommt zu dem Ergebnis, dass das nichts anderes gewesen sei als der Aufruf zur Auslöschung des Staates Israel. Das ist die Schlussfolgerung Ihres Arbeitskreises.
Wenn Sie Ihre Haltung, die Sie heute hier vertreten
haben, ernst nehmen, dann müssen Sie sich mit Ihren
Traditionen auseinandersetzen. Dann müssen Sie die
Abgeordneten, die diese Veranstaltung durchgeführt haben, aus Ihren Reihen ausschließen. Dann können wir
weiterreden.
({7})
Ich finde, das wäre nur folgerichtig.
Herr Kollege Vaatz.
Letzter Satz. Alle anderen Parteien sind mit denjenigen in ihren Reihen, die solche Positionen vertreten haben, genauso umgegangen. So erwarten wir das auch
von Ihnen.
Herzlichen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende
der Aktuellen Stunde; hiermit ist sie beendet.
Wir sind auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 26. Mai 2011,
8.30 Uhr, ein. Ich bitte Sie um Beachtung: Beginn ist bereits um 8.30 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.