Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
können heute Morgen ohne weitere Komplizierungen,
Ankündigungen, Mitteilungen oder Korrekturen gleich
in die Tagesordnung eintreten.
Ich rufe zunächst unsere Tagesordnungspunkte 24 a
bis c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht der Bundesregierung über die
Entwicklung und Zukunftsperspektiven der
maritimen Wirtschaft in Deutschland
- Drucksache 17/5572 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Torsten
Staffeldt, Dr. Martin Lindner ({1}), Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft als nationale Aufgabe
- Drucksache 17/5770 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Flagge zeigen für die maritime Wirtschaft
- Drucksache 17/5237 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto. Guten
Morgen!
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die maritime
Wirtschaft ist ein strategischer Zukunftsmarkt. Die Fraktionsanträge zeigen, dass dies parteiübergreifend so gesehen wird.
({0})
- Ich lobe Sie; Sie sollten zuhören.
({1})
- Es freut mich, dass Sie das auch so sehen. - Die Branche hat diesen politischen Rückhalt in den letzten beiden
Jahren besonders gebraucht und auch geschätzt.
Redetext
Die Krise hat alle Bereiche der maritimen Wirtschaft
vor große Herausforderungen gestellt. Heute können wir
sagen, dass die maritime Wirtschaft besser durch die
Krise gekommen ist, als dies von vielen - auch von der
Branche selbst - erwartet worden war.
Das Lob hierfür gehört natürlich zuallererst den Unternehmen selbst. Sie haben sich mit großer Konsequenz
und Anstrengung neu aufgestellt und sind nun gut auf
die Zukunft vorbereitet. Aber auch die Politik hat ihren
Teil dazu beigetragen. So hat sie in Zeiten der Krise
wirksame Hilfe für die gesamte Wirtschaft geleistet. Davon hat - übrigens überproportional - auch der maritime
Sektor profitiert. Die Instrumente wurden immer wieder
an dessen spezifische Bedürfnisse angepasst. Geholfen
hat aber vor allem auch eines: der starke Zusammenhalt
der gesamten Branche, der Unternehmer und der Arbeitnehmer, der Wirtschaft und der Politik.
Für den weiteren Zusammenhalt möchte ich an dieser
Stelle mit großem Nachdruck werben. Für mich, die
Bundesregierung und die Politik insgesamt ist dieser Zusammenhalt von großer Bedeutung. Dadurch wird das
erfolgreiche Engagement der Politik ermöglicht - in der
Vergangenheit wie auch in der Zukunft.
Dieses Engagement der schwarz-gelben Bundesregierung hat schon vorzeigbare Früchte getragen. Sie fügen
sich passgenau in das allgemeine Konzept der Regierungsarbeit ein.
Wir müssen einerseits konsolidieren, aber gleichzeitig
auch investieren. Wir setzen Schwerpunkte bei Ausbildung, Innovation, Forschung und Entwicklung. Wir
schaffen Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung.
({2})
- Nein, lieber Herr Kollege Herzog. Viele meiner Kollegen sind bereits beim Bundesparteitag in Rostock. Mir
persönlich liegt dieses Thema aber so am Herzen, dass
ich diese Debatte meinem Bundesparteitag vorziehe.
Herr Kollege Otto, ich vermute im Übrigen auch, dass
die Delegierten Ihren Auftritt jetzt im Augenblick live
verfolgen.
({0})
Selbstverständlich; alle sitzen vor dem Fernseher.
({0})
- Das passt ja zu Rostock.
Meine Damen und Herren, die schwarz-gelbe Bundesregierung hat die Förderung von Forschung und Entwicklung im Schiffbau bis heute um gut 30 Prozent und
in der mittelfristigen Finanzplanung um gut 50 Prozent
erhöht.
Wir haben die Innovationshilfen im Bereich des
Schiffbaus optimiert, was, glaube ich, von jedem gutgeheißen wird. Wir haben statt Darlehen jetzt Zuschüsse
gewährt und die Summe in der Höhe auch mehr als verdoppelt.
Durch die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der
Werften mit den erfolgreichen Exportförderinstrumenten
wurde die Gewinnung von Aufträgen in Höhe von insgesamt über 11 Milliarden Euro ermöglicht.
Die Investitionsmittel für Baukosten von Umschlaganlagen in Häfen zur Förderung des umweltschonenden
und innovativen kombinierten Verkehrs wurden von
2010 auf 2011 wieder deutlich erhöht. Wir haben die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Seehäfen und Häfen durch die Anpassung der Besteuerung von Landstrom verbessert.
({1})
- Ah. - Schließlich: Entwicklungsminister Dirk Niebel
hat dafür gesorgt, dass die Interessen der deutschen
Wirtschaft, ganz konkret auch der maritimen Wirtschaft,
in der Entwicklungszusammenarbeit wieder stärker berücksichtigt werden.
Im Rahmen der maritimen Koordinierung haben wir
gemeinsam mit Vertretern der Branche zukunftsweisende Konzepte erarbeitet. Ich denke etwa an den Nationalen Masterplan Maritime Technologien, der bei der
7. Nationalen Maritimen Konferenz vorgestellt werden
soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen diesen Erfolgen will ich nicht verhehlen: Es gibt natürlich noch einiges zu tun, und zwar in den Bereichen des Schiffbaus,
der Seefahrt - dabei ist insbesondere das Stichwort „Piraterie“ zu nennen -, der Häfen und der Meerestechnik,
aber auch des Umweltschutzes.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen zeigt viele richtige und gute Ansätze. Ich möchte mich ausdrücklich dafür bedanken. Auch in diesem Antrag wird die Bedeutung des von mir hervorgehobenen Zusammenhaltes der
Branche betont.
Das maritime Bündnis ist ein zentrales Element davon. Wir müssen und werden die anstehende Konferenz
- die, wie Sie wissen, in 14 Tagen in Wilhelmshaven
stattfinden wird; ich schaue den Wilhelmshavener Kollegen mit großer Freude an - dafür nutzen, dieses Bündnis
zu erneuern und zu stärken.
Ich appelliere an alle Beteiligten, sowohl an die einzelnen Branchen als auch in meiner Eigenschaft als Koordinator ganz deutlich an die gesamte Bundesregierung:
Lassen Sie uns Hand in Hand an weiteren Verbesserungen
der Rahmenbedingungen für die maritime Wirtschaft arbeiten. Die konjunkturellen Rahmenbedingungen stimmen. Der massive Ausbau der Offshorewindenergie und
der zunehmende Welthandel eröffnen konkrete Chancen
und Perspektiven. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam den
Impuls der 7. Nationalen Maritimen Konferenz nutzen,
um diese großen Chancen zugunsten der maritimen Wirtschaft zu ergreifen.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Uwe Beckmeyer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war zu erwarten, Herr Staatssekretär, dass Sie
das, was Sie gesagt haben, hier heute sagen würden. Was
bleibt Ihnen auch anderes übrig, als sich zu loben und
die Politik der Bundesregierung herauszustellen? Worte
sind Worte. Wir wollen aber Handlungen seitens der
Bundesregierung sehen. Das erwarten nicht nur wir Sozialdemokraten, sondern auch die maritime Branche insgesamt.
Es sollte Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass in
den letzten Monaten auch bei Ihnen im Hause, bei uns allemal, unzählige Briefe der Branche angekommen sind,
in denen von ihrer Sorge die Rede war und in vielerlei
Hinsicht gesagt wurde: Liebe Freunde in der Bundesregierung, wir erwarten von euch ein Mehr an Handlungen,
ein Mehr an Strategie und ein Mehr an absichtsvollem
Handeln, unterlegt auch durch Haushaltsmittel und eine
klare Strategie für die maritime Branche. - Hierzu gehört
vor allen Dingen auch, dass der Partner Bundesregierung
Zukunftsperspektiven erarbeitet und dass dies nicht allein
die Industrie tun muss. Das ist, wie ich glaube, der entscheidende Punkt. Gute Rahmenbedingungen zu schaffen, ist Ihre Aufgabe, als Koordinator allemal. Es reicht
nicht, nur zu moderieren, sondern Sie müssen auch aktiv
handeln. Das wird auch eingefordert.
Diese Frage - das will ich auch in Richtung einiger
anderer Mitglieder der Bundesregierung sagen - ist nicht
nur eine exklusive Angelegenheit der Küste, sondern das
betrifft auch viele Branchen, die zum Teil weit im Binnenland angesiedelt sind. Viele Exportaufträge werden
durch Unternehmen aus Baden-Württemberg und Bayern abgearbeitet. Wir haben es hier mit einem Wachstumsmotor besonderer Güte zu tun. Ich glaube, dass allein 40 Prozent des Umsatzes der maritimen Industrie
- diese Zahl ist jedenfalls wiederholt aus der Bundesregierung genannt worden - in küstenfernen Bundesländern erwirtschaftet werden.
Doch nun zu dem, was wir erwarten. Die maritime
Konferenz, die alle zwei Jahre stattfindet, nachdem sie in
Emden begründet wurde, steht jetzt in Wilhelmshaven
an. Diese Konferenzen sind ein guter Beleg dafür, dass
Staat und Wirtschaft erfolgreich ein Bündnis eingehen
können. Was ist seit der letzten Konferenz vor zwei Jahren in Rostock passiert? Die Situation in der Schifffahrtspolitik stellt sich außerordentlich beunruhigend
dar, weil - das ist das Entscheidende - plötzlich der
staatliche Partner, die Bundesregierung, in einer ganz
wichtigen Frage, in der Schifffahrtsförderung, die Haushaltsmittel halbiert hat. Das hat zur Konsequenz, dass
die Haushaltsmittel schon in diesem Jahr für das bereits
zugesagte Volumen nicht mehr ausreichen.
Es sind weitere beunruhigende Äußerungen aus den
Reihen der Bundesregierung zu vernehmen, aus dem Verkehrsressort und auch aus dem Wirtschaftsressort. Wenn
man mit Vertretern der Branche diskutiert, stellt man fest:
Das ist dort sehr negativ angekommen; die Beunruhigung
in der Schifffahrtsbranche ist groß. Es kommt darauf an,
dass die Bundesregierung in diesem Punkt wieder Zuverlässigkeit an den Tag legt. An dieser Zuverlässigkeit mangelt es zurzeit. Sie sind es, die zurzeit dieses maritime
Bündnis, das wir 2000 in Emden beschlossen und begründet haben, aufkündigen. Das ist außerordentlich bedauerlich.
({0})
Die FDP ist sicherlich die treibende Kraft dahinter;
das will ich nicht verhehlen. Die Fraktion ist ja heute
Morgen auf ihre wahre Größe geschrumpft. Das ist ein
weiteres Indiz dafür, dass Sie ein Scheinriese sind.
({1})
Gleichwohl will ich an dieser Stelle sagen: Die Branche
- auch die Bremer Branche, Herr Staffeldt - macht deutlich, dass die Beihilfen 2011 von 57 Millionen Euro auf
28,5 Millionen Euro reduziert worden sind und dass
diese Kürzung de facto bereits für das laufende Jahr einer kompletten Streichung gleichkommt, weil die Ansprüche aus 2010, die noch erstattet werden müssen, im
Folgejahr angerechnet werden. Das bedeutet, bereits in
diesem Jahr gibt es keine Beihilfen mehr. Angesichts
dessen kann ich nur sagen: Wenn man auf der einen
Seite von den Reedern erwartet, dass sie rückflaggen,
dann muss man auf der anderen Seite auch die Bereitschaft zeigen, die eigenen Bündnisverpflichtungen einzuhalten.
Das zweite Thema ist die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir bekommen aus allen Teilen dieser Republik, von allen Branchen, die sich mit der „wunderbaren Reform“, die Sie sich vorgenommen haben,
beschäftigen, Schreiben, in denen steht: Oh Gott, was
passiert da eigentlich? Sind die völlig durchgeknallt?
Sind die auf einem völlig falschen Weg? - Es scheint tatsächlich so. Die große CDU/CSU-Fraktion, die sich in
dieser Angelegenheit in einer unerträglichen Art und
Weise von ihrem kleinen Partner treiben lässt, kann keinen Kontrapunkt setzen. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Das müssen Sie aber tun, meine Damen und
Herren von der Regierungsfraktion CDU/CSU. Helfen
Sie endlich Ihrem Verkehrsminister; sonst führt diese
FDP Sie am Nasenring durch die Arena!
In dem Antrag der Regierungsfraktionen zur maritimen Wirtschaft, der heute vorliegt, finden wir erneut
eine bedrohliche Ankündigung. Sie wollen nicht nur die
Reform durchsetzen, sondern auf Seite 5 heißt es zudem
- wenn auch unter der Überschrift „Hafenwirtschaft und
Logistik“ -, dass ein Wasserstraßenausbaugesetz beschlossen werden soll. Das bedeutet doch, dass Sie dem
Bundesverkehrsminister das Thema Wasser- und Schifffahrtsverwaltung aus der Hand nehmen und ein eigenes
Gesetz machen wollen, dass er praktisch nicht mehr den
Versuch unternehmen kann, die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in einigermaßen ruhiges Wasser zu
führen. Nein, die FDP kommt plötzlich mit einem Wasserstraßenausbaugesetz, und Sie als größte Fraktion akzeptieren das auch noch. Da kann ich nur sagen: Hallo
wach! Passen Sie auf, was hier aktuell passiert!
({2})
Der dritte Punkt. Die IG Metall - dazu wird mein
Kollege Garrelt Duin gleich noch ausführlich kommen hat auf Ihre Beschwerde, Herr Staatssekretär, reagiert,
dass sie so kritisch mit Ihnen umgegangen sei. Ich
denke, das hat sie mit Recht getan. Wenn man sich anschaut, was die Bundesregierung bei der Finanzierung
von Schiffsneubauten in Deutschland erreicht hat, stellt
man fest, dass das verdammt wenig ist. Wir haben vor
einem Jahr gemeinschaftlich mit den Ländern und unter
Beteiligung aller relevanten Kräfte gesagt, dass wir uns
anschauen wollen, was in Europa in Sachen Schiffsfinanzierung geschieht. Was ist daraus eigentlich geworden? Nicht sehr viel. Es gibt viele Beispiele dafür, dass
in anderen Ländern wesentlich mehr gemacht wird, als
in Deutschland jemals, jedenfalls in Ihrer Regierungszeit, geschehen ist. Das ist beispiellos schlecht. Das, was
Sie momentan beim Schiffsbau als Erfolg der Bundesregierung reklamieren, ist in Wirklichkeit nicht Ihr Erfolg,
sondern der Erfolg der Branche, die sich gewehrt hat, die
einigermaßen findig war und sich in dieser Frage zum
Besseren entwickelt hat. Das liegt aber nicht an Ihnen,
sondern daran, dass die Akquisitionsbemühungen der
Branche von Erfolg gekrönt waren. Das ist das Beste,
was man an dieser Stelle für diese Branche feststellen
kann: dass sie angesichts der fehlenden Unterstützung
durch die Bundesregierung aus sich selbst heraus Kräfte
entwickeln konnte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Strategie bedeutet in der Industriepolitik auch, sich wie andere Länder in Europa zu positionieren. Im Bereich des Marineschiffsbaus fehlt mir das gänzlich.
Zum Thema Offshore. Bis zum heutigen Tag ist es
nicht gelungen - weil sich das FDP-geführte Wirtschaftsministerium offenbar immer noch durchsetzen
kann -, dass in die Möglichkeiten der Finanzierung und
der Hilfestellung für die Offshorekraftanlagen Errichterschiffe mit einbezogen werden können, also aus diesem
Topf mitfinanziert und unterhalten werden können. Lieber Herr Staatssekretär, die Branche versucht die ganze
Zeit, pausenlos, Sie dafür zu gewinnen, aber anscheinend ohne Erfolg. Stattdessen werden solche Schiffe in
Korea und in Polen gebaut, aber nicht in Deutschland.
({3})
Da kann ich nur sagen: Das ist wenig von Erfolg gekrönt. Also bedarf es auch hier einer aktiveren Art der
Unterstützung.
({4})
Sie merken, meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich habe heute bewusst versucht, mich mit dieser Fragestellung sachlich auseinanderzusetzen.
({5})
Diese Angelegenheit ist viel zu ernst, als dass man heute
Morgen hierüber in Polemik verfallen sollte. Denn das
betrifft zu viele Menschen und Schicksale, insbesondere
an der Küste, aber auch im Binnenland. Dieses besondere industriepolitische Feld muss aktiv und auch intensiv beackert werden. Es verdient, durch die Bundesregierung Rahmenbedingungen gesetzt zu bekommen. Aber
nicht nur ich habe den Eindruck, dass das mit der jetzigen Bundesregierung nicht gelingen kann.
Meine Damen und Herren, Herr Koordinator, das ist
das Entscheidende und leider auch Bedauerliche, was
wir vor der wichtigen Konferenz in Wilhelmshaven feststellen müssen, nämlich dass die Branche insgesamt verunsichert ist, dass die Branche unzufrieden mit den Leistungen ist und dass die Branche insgesamt sagt: So
nicht!
Wir - das ist mein Resümee - werden auch in dieser
Angelegenheit aktuell in Deutschland nicht gut regiert.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Eckhardt Rehberg
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, es ist das erste Mal, dass wir, im
Vorfeld einer maritimen Konferenz, in der Kernzeit des
Deutschen Bundestages über die maritime Wirtschaft
diskutieren. Ich freue mich, dass auch sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die nicht aus Norddeutschland
kommen, diese Debatte hier mit verfolgen.
Unser Antrag stellt in der Überschrift fest, dass dies
eine nationale Aufgabe ist. Ich glaube, ein gemeinsames
Signal sollte von hier ausgehen, nämlich dass die maritime Wirtschaft nicht nur für die Küste wichtig ist, sondern für ganz Deutschland. Dazu zählt zum Beispiel die
Zulieferindustrie im Schiffbau und in der Offshoretechnik. Drei Viertel der Unternehmen der Branche kommen
aus dem Süden Deutschlands. Auch unsere Häfen und
ihre Hinterlandanbindungen sind für die deutsche Exportindustrie wichtig.
Kollege Beckmeyer, ich glaube, wenn wir diesen
Konsens im Vorfeld der Konferenz von Wilhelmshaven
finden, dann geht ein starkes Signal vom Deutschen
Bundestag an die deutsche Gesellschaft aus.
({0})
Als wir vor zwei Jahren bei der 6. Maritimen Konferenz in Rostock zusammensaßen, war die Schlagzeile:
Rückgang des Welthandels um 10 Prozent. - Dabei war
eigentlich ein Aufwuchs von 10 Prozent erwartet worden. Die Charterraten brachen ein. Wir hatten noch vor
zwei Jahren über 500 Auflieger von Containern, Bulkern
und Tankern. Der deutsche Schiffbau musste Stornierungen von 60 Aufträgen in Höhe von über 2 Milliarden
Euro hinnehmen.
Herr Beckmeyer, die Politik hat sehr wohl gehandelt.
Allein aus dem Deutschlandfonds, der insgesamt
13 Milliarden Euro umfasste, sind 10 Prozent, 1,3 Milliarden Euro, in die maritime Wirtschaft geflossen, davon etwa 675 Millionen Euro für den Schiffbau. Die
Werften in Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere
eine Werft mit Sitz in Wolgast und Stralsund, sind auf einem sehr, sehr guten Weg und profitieren noch heute davon. Insofern ist Ihre Forderung, den Deutschlandfonds
weiterlaufen zu lassen, völlig daneben. Der Deutschlandfonds mit einer Verbürgung von 90 Prozent ist eine
tolle Sache; aber wenn man Kapitalkosten, von der EU
aufgedrückt, von über 10 Prozent tragen muss, dann
muss auch einmal Schluss sein. Wir müssen zur normalen Finanzierung zurückkehren.
({1})
Sie sagen, dass der Bund zu wenig tut. Ich will Sie
nur mit einer Tatsache konfrontieren: Die KfW IPEXBank, eine 100-prozentige Tochter der KfW Förderbank,
hat in den letzten Monaten Schiffsendfinanzierungen im
Umfang von 2,4 Milliarden Euro vorgenommen. Damit
wurde der Bau von 19 Schiffen ausländischer Reedereien finanziert; sie alle werden auf deutschen Werften
gebaut. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier
geht es um Ankerziehschlepper und Kreuzfahrtschiffe,
die in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg,
Bremen und Mecklenburg-Vorpommern gebaut werden.
Das heißt, der Bund wird hier seiner Verantwortung gerecht.
({2})
Zu den Finanzierungsinstrumenten, die wir haben. Ja,
Sie haben recht: Andere Länder finanzieren anders; aber
ich möchte nicht unbedingt das französische oder das
italienische System in Deutschland haben. Ich möchte,
dass wir Instrumente wie CIRR und Hermesbürgschaften nutzen. Wir haben sie genutzt; Staatssekretär Otto
hat die Zahl genannt. Wir haben allein in den letzten
zwölf Monaten im Haushaltsausschuss CIRR und Hermesbürgschaften im Umfang von 5,3 Milliarden Euro
beschlossen. Dadurch ist es möglich geworden, dass
zum Beispiel ein Auftrag über drei Kreuzfahrtschiffe im
Umfang von knapp 2 Milliarden Euro an Werften in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern gegangen
und eben nicht in Italien gelandet ist. Das ist die Politik
der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen für
den deutschen Schiffbau.
({3})
- Es ist nicht nur die Meyer-Werft; auch die NeptunWerft in Rostock-Warnemünde arbeitet daran mit.
Herr Beckmeyer, fragen Sie einmal Ihre Kolleginnen
und Kollegen im Haushaltsausschuss. Sie fordern hier
ein, dass wir gemeinsam maritime Politik machen. Ich
frage Sie: Warum hat dann die SPD dagegen gestimmt,
als der Entwicklungsminister Niebel uns einen Antrag
vorgelegt hat, ein Fährschiff für Indonesien zu bauen?
Man hätte damit die Rahmenbedingungen dafür setzen
können, dass mit deutschem Steuergeld auf deutschen
Werften OECD-konform gebaut wird. In den 70er- und
80er-Jahren waren Sie dafür, heute sind Sie dagegen. Sie
werfen uns vor, wir täten nicht genug für den Schiffbau,
aber Sie stimmen selber dagegen, dass deutsches Steuergeld verwendet wird, damit Schiffe auf deutschen Werften gebaut werden. Herr Beckmeyer, Sie sind an dieser
Stelle schlichtweg unglaubwürdig.
({4})
- Kollege Bartsch, ich konstatiere: Die Linken haben dafür gestimmt. Das ist richtig; da muss man der Wahrheit
die Ehre geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
über maritime Industrie und maritime Technik reden,
dann dürfen wir den Blick nicht auf den Haushalt des
Wirtschaftsministeriums verengen. Hier ist nicht gekürzt
worden; es sind Aufwüchse zu verzeichnen, etwa bei
den Innovationsbeihilfen. Herr Beckmeyer, es ist in der
letzten Legislaturperiode mit der SPD nicht gelungen,
diese Beihilfen als Zuschüsse auszureichen. Das ist erst
in der christlich-liberalen Koalition gelungen; das haben
die Haushälter miteinander vereinbart. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt für die Branche.
Ich will deutlich machen, dass es im Haushalt des
Bundesforschungsministeriums Mittel für ein Projekt
namens „POLAR“ gibt: 14 Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus Mecklenburg-Vorpommern
haben den Auftrag erhalten, technische Systemlösungen
im Baukastensystem für Transport, Lagerung und Verarbeitung von Rohstoffen und Energieträgern aus der arktischen Region zu entwickeln. Wenn wir uns solchen
Themen zuwenden und dafür Fördermittel bereitstellen,
dann wird die maritime Branche eine Zukunft haben.
Wir gehen mit einer Forderung zu 100 Prozent konform: Es muss gelingen, dass mit dem 5-MilliardenEuro-Programm der KfW nicht allein die Windparks gefördert werden, sondern auch - ich fasse das ein bisschen weiter - technische Anlagen und Güter, die der
Errichtung, dem Bau und der Wartung dieser Offshorewindparks dienen. Es kann nicht sein, dass wir als Bund
nur den Bau der Windkraftanlagen unterstützen. Alles,
was dazu gehört, befindet sich ebenso in einer schwierigen Situation. Deswegen findet sich diese Forderung
auch in unserem Antrag.
Aus meiner Sicht war das Jahr 2006 - mit Beschluss
und Vollendung im Jahr 2008 - nicht gerade eine
Sternstunde der deutschen Politik. Damals wurde in der
Anlage VI des MARPOL-Übereinkommens beschlossen,
dass sich die zügige Reduzierung von Schwefeldioxidemissionen nur auf Nord- und Ostsee beschränkt
und die Irische See und das Mittelmeer ausgenommen
werden. Herr Beckmeyer, meine sehr verehrten Damen
und Herren von SPD und Grünen, wer eine solche Politik
verfolgt und die Standards nur sehr selektiv setzt, der
wird für Probleme sorgen. Auf ein solches Problem sind
Sie weder in Ihrem Antrag noch eben in Ihrer Rede
eingegangen. Für Union und FDP mache ich an dieser
Stelle deutlich: Wenn Politik ordnungsrechtlich etwas
beschließt, dann muss es auch möglich sein, dies
umzusetzen.
({5})
Es muss möglich sein - Herr Kollege Beckmeyer, das
ISL in Bremen hat, das steht außer Frage, ein hohes Renommee und steht für Seriosität -, dass die Vorgaben
umgesetzt werden. Wir sagen Ja zu praxistauglichen Lösungen. Nach Aussagen der ISL Bremen werden ab
2015, wenn nur noch 0,1 Prozent Schwefelanteil im Diesel erlaubt ist, 600 000 Lkw zwischen Kiel und Tallinn
bzw. Rostock und Tallinn hin- und herfahren, weil die
Güter nicht mehr auf Fähren transportiert werden. Das
kann doch nicht sein.
({6})
- Wir müssen das reparieren, was Sie 2006 und 2008 in
den Dreck gefahren haben. Sie haben vorschnell zulasten der deutschen Seeschifffahrt Beschlüsse initiiert und
mitgetragen. Das müssen wir jetzt reparieren, Herr Kollege Beckmeyer, das ist das Thema.
({7})
Wenn man die letzten zwei Jahre betrachtet, dann
stellt man fest: Die maritime Wirtschaft ist nicht ganz
aus der Krise heraus. Aber man muss auch feststellen:
Wie sie sich selbst aus der Krise herausgezogen hat, mit
den Rahmenbedingungen, die die Politik in Deutschland
gesetzt hat, ist aller Ehren wert.
Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung zum
maritimen Bereich machen. Der maritime Bereich lebt
von Tradition, von der Moderne und auch von der Zukunft. Lassen Sie mich mit aller Ruhe und allem Bedacht
sagen: Zum traditionellen maritimen Bild Deutschlands
gehört auch die „Gorch Fock“. Die Vorfälle müssen aufgeklärt werden, und es müssen Veränderungen vorgenommen werden. So, wie die „Gorch Fock“ in den letzten Jahrzehnten das deutsche maritime Bild im Ausland
geprägt hat, so wünsche ich mir, dass sie es auch in Zukunft prägen wird.
Herzlichen Dank.
({8})
Dietmar Bartsch ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Zukunft der maritimen Wirtschaft in
Deutschland. Der ehemalige Wirtschaftsminister ist in
Rostock. Der neue Wirtschaftsminister ist in Rostock.
Das könnte ein gutes Zeichen sein, aber die haben ganz
andere Probleme.
({0})
Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, dass es der maritimen
Wirtschaft nie so schlecht gehen wird wie aktuell der
FDP.
({1})
Es ist unstrittig, dass der Schiffbau und die maritime
Wirtschaft generell sehr wichtig für unser Land sind. Da
hat der Kollege Rehberg völlig recht. Sie sind enorm
wichtig, nicht nur für die Küstenländer. Aber entgegen
der Behauptung von Herrn Otto und der Bundesregierung befindet sich der Wirtschaftszweig weiterhin und
gerade in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern in der Krise. Er ist nicht durch die Krise gekommen. Eigentlich befinden wir uns in einer permanenten
Krise.
({2})
Es gab einmal einen Wirtschaftsminister von
Schwarz-Rot - die Älteren erinnern sich vielleicht, er
hieß zu Guttenberg -, der im Krisenjahr 2009 in Rostock
verkündete, dass Deutschland weiter zu einem maritimen Hightechstandort ausgebaut werden müsse. Ich zitiere:
Aktuell kommt es darauf an, die Folgen der Krise in
den maritimen Bereichen durch kurzfristig wirkende Maßnahmen zu überbrücken. Ebenso gilt es,
irreparable Schäden und strukturelle Verwerfungen
zu vermeiden. Die Bundesregierung wird diesen
Weg weiterhin politisch flankieren.
Das sagen Sie einmal den 2 300 Wadan-Yards-Beschäftigten, die in eine Transfergesellschaft gegangen sind
und für die danach nichts passiert ist. Da hat Beckmeyer
recht: Es ist bei den Ankündigungen geblieben. Das ist
die Realität. Es bleibt nur zu hoffen, dass der neue Wirtschaftsminister in dieser Frage nicht nur ein Ankündigungsminister ist.
Die Bundesregierung behauptet, der Bundes- und Landespolitik sei es gemeinsam gelungen, den Kernbestand
der Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern zu erhalten. Ich will Ihnen einige Fakten nennen: Die Zahl der Beschäftigten auf den Werften in Mecklenburg-Vorpommern
lag im Jahre 1990 bei 30 500 Personen. Heute sind auf den
vier größten Werften noch 2 700 Menschen beschäftigt.
Ich habe über die Transfergesellschaft gesprochen.
Die Situation der Werftstandorte in Wismar und Warnemünde - das sagt die IG Metall - ist die mit Abstand
wichtigste Ursache für die negative Entwicklung bei den
Arbeitsplätzen im Schiffbau in Deutschland. Der Containerschiffbau ist endgültig Geschichte mit allen Konsequenzen. Das gehört auch zur Wahrheit über den Werftenstandort Mecklenburg-Vorpommern.
Der entscheidenden Fragestellung geht die Bundesregierung aus dem Weg. Die Beschäftigten in den Bundesländern - und zwar in allen, nicht nur in MecklenburgVorpommern - wollen wissen: Sind unsere Arbeitsplätze
dauerhaft sicher? Haben wir eine Zukunftsperspektive in
unserer Heimat? Hier lautet die Frage: Will die Bundesregierung alle Werftenstandorte langfristig sichern?
Wenn ja, dann muss sie erklären, wie das geschehen soll.
Sicherlich ist die Politik nicht allein verantwortlich.
Es gibt viele Ursachen für die Krise in der Werftindustrie; die Gründe liegen auch nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Es gab Versäumnisse und Fehler im Management, falsche Unternehmensstrategien;
Forschung und Entwicklung sind vernachlässigt worden.
Vor allem aber fehlt es an einer schlüssigen, langfristigen politischen Strategie. Wenn das Bekenntnis zur maritimen Wirtschaft ernst gemeint ist, dann kann die Politik die Zukunftsantworten für die maritime Industrie
nicht allein dem Markt überlassen.
({3})
Wir brauchen eine Strategie, die den Besonderheiten der
Schiffbauindustrie Rechnung trägt. Die vorhandenen
Standortvorteile müssen ausgebaut werden.
Die Finanzierung ist eines der Schlüsselprobleme.
Die Bundesregierung schreibt stolz, dass sie sich gegen
die Forderung aus den Ländern ausgesprochen hat, die
den Erhalt der Unterstützungsinstrumente für den Schiffbau beinhaltet. Das ist falsch. Sie kürzen die Haushaltsmittel. Das ist eine politische Fehlentscheidung und
nicht gut für die Standorte der maritimen Industrie.
({4})
Deswegen fordern wir, dass alle beihilferechtlichen
Möglichkeiten ausgeschöpft und weiter angeboten werden müssen. Auch die Festsetzung der maximalen Bürgschaftsquote für Bürgschaften des Bundes und der Länder bis zu 90 Prozent muss weiterhin möglich sein, Herr
Rehberg, um die Standorte zu erhalten.
Wir müssen nicht bei den Banken betteln. Das Problem ist doch, dass wir immer Geld für systemrelevante
Banken und systemrelevante Kreditinstitute haben. Für
Mecklenburg-Vorpommern - und das weiß jeder Abgeordnete einschließlich der Bundeskanzlerin - ist die maritime Wirtschaft eine systemrelevante Wirtschaft, ohne
deren spürbare Stärkung und zuverlässige Modernisierung das Land nur schlecht existieren kann. Deswegen
muss rasch, unbürokratisch und in der erforderlichen
Höhe finanziert werden, wenn Aufträge realisierbar sind.
Wir als Linke unterstützen darum, dass die KfW in einem Zukunftskonzept entsprechend eingebunden wird.
Sie muss hier eine wichtige und ausgeprägte Rolle spielen.
Unsere Forderung lautet ganz klar: Regierungshandeln ist erforderlich, nicht nur Worte. Wir können nicht
mit Dumpinglöhnen arbeiten, sondern müssen auf gute,
faire Löhne für Spitzenkräfte und auf Spitzenqualität in
unserem Land setzen. Das müssen wir mit den entsprechenden Haushaltsmitteln unterstützen. Es wäre nötig,
dieses Signal vor der Konferenz in Wilhelmshaven zu
geben.
Danke schön.
({5})
Die Kollegin Valerie Wilms ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute
über die maritime Wirtschaft reden, gerade im Vorfeld
der nationalen maritimen Konferenz Ende des Monats
- in 14 Tagen ist es so weit - in Wilhelmshaven. Auch
wir Grünen sind uns bewusst: Ein Exportland wie
Deutschland ist auf eine leistungsfähige Schifffahrt angewiesen. Wir brauchen gute Häfen. Wir brauchen eine
vernünftige Hinterlandanbindung. Auch wir wollen
Know-how in Deutschland halten und setzen auf die Fähigkeiten guter Ingenieurinnen und Ingenieure im
Schiffbau und beim Ausbau der Windkraft. Aber diese
schönen Bekenntnisse, die auch meine Vorredner teilweise gemacht haben, reichen nicht aus, wenn die Zielrichtung fehlt.
Wenn man den Koalitionsantrag und den Bericht der
Bundesregierung liest, wird ein ganz seltsames Muster
Ihrer Arbeit deutlich: Es wird viel angekündigt, und es
werden Verpflichtungen eingegangen; aber wenn es an
die konkrete Umsetzung geht, wird laviert und verzögert. Am Ende weiß keiner mehr, wofür Sie stehen. Die
einzige Linie, die erkennbar bleibt, ist die standhafte
Weigerung, eine umweltfreundliche und klimaschonende Schifffahrt Realität werden zu lassen.
({0})
Nehmen wir nur das Beispiel der sauberen Treibstoffe. Es gibt ein internationales Abkommen, das maßgeblich von Deutschland vorangetrieben wurde. Schwefelarme Treibstoffe sollen zumindest in Nord- und
Ostsee stark schwefelhaltiges Schweröl ersetzen. Auch
Amerika hat sich auf diesen Weg begeben. Das ist eine
vernünftige und dringend notwendige Maßnahme zum
Schutz von Gesundheit, Meer und Klima.
({1})
Die fahrenden Müllverbrennungsanlagen auf See
müssen endlich abgelöst werden.
({2})
Dazu müsste sich die Schifffahrt umstellen. Das ist keine
Frage. Die Fristen dafür sind schon lange bekannt. Eine
verantwortungsbewusste Regierung würde jetzt zu einem internationalen Abkommen, das Deutschland geschlossen hat, stehen. Aber was machen Sie? Sie lassen
sich lieber auf die Vorhersagen einer - Entschuldigung,
dass ich das so drastisch sagen muss - halbgaren Studie
ein, die das Ende der Ostseeschifffahrt heraufbeschwört.
({3})
- Herr Staffeldt, beim besten Willen:
({4})
Ich habe bei der von Ihrer Fraktion getragenen Regierung nachgefragt und die deutliche Aussage erhalten,
dass insbesondere die immer wieder herangezogene ISLStudie massive methodische Fehler enthält.
({5})
Es wurde nur auf die Ostseefährschifffahrt und den LkwVerkehr, der angeblich drohen würde, eingegangen. Die
Möglichkeit von Bahntransporten ist völlig außer Acht
gelassen worden. So gehen diese Regierung und die sie
tragenden Fraktionen mit den Fakten um. Das kann nicht
sein.
({6})
Es ist völlig unklar, was die Regierung und die Koalitionsfraktionen wollen.
({7})
Einerseits begrüßt die Bundesregierung weiterhin das
Abkommen der Internationalen Maritimen Organisation;
das hat sie zumindest auf unsere Nachfrage hin gesagt.
Sie will die Grenzwerte für Schwefel sogar im EU-Recht
verankern. Das steht zumindest in der Antwort auf die
Kleine Anfrage. Andererseits sprechen die die Regierung tragenden Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag
von praxistauglichen Grenzwerten, schwadronieren über
ein Moratorium und sagen, dass sie den Stichtag verschieben wollen. Was das bedeuten soll, bleibt offen.
Kann sich bei Ihnen jetzt jeder das aussuchen, was er
will? Wir sind von Ihnen schon einiges gewohnt. Rechtstaatlichkeit und Verlässlichkeit sind offenbar nicht mehr
die Leitlinien Ihrer Politik.
({8})
Liebe Koalitionäre, so schaffen Sie Unsicherheit für
die gesamte maritime Wirtschaft. Wo bleibt denn der angeblich vorhandene wirtschaftspolitische Sachverstand
dieser schwarz-gelben Koalition? Ich kann ihn nicht entdecken. Keiner weiß, worauf er sich einzustellen hat.
Niemand wird in saubere Technik investieren. Damit
verprellen Sie die Schiffbauindustrie in Deutschland und
verzögern Investitionen in die für eine moderne, umweltfreundliche und zukunftssichere Schifffahrt auf der
Basis von Gasantrieben notwendige Infrastruktur. Sie
bedienen damit wieder einmal Einzelinteressen, was wir
schon kennen. Wir haben hier die Hoteliersteuer in
neuem Gewand.
({9})
So geht das weiter. Sie holpern in einem Maße durch
die Thematik, dass man sich wirklich nicht sicher sein
kann, ob Sie wissen, was Sie tun.
({10})
Genauso unklar wie bei den Treibstoffen bleiben Sie bei
einem weiteren internationalen Abkommen. Noch im
Juli dieses Jahres soll ein neuer sogenannter Energie-Effizienz-Design-Index für Schiffe eingeführt werden. Wir
Grünen sind sicher die Letzten, die sich nicht für eine
umweltfreundliche Schifffahrt einsetzen. Der Schiffbau
in Deutschland hat eine lange Tradition; sein Anteil am
Weltumsatz ist aber aufgrund der großen Konkurrenz
aus Asien auf nur noch 1 Prozent gesunken. Nur beim
Spezialschiffbau - das ist unsere Domäne - kann
Deutschland noch mit modernen Offshoreversorgungsschiffen, mit modernen Fährschiffen und mit modernen
Kreuzfahrtschiffen mithalten. Hier liegen die Potenziale
unserer Werften.
({11})
- Haargenau, Frau Kollegin. - Aber wenn wir nicht aufpassen, dann wird das demnächst anders sein. Wenn der
Energie-Effizienz-Design-Index so eingeführt wird, wie
es jetzt vorgesehen ist, dann wird es für Spezialschiffe
ganz eng. Der Index zielt hauptsächlich auf die Geschwindigkeit der Schiffe als Maß für die Effizienz ab;
das allein ist wahrlich kein ausreichendes Kriterium. Genau hier liegt das Problem. Gerade im Spezialschiffbau
werden Schiffe mit höheren Geschwindigkeiten gebaut;
manche könnten dann als nicht mehr effizient genug gelten.
({12})
Damit droht ein Schaden für die Wettbewerbsfähigkeit
deutscher Werften. Ich kann nur hoffen, dass dies der
Bundesregierung bewusst ist. Unterschreiben Sie nichts,
was Sie hinterher nicht einhalten wollen.
({13})
Von dieser Ankündigungskoalition sind wir ja schon
einiges gewohnt.
({14})
Lassen Sie mich deswegen noch ein Wort zur Küstenwache sagen. Nirgendwo sonst wird die Saft- und Kraftlosigkeit dieser Regierung so deutlich wie hier. Schon im
Koalitionsvertrag steht dazu nur eine besonders weichDr. Valerie Wilms
gespülte Forderung. Sie wollen keine Küstenwache, sondern reden nur von der Zielsetzung des Aufbaus einer
Küstenwache.
({15})
Aber nicht einmal damit kommen Sie voran. Seit über
einem Jahr wird jetzt zwischen den von Ihnen getragenen Ministerien hin- und hergeschachert, wer dabei den
Hut aufhaben soll. Außer Ankündigungen ist nichts passiert.
Diese Ankündigungskoalition ist ein echtes Trauerspiel. Sie schieben die Posten genauso hin und her wie
die Verantwortung. Dabei kommt Ihnen ganz klar der
Überblick abhanden. Möglichkeiten werden einfach
nicht genutzt. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso
Deutschland im Juli dieses Jahres die Präsidentschaft im
Ostseerat übernimmt, dieses Wort aber in allen Erklärungen zur maritimen Wirtschaft nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Das zeigt das völlig fehlende Interesse an
der gesamten Thematik.
({16})
Das kennen wir ja schon. Insofern ist das für uns keine
neue Erfahrung, aber es ist eine Enttäuschung, vor allem
da der Wahlkreis der Kanzlerin direkt an der Ostsee
liegt.
Über 11 Millionen Menschen fahren jährlich an die
Ostsee und wünschen sich eine erholsame Zeit mit frischer Luft und sauberem Wasser. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Ostsee auf dem Meeresgrund in weiten Teilen praktisch tot ist. Hier müsste
dringend gehandelt werden. Der Ostseerat wäre eine
gute Möglichkeit dazu.
({17})
Hier könnten Sie mit allen Anrainern zusammen etwas
erreichen. Aber entweder denken Sie nicht daran, oder es
ist Ihnen egal.
Insgesamt muss ich leider sagen: Die Arbeit dieser
Bundesregierung ist mehr als enttäuschend. Aber das haben wir auch nicht anders erwartet.
({18})
Sie kündigt an, aber setzt dann nichts um. Sie lässt die
Möglichkeiten einfach liegen und schafft es nicht einmal, den eigenen Koalitionsvertrag umzusetzen. Sie
schiebt die Posten hin und her und verunsichert nicht nur
die maritime Wirtschaft. Die Zielrichtung bleibt unklar,
und ich habe leider nicht das Gefühl, dass sich daran in
Kürze etwas ändern wird. Wirtschaft braucht zu einem
nachhaltigen Handeln verlässliche Ziele und kein Herumgeeiere.
({19})
So, wie Sie es derzeit angehen, wird Wilhelmshaven sicherlich kein Aufbruch zu einer nachhaltigen maritimen
Wirtschaft.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Der Kollege Torsten Staffeldt ist der nächste Redner
für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 70 Prozent der Erde
sind von Wasser bedeckt, auf dem Rest wimmeln und
tummeln sich Milliarden Menschen. Als Junge habe ich
begeistert die Bücher von Hans Hass und Jacques
Cousteau gelesen. Wunderbare Erinnerungen an faszinierende Bilder aus Filmen wie zum Beispiel Geheimnisse des Meeres steigen aus meinem Gedächtnis.
Jacques Cousteau erkannte, dass der größte Schatz des
Meeres nicht seine Rohstoffe sind; es ist der endlose
Quell der Inspiration und des Glücks, das wir daraus gewinnen.
({0})
- Warten Sie einmal; ich komme noch darauf, keine
Sorge. - Beide, Jacques Cousteau und Hans Hass, waren
Pioniere. Beide zeigten uns die wunderbare Vielfalt
ozeanischen Lebens auf und skizzierten visionär eine
Welt, in der menschliches Leben auf und in den Wassern
der Weltmeere durch Technik entsteht. „Wir kommen
alle aus dem Meer“, so Hans Hass. Ich ergänze: Wir bewegen uns dort wieder hin. Lautstark wird daher der Beginn des maritimen Zeitalters proklamiert.
({1})
Dieses steht bevor, und wir sollten daran teilhaben.
Hass war Österreicher, Cousteau Franzose. An unseren deutschen Küsten finden wir neben Bernstein und
Windanlagen jahrhundertealte Erfahrungsschätze des
Lebens von und mit dem Meer. Diese Schätze sind uns
Inspiration, um mutig und verantwortungsvoll - das sage
ich insbesondere in Ihre Richtung, Frau Dr. Wilms - unseren Anteil an der Eroberung, Nutzung und Besiedelung der Ozeane zu realisieren.
({2})
Dem dient auch der Antrag der christlich-liberalen Koalition.
Aus dieser Grundüberzeugung heraus bestätigen wir
der maritimen Wirtschaft, dass ihre Zukunftsfähigkeit
eine nationale Aufgabe ist.
({3})
Schiffbau und Zulieferer sowie maritime Technologien
sind die Basis dafür. Als Menschen bestehen auch wir
hauptsächlich aus Wasser. Ohne technische Hilfsmittel
können wir aber nicht auf und im Wasser leben. Leider.
Gelegentlich wird gemunkelt, dass dies nicht für alle
Völker gelte. Niederländer werden angeblich mit Kiemen geboren. Zumindest kann dieser Eindruck entstehen, wenn verglichen wird, welche Rolle das Leben mit
und aus dem Wasser für Holländer spielt. Aber wir in
Deutschland haben die drittgrößte Handelsschiffsflotte
auf den Weltmeeren, und bei der modernen Containerschifffahrt sind wir weltweit spitze.
Dem Bericht der Bundesregierung über die maritime
Wirtschaft können Sie entnehmen und entnehme ich,
dass über 380 000 Menschen in unserem Land in der
maritimen Wirtschaft ihren Lebensunterhalt verdienen.
Meine Damen und Herren, wir sind richtig gut.
({4})
Wir haben hochspezialisierte Werften, die im Spezialschiffbau Weltmarkt- und Technologieführer sind und die
sich trotz Marktverzerrungen durch Subventionen weltweit am Markt behaupten. Sie haben auch dank der politischen Unterstützung die Klippen der Krise erfreulich gut
umschifft. Unsere Reeder beschäftigen 60 000 Seeleute;
ich war einmal einer davon. An Land arbeiten Zehntausende, um Schiffe zu bereedern, zu betreiben und zu makeln. Die deutschen Häfen mit ihren Transportketten und
Hinterlandanbindungen sind Logistikweltmeister. Das
ist eine Erfolgsstory, um die wir beneidet werden; aber
Kiemen haben wir immer noch nicht.
Schlimmer als blind zu sein, ist, nicht sehen zu wollen. Sehen wir in Deutschland nicht, dass in unserem
vom Export abhängigen Land sichtbar ist, dass es besser
ist, über deutsche Häfen mit dem Be- und Entladen wertzuschöpfen, dass es besser ist, mit deutschen Schiffen
die gigantischen Güterverkehrsmengen der Globalisierung zu transportieren, und dass es besser ist, Schiffe
und maritime Technologien weltweit einzusetzen, die
nach unseren umweltverträglichen Kriterien entwickelt
wurden?
Wir beweisen mit unserem Antrag eindeutig und
kleinteilig genug, dass wir die maritime Wirtschaft offenen Auges sehen. Wir unterstützen die maritime Wirtschaft durch Innovations- und Forschungsförderung. Wir
sorgen dafür, dass die Finanzierungen für Schiffbauer
und Zulieferer, Reeder und Technologieunternehmen erhalten bleiben. Wir haben ein 5-Milliarden-Kreditprogramm aufgelegt, um die Windmühlen der Offshorewindenergie zu beflügeln. Wir sind im Atalanta-Einsatz
und schützen deutsche Schiffe im vereinbarten Rahmen
vor Piraterie. Wir haben Modernisierungsprogramme für
die See- und Binnenschifffahrt, um die beiden unbestritten umweltverträglichsten Verkehrsträger weiter zu verbessern, und - das ist der entscheidende Punkt - wir
werden die Tonnagesteuer als wesentliches Instrument
beibehalten. Zehntausende von Arbeitsplätzen und die
damit verbundenen Einzahlungen in die Sozialversicherungssysteme hängen von dieser wichtigen europäischen
Vereinfachung ab. Sie alle wissen, dass dies der entscheidende Punkt für die deutsche Schifffahrt ist. Wir
weisen aber darauf hin, dass dieses Instrument nur erhalten werden kann, wenn es genug Schiffe unter deutscher
Flagge gibt. Meine Damen und Herren, das alles haben
Sie auch dieser Bundesregierung, vor allem dem Maritimen Koordinator, Herrn Hans-Joachim Otto, zu verdanken.
({5})
Wir müssen aber auch feststellen, dass weltweit nicht
fair gespielt wird, dass maritime Umweltzonen zu
Marktverzerrungen und Verkehrsverlagerungen und dass
Subventionen im Schiffbau zu Wettbewerbsnachteilen in
unserem Land führen. Es ist billig, nun wie die SPD zu
rufen: „Dann machen wir da auch mit!“; aber die Rechnung kommt hinterher. Die Stärke der deutschen maritimen Wirtschaft ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen,
dass es ihr gelingt, auch ohne das schleichende Gift der
Subvention am Weltmarkt zu bestehen.
({6})
Darauf können die Unternehmen und Belegschaften der
maritimen Wirtschaft zu Recht stolz sein.
Jetzt muss ich mich leider doch noch ein wenig mit
dem SPD-Antrag beschäftigen. Da gibt es in einigen
Punkten Übereinstimmung.
Nein. Dafür sehe ich leider überhaupt keine Möglichkeit.
({0})
Es geht ganz schnell. Ich bin auf der letzten Seite. Es gibt da, wie gesagt, in einigen Punkten Übereinstimmung; das freut mich. Dummes Zeug steht aber auch genug drin; Ihre Vorstellungen zur WSV-Reform hat Herr
Beckmeyer ja wieder schön vorgetragen. Gut gemeint ist
aber noch lange nicht gut gemacht. Unser Antrag weist
in die Zukunft, und er ist realistisch umsetzbar. Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD lade ich herzlich
ein, unserem Antrag zuzustimmen; denn er ist eindeutig
der bessere und vor allem der zukunftsfähigere.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam diesen Gedanken verfolgen: Deutschland
kriegt Kiemen.
Danke schön.
({0})
Der nächste Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Garrelt Duin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tief durch die Nase und den Mund einatmend,
({0})
will ich meine Rede beginnen. Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass wir in der Tat - es ist angesprochen
worden - kurz vor der 7. Nationalen Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven stehen. Ich erinnere mich noch
gut an die 1. Nationale Maritime Konferenz. Ich hatte
schon damals das Vergnügen, dabei sein zu dürfen, weil
sie quasi bei mir zu Hause, in Emden, stattgefunden hat.
Gerhard Schröder hat, als er Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war,
({1})
gemeinsam mit der Schiffbauindustrie und nicht zuletzt
- das war der eigentliche Auslöser - gemeinsam mit den
Gewerkschaften gesagt: Die maritime Industrie hat in
Deutschland nicht den Stellenwert, den sie verdient. Wir
müssen in einer gemeinsamen Anstrengung versuchen,
dies zu ändern. Das tun wir mithilfe des Instruments der
Nationalen Maritimen Konferenz und durch den Einsatz
eines maritimen Koordinators. - Der Weg, der damals
eingeschlagen wurde, war richtig. Ich bin froh, dass die
Institutionen der Nationalen Maritimen Konferenz und
des Maritimen Koordinators über alle Parteigrenzen hinweg und trotz verschiedener Konstellationen der Bundesregierungen - das muss man an dieser Stelle konstatieren - erhalten bleibt und dies auch für die Zukunft
gesichert zu sein scheint.
({2})
Ich glaube, dass in der Tat eine ganze Menge von Herausforderungen auf uns warten. Ich will zunächst das
Thema Schiffbau ansprechen, weil sehr viele Kolleginnen und Kollegen und sehr viele Unternehmen in diesem
Bereich tätig sind, mehr noch tätig waren. Wir haben
hier radikale und sehr schmerzhafte Einschnitte hinnehmen müssen. Wenn eine Werft keine Werft mehr ist, sondern in ein anderes Feld geht, dann ist das durchaus
zukunftsorientiert. Ein Beispiel - Sie kennen es, Herr
Staatssekretär - ist der Standort Emden. Sie müssen verstehen, dass es für die Menschen ein tiefer Einschnitt in
ihre Lebenskultur ist, wenn in Emden kein Schiff mehr
gebaut wird, sondern man dort künftig - das ist die positive Meldung - im Bereich der Offshoretechnologie tätig
sein wird, wodurch Arbeitsplätze gesichert werden. Aber
es ist ein schwerer Einschnitt. Deswegen müssen wir uns
auch an den anderen Standorten, die wir noch haben, mit
aller Energie um das Thema Schiffbau kümmern.
Handelsschiffbau ist nicht das Feld, in dem wir künftig agieren werden. In dem Bereich haben wir unsere
Marktanteile, die ohnehin immer geringer geworden
sind, so gut wie verloren. Die Zukunft liegt erstens im
Spezialschiffbau. Wir alle kennen die Bilder der großen
Passagierschiffe und anderer Schiffe, die in Deutschland
gebaut und ausgeliefert werden.
Ich möchte aber auf ein zweites Feld zu sprechen
kommen: den Marineschiffbau. Beim Marineschiffbau
gibt es zwei Standbeine. Das eine Standbein ist das, was
wir selber tun können, indem unsere Bundesregierung
bzw. die Bundesrepublik Deutschland als Auftraggeber
auftritt. Wir sind in dieser Wahlperiode zum ersten Mal
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in
der Situation, dass die Bundesregierung keinen einzigen
Auftrag zum Neubau im Bereich des Marineschiffbaus
vergibt. Das bringt unsere Werften in eine extrem
schwierige Lage.
Früher hatten wir zwei Felder: den Handelsschiffbau
und den Marineschiffbau. Da aufgrund der internationalen Verflechtungen der Handelsschiffbau weggebrochen
ist, müssen wir in diesem Bereich als Nachfrager auftreten. Wenn das eine ganze Wahlperiode lang nicht geschieht, dann gefährdet das Arbeitsplätze wie auch technisches und intellektuelles Know-how in Deutschland.
Das ist Ihre Verantwortung, meine sehr verehrten Damen
und Herren von der Bundesregierung.
({3})
Das zweite Standbein ist der Export. Wenn wir in diesem Bereich zu zögerlich sind und unter anderem keine
Hermesbürgschaften gewährt werden, dann bricht uns
auch dieses Standbein, der Export im Marineschiffbau,
weg. Das dürfen wir nicht zulassen. Lieber Herr Staatssekretär Otto, setzen Sie sich als Maritimer Koordinator
der Bundesregierung auch gegenüber den anderen Häusern, insbesondere gegenüber dem Verteidigungsministerium dafür ein, dass wir dieses Standbein des Marineschiffbaus in Deutschland nicht verlieren!
Wenn ich über den Schiffbau spreche, geht es selbstverständlich auch um die Finanzierung. Herr Otto, der
VSM und die IG Metall, Arbeitgeber und Arbeitnehmer
bzw. Unternehmen und Arbeitnehmer, haben Ihnen im
letzten Jahr konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben die
Verlängerung der Möglichkeit, Kredit- und Bürgschaftsmittel mit erhöhten Haftungsfreistellungen zu gewähren,
gefordert. Sie haben die Bereitschaft des Bundes eingefordert, für Bürgschaften im Schiffbaubereich das hälftige Risiko bzw. 60 Prozent in Ostdeutschland zu übernehmen und einiges mehr.
Sie wollen davon nichts wissen. Mich überrascht daran nicht, dass ein FDP-Politiker von diesen Instrumen12490
ten keinen Gebrauch machen will. Das überrascht mich
nicht im Geringsten.
Aber eines überrascht mich sehr, Herr Rehberg: Noch
im vergangenen Jahr, am 8. November 2010, haben Sie
Ihren Kongress zur maritimen Wirtschaft durchgeführt.
({4})
- Das war unser Kongress, den wir vor wenigen Wochen
veranstaltet haben, auch. - Dort haben Sie der versammelten maritimen Wirtschaft ein Positionspapier vorgelegt, in dem unter anderem die Prüfung der Bereitschaft
des Bundes bei gleichzeitiger Bereitschaft des betroffenen Bundeslandes gefordert wird, für Bürgschaften im
Schiffbaubereich künftig gegebenenfalls das hälftige Risiko bzw. 60 Prozent in Ostdeutschland zu übernehmen.
Das ist die Forderung von VSM und IG Metall.
In dem Papier wird auch die Prüfung der möglichen
dauerhaften Beibehaltung der erhöhten Bürgschaftsquote von 90 Prozent und anderem gefordert, durch die
der Kreditbedarf ausreichend besichert werden soll. Das
war der Stand bei dem Kongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur maritimen Wirtschaft im November.
({5})
Warum stehen diese Punkte nicht in dem von Ihnen
vorgelegten Antrag? Sie sind zwar nach wie vor dafür,
Herr Rehberg und die CDU/CSU, aber die FDP lässt das
nicht durchgehen. Sie lassen sich von der FDP an der
Nase herumführen und schädigen damit gegen besseres
Wissen das Anliegen, die deutsche Schiffbauindustrie zu
unterstützen, Herr Rehberg.
({6})
Zur FDP: Sie haben eben noch einmal dargestellt,
Herr Staffeldt, wie Sie sich das alles vorstellen. Am
5. Mai war aber in der Welt unter der Überschrift „Hilfe
für deutsche Werften“ zu lesen:
Auch in der FDP reift die Erkenntnis, dass der
Schiffbau ohne Subventionen nicht überlebt.
Es ist von einem Papier die Rede, an dem Sie federführend mitgearbeitet haben sollen und das nach der Sommerpause in die Fraktion und dann ins Parlament eingebracht werden soll. Darin stellen die Liberalen fest, dass
die deutschen Werften vor enormen Herausforderungen
stehen und dass man nach der Sommerpause entsprechende Instrumente - diese haben Sie in Ihrer heutigen
Rede noch abgelehnt - schaffen will. Sie können vor der
Realität nicht weglaufen. Die deutsche Schiffbauindustrie braucht Unterstützung mit entsprechenden Finanzierungsmodellen.
({7})
Zweitens. Wenn wir über den Schiffbau hinausschauen und uns ansehen, welche Chancen wir in der
Zukunftsindustrie der maritimen Wirtschaft haben, dann
stellen wir fest, dass das Thema Offshore eine große
Rolle spielt. Da das Verkehrsministerium an unserer Debatte so prominent teilnimmt, will ich ausdrücklich sagen, dass ich es für richtig halte, dass man die Genehmigungsverfahren nicht mehr auf mehreren Schultern
verteilt, sondern wieder das BSH für allein zuständig erklärt. Öffnen Sie aber endlich auch den 5-Milliarden-Topf für die Förderung von Investitionen im Schiffbau!
Drittens. Herr Beckmeyer hat darauf schon hingewiesen: Die maritime Wirtschaft ist von einer funktionierenden Infrastruktur abhängig. Eine funktionierende
Infrastruktur braucht auch eine funktionierende und
schlagkräftige Verwaltung. Das, was Frau Winterstein
und andere im Haushaltsausschuss auf den Weg bringen
wollen - Sie wollen die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung privatisieren, was einer Zerschlagung gleichkommt -,
ist der falsche Weg. Die Antwort, die das Verkehrsministerium darauf gibt, Herr Ferlemann und Herr Ramsauer,
ist zwar besser als das, was Frau Winterstein vorhat.
Aber es reicht nicht aus. Hören Sie - das wissen Sie
doch aus eigener Erfahrung besser - mit der Klassifizierung der Wasserstraßen auf! Das ist an den entscheidenden Orten unseres Landes schlecht für die maritime
Wirtschaft. Hören Sie auf, an der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung herumzudoktern! Ziehen Sie Ihre Konzepte, über die aktuell diskutiert wird, zurück! Machen
Sie sich frei davon!
({8})
Angesichts der Zeit komme ich zum letzten Punkt,
der nicht immer im Zentrum unserer Debatten steht, der
aber aktuell wichtig ist. Lieber Kollege Kammer, im Antrag der Regierungskoalition lässt sich kein einziges
Wort zur Fischerei in Deutschland finden. Dabei ist auch
sie Teil der maritimen Wirtschaft. Die Fischerei insbesondere bei uns an der Küste befindet sich gerade in einer desaströsen Situation. Kostendeckende Preise sind
nicht zu erzielen. Wir haben in unserem Antrag dazu einige Punkte aufgegriffen. Es wäre gut, wenn der gesamte
Deutsche Bundestag deutlich macht: Wir brauchen die
Fischerei in Deutschland nicht für irgendwelche Folkloreveranstaltungen in den Tourismushäfen. Wir müssen
die Konflikte, die zum Beispiel durch die Nutzung von
Offshoreanlagen entstehen, lösen. Ich wäre froh gewesen, wenn CDU/CSU und FDP wenigstens ein Wort zu
diesem zentralen Punkt verloren hätten.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Ingbert Liebing für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Beauftragte der Unionsfraktion für maritime Wirtschaft,
mein Kollege Eckhardt Rehberg, hat in seinem Beitrag
eindrucksvoll beschrieben, vor welchen HerausforderunIngbert Liebing
gen die maritime Wirtschaft zurzeit steht und mit welchen Forderungen wir in die Nationale Maritime Konferenz gehen wollen. Ich brauche nicht zu wiederholen,
welche wirtschaftlichen Interessen und Chancen mit diesem Thema verbunden sind. Ich möchte vielmehr aufzeigen, warum und wie wir die wirtschaftlichen Interessen
mit den Anliegen des maritimen Umweltschutzes verbinden. Natürlich gibt es Nutzungskonflikte und mögliche Risiken. Der steigende Flächenbedarf für den Ausbau der Offshorewindenergie und die Schifffahrt, nicht
nachhaltige Fischereipraktiken, die Gewinnung von Bodenschätzen und Energie aus dem Meer, Verschmutzung
und Vermüllung sowie die Erwärmung der Meere infolge des Klimawandels sind nur einige Stichworte. Unser Ziel ist es, Nutzungskonflikte zu befrieden und zu einem Interessenausgleich zu kommen. Chancen nutzen,
Risiken beherrschen, das ist unser Motto bei diesem
Thema.
({0})
Wenn wir von der Bedeutung des Meeresumweltschutzes sprechen, darf ein Hinweis nicht fehlen: Der
Verkehrsträger Schiff ist nicht nur aus wirtschaftlichen,
sondern auch aus ökologischen Gründen das sinnvollste
Verkehrsmittel.
({1})
Denn gemessen an der Transportleistung, ist sein Schadstoffausstoß am geringsten. Deshalb wird aus meiner
Sicht die kritische Betrachtung dieses Themas im SPDAntrag den Sachverhalten nicht gerecht. Die maritime
Umwelttechnologie in Deutschland macht große Fortschritte. Die deutsche Industrie ist in diesem Bereich gerade für die Schifffahrtsbranche weltweit führend. Die
ersten Doppelhüllentanker sind in Deutschland gebaut
worden. Die Branche verfügt über exzellente Ingenieure
und einen hohen Ausbildungsstandard. Ich nenne für
neue Innovationen nur wenige Stichworte: den Einsatz
von Brennstoffzellen, die Ausrüstung von Frachtschiffen
mit Zugdrachen oder den Einsatz von LNG als Brennstoff.
Die Unternehmen, die auf Forschung und Innovation
setzen, werden beste Chancen haben. Wachstum in der
Schifffahrtsbranche ist deshalb auch in dieser Hinsicht
im Einklang mit der Ökologie möglich. Höhere Umweltstandards können auch im ökonomischen Interesse liegen. Von der Entwicklung neuer Technologien für eine
noch geringere Umweltbelastung durch die Schifffahrt
können Umwelt und Wirtschaft gleichermaßen profitieren, wenn man es denn richtig macht. Das heißt aber,
dass Umweltstandards praxistauglich gesetzt werden
müssen. Deswegen komme ich noch mal zu dem Thema
der SECAs, die hier schon mehrfach angesprochen worden sind.
Mit der Ausweisung dieser Sondergebiete für schwefelreduzierte Immissionen werden ab 2015 die Emissionswerte von derzeit 1 Prozent auf 0,1 Prozent in Nordund Ostsee abgesenkt. Dies hätte den Einsatz von Destillaten zur Folge, soweit noch nicht andere Technologien
wie die Scrubber-Technologien tatsächlich eingesetzt
werden können. Aber die Destillate sind deutlich teurer,
und teurere Treibstoffkosten können zu Verkehrsverlagerungen von See auf Land führen. Das ist genau das, was
wir nicht wollen. Die möglichen Risiken, die möglichen
negativen Folgen dieser Verkehrsverlagerungen sind
durch Studien belegt. Deswegen ist es genau richtig,
dass wir uns jetzt Gedanken darüber machen, wie man
zu Lösungen kommt, zu praxistauglichen Lösungen insbesondere für die jetzt vorhandenen Schiffe. Bei Neubauten, sagt uns die Branche, kriegen wir das in den
Griff. Aber wir müssen uns um die jetzt fahrenden
Schiffe kümmern.
Deswegen möchte ich ausdrücklich den Einsatz sowohl des Verkehrsministers Peter Ramsauer als auch seines Staatssekretärs Enak Ferlemann loben, die sich um
dieses Thema kümmern, weil diejenigen, die das früher
eingeführt haben, das eben versäumt haben. Herzlichen
Dank.
({2})
- Da sollten Sie mal ganz ruhig sein! Sie haben das ja
mit Ihren Genossen verbockt, Herr Beckmeyer.
({3})
Maritimer Umweltschutz braucht sicheren Schiffsverkehr.
({4})
- Genau, ist ja richtig. Wir machen das ja gemeinsam
mit der Branche. Es wäre nur besser gewesen, wenn man
das rechtzeitig, vor der Beschlussfassung, gemacht hätte.
Es ist Ihre Verantwortung, das nicht getan zu haben.
({5})
Maritimer Umweltschutz braucht sicheren Schiffsverkehr. Dafür haben wir vor der Küste in der Deutschen
Bucht und an der Ostsee einiges erreicht. Ich nenne nur
das Havariekommando in Cuxhaven. Aber die Einrichtung des Havariekommandos ist letztlich die Folge eines
schweren Unglücks von vor über zehn Jahren gewesen,
die Havarie der „Pallas“ vor Amrum. Das Erlebnis steckt
uns allen an der Küste noch in den Knochen. Aber die
derzeitige Behördenstruktur mit verschiedensten Bundes- und Landesbehörden und den gesplitteten Zuständigkeiten ist trotz erreichter Fortschritte nach wie vor
unbefriedigend. Der Aufbau einer nationalen Küstenwache ist im Koalitionsvertrag verankert, und das Bekenntnis zu dieser notwendigen Aufgabe haben wir in unseren
Antrag aufgenommen. Mit der heutigen Beschlussfassung unterstreichen wir diese Erwartungshaltung an die
Bundesregierung, dass die Zielsetzung einer nationalen
Küstenwache mit der Integration der Bundesbehörden
auf See jetzt auch in einem ersten Schritt vollzogen wird.
({6})
Ich erwarte, dass im Gegensatz zu manchem hinhaltenden Widerstand einzelner Fachbehörden dies jetzt auch
wirklich umgesetzt wird, meine Damen und Herren.
({7})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Aspekt
aufgreifen, der mir sehr am Herzen liegt. Die Schifffahrt
ist zwingend angewiesen auf Sicherheit und auch auf
eine freie Schifffahrt auf allen Weltmeeren. Das, was wir
insbesondere im Indischen Ozean mit zunehmenden Piratenangriffen erleben, macht uns Sorge, zunehmende
Sorge, weil wir die Intensität, aber auch die zunehmende
Brutalität in den Angriffen der Piraten feststellen, da es
inzwischen auch zu Toten gekommen ist.
Unsere Marine leistet hier einen wichtigen Beitrag im
Rahmen von Atalanta, den ich ausdrücklich anerkennen
und würdigen möchte.
({8})
Ich baue darauf, dass auch diese Erfahrungen in die jetzt
notwendigen Entscheidungen im Rahmen der Bundeswehrstrukturreform einfließen. Die Marine leistet hier
einen wichtigen Beitrag für die freie Schifffahrt als Voraussetzung für freien Welthandel.
Wir müssen aber auch feststellen, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um die Seewege
tatsächlich ausreichend zu schützen. Die langfristige und
durchgreifende Lösung wird sicherlich nur in veränderten staatlichen Strukturen und in der Gewährleistung von
Sicherheit an Land liegen. Wir brauchen diesbezüglich
eine Lösung, insbesondere für Somalia. Aber darauf
können wir nicht warten. Wir brauchen auch kurzfristige
Maßnahmen; wir brauchen mehr als das, was bisher geschehen ist. Der Rat, keine Schiffe mehr durch den Suezkanal, sondern um Afrika herum fahren zu lassen, kann
nicht zielführend sein. Ein solches Vorgehen käme einer
Kapitulation, auch der Welthandelsnation Deutschland,
gegenüber international geächteten Piraten gleich.
Wir setzen uns dafür ein, nach weiteren Wegen zu suchen, um die Schifffahrt wirksam gegen Piratenangriffe
zu sichern. Die Sicherheit der deutschen maritimen Wirtschaft und der für Deutschland wichtigen Handelswege
muss oberste Priorität für eine Exportnation wie Deutschland haben.
({9})
Die 7. Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven stellt sich allen diesen wichtigen Herausforderungen. Ich hoffe und ich bin auch zuversichtlich, dass von
dieser Konferenz ein gutes und ein starkes Signal für unsere Branche ausgehen wird, die sich mit den Herausforderungen auseinandersetzt. Sie erhält die Unterstützung
der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages.
Wir sollten die Chancen nutzen und uns gleichzeitig der
Risiken bewusst sein. Die Risiken sollten wir aber nicht
in den Vordergrund stellen, sondern wir sollten ausdrücklich sagen: Mit diesen Aufgaben sind vor allem
Chancen verbunden, die wir für unsere maritime Wirtschaft nutzen wollen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will auf den Titel dieser Debatte zurückkommen. Eigentlich wollten wir uns über Zukunftsperspektiven für die
maritime Wirtschaft unterhalten. Dazu ist nach meinem
Dafürhalten bislang zu wenig gesagt worden.
Die maritime Wirtschaft ist eine Exportwirtschaft.
Das wurde von allen hier anerkannt; da sind wir uns sicherlich alle einig. Bei den Unternehmen im Schiffbau,
in der Seeschifffahrt und in der Hafenwirtschaft läuft es
dann gut, wenn die Weltwirtschaft brummt. Dagegen
pfeifen diese Unternehmen aus dem letzten Loch, wenn
die Weltwirtschaft in die nächste Krise stürzt.
({0})
- Das war 2008 und 2009 so, also in einer Zeit, in der die
Linke nicht an der Regierung war, sondern diese Bundesregierung und ihre Vorgängerin. - Die Folgen dieser
Krise sind hochdramatisch gewesen, auch für die maritime Wirtschaft. Ich denke, es ist notwendig, dass die
Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in
Deutschland anders beurteilt werden als im Moment in
der Darstellung der Bundesregierung.
Den Werften geht es immer noch nicht gut. Die Bedingungen der Beschäftigten auf den Schiffen sind teilweise katastrophal, und der Umschlag von Seegütern hat
das Niveau von vor der Krise noch nicht wieder erreicht.
Die Kolleginnen und Kollegen belastet das ständige Auf
und Ab in ihren Unternehmen, auf den Werften, in den
Logistikbetrieben und bei den Herstellern von Offshoreanlagen. Die Unternehmen kennen nur Boom oder Krise,
ein ständiges Auf und Ab. Das hält auf Dauer keine Belegschaft aus. Das hält auf Dauer aber auch kein Betrieb
aus. Es führt immer wieder dazu, dass Wissen, Vermögen und Perspektiven vernichtet werden. So müsste eine
Beschreibung der Wirklichkeit aussehen, nicht weil wir
das toll finden, sondern weil wir eine wahrhaftige Analyse brauchen, wenn wir eine soziale und ökologische
Verkehrswirtschaft gestalten wollen.
({1})
Wir kritisieren den Wachstumsfetisch, dem die Bundesregierung unterliegt. Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft müssen anders definiert werden. Unsere Kriterien dafür sind soziale und gerechte Standards
für die Beschäftigten, fairer Welthandel und eine ökologisch ausgerichtete maritime Wirtschaft.
({2})
Ich will ein paar Beispiele dafür geben.
Die Bundesregierung will Weser, Elbe und auch die
Ems über viele Kilometer ausbaggern. Die großen Seeschiffe sollen weit ins Land fahren können und dort ihre
Ladung löschen oder aufnehmen.
({3})
Das ist dann unsinnig, wenn gleichzeitig in Wilhelmshaven der JadeWeserPort gebaut wird, den Schiffe mit
Tiefgängen von bis zu 16,5 Metern anfahren können.
Wir meinen: Schiffe dieser Größe sollten und können
Wilhelmshaven anlaufen, ihre Frachten können und sollen dort teilweise oder ganz gelöscht werden. Dann können sie ihre Reise fortsetzen. Die Güter würden von Wilhelmshaven aus vorwiegend über Schiff oder Schiene
weiterverteilt. Der Transport über die Straße würde nur
in Ausnahmefällen stattfinden. Von diesem Gedanken
der Vernetzung der Küstenländer und ihrer Häfen ist die
Bundesregierung eigentlich gar nicht so weit entfernt.
Das steht ansatzweise in ihrem Papier. Aber sie bleibt in
diesem Ansatz stecken und sagt: Für die Seehäfen sind
die Bundesländer zuständig. - Ja, das stimmt, für die Häfen schon, aber alles, was davor oder danach kommt,
liegt im Aufgabenbereich der Bundesregierung, ob es
die seewärtigen Zufahrten oder die Hinterlandanbindungen sind. Ein integriertes, nachhaltiges Hafenkonzept
muss dieses Hemmnis - da ist der Föderalismus eine Herausforderung - überwinden.
({4})
Das nächste Beispiel: Das Güterverkehrsaufkommen
soll bis 2025 auf das Zweieinhalbfache der heutigen
Mengen wachsen. Dass diese Prognosen auf der Grundlage eines Ölpreises von 60 Dollar pro Barrel berechnet
werden, wird nicht erwähnt. Der weltweite Güterverkehr
wird aber in Zukunft teurer werden - das wissen wir
schon heute -, und er wird Einfluss auf die Exportwirtschaft haben. Sinnvolle Perspektiven, Zukunftsperspektiven für die maritime Wirtschaft in Deutschland können
nur auf der Basis einer neuen Verkehrsprognose entwickelt werden.
Daraus folgt, dass wir Alternativen mit den Unternehmen entwickeln wollen. Zurzeit wird der Umschlag von
Offshorewindanlagen gepusht. Das ist vernünftig, aber
das darf nicht völlig einseitig passieren. Die Produktion
und der Umschlag von Windkraftanlagen für die See benötigen nur einen Teil der vorhandenen Qualifikationen
auf den Werften und in der Zulieferindustrie, und man
braucht auch nur einen Teil des vorhandenen Knowhows in Technik und Wissenschaft. Die Leute können
mehr. Wir brauchen dringend innovative, umweltfreundliche Schiffsantriebe und Verfahren, wie Schiffe in den
Häfen mit sauberer Energie versorgt werden können.
Das ist der Ansatzpunkt für eine wirklich ambitionierte
Technologiepolitik an der Küste.
Wir stehen vor riesigen Herausforderungen bei der
Gestaltung einer umweltgerechten Nutzung der Meere.
Das sind die neuen Aufgaben für Unternehmen, deren
bisherige Beschäftigung wegfällt, und für neue Unternehmen, die mit innovativen Technologien auf den
Markt drängen. Die 150 Millionen Euro, die die Bundesregierung für das Forschungsprogramm „Maritime Technologien der nächsten Generation“ bis 2015 zur Verfügung stellt, reichen längst nicht aus.
({5})
Noch ein Wort zur Situation der Beschäftigten auf den
Schiffen: Die deutsche Schifffahrt ist heute von Billigflaggen und Zweitregistern geprägt. Billigflaggenschiffe
bedeuten mangelnde Sicherheit, gekaufte Patente und
unregelmäßige Arbeitszeiten.
({6})
Mit der Einführung der Tonnagesteuer im Jahr 1999
sollte erreicht werden, dass wieder mehr Schiffe unter
deutscher Flagge fahren. Das hat im Jahr 2004 beispielsweise 1 Milliarde Euro weniger Steuereinnahmen gebracht, aber nicht verhindert, dass inländische Reeder
ihre Schiffe weiter ausgeflaggt haben. 600 von
3 000 Handelsschiffen sollten nach der Vereinbarung
zwischen Bundesregierung und Reedern wieder unter
vernünftigen Bedingungen fahren, 445 sind es heute.
Das Billigflaggensystem muss überwunden werden. Wir
brauchen einen verbindlichen Ordnungsrahmen für die
Schifffahrt und keine Anreizsysteme und Selbstverpflichtungen. Die funktionieren nicht. Nur wenn die
ökologischen und sozialen Bedingungen in der maritimen Wirtschaft so gestaltet werden, dass sie in die Zukunft weisen, können wir wirklich von Perspektiven der
maritimen Wirtschaft sprechen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Werner
Kammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Leistungsfähige Seehäfen sind für die maritime Wirtschaft und damit für die ganze im- und exportabhängige
Volkswirtschaft der Bundesrepublik unverzichtbar. Es ist
daher ein zentrales Anliegen der christlich-liberalen Koalition, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Seehäfen im
internationalen Vergleich noch weiter zu stärken. Der
Logistikstandort Deutschland muss auch in Zukunft
weltweit führend sein. Entscheidend sind dabei die Hinterlandanbindung und die seewärtigen Zufahrten. Unsere
Devise dabei ist: Hochleistungslogistik statt Flaschenhals. Dieses Prinzip haben wir nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern auch im „Aktionsplan Güterverkehr
und Logistik“ und im nationalen Hafenkonzept verankert.
Im Gegensatz zu den Kollegen von der Sozialdemokratie, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit alles
Mögliche aufschreiben und fordern, werden wir unsere
Absichten auch umsetzen. Die Koalition redet nicht, sie
handelt entschlossen.
({0})
Lassen Sie mich als Verkehrspolitiker einige Beispiele dafür nennen, wie es in Zukunft aussehen wird
und wie es in der Vergangenheit aussah. Herr
Beckmeyer, ich kann Ihnen nur sagen: Das Lachen wird
Ihnen dann vergehen.
Ein Beispiel dafür, wie es in der Vergangenheit aussah,
ist die zweigleisige Schienenanbindung des JadeWeserPorts in Wilhelmshaven. Nicht weniger als fünf sozialdemokratische Verkehrsminister haben Anwohnern und der
Wirtschaft elf Jahre lang immer wieder vorgegaukelt,
dass eine leistungsfähige Eisenbahnanbindung des Tiefwasserhafens rechtzeitig zu dessen Eröffnung fertig wäre.
Das klang schön, war aber schlichtweg die Unwahrheit.
Das waren Ihre Verkehrspolitiker.
Nur dank der zupackenden Art unseres Verkehrsministers
({1})
und seiner Überzeugungskraft gelang es uns mit vereinten Kräften in allerletzter Minute, für eine bedarfsgerechte zweigleisige Schienenanbindung zu sorgen.
({2})
Um ein Haar hätte die sozialdemokratische Schlamperei
im Verkehrsministerium dazu geführt,
({3})
dass der JadeWeserPort keine Erfolgsstory, sondern eine
Lachnummer geworden wäre.
({4})
So sah sozialdemokratische Verkehrspolitik aus.
Herr Beckmeyer, an dieser Stelle habe ich mein Konzept umgeschrieben;
({5})
denn Frau Dr. Wilms, Sie und auch Herr Bartsch haben
gefordert, dass wir handeln und aufzeigen, wo wir Taten
vollbringen. Ich möchte Ihnen dazu einige Beispiele
nennen.
({6})
Wir werden die Fahrrinne der Elbe anpassen. Die
Bundesrepublik Deutschland wird fast 250 Millionen
Euro investieren, damit der Hafen der Freien und Hansestadt Hamburg auch von Containerschiffen mit einem
Tiefgang von 14,5 Metern erreicht werden kann.
({7})
- Ich kann Ihnen dazu sagen: Der Ministerpräsident Niedersachsens trägt eine hohe Verantwortung für sein
Land, und dieser Verantwortung wird er auch dort gerecht werden.
({8})
Der Hamburger Hafen wird ein erfolgreicher Mitspieler
im internationalen Wettbewerb bleiben. Meine Damen
und Herren von der Opposition, so sieht Zukunft aus.
Ein weiterer Punkt - ich nenne ausdrücklich norddeutsche Beispiele; da kennen Sie sich ja etwas besser
aus -: Wenn keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten
auftreten, dann können wir noch in diesem Sommer damit beginnen, die Fahrrinne von Unter- und Außenweser
zu optimieren. Das ist ein 50-Millionen-Euro-Projekt,
das für die Massenguttransporte nach Brake und Bremen
und für den Containerverkehr nach Bremerhaven unerlässlich ist.
({9})
- Auch hier legen wir los, Herr Beckmeyer.
Der Hafen Emden muss besser für Autotransport- und
Massengutschiffe erreichbar sein. Wir werden das Planfeststellungsverfahren für den Ausbau der Außenems
einleiten. Wir reden nicht, wir handeln.
({10})
- Ich muss Sie ja richtig treffen, sonst wären Sie nicht so
aufgeregt.
({11})
Auch der Nord-Ostsee-Kanal muss fit für einen immer weiter steigenden Verkehr gemacht werden.
({12})
Hier steht nicht nur der Neubau einer dritten großen
Schleuse auf unserer Agenda, sondern auch der Ausbau
der 20 Kilometer langen Oststrecke des Nord-OstseeKanals.
({13})
Außerdem sind wir dabei, die Teilplanung für die Vertiefung des gesamten Kanals um 1 Meter vorzunehmen.
Wir packen auch diese Dinge an.
({14})
Genauso machen wir es mit den Schienenwegen, die
für die Hinterlandanbindungen unserer Seehäfen lebenswichtig sind:
Trotz aller Schwierigkeiten aus sozialdemokratischer
Vergangenheit werden wir den Vollausbau der Eisenbahnstrecke von Wilhelmshaven nach Oldenburg bis
2014 erreichen.
Die Planung der Y-Trasse zwischen Hamburg und
Hannover einerseits und Bremen und Hannover andererseits kann nun endlich beginnen. Planungsmittel stehen
bereit.
Der Ausbau der Strecke Stelle-Lüneburg wird bald
fertiggestellt sein.
Ebenso wichtig ist allerdings auch die Anbindung der
Seehäfen an ein leistungsfähiges Straßennetz. Hierbei ist
besonders die Küstenautobahn A 20 von Stettin über
Rostock und Lübeck durch den Wesertunnel bis zur A 28
bei mir in Westerstede zu nennen. Auch den kontinuierlichen Ausbau des Autobahnnetzes dürfen wir nicht vergessen.
Es ist klar, dass steigende Anforderungen an unsere
Infrastrukturnetze auch solide finanziert werden müssen.
Die Unterfinanzierung von gestern rächt sich spätestens
morgen. Wir werden auch hier gegensteuern.
({15})
Die Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag hat
richtigerweise erkannt - da muss ich sie sogar einmal loben -,
({16})
dass Deutschland über eines der besten und modernsten
Verkehrsinfrastruktursysteme weltweit verfügt. Dieser
Analyse kann ich mich nur anschließen. Das muss aber
auch so bleiben.
({17})
Diese Spitzenstellung können wir nur dann erhalten,
wenn wir unsere Infrastruktur ständig an den wachsenden Bedarf anpassen.
({18})
Meine Kollegen von der Opposition, es wäre gut, das
Interesse an dem Wohlergehen unseres Gemeinwesens
hinter Ihre Sucht nach kurzfristiger Popularität zu stellen; denn Fensterreden im Bundestag nutzen nichts,
wenn Sie dann bei Demonstrationen vor Ort in der ersten
Reihe stehen und sich gegen die Zukunft Deutschlands
aussprechen.
({19})
Ein Musterbeispiel dafür ist die Diskussion um die
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes.
({20})
Bei Sozialisten aller Couleur steht nicht etwa die Frage
im Vordergrund, wie wir angemessen auf die neuen Verhältnisse reagieren. Sie wollen stattdessen am liebsten
den gegenwärtigen Status konservieren. Stillstand führt
in den Abgrund.
({21})
Das gilt genauso für die A 20. Da wende ich mich besonders an die Grünen, die an jeder Stelle verhindern
wollen, dass diese Strecke ausgebaut wird.
({22})
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, lieber Garrelt Duin. Sie haben gesagt, dass die Fischer in
unserem Antrag nicht vorkommen. Für sechs Maritime
Konferenzen in der Vergangenheit trugen Sie die Verantwortung. Bei keiner dieser Konferenzen waren die
Fischer vertreten.
({23})
Ich kann hier nur ausdrücklich sagen, dass unser niedersächsischer Ministerpräsident sich gerade in den letzten Tagen ausdrücklich der Sorgen der Krabbenfischer
angenommen hat
({24})
und die Nachrüstung der elektronischen Logbücher
übernimmt. Auch hier handeln wir entschlossen.
({25})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
fordere Sie auf, mit uns für den Fortschritt und die Sicherung unserer Zukunft zu kämpfen. Die CDU/CSUBundestagsfraktion bekennt sich zu ihrer Verantwortung
für die maritime Wirtschaft in ganz Deutschland.
({26})
Dafür steht unser Antrag. Als Wahlkreisabgeordneter
freue ich mich natürlich besonders, dass der neue JadeWeserPort und die Energiedrehscheibe Wilhelmshaven
dabei als richtungsweisend in Niedersachsen in herausragender Weise gewürdigt werden.
({27})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin beim letzten Satz. - Ich freue mich auch, viele
von Ihnen in der übernächsten Woche in Wilhelmshaven
anlässlich der 7. Nationalen Maritimen Konferenz auf
dem Gelände des neuen Tiefwasserhafens für Deutschland begrüßen zu dürfen.
Danke.
({0})
Thomas Bareiß von der CDU/CSU-Fraktion ist der
letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Ich muss gestehen, dass für mich als Schwaben
das Thema „Maritime Wirtschaft“ durchaus eine Herausforderung darstellt. Die jetzt eineinhalbstündige Debatte hat in ganz besonderer Weise gezeigt, dass die Infrastruktur und insbesondere die Verkehrsknotenpunkte
ein ganz entscheidendes Thema sein werden, wenn es
um die Zukunft Deutschlands und um die Frage geht, ob
wir weiterhin die Drehscheibe für Handel, für Gewerbe
und für Produkte in der Welt sein werden.
Deutschland ist in ganz besonderer Weise von diesem
Handel abhängig. Wir sind der Handelsplatz Nummer
eins, was die Organisation der Exporte betrifft. Dieses
Jahr haben wir wahrscheinlich erstmalig Exporte - sowohl von Waren als auch von Dienstleistungen - im
Wert von über 1 000 Milliarden Euro. Gleichzeitig werden derzeit Waren im Wert von über 900 Milliarden
Euro importiert. Das heißt, dass wir nicht nur beim Export spitze sein werden, sondern auch beim Import.
Dafür brauchen wir leistungsfähige und moderne Infrastrukturen im Bereich der Flughäfen, der Straßen, der
Schiene und vor allen Dingen auch der Häfen. Daran
wird sich, wie gesagt, auch die Zukunft Deutschlands in
den nächsten Jahren festmachen.
Ein besonderer Punkt, den ich in meiner Rede herausgreifen möchte, ist das Thema der Energiesicherheit und
die Frage, wie wir über unsere Häfen bzw. über die maritime Wirtschaft Zugänge zu Energieressourcen in den
nächsten Jahrzehnten sicherstellen können. Ich glaube,
auch in diesem Bereich wird die maritime Wirtschaft in
den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen.
Wenn wir früher aus der Kernenergie aussteigen wollen - darüber haben wir an diesem Ort ja in dieser Woche schon mehrfach diskutiert -, müssen wir uns schneller um Ersatz für diese Energiequelle bemühen. Eine
Möglichkeit zum Ersatz - damit möchte ich beginnen stellen fossile Energieträger dar. Davon werden wir in
den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten mehr benötigen.
Wir brauchen zum einen mehr Steinkohle.
({0})
Diese wird größtenteils über unsere Häfen importiert.
Der Hamburger Hafen steht mit 6,4 Millionen Tonnen
Steinkohle beim Import an erster Stelle.
Wir brauchen in Deutschland in den nächsten Jahren
aber zum anderen - auch das ist ja bekannt - mehr Gas.
Dazu müssen wir diversifizieren. Wir wollen uns nicht
nur von einem Gaslieferanten abhängig machen. Wir
wollen nicht nur verschiedene Pipelines nutzen, sondern
wir wollen auch Handelspartner aus anderen Regionen
für uns gewinnen. Dazu brauchen wir zukünftig LNG,
das an Bedeutung gewinnt. Schon seit 30 Jahren gibt es
Planungen, ein LNG-Terminal in Wilhelmshaven zu
bauen. Jetzt ist die Stunde günstig, um dieses Thema anzupacken. Wir brauchen nicht nur Gas;
({1})
wir sind auch darauf angewiesen, dass in solche Anlagen
investiert wird, um uns von Pipelines unabhängiger zu
machen und auf neue Ressourcen zugreifen zu können.
({2})
Das ist ein wichtiger Punkt in unserem Antrag. Hier wollen wir für weiteren Ausbau sorgen.
Dann spielt auch die Fördertechnik im Bereich der
maritimen Wirtschaft eine enorm wichtige Rolle. Fördertechnik für Öl und Gas stellt den umsatzstärksten Bereich der maritimen Wirtschaft dar: Über 8 Milliarden
Euro werden hier umgesetzt. Über 500 Unternehmen
und über 200 wissenschaftliche Institute spielen hier
eine wichtige Rolle für die Energiegewinnung, und zwar
nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt.
Damit sind auch in diesem Punkt deutsche Unternehmen
ein Garant dafür, dass in der Welt umweltfreundlich, natur- und ressourcenschonend sowie vor allen Dingen
auch sicher für die Betroffenen Energieressourcen gehoben werden. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag, den wir
leisten. Auch hier werden wir in den nächsten Jahren für
weiteren Ausbau sorgen.
Ein weiterer Bereich, der für die Energiegewinnung
eine große und in den nächsten Jahren sogar noch größere Rolle spielen wird, ist die Windenergie. Vor allen
Dingen der Offshorebereich wird einen enormen Zuwachs erfahren. Wir werden, wenn wir den Umstieg auf
erneuerbare Energien wirklich ernsthaft angehen wollen,
in die Energieträger investieren müssen, die in Deutschland kosteneffizient nutzbar gemacht werden können.
Das ist im Bereich der erneuerbaren Energien vor allem
offshore erzeugte Windenergie. Wir brauchen Energie
aus Windkraftanlagen in der Nord- und Ostsee. Deshalb
werden wir auf den weiteren Ausbau in den nächsten
Jahren einen besonderen Schwerpunkt legen. Die Leistung wird von derzeit praktisch null in den nächsten Jahren auf 10 Gigawatt steigen. Wir wollen sie bis 2035 auf
25 Gigawatt ausbauen. Das ist eine enorme Herausforderung. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, muss ab
sofort jeden zweiten Tag ein neues Windrad in der Nordoder Ostsee ans Netz gehen. Ich glaube, allein diese Zahl
zeigt, wie ambitioniert die Ziele sind.
Auch die EU hat sich sehr hohe Ziele gesetzt. Die
Europäische Union möchte ab 2015 jedes Jahr 3 000 Megawatt zubauen; das entspricht einem Zubau von 600 bis
800 Windrädern in Europa pro Jahr. Auch das zeigt, dass
in dieser Form der Energiegewinnung eine enorme
Chance für die deutsche Industrie und die deutsche Wirtschaft steckt. Allein das Erreichen des deutschen Ausbauziels hätte zur Folge, dass 100 Milliarden Euro Umsatz in diesem Bereich in Deutschland generiert würden.
Damit könnte ein Beschäftigungsaufwuchs von über
10 000 Beschäftigten in diesem Bereich einhergehen.
Der deutsche Anteil am Weltmarkt in diesem Bereich
beträgt derzeit 25 Prozent. Es muss unser Ziel sein, diesen Anteil nicht nur zu halten, sondern in den nächsten
Jahren sogar stetig zu erhöhen. Ich sehe darin eine
enorme Chance für den deutschen Mittelstand. Dem
deutschen Anlagenbau kommt hier ein sehr hoher Stellenwert zu. Die deutsche Ingenieurskunst ist überall in
der Welt gefragt. Hier können wir durch das Setzen entsprechender politischer Rahmenbedingungen, wie in unserem Antrag auch dargelegt, sehr hilfreich wirken.
Die Herausforderungen im Bereich der Offshorewindparks sind immens; ich habe sie schon genannt.
Derzeit sind bereits 23 Windparks, sowohl in der Nordals auch in der Ostsee, genehmigt, die mit über
1 600 Anlagen starten können. Nun liegt es an uns, attraktive Investitionsbedingungen für die Investoren zu
schaffen. Das wollen wir unter anderem dadurch erreichen, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz jetzt
schnell in dem Sinne novellieren. Dafür sind unterschiedliche Vorschläge im Raum. Ich glaube, dass wir
hier mit einem Stauchungsmodell - das heißt, dass wir
den Investoren zu Beginn einer Investition mehr Geld
geben - vieles erreichen können, dass wir Investoren auf
diese Weise eher dazu bringen können, zu investieren, und
dass wir auf diesem Wege eine Anlage schneller rentabel
machen können. Das haben wir auch bei dem 5-Milliarden-Euro-KfW-Programm so gehalten. Das ist eine
wichtige Hilfe für zukünftige Investoren.
Ein weiteres wichtiges Thema - es ist schon angesprochen worden - ist der Anschluss der Windparks. Wir
haben vor einer Woche mit großem medialem Aufsehen
den Baltic-1-Park eingeweiht. Er war nur wenige Tage
am Netz; inzwischen wurde er vom Netz genommen,
weil er noch nicht in vollem Umfange angeschlossen
werden konnte. Es kann nicht in unserem Interesse sein,
dass ein solcher Anschluss 36 Monate dauert. Auch das
muss wesentlich beschleunigt werden. Dazu enthält unser Antrag konkrete Ansätze; denn wir müssen vermeiden, dass der Anschluss in den nächsten Jahren der Flaschenhals für die Offshoreenergie ist.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir eine saubere
Infrastruktur für die zukünftigen Offshorewindparks
brauchen.
Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können wir
weiterhin eine sichere, umweltfreundliche, klimafreundliche, aber auch bezahlbare Energieversorgung sicherstellen. Dabei spielt die maritime Wirtschaft eine herausragende Rolle.
In diesem Sinne kann ich Sie nur auffordern, unseren
Antrag zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 1/5572, 17/5770 und 17/5237 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf der Drucksache 17/5237 zu Tages-
ordnungspunkt 24 c soll federführend beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie beraten werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 25 a
und b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Faire Mobilität und soziale Sicherung - Vo-
raussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügig-
keit ab 1. Mai 2011 schaffen
- Drucksachen 17/4530, 17/5425 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten
- Drucksachen 17/5177, 17/5424 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der 1. Mai 2011 war in der
Tat ein denkwürdiger Tag. Er war nicht nur der Tag der
Arbeit, sondern auch der Tag, ab dem 78 Millionen Menschen mehr aus Europa, vornehmlich aus den osteuropäischen Ländern, freien Zugang zum deutschen Ar12498
beitsmarkt haben. Wenn man die Diskussion verfolgt
hat, die unmittelbar im Vorfeld in den Medien stattgefunden hat, konnte man den Eindruck gewinnen, all
diese Menschen würden startbereit in den Löchern stehen, um die deutsche Grenze zu überwinden und bei uns
ganz schnell in Arbeit zu kommen. Tatsache war: Am
1. Mai sind in der Tat viele Polen über die deutsche
Grenze gekommen, aber sie sind durchgefahren zu dem
dritten großen Ereignis an diesem Tag, nämlich zur Seligsprechung von Papst Johannes Paul II. in Rom, und
von da aus sind sie nach Polen zurückgekehrt.
({0})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass die Situation, in der wir uns befinden, eine gute ist. Es ist gut für
Deutschland und für Europa, dass wir diese europäische
Freizügigkeit haben, dass wir die Möglichkeit haben, in
dieser Form in Europa zusammenzuwachsen. Möglicherweise gibt es für den deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere unmittelbar an den Grenzen, Probleme. Genau
wissen wir das aber nicht; vieles ist Kaffeesatzleserei.
Wir wissen noch nicht einmal genau, wie viele ein Interesse daran haben, in Deutschland zu arbeiten. Das Entscheidende ist, dass wir gut aufgestellt sind. Wir sind in
Deutschland in jeder Hinsicht gut aufgestellt.
({1})
Ich glaube, dass die Chancen größer sind als die wie
auch immer vermuteten Gefahren.
Ich darf daran erinnern: Als Polen der Europäischen
Union beigetreten ist, gab es zum Beispiel auch in den
deutschen Handwerksbetrieben große Sorge, dass polnische oder tschechische Handwerksbetriebe ihnen auf dem
deutschen Markt in großem Umfang Aufträge wegschnappen könnten, weil sie wesentlich preisgünstiger
anbieten können. Tatsache war aber, dass ganz viele deutsche Handwerksbetriebe Aufträge in Polen und Tschechien bekommen haben.
({2})
Dadurch hat es einen Aufschwung auch bei uns in
Deutschland gegeben. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen, dass wir in Europa gemeinsam mit Optimismus in
die Zukunft schauen können.
({3})
Die Chancen für den Wirtschaftsstandort Deutschland
überwiegen. Wir sind gut gerüstet. Der deutsche Arbeitsmarkt befindet sich in einer guten, in einer ausgezeichneten Verfassung. Die Zahl der Erwerbstätigen ist kontinuierlich gestiegen. Wir haben über 1 Million Menschen
mehr in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekommen. Ich hätte gern gehört, dass bei der einen oder
anderen Maikundgebung nicht nur das blanke Elend in
Deutschland beschrieben worden wäre, sondern dass
auch einmal darauf hingewiesen worden wäre, dass über
1 Million Menschen mehr in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sind.
({4})
Und: Die Menschen, die in Beschäftigung gekommen
sind, zahlen in die Sozialversicherungssysteme ein. Wir
haben bei der Deutschen Rentenversicherung ein Plus
von 3,5 Milliarden Euro; wir haben im Bereich der Arbeitslosenversicherung ein Plus von 0,7 Milliarden Euro.
Das Plus wird wahrscheinlich noch in diesem Jahr auf
1 Milliarde Euro steigen. Das alles sind Indikatoren dafür, dass wir eine gute Entwicklung haben.
Wahrscheinlich werden wir in diesem Monat - wir
hoffen darauf - bei der Zahl der Arbeitslosen die magische Grenze von 3 Millionen unterschreiten, sodass also
weniger als 3 Millionen Menschen arbeitsuchend sind.
Vor fünf Jahren hätten wir noch nicht gedacht, dass
uns einmal diese Frage ereilen würde: Wie bekommen
wir Fachkräfte? Wie bekommen wir den Fachkräftebedarf gedeckt? Wie organisieren wir das?
({5})
Ich sage Ihnen: Vor dieser Frage, wie das zu lösen ist,
stehe ich viel lieber als vor der Frage, wie man
5 Millionen Menschen wieder in Beschäftigung bringt.
({6})
Nach der Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung werden in Deutschland jährlich etwa
200 000 Arbeitskräfte fehlen. Bis 2020 wird das eigene
Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland ohne Zuwanderung um 3,6 Millionen Menschen auf 41 Millionen
Personen sinken. Die Tendenz ist, dass sich der Rückgang noch beschleunigt. Es werden bis 2020 in Deutschland nach den derzeitigen Prognosen 2 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Wir wissen nicht genau, wie sich das
entwickelt. Die optimistische Perspektive ist für uns alle
gegeben. Das ist eine gute Entwicklung. Wenn ich davon
ausgehe - so sind die Prognosen -, dass jährlich etwa
100 000 Menschen aus Polen und den anderen Ländern
zu uns ziehen werden, können wir damit gerade einmal
die Hälfte dessen abdecken, was bei uns in Deutschland
an Fachkräften fehlt.
Aber wir verschließen auch nicht die Augen davor,
dass es Probleme gibt. Wir sehen sehr wohl die Gesamtsituation am deutschen Arbeitsmarkt, auch die Arbeitslosigkeit. Was uns bedrückt, ist die große Zahl der Langzeitarbeitslosen. Wir sehen auch, dass die Gefahr besteht,
dass es zu Lohndumping kommen kann. Aber dem haben
wir vorgebeugt.
({7})
Es gibt mittlerweile 3,9 Millionen Menschen, die einen
tariflichen Mindestlohn, der für allgemeinverbindlich erklärt worden ist, bekommen. Wir haben ihn in der Abfallwirtschaft, im Baugewerbe, im Dachdeckerhandwerk, im Elektrohandwerk, bei der Gebäudereinigung
usw. Dazu kam zuletzt noch die Zeitarbeit. Das sind
3,9 Millionen Menschen!
({8})
Ich halte es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass
ein großer Teil der Beschäftigten in ganz normalen TarifKarl Schiewerling
verträgen ist - in der Elektrobranche, in der Metallbranche und im öffentlichen Dienst.
({9})
Weit mehr als die Hälfte der Beschäftigten haben ganz
normale tarifvertragliche Arbeitsverhältnisse. Sie sind
von der Frage des Mindestlohns überhaupt nicht betroffen. Ich glaube, dass wir uns hier in einer guten Entwicklung befinden.
Wir sind - das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich für ein offensives Herangehen an den tariflichen Mindestlohn: Wenn beide Tarifpartner übereinstimmen und
den Mindestlohn haben wollen, sollten wir dies entsprechend ermöglichen.
Wir diskutieren gerade insbesondere im Zusammenhang mit dem Mindestlohn in der Zeitarbeit, wie die
Zollbehörden die Einhaltung der Regelungen kontrollieren können, damit es zu keinem Missbrauch kommt. Wir
werden das entsprechende Gesetz in Kürze verabschieden. Ich hoffe, dass wir über diesen Weg ein gutes Stück
Ordnung am Markt schaffen.
({10})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Europa gemeinsam in eine gute Zukunft gehen können. Es gibt
keinen Grund zum Pessimismus. Wir haben die Dinge
geregelt, die zu regeln sind.
({11})
Wir freuen uns auf alle, die bei uns eine Erwerbstätigkeit
suchen, und begrüßen sie und ihre Familien herzlich.
Herzlichen Dank.
({12})
Der Kollege Juratovic ist nun der nächste Redner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist selten, dass ein europäisches
Thema jenseits der Euro-Rettung zu Schlagzeilen in
deutschen Zeitungen führt. Für viele Menschen scheint
Europa weit weg von ihrem täglichen Leben zu sein. Als
wir im Januar schon einmal über die Arbeitnehmerfreizügigkeit gesprochen haben, schien es mir auch hier im
Bundestag so zu sein. Jetzt, rund um den 1. Mai, berichten alle Medien groß über die Auswirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Allerdings sieht die Bundesregierung immer noch keinen Handlungsbedarf.
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP - leider ist niemand von der FDP da, soweit ich sehe -, Sie
tun jetzt so, als sei jetzt im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit alles Notwendige gesetzlich geregelt.
Dies ist aber falsch. Das Einzige, was gesetzlich geregelt
wurde, ist der Mindestlohn in der Leiharbeit, den wir Sozialdemokraten Ihnen vor ein paar Monaten mühsam abgetrotzt haben.
({0})
Dieser Mindestlohn ist sehr wichtig, denn dadurch können wir zumindest das schlimmste Lohndumping in der
Leiharbeit verhindern. Doch das reicht nicht aus. Was
wird aus der Krankenschwester, deren lettische Kollegin
bereit ist, für 5 Euro weniger die Stunde zu arbeiten?
Hier gibt es keine ausreichenden Regelungen: Es gibt
keinen flächendeckenden Mindestlohn, kein Equal Pay
und keinen adäquaten Schutz vor Scheinselbstständigkeit.
Kolleginnen und Kollegen, die Wahrheit ist: Die Bundesregierung hat es versäumt, unseren Arbeitsmarkt
rechtzeitig auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten.
({1})
Sie lassen die Arbeitnehmer und die ehrlichen Arbeitgeber wissentlich ins offene Messer laufen. Jetzt stellen Sie
sich hin und sagen: Man muss doch erst einmal abwarten, wie viele Menschen zu uns kommen und wie viel
Missbrauch dann geschehen wird. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das ist absurd. Sie wollen sehenden Auges
zuschauen, wie das Kind in den Brunnen fällt, also Missbrauch von ausländischen und deutschen Arbeitnehmern
bei uns stattfindet. Erst dann wollen Sie zählen, wie viele
Menschen betroffen sind. Bei welcher Anzahl sagen Sie
dann, dass es sich lohnt, politisch zu handeln, wenn 100
Menschen ausgebeutet werden oder erst bei 1 000 oder
100 000? Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, das ist meines Erachtens eine verantwortungslose Politik.
({2})
Es ist unsere politische Aufgabe, nicht nur nach Statistiken zu schauen; wir müssen uns verantwortungsvoll
um die Lebenswirklichkeit jedes einzelnen Menschen
kümmern. Wir alle wissen aus Erfahrung: Wenn die Gesetze eine Möglichkeit geben, Löhne zu drücken, dann
werden diese Lücken früher oder später ausgenutzt.
Wenn einige Unternehmen anfangen, sich durch Niedriglöhne Konkurrenzvorteile zu schaffen, sind die anderen Unternehmen irgendwann durch den Wettbewerbsdruck mehr oder weniger dazu gezwungen, mitzuziehen;
das ist eine betriebswirtschaftliche Logik. Diese Abwärtsspirale müssen wir verhindern, indem wir Lohnuntergrenzen gesetzlich festlegen und gleichen Lohn für
gleiche Arbeit sichern.
({3})
Vor kurzem wurde eine neue Studie zum Thema Mindestlohn vorgestellt. Ich weiß, darüber gibt es viele Studien, und ich weiß, dass die Fronten hier im Bundestag
beinahe ideologisch sind, auch wenn die FDP heute wegen ihres Bundesparteitags praktisch nicht mehr da ist
und hier gar nicht gegen den Mindestlohn wettern kann.
Die Studie lässt aufhorchen. Wenn Deutschland einen
Mindestlohn von 8,50 Euro einführen würde, würde unser Staat mehr als 7 Milliarden Euro mehr einnehmen.
Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich bin mir si12500
cher, dass sich Ihr Finanzminister, Herr Schäuble, sehr
darüber freuen würde.
Ein Mindestlohn trägt massiv zur Konsolidierung des
Bundeshaushaltes bei. Außerdem würde ein Mindestlohn von 8,50 Euro eine Gehaltserhöhung für 5 Millionen Arbeitnehmer bedeuten. Das zeigt, dass derzeit
5 Millionen Menschen in unserem Land einen Lohn haben, von dem sie nicht anständig leben können. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die drohenden Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, mehr Steuereinnahmen und
eine faire Entlohnung für Menschen, die hart arbeiten,
sind nur einige Gründe dafür, endlich einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen.
({4})
Meine Damen und Herren vom Arbeitnehmerflügel der
Union, wenn Sie sich in Ihrer eigenen Partei mit dieser
Forderung, die Herr Weiß erhoben hat, nicht durchsetzen
können, sage ich Ihnen, dass wir Sozialdemokraten Sie
gerne dabei unterstützen.
Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird oft die Hoffnung verbunden, dass Fachkräfte zu uns kommen, die
unsere Wirtschaft dringend braucht. Ohne Zweifel: Wir
müssen zunächst dafür sorgen, dass bei uns kein Jugendlicher verloren geht, weil er keine Ausbildung erhält und
dann in Warteschleifen wie das BVJ geschickt wird.
Auch hier täte die Bundesregierung gut daran, nicht nur
Programme zu kürzen, sondern die Realität in vielen
Hauptschulen zur Kenntnis zu nehmen. Aber alle gute
Ausbildung wird nicht ausreichen, das weiß ich auch.
Wir brauchen die Zuwanderung von Fachkräften, damit
wir weiterhin wirtschaftlich erfolgreich sein können.
Kolleginnen und Kollegen, glauben Sie, dass ein polnischer Facharbeiter nach Deutschland kommt, wenn er
hier einen Lohn von 5 Euro erhält?
({5})
Fachkräfte kommen nicht, wenn sie hier Niedriglöhne
erhalten. Fachkräfte ziehen wir dann an, wenn wir ihnen
soziale Sicherheit durch faire Arbeitsbedingungen bieten
und wenn sie gute Löhne garantiert bekommen.
In unserem Antrag fordern wir genau diese Schritte,
damit Fachkräfte, die zu uns kommen, nicht ausgebeutet
werden und damit unsere Arbeitnehmer kein Lohn- und
Sozialdumping fürchten müssen. Wir fordern einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn und Branchenmindestlöhne, damit eine faire Entlohnung garantiert ist.
Wir fordern eine Aufstockung der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit, damit die Regelungen kontrolliert werden. Wir fordern, dass der Scheinselbstständigkeit ein
Riegel vorgeschoben wird und die Menschen eben nicht
durch Scheinselbstständigkeit ausgebeutet werden, wie
es heute oft geschieht. Wir fordern, dass die Menschen,
die zu uns kommen, eine Beratung bekommen, damit sie
über ihre Rechte informiert sind und Schutz vor Ausbeutung erhalten. All das sind Forderungen mit Augenmaß,
die für eine faire Mobilität in Europa sorgen und sozialen
Schutz auf unserem Arbeitsmarkt schaffen.
({6})
Damit handeln wir in Verantwortung für die deutschen
Arbeitnehmer, aber auch für die europäischen Arbeitnehmer, die bei uns arbeiten möchten.
Die Debatte um die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat in
den vergangenen Wochen auch noch eine tragische Bedeutung erhalten. Die Neonazis nutzen die Arbeitnehmerfreizügigkeit, um Angst zu schüren vor einer vermeintlichen Flut von ausländischen Arbeitnehmern, die,
so behauptet die NPD, den deutschen Arbeitnehmern die
Arbeitsplätze wegnehmen. In meinem Wahlkreis Heilbronn organisierten die Neonazis am 1. Mai eine Demo
gegen die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer.
Das ist ein Spiel mit dem Feuer; denn viele Menschen
haben tatsächlich Angst vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie haben Angst, dass sie ihren Job verlieren, weil
zum Beispiel die lettische Krankenschwester weniger
Lohn fordert. Sie haben Angst, dass die Arbeitgeber das
ausnutzen, um den Lohn zu drücken. Wir müssen den
Menschen diese Angst nehmen.
({7})
Deswegen ist es wichtig, dass die Politik sich darum
kümmert, dass keine Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt
geschieht, sondern dass Zuwanderung ein Gewinn für
alle ist.
({8})
Nur so verhindern wir, dass Neonazis mit ihren fremdenfeindlichen Parolen Profit aus der Debatte um die Arbeitnehmerfreizügigkeit ziehen können.
Was es bedeutet, wenn die Neonazis mit solchen Parolen anfangen, weiß ich aus eigener Erfahrung im ehemaligen Jugoslawien. Dort fing es auch damit an, dass
fremdenfeindliche Parolen auf Fußballfeldern gerufen
wurden. Meine Freunde und auch ich lachten zunächst
darüber. Doch irgendwann begannen meine Freunde und
mit ihnen die Mehrheit der Gesellschaft, diese Parolen
zu akzeptieren und als ihre eigenen zu übernehmen. So
begannen Nationalismus und Separatismus im ehemaligen Jugoslawien.
Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung dürfen
wir hier nicht zulassen. Wir müssen den Nährboden für
diese Naziparolen entziehen, indem wir den Menschen
erklären, was die Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet
und dass wir uns darum kümmern, dass niemand deswegen seinen Job verliert. Dann haben die Menschen keine
Angst mehr und verfallen nicht den fremdenfeindlichen
Sprüchen.
Um das zu erreichen, muss die Bundesregierung endlich einsehen, dass man politisch handeln muss und nicht
erst abwarten darf, bis Missbrauch auf unserem Arbeitsmarkt geschieht. Meine Damen und Herren von der
Regierung, verkriechen Sie sich nicht immer hinter Statistiken, die noch nicht erhoben sind, und hinter irgendwelchen juristischen Klauseln, sondern schauen Sie auf
die Lebenswirklichkeit der Menschen in Deutschland
und in Europa.
({9})
Erlauben Sie mir zum Schluss eine Bemerkung in eigener Sache: Als jemand, der als Gastarbeiter nach
Deutschland kam, weiß ich zu genau, was es heißt, ausgenutzt zu werden - sich zumindest so zu fühlen - und
zum Sündenbock abgestempelt zu sein. Wir müssen uns
um die Menschen kümmern, die zu uns kommen. Sie
brauchen Anlaufstellen und Beratung, damit sie wissen,
wie sie sich hierzulande zurechtfinden können. Das müssen wir aus Verantwortung für diese Menschen tun.
Mir ist es sehr wichtig, dass wir die Fehler aus den
Zeiten der Gastarbeiter nicht wiederholen. Bei der Debatte um Zuwanderung reden wir ausschließlich über
notwendige Fachkräfte für unsere Wirtschaft. Wir müssen aber wissen, dass zu uns Menschen mit ihren sozialen Bedürfnissen kommen und nicht nur Arbeitskräfte.
({10})
Das ist die Grundvoraussetzung für eine gelungene Integrationspolitik heute und in der Zukunft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Johannes Vogel von der FDP-Fraktion hat seine Rede
zu Protokoll gegeben.1)
Ich gebe das Wort Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute ist Freitag, der 13. Das ist ein eher
schlechter Tag für die Menschen, die seit dem 1. Mai
ohne Hürden aus Estland, Lettland, Litauen, Polen usw.
zu uns kommen können. Denn seit dem 1. Mai 2011 gilt
die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Bundesregierung hat
es aber verschlafen, rechtzeitig zu diesem Termin entsprechende Regelungen zu treffen.
Worum geht es? Seit dem 1. Mai können Beschäftigte
aus diesen Ländern ohne bürokratische Hürden in
Deutschland arbeiten, und das finden wir absolut gut und
richtig.
({0})
Dahinter verbirgt sich genau das, was wir alle immer begrüßt haben, nämlich die europäische Idee. Als jemand,
der gerne international denkt, finde ich das einfach toll.
({1})
1) Anlage 3
Wir finden es aber nicht gut und auch nicht richtig,
dass es keine gesetzliche Regelung gibt, die diese Menschen vor Ausbeutung schützt. Stattdessen kann diese
Situation genutzt werden, um Löhne zu drücken. Schon
heute schwärmen Arbeitgeber aus und suchen Menschen, die zu Dumpinglöhnen in Deutschland arbeiten.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus der Praxis berichten:
Eine Polin, die als Pflegerin in einer deutschen Familie
arbeitet, hat einen Arbeitsvertrag, in dem steht, dass sie
sieben Tage pro Woche, acht Stunden am Tag arbeiten
und darüber hinaus sechs Stunden in Bereitschaft stehen
muss. Immerhin hat sie acht Stunden Nachtruhe - das ist
auch in Ordnung so - und zwei Stunden Freizeit. Dafür
zahlt die deutsche Familie 1 400 Euro im Monat an eine
Agentur. Diese behält 600 Euro davon ein. Die Polin, die
in Deutschland in der Familie arbeitet, bekommt
800 Euro brutto.
Mit der Einstellung einer Haushaltshilfe wird an dieser Stelle der Branchenmindestlohn umgangen. Es ist
klasse, dass es Branchenmindestlöhne gibt. Es ist auch
klasse, dass es einen Branchenmindestlohn in der Pflege
gibt; aber man muss wissen, dass dieser Branchenmindestlohn nicht gilt, wenn eine Person gleichzeitig als
Haushaltshilfe beschäftigt wird. Das ist eine Möglichkeit
zur Umgehung des Branchenmindestlohnes, die auf dem
Tisch liegt und die man einfach nur anwenden muss.
Was tut die Bundesregierung? Nichts!
({2})
Man muss sich fragen: Wie ist so etwas möglich? Das
ist möglich, weil Arbeitgeber die Tatsache ausnutzen,
dass viele dieser Beschäftigten schlecht deutsch sprechen und ihre Rechte als Arbeitnehmer schlecht oder gar
nicht kennen. Das ist auch deshalb möglich, weil es keinen flächendeckenden Mindestlohn gibt, der genau diese
Fälle verhindern würde. Wir als Linke sagen: Wir brauchen ein Netzwerk von Beratungsstellen für die osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen, die zu uns kommen.
({3})
Es gibt bisher nur eine solche Beratungsstelle, die Arbeitnehmer berät. Es handelt sich um eine Beratungsstelle hier in Berlin. Sie wurde initiiert von Senator
Harald Wolf von den Linken. Umgesetzt wurde die Idee
vom DGB, wo die Beratungsstelle auch angesiedelt ist.
Die EURES-Beratungsstellen sind kein wirklicher Ersatz. Sie vermittelt zwar Arbeitskräfte in andere Länder,
beraten die Arbeitnehmer aber nicht bezüglich ihrer
Rechte, kontrollieren keine Arbeitsverträge und helfen
den Betroffenen nicht bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche, wenn sie zum Beispiel von einem Arbeitgeber
in dem Land, in dem sie arbeiten, kein Geld bekommen.
Frau Kollegin, Herr Röhlinger würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
({0})
Bitte schön.
Herzlichen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit geben,
nachzufragen, ob Sie das sogenannte Paderborner Modell kennen.
({0})
Wenn nein, dann würde ich es Ihnen gerne erläutern.
Frau Stüber kann bestätigen - sie hört gerade nicht zu -,
dass wir vor etwa zehn Tagen in Warschau waren und
uns bei der Caritas, dem Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche, diesbezüglich erkundigt haben. Das
Paderborner Modell basiert auf einer Vereinbarung zwischen der Caritas in Polen und der Caritas in der Bundesrepublik Deutschland, nach der man sich bei Beratungsbedarf in Fällen wie dem, den Sie geschildert
haben, an die Caritas wenden kann. Es wird Einfluss auf
die vertraglichen Regelungen genommen. Dabei geht es
speziell um Frauen, die in der Hauswirtschaft oder im
Pflegedienst arbeiten. Die Caritas nimmt deswegen Einfluss, weil sie dafür sorgen will, dass die Arbeitgeberleistungen entsprechend erbracht und Dumpinglöhne
verhindert werden. Sie haben mit Recht gefragt, ob es
Beratungsstellen gibt. Diese Information haben wir aus
Warschau mitgebracht. Vielleicht hilft Ihnen das ein bisschen weiter.
Danke schön.
Vielen Dank für die Information. - Ich finde es toll,
dass sich die Caritas um diese Menschen kümmert und
in ihrem Bereich Arbeitnehmer berät. Ich finde, das ist
ein toller Schritt. Die Kirche nimmt an dieser Stelle wenigstens ihre Verantwortung wahr. Daher kann ich nur
sagen: tolle Sache! Ich würde mich freuen, wenn Sie mir
weitere Unterlagen zu dem Paderborner Modell zur Verfügung stellen könnten - Paderborn liegt bei mir fast um
die Ecke -, damit ich mir das einmal anschauen kann.
({0})
Ich gehe aber davon aus, dass diese Beratung kein Ersatz für die Beratung in Fragen der Geltendmachung von
Rechten ist, die nur eine Gewerkschaft leisten kann. Dies
kann eine Kirche meines Wissens nicht leisten, weil das
eine rechtliche Beratung ist. Die Hilfe, die Sie beschrieben haben, ist aber gut.
({1})
Die Fälle, die diese Beratungsstelle - wie gesagt, es
gibt sie schon; sie ist beim DGB angesiedelt - bearbeiten
muss, sind haarsträubend. Wir haben uns einmal mit den
Mitarbeitern zusammengesetzt, und sie haben uns von ihrer Arbeit erzählt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Gelegenheit haben, mit den Mitarbeitern dieser Beratungsstelle zu
reden, nutzen Sie sie. Das heißt in der Konsequenz: Wir
brauchen solche Arbeitnehmerberatungsstellen nicht nur
in Berlin, sondern von Stralsund bis Oberammergau.
({2})
Mittlerweile sind überall in Deutschland Menschen aus
anderen Ländern tätig.
Außerdem - das möchte ich noch einmal sagen, weil
es mir am Herzen liegt; wenn es sein muss, singe ich Ihnen das gerne vor - brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn. Die Branchenmindestlöhne bilden nur
einen Flickenteppich, der von einem flächendeckenden
Mindestlohn untersetzt und umspannt werden muss. Das
ist in 20 anderen europäischen Ländern möglich, aber
nicht in Deutschland. Das empfinde ich als absolut negativ. Hier in Deutschland bewegt sich hinsichtlich der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns nichts.
Die Einführung eines Mindestlohns wäre aber ein Zeichen ökonomischer und politischer Vernunft. Mindestlohn plus Beratungsstellen würden dazu führen, dass
man für die Menschen, die in Zukunft bei uns erfreulicherweise arbeiten, endlich etwas tut.
({3})
Brigitte Pothmer hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde, die Briten haben es richtig gemacht.
({0})
Sie haben die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen
Beitrittsländer ab dem ersten Tag ermöglicht. Die Briten
haben in jeder Hinsicht davon profitiert;
({1})
denn sie haben im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit sowohl die einheimischen wie auch die
zugewanderten Beschäftigten von Anfang an vor Lohndumping geschützt. Sie haben auch die Unternehmen
vor unfairen Wettbewerbsbedingungen geschützt. Das
hat sich für die Briten in jeder Hinsicht ausgezahlt.
({2})
Herr Schiewerling, Sie haben gerade in Ihrer Rede
noch einmal die Chancen betont und gesagt, wie gut es
sei, dass wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit haben.
({3})
Aber Sie von der CDU/CSU-Fraktion waren immer dabei, wenn es darum ging, den deutschen Arbeitsmarkt
abzuschotten. Noch vor zwei Jahren haben Sie mit beschlossen, die Frist für die Übergangsbestimmungen bis
zum letzten Tag auszuschöpfen. Damit haben Sie ein Signal an die Beitrittsländer gesendet. Sie haben den Leuten im Grunde die Tür vor der Nase zugeschlagen.
({4})
Das wirkt noch heute nach. Sie haben an die Polen und
an die Menschen in den anderen Ländern das Signal gesendet, dass sie hier nicht willkommen sind.
Das wird sich jetzt auswirken. Wir sind auf die Zuwanderung angewiesen. Jetzt müssen Sie den Arbeitsmarkt öffnen; Sie kommen nicht mehr darum herum. Sie
haben mittlerweile auch gemerkt, dass das Thema Fachkräftemangel kein Horrorszenario ist, das von Schwarzmalern inszeniert wird. Jetzt sagt die Bundesarbeitsministerin: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine große
Chance.
Ich glaube allerdings, dass Sie die Chancen, die die
Arbeitsministerin jetzt beschwört und die Sie, Herr
Schiewerling, hier benannt haben, bereits leichtfertig
vertan haben. Den Wettbewerb um die klügsten Köpfe
und um die geschicktesten Hände haben Sie bereits verloren. Denn diejenigen, die ausreisewillig sind und die
woanders arbeiten wollen, haben in anderen europäischen Ländern und auch in anderen Ländern der Welt
längst einen Arbeitsplatz gefunden.
({5})
Ich finde, es ist geradezu niedlich, dass die Bundesagentur für Arbeit jetzt in Stettin eine Niederlassung eröffnet hat. Jeden Dienstag, den Gott werden lässt, berichtet die Bundesagentur für Arbeit in Stettin über das
Leben in Deutschland. Das hat mittlerweile zu 61 Anfragen geführt. Ich glaube, daraus wird zunächst einmal
keine Massenbewegung.
Ich möchte ein paar Worte an die FDP richten. Ich
weiß, Sie waren von Anfang an immer dafür, den Arbeitsmarkt - auch über die EU-Grenzen hinaus - zu öffnen. Sie waren immer für die Freizügigkeit. Daran hat es
bei Ihnen nie gehapert. Bei Ihnen hapert es aber an der
Bereitschaft, Sicherheit zu geben. Immer da, wo Freizügigkeit und Sicherheit miteinander verbunden werden
sollen, blockieren Sie bis zum heutigen Tag.
({6})
Mein Eindruck ist, dass sich der mitfühlende Liberalismus von Herrn Rösler nur auf die eigenen Leute beschränkt, also auf Herrn Brüderle und Frau Homburger.
Das, was außerhalb Ihrer Partei geschieht, interessiert
Sie doch nur einen feuchten Kehricht.
Die Wahrheit ist doch - die meisten von Ihnen wissen
das -, dass ein offener Arbeitsmarkt auch soziale Leitplanken braucht.
({7})
Das ist eine Überzeugung, die sich nicht nur bei einem
Teil dieses Hauses breit durchgesetzt hat. Auch in Ihrer
Fraktion, in der CDU/CSU-Fraktion, hat sich diese Auffassung doch weitgehend durchgesetzt - bei Ihnen, Herr
Schiewerling, doch schon lange. Ich weiß, es gibt noch
die ideologisch Verbohrten bei der FDP und auch ein
paar Hardcorevertreter bei der CDU, aber die kundigen
Thebaner, wie zum Beispiel Herr Weiß oder Herr
Zimmermann,
({8})
werben doch quasi jede Woche für einen gesetzlichen
Mindestlohn. Herr Zimmer hat in der vergangenen Woche sogar ein flammendes Plädoyer für den Mindestlohn
im Handelsblatt veröffentlicht. Ich finde, das sollte in
den Koalitionsfraktionen Pflichtlektüre werden.
({9})
Schauen Sie doch einmal auf die Internetseite des
BMAS. Da finden Sie unter dem Thema „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ ganz fett gedruckt: „Mindestlöhne garantieren fairen Wettbewerb“. Bravo, kann ich dazu nur sagen. Schade nur, dass sich diese Erkenntnis nicht über
diese Internetseite weiterverbreitet.
({10})
Wirklich alle Argumente - Herr Juratovic hat darauf hingewiesen - sprechen für den Mindestlohn. Die BerkeleyStudie hat noch einmal deutlich bewiesen, dass es keine
negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat, Mindestlöhne einzuführen.
({11})
Das IAB sieht bei einem klug eingeführten Mindestlohn
sogar positive Arbeitsplatzeffekte, und im Prognos-Gutachten wird festgestellt, dass es zu Milliardenmehreinnahmen für die öffentlichen Haushalte kommen würde,
wenn der Mindestlohn eingeführt werden würde.
Sie sagen jetzt, dass wir in der Leiharbeit Mindestlöhne haben. 3,6 Millionen Menschen seien über Mindestlöhne geschützt. Erstens haben wir Sie, Herr
Schiewerling, in dieser Frage nun wirklich zum Jagen
tragen müssen.
({12})
Zweitens bedeutet gerade der Mindestlohn in der Leiharbeit noch lange nicht gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Dafür hätten Sie sich zum Equal Pay durchringen müssen. Herr Schiewerling, Sie müssen den Beschäftigten,
die nicht durch Mindestlöhne geschützt werden, einmal
erklären, warum das für sie nicht gelten soll, was Sie für
die anderen doch als richtig und gut bezeichnen.
({13})
Wir brauchen für alle Beschäftigten in allen Branchen
Mindestlöhne. Wir müssen alle vor Lohndrückerei
schützen. Das geht nur mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.
Ich komme noch zu einem ganz anderen Thema. Es
ist wirklich interessant, wie diese Bundesregierung mit
den rechtlichen Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit umgeht. Sie vom Arbeits- und Sozialministerium wissen genau: Um die Freizügigkeit rechtlich abzusichern, müssten Sie eigentlich das Aufenthaltsgesetz,
das SGB III und das Freizügigkeitsgesetz ändern. Es
liegt uns kein einziger Gesetzentwurf zu dieser Thematik
vor.
({14})
Was machen Sie? Sie geben der Bundesagentur für Arbeit eine klammheimliche Anweisung. In dieser Anweisung steht, dass festgeschriebenes Recht jetzt nicht mehr
gelten soll. Damit riskieren Sie ein Vertragsverletzungsverfahren. Warum sind Sie in dieser Frage eigentlich so
verschämt?
({15})
Warum sind Sie nicht bereit, europäisches Recht in nationales Recht umzusetzen? Warum sorgen Sie nicht dafür, dass diejenigen, die zu uns kommen, einen rechtlich
sicheren Rahmen vorfinden? Wir werden Ihnen in den
nächsten Wochen einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorlegen. Dann werden wir sehen, wie Sie als Parlamentarier und Gesetzgeber zu Ihrer Aufgabe stehen. Ich bin
gespannt.
({16})
Abschließend will ich zwei Aspekte, die eng zusammengehören, betonen: die Arbeitnehmerfreizügigkeit
und den Fachkräftemangel. Ja, es ist richtig: Experten
des IAB gehen davon aus, dass wir mit ungefähr 140 000
zusätzlichen Arbeitnehmern pro Jahr, die zu uns kommen, rechnen können. Das ist eine sehr positive Prognose. Ich sage Ihnen: Selbst wenn es zu diesen 140 000
Zuwanderungen pro Jahr kommt, dann wird dies, was
den Fachkräftemangel angeht, nur ein Tropfen auf den
heißen Stein sein.
Ihre Bundesregierung, Herr Schiewerling, hat übrigens andere Zahlen als die, die Sie gerade vorgetragen
haben. Ihre Bundesregierung geht davon aus, dass in
15 Jahren 6,5 Millionen Fachkräfte in Deutschland fehlen werden. Das ist eine gigantische Lücke. Eine solche
Lücke kann man nur schließen, wenn man eine breit angelegte, aufeinander abgestimmte kluge Strategie hat.
Aber in dieser Frage streitet die Koalition bereits seit
über einem Jahr ohne jedes Ergebnis. In Ihrer Bundesregierung sind acht Ministerien mit dieser Frage betraut.
({17})
Acht Ministerien, acht Meinungen, null Ergebnis! Ich
sage Ihnen: Was Sie da aufführen, ist wirklich eine
Posse. Das Problem ist: Der Fachkräftemangel fängt bei
dieser Bundesregierung an.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit dem 1. Mai dieses Jahres gilt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die der Europäischen Union im Jahre 2004
beigetreten sind. Ich erkläre für die Bundesregierung
ganz deutlich: Wir begrüßen die europäische Normalität,
die damit eintritt.
({0})
Die uneingeschränkte Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist ein ganz wesentliches Element
eines gemeinsamen Europas. Das begrüßen wir.
({1})
Es lässt sich gleichzeitig feststellen, dass sich die
Übergangszeit von sieben Jahren bis zum Inkrafttreten
der Arbeitnehmerfreizügigkeit bewährt hat. Zum einen
ist die Situation heute eine völlig andere als beim Beitritt
der neuen Mitgliedstaaten oder bei der letzten Verlängerung vor zwei Jahren. Die neuen Mitgliedstaaten haben
wirtschaftlich enorm aufgeholt, und das Lohngefälle ist
nicht mehr so groß wie kurz nach ihrem Beitritt. Zum
anderen konnte der deutsche Arbeitsmarkt während der
Übergangszeit schrittweise an die volle Freizügigkeit herangeführt werden. Das heißt, wir haben diese Zeit, die
sieben Jahre, gebraucht, und wir haben sie genutzt.
({2})
In den persönlichen Anmerkungen, die Sie, Herr Kollege Juratovic, gemacht haben, hat mich ein bisschen erschreckt, dass Ihnen zum Thema Freizügigkeit nicht zuletzt Begriffe wie „Ausbeutung“ und „Missbrauch“
eingefallen sind; das waren ganz wesentliche Begriffe in
Ihrer Rede. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Arbeitnehmerfreizügigkeit darf in diesem Land nicht zur Lohndrückerei missbraucht werden. Das ist die ganz klare Position
der Bundesregierung.
({3})
Ich rate dringend dazu, auch die Chancen zu sehen.
Ich bedaure sehr - die Bundesregierung ist darüber bestürzt -, dass sich Ihre Äußerungen in die Reihe der Äußerungen anderer Mitglieder Ihrer Partei einfügen, nicht
zuletzt Ihres Parteivorsitzenden. Herr Gabriel hat am
14. April dieses Jahres ausweislich des Protokolls in einer Plenardebatte erklärt:
Dann
- am 1. Mai wird der Arbeitsmarkt für die osteuropäischen Arbeitskräfte geöffnet.
In Bezug auf die osteuropäischen Arbeitskräfte hat er
dann weiter gesagt:
Sie dringen richtig in den ersten Arbeitsmarkt ein.
({4})
Ich halte das für eine skandalöse Aussage. Qualifizierte Fachkräfte, die wir hier brauchen und die ihre
selbstverständlichen Freiheitsrechte wahrnehmen, sind
uns willkommen. Sie sind keine Eindringlinge in diesem
Land. Hüten Sie sich vor solchen Ausdrücken!
({5})
Nachdem wir uns intensiv mit allen Daten und Fakten
beschäftigt haben, erwartet die Bundesregierung aus guten Gründen keinen Ansturm von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedstaaten. Wir
haben nicht erst jetzt alle Hürden abgebaut. Für hochqualifizierte Menschen aus unseren Nachbarstaaten war
der Zugang zu unserem Arbeitsmarkt schon vorher frei.
Jetzt sind sozusagen die letzten Hürden beim Zugang zu
unserem Arbeitsmarkt beseitigt worden.
Wir rechnen damit, dass in den ersten Jahren circa
100 000 Menschen zusätzlich auf unseren Arbeitsmarkt
kommen. Wenn man berücksichtigt, dass in den Staaten,
die jetzt die Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen können, rund 73 Millionen Menschen leben, dann ist es nur
etwa 1 Promille dieser Menschen, die pro Jahr zu uns
kommen werden. Das ist auch nachvollziehbar. Denn die
wenigsten verlassen einfach so ihre Heimat, um in einem
anderen Land arbeiten zu können. Wir haben auch nicht
zu kommentieren, welche Entscheidungen die Menschen
treffen. Es ist nicht in erster Linie ein arbeitsmarktpolitisches Thema, sondern ein Freiheitsthema.
({6})
Dass sich die Menschen, 50 Jahre nachdem wenige Meter von hier entfernt die Berliner Mauer errichtet worden
ist, in Europa frei bewegen können, ist die entscheidende
Botschaft der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Entscheidend
ist nicht, Fachkräfteprobleme zu lösen.
({7})
In der Tat kann der schon jetzt in einigen Regionen
bestehende Fachkräftemangel nicht durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit für acht mittel- und osteuropäische
Länder gelöst werden. Das war auch nie die Absicht dieser Regelungen. Wenn wir für unser Land werben wollen, sollten wir kein Zerrbild des deutschen Sozialstaats
zeichnen. Wenn man das, was teilweise von der Opposition behauptet wird, ernst nehmen würde, dann müsste
man Fachkräften dringend abraten, in dieses Land zu
kommen. Deutschland ist ein wirtschaftlich starkes und
sozial solides Land mit einem gut ausgebauten Sozialsystem, in dem es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.
({8})
Im Gegensatz zu dem, was die Opposition sagt, hat
die Bundesregierung ihre Hausaufgaben in Vorbereitung
auf den 1. Mai dieses Jahres gemacht. Es ist legitim, dass
auch diejenigen, die in der rot-grünen Koalition sieben
Jahre Zeit hatten, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, dies aber nicht getan haben, jetzt gebetsmühlenartig ihr Credo von einem gesetzlichen Mindestlohn wiederholen.
({9})
Das ist legitim, hat aber nichts mit den Problemen zu
tun, die sich um den 1. Mai dieses Jahres herum ergeben.
In all den sensiblen Branchen, von denen wir wissen,
dass Probleme drohen können - im Baubereich, im Gebäudereinigerbereich und im Pflegebereich - hat die
christlich-liberale Koalition dafür gesorgt, dass im letzten Jahr der Mindestlohn wirksam wurde. Das wurde in
der Pflegebranche von den Beteiligten vereinbart. Ab
1. Juni gilt in der sensiblen Branche des Wach- und Sicherheitsgewerbes ein für alle geltender tariflicher Mindestlohn. In der Zeitarbeitsbranche, in der es, wie wir
wissen, Problemdruck geben kann, haben wir es geschafft, rechtzeitig vor dem 1. Mai gesetzliche Regelungen hinzubekommen.
Es gibt keinen seriösen Grund, anzunehmen, dass
jetzt Millionen von Friseuren kommen, um in dieser
Branche Lohndruck auszuüben. In sensiblen Branchen,
von denen wir wissen, dass es Probleme geben kann, hat
die Bundesregierung gehandelt. Wir haben im Hinblick
auf den 1. Mai unsere Hausaufgaben gemacht.
({10})
Wir haben dies genau in der Tradition der sozialen
Marktwirtschaft getan, in der die Tarifvertragsparteien
für die Lohnfindung zuständig sind. Wir haben sie ermutigt, zu Regelungen zu kommen. Sie sind auch zu Regelungen gekommen, und wir haben mit entsprechenden
Mindestlohnverordnungen dafür gesorgt, dass Lohnuntergrenzen gelten und Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht
zu Lohndrückerei missbraucht werden kann.
Wir werden das auch in Zukunft mit der gebotenen
Sorgfalt kontrollieren. Denn das ist in der Tat wichtig. Es
geht nicht nur darum, Regelungen auf dem Papier zu haben; man muss auch dafür sorgen, dass sie eingehalten
werden. Einen Gesetzentwurf, der die entsprechenden
Kontrollen regelt, hat die christlich-liberale Koalition
gestern im Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht.
Wir werden ihn jetzt beraten und, so denke ich, auch verabschieden.
Wir wissen, dass wir darauf achten müssen, dass es
nicht zum Missbrauch kommt. Niemand sollte heute so
tun, als wüsste er in einer Situation, in der mehr Menschen als je zuvor aus mehr Ländern als je zuvor an ein
und demselben Tag die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt wird, genau, was passiert.
Im Jahr 50 nach dem Mauerbau ist diese Freiheit für
die Menschen in Europa ein gewaltiges, großartiges Ergebnis; das steht im Mittelpunkt. Die Chancen überwiegen die Risiken. Die Bundesregierung hat ihre Hausauf12506
gaben gemacht. Die christlich-liberale Koalition wird
die Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial und gerecht gestalten.
Herzlichen Dank.
({11})
Eva Högl hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich stimme meinem Vorredner, dem Herrn Staatssekretär, ausdrücklich in einem Punkt zu, aber nur in diesem einen:
({0})
Der 1. Mai war ein guter Tag für Europa. Das kann nicht
oft genug gesagt werden. Deswegen sage ich zu Beginn
meiner Rede: Europa rückt näher zusammen. Auch für
die acht Mitgliedstaaten, die 2004 beigetreten sind, gilt
endlich die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es gibt
auch keine Beschränkungen mehr bei der Dienstleistungsfreiheit. Das ist ein großer Erfolg für Europa, aber
auch für uns; denn bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit
und der Dienstleistungsfreiheit handelt es sich nicht
- ich sage das ganz bewusst - um eine europäische Kleinigkeit, sondern um eine Grundfreiheit, um ein fundamentales Recht, auf das Europa gegründet ist.
({1})
Ich will keine Vergangenheitsbewältigung betreiben,
aber ich habe aus diesem Grund immer zu denjenigen
gehört, die es von Anfang an falsch gefunden haben, bestimmten Personen diese Grundfreiheiten vorzuenthalten.
({2})
Ich freue mich, dass sich nun endlich auch die Menschen aus diesen acht Mitgliedstaaten in Europa frei bewegen können, dass sie entscheiden können, wo sie leben und arbeiten. Das macht Europa aus. Wir wissen,
dass wir hier im Haus für Europa werben müssen. Wir
müssen versuchen, den Menschen deutlich zu machen,
warum Europa der richtige Weg für ein wirtschaftlich erfolgreiches Land wie Deutschland ist. Das ist eine wichtige Aufgabe unserer Europapolitik.
Wir zeigen damit auch, dass sich Europa nicht nur um
wirtschaftliche Belange kümmert. Ich will das überhaupt
nicht kleinreden. In den Bereichen Wirtschaft und Finanzen stehen wir vor schwierigen Herausforderungen. Wir
stehen aber auch vor der Aufgabe, jeden Tag deutlich zu
machen, dass sich Europa um die Themen kümmert, die
die Menschen bewegen: Habe ich einen sicheren Arbeitsplatz? Habe ich ausreichend soziale Sicherheit? Wie
geht es mit meiner Ausbildung weiter? Wie wird mir geholfen, wenn ich von Armut bedroht bin? Das sind Themen, um die sich Europa kümmern muss. Das machen
wir im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit deutlich.
({3})
Auch wenn das nicht ganz zum Thema passt, möchte
ich Folgendes erwähnen: Ich bin sehr in Sorge, wenn ich
sehe, wie jetzt über die Freiheit des Personenverkehrs
und das Schengen-Regime diskutiert wird. Einzelne Mitgliedstaaten versuchen aus nationalem Interesse, diese
Errungenschaft wieder rückgängig zu machen und den
Personenverkehr einzuschränken. Ich bitte alle, gemeinsam dagegen zu kämpfen und sich weiter dafür einzusetzen, dass sich alle Menschen in Europa frei bewegen
können.
({4})
Herr Staatssekretär, ich stimme Ihnen ausdrücklich
nicht zu - das wird Sie sicherlich nicht überraschen -,
wenn Sie sagen, dass die Bundesregierung ihre Hausaufgaben gemacht hat und gut vorbereitet ist. Die Bundesregierung ist alles andere als gut vorbereitet. Wenn Sie
sagen, dass die sieben Jahre Übergangszeit sich bewährt
haben und von der Bundesregierung genutzt wurden,
dann frage ich: Wie wurden sie denn genutzt?
({5})
Ich stelle fest, dass die Bundesregierung überhaupt nicht
vorbereitet ist. Obwohl die Notwendigkeit bestand,
wurde die Arbeitnehmerfreizügigkeit politisch nicht gestaltet. Die sieben Jahre wurden nicht genutzt, um uns
auf den 1. Mai gut vorzubereiten.
Es ist schon gesagt worden - ich wiederhole es, weil
es nicht oft genug gesagt werden kann -: Wir müssen allen Menschen in unserem Land faire Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne und soziale Sicherheit garantieren.
Herr Brauksiepe, es ist kein Zerrbild des deutschen Arbeitsmarktes, wenn wir darauf verweisen, dass es Menschen in unserem Land gibt, die von den Löhnen, die sie
bekommen, weder sich selbst noch ihre Familien ernähren können. Heute ist wieder zu lesen, dass es in unserem Land fast 1,4 Millionen sogenannte Aufstocker gibt.
Viele Menschen in unserem Land können also von ihren
Löhnen nicht leben. Das ist kein Zerrbild, sondern macht
deutlich, dass Handlungsbedarf auf dem deutschen Arbeitsmarkt besteht.
({6})
Es ist ebenfalls schon gesagt worden - ich möchte das
noch einmal hervorheben -: Andere Mitgliedstaaten in
Europa haben uns vorgemacht, wie man es machen
kann. Die Mitgliedstaaten nämlich, die von Anfang an
ihre Arbeitsmärkte geöffnet haben, die die Grundfreiheiten von Anfang an nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten verwirklicht haben, haben gezeigt, dass man vorher, bevor der Beitritt erfolgt, bevor die Grundfreiheiten
Wirklichkeit werden, politisch gestalten muss. Im Übrigen zeigen alle Statistiken: Für diese Mitgliedstaaten
war es eine gute und richtige Entscheidung, den ArbeitsDr. Eva Högl
markt zu öffnen. Alle Mitgliedstaaten, die das getan haben - Sie haben es schon erwähnt -, haben davon profitiert. Aber sie alle haben einen Mindestlohn - sie haben
alle einen Mindestlohn! - und haben damit deutlich gemacht, dass sie klar Nein sagen zu Lohn- und Sozialdumping.
({7})
Das war eine wichtige Voraussetzung vor der Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon viel
dazu gesagt worden, dass der Mindestlohn ein wesentlicher Bestandteil sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit für alle Menschen in unserem Land ist. Ich
möchte aber noch einmal darauf verweisen, dass auch
die wirtschaftliche Vernunft einen Mindestlohn gebietet.
Es ist nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch
genau der richtige Weg, einen Mindestlohn einzuführen.
Wir haben erst vor kurzem eine Studie auf den Tisch bekommen - ich empfehle die Lektüre; das lohnt sich
wirklich -, die klar und sehr gut nachvollziehbar darlegt,
dass ein Mindestlohn von etwa 8,50 Euro - das ist untersucht worden - rund 5 Millionen Menschen in unserem
Land ein zusätzliches Haushaltseinkommen von insgesamt 14,5 Milliarden Euro ermöglichen würde. Das ist
für die Familien sehr wichtig.
({8})
Gleichzeitig - auch darauf achten wir in diesem Haus ja
immer - würde der Bundeshaushalt entlastet werden.
Die Schätzung sagt, dass dies 7 Milliarden Euro ausmachen würde. Auch das sollten wir nicht ignorieren, sondern in unsere politischen Entscheidungen einbeziehen.
Zu beachten sind auch die damit verbundenen Steuern
und Sozialbeiträge in Höhe von 2,7 Milliarden Euro.
Das sind ökonomische Rahmenbedingungen, die ganz
klar für einen Mindestlohn sprechen. Wenn Sie nicht die
soziale Gerechtigkeit überzeugt, dann doch bitte die
ökonomische Vernunft.
Ich war etwas erstaunt, festzustellen, dass auf der
Homepage des Arbeitsministeriums der Mindestlohn gelobt wird, und kann nur hoffen, dass die Homepage jetzt
nicht korrigiert wird, sondern dass das weiterhin dort zu
lesen sein wird.
Ich verstehe eines nicht, Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen: Wenn Sie für einen Mindestlohn in einzelnen Branchen werben und das hier sogar positiv
darstellen, warum wollen Sie das den anderen Menschen
in anderen Branchen - das verstehe ich überhaupt nicht vorenthalten? Das versteht in unserem Land, glaube ich,
niemand.
({9})
Ich möchte noch eine Bemerkung zum Fachkräftemangel machen. Beim Thema Fachkräftemangel kann
ich nur feststellen: Die Bundesregierung hat dieses Problem verschlafen. Wir stehen jetzt vor der Frage: Wie
können wir etwas gegen den Fachkräftemangel tun? Natürlich sind wir uns einig, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit und der potenzielle Zuzug aus den acht Mitgliedstaaten unseren Fachkräftemangel nicht beseitigen. Aber
wir müssen ebenfalls zur Kenntnis nehmen: Auch in diesen acht Mitgliedstaaten hat sich die politische Lage verändert. Noch kurz nach dem Beitritt haben die acht Mitgliedstaaten immer vorgetragen, dass sie sehr enttäuscht
sind, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht verwirklicht wurde. Wenn Sie aber jetzt Gespräche mit Vertretern dieser Mitgliedstaaten führen, stellen Sie fest, dass
alle in Sorge sind, weil auch in diesen Staaten ein Fachkräftemangel droht.
({10})
Es ist überhaupt nicht klar, ob gut ausgebildete Kräfte
aus diesen Ländern zu uns kommen; denn diese Länder
haben ein großes Interesse daran, ihre eigenen Fachkräfte zu behalten.
({11})
Einen Gesichtspunkt möchte ich in diesem Zusammenhang noch erwähnen: Deutschland ist nicht mehr so
attraktiv, wie es das einmal war; denn die Löhne sind im
europäischen Vergleich so niedrig - auch das ist schon
erwähnt worden -, dass es gar nicht unbedingt ausgemacht ist, dass sich gut qualifizierte Arbeitskräfte nach
Deutschland aufmachen, um hier zu arbeiten.
Beim Thema Fachkräftemangel gibt es einen weiteren
Punkt, bei dem wir viel engagierter vorgehen müssen.
Das ist ein Auftrag an uns hier im Haus. Ich meine die
Anerkennung von Berufsqualifikationen.
({12})
Meine Damen und Herren, gerade im Pflegebereich sehen wir, dass viele examinierte Pflegekräfte aus dem
Ausland, die gut ausgebildet sind, bei uns nicht als examinierte Pflegekräfte arbeiten können, sondern als Pflegehelferinnen oder Haushaltshilfen - das wurde schon
erwähnt - quasipflegerische Tätigkeiten ausführen, wofür sie überhaupt nicht angemessen bezahlt werden. Es
ist also festzustellen, dass sie auf unserem Arbeitsmarkt
keinen Arbeitsplatz entsprechend ihrer Qualifikation finden. Es ist dringender Handlungsbedarf gegeben, was
die Anerkennung von Qualifikationen angeht, wenn wir
für qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv sein wollen.
({13})
Ich möchte noch einen Punkt aufgreifen, den Sie genannt haben, nämlich den Hinweis darauf, dass es in diesem Zusammenhang kein Gesetz gibt, sondern nur eine
Anweisung an die Bundesagentur für Arbeit. Da setzt
sich fort, was wir bei der Bundesregierung in der Europapolitik kontinuierlich erleben. Ich persönlich halte es
für einen Riesenskandal, dass wir als Parlament an wichtigen politischen Entscheidungen systematisch nicht beteiligt werden.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Die
Arbeitnehmerfreizügigkeit muss durch gesetzliche Än12508
derungen umgesetzt werden. Uns droht einerseits ein
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, und andererseits findet eine Missachtung dieses Hauses statt.
Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf: Legen
Sie uns die entsprechenden Gesetzentwürfe vor! Beteiligen Sie das Parlament! Ich kann Sie alle nur auffordern:
Stimmen Sie dem Antrag der SPD zu! Es sind viele gute
Vorschläge gemacht worden, wie wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit politisch gestalten und wie wir sie zu einem
gemeinsamen Erfolg für die Menschen in Deutschland
und in ganz Europa machen können.
Herzlichen Dank.
({14})
Max Straubinger hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Högl, wenn wir Ihrem Antrag zustimm-
ten, hätten wir wahrscheinlich sofort mit dem Europäi-
schen Gerichtshof zu tun; Ihr Antrag ist nämlich grob
europarechtswidrig. Sie schreiben folgenden Passus un-
ter II.:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung dazu auf, 1. im Bereich der Arbeitsbedingun-
gen und der Entlohnung dafür zu sorgen, dass …
c) Scheinselbstständigkeit verhindert wird. Die Abgrenzung zwischen Selbstständigen und abhängig
Beschäftigten muss im Zielland der Entsendung
nach dessen Maßstäben überprüft werden können
und nicht, wie bisher, nur nach den Bedingungen
des Herkunftslandes.
Diese Forderung ist grob europarechtswidrig.
({0})
Das ist mit ein Grund, diesen Antrag abzulehnen.
Letztendlich wurden die vorliegenden Anträge im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai
dieses Jahres gestellt. Der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe hat die Arbeitnehmerfreizügigkeit
bereits für die Bundesregierung begrüßt, genauso Karl
Schiewerling und ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Was macht die Opposition in diesem Haus? Die
Opposition schürt Ängste.
({1})
- Natürlich. Der Kollege Parlamentarische Staatssekretär Brauksiepe hat bereits darauf hingewiesen, dass man
auch mit Worten mitten in der Gesellschaft Ängste schüren kann. Der SPD-Vorsitzende hat in diesem Parlament
von „Eindringen“ gesprochen, als es darum ging, dass
sich Fachkräfte aus Osteuropa auf dem deutschen Arbeitsmarkt niederlassen.
Die Linken sollten ganz ruhig sein;
({2})
schließlich hat der Kollege Gysi von der „Invasion osteuropäischer Arbeitnehmer“ auf dem deutschen Arbeitsmarkt gesprochen.
({3})
Ich bin der Meinung, das ist im Zusammenhang mit der
Freizügigkeit mitten in Europa eine ungehörige Wortwahl.
({4})
Das zeigt sehr deutlich, wes Geistes Kind Sie sind und
dass Linke und Rechte für unser demokratisches Staatswesen letztendlich gleichermaßen gefährlich sind.
({5})
Natürlich muss vorbereitet sein, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit von den Menschen mitgetragen wird.
Die Kollegin Pothmer hat kritisiert, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit letztendlich viel zu spät in Gang gesetzt
worden ist
({6})
und dass Deutschland aufgrund der europäischen Verträge alle Möglichkeiten für eine späte Einführung ausgeschöpft hat. Ich stelle mir einmal vor, die Arbeitnehmerfreizügigkeit hätte unter Rot-Grün - mit 5 Millionen
Arbeitslosen in unserem Land - in Gang gesetzt werden
müssen. Ich bin überzeugt: Dann wäre die Akzeptanz
der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Bevölkerung sehr
niedrig gewesen. Schon in der Regierungszeit von RotGrün wäre es möglich gewesen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit herzustellen. Das hat man aber ob der in der damaligen Regierungszeit abgelieferten wirtschaftlichen
Daten - die Menschen wurden ihrer Zukunftschancen
beraubt - zu Recht nicht getan.
({7})
Die Union ist der Garant dafür, dass das Projekt
Europa gelingt und dass wir offene Grenzen haben.
Helmut Kohl hat das mit zustande gebracht. Die CDU/
CSU stand dabei an der Spitze. Ich sage ausdrücklich:
Ich bin dem Kollegen Ralf Brauksiepe dafür dankbar,
dass er darauf hingewiesen hat, dass wir jetzt, 50 Jahre
nach dem unsäglichen Mauerbau, für den die SED mit
verantwortlich war - damals wurden unüberwindbare
Grenzen gezogen -, in der Lage sind, Arbeitnehmerfreizügigkeit zu gewähren.
({8})
Die Linke ist verblendet. Sie zeichnet Bilder, die in
keiner Weise der Realität entsprechen.
({9})
Ihre wirtschaftspolitische Sprecherin, Frau Sahra
Wagenknecht, träumt genauso wie die Parteivorsitzende
von der Wiederinstallierung des Kommunismus. Für sie
ist der Kapitalismus die Wurzel allen Übels. Sie behaupten, durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit komme es zu
Lohndumping. Angeblich werden soziale Standards geschliffen. Die Linke spricht sich auf ihrer Homepage für
einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro
aus,
({10})
weil das angeblich der europäischen Normalität entspricht.
({11})
Ich möchte Ihnen die Weltfremdheit Ihrer Haltung
aufzeigen. Als einziges Land hat Luxemburg einen Mindestlohn von über 10 Euro, nämlich 10,16 Euro. In
Frankreich beträgt der Mindestlohn 9 Euro, in den Niederlanden 8,74 Euro, in Großbritannien, das heute so
großartig von Frau Kollegin Pothmer gelobt worden ist,
weil dort die Freizügigkeit früher eingeführt worden ist,
6,91 Euro, in Slowenien - mit dem höchsten Mindestlohn unter den acht Beitrittsländern - 4,32 Euro und in
Spanien 3,89 Euro. Diese Liste kann man fortsetzen. In
Polen beträgt der Mindestlohn 1,85 Euro, in der Slowakei ebenfalls und in Estland 1,73 Euro. Diese Zahlen zeigen sehr deutlich, dass die Linken mit der Forderung
nach einem gesetzlichen Mindestlohn nur Nebelkerzen
werfen wollen. Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn wird nicht einmal von den Gewerkschaften akzeptiert, zumindest nicht in der Realität,
Herr Kollege.
- wenn er auch in den politischen Forderungen auftaucht.
({0})
Ich verweise auf die tariflichen Vereinbarungen für die
Wach- und Sicherheitsdienste in Deutschland. Für diese
wurden unterschiedliche Mindestlöhne in den einzelnen
Bundesländern vereinbart.
Herr Kollege, Frau Leidig würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Dann brauchen Sie Ihre Rede
noch nicht zu beenden.
Ach so. - Ja, bitte.
({0})
Bitte schön.
Herr Straubinger, ich frage Sie, ob Sie die Europäische Sozialcharta kennen und ob Sie wissen, dass in dieser als gerechter Mindestlohn ein Lohn von 60 Prozent
des nationalen Durchschnittslohns festgelegt ist, was bedeuten würde, dass in der Bundesrepublik Deutschland
ein Mindestlohn von 12,50 Euro dem Gerechtigkeitsempfinden der Europäischen Sozialcharta entsprechen
würde.
({0})
Frau Kollegin, ich bin Ihnen dankbar für Ihre Frage.
Löhne bilden sich nicht nach dem Gerechtigkeitsempfinden, sondern aufgrund der Leistungsfähigkeit und darüber hinaus aufgrund der Wettbewerbsbedingungen.
({0})
Was nützt ein hoher Mindestlohn, wenn dadurch Arbeitsplätze bei uns verloren gehen?
({1})
Das wäre die Konsequenz Ihrer Politik. Wenn Sie die
Menschen lieber arbeitslos machen wollen, dann müssen
Sie für einen hohen Mindestlohn eintreten.
({2})
Es geht darum, zwischen den Tarifparteien vernünftige Löhne zu vereinbaren, die möglichst hoch sind, sich
aber letztendlich an der Produktivität orientieren müssen. Sie hängen nicht vom Wunschdenken ab. Deutschland ist mit seinem System gut gefahren. Vor allem die
Menschen in Ostdeutschland können froh sein, dass sie
von der Planwirtschaft in die soziale Marktwirtschaft gekommen sind
Herr Straubinger.
- und damit an den Errungenschaften der sozialen
Marktwirtschaft teilhaben.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Straubinger, es gibt noch eine zweite Zwischenfrage von Frau Enkelmann. Möchten Sie diese noch beantworten? Dann können Sie noch einen Moment am
Pult bleiben.
Das kann ich der Frau Enkelmann nicht verwehren.
Bitte schön, Frau Enkelmann.
Herr Straubinger, ganz herzlichen Dank. - Meine
Frage ist: Halten Sie es für gerecht, dass immer mehr
Menschen - die aktuellen Zahlen sind heute veröffentlicht worden - auf ergänzende Sozialleistungen und
Hartz IV angewiesen sind, obwohl sie arbeiten, das
heißt, einen Lohn bekommen, von dem sie sich und ihre
Familien nicht ernähren können? Halten Sie das für gerecht?
Es geht hier nicht um die Frage der Gerechtigkeit
({0})
- nein -, sondern es geht um die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates. Frau Kollegin Enkelmann, wenn Sie
die Meldung richtig gelesen hätten,
({1})
dann hätten Sie feststellen können, dass nur deshalb so
oft aufstockende Leistungen notwendig sind, weil es
sich hier häufig um Halbtagsbeschäftigungen bzw. um
geringfügige Beschäftigungsverhältnisse handelt. Es gehört auch zur Wahrheit, das zu sagen.
({2})
Ausdruck unseres Sozialstaates ist letztendlich: Wer
möglicherweise aufgrund seiner familiären Situation gar
nicht die Möglichkeit hat, eine Vollzeitbeschäftigung
aufzunehmen, wird durch den Sozialstaat entsprechend
unterstützt.
({3})
Das ist gelebte Solidarität der Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler, der Steuerzahler in unserem Land mit
den Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Situation
oder anderer möglicher Umstände in unserer Gesellschaft keinen ausreichenden Lohn erwirtschaften können.
({4})
Ich bedanke mich - auch bei der Präsidentin für ihre
Geduld.
Jetzt hat Sabine Zimmermann das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Straubinger, mir sträuben sich
die Haare, wenn ich höre, was Sie unter sozialer Gerechtigkeit verstehen. Das muss ich Ihnen hier einmal so
deutlich sagen.
({0})
Ich will Ihren Blick noch ein bisschen aufhellen: Sie
haben gesagt, unter Rot-Grün hatten wir früher 5 Millionen Arbeitslose. Das ist korrekt. Wissen Sie aber, was
wir jetzt haben? Wir haben jetzt eine reale Arbeitslosigkeit von 4,5 Millionen Arbeitslosen und 1,4 Millionen
Aufstocker. Ist das gerecht? Aus meiner Sicht nicht, lieber Kollege Straubinger.
({1})
Lieber Herr Brauksiepe, ich glaube, dass Sie die Opposition nicht ganz verstanden haben.
({2})
Wir wollen den europäischen Arbeitsmarkt - Herr
Brauksiepe, vielleicht können Sie mir einmal einen Moment zuhören -,
({3})
aber wir wollen auch soziale Standards für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa. Ich denke,
das ist sozial gerecht und daran arbeiten wir auch gemeinsam - nur mit Ihnen wahrscheinlich nicht.
({4})
„Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein.“
({5})
Dieses Zitat des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Mitterrand mag zwar wirklich schon einige Jahre
alt sein, doch an Aktualität hat es nichts eingebüßt. Soziale Sicherheit und einheitliche Mindeststandards für
alle Bürgerinnen und Bürger der EU sind der entscheidende Schlüssel dafür, ob dieses europäische Projekt auf
Dauer Erfolg haben wird.
({6})
Hier muss die Bundesregierung endlich ihre Verantwortung wahrnehmen und darf nicht länger so tun, als ginge
sie das einfach gar nichts an, wie das gerade der Herr
Brauksiepe und die Frau von der Leyen mit ihrer Unterhaltung zum Ausdruck bringen.
Es ist beschämend, dass Deutschland nahezu das einzige Land in Europa ist, das keinen flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohn oder eine vergleichbare Regelung hat.
({7})
In keinem anderen Land ist der Niedriglohnsektor in den
letzten Jahren derart stark angewachsen. Ich sage:
Deutschland ist zum Motor der Niedriglohnbeschäftigung in Europa geworden und wird diesen Spitzenplatz
auch nach der Herstellung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 locker verteidigen
und sogar noch weiter ausbauen, und das ist ein Skandal.
({8})
Meine Damen und Herren der Bundesregierung, dafür
haben Sie alle Voraussetzungen geschaffen. Das ist Ihr
Verdienst, und das ist aus unserer Sicht beschämend.
({9})
Um gegen den Wettbewerb nach unten bei den Löhnen gewappnet zu sein, gibt es nur zwei Möglichkeiten:
entweder eine gesetzliche Lohnuntergrenze oder eine
hohe Tarifbindung. Deutschland hat beides nicht. Die
bisherigen Bundesregierungen und auch unsere jetzige
haben verbissen gegen die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohnes gekämpft. In diesem Abwehrkampf wandelten sich sogar - dafür steht auch Herr Straubinger bisherige Gewerkschaftsverächter zu blühenden Verfechtern der Tarifautonomie. Ich bin aus dem Staunen
gar nicht mehr herausgekommen, meine Damen und
Herren - beim besten Willen nicht.
Manchmal hatte man ja den Eindruck, die Sozialpartner seien so stark wie nie zuvor in der Geschichte der
Bundesrepublik. Leider ist die Realität eine andere; denn
die Sozialpartner sind zunehmend nicht mehr in der
Lage, eine flächendeckende Tarifbindung herzustellen. Herr Schiewerling, Sie schauen mich so an. Ich denke,
dass Sie sich auch bei Gewerkschaften sachkundig gemacht haben.
({10})
Die eingeführten und von der Bundesregierung gefeierten Branchenmindestlöhne erfassen doch nur einen
kleinen Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Deutschland. Das ist die Realität, meine Damen und
Herren. So erfreulich auch die Branchenmindestlöhne
aus Ihrer Sicht sind - dem eigentlichen Problem wirken
sie überhaupt nicht entgegen.
In diesem Zusammenhang muss man der Bundesregierung zu einem wahren Meisterstück gratulieren. Nachdem man sich jahrelang gegen einen Mindestlohn in der
Leiharbeit ausgesprochen hat, wurden nun aus den einstigen Gegnern sogar richtige Befürworter. Was war passiert? Man hatte festgestellt, dass sich auf den Tarifvorbehalt im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, nach dem von
der gleichen Bezahlung abgewichen werden kann - übrigens ein Verdienst der SPD-geführten Schröder-Regierung -, ab dem 1. Mai 2011 auch Leiharbeitsunternehmen
aus den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten berufen können und sie ihre Leiharbeitskräfte zu noch niedrigeren Tariflöhnen als die hiesigen in Deutschland einsetzen können. Plötzlich waren sich Arbeitgeberverbände
und Bundesregierung schnell einig, dass die Leiharbeit
einen Mindestlohn brauche - zum Schutz vor Lohndumping.
Worum es aber wirklich ging, war nicht, den Leiharbeitskräften zu helfen, sondern die heimische Leiharbeitsindustrie vor der unliebsamen ausländischen Konkurrenz zu schützen.
({11})
Ein echtes Novum: ein Mindestlohn zum Schutz der Arbeitgeber. Oder sollten wir eher von einem Mindestlohn
zum Schutz der Gewinne sprechen?
So kann es nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit haben Sie dafür gesorgt, dass das Prinzip
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, Equal Pay, zu Grabe
getragen wird. Das ist die Wahrheit.
({12})
Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, fangen Sie endlich an, sich einzusetzen für ein
modernes und soziales Europa, das von fairer Mobilität,
Solidarität zwischen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern unterschiedlicher Länder und von sozialer Sicherheit als einigendem Band durchzogen wird, anstatt
von Unterbietungswettbewerb, Unsicherheit und Armut
dominiert zu sein.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 1. Mai
2011 war ein sonniger Tag. Leider fiel er, was viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedauert haben, auf
einen Sonntag. Dennoch fanden die Maikundgebungen
der Gewerkschaften statt. Zu diesen Kundgebungen kamen aber bedauerlicherweise relativ wenige Menschen.
({0})
Ebenso wenige Menschen - auch da hatten Sie mehr
erwartet - kamen am 1. oder möglicherweise am 2. Mai
nach Deutschland - quasi als die Flut, die hier bei uns
eindringt - um die Worte des Kollegen Gabriel noch einmal zu wiederholen -, und den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in Deutschland die Arbeitsplätze wegnimmt. Ich muss feststellen: Hier ist, insbesondere von
der linken Seite des Hauses, ein Popanz aufgebaut worden, der der Europaidee wirklich geschadet hat.
Ich bedanke mich bei den Kollegen Dr. Högl und
Juratovic, die sich heute als gute Europäer gezeigt haben
und hier ein Stück weit den Fehltritt ihres Parteivorsitzenden ausgebügelt haben.
({1})
Für Deutschland und für Europa ist der 1. Mai mit der
Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein gutes Datum gewesen.
({2})
Wir freuen uns darüber, dass die Menschen aus den europäischen Nachbarstaaten jetzt die Möglichkeit haben,
auch bei uns zu arbeiten.
Wenn nun der eine oder andere Blick zurückgeworfen
wird und insbesondere rot-grüne Abgeordnete hier erklären, da seien Chancen verabsäumt und Hausaufgaben
nicht gemacht worden, kann man sich eigentlich nur fragen: Haben Sie denn in dieser Zeit gar keine Verantwortung getragen?
({3})
Frau Pothmer, ich fange einmal bei den Grünen an. 2004
wurde die Angelegenheit erstmalig vereinbart. 2004 traten diese acht Staaten der EU bei.
({4})
Wenn Sie jetzt der Auffassung sind, dass wir alles falsch
gemacht haben und die Briten alles richtig, dann frage
ich Sie: Warum haben die Grünen denn 2004 nicht dafür
gesorgt, dass es die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu diesem Zeitpunkt für alle gibt? Seien Sie doch selbstkritisch! Kritisieren Sie sich selber! Machen Sie uns doch
keine Vorwürfe! Wir konnten doch 2004 nichts dafür.
({5})
Frau Högl, Ihre Wertschätzung für Bundesarbeitsministerin von der Leyen, Staatssekretär Brauksiepe und
Staatssekretär Fuchtel sowie die neue Führung des Hauses in allen Ehren - in der Tat wird das Haus jetzt besser
geführt als zuvor -, aber zu behaupten, dass seit 2009
alle Hausaufgaben verabsäumt worden wären, zeugt ein
wenig von Geschichtsvergessenheit. Damit stellen Sie
auch das Licht von Olaf Scholz - das muss man mit allem Respekt hier betonen - etwas unter den Scheffel.
Das hat Olaf Scholz nicht verdient. Er hat nämlich einen
großen Anteil an der Entwicklung.
Die entsprechenden Regelungen sind ja zweimal verlängert worden: 2006 und 2009 ist, wenn Sie so wollen,
die Ausnahmegenehmigung, den deutschen Arbeitsmarkt abzuschotten, verlängert worden, während andere
EU-Mitgliedstaaten sich schon damals für Freizügigkeit
entschieden haben. Zumindest einmal ging das auf die
Initiative von Bundesarbeitsminister Olaf Scholz zurück.
Das sollte dann doch bitte auch auf seinem Konto, vielleicht auch auf dem Konto der SPD, vermerkt werden.
Das sollten Sie uns bitte schön nicht vorwerfen. Da sind
wir ({6})
das wollen Sie, Frau Pothmer, wahrscheinlich gerade sagen - genauso wie zuvor die Grünen von Olaf Scholz
dominiert worden und konnten uns nicht durchsetzen. So
war das. Insofern sollte das an der Stelle auch festgehalten werden.
({7})
Wir stellen ja nun gemeinsam fest, dass wir heute vor
ganz anderen Schwierigkeiten stehen, als wir noch vor
10 bis 15 Jahren dachten.
({8})
Es ist ja gar nicht so, dass unsere größte Sorge wäre, dass
nun zu viele kämen und uns Arbeitsplätze wegnähmen;
denn diejenigen, die kommen wollten, sind schon gekommen. Das wissen wir alle.
({9})
Man konnte sich als Selbstständiger schon hier niederlassen. Wer das nicht wollte oder woanders mehr verdienen konnte - da haben Sie ja recht, Frau Pothmer -, ist
zum Beispiel nach Großbritannien gegangen, darunter
befanden sich viele gut Qualifizierte.
({10})
Von diesen sind - Herr Kollege Schiewerling, völlig
richtig - viele auch wieder zurück nach Polen gegangen.
Jetzt wird prognostiziert, dass vielleicht 130 000 Menschen aus allen Mitgliedstaaten zu uns kommen. Übrigens: Wir reden zumeist nur über Polen. Polen hat
mittlerweile aber eine negative Wanderungsbilanz gegenüber Deutschland. Mittlerweile sind Rumänien und
Bulgarien die Staaten, aus denen am ehesten die Menschen zu uns kommen.
Glauben Sie denn im Ernst, dass wir die Fachkräfte,
die wir dringend hier in Deutschland brauchen, bekommen, wenn wir einen Mindestlohn einführen?
({11})
Wollen Sie uns ernsthaft weismachen, dass es hier einen
kausalen Zusammenhang geben könnte? Das ist doch
Unsinn.
Herr Juratovic, Sie haben doch selber angezweifelt,
dass polnische Arbeitnehmer bei einem Lohn von 7 Euro
hierher kommen, und gefragt, ob wir das glauben. Nein,
das glaube ich nicht. Die kommen nicht für 7 Euro hierher. Wir werden ihnen mehr zahlen müssen. Deswegen
ist die Verknüpfung mit dem Mindestlohn, die Sie in Ihrem Antrag vornehmen, so unsinnig. Sie sagen ja, wir
müssten nur einen Mindestlohn einführen, und dann
wäre unser Fachkräfteproblem gelöst. Also, das wird
nichts werden.
({12})
Allein aus diesem Grund ist dieser Antrag nicht nur, wie
Herr Straubinger zu Recht gesagt hat, europarechtswidrig, sondern er ist auch fachlich völlig unsinnig. Deswegen werden wir ihn gleich ablehnen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({13})
Wir sollten uns jetzt der Zukunft zuwenden. Wir sollten uns in der Tat bemühen, Fachkräfte zu ermuntern, zu
uns nach Deutschland zu kommen. Sie alle wissen, dass
es hier derzeit ein Jobwunder gibt. Das Beschäftigungswunder in Deutschland wird von aller Welt bewundert.
Das, was unser Wachstum mittlerweile bremst, ist der
Mangel an Fachkräften.
All das, was wir bisher unter Bundeskanzlerin Angela
Merkel erreicht haben, wollen wir fortsetzen.
({14})
Deswegen kann ich nur sagen: Wir brauchen eine Willkommenskultur. Wir brauchen Arbeitsmigration von
Fachkräften. Wir brauchen Menschen, die hier arbeiten
wollen, um unser Sozialprodukt zu verbessern. Wir brauchen allerdings keine Menschen, die in die soziale Hängematte hineinwollen. Aber all diejenigen, die anpacken
wollen, sind in Deutschland herzlich willkommen.
({15})
In diesem Sinne sollten wir die Debatte weiterführen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und
Herren! Gestern vor vier Wochen haben wir an dieser
Stelle über dasselbe Thema gesprochen, ein wichtiges
Thema. Wir erlebten damals fast schäumende Auftritte
der Kollegen Gabriel und Ernst, passend zu den Maikundgebungen, aber offensichtlich auch nur zu den Maikundgebungen. Denn wer ist heute, bei demselben
Thema, nicht da? Die Kollegen Gabriel und Ernst,
({0})
ganz im Gegensatz übrigens zu unserer Ministerin. Ich
möchte Frau Ministerin von der Leyen dafür danken,
dass sie heute durch ihre Anwesenheit in der Debatte unter Beweis stellt, wie wichtig uns als christlich-liberale
Koalition dieses Thema ist. Herzlichen Dank an Ihre
Person!
({1})
Seit dem 1. Mai ist europäische Normalität eingekehrt. Denn Europa ist mehr als die Freiheit, in anderen
Ländern Urlaub machen zu dürfen. Europa muss auch
das Recht umfassen, in jedem Land arbeiten zu dürfen.
Die Kommentare der Kollegen von der Opposition klangen im Vorfeld und auch in der heutigen Debatte allerdings so, als stünde eine neue Völkerwanderung bevor.
({2})
Nach dem Szenario, das Herr Kollege Gabriel an die
Wand malte - Frau Kollegin Pothmer, Sie waren dabei -,
sah es sogar so aus, als ob ganz Osteuropa über uns herfallen würde. Ich finde, dass der Kollege Staatssekretär
Brauksiepe zutreffend darauf hingewiesen hat. Denn mit
einem Satz wie „Sie dringen richtig in den ersten Arbeitsmarkt ein“ hat man denjenigen, die zu uns kommen
wollen, die Gastfreundschaft verwehrt. Ich sage sehr
deutlich: Diese Panikmache schürt Ängste. Der Herr
Kollege hat darauf hingewiesen, was solche Ängste bewirken können. Aber ich sage auch an die Adresse des
Kollegen Gabriel: Wer zündelt, darf sich nicht wundern,
wenn es irgendwann brennt.
({3})
Heute, knapp zwei Wochen nach dem 1. Mai, würde
ich Herrn Gabriel gern fragen: Was ist seitdem tatsächlich passiert? Ich persönlich kann keinen Massenansturm
erkennen. Es ist wahrscheinlich auch nicht damit zu
rechnen. So hat das Arbeitsministerium in Warschau uns
aktuell erklärt, dass vermutlich mit 300 000 Migranten
in den nächsten drei Jahren zu rechnen sei. Das löst auf
der polnischen Seite übrigens Befürchtungen aus; denn
sie hat Angst, ihre besten Köpfe zu verlieren. Das ist die
Kehrseite der Medaille.
In Tschechien ist das Interesse an einer Auswanderung nach Deutschland gering. Die meisten Tschechen,
die in Deutschland arbeiten wollen, tun dies bereits. So
wird der tschechische Arbeitsminister Jaromír Drábek in
meiner Heimatzeitung, der Nordwest-Zeitung, zitiert.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Hand
aufs Herz: Es geht Ihnen eigentlich auch gar nicht um
Zahlen oder Fakten. Ihnen geht es offenkundig einmal
mehr um eine neue Überschrift für alte Anträge. Denn
der Inhalt Ihrer Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Linken und auch von der SPD, ist immer wieder
derselbe: die Wunschliste der Sozialleistungen rauf und
runter, diesmal unter dem Vorwand vermeintlicher Billigleistungen aus Osteuropa.
({4})
Für die Union sage ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit: Auf dem Arbeitsmarkt gibt es für uns keinen
Unterschied - aus der christlichen Lehre heraus darf es
auch keinen geben - zwischen deutschen und anderen
EU-Bürgern. Für Menschen aus Osteuropa müssen hier
dieselben Vorgaben gelten wie für uns, gleiche Rechte,
gleiche Pflichten, gleicher Lohn.
({5})
Deshalb haben wir dort vorgesorgt, wo ein Missbrauch
drohen könnte.
({6})
Bei der Zeitarbeit gibt es seit dem 1. Mai, auch dank des
beherzten Eintretens des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales, eine Lohnuntergrenze. Einem möglichen
Verdrängungswettbewerb haben wir damit einen Riegel
vorgeschoben.
({7})
Für jeden Zeitarbeitnehmer, gleich welcher Herkunft,
gilt der gleiche Lohn.
({8})
Bei der Festsetzung haben wir übrigens nicht auf den
Staat gesetzt, sondern auf die Tarifpartner. Denn wir wissen, dass Branchen - das ist auch das Hauptargument
gegen einen gesetzlichen Mindestlohn - sich ebenso unterscheiden wie Regionen. Automobilbau und Landwirtschaft sind nicht miteinander zu vergleichen, München
und Ostfriesland ebenso wenig. Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn für jeden Betrieb in Deutschland
würde diesen Unterschieden nicht gerecht und würde
zum Verlust von Arbeitsplätzen und auch zu einer Bedrohung von Volkswirtschaften führen.
Aktuelle Beispiele liefern uns Irland und Portugal.
Beide Länder - das ist bekannt - mussten Anträge auf
Gewährung eines Notkredits stellen.
({9})
Portugals Wachstum war nur noch auf Pump finanziert;
denn die Wirtschaft legte dort seit 2001 um nur 1 Prozent zu, die Löhne aber um 38 Prozent. Das kann nicht
funktionieren. Ebenso war es in Irland. Deshalb hat die
irische Regierung nämlich eine Kürzung des Mindestlohnes beschlossen.
({10})
Begründet wurde dieser Schritt mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu verbessern. Vielleicht
hätten Sie das zur Kenntnis nehmen müssen.
({11})
Schauen wir stattdessen auf Deutschland: Wir stehen
heute besser da als je zuvor. Deutschland ist wieder die
Lokomotive. Mit der Wirtschaft boomt der Arbeitsmarkt. Gerhard Schröder versprach die Halbierung der
Arbeitslosigkeit - er scheiterte. Mit uns sind wir dagegen jetzt auf dem Weg zur Vollbeschäftigung - und das
trotz der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Daran haben ganz viele mitgewirkt, das ist keine Frage.
({12})
Vorneweg waren es die Arbeitnehmer und die Betriebe,
aber auch die Politik war beteiligt: durch kluge Entscheidungen wie zum Beispiel die Einführung des Kurzarbeitergeldes, aber eben auch durch die Tatsache, dass wir
falschen Verlockungen widerstanden haben und widerstehen, zum Beispiel der Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns.
Sie haben ein ganzes Sammelsurium an Forderungen
aufgestellt. Weil wir als christlich-liberale Koalition das
ernst nehmen, haben wir eine Anhörung durchgeführt.
Ich hätte mich sehr gefreut, wenn viele derjenigen aus
der Opposition, die heute zu diesem Thema geredet haben, bei dieser Anhörung auch dabei gewesen wären.
({13})
Dann hätten Sie ein Urteil der Sachverständigen gehört,
das an Deutlichkeit nicht zu überbieten war. Die überwältigende Mehrheit der Sachverständigen teilte Ihnen
zu Ihren Forderungen mit, sie seien entweder rechtlich
unhaltbar oder aber überflüssig bzw. bereits erfüllt.
Ein Beispiel: die Forderung nach Aufnahme aller
Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Die
Sachverständigen sagen, diese Generalisierung ist mit
der europäischen Entsenderichtlinie nicht vereinbar;
denn in manchen Branchen fehlt es schlichtweg an einer
Entsendeproblematik, zum Beispiel im produzierenden
Gewerbe.
({14})
- Liebe Frau Dr. Högl, lesen Sie einfach das Protokoll
der Anhörung.
({15})
- Ich war sogar da, anders als Sie.
({16})
Diejenigen, die wollen, können heute schon einen
Antrag auf Aufnahme in die Branche stellen.
Frau Connemann.
Sie fordern weiter die Aufnahme von Tariftreueregelungen ins Vergaberecht des Bundes und der Länder. Das
ist ein klarer Verstoß gegen Europarecht. Das hat der
EuGH in der Sache Rüffert entschieden.
({0})
Frau Kollegin!
Zu Ihrer Forderung nach einem flächendeckenden
Beratungsangebot sagen die Deutsche Rentenversicherung wie auch die Bundesagentur für Arbeit: Das haben
wir längst.
Wenn wir auf Sie gewartet hätten, meine Damen und
Herren von der Opposition, dann wären die Menschen,
die seit dem 1. Mai zu uns kommen, tatsächlich arm
dran. Gott sei Dank regieren wir.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Faire Mobilität
und soziale Sicherung - Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5425, den Antrag auf Drucksache 17/4530
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU und
FDP angenommen. Dagegen haben die Oppositionsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gestimmt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 25 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial
gestalten“: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5424, diesen Antrag auf
Drucksache 17/5177 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung von CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt; die Fraktion der SPD hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Agnes Alpers, Jutta Krellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Arbeitsmarktpolitik neu ausrichten und nachhaltig finanzieren
- Drucksache 17/5526 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Connemann, Sie haben gestern die Frage gestellt - vielleicht können Sie mir kurz
zuhören -, warum bei der BSR Hunderte Tagelöhner
zum Einsatz kommen. Ja, ich muss Ihnen sagen: Es gibt
wieder Tagelöhner in Deutschland. Ich will Ihnen ein
bisschen Nachhilfe geben: Genau das sind die Auswirkungen Ihrer miserablen Hartz-IV-Gesetzgebung; nach
dem Wegfall der Zumutbarkeitsregelungen müssen die
Leute jede Arbeit annehmen, weil sonst eine Sperrzeit
beim Arbeitslosengeldbezug droht. Das ist furchtbar.
({0})
- Das ist Bundesgesetzgebung; das will ich Ihnen nur
einmal sagen. - Wir sagen deswegen immer wieder:
Hartz IV ist menschenunwürdig und muss weg.
({1})
Ich komme jetzt zum Thema. Die Bundesregierung
will die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen reformieren. Nun wollen wir uns einmal kurz vorstellen, es
würde darum gehen, den Erwerbslosen neue Chancen
auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen, ihren Interessen und
Bedürfnissen gerecht zu werden oder ihnen sogar gute
Arbeit zu geben. Ja, das wäre ein Vorhaben, wo Sie die
Linke an Ihrer Seite hätten.
({2})
Diese Regierung und ihre Arbeitsministerin wollen aber
etwas ganz anderes: Sie wollen zuallererst Geld sparen.
Da machen wir von der Linken nicht mit.
({3})
Natürlich werden Sie das abstreiten; das ist uns bekannt. Ich will Ihnen aber ein paar Beispiele dafür nennen, wie Sie schon jetzt auf dem Rücken der Erwerbslosen sparen; Sie können es nicht leugnen, denn die Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit sprechen eine deutliche
Sprache. Die Zahl der Teilnehmer an Maßnahmen der
beruflichen Weiterbildung und der öffentlich geförderten
Beschäftigung sind gegenüber dem Vorjahreszeitraum
um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Dieser Einbruch ist nicht mit der zurückgehenden Arbeitslosigkeit
zu rechtfertigen. Sie sagen: Wir haben weniger Arbeitslose, also brauchen wir weniger Maßnahmen und weniger Geld dafür. - Die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich
zum April letzten Jahres nur um 9 Prozent zurückgegangen; damit ist ein Rückgang der Teilnehmerzahlen um
50 Prozent nicht zu rechtfertigen.
Meine Damen und Herren, so darf es mit der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland doch nicht weitergehen.
Deshalb sagen wir, dass wir eine Neuausrichtung brauchen, und haben heute diesen Antrag vorgelegt.
({4})
Zum einen wollen wir die im vergangenen Jahr beschlossenen Kürzungen in der Arbeitsmarktpolitik zurücknehmen. Neue Belastungen der Bundesagentur für
Arbeit sind auszuschließen. Sie plündern doch die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit. Dadurch können
Maßnahmen für Erwerbslose nicht durchgeführt werden.
Das ist unsozial.
Wir wollen die Arbeitsmarktpolitik zum anderen qualitativ neu ausrichten, besser gesagt: sie zu ihrem eigentlichen Zweck zurückführen. Ich will Sie daran erinnern,
was Sie einmal in das Gesetz hineingeschrieben haben:
Die Leistungen der Arbeitsförderung sollen … die
individuelle Beschäftigungsfähigkeit durch Erhalt
und Ausbau von Fertigkeiten, Kenntnissen und Fähigkeiten fördern, … unterwertiger Beschäftigung
entgegenwirken.
Davon ist heute gar keine Rede mehr. Das ist verantwortungslos.
({5})
Wir wollen, dass sich die Fördermaßnahmen stärker
am individuellen, tatsächlichen Bedarf der Betroffenen
ausrichten. Die Erwerbslosen müssen rechtliche Ansprüche auf Maßnahmen haben; Sie wollen diese Ansprüche
abschaffen. Wir brauchen neue Rahmenbedingungen für
gute öffentlich geförderte Beschäftigung, um Langzeiterwerbslosen eine Perspektive zu geben;
({6})
Sie schränken diese ein. Wir wollen mehr Aus- und Weiterbildung von Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie
jammern über Fachkräftemangel.
Abschließend komme ich zu einem Punkt, der von der
Regierung bisher noch gar nicht angesprochen wurde.
Niemand darf gezwungen werden, niedrigentlohnte,
nicht qualifikationsgerechte oder prekäre Beschäftigung
anzunehmen, so wie das bei den angesprochenen Tagelöhnern der Fall ist, liebe Frau Connemann.
({7})
Deshalb ist die Zumutbarkeit bei der Aufnahme von Arbeit neu zu regeln; denn durch den Wegfall der Zumutbarkeitsregelungen in den letzten Jahren ist eine Rutschpartie der Löhne nach unten in Gang gesetzt worden,
und das ist unerträglich. Arbeiten zu jedem Preis - das
will die Linke nicht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
mit großem Vergnügen zur Kenntnis genommen, Frau
Pothmer, dass Sie mich eben zitiert haben, allerdings unter dem Namen Zimmermann.
({0})
Angesichts der Vorrednerin lege ich großen Wert darauf,
festzuhalten, dass es keine inhaltlichen Berührungspunkte gibt und dass der Name ein anderer ist.
({1})
- Aber manchmal ist es sinnvoll, wenn man sich auf das
Notwendige beschränkt, verehrte Frau Kollegin.
({2})
In den letzten Wochen ist eine interessante Zahl aufgetaucht. Sie zeigt den Anstieg der Arbeitslosigkeit von
2007 bis 2010 im europäischen Vergleich. Wenn man
sich die Zahlen genauer anschaut, dann zeigt sich deutlich, dass alle europäischen Staaten, bis auf zwei, einen
erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen
haben.
Ich will Ihnen einige Zahlen nennen, weil ich das ausgesprochen interessant finde: Dänemark hatte einen Anstieg um 97 Prozent zu verzeichnen,
({3})
das Vereinigte Königreich einen Anstieg um 47 Prozent
und Irland, als Spitzenreiter, sogar einen Anstieg um
236 Prozent. Die beiden einzigen Ausnahmen sind
Deutschland und Österreich mit einem Minus von
11 Prozent für Österreich und 23 Prozent für die Bundesrepublik. Das ist sicherlich auch der Lohnzurückhaltung geschuldet, die es in den letzten Jahren in den beiden Ländern gegeben hat. Aber ich habe auch den
Eindruck, dass das etwas damit zu tun hat, dass in der
Bundesrepublik gerade in den letzten Jahren eine gute
Wirtschaftspolitik und eine gute Arbeitsmarktpolitik gemacht worden sind.
({4})
Den Kolleginnen und Kollegen der Linken sage ich in
aller Deutlichkeit: Aus meiner Sicht besteht überhaupt
kein Grund, eine neue oder eine andere Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik zu betreiben.
({5})
Was wir gemacht haben, hat sich bewährt.
({6})
Es gibt keinerlei Grund, Frau Kollegin Mast, ein völlig
anderes Paradigma in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik einzuführen.
({7})
- Nein, das Ausland bescheinigt uns sogar das deutsche
Wunder. Der Kollege Wadephul hat eben darauf hingewiesen: the German Wonder. Wenn man den Antrag der
Linken liest, dann bekommt man bisweilen den Eindruck: Auch wenn von uns einige auf dem Wasser laufen
könnten, würden Sie sich lediglich zurücklehnen und sagen: Die können halt nicht schwimmen. - So geht es
nicht!
({8})
Der Antrag der Linken enthält eine ganze Reihe von
altbekannten Forderungen. Ich habe nichts gegen Recycling,
({9})
aber wenn abgelehnte Forderungen immer wieder recycelt werden, muss man sich überlegen, ob das mit nachhaltiger ökologischer Wirtschaft vereinbar ist. Ich habe
da meine Zweifel. Sie spielen auf die arbeitsmarktpolitischen Instrumente an, die im vorliegenden Referentenentwurf aufgeführt sind. Die Beratungen im Bundestag
werden noch vor der Sommerpause in Angriff genommen. Wir nutzen die Zeit, um uns mit den Beteiligten
und den Trägern mit diesem Referentenentwurf auseinanderzusetzen.
({10})
Ich glaube schon, dass die Grundprinzipien, die im
Referentenentwurf genannt worden sind, ausgesprochen
sinnvoll sind. Wir wollen mit den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten dafür sorgen, dass Menschen in Arbeit kommen. Das ist die oberste Leitlinie. Das ist nach
wie vor richtig.
({11})
Wir wollen mehr Kompetenzen vor Ort. Dazu gehört
nach meinem Dafürhalten auch, dass bei öffentlich geförderter Beschäftigung nicht, wie es jetzt bei der Bürgerarbeit und beim Bundesverwaltungsamt der Fall ist,
intern entschieden wird, sondern dass bei öffentlich geförderter Beschäftigung möglichst viele Kompetenzen
vor Ort gebündelt werden, die dann entscheiden, wann
eine öffentlich geförderte Beschäftigung sinnvoll, wettbewerbsneutral und möglich ist.
Wir wollen höhere Flexibilität und höhere Qualität.
Dazu gehört nach meinem Dafürhalten eine bessere
Schulung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den
Arbeitsagenturen vor Ort, um den Instrumentenkasten
effektiv einsetzen zu können.
Wir wollen eine größere Individualität in der Betreuung Langzeitarbeitsloser. Dazu gehört nach meiner Auffassung auch, die freie Förderung nach § 16 e SGB II
auszubauen. Das Aufstockungs- und Umgehungsverbot
ist bereits aus dem Gesetzentwurf herausgenommen.
Wir wollen eine größere Transparenz. Dazu gehört
meines Erachtens, dass man sich darüber Gedanken
macht, wie die schwerer integrierbare Klientel besser erreicht wird. Wenn dafür mehr Mittel bereitgestellt werden können und über die freie Förderung mehr Transparenz erreicht werden kann, dann wäre das ein gutes
Ergebnis.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Zeit bis
Ende Juni nutzen, um uns zu informieren und uns zu
positionieren. Der Referentenentwurf, den die Linke angesprochen hat, ist dafür eine gute Ausgangsbasis. Wir
müssen nicht, wie die Linken das wollen, das Rad neu
erfinden. Wir müssen aber sehr wohl die eine oder andere Auswuchtung, die in dem Instrumentenkasten zu
beobachten ist, beseitigen.
Zu gegebener Zeit, Ende Juni, werden wir dieses
Thema im Deutschen Bundestag neu beraten. Bei Ihrem
Antrag hat man den Eindruck, dass sich alter Wein in
neuen Schläuchen befindet. Nichts Neues auf dieser
Erde, alles nur recycelt. Sie sind die Copy-und-PasteMaster des Deutschen Bundestages. Das finde ich sehr
schade.
({12})
Danke schön.
({13})
Katja Mast hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kollegin Zimmermann! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Herr Zimmer,
wenn es sich mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit so toll
verhält, dann verstehe ich nicht ganz, warum Sie an dem
existierenden Instrumentenkasten etwas verändern müssen; denn dann waren diese Instrumente doch erfolgreich.
Ich sage Ihnen: Das, was Ihr Ministerium auf den
Tisch legt, verschlechtert die aktuelle Situation der Menschen und verbessert sie nicht. Deshalb mein Appell an
Sie: Lassen Sie es wenigstens wie es ist - obwohl man
grundsätzlich noch einiges machen könnte -, dann hät12518
ten wir für die Menschen und deren Beschäftigungsfähigkeit etwas erreicht.
({0})
Ich will kurz etwas zum Antrag der Linken sagen. Dabei nehme ich ausdrücklich die Rede der Kollegin
Zimmermann aus, weil sie nämlich im Gegensatz zum
Antrag arbeitsmarktpolitische Ziele formuliert hat. Wenn
ein Antrag aber mit dem Satz beginnt: „Die arbeitsmarktpolitischen Fehlentscheidungen der vergangenen
Jahre“, dann zeigt das schon, dass dieser Antrag in der
Vergangenheit verharrt, keine Ziele für die Zukunft formuliert und keine Schritte hin zu diesen Zielen definiert.
({1})
Das aber ist notwendig, um gute Arbeitsmarktpolitik zu
machen, Frau Kollegin Zimmermann.
({2})
Frau Kollegin, möchten Sie eine Frage der Kollegin
Zimmermann zulassen?
Die Kollegin Zimmermann kann gerne am Ende eine
Kurzintervention machen. - Ich will zu dem kommen,
was das Bundesarbeitsministerium im Referentenentwurf diskutiert. Unsere sozialdemokratischen Ziele in
der Arbeitsmarktpolitik sind: ein klares Bekenntnis zur
Strategie der Vollbeschäftigung, ein klares Bekenntnis
zur Strategie, den Fachkräftebedarf der Zukunft zu sichern, und ebenso ein klares Bekenntnis zu der Strategie,
in Deutschland lebenslanges Lernen auch in der Arbeitsmarktpolitik abzubilden. Unter diesen Aspekten schaue
ich mir diesen Referentenentwurf an.
Lassen Sie uns jetzt einmal genau hinschauen. Menschen, die ganz am Rande stehen, Langzeitarbeitslose,
die länger als zwei Jahre arbeitsuchend sind, werden
heute von Ihnen zum Zuschauer degradiert. Die Aussage
des Referentenentwurfs zu ihnen lautet quasi: Bleib zu
Hause sitzen, du hast keine Chance, in dieser Gesellschaft eine Beschäftigung zu finden. - Ich halte es für fatal, was Sie da machen. Ihr Gesetzentwurf sieht über die
Änderung hinsichtlich der arbeitsmarktpolitischen Instrumente die Verschlechterung der Situation von langzeitarbeitslosen Menschen vor.
({0})
Sie verschlechtern die Situation der Menschen, die unsere Unterstützung brauchen. Wann, wenn nicht jetzt, in
dieser wirtschaftlich guten Lage, können wir uns diesen
Menschen noch stärker zuwenden?
Ich verstehe nicht, warum Sie in Ihrem Gesetzentwurf
daran festhalten, zusätzliche im öffentlichen Interesse
liegende Beschäftigung zu definieren und ein Kriterium
hinzufügen. Sie wissen ganz genau, dass der Beschäftigungszuschuss von Ihrer Regierung um 70 Prozent reduziert worden ist und Sie die Möglichkeiten, in Arbeitsgelegenheiten zu arbeiten - an diesen Möglichkeiten wird
viel Kritik geübt -, reduziert haben. Sie wissen, dass Sie
stattdessen ein Murksprojekt machen: die Bürgerarbeit.
Das ist wieder ein Projekt. Ihr Ministerium hat dieses Instrument eingeführt, und Sie stellen sich jetzt hier hin
und sagen, dass Sie die Anzahl der Instrumente verringern wollen? Schaffen Sie die Bürgerarbeit ab, und stärken Sie den Beschäftigungszuschuss. Dann haben wir
dauerhafte Beschäftigung für Menschen, die in dieser
Republik am Rand stehen.
({1})
Ich sage das mit sehr viel Herzblut, weil die Einführung des Beschäftigungszuschusses in der bundesdeutschen Arbeitsmarktpolitik eine große Wende darstellte.
Die Kollegen der Union und der SPD haben ihn in der
Großen Koalition gemeinsam auf den Weg gebracht. Damit wurde zum allerersten Mal anerkannt: Ja, es gibt
Menschen, die selbst nach einer ein- oder zweijährigen
Qualifizierungsmaßnahme keine dauerhafte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt finden. Man hat gesagt: Für diese Menschen brauchen wir eine besondere
Antwort. Das sind ungefähr 500 000 Menschen, manche
sprechen von 200 000 Menschen in Deutschland. Dank
des Beschäftigungszuschusses können diese Menschen
marktnah beschäftigt werden. Das heißt, ihre Arbeit hat
einen Sinn. Sie sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, werden nach Tarif bezahlt oder erhalten ortsübliche Löhne, und sie haben endlich wieder einen Arbeitsvertrag in der Hand und können sagen: Ja, ich bin
dabei.
Ich betone diese Punkte, weil ich jedes Jahr für ein,
zwei Tage mit Langzeitarbeitslosen, die sich in einer
Maßnahme befinden, zusammenarbeite und mit ihnen
darüber spreche. Ich werde nie die Frau vergessen, die
Folgendes zu mir gesagt hat - sie hatte eine Arbeitsgelegenheit, die vier Wochen später ausgelaufen ist; dann
hätte sie eigentlich wieder zu Hause gesessen -: Frau
Mast, ich will arbeiten. Was können Sie machen, damit
ich nach den sechs Monaten einen Arbeitsvertrag bekomme? - Für Menschen wie diese Frau haben wir den
Beschäftigungszuschuss geschaffen.
Mein Appell an diese Regierung lautet - deshalb habe
ich vorhin gesagt: Lassen Sie es wenigstens so, wie es
ist! -: Kümmern Sie sich auch um die Menschen, die am
Rand stehen und arbeiten wollen. Diese Menschen frönen nicht der spätrömischen Dekadenz. Diese Menschen
möchten durch Beschäftigung teilhaben an dieser Gesellschaft. Sie möchten ein Recht auf Arbeit. Das muss
Ihr politisches Ziel sein, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union.
({2})
Ich will einen anderen Punkt herausgreifen, an dem
Sie laut Ihrem Referentenentwurf Teilhabechancen reduzieren. Ich finde, es sollte keinerlei Maßnahmen für Jugendliche geben, die nicht auf die Ausbildung angerechnet werden können. Mit mir findet das auch die SPD
richtig. Das haben wir in der Zeit unserer Regierungsverantwortung nicht geschafft. Aber Sie schaffen jetzt
Instrumente ab, die schwachen Jugendlichen die Möglichkeit gegeben haben, in Ausbildung zu kommen. Sie
wollen die Einstiegsqualifizierungen in berufsvorbereitende Maßnahmen überführen. Damit schaffen Sie das
effizienteste Instrument, wenn es darum geht, Jugendliche in Arbeit zu bringen, ab. Das ist ein fataler, ein grober Fehler. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und viele andere
fordern Sie auf: Tun Sie das nicht! Behalten Sie bei den
Einstiegsqualifikationen wenigstens das derzeitige Niveau bei. - Was wird dort gemacht? Jugendliche werden
betriebsnah qualifiziert und auf die Ausbildung vorbereitet. Die Übergangsquote in Ausbildung beträgt 60 Prozent. Nennen Sie mir einmal eine Maßnahme, die
erfolgreicher ist, wenn es darum geht, lernschwache Jugendliche in Ausbildung zu bringen. Aber Ihre Regierung sagt: Das ist uns egal. Wir schaffen das einfach ab,
damit wir hinterher ein Instrument weniger haben.
Ich sage Ihnen: Das ist der falsche Weg. Halten Sie
fest an dem Ziel der Vollbeschäftigung. Halten Sie fest
an der Strategie des lebenslangen Lernens,
({3})
und halten Sie fest an dem Recht auf Beschäftigung für
jeden, der bei uns, in der Bundesrepublik Deutschland,
arbeitsfähig ist und Arbeit haben will. Dann wären wir
einen Schritt weiter. Dann hätten Sie politische Visionen,
dann wäre Ihre Politik inspirierend, und dann müssten
wir uns im Deutschen Bundestag nicht über das KleinKlein unterhalten. Dann hätten wir echte Teilhabe in dieser Gesellschaft organisiert.
({4})
Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Zimmermann.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin Mast, ich
schätze Sie sehr. Wir nehmen in der letzten Zeit oft gemeinsam an Podiumsdiskussionen teil, auf denen wir unsere Meinungen austauschen. Ich denke, Sie sollten zur
Kenntnis nehmen, welcher Wandel am Arbeitsmarkt seit
der Einführung von Hartz IV in Deutschland stattgefunden hat: weg von tariflich entlohnter Vollzeitbeschäftigung hin zu prekärer Beschäftigung. Das ist dramatisch.
Ich will nur einige Zahlen nennen: Es gibt in Deutschland 1,4 Millionen Aufstocker und 7,5 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnbereich. 2,5 Millionen Kinder
leben in Armutsverhältnissen. Angesichts dieser Zahlen
kann man keine Jubellieder singen und sagen, alles sei
toll.
Ich möchte Ihnen etwas mit auf den Weg geben. Wir
sind in Berlin zusammen in der Regierungsverantwortung. Gerade der Beschäftigungszuschuss und der damit
verbundene ÖBS, der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor, sind wesentliche Instrumente, um vielen
Menschen in Berlin eine Chance zu geben. Deshalb
würde ich Sie bitten, die SPD in Berlin ein bisschen auf
Linie zu bringen, sodass wir den ÖBS gemeinsam im
Sinne der arbeitslosen Menschen hier in Berlin voranbringen können.
Danke.
({0})
Zur Antwort Frau Mast.
Geschätzte Kollegin Zimmermann, es ist richtig, wir
nehmen in letzter Zeit oft zusammen an Podiumsdiskussionen über die Frage, wie wir die Teilhabe für Menschen in Deutschland organisieren können, und über die
Arbeitsmarktpolitik teil. Ich schaue mir die Situation in
Berlin gerne noch einmal mit Ihnen an; dann geben wir
dem gemeinsam einen Drive. Es geht darum, dass die
Menschen durch Beschäftigung an der Gesellschaft teilhaben.
Sie wissen - das ist der eigentliche Skandal -, dass
das zuständige Ministerium beim Beschäftigungszuschuss durch billige Haushaltstricks, letztendlich durch
keinen eigenen Haushaltstitel für den Beschäftigungszuschuss, dazu animiert, vor Ort andere Wege zu gehen.
({0})
- Ja, ja, bevor Sie applaudieren, warten Sie lieber ab.
Das, was ich jetzt sage, wird Ihnen nicht gefallen. - Vor
Ort werden den Langzeitarbeitslosen weniger Möglichkeiten der dauerhaften Beschäftigung angeboten. Stattdessen werden sie in das Projekt Bürgerarbeit gedrängt,
wo die Arbeit teilweise untertariflich bezahlt wird. Sie
stellen dort maximal 3 000 Plätze zur Verfügung, und
70 Prozent des Beschäftigungszuschusses werden nicht
kompensiert. Da auch Sie, lieber Kollege Schiewerling,
mit mir an vielen Podiumsdiskussionen teilnehmen, wissen Sie um diese Problematik; denn jeder Beschäftigungsträger trägt es uns so vor. Jubeln Sie daher nicht zu
früh, sondern sorgen sie für dauerhafte öffentlich geförderte Beschäftigungsmöglichkeiten.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Sebastian Blumenthal hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1) - Ich gebe das Wort Brigitte
Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, Herr
Zimmer, Sie haben recht: Die Zahl der Arbeitslosen ist
zurückgegangen. Das haben wir ausschließlich dem
Konjunkturaufschwung zu verdanken. Es ist eine völlige
Fehleinschätzung, davon auszugehen, dass die konjunk-
turelle Entwicklung das Problem der Arbeitslosigkeit
1) Anlage 4
löst. Sie wird es nicht. Wir haben es mit einem tief gespaltenen Arbeitsmarkt zu tun. Wir haben auf der einen
Seite Fachkräftemangel. Die qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden von der Konjunktur
aufgesogen. Auf der anderen Seite haben wir eine hohe
Arbeitslosenquote und eine sehr verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit. In keinem anderen Land der OECD sind
die Menschen so lange arbeitslos wie in Deutschland.
Auch für diese Menschen kann der Konjunkturaufschwung eine wirkliche Chance sein; aber das geschieht
nicht von allein. Deswegen, Herr Zimmer, ist jetzt die
Stunde der Arbeitsmarktpolitik. Jetzt muss die Arbeitsmarktpolitik zeigen, was sie kann. Sie machen in dieser
Situation das Gegenteil. Sie kürzen im Bereich des Eingliederungstitels bis zum Anschlag. Diese Sparwelle ist
jetzt bei den Arbeitslosen angekommen; ein paar Zahlen
hat Frau Zimmermann genannt. Ich möchte Ihnen die
Bilanz aufzeigen. Allein für 2011 - in einer Situation, in
der wir nichts mehr brauchen als Fachkräfte - gibt es ein
Drittel weniger Mittel für Qualifizierungen und Weiterbildungen. Die Förderung für Selbstständige wurde fast
halbiert. Selbstständigkeit aus Arbeitslosigkeit ist
sozusagen das Erfolgsinstrument überhaupt. Für das
Programm JobPerspektive gibt es zwei Drittel weniger
Mittel. Die Arbeitslosigkeit ist - da hat doch Frau
Zimmermann recht - wirklich nicht annähernd in dieser
Größenordnung zurückgegangen. Deswegen müssten
Sie auch zugeben, dass die Kürzungen vollkommen unverhältnismäßig sind.
({0})
Ich will noch ein paar Sätze zur Instrumentenreform
sagen. Das, was uns als Referentenentwurf vorliegt, hat
nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was Sie,
Herr Zimmer, hier als Ansprüche an eine Instrumentenreform formuliert haben. Diesen Gesetzentwurf können
Sie wirklich nur in die Tonne treten; denn er ist nichts
anderes als die Kapitulation vor der Langzeitarbeitslosigkeit.
Sie hängen die Leute, die Schwierigkeiten haben, die
nicht einfach zu vermitteln sind, mit diesem Gesetzentwurf endgültig ab. Mit dieser Mahnung stehe ich nicht
allein. Die Wohlfahrtsverbände haben das auf mehreren
Podiumsdiskussionen, in mehreren Konzeptpapieren
bzw. Stellungnahmen deutlich gemacht. Auch die Kommunen sehen das genauso.
Herr Zimmer, Ihre eigenen Leute schreiben Briefe
voller Verzweiflung. Ich will stellvertretend hier nur einen zitieren. Professorin Dr. Daniela Birkenfeld, CDUStadträtin und Sozialdezernentin in Frankfurt am Main,
schreibt:
Die vorliegende Instrumentenreform
- oder der Entwurf dient dem Ziel der Mitteleinsparung, nicht der
nachhaltigen Integration ({1}) langzeitarbeitsloser Frauen und Männer. … Aus sozialpolitischem Interesse muss die vorgelegte Reform
abgelehnt werden, sofern die Abkopplung der
SGB II-Hilfeempfänger
nicht richtig und ausdrücklich gewollt wird. - Da hat
Frau Birkenfeld ausdrücklich recht.
({2})
Damit steht sie nicht allein. Ich kann aus Zeitgründen
weitere Zitate leider nicht mehr vortragen.
Lassen Sie mich nur eines sagen: Wir werden in den
nächsten Monaten intensiv über die Instrumentenreform
diskutieren. Der auf dem Tisch liegende Entwurf stellt
die Weichen in die vollkommen falsche Richtung. Er ist
schlecht für die Arbeitslosen, aber auch für die Volkswirtschaft, weil er keinen Beitrag leistet, dem Fachkräftemangel, der jetzt schon den Aufschwung abbremst,
entgegenzuwirken. Und er ist schlecht für das gesellschaftliche Klima.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ulrich Lange hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit geht
substanziell zurück, und wir, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, führen eine Diskussion über einen Antrag - nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich es so direkt sage - aus der kommunistischen Mottenkiste.
({0})
- Sie müssen heute nur Ihre eigenen Überschriften lesen:
„Die LPGs waren doch gut“, „Oskar Lafontaine spricht
auf Trotzkisten-Kongress“. Bei all dem wissen wir doch,
wo es am Ende mit dieser Arbeitsmarktpolitik hingehen
soll.
({1})
Frau Kollegin Mast, Sie haben recht: Das ist der Vergangenheit zugewandt.
({2})
Stellen wir doch einfach die nüchternen Fakten fest,
auch wenn Sie die nicht wahrhaben wollen.
({3})
Wir haben mit 5 Millionen Arbeitslosen angefangen,
jetzt sind es ungefähr 3 Millionen. Diese Marke werden
wir dieses Jahr deutlich unterschreiten. Genau in einer
solchen Situation ist es richtig, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente anzupacken. Wann denn, wenn nicht
in dieser Situation, soll eine solche Anpassung erfolgen?
Es ist auch richtig, dass wir die Effizienz und Effektivität
der Maßnahmen überprüfen und natürlich auch die eine
oder andere Maßnahme hinterfragen. Das gehört nämlich dazu.
({4})
Ich glaube, dass der Referentenentwurf, über den wir
in den nächsten Wochen ausführlich diskutieren werden,
viele gute Ansätze beinhaltet. Ich glaube, dass unsere
Ministerin und ihr Haus sehr konstruktive Vorschläge
gemacht haben.
({5})
Ich möchte als Stichworte nur die Neustrukturierung der
Leistungen für junge Menschen und die Zusammenfassung von Eingliederungszuschüssen nennen. Es geht darum, Maßnahmen gezielt durchzuführen und gezielt zu
stärken und zu erweitern, statt nach dem Gießkannenprinzip vorzugehen.
({6})
Meine Damen und Herren von der Linken, wenn ich
Ihren Antrag richtig verstanden habe, fordern Sie, die
Maßnahmen am individuellen Bedarf der Betroffenen
auszurichten.
({7})
- Jetzt passen Sie einmal auf.
({8})
- Ja, ja. Ich kann Gesetze lesen. Nur, ich sage Ihnen auch
ganz klar, Frau Kollegin Zimmermann: Es geht nicht
nach dem Motto „Ich hätte gerne dieses oder jenes“, sondern am Ende geht es darum, eine Maßnahme, eine Weiterbildung, eine Qualifikation für einen Arbeitslosen zu
finden, die eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt ermöglicht. Das ist kein Wunschkonzert.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ausdrücklich
betonen: Sie lehnen die Vermittlung in die Zeitarbeit ab;
({9})
das habe ich eben, wie ich glaube, richtig verstanden.
({10})
Dabei übersehen Sie, und zwar in einer Konsequenz, die
nicht nachvollziehbar ist, die Chance der Zeitarbeit. Sie
übersehen auch - wenn Sie in letzter Zeit die Entwicklungen in der Zeitarbeit verfolgt haben, wissen Sie das -,
dass es in der Zeitarbeit schon erste Probleme gibt, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finden, die dort
arbeiten können und wollen. Warum? Weil die Wirtschaft boomt und es auf dem Markt gute, reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu Tarifbedingungen gibt. Das
ist vernünftige Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftspolitik. So bringen wir unser Land voran, aber nicht mit Ihren Anträgen.
({11})
Unser Thema wird es sein, den Bedarf an Fachkräften
zu sichern. Unser Thema wird es sein, dafür zu sorgen,
dass wir nicht in die gleiche Situation wie einige unserer
europäischen Nachbarländer kommen, die, weil sie Ihre
Rezepte - öffentliche Beschäftigung, Verkürzung der
Arbeitszeit und Nichtanpassung der Lebensarbeitszeit angewandt haben, in eine Lage gekommen sind, die
volkswirtschaftlich und gesamtstaatlich nicht gehalten
werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Marx ist Muss“
habe ich heute in der Zeitung gelesen. Ich glaube, soziale
Marktwirtschaft ist Muss. Dazu gehört die Reform der
Instrumente. Hier sind wir mit dem Referentenentwurf
auf einem guten, richtigen Weg. Wir werden dafür sorgen, dass diese Instrumente die Menschen, die sie in Anspruch nehmen, in Arbeit bringen. Ich bin mir sicher,
dann werden wir dem Ziel der Vollbeschäftigung einen
Schritt näherkommen.
Herzlichen Dank und schönes Wochenende.
({12})
So weit sind wir noch nicht, Herr Lange. Wir arbeiten
hier bis zum Ende durch.
Die Aussprache ist geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5526 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 28 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Maria Anna
Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt
aus der Reichsversicherungsordnung in das
Fünfte Buch Sozialgesetzbuch überführen und
zeitgemäß ausgestalten
- Drucksache 17/5098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Cornelia Möhring, Caren
Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Versorgung durch Hebammen und Entbin-
dungspfleger sicherstellen
- Drucksachen 17/2128, 17/4290 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Rawert
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erhebung von Daten zu der Versorgung mit
Hebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Einkommenssituation von Hebammen und Entbindungspflegern sicherstellen
- Drucksachen 17/1587, 17/4349 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Martina Bunge
Vorgesehen ist es, eine halbe Stunde zu debattieren. Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Birgitt Bender für das Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Tausende von Hebammen gingen dieses und letztes Jahr
zum Internationalen Hebammentag auf die Straße. Aber
die Hoffnung, dass diese Aktionen und das große mediale Echo darauf alsbald zu Reaktionen in der Politik führen würden, wurde herb enttäuscht.
Es herrscht massiver Zeitdruck. Etliche Hebammen
geben die Geburtshilfe wegen geringer Einkommen und
steigender Haftpflichtprämien auf. Die diesjährigen Aktionen waren sehr kreativ. Die Situation ist aber weiter
ernst. Ich wage die Behauptung: Wären es Ärztedemos
gewesen, dann hätte die Koalition schon längst reagiert.
({0})
In Schleswig-Holstein hat ein Viertel der freiberuflichen Hebammen die Geburtshilfe eingestellt. Es soll
Leute geben, die bezweifeln, dass das dramatisch ist; es
gebe ohnehin zu viele Hebammen. Das Fatale ist, dass
wir nicht belegen können, dass auf diese Weise Lücken
in der Versorgung entstehen, weil dazu keine Daten verfügbar sind. Wenn wir über den behaupteten Ärztemangel reden, dann können alle anhand der Zahlen sehen,
wo welche Ärzte sitzen und wo es gegebenenfalls Lücken in der Versorgung gibt. Solche Daten haben wir für
die Hebammen nicht. Die Bundesregierung weigert sich,
eine Aufschlüsselung der Ausgaben der gesetzlichen
Kassen für die Hebammenhilfe gesetzlich zu verankern.
Warum haben Sie Angst vor Transparenz, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition? Weil es Sie zum
Handeln auffordern würde? Ist das der Grund?
Wir haben uns daran gewöhnt, dass in der Gesundheitspolitik einiges recht lange dauert. Mich hat es allerdings erstaunt, festzustellen, dass die letzte Bundestagsdebatte, in der ausführlich über die Situation der
Geburtshilfe gesprochen wurde, im Jahr 1984 stattfand.
Meine Damen und Herren, wir können nicht wieder
27 Jahre warten, bis auf diesem Felde etwas passiert.
Der Handlungsbedarf besteht heute.
({1})
Er besteht für diejenigen, die sich für schwangere Frauen
engagieren, nämlich die Hebammen, für die die Situation mit einem großen persönlichen Leidensdruck verbunden ist, und selbstverständlich für die betroffenen
Frauen, die gegebenenfalls nicht mehr auf diese Hilfe
zurückgreifen können.
Sie haben unseren Antrag abgelehnt, eine Studie zur
Situation der Hebammen und zum Bedarf der Schwangeren zu erstellen. Dann hat der Exminister eine Ministudie versprochen. Dieses Gutachten ist bis heute nicht
in Auftrag gegeben worden.
Nachdem der Gesundheitsminister mit einer der kürzeren Amtszeiten aller Gesundheitsminister entschwunden ist, bleibt festzustellen: Es warten Hausaufgaben auf
den neuen Minister. Dazu gehört auch, § 134 a SGB V
zu ändern, weil darin die wirtschaftliche Situation der
Hebammen als Grundlage für die Honorarbemessung
nicht hinreichend berücksichtigt wird. Das BMG steckt
offenbar im Zustand des Dauerprüfens. Hoffentlich ändert sich das jetzt endlich.
({2})
Es gibt auch weitere Baustellen. Beispielsweise ist
eine zeitgemäße Ausgestaltung der Hebammenhilfe und
die Verankerung im SGB V überfällig. Die Regierung
hat inzwischen auf eine Kleine Anfrage von uns immerhin geantwortet, dass sie das auch aus rechtssystematischer Sicht für erwägenswert hält. Ich sage Ihnen: Kommen Sie mit dem Prüfen zum Ende und tun Sie etwas!
({3})
Diese Regierung redet auch gerne über Gesundheitsförderung und Prävention. Aber wenn es um die Förderung der Mutter-Kind-Bindung oder das Stillen geht,
verweist sie auf die Länder. Was aber sagen die Länder,
wenn man sie danach fragt? Sie verweisen auf die Fortbildungsangebote für Hebammen in diesem Bereich. Da
beißt sich doch die Katze in den Schwanz.
Nehmen Sie die Realität wahr, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der Koalition! Es handelt sich interessanterweise um einen Bereich, in dem sowohl die Leistungserbringerinnen, also die Hebammen, als auch die
Kassen den Handlungsbedarf ansprechen und sehr ähnliche Vorschläge machen, die sie im Versorgungsgesetz
verankert haben wollen.
Es geht beim Versorgungsgesetz nicht nur um die
Ärzteschaft. Sie müssen auch die anderen Gesundheitsberufe im Blick haben. Gerade bei der Geburtshilfe und
der Hebammenhilfe ist es dringend.
({4})
Stefanie Vogelsang hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Frau Bender, ich habe Sie in
den anderthalb Jahren, in denen wir im Gesundheitsausschuss zusammenarbeiten, als Kollegin eigentlich schätzen gelernt. Vor allen Dingen habe ich schätzen gelernt,
dass Sie sich immer darum bemühen, erst einmal Fakten
zu sammeln, und nicht einzelne Gruppen gegeneinander
ausspielen. Aber Ihr Ansatz in dieser Diskussion, Hebammen gegen Ärzte auszuspielen, stammt aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Das sollte nicht unser gemeinsamer Weg sein. Werdende Mütter und Säuglinge
brauchen gute Hebammen und auch gute Ärzte für den
Fall der Fälle. Es geht nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinander.
({0})
Der Anlass für unsere Diskussion über den letzten Tagesordnungspunkt vor dem Wochenende ist eigentlich
sehr schön. Wir kümmern uns um die Situation von Hebammen, werdenden Müttern, Gebärenden und denjenigen, die sich nach der Geburt um die Kinder kümmern
und die Säuglinge versorgen.
Wir haben uns vor gut einem Jahr, im April 2010, im
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mit einer
Mehrfachpetition befasst, die von 70 unterschiedlichen
Petenten eingereicht wurde. Diese Petition hat online ungefähr 110 000 Unterschriften und auf postalischem
Weg 190 000 Unterschriften bekommen. Aufgrund dieser Petition haben sich alle Fraktionen in diesem Haus
mit der Situation der Hebammen sehr intensiv auseinandergesetzt. Im Mai haben wir erstmalig über einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beraten, der sich genau
mit diesem Thema befasste. Wir waren uns darin einig,
dass wir zuerst schauen müssen, was es alles gibt - die
Finanzierungs- und Versorgungsstrukturen vom Bund
und von der gesetzlichen Krankenversicherung, die unterschiedlichen Modellprojekte von Ländern und Kommunen -, um dann die richtigen Schlussfolgerungen zu
ziehen und dort zielgerichtet fördern und verändern zu
können, wo wir es im Hinblick auf die Zukunft unserer
Kinder für richtig und gerecht halten.
Die Mitglieder des Petitionsausschusses haben die
Hebammenvertreter zu einer öffentlichen Anhörung eingeladen und haben sich mit den Argumenten intensiv
auseinandergesetzt. Die Bundesregierung hat die Vertreterinnen und Vertreter der Hebammenverbände eingeladen und hat intensive Gespräche mit ihnen geführt.
Wenn ich mich richtig erinnere, hat sich unser damaliger
Gesundheitsminister Rösler sogar persönlich um diese
Problematik gekümmert. Die Bundesregierung hat in der
Ausschussberatung über Ihren Antrag deutlich gemacht,
dass sie der Pflicht zur Datenerhebung in der Bundesrepublik Deutschland nachkommt, dass die Ausschreibungen zusammen mit den Hebammenverbänden erarbeitet
wurden und dass es nach Ablauf der Angebotsfrist - sie
ist in dieser Woche abgelaufen; die Angebote der Institutionen sind eingegangen - zu einer schnellen Vergabe
kommt.
Die Bundesregierung hat auch zugesagt, darüber
nachzudenken, ob es noch zeitgemäß und richtig ist, dass
die Hebammenversorgung, also das Recht der Frauen
und Mütter auf die Begleitung von Hebammen vor, während und nach der Geburt, auf der Reichsversicherungsordnung von 1938 fußt, oder ob es nicht richtig und sinnvoll ist, das im SGB V zu regeln. Aber prüfen und
untersuchen muss man auch, ob es eine qualitative Verbesserung bedeutet, wenn man das tut. Es ist sinnvoll,
dass die Bundesregierung diesen Auftrag sehr ernst
nimmt und dass wir sie dabei intensiv begleiten. Deswegen teile ich ausdrücklich die Beschlussempfehlung des
Ausschusses zu dem Antrag der Grünen und zu dem Antrag der Linken.
Umso mehr bin ich verwundert, dass die Grünen in
ihrem neuen Antrag, über den wir heute erstmalig beraten, Frau Bender, die Schlussfolgerungen aus der von ihnen geforderten Datenerhebung, die vorgenommen wird,
um am Ende passgenau und zielgerichtet fördern zu können, vorwegnehmen und dass Sie es für richtig erachten,
schon jetzt bestimmte Positionen einzunehmen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin KleinSchmeink zulassen, Frau Kollegin?
Ja. - Entschuldigung, das habe ich nicht gesehen.
Bitte schön.
Frau Vogelsang, ich möchte Sie gern fragen: Wann
können wir denn damit rechnen, dass es von Ihrer Seite
tatsächlich zu Taten kommt, dass sowohl die Daten erhoben werden, aber insbesondere auch die anstehende
Haftpflichtproblematik angegangen wird? Wir werden ja
nicht die Zeit haben, um lange auf Forschungsgutachten
zu warten und dann in fünf Jahren eine Lösung vorlegen
zu können; vielmehr haben die schwangeren Frauen jetzt
den Anspruch und den Bedarf. Was wollen Sie da tun?
({0})
So umfangreich ist der Auftrag ja nicht, und ich
denke, dass die Schlussfolgerungen aus den erhobenen
Daten von der Bundesregierung zum frühestmöglichen
Zeitpunkt gezogen werden und dass das dann hier von
uns beraten werden kann.
({0})
Aber wir müssen das auch trennen, Frau Kollegin. Wir
haben auf der einen Seite den Beschluss zum Kinderschutzgesetz vom März dieses Jahres. Da hat die Bundesregierung beschlossen, innerhalb von drei Jahren
jeweils 30 Millionen Euro auszugeben, um bei der Vernetzung von Hebammen im Bereich der frühen Hilfen
für Säuglinge voranzukommen und den Bundeszuschuss
zu zahlen. Wir müssen uns also ganz genau anschauen:
Über welche Problematik reden wir? Vor der Geburt
steht die werdende Mutter und danach vor allen Dingen
der Säugling im Mittelpunkt, aber auch die Mutter, die
gerade geboren hat. Für die Zeit während der Geburt
- das betrifft jetzt die Haftpflichtversicherungen - haben
wir die enorm gestiegenen Prämien der Versicherungen.
In der Bundesrepublik Deutschland entscheiden sich
mittlerweile 98,8 Prozent der Frauen dafür, unter Beteiligung und Fürsorge einer Hebamme im geschützten Bereich eines Kreißsaales ihr Kind zur Welt zu bringen, in
dem für den Fall der Fälle, wenn während der Geburt mit
dem Säugling etwas passiert, ein Kinderarzt da ist. Demgegenüber entscheiden sich 1,2 Prozent der Mütter dafür,
({1})
in Geburtshäusern oder zu Hause ihr Kind zur Welt zu
bringen. Ich habe Briefe von Kollegen aus Ihrer Fraktion
zur Kenntnis genommen, die an Geburtsmediziner geschrieben haben, Ziel unserer Politik müsste es doch
sein, die Zahl der Hausgeburten auf 50 Prozent heraufzusetzen. Ich muss ganz klar sagen, dass das nicht mein
Ziel und nicht Ziel der Politik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist,
({2})
sondern dass wir es im Interesse der Frauen als einen
enormen Fortschritt in der Bundesrepublik Deutschland
ansehen, dass man in der Regel
({3})
- die Antwort auf Ihre Frage habe ich Ihnen gegeben im geschützten Raum des Kreißsaals unter Beteiligung
auch von einem Mediziner für den Fall der Fälle und mit
der Betreuung einer Hebamme sein Kind zur Welt
bringt.
({4})
- Auf diese Frage, Frau Kollegin, habe ich Ihnen geantwortet. Wir legen die Lösung zu dem Zeitpunkt vor, an
dem wir, genauso wie Sie das ja auch für richtig halten,
über die Erkenntnisse und die Datenlage verfügen, sodass wir im Rahmen unseres Systems nicht fehlallokiert,
da oder da oder da, etwas machen, sondern eine vernünftige Position einnehmen können. An dieser Strategie
werden Sie durch diese Anträge nichts ändern. Ich hatte
das Gefühl, mit diesem neuerlichen Antrag wollten Sie
deutlich machen, dass Sie etwas tun, oder Sie haben
Angst, dass Ihnen die Felle davonschwimmen
({5})
oder dass die Bundesregierung einen Personenkreis zu
sehr betreut. Das finde ich relativ schwierig. Bleiben Sie
bei Ihrem ursprünglichen Ansatz! Lassen Sie uns abwarten, bis die Daten vorliegen, und lassen Sie uns dann genau prüfen, was sich verändern muss! Die Bundesregierung prüft, wir begleiten das, und am Ende steht sowohl
für die werdenden Mütter als auch für die Gebärenden
und erst recht für die Säuglinge, die zur Welt gekommen
sind, eine gute Lösung, die weiterhin das sichert, was
wir in der Bundesrepublik Deutschland haben und weiterhin haben wollen, nämlich eine flächendeckende Versorgung und eine flächendeckende Wahlfreiheit für die
Mütter, in welcher Art und Weise sie ihr Kind gebären
wollen.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Vogelsang. - Jetzt für die
Fraktion der Sozialdemokraten Frau Kollegin Mechthild
Rawert. Bitte schön, Frau Kollegin Rawert.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Interessierte! Die Tätigkeit einer Hebamme gehört
zu den ältesten Tätigkeitsfeldern; der Beruf der Hebamme ist einer der ältesten. Er steht am Anfang eines jeden Lebens. Kein Wunder also, dass wir hier über dieses
Thema durchaus emotional reden. Es ist wichtig, dieses
Thema in den Mittelpunkt gesundheitspolitischer Diskussionen zu stellen; denn wir haben zu beklagen, dass
weltweit über 350 000 Frauen bei der Geburt ihres Kindes sterben. Damit verbunden ist die Sorge, dass solche
Todesfälle in Deutschland zunehmen.
Ich will einige der Fragestellungen aufgreifen, die in
der Diskussion gerade schon behandelt worden sind. Es
geht um dreierlei:
Erstens. Es geht um das Recht des Kindes auf den
bestmöglichen Start in das Leben. Hierzu gehört eine
gute Geburt. Es muss gewährleistet sein, dass das Recht
des Kindes auf eine gute Versorgung umgesetzt wird.
Zweitens. Es geht um das Recht der Schwangeren,
der Wöchnerin, der Mutter. Hierbei geht es ebenfalls um
die bestmögliche gesundheitliche Versorgung. Aus diesem Grunde bin ich froh, dass wir das System der Familienhebammen weiterentwickelt haben. Ich lade alle
herzlich dazu ein, dieses Modell in Berlin weiter zu prüMechthild Rawert
fen, weiter zu begleiten. Wir werden es Ende dieses Monats in mehreren Bezirken umsetzen.
Drittens. Es geht auch um die berufliche Situation der
Hebammen bzw. der Entbindungspfleger. Es handelt
sich um einen qualifizierten Gesundheitsberuf, der in die
Versorgungslandschaft eingepasst werden muss.
Jetzt möchte ich noch auf einige weitere Punkte eingehen. Es ist richtig, dass das Versorgungsgesetz der
Bundesregierung arztzentriert ist, dass dieses Versorgungsgesetz die Vielfalt der Gesundheitsberufe und infolgedessen auch ihre Rechte und ihre Neuordnungsstrukturen außer Acht lässt. Darunter fallen neben
Krankenschwestern, Pflegern und Teilnehmern neuer
Modellprogramme die Hebammen. Gegen die Diskreditierung dieser häufig vorkommenden Gesundheitsberufe
- oftmals Frauenberufe - müssen wir stark angehen.
Hebammen verstehen sich als Anwältinnen für Frauengesundheit. Auch das ist ein Feld, das noch viel
stärker berücksichtigt werden muss, gerade in der Diskussion über eine flächendeckende Versorgung. Es ist
richtig, wenn festgestellt wird, dass mittlerweile in einigen Gegenden Krankenhäuser über keine Geburtsabteilung mehr verfügen. Wenn freiberuflich tätige Hebammen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation in diesen
Gegenden nicht arbeiten, stellt sich die Frage: Wer trägt
die Verantwortung für eine flächendeckende Versorgung? Ich sage Ihnen: Wir müssen das bei der Versorgungsstruktur noch viel stärker berücksichtigen.
In dem Antrag der Grünen wird gefordert, die Regelungen der Reichsversicherungsordnung in das SGB V
zu überführen. Ja, auch ich bin der Meinung: Hier besteht noch Modernisierungsbedarf. Es ist nötig, tatsächlich für mehr rechtliche Umsetzung zu sorgen. Neben
den Regelungen zu Leistungen bei Schwangerschaft und
Mutterschaft sind Dienstordnungs- und Besoldungsbestimmungen für Angestellte und Beamte aus der Reichsversicherungsordnung noch nicht auf das SGB V übertragen.
Nichtsdestotrotz möchte ich, dass wir im Gesundheitsausschuss eine intensive Debatte über viele Fragestellungen führen, die den Gesundheitsberuf Hebamme
in den Mittelpunkt stellen. Ich befürworte deswegen,
dass dazu eine Anhörung durchgeführt wird. Sie bietet
den Raum, um über diese Aspekte zu diskutieren.
Die Frage ist, inwieweit diese Gesundheitsberufe neu
zu definieren sind.
Auch die freiberuflichen Hebammen stellen sich die
Frage, ob sie in Zukunft selbstständig zum Beispiel Medikamente verschreiben können. Es stellt sich die Frage
nach den Ausbildungsstrukturen, auch beim Beruf der
Hebammen, und die Frage nach der Vernetzung in einem
präventiven Gesundheitssystem.
Ich möchte mich in meinen letzten Ausführungen
dem Thema Berufshaftpflichtversicherung zuwenden.
Berufliche Tätigkeiten sollen sinnstiftend sein. Aber machen wir uns nichts vor: Wir alle leben von dem Geld, das
wir durch unsere berufliche Tätigkeit verdienen. Das
Durchschnittsgehalt von Hebammen liegt bei 14 500 Euro
im Jahr und der Durchschnittsstundenlohn bei 7,50 Euro,
die Berufshaftpflichtprämie aber beträgt 3 700 Euro. Das
ist eine Diskrepanz, die die Angehörigen dieses Berufes
nicht aushalten können.
Des Weiteren haben wir in einer Arbeitsgruppe festgestellt, dass das Thema der Berufshaftpflichtversicherung
- das betrifft den gesamten Bereich der Gynäkologie - ein
zunehmend wichtigeres Thema in der Gesundheitswirtschaft werden wird. Die SPD hat sich in einer Anfrage
danach erkundigt, was die Bundesregierung in Sachen
Berufshaftpflichtversicherung unternehmen will. Die
Antwort, Frau Staatssekretärin, war unbefriedigend. Sie
haben keineswegs Bezug darauf genommen, dass es notwendig ist, im Versorgungssystem neue Versicherungsstrukturen einzuführen. Sie haben keineswegs Bezug darauf genommen, dass es notwendig ist, eine bessere
Versicherung im Bereich der Geburt einzuführen; denn
niemand von uns will Patientenrechte einschränken,
wenn es tatsächlich zu einem Schadensfall kommt.
Ich habe vorhin gehört, dass Versicherungen in Zukunft bei Eintritt eines Geburtsschadens möglicherweise
Leistungen in Höhe von bis zu 5 Millionen Euro erbringen werden. Das ist eine Summe, die weder kleine Krankenhäuser noch freiberufliche Hebammen im jetzigen
System der Berufshaftpflichtversicherung abdecken
können. Dieser Widerspruch, nämlich dass man sich
eine Berufshaftpflichtversicherung nicht mehr leisten
kann, Patientinnen und Patienten aber selbstverständlich
mit einer ausreichenden lebenslangen Finanzierung bei
einem Schadensfall rechnen können müssen, ist nicht
gelöst. Das zu tun, steht in Ihrer Verantwortung. Ich bitte
Sie, sich dem System der Versicherung intensiver zuzuwenden.
Am 10. Mai lief die Ausschreibungsfrist für die Hebammenstudie ab. Ich bitte darum, zumindest einen Teil
der Fragen und Anmerkungen, die wir Ihnen haben zukommen lassen, in dieser Studie aufzugreifen, damit sie
wegweisende Grundlagen für die Zukunft eines Gesundheitsberufes bieten kann, der wichtig für Mutter und
Kind ist.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Rawert.
Als Nächster steht der Kollege Lars Lindemann für
die FDP-Fraktion auf meiner Rednerliste. Er hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.1) - Wir sind damit einverstanden.
Als nächste Rednerin spricht für die Fraktion Die
Linke Frau Kollegin Dr. Martina Bunge. Bitte schön,
Frau Kollegin Dr. Bunge.
({0})
1) Anlage 5
Danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche haben wieder Hunderte freiberufliche Hebammen demonstriert. Ihre Existenz ist bedroht.
Unser Antrag will Sicherheit schaffen. Wir stellen diesen
Antrag heute zur Diskussion und zur Abstimmung, weil
wir meinen, dass Politik endlich etwas tun muss und
auch tun kann. Wir dürfen uns nicht nur mit diesem
Thema auseinandersetzen und uns kümmern, wie Sie,
Frau Kollegin Vogelsang, es dem ausgeschiedenen
Minister bescheinigt haben. Es geht darum, dass endlich
Taten folgen.
({0})
Bei unserem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, geht es auch nicht darum, dass wir allein das
finanzielle Wohl der Hebammen im Auge haben. Mit
dieser Begründung haben Sie unseren Antrag im Ausschuss abgelehnt. Ich kann nur sagen: Schade.
Titel und Inhalt belegen, dass es uns darum geht, die
Versorgung durch Hebammen und Entbindungspfleger
sicherzustellen. Um wen geht es denn? Es geht um die
Mütter und um die Kinder.
({1})
- Es ist ja schön, dass wir hier einer Meinung sind. Leider haben Sie aber keinen Antrag vorgelegt. Einfach abzulehnen und nichts selber zu tun, heißt letztlich, nichts
zu tun.
({2})
Es geht uns gerade darum, auch die finanzielle Situation vor allem der Hebammen zu verbessern, die freie
Geburtshilfe leisten. Die Gründe sind benannt. Mütter,
die ihr Kind zu Hause oder im Geburtshaus gebären wollen, sind auf diese Hebammen angewiesen. Vielleicht ergeben sich die geringen Zahlen auch daraus, dass Geburtshäuser schließen und immer mehr freiberufliche
Hebammen aufgeben oder nur noch betreuend tätig sind
und sich den Luxus der Geburtenbegleitung nicht mehr
leisten können. Das alles geschieht natürlich auch vor
dem Hintergrund der Tatsache, dass jedes Jahr rund
3 700 Euro für die Haftpflichtversicherung aufgewendet
werden müssen.
Es gibt jetzt den Wunsch nach einer Zwischenfrage,
Frau Kollegin. Möchten Sie die Zwischenfrage der Frau
Kollegin Vogelsang ermöglichen?
Gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Frau Kollegin Bunge, ich denke einmal und hoffe
auch sogar sehr, dass Sie das nicht so gemeint haben,
wie Sie das gesagt haben. Wir sind doch vielleicht wenigstens in dem Punkt einer Meinung, dass nicht nur die
Frauen, die sich dafür entscheiden, ihr Kind in einem
Geburtshaus oder zu Hause zur Welt zu bringen, ein Anrecht auf die Betreuung durch eine Hebamme haben,
sondern dass das selbstverständlich auch für die anderen
Frauen gilt - das sind fast 99 Prozent aller Frauen -, die
ihr Kind in dem geschützten Raum eines Kreißsaals zur
Welt bringen.
Natürlich, da haben Sie recht,
({0})
aber die Hebammen, die auch Geburtshilfe leisten, ziehen sich zurück. Damit ist die Wahlfreiheit nicht mehr
gewährleistet.
({1})
Ich weiß, was es bedeutet, in einem Krankenhaus zu gebären; ich will das nicht unterschätzen. Wenn man aber
keine Möglichkeit hat, sich anders zu entscheiden, dann
ist das problematisch. Wenn in der Nähe niemand ist:
Wo soll man hinfahren?
({2})
Selbst die Hebammen empfehlen dann: Gehen Sie lieber
in das Krankenhaus; ich kann die Sicherheit nicht gewährleisten. - Diese Situation hat absolut nichts mit
Wahlfreiheit zu tun.
({3})
- Ja, dort machen es auch Hebammen; da haben Sie
recht.
({4})
Uns geht es deshalb darum, dass die schlechte Finanzierung verbessert wird.
Die Koalitionsfraktionen haben unseren Antrag im
Ausschuss mit der Begründung abgelehnt, er habe sich
überholt. Ich finde, das ist eine zynische Begründung.
Sie haben das damit begründet, dass die Hebammenverbände inzwischen mit den Krankenkassen verhandelt
und sich geeinigt haben. Ich frage Sie: Protestieren die
Hebammen seit Juli 2010, als die „Einigung“ erfolgte,
ohne Grund? Kriegen sie nicht genug Geld? Kriegen sie
den Hals nicht voll? Wenn Sie das meinen, dann sagen
Sie das hier. Wir denken, die finanzielle Situation hat
sich nicht ausreichend gebessert, und das ist nicht hinnehmbar.
({5})
Das liegt aber vor allem auch daran, dass die Honorare der Hebammen in der Startphase dieser Verhandlungen mit den Krankenkassen nicht angemessen aufgestockt wurden. Das ist ein Versäumnis der letzten
Bundesregierung.
({6})
Ich denke, deshalb ist auch die SPD hier in der Pflicht
und in der Verantwortung - genauso wie auch die neue
Bundesregierung.
Wir müssen uns das doch einmal vorstellen: Die kleinen Hebammenverbände - das meine ich jetzt nicht despektierlich - verhandeln mit den großen Krankenkassen.
Das ist doch kein Verhandeln auf Augenhöhe.
So kommt es auch, dass von dem Grundsatz der Beitragsstabilität - von dem ja abgewichen werden kann,
wenn die Sicherheit der Versorgung nicht mehr gewährleistet ist - in den Verhandlungen nicht abgewichen
wird, weil die Kassen am längeren Hebel sitzen und sagen, dass die Versorgung doch noch funktioniert. Sie
warten wahrscheinlich, bis die Auswirkungen spürbar
sind. Dazu sagen wir: Dann ist die Versorgung ganz zusammengebrochen.
Das können wir nicht hinnehmen. So etwas hat nichts
mit freier Wahl zu tun.
({7})
Darum kümmern wir uns. Deshalb appellieren wir an
Sie: Unser Antrag ist umfassend. Stimmen Sie ihm zu!
Wenn Sie ihn heute ablehnen - aus welchen Gründen auch
immer; vielleicht gar, weil heute Freitag der 13. ist -, wäre
das sehr bedauerlich. Ich sage: Tun Sie etwas. Es muss
endlich etwas getan werden. Das Versorgungsgesetz
wäre eine gute Chance. Öffnen Sie es endlich auch für
die Heilberufe.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. - Als letzter
Redner der Woche erhält jetzt Kollege Erwin Rüddel für
die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich gleich zu Beginn auf zwei Punkte
hinweisen. Ich denke, dass darüber hier im Haus auch
Einigkeit herrscht.
Erstens. Wir brauchen die Hebammen - dabei will ich
bewusst nicht differenzieren, welche Art von Hebammen heute und zukünftig in unserem Gesundheitssystem.
Zweitens. Wir brauchen für die Hebammen eine leistungsgerechte Entlohnung.
Vor allem im ländlichen Raum, wenn die Wege zum
nächsten Krankenhaus mit Entbindungsstation weit sind,
sind die freiberuflichen Hebammen unentbehrlich. Ihre
Arbeit ist und bleibt eine unverzichtbare Hilfe für junge
Eltern und deren Nachwuchs. Hier - wie auch anderswo
auf dem Feld der Gesundheitspolitik - dürfen wir uns
nicht durch eine insgesamt gute Versorgungssituation in
den Städten den Blick verstellen lassen auf die teilweise
erheblichen Probleme, die wir in den ländlichen Regionen haben. Dieses Problem gehen wir aber mit unserem
Versorgungsgesetz sehr konsequent an.
({0})
Meine Damen und Herren, im Sinne einer vernünftigen Familien- und Gesundheitspolitik kann es nicht angehen, dass die freiberuflichen Hebammen durch erhöhte Versicherungskosten in ihrer Existenz gefährdet
werden. Viele freiberufliche Geburtshelferinnen klagen
darüber, dass ihnen nach Abzug von Steuern, Gebühren
und Benzinkosten kaum genug zum Leben bleibt. Etliche von ihnen haben inzwischen ihre Tätigkeit aufgegeben, gerade auf dem Feld der Geburtshilfe. Unabhängige
Experten bestätigen zunehmende Engpässe in der Versorgung mit freiberuflichen Geburtshelferinnen.
Meine Fraktion hat sich deshalb dafür starkgemacht,
im Bundeshaushalt für die Hebammen zusätzliche Mittel
im Bereich der Vor- und Nachsorge bereitzustellen.
Das Bundeskabinett hat bekanntlich am 16. März
2011 den Entwurf für ein neues Kinderschutzgesetz verabschiedet. Dabei geht es darum, den Schutz von Kindern in Deutschland umfassend und wirksam zu verbessern.
Zu dem Maßnahmenpaket, das darauf abzielt, die
Rechte von Kindern und Jugendlichen noch besser als
bisher zu sichern, gehört mit Blick auf die frühkindliche
Betreuung auch der verstärkte Einsatz von Familienhebammen.
Im Rahmen dieser von Frau Bundesministerin
Schröder eingebrachten Initiative werden ab 2012 jährlich 30 Millionen Euro zusätzlich für den Einsatz von
Familienhebammen zur Verfügung gestellt. Das bedeutet: Innerhalb der nächsten vier Jahre kann in Deutschland die Arbeit der Familienhebammen zusätzlich mit
insgesamt 120 Millionen Euro unterstützt werden.
Dabei geht es nicht zuletzt um niederschwellige und
frühe Hilfsangebote, die sich auch und gerade an Familien in belasteten Lebenslagen richten, und zwar sowohl
während der Schwangerschaft als auch nach der Geburt.
Auf diese Weise können Hebammen und Familienhebammen die Verluste, die sie entweder durch die hohen Versicherungsprämien oder durch ihren gänzlichen
Verzicht auf die Geburtshilfe erleiden, wenigstens teilweise ausgleichen und haben eine deutlich bessere Zukunftsperspektive.
Meine Damen und Herren, unabhängig davon sollten
wir auch über andere kreative Lösungen nachdenken. Es
spricht zum Beispiel manches dafür, die Finanzierung
der Hebammen aus einer Hand zu organisieren, damit es
nicht zwei Kategorien von Hebammen gibt. Das würde
Einkommen für die Hebammen sichern und könnte zudem mit Blick auf die Familienhilfe einen Übergang zu
den „Frühen Hilfen“ schaffen.
({1})
- Ich habe gesagt: Aus verschiedenen Töpfen wird eine
Hilfe finanziert.
({2})
Meine Fraktion wird das sehr sorgfältig prüfen
({3})
und dabei auch, liebe Frau Bender, Gedanken des Antrages der Grünen mit einbeziehen.
({4})
Denn - ich sage es hier noch einmal -: Wir sind für alle
kreativen Lösungen offen, die jungen Familien zugutekommen.
Schließlich will ich noch auf das Fachgespräch hinweisen, das im Februar mit den drei Hebammenverbänden im Bundesgesundheitsministerium stattgefunden
hat.
({5})
Es ging dabei um die Berechnung der Honorare, ganz
konkret um ein Gutachten zur Vergütungs- und Versorgungssituation in der Hebammenhilfe. Die Hebammenverbände haben anschließend noch ergänzend Stellung
zu aus ihrer Sicht ganz besonders wichtigen Punkten bezogen. Dies ist auch in den Gutachtenauftrag eingeflossen. Insofern ist der Antrag der Linken zeitlich und inhaltlich deutlich überholt;
({6})
denn wir können davon ausgehen, dass in den nächsten
Monaten mit dieser Studie eine verlässliche Datengrundlage geschaffen wird. Sie wird ausweisen, ob und inwieweit die von den Krankenkassen gezahlten Honorare für
die Hebammen angemessen sind.
Ich möchte aber unterstreichen: Es geht bei dieser
Studie nicht nur um die finanzielle Situation der freiberuflichen Hebammen und deren berechtigte Anliegen. Es
geht auch um die Qualität der Leistungen und um den
Bedarf an Hebammenhilfe. Alle drei Faktoren stehen für
uns gleichwertig nebeneinander. Das Ergebnis der Studie
bleibt abzuwarten. Wir dürfen aber wohl davon ausgehen, dass dadurch die Verhandlungsposition der Hebammen gegenüber der GKV deutlich gestärkt wird.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Erwin Rüddel.
Wir sind am Ende der Rednerliste. Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell - es geht um den Tagesordnungspunkt 28 a - wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5098 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28 b. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Versorgung durch Hebammen und Entbindungspfleger sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4290, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2128
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Erhebung von Daten zu der Versorgung mit Hebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Einkommenssituation
von Hebammen und Entbindungspflegern sicherstellen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/4349, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1587 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und
Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine gute Nachricht: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. Mai, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes, arbeitsreiches Wochenende in den Wahlkreisen, damit die Arbeit des Deutschen Bundestages dort verkündet wird. Herzlichen
Dank.
Die Sitzung ist geschlossen.